Heimat und Fremde [1. ed.] 9783967075380, 9783967075397

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Heimat und Fremde [1. ed.]
 9783967075380, 9783967075397

Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
Editorial
Verlust
Nils Rottschäfer: Kafka als Reflexionsfigur für den Heimatdiskurs nach 1945: Arendt, Blumenberg, Hildesheimer, Celan
Gabriele Ewenz: Auf der Suche nach einer ‚literarischen Heimat‘. Heinrich Bölls Bekenntnis zur Trümmerliteratur“
Eugen Wenzel: „Hier erst haben wir ja auch gelernt, was Heimat ist“. Der Begriff der Heimat in der deutschsprachigen Stalingrad-Literatur
Unbehaustheit
Christine Ivanovic: „Heimat, Heimat? My country. Es krachte, als wir heimkamen.“ Zum Konzept Heimat im Gesamtwerk von Ilse Aichinger
Walter Hettche: Das Dasein der Schnecke. Heimaträume in Günter Eichs Nachkriegslyrik. Mit unbekannten Fassungen einiger Gedichte und einem Brief an Peter Huchel
Bodo Plachta: Klaus Manns Schreibtische
Detlef Haberland: Des Krieges und der Liebe Lehren. Die Fremde in zwei Nachkriegsromanen Hilde Spiels und Geno Hartlaubs als Ort des Diskurses über Politik und Erotik
Suche
Günter Häntzschel: „
Die Heimat ist ein Teil unserer Seele.“ Heimat und Fremde bei Regina Ullmann
Sven Behnke: ‚Dekade der Flucht‘ – Flucht und Vertreibung in Arno Schmidts Prosawerk der 1950er Jahre
Emanuela Ferragamo: Steiler Berg, weiße Wand: Das Paradies und (bescheidenere) Gärten in Marlen Haushofers Die Wand
Joanna Bednarska-Kociołek: Zu Hause, aber doch fremd. Die Identitätsfrage in Stefan Chwins Roman Krótka historia pewnego Z˙artu
Heimkehr
Sikander Singh: „bestürzende Plötzlichkeiten des Glücks im Nullpunkt des Unglücks“. Zu Wolfgang Schwarz’ unveröffentlichtem Fünfakter Der Heimkehrer Cornelius
Sandra Beck: „ I never knew Germany was such a lovely country.“ Die Immenhof-Trilogie (1955–1957) und die deutsche Nachkriegsgeschichte
Christiane Raabe: Schreiben für die Niemandskinder. Heimat und Heimatlosigkeit in der Kinder- und Jugendliteratur der Nachkriegszeit
Die Beiträgerinnen und Beiträger
Adressen der Beiträgerinnen und Beiträger
Personenregister

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Heimat und Fremde

Herausgegeben von Günter Häntzschel Sven Hanuschek Ulrike Leuschner

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar. ISBN 978-3-96707-538-0

e-ISBN: 978-3-96707-539-7

Umschlagentwurf: Ole Häntzschel, Berlin/Thomas Scheer, Stuttgart, unter Anlehnung an den originalen Schutzumschlag von Gottlieb Ruth zu Wolfgang Koeppens Roman „Das Treibhaus“, Scherz & Goverts, Stuttgart 1953 Abbildungen Seite 280 und 286–290: Nachlass Wolfgang Schwarz, Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass, Saarbrücken; © Erica Risch, Landau/Pfalz. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2021 Levelingstraße 6a, 81673 München www.etk-muenchen.de Satz: Claudia Wild, Otto-Adam-Straße 2, 78467 Konstanz Druck und Buchbinder: Laupp & Göbel GmbH, Robert-Bosch-Straße 42, 72810 Gomaringen

Inhaltsverzeichnis Editorial

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Verlust Nils Rottschäfer: Kafka als Reflexionsfigur für den Heimatdiskurs nach 1945: Arendt, Blumenberg, Hildesheimer, Celan

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Gabriele Ewenz: Auf der Suche nach einer ‚literarischen Heimat‘. Heinrich Bölls „Bekenntnis zur Trümmerliteratur“

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Eugen Wenzel: „Hier erst haben wir ja auch gelernt, was Heimat ist“. Der Begriff der Heimat in der deutschsprachigen Stalingrad-Literatur

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Unbehaustheit Christine Ivanovic:„Heimat, Heimat? My country. Es krachte, als wir heimkamen.“ Zum Konzept Heimat im Gesamtwerk von Ilse Aichinger

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Walter Hettche: Das Dasein der Schnecke. Heimaträume in Günter Eichs Nachkriegslyrik. Mit unbekannten Fassungen einiger Gedichte und einem Brief an Peter Huchel

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Bodo Plachta: Klaus Manns Schreibtische

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Detlef Haberland: Des Krieges und der Liebe Lehren. Die Fremde in zwei Nachkriegsromanen Hilde Spiels und Geno Hartlaubs als Ort des Diskurses über Politik und Erotik

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Suche Günter Häntzschel: „Die Heimat ist ein Teil unserer Seele.“ Heimat  und Fremde bei Regina Ullmann

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Sven Behnke: ‚Dekade der Flucht‘ – Flucht und Vertreibung in Arno Schmidts Prosawerk der 1950er Jahre

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Emanuela Ferragamo: Steiler Berg, weiße Wand: Das Paradies und (bescheidenere) Gärten in Marlen Haushofers Die Wand

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Inhaltsverzeichnis

Joanna Bednarska-Kociołek: Zu Hause, aber doch fremd. Die Identitätsfrage in Stefan Chwins Roman Krótka historia pewnego Z˙artu

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Heimkehr Sikander Singh: „bestürzende Plötzlichkeiten des Glücks im Nullpunkt des Unglücks“. Zu Wolfgang Schwarz’ unveröffentlichtem Fünfakter Der Heimkehrer Cornelius

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Sandra Beck: „I never knew Germany was such a lovely country.“ Die Immenhof-Trilogie (1955–1957) und die deutsche Nachkriegsgeschichte

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Christiane Raabe: Schreiben für die Niemandskinder. Heimat und Heimatlosigkeit in der Kinder- und Jugendliteratur der Nachkriegszeit

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Die Beiträgerinnen und Beiträger

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Adressen der Beiträgerinnen und Beiträger

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Personenregister

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Editorial Die Heimat ist der Ort, wo das Herz auf ewig wohnt, egal, ob es dort stinkt. Janosch1

Am 8. Mai 1945 war der Krieg zu Ende, Deutschland war befreit und unter den alliierten Truppen aufgeteilt. Ein Jahr später zum Tag der Arbeit wurde in der Sowjetischen Besatzungszone eine Postkarte ausgegeben, die außer „Einheit, Aufbau, Volk“ auch die Heimat propagandistisch ins Feld führte. Das bessere Deutschland sollte im östlichen Teil entstehen, die Heimat mit der Einheit das ganze Land umfassen – die Unteilbarkeit stand 1949 in den Verfassungen beider deutscher Staaten. ‚Umsiedler‘ hießen die Flüchtlinge im Ostteil mit Rücksicht auf die sowjetischen Besatzer die Flüchtlinge, ‚Heimatvertriebene‘ nannte man sie tendenziös im Westen, ‚Heimatkunde‘ stand hier wie dort auf dem Lehrplan. Was jedoch Heimat ist, ist schwer zu fassen.2 Das Begriffsfeld reicht vom Daheim bis zur Unheimlichkeit – den Rahmen spannen Vaterland und Muttersprache. Topografisch verbunden mit dem Ort der Herkunft, biografisch und psychogenetisch mit der Kindheit, blendet die sentimentale Rede von der Heimat die in der scheinbaren Geborgenheit erfahrenen Verletzungen aus. Selbst unter den Bedingungen von Krieg und Gewaltherrschaft scheint die Sehnsucht nach Verortung grenzenlos zu sein. Die radikale Gegenposition kann den Begriff ‚Heimat‘ nur noch als unerträglich populistisch sehen; ein Begriff, der nicht mehr zu retten und umzuwerten ist: Alle „aufklärerische Hoffnung“ setze auf die befreiende Reflexion, das trostlose „Das-macht-man-hier-so“ zu überwinden.3 In den konkreten historischen und politischen Bedingungen der Nachkriegszeit und der 1950er Jahre ist die Wahrnehmung dessen, was Heimat bedeutet, geschärft. Biografien lehnen sich an Orte, Gebäude und Landschaften, an die Vertrautheit der Sprache von der dialektalen Aussprache bis zur

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Janosch: Wondrak für alle Lebenslagen. Mit einem Nachwort von Tillmann Prüfer. Ditzingen 2021, S. 101. Vgl. Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter: Heimatdenken: Konjunkturen und Konturen. Statt einer Einleitung. In: Dies. (Hg.) Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts. Bielefeld 2007, S. 9–56, hier S. 9–13. Die Zeit von 1933 bis einschließlich der 60er Jahre wird in dem Band nicht berücksichtigt. Katja Thorwarth: „Heimat ist eine Ideologie, die mit dem bestehenden Falschen versöhnt“. Thomas Ebermann [Interview]. In: Frankfurter Rundschau, 17. 7. 2019. 7

Editorial

Benennung der Dinge, die ihrerseits Geborgenheit symbolisieren können. Manifest wird Heimat im Verlust durch Krieg und Zerstörung, in unserem Band gezeigt an Stalingrad-Romanen und Heinrich Bölls ‚Trümmerliteratur‘. Schmerzlicher noch wird der Verlust erfahren, wenn die Heimat unter der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus ihre Kinder verrät; in Ilse Aichingers Roman Die größere Hoffnung wird der Name der Stadt Wien nicht genannt, von Ausgrenzung und Gefährdung erzählen die Texte Regina Ullmanns. Am Ende des deutschen Zusammenbruchs, der als Befreiung nur mühsam anerkannt wird, herrschen Trauer um und Misstrauen gegen jede Form von Heimat, wofür Arno Schmidts frühes Prosawerk exquisit einsteht. Günter Eichs Lyrik der frühen Jahre umkreist regelrecht das Wort und ersetzt ‚Heimat‘ durch markante Leerstellen. Es ist dann das Erlebnis der Fremde, das Identität wieder zu konstituieren vermag; davon erzählen Romane Hilde Spiels und Geno Hartlaubs. Exzentrisch ist die Suche nach einer geistigen Heimat. Der habituellen Unbehaustheit eines Klaus Mann kommen die Zeitläufte geradezu entgegen, der Schreibtisch wird ihm zur flüchtigen Heimat, und signifikant entsprechen die Dystopien Kafkas den Vorzeichen der Epoche. Anhand exemplarischer Analysen von Texten Hannah Arendts, Hans Blumenbergs, Wolfgang Hildesheimers und Paul Celans entwickelt Nils Rottschäfer in seiner differenzierten Darstellung die produktive Auseinandersetzung mit Kafkas literarischem Werk und seiner Biografie als Reflexionsfigur für den Heimatdiskurs nach 1945. Die unterschiedlichen Schreibweisen, literarischen Verfahren, Erzählstrategien und poetologischen Gedankengänge konvergieren in der Anlehnung an den ‚großen‘ Vorgänger und ganz besonders an Kafkas ahasverische Gestalt des Jägers Gracchus, des zu permanenter Wanderschaft und Unrast Verdammten. Heimat verliert in diesem Umkreis nach dem „Zivilisationsbruch“ durch die nationalsozialistische Diktatur und die Shoah ihre positive, schützende, trauliche, wohlige Bedeutung und offenbart sich als Heimatlosigkeit,Verlust, Nichtzugehörigkeit, Ausgeschlossen-Sein. Die Schreibprozesse sind dementsprechend von Diskontinuitäten und schroffen Abbrüchen gekennzeichnet, von Rissen und Nicht-Linearitäten; sie sind wie der Jäger Gracchus immer in Bewegung. Die Kafka-Interpretationen spiegeln das Prekäre, das Bedrohliche, das Bedrohte und Ziellose, die Unmöglichkeit der Heimkehr, das Gegenteil einer Stabilität heimatlicher Ordnung und Friedfertigkeit. Heinrich Böll, einer der vielen Kriegsteilnehmer, die aus der Gefangenschaft in die Heimat zurückkehren, findet seine Heimat nicht mehr vor, Köln ist zu 90 Prozent zerstört. Gabriele Ewenz dokumentiert nach einer ausführlichen Darstellung seines Nachkriegsschicksals und seiner Heimatstadt, wie es dem Heimkehrer Böll nach desolaten Anfängen gelingt, energisch und 8

Editorial

sichtlich seinen Heimatverlust in literarisches Kapital umzuwandeln. Die entstehende Trümmerliteratur ist insofern eine Art von Heimatliteratur, als sie die nationalsozialistischen Verbrechen und ihre Folgen in der Gegenwart anprangert und darauf abzielt, die verloren gegangene Heimat neu zu konstituieren, nicht nur die materielle, sondern auch die geistige, metaphysische Heimat in Anknüpfung an ihre Kultur und Historie vor ihrem Missbrauch im ‚Dritten Reich‘. Eugen Wenzel untersucht in repräsentativen Romanen der umfangreichen Literatur über die Schlacht um Stalingrad im Winter 1942/43 die vielfachen Facetten des komplexen Begriffs Heimat. Für die monatelang unter unmenschlichsten Bedingungen eingeschlossenen Soldaten war Heimat eine heiß ersehnte und zugleich gefürchtete Vorstellung. Während vielen der in dieser Hölle Eingesperrten die Heimat als verlorenes Paradies vorkam, fürchteten andere bei ihrer immer noch erhofften Rückkehr überhaupt keine Heimat mehr zu haben, weil sie vermuten mussten, diese zerbombt vorzufinden oder weil sie – schlimmer noch – sich unter den erleidenden Strapazen selbst der Heimat radikal entfremdet vorkamen. Bei vielen der Eingekesselten, so geht aus den Romanen hervor, entwickelten sich metaphysische Heimatvorstellungen. Zu schmerzlichem Bewusstsein kam den Tod geweihten Soldaten, dass sie die NS-Ideologie in Deutschland zu Mitschuldigen gemacht habe und sie Verursacher geworden seien, auch den russischen Gegnern ihre Heimat zerstört zu haben. Neben den geschilderten entsetzlichen Kriegsszenen kulminiert im vorliegenden Beitrag die Analyse des ausweglosen Schicksals der Wehrmachtssoldaten in ihren Heimat-Gedanken, -Wünschen, -Verlusten oder -Verleugnungen bei der Weihnachts-Improvisation in Stalingrad. Ilse Aichinger entstammte einer jüdisch-österreichischen Familie, Ausgrenzung und Entrechtung durch den Nationalsozialismus zerstörten das Gefühl, irgendwo daheim zu sein. Für die Interpretation ihres Werks in Lyrik wie in Prosa erweist sich die Untersuchung dessen, was Heimat bedeutet, als ungemein fruchtbar und innovativ. Wie Christine Ivanovic nachweist, reflektiert Aichinger, bedingt durch den Verlust von existenzieller Sicherheit, den Begriff komplex, im semantischen Wortfeld mit dem Einbruch des Unheimlichen ebenso wie im Sinne der Erinnerung an einen Ort und in einem positiven Verständnis von Fremde. Auf der Suche nach „Heimaträumen“ in Günter Eichs Nachkriegslyrik vergleicht Walter Hettche Gedichte aus der Zeit des ‚Dritten Reichs‘ mit ihren Überarbeitungen im Band Abgelegene Gehöfte von 1948 und zeigt – in Verbindung mit Eichs Essay Die heutige Situation der Lyrik (1947) –, wie die einstige Nähe zur Blut- und Boden-Literatur konsequent eliminiert und in die 9

Editorial

heit der Gegenwart überführt ist. Die Neufassungen evozieren keine ‚heile Welt‘ mehr, verlieren ihren optimistischen Grundton ebenso wie jegliche idealisierende Darstellung ländlichen Lebens, spiegeln vielmehr Zerstörung, Unruhe, Verunsicherung und Destruktion. Obwohl das Wort ‚Heimat‘ in Eichs Lyrik nirgends auftaucht, entstehen vielfältige Bilder einer nun fremd gewordenen Heimat, lebensfeindlich und unheimlich, weit entfernt von empfindsamen und romantischen Anklängen, einst Idyllisches ist dem Verfall preisgegeben, allenfalls entstehen Wunschbilder und leise Hoffnungen der Figuren, die ihre Heimat verloren haben Italien, das traditionelle Sehnsuchtsland der Deutschen, ist aufgrund der eigenen Vergangenheit kaum geeignet als Gegenentwurf zur kontaminierten Heimat, was Detlef Haberland an zwei Beispielen zeigt. Im Londoner Exil macht die katholisch-jüdische Wienerin das Land in diesen Jahren zum Schauplatz ihres Romans Flöte und Trommeln. Die politische Botschaft, im geschilderten Zeitraum des aufkommenden Faschismus eine Parallele zu den deutschen Verhältnissen zu erkennen, blieb wirkungslos. Die Fremdheit der Geschlechter thematisiert Geno Hartlaubs Roman Die Tauben von San Marco, die differenzierte Darstellung der Protagonistin auf der Suche nach einem selbstbestimmten Leben berührt ein in den 1950er Jahren ein Begehren, das in der Gesellschaft der Heimat noch keinen Raum hat. Wenn für den Schriftsteller Klaus Mann überhaupt ein Heimatgefühl in Anschlag gebracht werden kann, so ist es der volatile Platz eines Schreibtischs. Nicht einmal, wie sein Vater es tat, an ein bestimmtes Möbelstück stellt er dabei Ansprüche, eine handhabbare Unterlage genügt ihm. Unbehaustheit ist, wie Bodo Plachta herausarbeitet, Manns Wesenszug, Geborgenheit erlebt er nur für unbestimmte, meist kurze Zeit. Das Exil mit ständig wechselnden Aufenthaltsorten steigert seine Fremdheit in der Welt, ‚Heimat‘ gestaltet er in den wechselnden Hotelunterkünften durch das Aufstellen persönlicher Gegenstände, besonders von Fotografien der Familienmitglieder und Freunde. Einen festen Bezugsort wusste Regina Ullmann nicht zu finden, der Spannungsbogen von Heimat und Fremde charakterisiert ihr Leben wie ihr Werk. Vom Beginn ihres Schreibens an machte sie durch einen strengen, unverwechselbaren Stil auf sich aufmerksam, der ihr die Hochachtung der Schriftstellerkollegen einbrachte. Topografisch bevorzugt sie ländliche und kleinstädtische Schauplätze, deren karge Lebensbedingungen sie jenseits von Sentimentalität und Idylle schildert. Günter Häntzschel verfolgt an einer Reihe von Erzählungen, wie der Kontrast von Heimat und Fremde, der Ullmanns Werk insgesamt strukturiert, in den 1950er Jahren eine Steigerung erfährt. 10

Editorial

Im Zeichen der aktuellen Zeitgeschichte sind die Personen in Arno Schmidts Romanen auf der Suche nach Zufluchtsorten. Sven Behnke belegt, dass Schmidts Prosawerk in den 1950er Jahren ein zentrales, aber bisher sowohl von der Schmidtforschung als auch dem literarischen Kanon deutscher ‚Fluchtliteratur‘ unbeachtetes, komplexes und sich parallel zu Phasen der Autor-Biografie differenziert entwickelndes Leitmotiv von Flucht und Vertreibung aufweist. Nicht ohne Verweis auf aktuelle Bezüge zeichnet er die literarische Darstellung und Entwicklung des Fluchtmotivs in der auffälligen Nähe zu Schmidts Aufenthaltsorten nach und ordnet die sozialgeschichtlichen Fakten zur Situation von Flüchtlingen und Vertriebenen in den westlichen Besatzungszonen und der frühen Bundesrepublik historisch ein. Deutlich unter den Kennzeichen des Kalten Kriegs und der atomaren Bedrohung angesiedelt, reicht die Arbeit an Marlen Haushofers vielbeachtetem Roman Die Wand (erschienen 1963) bis in die 1950er Jahre zurück. Dystopie und Apokalyptik kennzeichnen die Darstellung der Landschaft, in der die Heldin und Ich-Erzählerin nach Möglichkeiten des Überlebens in einer Welt ohne Mitmenschen sucht. Emanuela Ferragamo weist den zwischen Paradies, Idylle und sublimen Unorten changierenden Landschaftsschilderungen eine identitätsstiftende Bedeutung zu. Die Außensicht auf die deutsche Problematik trägt Joanna BednarskaKociołek mit ihrer Untersuchung des Werks von Stefan Chwin, insbesondere des bisher nur auf Polnisch gedruckten Romans Krótka historia pewnego z˙artu (Kurze Geschichte eines gewissen Scherzes) bei. Geschrieben in den 1990er Jahren und im zeitlichen Abstand aufschlussreiches Seitenstück zu Günter Grass’ Danziger Trilogie, behandelt der Roman die Geschichte der Stadt Danzig nach der Vertreibung der deutschen Bevölkerung und der Übernahme durch die aus ihrer Heimat umgesiedelten polnischen Neubürger. Der Erzähler, der mit dem Autor Chwin biografische Erfahrungen teilt, erlebt, wie durch die Weiterverwendung die vorgefundenen Gegenstände ihre Fremdheit verlieren, erforscht die verborgenen Schriftzeichen der fremden Kultur und entdeckt die Stadt als Palimpsest. Während Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür (1946/47) über die Rückkehr eines Soldaten unmittelbar nach dem Krieg in das zerstörte Hamburg den Nerv der Zeit traf, das als Schauspiel und Hörspiel häufig inszeniert und alsbald kanonisiert wurde, hatte sich die Situation wenige Jahre später grundlegend gewandelt. 1953, nach achteinhalbjähriger Kriegsgefangenschaft in Russland in seine Pfälzer Heimat zurückgekehrt, schrieb der Dramaturg Wolfgang Schwarz den Fünfakter Der Heimkehrer Cornelius, der nicht aufgeführt und sich im Nachlass lediglich als Typoskript-Durchschlag erhalten hat. Sikander Singh 11

Editorial

stellt das für die Literaturgeschichte der 1950er Jahre formal wie inhaltlich bedeutende Stück erstmals vor. Im Wechsel von offenen und geschlossenen Dramenpartien verschränken sich die Realitätsebenen. Es entsteht eine Art schwebender Stillstand, der die deutsche Verfasstheit zwischen schuldbeladener Vergangenheit und unreflektiertem Wiederaufbauglauben widerspiegelt. Durch den Appell an Verantwortung und Moral sucht das Stück kathartisch auf die Gesellschaft einzuwirken. Eine Fotografie des Autors Schwarz und Textzeugnisse aus dem Typoskript unterstreichen die Bedeutung der Entdeckung. Eine Rückkehr in den illusionistischen heilen Zustand von Heimat leistet der Film – der Heimatfilm erlebt in den Jahren 1951–1958 eine Hochkonjunktur. Aus den umfangreichen Korpora greift Sandra Beck die populäre, doch in der Forschung weitgehend unbeachtete Immenhof-Trilogie der 1950er Jahre heraus, die in den 1970er Jahren zwei und 2019 eine weitere Fortsetzung fand. Deutlich wird anhand der Konflikte und Krisen auf dem Ponyhof die Restauration der Gesellschaft mitsamt ihrer neuerwachten Wirtschaftskraft: Die traditionelle Geschlechterordnung wird wiederhergestellt, die Frauen treten in die zweite Reihe, der tüchtige Heimatvertriebene übernimmt die Leitung, aus dem landwirtschaftlichen Betrieb entsteht ein Reiterhof, der Hotelbetrieb wird durch eine innovative Werbekampagne gerettet. Heimat und Familie kehren in die traditionelle Ordnung zurück. Eine Hochzeit als Happy End darf ebensowenig fehlen wie die rührende Aufnahme eines Waisenjungen. Aber unter der dünnen Decke zeigen sich die Relikte der Vergangenheit: Der männliche Protagonist trägt schwer an seinem Schicksal, und wie selbstverständlich werden antisemitische Klischees inszeniert. Auch die intentionale Kinder- und Jugendliteratur kann die Probleme der Zeit nicht aussparen. Die Zukunft des Landes erforderte die Integration der Flüchtlingskinder, Heimat bedeutet Überleben und endlich Geborgenheit. Christiane Raabe untersucht die pädagogischen Strategien, Mitleid, Verständnis und Solidarität zu erwecken. Sei es durch die realistische Schilderung im Bilderbuch, in Geschichten von früh erwachsen gewordenen Mädchen und Jungen oder in dem Versuch, im Chaos eine Familienidylle zu bewahren, sei es durch eine Legende zur Gründung von Kinderdörfern – die narrativen Muster der ausgewählten Bücher fügen sich zu einer repräsentativen Bandbreite. Noch ist, wie verschiedene Male gezeigt wird, die Lingua Tertii Imperii auch im neuralgischen Genre des Kinder- und Jugendbuchs virulent, noch herrschen vorzugsweise rührselige oder moralische Schreibweisen vor. Das herausragende Gegenstück ist Lisa Tetzners Romanzyklus Die Kinder aus Nr. 67, und mit dem Beginn des nächsten Jahrzehnts werden Autoren wie Michael Ende und James Krüss eine neue Qualität des Schreibens für Kinder einleiten. 12

Editorial

Wir danken dem Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass in Saarbrücken und Sabine Schäfer für die Überlassung der Abbildungsvorlagen. München und Darmstadt, im Mai 2021, die Herausgeber

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Verlust

Nils Rottschäfer

Kafka als Reflexionsfigur für den Heimatdiskurs nach 1945: Arendt, Blumenberg, Hildesheimer, Celan Dieses Buch erzähle „vom Vergessen. Das heißt von mir, dem Verfasser des Buches, der mit mir nicht identisch ist, das heißt von meinem Zwilling. […] Nachdem seine Heimatlosigkeit durch eine unerwartete, doch umso zwangsläufigere Tragödie besiegelt worden war, brach er auf, um die zu verstehen, mit denen ihn genauso wenig verband wie mit der eigenen Zukunft.“ Weiter heißt es: „Und um seinen Seelenschmerz zu ertragen, flüchtete er in seine Phantasie, um die Vergangenheit neu zu schreiben, die ihm niemals Heimat gewesen war, wie auch seinen Eltern nicht, die er verloren hatte.“ Dieses Zitat stammt aus dem Fragment gebliebenen Text Kafkas Sohn von Szilárd Borbély, der mit dem 2014 veröffentlichten Roman Die Mittellosen Aufsehen erregte.1 Interessant für das Verhältnis von Heimat und Literatur ist dieses Zitat deshalb, weil es das Verhältnis von Schreiben, Sprache, Heimat und Heimatlosigkeit ausdrückt: Bei Franz Kafka konnte Borbély die Sehnsucht nach Ankommen, Angenommen-Werden und Zugehörigkeit in radikaler Konsequenz poetisch ausgestaltet finden. Markiert ist damit zugleich die eigene literarische Position, die durch den intertextuellen Verweis eine ästhetische Selbstvergewisserung ermöglicht. Borbély ist keine Ausnahme: Mit Kafka ‚im Gepäck‘, in der Artikulation eines ‚Auf-den-Spuren-Gehens‘ lassen sich Reflexionen über Heimat und Heimatlosigkeit entwickeln, die Autor*innen für sich in Anspruch nehmen können. Wie werden Gedanken ‚vererbt‘, wie Denken ‚weitergegeben‘? Diese Fragen sind für den Heimatdiskurs nach 1945 besonders virulent. Bis in die Gegenwartsliteratur hinein bleibt Kafka ein wichtiger Orientierungspunkt, und es ist wohl kein Zufall, dass mit dem Ungarn Borbély ein osteuropäischer Schriftsteller ein empathisches Kafka-Verständnis artikuliert. Was bedeutet 1

Szilárd Borbély: Kafkas Sohn. Prosa aus dem Nachlass. Aus dem Ungarischen übersetzt, mit Kommentaren und mit einem Nachwort versehen von Heike Flemming und Lacy Kornitzer. Berlin 2017, S. 8 f. In einem Interview aus dem Jahr 2004 beschreibt Borbély Kafka als die „große Lektüreerinnerung meiner Jugend. […] Die Heimatlosigkeit, Verlorenheit darin, die ich so gut kannte, riss mich mit sich fort. Die Sehnsucht nach Gewissheit, das Ausgeliefertsein, die Schutzlosigkeit und Nacktheit des verachteten und erniedrigten Menschen erheben in diesem Roman [gemeint ist Der Proceß] auf fast schon schamlose Weise die Stimme.“ Ebd., S. 193. 17

Nils Rottschäfer

Kafka für die ‚Nachkommen‘, welche Geschichte wird von ihm aus erschlossen? Die eigene Biografie wird in die andere verwoben, auf sie bezogen; der Blick auf das, was ‚Heimat‘ sein könnte (oder eben nicht), gerät zu einem Gegenstand der Reflexion und zu einem poetischen Sujet. An Borbély zeigt sich eine Typik der Rezeption, die höchst aufschlussreich für das Nachdenken über Heimat, Heimatlosigkeit und Zugehörigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist. Die in den Kafka-Lektüren entwickelten Vorstellungen vom Heimatlichen lassen sich in den ersten Jahren nach 1945 deutlich beobachten, etwa bei Hannah Arendt, Hans Blumenberg, Wolfgang Hildesheimer und Paul Celan, deren Texte poetische, poetologische, philosophische und soziologische Positionsbestimmungen ganz wesentlich im Rückgriff auf Kafka entfalten – dem zentralen Impulsgeber für die drängende ‚Heimat‘-Frage im Anschluss an Shoah und Krieg. Betroffen ist damit ebenso eine erfahrungsgeschichtliche Dimension, die in den folgenden Beispieltexten, die eine ähnliche argumentative Struktur aufweisen, offen zutage tritt. Gewiss, das scheint eine unzulässige Pauschalisierung zu sein; diese gerät jedoch zu einer sinnvollen Verallgemeinerung, wenn man die jeweiligen Kafka-Bezüge genauer konturiert und sich im Hinblick auf ‚Heimat nach 1945‘ anschaut, um die kulturelle Lage Nachkriegsdeutschlands zu bewerten. Die biografischen Erfahrungen dieser Autor*innen sind geprägt durch den Widerstand gegen das NS-Regime, durch den erzwungenen Wechsel ins Exil, durch Gefangenschaft und Verfolgung, Deportation, durch Erfahrungen gebrochener Beheimatung.2 Es ist die „vernähte Zäsur“, von der in Paul Celans Gedicht Ars Poetica 62 die Rede ist, an der sich diese Texte – mit Kafka als Verbündetem – abarbeiten. Existenzielle Zäsuren, Ungewissheiten des Weges, vielfältig gebrochene Biografien, Flucht und Verfolgung: Sie werden zu besonderen Deutungsherausforderungen. Kann man sich ‚Heimat‘ wieder aneignen, und wie kann man angemessen über sie sprechen? Die im Folgenden untersuchten Beispieltexte werfen konsequent die Frage nach den Verstehensmodi von Heimat und Heimatverlust auf, nach dem Bild von der Heimat als Ort der Muttersprache, der Kultur, und andererseits das 2

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Vgl. beispielhaft für die Biografie Wolfgang Hildesheimers Stephan Braese: Jenseits der Pässe. Wolfgang Hildesheimer. Göttingen 2016; siehe für Hannah Arendt Elisabeth Young-Bruehl: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit. Aus dem Amerikanischen von Hans Günter Holl. Frankfurt a. M. 1986. Habbo Knoch schreibt: „Schon während des Nationalsozialismus, aber auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit waren es ins Exil geflohene Intellektuelle, die ihre Entrechtung als Heimatverlust beschrieben.“ Habbo Knoch: „Heimat“. Konjunkturen eines politischen Konzepts. In: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft (2018), H. 4, S. 19–34, hier S. 23.

Kafka als Reflexionsfigur für den Heimatdiskurs nach 1945

Heimatbild von Terror, Unterdrückung, Gewalt, Vertreibung und Vernichtung. In diesem Sinne produzieren die Heimatreflexionen eine sensibilisierende Urteilskraft gegenüber der kulturellen und geistigen Situation im Nachkriegsdeutschland. Die Anziehungskraft Kafkas besteht gerade in ihrer charakteristischen Mischung des Werkschöpfers und der Dichter-Figur, die ästhetisches Interesse auf sich zieht. Hier zeigt sich explizit eine wirkungsgeschichtliche ‚Fracht‘. Wofür ‚brauchen‘ die Autor*innen Kafka, wenn sie über ‚Heimat‘ nachdenken oder poetisch reflektieren? Wie wird Kafka selbst zum Gegenüber der Texte, zu einer grundlegenden poetischen Selbstauslegungsfigur gemacht und daraus (Selbst-)Begegnung als ästhetische Kategorie gewonnen? Kafka als Paradigma: Durch komplexe wie ambige Zuschreibungen, die besonders aus der Perspektive der Nachgeschichte erkennbar werden, entsteht ein für die Moderne grundlegendes und strukturbildendes Heimatprinzip: Die sentimentalische Sehnsucht nach Heimat, Zugehörigkeit, nach etwas Verbindendem bei gleichzeitigem Bewusstsein, diesen Zustand niemals erreichen zu können.3 Aus einer festen, erfahrenen und erfahrbaren ‚Heimatordnung‘ ist das moderne Subjekt herausgefallen. „Ich bin Ende oder Anfang“:4 Dieser Satz Kafkas, der direkt in das Zentrum seiner Poetik führt, bezog sich auf seine schwierige Stellung in einer Welt, die sich von Selbstverständlichkeiten, Bindungen und Traditionen gelöst hat, ohne neue Formen der Verbindlichkeiten zu schaffen; darauf, dass sich das Individuum aus seinen sozialen Bezügen herausgelöst hat – das ‚Dazwischen-Sein‘ ist die hierfür angemessene Position. Jean Amérys Frage „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“5 wurde entweder explizit oder implizit in dieser Zeit des kollektiven wie individuellen Bedürfnisses nach Weltdeutung gestellt, aber auf sehr unterschiedliche Weise beantwortet. In den frühen Jahren nach 1945, geprägt durch Wertezerfall, Bindungs- und Orientierungslosigkeit, entstand ein hoher Legitimationsbedarf, eine Suche nach Sinnstiftungsinstanzen und Selbstverortung, die auch das ‚Heimatproblem‘ dezidiert miteinbezog. An was kann man sich ästhetisch 3

4 5

Der pointierte Titel von Judith Butlers Aufsatz Who Owns Kafka? deutet ebenfalls dieses Grundproblem an. Butler verweist  – im Kontext des Streits um Kafkas Erbe – auf die in Kafkas poetischem Werk verhandelte Heimatlosigkeit sowie auf sein Verhältnis zum Jüdischsein. Kafka habe selbst eine ‚stabile‘ Beziehung von Selbst und Heimat grundsätzlich in Frage gestellt. In: London Review of Books 33 (2011), H. 5, S. 3–8. Aus dem „Vierten Oktavheft“. Franz Kafka: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß. Hg. von Max Brod. Frankfurt a. M. 1986, S. 89. Jean Améry: Wieviel Heimat braucht der Mensch? In: Ders.: Werke. Bd. 2: Jenseits von Schuld und Sühne, Unmeisterliche Wanderjahre, Örtlichkeiten. Hg. von Gerhard Scheit. Stuttgart 2002, S. 86–117. 19

Nils Rottschäfer

und kulturell klammern? Wo findet man Vertrauen, Sicherheit, Zugehörigkeit? Das moderne Subjekt kann sich nicht mehr so einfach beheimaten und verorten, wenn Heimat nicht mehr selbstverständlich als historisch überlieferter Traditionszusammenhang gegeben und ‚gesetzt‘ ist: Sie wird nach 1945 zu einer besonderen Herausforderung, sie muss gedacht, dargestellt und figuriert werden. Aufschlussreich ist dabei, dass für Literatur, Philosophie und Soziologie, wenn sie in den ersten Nachkriegsjahrzehnten über Heimat und Heimatverlust, Heimkehr und Exil nachdenken, Kafka eine wesentliche Rolle als Diskurspartner gespielt hat. Nur einige Beispiele für die große Bedeutung Kafkas als Referenz- und literarische Orientierungsfigur: Hermann Kasack, Anna Seghers, Heinrich Böll, Walter Jens, Ilse Aichinger, Hans Erich Nossack, Martin Walser, dessen Beschreibung einer Form man ja als eine erste Poetologie begreifen kann,6 Peter Handke.7 Bedeutsam sind zudem die Spuren in der deutsch-jüdischen Literatur, etwa im Werk Elias Canettis, der unter anderem Kafkas Briefwechsel mit Felice Bauer einen großen Essay (Der andere Prozeß) gewidmet hat – und natürlich Paul Celan, besonders eindrücklich in seinem Gedicht Frankfurt. September.8 ‚Heimat‘ nach 1945 heißt: die Erfahrung von Instabilität, von (metaphysischer) Haltlosigkeit, der Verlust von verlässlichen Bezügen und der ‚Ortung‘. Unmöglich geworden ist nun auch die Beheimatung in einem kollektiven Zuhause; ‚Volk‘, ‚Vaterland‘, ‚Gemeinschaft‘ oder ‚Heimatraum‘ sind kontaminierte Begriffe  – bei seiner Heimatsuche ist das Subjekt ganz auf sich selbst zurückgeworfen. Zum Verständnis des Heimatlichen – eine heftig debattierte Reizvokabel, die bis heute polarisiert – gehört zudem die Vorstellung von Behaglichkeit, Tradition, Rückwärtsgewandtheit, kurz: das ‚Tümelnde‘, konstitutiv dazu. Das Wort weist viele Gebrauchs- und Missbrauchsspuren auf;9 stets 6

Martin Walser: Beschreibung einer Form. Versuch über Franz Kafka. München 1963. Auch in seinem literarischem Werk hat Walser auf Kafka reagiert, etwa in seinem Roman Die Gallistl’sche Krankheit (1972). Zu nennen wäre auch, besonders in Hinblick auf Kafkas Jäger Gracchus-Erzählung, W. G. Sebalds Prosadebut Schwindel. Gefühle, 1990 erschienen. Vgl. hierzu Oliver Sill: „Aus dem Jäger ist ein Schmetterling geworden.“ Textbeziehungen zwischen Werken von W. G. Sebald, Franz Kafka und Vladimir Nabokov. In: Poetica 29 (1994), H. 4, S. 596–623. Auch für das Werk Wolfgang Hilbigs lässt sich ein großer Einfluss Kafkas nachweisen (Der Heizer). „Die Heimat“, so Peter Mayer, wird für Celan „wirklich nur erlebt als geistiger Besitz im Exil. Damit allein ist dann die Rückkehr in die Heimat Sinnbild der Erlösung.“ Peter Mayer: Paul Celan als jüdischer Dichter. Heidelberg 1969, S. 141. Vgl. als Übersicht Susanne Scharnowski: Heimat. Geschichte eines Missverständnisses. Darmstadt 2019. Eine gute Einführung in die Heimat-Thematik bieten

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bewegen sich Begriff und Konzept in einer eigenartig-doppelpoligen Wellenbewegung: einerseits das Rettende, Bergende, Sich-aufgehoben-Fühlen, Versöhnliche, Sinnhafte, Sehnsuchtsvolle, aber auch das Statisch-Beharrende, Stereotype, Reaktionäre, Ausschließende. Das moderne Subjekt kennt die Spannungen zwischen Sehnsucht nach Heimat und ihrer Geringschätzung.10 Nach dem Zweiten Weltkrieg bekommen die Debatten über Heimat, Heimkehr und Exil eine neue Dringlichkeit, deutlich sichtbar etwa an Wolfgang Borcherts breit rezipierter Heimkehrerdichtung Draußen vor der Tür. Der das Kollektivgedächtnis prägende Beckmann ist derjenige, der sein Schicksal als „verhängnisvolles Geschick“ erfährt, „das einem oder vielen oder einer ganzen Generation von außen bereitet wird. Nun, da die äußere Sicherheit des Lebens wiedergewonnen, das Dach über dem Kopf zur Selbstverständlichkeit geworden ist, werden ‚Unbehaustheit‘, ‚transzendentale Obdachlosigkeit‘, ‚Geworfenheit‘ zu Metaphern der Existenz“, wie Wilfried Barner schreibt.11 Arendt, Blumenberg, Hildesheimer und Celan knüpfen ein dichtes Netz von Symbol- und Motivverflechtungen, die im engen Zusammenhang mit einer wichtigen Thematik des Kafka-Werks stehen: dem heimatlos gewordenen, ruhelos umherwandernden Subjekt, dem Heimkehr letztendlich verweigert wird – Heimat als etwas, das der Mensch verloren hat, ohne es jemals wirklich besessen zu haben. Die genannten Autor*innen sind Nachreisende, Nachgänger Kafkas; in ihren hochreflektierten Texten artikulieren sie Heimat, Heimatsuche und Heimatlosigkeit auf ganz unterschiedliche Weise. Sie setzen die Vagabondage von Kafkas modern-sentimentalischer Heimatsehnsucht nach der Zäsur von Shoah und Zweitem Weltkrieg fort, eng verbunden mit Aufbruchsgesten, die sich über die Affirmation und gleichzeitige Brechung ‚klassischer‘ Heimatmotive erschließen. Das Ziel der folgenden Überlegungen besteht darin, die produktive Auseinandersetzung mit Kafkas literarischem Werk (und mit seiner Biografie: Kafka als heimatloser Dichter) anhand exemplarischer Analysen im Kontext des Heimatdiskurses nach 1945 zu reflektieren und zu

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ther Gebhard, Oliver Geisler und Steffen Schröter: Heimatdenken: Konjunkturen und Konturen. Statt einer Einleitung. In: Dies. (Hg.): Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts. Bielefeld 2007, S. 9–56. Diese Ambivalenzen lassen sich an Nietzsches Gedicht Der Freigeist besonders gut zeigen auch am Werk Brechts. Vgl. hierzu Jan Urbich: „Heimwärts kam ich spät gezogen“. Das Subjekt der Heimkehr in Dichtung und Philosophie der Moderne. Eine kurze Problemgeschichte. Göttingen 2020, S. 14 f. Wilfried Barner: Krieg und Nachkrieg: Erzählprosa im Westen. In: Ders. (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. 2., erw. Aufl. München 2006, S. 31–75, hier S. 74. 21

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deuten. Welche Rolle der intertextuelle Dialog mit Kafka für die Diskussionen über ‚Heimat‘ nach 1945 spielt, welchen Einfluss sein Werk für die kulturelle Selbstverständigung nach dem Zweiten Weltkrieg hat, sei an diesen vier Beispielen erläutert. Auf was kann sich das Subjekt beziehen, wo erfährt es Zugehörigkeit? Verstehbar ist Heimat als eine Suchbewegung; sie impliziert auch ein bestimmtes Reden von der Heimat, also ihrer Schreibweisen, ihrer literarischen Verfahren und Erzählweisen, ihrer poetologischen Reflexionen und ihrer Bezugnahmen auf Gattungstraditionen. Die leitende These lautet, dass dieses Nachdenken über Heimat ganz wesentlich in Anlehnung an den ‚großen‘ Vorgänger vollzogen wird. Paul Celan war es, der das moderne Heimatverständnis pointiert in einem knappen Aphorismus, gegen Novalis gewendet, formulierte: „‚Wohin gehen wir. Immer nachhause.‘ Sie tuns. Ich nicht! ich hause im Nach, das geht und geht.“12 Verfolgung, Vertreibung und Exil, wie im Falle der vier Beispielautor*innen, bedingen Blicke auf das Heimatliche, das angesichts von Gebrochenheit und transitorischer Existenz nicht einfach poetisch (wieder) angeeignet werden kann, und sei es auch als Projektion oder Verheißung. Vielmehr sind solche Lebenswege und Heimat-Gedächtnisse, die auch die Opfer miteinschließen und miterinnern, durch „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) und Barbarei verursachte traumatische Brüche gezeichnet, die weitreichende Konsequenzen für das Verständnis von Heimat(losigkeit) nach 1945 haben. Die Unmöglichkeit von Heimat angesichts der begangenen Verbrechen bringt ein Vers Celans auf den Punkt: „Meine blonde Mutter kam nicht heim“.13 Georg-Michael Schulz betont, dass „Heimkehr“ für Celan „der utopische Begriff schlechthin“ sei.14 Die Frage 12

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Paul Celan: „Mikrolithen sinds, Steinchen“. Die Prosa aus dem Nachlaß. Kritische Ausgabe. Hg. und kommentiert von Barbara Wiedemann und Bertrand Badiou. Frankfurt a. M. 2005, S. 58. So in einem frühen Gedicht, das mit dem Vers Espenbaum, dein Laub blickt weiß ins Dunkel beginnt. Paul Celan: Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Mit den zugehörigen Radierungen von Gisèle Celan-Lestrange. Hg. und kommentiert von Barbara Wiedemann. Berlin 2018, S. 36. In sein Exemplar von Jean Amérys Buch Jenseits von Schuld und Sühne schrieb Celan die Verse: „Heimat. – Und ich? Ich war nicht einmal / zuhause, als ich daheim / (zuhause) war.“ Zit. n. Leonard Olschner: Im Abgrund Zeit. Paul Celans Poetiksplitter. Göttingen 2007, S. 24. Georg-Michael Schulz: Negativität in der Dichtung Paul Celans. Tübingen 1977, S. 44. Christine Ivanovic´ liest Celans Dichtung insgesamt als ein „ewiges Unterwegssein“, als ein „Nie-nach-Hause-Gelangen-Können“: „Der Weg quer durch Europa, der Versuch einer Situierung seiner selbst in einer von mehrfachen räumlichen und historischen Wechsel gekennzeichneten Konstellation ist die Bedingung für die Entstehung dieser Gedichte.“ Christine Ivanovic´: Das Gedicht im

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nach dem ‚Woher‘ und nach dem ‚Wohin‘ hat Celan in seinen Gedichten und in seinen poetologischen Überlegungen, besonders prominent in der MeridianRede,15 immer wieder formuliert: „Gesungen wird: / Wohin dein Woher?“ (Oldest Red).16 Andererseits beschrieb Celan seine Heimat als „Gegend […], ‚in der Menschen und Bücher lebten‘“.17 Heimat meint also auch: Die kulturelle Heimat, Heimat in der Sprache und in der Literatur – darauf kann sich das Subjekt beziehen, dort erfährt es Zugehörigkeit. Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung, Blochs monumentales Exilwerk Das Prinzip Hoffnung, in dem ‚Heimat‘ zu einer utopischen Chiffre wird, Helmuth Plessners „exzentrisches In-der-Welt-Sein“, Hans Blumenbergs Die Legitimität der Neuzeit und Die Genesis der kopernikanischen Welt, Erich Auerbachs große Studie Mimesis, deren incipit lautet: „Die Leser der Odyssee erinnern sich der wohlvorbereiteten und ergreifenden Szene im 19. Gesange, in der die alte Schaffnerin Eurykleia den heimgekehrten Odysseus, dessen Amme sie einst war, an einer Narbe am Schenkel wiedererkennt“18 – diese Heimat-, Heimatlosigkeits- und Heimatsehnsuchtstheorien und -konzepte lassen sich verstehen als Antworten auf moderne Beschleunigungs- und Entfremdungsprozesse und auf reflexiv gewordene geschichtliche Erfahrungen; daran schließt auch Hartmut Rosas vieldiskutierte ‚Resonanz‘-Theorie an.19 Bereits Georg Lukács sprach in seiner 1916 erschienenen Romantheorie folgenreich von der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ als dem vorscheinenden Charakteristikum der modernen Welt. In dieser sei die „Lebensimmanenz des Sinnes zum Problem geworden“.20 Das Subjekt muss sich nun auf die Zumutungen und Herausforderungen der Moderne einlassen.

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Geheimnis der Begegnung. Dichtung und Poetik Celans im Kontext seiner russischen Lektüren. Tübingen 1996, S. 14. „Wir sind, wenn wir so mit den Dingen sprechen, immer auch bei der Frage nach ihrem Woher und Wohin: bei einer ‚offenbleibenden‘, ‚zu keinem Ende kommenden‘, ins Offene und Leere und Freie weisenden Frage – wir sind weit draußen. Das Gedicht sucht, glaube ich, auch diesen Ort.“ Paul Celan: Der Meridian. In: Ders.: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Bd. 3: Gedichte 3. Prosa. Reden. Hg. von Beda Allemann und Stefan Reichert. Frankfurt a. M. 1983, S. 187–202, hier S. 199. Celan, Die Gedichte (Anm. 13), S. 521. Peter Villwock: Celan und Nietzsche. Gespräch im Gebirg. In: Nietzsche-Studien 41 (2002), S. 388–411, hier S. 391. Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern 1946, S. 7. Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 2016. Georg Lukács: Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Darmstadt u. a. 41977, S. 32. 23

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Dies ist eine – nur grob skizzierte – Wurzel des modernen Nachdenkens über Heimat. Das Verhältnis von Subjekt und Welt ist freilich spannungsreicher und vielschichtiger, als ich es hier andeuten kann. Gemeinsam ist diesen Deutungen, dass ‚Heimat‘ keine Selbstverständlichkeit und fraglose Gegebenheit (mehr) ist – und das ganz besonders nach 1945. Es ist darum kein Zufall, dass ganz besonders Kafkas ahasverische Gestalt des Jägers Gracchus, ein zu endund zielloser Wanderschaft Verdammter, ästhetisches und philosophisches Interesse als Existenz- und als poetologische Metapher auf sich zog.21 Nichts macht die Ambivalenz von Heimatsehnsucht bei gleichzeitigem Bewusstsein der Unmöglichkeit von Beheimatung so evident wie der Jäger Gracchus (und sein Fortleben in Texten nach 1945). In seiner Bedeutung für die Modellierung einer gebrochenen und letztlich unmöglichen Wahrnehmung von Heimat und Zugehörigkeit ist Kafkas Fragment kaum zu überschätzen. Hier, wie auch in der kurzen Erzählung Heimkehr, wird einsichtig, was Heimat in der Moderne eigentlich heißt. „Wer bist Du?“:22 Die Frage des Jägers, gerichtet an den Bürgermeister von Riva mit dem allegorisierenden Namen ‚Salvatore‘, zielt auf das Eigentliche und schlechthin Unverwechselbare, auch: auf seine Beheimatung. Für Arendt, Blumenberg, Hildesheimer und Celan bedeutet ‚Heimat‘ ein komplexes Geflecht von Individuation, Sprache, Judentum, Lektüre und Geschichte.23 In dieser Spannung kann das Werk Kafkas, das hierfür eine Art Resonanz21

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Zum „Jäger Gracchus“-Komplex gehören aus dem Nachlass veröffentlichte Erzählfragmente, die Kafka Ende Dezember 1916 in den Oktavheften B und D festgehalten hat. Vgl. Helmut Binder: Der Jäger Gracchus. Zu Kafkas Schaffensweise und poetischer Topographie. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 15 (1971), S. 375–440. Max Brod publizierte diesen Prosazusammenhang erstmalig 1931 in seiner Edition der Prosa aus dem Nachlass unter dem Titel Beim Bau der Chinesischen Mauer. – Aufgrund seines sprechenden Namens rückt der Jäger in die Nähe seines Erfinders: Der Name ‚Gracchus‘ bezieht sich auf das lateinische ‚graculus‘ bzw. auf das italienische ‚gracchio‘  – die Bezeichnung für ‚Dohle‘, wiederum die deutsche Entsprechung des tschechischen Vogelnamens ‚Kavka‘. Vgl. zu diesen Verbindungen auch Oliver Jahraus: Kafka. Leben, Schreiben, Machtapparate. Stuttgart 2006, S. 364 f. Siehe zum ‚Dohlen‘-Komplex auch Kafkas Erzählung Ein altes Blatt: „Sprechen kann man mit den Nomaden nicht. Unsere Sprache kennen sie nicht, ja sie haben kaum eine eigene. Unter einander verständigen sie sich ähnlich wie Dohlen. Immer wieder hört man diesen Schrei der Dohlen.“ Franz Kafka: Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa. Hg. von Roger Hermes. Frankfurt a. M. 122014, S. 307. Franz Kafka: Texte zum Jäger Gracchus-Thema. In: Ders.: Die Erzählungen (Anm. 21), S. 266–276, hier S. 268. Der Titel von Anthony Kauders’ Studie Die unmögliche Heimat (Eine deutsch-jüdische Geschichte der Bundesrepublik. München 2007) weist auf das Dilemma von Jüdinnen und Juden hin, nach 1945 wieder in Deutschland zu leben.

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raum bildet, gesehen werden: als ein Versuch, Heimatlosigkeit und Sehnsucht nach Beheimatung zur Sprache zu bringen. Des Jägers moderne Existenzweise folgt einer unkontrollierten Bewegung in einem Transitraum zwischen Diesseits und Jenseits: „auf der großen Treppe die hinaufführt“ sei er „immer in Bewegung“. Sein „Kahn“ sei „ohne Steuer, er fährt mit dem Wind der in den untersten Regionen des Todes bläst“.24 Der schwimmende Sarg verfehlt sein Ziel; ausdrücklich „[k]eine“ Schuld trage er an seinem Schicksal: „Der große Jäger vom Schwarzwald hieß ich. Ist das eine Schuld?“25 Manfred Frank bezeichnet das „Kafkasche Paradox“ mit „der Wendung, dass der Entzug eines transzendenten Zieles der menschlichen Existenz keineswegs gestattet, sich im Diesseits heimatlich einzurichten: Unter dunkeln Himmeln, die keine Hoffnung mehr gewähren, schwelt trotzdem eine nicht zu befriedigende Sehnsucht, die über alles Erreichbare hinausdrängt und den Lebenskahn nicht zur Ruhe kommen lässt.“ Und: „Der aus allen Bindungen Entbundene kann in nichts Bestimmten mehr heimisch oder sesshaft werden.“26 Ganz besonders ist nach 1945 zu gestalten, wie sich das Subjekt nach den katastrophalen geschichtlichen Erfahrungen auf die Welt bezieht, wie es in ihr ‚heimisch‘ zu werden versucht. „Es gibt in der Literatur des 20. Jahrhunderts“, so Thomas Sparr, „kein Werk, das mit der Erfahrung der Fremdheit, der Entfremdung so ernst macht wie das Kafkas“.27 Die fundamentale Kategorie der Heimat meint bei den betreffenden Autor*innen und deren Kafka-Responsionen gerade auch dies: sich einer ästhetischen Tradition zu vergewissern, sich in ihr zu beheimaten. Für Kafka hat die tiefgreifende Auseinandersetzung mit einem ‚Zuhause‘, mit Grenzen und Schwellen, mit dem Transitorischen strukturelle Bedeutung; die verpasste Rückkehr ist ein für ihn wichtiges Motiv. Seine Figuren – Fremde, Einzelgänger, Zurückgewiesene – bewegen sich in eigenartig ortlosen Räumen, 24 25

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Kafka, Jäger Gracchus (Anm. 22), S. 269, 270. Ebd., S. 269. Das erinnert an die Landarzt-Erzählung. Dort heißt es am Schluss: „Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt  – es ist niemals gutzumachen.“ Ebd., S. 260. Manfred Frank: Die unendliche Fahrt. Zur Pathogenese der Moderne. 3., überarb. u. erw. Aufl. Paderborn 2016, S. 23, 34. Thomas Sparr: Celan und Kafka. In: Celan-Jahrbuch 2 (1988), S. 139–154, hier S. 146. Prägnant bestimmte Thomas Mann die Künstler-Problematik im Werk Kafkas, in der auch seine Anziehungskraft liege. Er diagnostizierte in den Texten Kafkas den „Ausdruck der Fremdheit und Einsamkeit des Künstlers (und obendrein des Juden!) unter den Einheimischen des Lebens, […].“ Thomas Mann: Dem Dichter zu Ehren. Franz Kafka und ‚Das Schloß‘. In: Ders.: Schriften und Reden zur Literatur, Kunst und Philosophie. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1968, S. 374–380, hier S. 378. 25

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sie bleiben irgendwo stecken. Und doch: So schnell geben sie nicht auf, trotz ihrer Verzweiflung sind sie nie ganz hoffnungslos; eine prägnante utopische Signatur bleibt den Texten Kafkas erhalten. Achim Küpper hebt den lebensgeschichtlichen Erfahrungsraum Kafkas hervor: „Als Prager deutscher Autor und als Erbe der alten K.-u.-k.-Monarchie im Moment ihres historischen Zusammenbruchs wirkt Kafka gleichzeitig an der drei- oder vierfachen Peripherie, die das Schreiben als Deutschsprachiger und als Jude im Prag zu Beginn des 20. Jahrhunderts bedeutet, an einer kulturellen und geografischen Schnittstelle, in einer insularen Volks- und Sprachenklave, aber auch am Rand einer Epoche.“28 Das Nomadische fungiere in Kafkas Werk „als Bildarchiv und zugleich als (Schreib-)Konzept, d. h. als konkretes Figuren- oder Motivfeld und als davon abstrahiertes Text-Paradigma“.29 Kafkas Literatur, genauer: das „Zauder-Verfahren“, so Joseph Vogl, bestehe im „Aushalten einer Schwellenwelt“. Und „diese Zwischenwelt“ habe „eigenste Gestalten hervorgebracht: Unfertige und Halbgeborene, Kreuzungen, kindliche und verwechselbare Gehilfen, ewig umherirrende Wesen oder solche, die sich lebend und leblos zugleich jeder Bestimmung entziehen  – […].“ Und genau „[d]iesen umherschweifenden Wesen“ gelte „Kafkas tiefste Solidarität. Ihre Existenz ist unbestimmt, und ihr Reich ist ein Zwischenreich.“30 Diese ‚Unbehaustheit‘, dieses permanente Draußen- und Dazwischen-Sein, fasziniert Kafka: Der Landvermesser K., der niemals wirklich ankommt, hat das Gefühl, „er verirre sich oder er sei so weit in der Fremde, in der selbst die Luft keinen Bestandteil der Heimatluft habe, in der man vor Fremdheit ersticken müsse und in deren unsinnigen Verlockungen man doch nichts tun könne als weiter gehen, weiter sich verirren.“31 Die Bewegung des aus allen Bindungen freigesetzten Subjekts kann nicht zur Ruhe kommen, die ‚Wunde Heimat‘ nicht geheilt werden. Auch der Jäger Gracchus ist nicht imstande, seine Geschichte „im Zusammenhang“ zu erzählen: „Die alten, alten Geschichten.“32 Die „Würfel“, mit denen die „[z]wei Knaben“ zu Beginn der Erzählung spielen,33 lassen sich gleichsam als selbstreflexiv-metapoetische

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Achim Küpper: Franz Kafka, die Schrift und das Nomadische. In: Csaba Földes, Detlef Haberland (Hg.): Nahe Ferne – ferne Nähe. Zentrum und Peripherie in deutschsprachiger Literatur, Kunst und Philosophie. Tübingen 2017 (Beiträge zur Interkulturellen Germanistik 9), S. 85–102, hier S. 85. Ebd., S. 86. Joseph Vogl: Über das Zaudern. Zürich 2007, S. 129 f. Franz Kafka: Das Schloß. München 1926, S. 79. Kafka, Jäger Gracchus (Anm. 22), S. 274. „Frag nicht weiter“, bittet der Jäger: „Hier bin ich, tot, tot, tot. Weiß nicht, warum ich hier bin.“ Ebd., S. 276. Ebd., S. 266.

Kafka als Reflexionsfigur für den Heimatdiskurs nach 1945

Geste deuten, die das eigene Erzählverfahren (und die Unmöglichkeit einer endgültigen Beheimatung) spiegelt. Damit sind die zentralen Stichworte genannt: Die Verschränkung von Biografischem, Schreibweisen, poetologischer Reflektiertheit und moderner ‚Unbehaustheit‘. Die literarische und wissenschaftliche Komplexität der Heimatreflexionen: Sie lassen sich als Teil eines Prozesses begreifen, der mit Kafkas ‚Denkform Heimat‘ begonnen hat. * Im Jahre 1948 erschienen Hannah Arendts Sechs Essays als drittes Sonderheft der Zeitschrift Die Wandlung. In diesen Texten konzipiert Arendt wesentliche Grundgedanken und argumentative Strukturen, die auch für ihre späteren Arbeiten wichtig werden, in denen sie diese Fäden noch einmal aufnimmt. Diese Essays kann man als Versuch deuten, eine universale Vorstellung von ‚Heimat‘ systematisch zu entwickeln. In den Texten Die verborgene Tradition, Franz Kafka: Der Mensch mit dem guten Willen und Juden in der Welt von gestern zieht Arendt eine große Linie jüdischer Geschichte, von der Emanzipation im 18. Jahrhundert bis zu der Erfahrung, „überzählig und überall im Weg“ zu sein – so wie der Landvermesser K. in Kafkas Schloß.34 Arendt begreift den ‚Paria‘ als grundlegende Chiffre für moderne Haltlosigkeit und Verlorenheitserfahrungen, die sie an den Dichtern Heine und Kafka, an Charlie Chaplin und an dem französischen Journalisten Bernard Lazare verdeutlicht. Während Heine „dem jüdischen Volk sein Heimatrecht zumindest in der Welt der europäischen Kultur neu und zeitgemäß“ bestätigen konnte,35 sei Kafkas „Mensch guten Willens“ eigenschaftslos geworden, „einfach verloren“, um bloß nicht aufzufallen.36 Kafkas Landvermesser K. im Schloß – ein Roman, der das „jüdische Problem […] abhandelt“ – sei ein „Fremder, den man nirgends einordnen kann, weil er weder zum Volk noch zur Regierung gehört“.37 Einen „rechtlichen Anspruch auf Aufenthalt“ habe er nicht: „Dauernd wird ihm vorgeworfen, daß er

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Vgl. Monika Waldmüller: Die Wandlung. Eine Monatsschrift. Herausgegeben von Dolf Sternberger unter Mitwirkung von Karl Jaspers, Werner Krauss und Alfred Weber 1945–1949. Ein Bericht. Mit einem Verzeichnis des Redaktionsarchivs, unveröffentlichten Briefen, einer Bibliographie der Zeitschrift und einer Erinnerung von Geno Hartlaub. Marbach a. N. 1988, S. 60. Hannah Arendt: Die verborgene Tradition. In: Dies.: Die verborgene Tradition. Acht Essays. Frankfurt a. M. 1976, S. 46–73, hier S. 55. Vgl. ebd., S. 62–72. Hannah Arendt: Franz Kafka: Der Mensch mit dem guten Willen. In: Dies.: Die verborgene Tradition (Anm. 35), S. 62–72, hier S. 65 27

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überflüssig, ‚überzählig und überall im Wege ist‘, daß er als Fremder sich mit Geschenken abzufinden habe und daß er nur aus Gnade geduldet werde.“38 Im Schloß-Roman komme „jener Jude zu Wort, der wirklich nichts will als sein Menschenrecht: Heim, Arbeit, Familie, Mitbürgerschaft“.39 Wie Hans Blumenberg geht es Arendt um die prekäre Situation des modernen Menschen in seiner grundlegenden Haltlosigkeit. K., der lediglich ein „Mitbürger“ werden und sich niederlassen will, ist zugleich eine Figur des Widerstands: „In seinem Insistieren auf den Menschenrechten erweist sich der Fremde als der einzige, der noch einen Begriff von einem einfach menschlichen Leben in der Welt hat.“40 In diesem Punkt berühren sich Arendts und Blumenbergs Kafka-Deutungen: Die nicht aufhebbare Heimatlosigkeit der Figuren Kafkas, ihr Fremdsein und Fremdbleiben-Müssen. „Das Hauptthema der Kafkaschen Romane“, so Arendt, „ist der Konflikt zwischen einer Welt, die in der Form einer solchen reibungslos funktionierenden Maschinerie dargestellt ist, und einem Helden, der versucht, sie zu zerstören.“41 Heimat ist bei Kafka eine utopische Chiffre für den Ausgleich zwischen Subjekt und Gesellschaft; ihre Bedeutung wird vom Lebensvollzug aus erschlossen. Dass Arendt bei ihren Heimat-Reflexionen immer wieder auf Kafka zurückkommt, dass seine ‚Präsenz‘ in vielen ihrer Texte spürbar bleibt, ist kein Zufall: Ihre politischen und geschichtskritischen Analysen sind von zahlreichen literarischen Analysen geprägt.42 Arendt liest den Schloß-Roman als Konflikt einer übertriebenen Assimilation: Der Landvermesser K., der als Fremder weder zum Volk (Dorf) noch zur Regierung (Schloss) gehört, also keinen rechtlichen Anspruch auf Aufenthalt hat, komme der Erfahrung der Juden gleich, denen während der nationalsozia38 39 40 41 42

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Ebd., S. 65 f. Ebd., S. 66. Hannah Arendt: Franz Kafka. In: Dies.: Die verborgene Tradition (Anm. 35), S. 88–107, hier S. 95. Ebd., S. 100. Vgl. Wolfgang Heuer, Irmela von der Lühe (Hg.): Dichterisch denken. Hannah Arendt und die Künste. Göttingen 2017; Barbara Hahn, Marie Luise Knott: Hannah Arendt – von den Dichtern erwarten wir Wahrheit. Berlin 2007. „Es ist der unhintergehbare Zusammenhang von Welt und Geschichte in der Literatur, der nach Arendts Auffassung deren besondere Wertigkeit nicht nur für die politische Analyse begründet.“ Christine Ivanovic´: Weltgeschichte und Weltliteratur. Hannah Arendts ‚Welt‘-Konzept im Kontext ihrer literarischen Analysen. In: Christian Moser, Linda Simonis (Hg.): Figuren des Globalen. Weltbezug und Welterzeugung in Literatur, Kunst und Medien. Göttingen 2014, S. 341–352, hier S. 342. – Ihr Konzept von Tradition entwickelt Arendt mit Hilfe von Kafkas Parabel Er. Vgl. Hannah Arendt: Die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. Hg. von Ursula Ludz. München 1994 [1968], S. 9.

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listischen Herrschaft alle Rechte genommen wurden.43 Diesen Aspekt greift sie in ihrem zentralen Werk über die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft wieder auf: Der Ausschluss aus der staatsbürgerlichen Gemeinschaft bedeute einen Akt symbolischer Gewalt. Ausgestoßen, aber nirgendwo angekommen – so könnte man Arendts Überlegungen zusammenfassen. Der rechtlose Flüchtling, der außerhalb jeder staatlichen Ordnung steht, spielt auch in Arendts jüngst wieder vieldiskutiertem Essay We Refugees eine große Rolle.44 Ein Ausweg aus dem ‚Dilemma‘ der Assimilation könnte darin bestehen, die soziale Außenseiterrolle des Paria bewusst anzunehmen.45 Gegenüber Karl Jaspers betonte Arendt, dass das Pariatum eine Grundbedingung dafür sei, Wahrheit auszusprechen, denn „Fremdheit und Bodenlosigkeit, wenn man sie nur recht versteht“ seien „wie eine Haut, die einem von außen zuwächst. Da kann man es sich dann wieder leisten, ganz sensibel und treffbar zu bleiben.“46 Im Refugee-Aufsatz bringt Arendt die verzweifelte paradoxale Situation der Flüchtlinge auf den Punkt: „Wenn wir gerettet werden, fühlen wir uns gedemütigt,

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Vgl. auch Miriam Rürup: Vom Recht der Rechtlosen. Staatenlosigkeit als Zeitsignatur des ersten Nachkriegsjahrzehnts. In: Arnd Engelhardt (Hg.): Ein Paradigma der Moderne. Jüdische Geschichte in Schlüsselbegriffen. Festschrift für Dan Diner zum 70. Geburtstag. Göttingen 2016, S. 79–92. Auch in der Schlusspassage des vierten Kapitels der Vita activa ist die Rede von der Möglichkeit einer Beheimatung: „Insofern aber Sprechen und Handeln die höchsten und menschlichsten Tätigkeiten der Vita activa sind, ist die Welt eine wirkliche Heimat für sterbliche Menschen nur in dem Maße, als sie diesen in sich flüchtigsten und vergeblichsten Tätigkeiten eine bleibende Stätte sichert, als sie sich dafür eignet, Tätigkeiten zu beherbergen, die nicht nur völlig nutzlos für den Lebensprozeß als solchen sind, sondern auch prinzipiell anderer Natur als die mannigfaltigen herstellenden Künste, durch die die Welt selbst und alle Dinge in ihr hervorgebracht sind.“ Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München 202019, S. 212. Erstmals veröffentlicht im Januar 1943 in der Zeitschrift The Menorah Journal 36 (1943), H. 1, S. 69–77. Arendt spricht von einer „jüdische[n] Tradition“, und zwar „die Tradition, in der Heine, Rahel Varnhagen, Schalom Aleichem, Bernard Lazare, Franz Kafka und selbst Charlie Chaplin stehen. Es handelt sich um die Tradition einer Minderheit unter den Juden, die keine Emporkömmlinge sein wollten und den Status des ‚bewussten Paria‘ vorzogen. Alle gepriesenen jüdischen Eigenschaften  – das ‚jüdische Herz‘, Menschlichkeit, Humor, Unvoreingenommenheit – sind Paria-Eigenschaften.“ Hannah Arendt: Wir Flüchtlinge. Mit einem Essay von Thomas Meyer. Stuttgart 102020, S. 34. Brief vom 16. November 1958. In: Hannah Arendt, Karl Jaspers: Briefwechsel. 1926–1969. Hg. von Lotte Köhler und Hans Saner. München–Zürich 1985, S. 393. 29

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und wenn man uns hilft, fühlen wir uns erniedrigt.“47 Bewusst zuspitzend, deutet Arendt die Flüchtlinge als „Avantgarde ihrer Völker – wenn sie die Identität aufrechterhalten“.48 Somit ist die Flüchtlingsfrage universell geworden. Im Juli 1950 notiert Arendt in ihr Denktagebuch ein Gedicht, dessen letzte Verse lauten: „Wie die Brücke sich schwingt über Ströme von Unrast, von Ufer zu Ufer, / Sicher verbunden, festes Gebild, Freiheit und Heimat in eins.“49 Varun F. Ort schreibt hierzu: „In einer eigentümlichen Ambiguität, mit der Arendt auch den Flüchtlingsstatus, die Staatenlosigkeit, das Außenseitertum bewertet hat, wird die schwingende Brücke nicht allein zur Metapher für die entwurzelnde Unzugehörigkeit und den labilen Zustand des Parias, sie ist gleichermaßen ein ‚festes Gebild‘, das die gegenüberliegenden Ufer, die Heimaten der anderen, verbindet.“50 Das Schweben zwischen einem ‚Nicht-mehr‘ und ‚Noch-nicht‘: Das ist eine für Arendt grundlegende und strukturbildende Figur, die in ihren Texten wiederholt begegnet: „Die verbindende Kette ist zerbrochen zwischen der einen Generation, die – aus welchem Grund auch immer – noch dem Vergangenen verhaftet ist, und der anderen, die entweder das Kommen einer Katastrophe geradezu physisch im voraus erspürt hat oder bereits mit ihr aufwuchs“, schreibt sie 1946 in einer Rezension zu Hermann Brochs Der Tod des Vergil. „Hier ist ein ‚leerer Raum‘, eine Art historisches Niemandsland entstanden, das nur mit Bestimmungen wie ‚nicht mehr und noch nicht‘ umschrieben werden kann.“51 Grund hierfür seien „die im Herzen Europas errichteten Todesfabriken“, die „endgültig den zerschlissenen Faden durchtrennten, die uns noch mit einer Geschichte von mehr als zweitausend Jahren verbunden hatte; weil wir bereits im ‚leeren Raum‘ leben, konfrontiert mit einer Wirklichkeit, die mit

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Arendt, Wir Flüchtlinge (Anm. 45), S. 21. Die „150-jährige Geschichte des assimilierten Judentums“ habe „ein Kunststück sondergleichen vorgeführt“: „obwohl die Juden die ganze Zeit ihre Nichtjüdischkeit unter Beweis stellten, kam dabei nur heraus, dass sie trotzdem Juden blieben. Die verzweifelte Verlegenheit dieser Irrfahrer, die im Unterschied zu ihrem großartigen Vorbild Odysseus nicht wissen, wer sie sind, […].“ Ebd., S. 31. Ebd., S. 35. Hannah Arendt: Ich selbst, auch ich tanze. Die Gedichte. München – Berlin – Zürich 2015, S. 46. Varun F. Ort: ‚Ulysses-wanderers‘. Hannah Arendts Rückkehr nach Deutschland. In: Bettina Bannasch, Michael Rupp (Hg.): Rückkehrerzählungen. Über die (Un-)Möglichkeit nach 1945 als Jude in Deutschland zu leben. Göttingen 2018 (Formen der Erinnerung 18), S. 81–99, hier S. 97. Hannah Arendt: Nicht mehr und noch nicht. Hermann Brochs Der Tod des Vergil [1946]. In: Hannah Arendt, Hermann Broch: Briefwechsel 1946–1951. Hg. von Peter Michael Lützeler. Frankfurt a. M. 1996, S. 169–174, hier S. 169.

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bestehenden und überlieferten Vorstellungen von Welt und Mensch nicht mehr begriffen werden kann – so sehr uns dieses traditionelle Denken auch ans Herz gewachsen sein mag“.52 Genau an dieser Stelle wird für Arendt das Werk Kafkas besonders wichtig – dieser schreibe aus einer Position des ‚Noch nicht‘ (im Unterschied zu Marcel Prousts Poetik des ‚Nicht mehr‘), so als befinde sich für das Subjekt zukünftig eine Beheimatung im Bereich des Möglichen: „Es ist, als schriebe er [Kafka] schon von einem Standpunkt aus, der in ferner Zukunft angesiedelt ist, so als ob er nur in einer Welt hätte beheimatet sein können, die ‚noch nicht‘ existiert. Das schafft, wenn wir sein Werk lesen und diskutieren, zwischen ihm und uns Distanz, einen Abstand, der auch dann nicht kleiner wird, wenn wir begreifen, daß seine Kunst Ausdruck einer zukünftigen Welt ist, die auch unsere Zukunft ist – falls wir überhaupt eine Zukunft haben.“53 * Das Werk Hans Blumenbergs ist bis heute mit der Philosophiegeschichte der kopernikanischen Wende verbunden. Bereits 1955 veröffentlichte Blumenberg einen Aufsatz mit dem Titel Der kopernikanische Umsturz und die Weltstellung des Menschen. Eine Studie zum Zusammenhang von Naturwissenschaft und Geistesgeschichte.54 Seit dem kopernikanischen Umsturz sei der heimatlose Mensch ausgesetzt „in eine Welt, die als undienliche Fremde charakterisiert ist und nur in einem ständigen Daseinskampf dem Menschen die Bedingungen des Lebens hergibt“. Für das Subjekt sei in der Welt kein „besonderer Platz vorbehalten“.55 Geistesgeschichtlich bedeutsam werden nun ‚Faust‘ und ‚das Faustische‘. Was versteht Blumenberg unter dem Faustischen? Für ihn ist es eine Selektion, ein Filtrat des geschichtlichen Selbstverständnisses einer Epoche aus der Gestalt, die Goethe geschaffen hat. Ein Jahrhundert, das an 52 53

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Ebd., S. 170 f. Ebd., S. 169 f. Vgl. zu dieser Arendt’schen Denkfigur auch Birgit R. Erdle: Im Trümmerfeld der Geschichtszeit. Schreibformen der Zeitlücke bei Hannah Arendt. In: Rahel Villinger, Christian Jany (Hg.): Formen der Zeit in Poetiken der Moderne. Paderborn 2019, S. 211–228. In: Studium Generale 8 (1955), S. 637–648. Blumenbergs „produktive Verzögerung“ lasse sich „als Latenzzeit begreifen, in der schon früh angedeutete Gedanken heruntergebrochen und in vielerlei Zusammenhängen erprobt und weiterentwickelt werden, ehe sie sich zu einem großen Bau zusammenfügen“. Joe Paul Kroll: Wilde Palmen. Hans Blumenbergs frühe Feuilletons in der Zeitschrift Hochland. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 10 (2016), H. 3, S. 107–111, hier S. 107. Blumenberg, Der kopernikanische Umsturz (Anm. 54), S. 641. 31

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Erkenntnis und Können seinem eigenen Willen nichts als endgültig versagt zugegeben hätte, das ein grenzenloses Vertrauen in die beinahe automatische Zuordnung von wissenschaftlich-technischer Anstrengung und Leistung und Erlösung von der Schwäche und Hinfälligkeit der menschlichen Natur besaß, glaubte eben in der Faustgestalt sein genauestes Symbol, seine erleuchtetste Selbstdarstellung gefunden zu haben.56

Kafkas Schloß-Roman ist für Blumenberg die paradigmatische „Tragödie des Unfaustischen“.57 Dies erläutert er in seinem frühen Vortrag Die Krise des Faustischen im Werk Franz Kafkas aus dem Jahre 1951. K. komme „in das Dorf mit dem selbstverständlichen Anspruch, hier Arbeit, Recht und Heimat zu finden, aufrechenbare Beziehungen zwischen Leistung und Ertrag, Streben und Erfolg“.58 Diese Kafka-Deutung ist entscheidend geprägt von K.s Fremdheit und seinem Verlust an Selbstbehauptung sowohl im Dorf als auch im Schloss. K., darauf weist Blumenberg hin, verhalte sich dennoch so, als gebe es für ihn einen Weg der Bestätigung, eine Anerkennung für seine Mühen, letztlich: eine Beheimatung. Wie bei Arendt ist auch hier ‚Heimat‘ aufs Engste mit ‚Recht‘ verschränkt. K. bleibe jedoch ein „Fremder“, ein Heimatloser; das „Faustische“ sei es, woran er „schließlich zugrunde“ gehe.59 „Heimisch“ könne man sich erst dann fühlen, wenn „die Beziehungen von Weg und Ziel, Anstrengung und Erfolg, Rechtmäßigkeit und Besitz uns ganz und gar durchsichtig und beständig erscheinen“.60 Der einsame Landvermesser K. kann erst dann auf die Bestätigung des Heimatrechts hoffen, als er „physisch erschöpft“ seinen ‚Kampf‘ einstellt, als er mit seinem Willen am Ende ist“.61 Bei Kafka werde deutlich, dass

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Hans Blumenberg: Die Krise des Faustischen im Werk Franz Kafkas. In: Ders.: Schriften zur Literatur 1945–1958. Hg. von Alexander Schmitz und Bernd Stiegler. Berlin 2017, S. 57–73, hier S. 58. Hervorh. i. O. Ebd., S. 60. Ebd. Ebd., S. 61. In Der Antipode des Faust. Zum 70. Geburtstag von Franz Kafka am 3. Juli 1953 schreibt Blumenberg: „Die Krise des Faustischen, des weltbezwingenden, erkenntnisgewissen, unendlich ausgespannten Herrschaftsanspruches des Menschen, ist Kafkas Generalthema. Der Landmesser K. in dem großen Roman ‚Das Schloß‘, der mit dem letzten Aufgebot seiner Kraft um das Recht auf Existenz und Heimat ringt, verzehrt sich auf der Stelle, weil ihm das ‚Recht‘ die Möglichkeit der ‚Gnade‘ verstellt, weil auch er an der ‚faustischen‘ Verrechnung von treibendem Bemühen und Erlösung festhält.“ In: Ders.: Schriften zur Literatur (Anm. 56), S. 118– 121, hier S. 120. Erstveröffentlicht in: Düsseldorfer Nachrichten vom 4. Juli 1953. Ebd., S. 62. Ebd., S. 63.

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„gerade die furchtbare Fremdheit der Welt“ die Subjekte „immer tiefer in ihre Fesseln“ verstricke, sie „zu einer verzweifelten Auseinandersetzung mit dem Unbegreiflichen“ zwinge: „Der Mensch ist der Paria des Seins, noch bevor das soziale Pariatum weitere Aufstufungen von Fremdheitsmomenten schafft.“62 Erst wenn sich der Mensch der Welt unterworfen habe, könne sie ‚Heimat‘ werden: „Der Mensch Kafkas ist der Mensch, der sich nur selbst gewinnt in der Unterwerfung, im Verzicht auf den faustischen Anspruch.“63 Hier spürt man deutlich den Einfluss Hannah Arendts, die das Konzept des Parias ja ebenfalls für ihre Kafka-Deutung produktiv gemacht hat.64 Blumenberg hat in seiner Rezension zu Arendts Sechs Essays deutlich gemacht, dass „das Pariatum seit langem und in wechselnder Gestalt zum Bestand der modernen Lebenswirklichkeit“ gehörte. Blumenberg bezeichnet Kafkas Werk „als die große Symbolik der Paria“: „Noch nie ist so deutlich empfunden und ausgesprochen worden wie hier, aus welchem Schicksal Kafkas Gestalten letztlich entstanden. Der Mensch bei Kafka, der unter einer ihm unfaßbaren Schuld leidet, der, nach dem Heimischwerden lechzend, schließlich ohnmächtig und erschöpft ungeheuren Gewalten erliegt –, dieser Mensch, der Paria schlechthin, ist es, in dem die gegenwärtige Generation sich wiedererkennt.“65 Kafka erscheint im Werk Blumenbergs zwar nicht sehr häufig, aber wenn, dann an exponierter Stelle, beispielsweise an Beginn und Schluss von Arbeit am Mythos (1979). Kafkas drei Romane deutet er als „dichterische Anagramme der unabdingbar gewordenen Erfahrung des Inobjektiven, und zwar desselben in einer Mächtigkeit, die die Bedeutung aller objektiven Maße und Kriterien verdrängt, zunichte macht. Die in Maß und Zahl, in Experiment und Forschung verfügbare, übersichtlich gewordene Welt, der feste Boden eines öffentlichen Daseins, die Sphäre des Gesetzes und Wahrscheinlichkeiten derealisiert sich.“66 Der moderne Mensch ist heimatlos: „Das Sein ist von Transzendenzabgründen 62 63 64 65

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Ebd., S. 64. Ebd., S. 71. Siehe zu Blumenbergs Kafka-Lektüren auch Rüdiger Zill: Der absolute Leser. Hans Blumenberg – Eine intellektuelle Biographie. Berlin 2020, S. 212–214. Hans Blumenberg: Das Symbol des Paria. Das Problem der mörderischen Familienväter. In: Ders.: Rigorismus der Wahrheit. „Moses der Ägypter“ und weitere Texte zu Freud und Arendt. Berlin 2015, S. 73–75, hier S. 74, 75. Erstveröffentlichung in: Die Welt vom 16. November 1948. Hans Blumenberg: Das Problem des Nihilismus in der deutschen Literatur der Gegenwart [Vortrag]. In: Ders.: Schriften zur Literatur 1945–1958 (Anm. 56), S. 43–55, hier S. 46 f. Hervorh. i. O. Der Vortrag wurde gehalten am 9. August 1950 im Rahmen eines internationalen Ferienkurses in Kiel, ein zweites Mal in Neumünster am 16. Januar 1951. 33

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zerrissen, nicht nur in den fernsten metaphysischen Bereichen, sondern schon im Nächsten und Alltäglichsten, im Abgeschnittensein des Verstehens von Mensch zu Mensch.“67 Kafka, der „Vater der spielerisch-unverbindlichen Träume des Surrealismus“, dichte gegen die transzendentale Obdachlosigkeit der Moderne an. In dem Aufsatz Der Antipode des Faust. Zum 70. Geburtstag von Franz Kafka am 3. Juli 1953 weist Blumenberg zugleich darauf hin, dass Kafka „auch der Patriarch der ängstigend-lähmenden Alpträume literarischer Visionäre“ sei, „in denen alles verlorengeht, was zu verlieren ist, und aus denen erwachend man die bestehende Welt mit Mißtrauen wieder wahrnimmt. Kafkas große ursprüngliche Kraft war die der Verwunderung.“68 In dem späten Nachlasstext Kafka über die Figur der „nackten Wahrheit“ in der Philosophiegeschichte schreibt Blumenberg: „Der Rat, zu Hause zu bleiben, seine Begründung, daß es nicht notwendig sei, aus dem Hause zu gehen – das ist Kafkas erlittenes Vermächtnis an die Moderne, die im Gegenteil existiert. Aus dem Hause zu treten, ist der erste Schritt der Selbstentblößung, der Entkleidung, Schälung, Enthäutung. Einer, der sich schmerzhaft seiner Sichtbarkeit bewußt ist, spricht in den wenigen Zeilen des großen Ratschlags, des größten, der diesem Zeitalter gegeben worden ist: ‚Es ist nicht notwendig, daß du aus dem Hause gehst. Bleib bei deinem Tisch und horche. Horche nicht einmal, warte nur‘“69 – eine Anweisung, die angesichts der Corona-Pandemie für uns heute erstaunlich aktuell erscheint. * Seine jüdische Herkunft und seine Emigrationserfahrungen hat Wolfgang Hildesheimer nicht offensiv thematisiert. In dem Radiobeitrag Mein Judentum äußerte Hildesheimer jedoch: „Wenn ich mich frage, worin mein Judentum besteht, so finde ich keine befriedigende Antwort. Ich weiß nur, daß es besteht. Ich bin in ihm nicht verwurzelt, von ihm nicht beherrscht, aber ich fühle mich als Jude. Am ehesten noch würde ich es als Zugehörigkeit zu einer Schicksalsgemeinschaft definieren; […].“ Und weiter: Ich habe also gewissermaßen die Heimat verschmäht auf Kosten jener Heimatlosigkeit, die, von außen betrachtet, ein Merkmal der Juden ist und für

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Ebd., S. 47. Blumenberg, Der Antipode des Faust (Anm. 59), S. 118. Hans Blumenberg: Kafka. In: Ders.: Die nackte Wahrheit. Hg. von Rüdiger Zill. Berlin 2019, S. 51–54, hier S. 53.

Kafka als Reflexionsfigur für den Heimatdiskurs nach 1945

mich, also von innen betrachtet, jene Heimatlosigkeit symbolisiert, in der wir – Jude oder nicht – alle heimisch sind. Sie ist die Quelle aller meiner kreativen Aktivität. Ich will auf der Erde keine Heimat haben: vielleicht offenbart sich nicht zuletzt in dieser Versagung mein Judentum. Ich will sie allerdings, im Gegensatz zu den frommen Juden, auch im Himmel nicht haben.70

Deutlich wird an diesen Aussagen die Verschaltung von literarischem Schreiben, Poetik und Heimatlosigkeit, so auch bei Peter Weiss und Nelly Sachs. Vielleicht braucht Hildesheimer auch deshalb Kafka als Folie, mit der das grundsätzliche Nachdenken über ein Schreiben nach der Shoah perspektiviert werden kann.71 Durch die theatralen Verfahren selbst wirft Hildesheimer die Frage nach Heimat, Heimatlosigkeit und Zugehörigkeit auf; im Kontext des Dramas wird sie spezifisch und performativ aktualisiert. Dadurch entsteht eine spezifische an der (modernen) Heimatlosigkeit ausgerichtete Ästhetik. Diese lässt sich an dem Stück Die Verspätung, geschrieben 1960/61, besonders gut zeigen. Hinweise auf ‚Heimat‘ und ‚Heimatliches‘ gibt es im Drama zuhauf: Die Rede ist von einer „Sitzung des Heimatschutzvereins in Klagebiel“.72 Auf „dem Programm“ stehe, so der Bürgermeister die Zeitung zitierend: „Wie verhüten wir die überhandnehmende Verschandelung der Landschaft durch Butterbrotpapier.“73 Auch Heimatkundliches kommt zur Sprache: Der bedeutendste Vor70

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Wolfgang Hildesheimer: Mein Judentum. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg. von Christiaan Lucas Hart Nibbrig und Volker Jehle. Bd. VII: Vermischte Schriften. Frankfurt a. M. 1991, S. 159–169, hier S. 159, 160. Der Rundfunk-Essay wurde unter dem Titel Mein Judentum. Wolfgang Hildesheimer erzählt am 16. April 1978 im Süddeutschen Rundfunk gesendet. In diesem Beitrag heißt es auch, Celan sei „vielleicht der einzige Mensch, der unser gemeinsames Judesein als etwas Verbindendes empfand“ (ebd., S. 167). Ironisch kommentiert Hildesheimer die ‚Flut‘ an Kafka-Büchern seiner Kollegen. In Lieblose Legenden (Frankfurt a. M. 1962, S. 18) äußert er: „Ehrlichkeitshalber möchte ich zugeben, daß ich mir vor langer Zeit einmal mit dem Gedanken trug – wie schließlich jeder sensible Intellektuelle – ein Buch über Kafka zu schreiben. […] Was mich allerdings davon abhielt, war weniger eine Abkehr von dem Thema als der Umstand, daß meine sämtlichen Bekannten bereits an einem Buch über Kafka schrieben (nicht alle an einem; jeder für sich natürlich). Aus irgendeiner Tücke des Schicksals heraus, die zu bedauern ich heute wahrhaftig keinen Grund mehr habe, hatten sie alle früher damit angefangen – ich habe mich verhältnismäßig spät entwickelt – und nun war für mich kein Aspekt mehr übrig, im Lichte dessen ich Kafka hätte deuten können.“ Ein sprechender Name übrigens. Die Anwesenden in der Schankstube sind ebenfalls ‚Klagende‘. Wolfgang Hildesheimer: Die Verspätung. Ein Stück in zwei Teilen. Frankfurt a. M. 1963, S. 9. Scholz-Babelhaus’ Rivalen fehlten die „heimatkundlichen 35

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fahre, Karl Anton Gelbert, habe das Wort „Tugend“ erfunden. Bezüge zum Heimat-Diskurs legt zudem der „Friedhof“ – ein wichtiger Topos im Kontext von Erinnerung: das Grab als Imagination eines immerwährenden Zuhauses, die enge Beziehung zwischen Grab und Schrift74 – nahe, auf dem „man die guten stillen Zeiten noch zurückverfolgen“ könne.75 „Auf Friedhöfen“, so die Lehrerin, „offenbart sich dem gebildeten Menschenfreund das wahre Wesen eines Ortes, in Form der alten Familiennamen Verblichener.“ Die Wirtin ergänzt: „Die Gräber lügen nie!“76 Die Stelle illustriert Hildesheimers Problem mit dem ‚Prinzip Heimat‘ sinnfällig. Das gesamte Stück ist geprägt von einer Verfallsästhetik, von einer bedrückenden Düsternis – man kann insgesamt von einer ‚kafkaesken‘ Atmosphäre und Ausweglosigkeit sprechen. Ort des Geschehens ist das ‚ungastliche‘ Zimmer „in einem ländlichen Gasthaus. Seitlich ein großes Fenster, die Aussicht ist für den Zuschauer unsichtbar“, so die Regieanweisung77 Das Figurenensemble ist übersichtlich: die Wirtin, der für das Wohl der Bürger sorgende Bürgermeister, die Lehrerin, die zentrale Figur des Professors, der ‚unbehauste‘ Scholz-Babelhaus, dessen Name einen großen Anspielungsreichtum eröffnet, der Sargtischler, der erst am Ende des Stücks spricht, sowie der Vertreter. „Hildesheimer komponiert hier ohne größere Erläuterung ein Ensemble zu einem Bild zusammen, das in seiner Motivation nur punktuell aufgeht, als Zusammenhang jedoch unverständlich bleibt, – genauso wie die Sprachen, die die Figuren füreinander aufwenden.“78 Das Gasthaus befindet sich im entvölkerten Dorf Dohlenmoos, das raffiniert verschoben auf Kafka verweist, dessen Familienname sich mit dem tschechischen Wort für ‚Dohle‘ (‚Kavka‘) in Verbindung bringen lässt. Die Lehrerin befürchtet, dass der „Name[] Dohlenmoos“ bald „aus den Schulatlanten gestrichen“ werde.79 Ein unheimlicher, sich im Verfall befindender, unwirtli-

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gen“; der Professor spricht zudem vom „Jahresbericht der Gesellschaft für analytische Heimatkunde“; die Lehrerin hingegen vom „Heimatmuseum in Waltershausen“ sowie von einem „bekannte[n] Verlag, der sich die Heimatkunde ein nachahmungswürdiges Anliegen sein“ lasse. Ebd., S. 27, 36, 42. Vgl. Jan Assmann (Hg.): Tod, Jenseits und Identität. Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Thanatologie. Freiburg i. Br. u. a. 2002. Hildesheimer, Die Verspätung (Anm. 73), S. 39. Ebd., S. 40. Ebd., S. 7. Christoph Pflaumbaum: „Alles wird dunkler“  – Wolfgang Hildesheimers Theater des Verfalls. In: Artur Pełka, Stefan Tigges (Hg.): Das Drama nach dem Theater. Verwandlungen dramatischer Formen in Deutschland seit 1945. Bielefeld 2011, S. 35–54, hier S. 45. Hildesheimer, Die Verspätung (Anm. 73), S. 11.

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cher, ‚unheimatlicher‘ Ort: Die Verbindungen zur Außenwelt – Post, Bahnhof, Telefonzellen – sind abgeschnitten; dabei nimmt das Stück Motive (verspätete Züge) aus Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame auf. Vor den Augen der Zurückgebliebenen stürzt am Ende der Bahnhof ein, womit auch die letzte Möglichkeit zur Flucht aus dem dysfunktionalen Dorf entfällt. Die Bäume sind abgeholzt, die Wege und Straßen mit Gestrüpp überwuchert. Das Dorf befindet sich in Auflösung, wird wieder zu Natur – jedoch nicht als friedliche Idylle, sondern begleitet von einem zerstörerisch-bedrohlichen ‚Hintergrundrauschen‘. Wie der Titel des Dramas andeutet, ist es für eine Rettung oder Rückkehr eigentlich schon zu spät – die Katastrophe kann nicht mehr verhindert werden, wobei die Ursachen der Vernichtung nicht genannt und auch durch die Figuren auf der Bühne nicht verhandelt werden. Zeitlichkeit und die im Stück häufig erwähnten Uhren sind überhaupt ein zentrales Motiv im Werk Hildesheimers.80 Zu Kafka und seinem Werk gibt es viele Bezüge: Die Frage der Lehrerin „Haben Sie es [gemeint ist der Vogel Guricht] zuhause im Käfig, das hübsche Vögelchen?“81 ist möglicherweise eine Anspielung auf Kafkas Satz „Ein Käfig ging einen Vogel suchen“, der das Verhältnis von Freiheit und Unfreiheit, Geborgenheit und Gefangenschaft reflektiert. Man kann hier von Selbstverständigungspraktiken sprechen – in Leben und Werk Kafkas findet man die Erfahrungen von Heimatlosigkeit und Verfall präfiguriert. Der auf der Bühne stets präsente Sarg alludiert möglicherweise auf den Jäger Gracchus, der Name des Professors wiederum, Scholz-Babelhaus, lässt an Kafkas Erzählung Das Stadtwappen denken. Wie der Landvermesser K. in Kafkas Schloß ist auch der Professor zu weit gegangen, im wörtlichen wie im metaphorischen Sinne. Seine melancholische Feststellung, er hätte „alles“ werden können, „aber ich habe den letzten Zug versäumt!“82 erinnert an Kafkas „Fehlläuten der Nachtglocke“. Am Schluss von Die Verspätung spricht Scholz-Babelhaus von einem „Punkt“: „Es gab Möglichkeiten, – aber mir haben sie sich entzogen. Pause, dann schwächer: Ich bin verlassen. Ich bin der Punkt, von dem sich alles wegbewegt“83 – zu denken wäre an Kafkas Reihe Er oder an den Aphorismus „Von einem gewissen Punkt gab es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu

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Vgl. Lorenzo Licciardi: Zeitparadoxe und das ‚Schweigen der Welt‘: Deklinationen des Absurden im Theater Wolfgang Hildesheimers. In: treibhaus 12 (2016), S. 218– 238. Ebd., S. 59. Ebd., S. 71. Ebd., S. 118. 37

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erreichen.“84 Weitere Verweise auf Kafka sind die vom Bürgermeister erwähnten „Behörden“, die „mit den unscheinbarsten Möglichkeiten rechnen“ müssten: „Darauf beruht es, daß sie niemals versagen“,85 was man durchaus als Anspielung auf den Schloß-Roman deuten kann. Den Satz des Bürgermeisters – „Ein Wanderer zur falschen Zeit“ – kann man gleichsam als Motto dem Gesamtwerk Kafkas voranstellen. Der Professor imaginiert, er könne Forschungsreisen „im Kreise der Vermesser“86 unternehmen. Der vom Bürgermeister erwähnte Landrat ist „ein passionierter Jäger“ (79). Scholz-Babelhaus sei, so der Vertreter, „die erbärmlichste Figur, die mir in meinem Leben vorgekommen“ sei, „kein Käfer“ wäre nach ihm benannt87 – vielleicht ein versteckter Hinweis auf die Erzählung Die Verwandlung. Auch der Satz des Professors, er „habe die Gipfel stets an der Wurzel abgesägt“,88 spielt auf die paradoxale Semantik als Grundfigur im Werk Kafkas an. Die im Stück thematisierte „Verspätung“ impliziert die ‚richtige Zeit‘ und den verpassten Zeitpunkt, wie auch in Kafkas Heimkehr-Erzählung. Überhaupt spielt das Zeitliche in Hildesheimers Drama eine eminente Rolle: Man tritt in einen anderen ‚Zeit-Raum‘ ein, wenn man das abgelegene Dorf Dohlenmoos betritt. Diese Konnotationen sind auch für Celan und Blumenberg wichtig. Die sinnwidrige Welt gibt keine Antworten mehr. Scholz-Babelhaus, der selbsternannte „Erlöser“ („Aber ich bin auserwählt, ja, das bin ich! Ausersehen, Platz zu schaffen für die Rückkehr des Vogels aller Vögel. Ich werde an der Spitze schreiten, wenn er kommt“),89 hegt die Hoffnung, die „niedere Abart“ möge der eigentlichen „Krone der Schöpfung“ weichen. Auf Kant anspielend fragt er: Was tun wir? – Oder, anders formuliert: was sollen wir tun? Eine schöne, reiche Frage, eine ergiebige Frage, auf die es viele köstliche Antworten gibt, einen ganzen Wald voll Antworten. Aber – sachlich – je länger man die Frage vor sich herschiebt, desto lichter wird es im Wald der Antworten. Und schließlich kommt der Punkt, da man sich vergeblich nach einer Antwort umsieht, denn es sind keine mehr da, keine außer der einen, die sich vor

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Franz Kafka: Beim Bau der chinesischen Mauer und andere Schriften aus dem Nachlaß. Frankfurt a. M. 1994, S. 199. Hildesheimer, Die Verspätung (Anm. 73), S. 13. Ebd., S. 70. Ebd., S. 111. Ebd., S. 112. Ebd., S. 60.

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einem auftürmt. Sie hier, Sie sind an dem Punkt angelangt. Für Sie gibt es nur eine Antwort: Sie müssen fort.90

Erlösung verspricht allein der Vogel Guricht, Stammvater des Menschen, der anagrammatische ‚Ichtrug‘, eine Erfindung von Scholz-Babelhaus.91 Rettung und bittere Enttäuschung fallen jedoch in eins. Der Professor stirbt mit dem Erscheinen des kleinen, mattgrauen Vogels. Allein der symbolische Sargtischler Hyrzel („siebzig und riesig“), der rechtschaffene Handwerker, der bislang geschwiegen hatte, durchschaut das ewig-mythische Wechselspiel von Werden und Vergehen. Er verkörpert das ‚klassische‘ heimatlich-genealogische Prinzip, die feste Verwurzelung im ‚Heimatboden‘: „Ja, also – mein Vater war Totengräber, wie sein Vater vor ihm und dessen Vater und Vatersvater, hier ansässig von eh und je, eine alte Gräberfamilie, […].“92 Während Scholz-Babelhaus stirbt, räsoniert der Sargtischler über den Bau einer „hölzernen Wiege“; im ersten Akt erzählte er noch von seinem „Meisterstück“, dem eigenen Sarg. Hyrzel spricht ausgerechnet dann vom Beginn des Lebens, als sich um ihn herum alles in Auflösung und Zusammenbruch befindet. Der enge Konnex von Schuld und Katastrophe wird bei ihm zu einer mythischen Allegorie: „Plage – Todsünde – Plage – Todsünde – Plage – Todsünde und zum Schluß Plage – Plage – Plage, denn es gab mehr Plagen als Todsünden. […] So ist es auch heute noch, das wenigstens hat sich nicht geändert.“93 Der Zusammenhang von Schöpfung und Erfindung wird auch bei Kafka thematisiert. In das „Vierte Oktavheft“ notierte er: „Die Erfindungen eilen uns voraus, wie die Küste dem von seiner Maschine unaufhörlich erschütterten Dampfer immer vorauseilt. […]: Niemals werden wir imstande sein, einen lebendigen Vogel zu schaffen. […] Ein Vogel kann nicht durch einen ursprünglichen Akt geschaffen werden, denn er ist schon geschaffen, entsteht auf Grund des ersten Schöpfungsaktes immer wieder […].“94 Der Guricht (auf klanglicher Ebene an ‚Godot‘ erinnernd), der „König der Vögel“, am Schluss ein banaler, durchschnittlicher Vogel, erweist sich als Enttäuschung; das ‚Guricht90 91

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Hildesheimer, Die Verspätung (Anm. 73), S., 81. Das Wort „Guricht“ ist bereits im frühesten überhaupt überlieferten Werk Hildesheimers, einem Gedicht von 1939, enthalten: Pansuun. „Pansuun“ „dürfte von Georges ‚Der Herr der Insel‘ inspiriert sein, es liest sich wie dessen ‚surrealistische‘ Variation“. Peter Horst Neumann: Der Guricht im Palimpsest. Wolfgang Hildesheimer und Stefan George. In: Merkur 46 (1992), H. 524, S. 1001–1007, hier S. 1006. Hildesheimer, Die Verspätung (Anm. 73), S.  Ebd., S. 71, 72 f. Franz Kafka, Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande (Anm. 4), S. 88. 39

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Gericht‘ läutet kein neues Zeitalter ein und kann den Fehler der Schöpfung nicht korrigieren.95 Damit ist die ‚Verspätung‘ evident, man befindet sich wieder am Ausgangspunkt des Dramas, das eine zyklische Kompositionsform aufweist. Paradoxerweise scheint sich ja Scholz-Babelhaus’ Erfindung zu erfüllen, doch stirbt der Guricht ausgerechnet in dem Moment, in dem der Professor erkennt, dass der Vogel trotz aller „erfundenen“ Ähnlichkeit gar nicht Guricht heiße: „Nun finde ich keine Namen mehr. Die Namen sind besetzt, die Eigenschaften vergeben. Verschenkt! Es ist zu spät! […], kein Sinn, kein Guricht. […] Er sinkt tot auf den Stuhl zusammen.“96 Fiktion und Einbildungskraft sind an ihr Ende gelangt, Sinnstiftung kann keine Form von Beheimatung mehr sein. Scholz-Babelhaus ist ‚nur‘ ein Mensch, kein Schöpfer und auch kein Erlöser: „Alles, was ich in der Qual schlafloser Nächte ersonnen hatte, gab es schon, sowohl das Erdachte als auch das Widerlegte!“97 Der Status von Zuschreibung, Imagination, Wahrheit und Erfindung bleibt völlig unklar – der joviale und selbstsichere „Vertreter“, der ein Auto besitzt und damit die Möglichkeit, das Dorf wieder zu verlassen, erkennt ja in dem sich selbst bemitleidenden Professor ohne kohärenten Lebenslauf den „größte[n] Forscher unserer Zeit“.98 Christoph Pflaumbaum fasst die Schlussszene des Dramas pointiert zusammen: „Das existentielle wie metaphorische Scheitern des Professors kristallisiert sich also in einer Namensfehlbesetzung zusammen, die, da es lediglich um seine Erfindung bzw. sogar um seine Entdeckung handelt, nur in ihrer Absurdität aufgeht. […] Dieser Riesenvogel ist zugleich Er- und Auflösung des Geschehens […]“.99 Bereits vorher, am Ende des ersten Aktes, als

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Vgl. hierzu Ulrike Vedder: Zeitszenen, Sterbeszenen. Wolfgang Hildesheimers liminales Schreiben. In: Stephan Braese (Hg.): Offene Ordnungen. Zur Aktualität Wolfgang Hildesheimers. Bielefeld 2019, S. 27–41. Hildesheimer, Die Verspätung (Anm. 73), S. 118. Ebd., S. 67 f. Religiöse Konnotationen finden sich häufig im Stück: die Figur des „Vertreters“, die Rede vom „Erlöser“, von der „Krone der Schöpfung“ und von „Losungsworten“, die man Scholz-Babelhaus zugerufen habe. Der Vertreter nennt sich selbst einen „Kreuzfahrer der Menschenliebe“, der „den Menschen nun einmal wonnig“ finde. Ebd., S. 90, 91. Ebd., S. 102. Günter Blamberger schreibt: „Was Lüge, was Wahrheit ist, wird der Zuschauer jetzt nicht mehr entscheiden können; nur die Genealogie der Wahrheit wird ihm an dieser Stelle einsichtig.“ Günter Blamberger: Der Rest ist Schweigen. Hildesheimers Literatur des Absurden. In: Text+Kritik 89/90 (1986): Wolfgang Hildesheimer, S. 33–44, hier S. 38. Pflaumbaum, „Alles wird dunkler“ (Anm. 78), S. 49. – Zu denken wäre in diesem Zusammenhang auch an messianische Figuren im Werk Kafkas.

Kafka als Reflexionsfigur für den Heimatdiskurs nach 1945

der Professor beichtet, seine gesamte Biografie und seine Forschungsleistungen seien ausgedacht, behauptet er  – wiederum an Kafka gemahnend („Dohlengekrächz“) –, den Guricht erfunden zu haben: „So mußte ich denn zum Äußersten greifen: das ist der Guricht! Meine letzte Erfindung, der Schwanengesang eines Gescheiterten. […] Was sage ich? Schwanengesang? – Das Dohlengekrächz, der erstickte Ruf des Versinkenden im Morast! Der Guricht.“100 Im ersten Akt eine selbstgewiss-hochmütige Figur, darauf drängend, das elende Dorf so schnell wie möglich wieder zu verlassen, ist er im zweiten Akt der einsame Wanderer, der nur noch auf den Untergang warten kann. Jetzt ist er wirklich heimatlos, verlassen, nicht mehr „im Außerordentlichen“, sondern nirgendwo zu Hause, nicht einmal eine Lebensgeschichte bleibt ihm. Jürgen Schröder deutet Die Verspätung als Allegorie auf die unmittelbare Nachkriegszeit: Hildesheimers ‚Verspätung‘ stellt gleichsam die historische Nullpunktsituation nach 1945 noch einmal abstrakt und künstlich her, um die große ‚Wandlung‘ und jene Epiphanie des Sinns zu beschwören, die fünfzehn Jahre lang ausgeblieben war. In der Enttäuschung des absurden Theaters spiegelt und reproduziert sich auch die historische Enttäuschung der jungen Generation, die ein zurückkehrender Emigrant wie Hildesheimer vielleicht noch intensiver erfahren hat. Sie kam mit ihren Ideen und Vorschlägen, ihren Appellen, Artikeln und Büchern nach 1945 immer schon zu spät – so wie der Professor in Hildesheimers Stück. Sein Titel ist eine Metapher für die Erfahrung einer ganzen literarischen Generation zwischen 1945 und dem Beginn der sechziger Jahre.101

Diese Einsicht wird, in unterschiedlicher Intensität und in unterschiedlicher Form, in allen Beispieltexten greifbar. * Ein Heimatloser im bundesdeutschen Literaturbetrieb war auch Paul Celan. Seine Gedichte, sein Sich-Vortasten in Sprachräume, gründen in einer wesentlichen Dimension in der eigenen Lebensgeschichte und sind aus ihr entwickelt und geschaffen worden. Sie vollziehen poetisch eine Heimatsuche; Bewegun-

100 Hildesheimer, Die Verspätung (Anm. 73), S. 68. 101 Jürgen Schröder: Das Jahrzehnt Frischs und Dürrenmatts. In: Geschichte der deutschen Literatur (Anm. 11), S. 260–273, hier S. 273. 41

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gen, die sich an der Sprache vollziehen.102 Mit dem programmatischen Bezug auf andere Autoren – Hölderlin, Kafka – will Celan jedoch mehr und anderes, als eben nur seine poetische ‚Verwandtschaft‘ unter Beweis zu stellen. Im polemischen Gedicht Ars Poetica 62, geschrieben im Dezember 1962, endet die poetische Selbstbefragung in Sprachverstummung. Was sich über Heimat sagen lässt, bringt die Sprache an den Rand des noch Verständlichen. Je genauer Celan in seinen Beschreibungsversuchen des Heimatlichen vorzugehen versucht, desto mehr zerfallen ihm die sprachlich-grammatikalischen Sinneinheiten;103 artikulierbar ist sie nur noch in fragmentierenden Wort- und Satzbrechungen. Bereits im Gedicht Kermorvan hat Celan Heimat und Fremde poetisch aufeinander bezogen: „[…] in der Ferne auf Heimat zuzugehen, ist bei Celan sofort auch ein ihr ins Garn gehen – […].“104 Ars Poetica 62 macht Kafkas Jäger Gracchus zum „Nachbarn“ des lyrischen Sprechers – auch als Reaktion auf Celans ‚Nichtzugehörigkeit‘ im literarischen Feld nach 1945.105 Das Gedicht ist der geeignete Ort, um das Gespräch mit diesem „Nachbarn“ zu führen – hier findet ein heimatloses Ich poetische Zugehörigkeit, gleichzeitig ist es eine ganz grundlegende Selbstbefragung und poetologische Selbstbestimmung. Wofür braucht Celan dieses Gegenüber, diesen „Nachbarn, dem Mann / mit der Dohle (und der vernähten Zäsur!)“?106 Florian Welling resümiert: „Das Fremde und das nicht Integrierbare, das der ‚ewige Jude‘ ausstrahlt und das auch im

102 Peter Szondi bezeichnete das Gedicht Engführung als einen Text, „dessen Weg Gehen und Heimkehr ist (von der Gegenwart in die Vergangenheit und von der Vergangenheit in die Gegenwart), eine durch Erinnerung bewußt gewordene Erfahrung“. Peter Szondi: Schriften II. Essays: Satz und Gegensatz, Lektüren und Lektionen, Celan-Studien. Frühe Aufsätze. Frankfurt a. M. 1978, S. 364. 103 In diesen Kontext gehört ebenso das Gedicht Und mit dem Buch aus Tarussa (aus dem Band Die Niemandsrose) mit seiner dreifach metaphorischen Setzung „Sprachwaage, Wortwaage, Heimat- / waage Exil“. Celan, Die Gedichte (Anm. 13), S. 169. Die „Heimat- / waage Exil“ wird in einem schroffen Enjambement auseinandergerissen. Siehe auch das Gedicht Mit uns, den / Umhergeworfenen, das letzte Gedicht des Zyklus Eingedunkelt (1968): Die „dennoch / Fahrenden“ kehren die Exilerfahrung in eine selbstbestimmte Handlung um. Ebd., S. 272. 104 Gerhard Kaiser: Sand im Getriebe. Mehrdimensionale Bedeutungen in Bibel und Literatur. Freiburg i. Br. 2004, S. 16. Ein ähnliches Prinzip findet sich auch in dem nachgelassenen Gedicht Dein Heim (1968). 105 Die Beziehung Kafkas zum Jäger Gracchus hat Heiner Müller in seinem Gedicht Notiz 409 poetisch zum Ausdruck gebracht: „In seinem Schwarzwald wo Kafka der ewige Jude / Den Jäger Gracchus gesehn hat den Toten der / Das Sterben nicht gelernt hat den Meister aus Deutschland“. Heiner Müller: Warten auf der Gegenschräge. Gesammelte Gedichte. Hg. von Kristin Schulz. Berlin 2014, S. 377. 106 Celan, Die Gedichte (Anm. 13), S. 444. 42

Kafka als Reflexionsfigur für den Heimatdiskurs nach 1945

Jäger Gracchus durch dessen eigentümlichem Zustand zwischen Leben und Tod zum Ausdruck kommt, wird dadurch zu einem Gegenbild zu der im Gedicht vorangegangenen Schilderung einer hymnischen Lyriktradition: Dieser ‚Nachbar‘, der ‚Mann mit der Dohle‘, entzieht sich auf mehreren Ebenen einer Integration und lässt sich eben nicht in diesen Traditionszusammenhang eingliedern.“107 Man muss den zeitgeschichtlichen Kontext des Gedichts berücksichtigen: Die ‚Goll-Affäre‘, Attacken von Teilen der Gruppe 47 gegen die Emigranten, das Hofieren Johannes Bobrowskis als ‚Quasi-Nachfolger‘ Celans.108 Wolfgang Emmerich deutet das Gedicht als einen „mehr oder weniger verhüllten Rundumschlag gegen die ganze literarische Szenerie, am deutlichsten gegen eine verfehlte Nachahmung der deutschen Hymnentradition, wie er sie in Bobrowskis Gedichten sah“.109 Bereits der Titel des Gedichts, der auf Horaz’ wirkungsmächtige Dichtungstheorie verweist, tritt mit poetologischer Signifikanz auf: Im Zusammenhang mit der Nennung Hyperions im Text, dem das Ich „die Sprache bei[brachte]“,110 zeigt sich sogleich, dass Hölderlin – neben Kafka ein weiterer „Nachbar“ des lyrischen Subjekts – ein Beispiel für gelungene Übersetzungen ist (im Unterschied zum ‚imitator‘). Möglicherweise spielt der Gedichttitel auch auf Gottfried Benns Vortrag Probleme der Lyrik an, der als eine „Ars Poetica“ der Jahrhundertmitte galt.111 Doch was ist mit dem Gedichttitel genau gemeint? Ein poetisches Programm, ein Manifest, eine Bilanz, eine Forderung oder doch eine Parodie auf die zahlreichen poetologischen Schriften der Nachkriegszeit? Der Text spricht vom „große[n] Geheimnis“ (V. 1), das im weiteren Verlauf nicht enthüllt wird. Hier deutet sich bereits ein Bezug zum „Nachbarn“ aus dem „Schwarzwald“ an, der poetisch wiederangeeignet wird. Auf die Namensähnlichkeit von Kafka und Celan und beider Namensbewusstheit ist in der

107 Florian Welling: „Vom Anblick der Amseln“. Paul Celans Kafka-Rezeption. Göttingen 2019, S. 192. 108 Celan sprach von der „Phase der Celan-Imago: Bobrowski wird mit meinen Attributen ausgestattet.“ Celan, „Mikrolithen sinds“ (Anm. 12), S. 117. 109 Wolfgang Emmerich: Nahe Fremde. Paul Celan und die Deutschen. Göttingen 2020, S. 220. 110 Im Hyperion-Roman wird auf die Ars Poetica angespielt. Auch hier kann man an Kafka denken: Seine ersten schriftstellerischen Arbeiten erschienen in der von Franz Blei und Carl Sternheim herausgegebenen Zeitschrift „Hyperion“. 111 So Hans Bender im Vorwort der von ihm herausgegebenen Anthologie Mein Gedicht ist mein Messer (Heidelberg 1955, S. 9). Auch Hugo Friedrich nennt in seinem einflussreichen Buch Die Struktur der modernen Lyrik (Hamburg 1956, S. 117) Benns Vortrag eine „Ars poetica der Jahrhundertmitte“. 43

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Forschung häufig hingewiesen worden.112 Der heimatlose Jäger als poetologische Folie für Celan verstanden, impliziert einen „Mit-Leidenden […], einen wie er selbst aus der Welt Getriebenen, der, nicht ganz dem Leben zugehörig und doch nicht tot, gegen eine gleichgültige Welt anschreibend, zum Zeugen dieses Zwischenbereichs wird, der Kafkas und Celans eigenes Schreiben zeugt“.113 Mit Hilfe des Jägers, auf den das Gedicht hingeschrieben ist, kann sich Celan als Schreibender selbst positionieren und selbstvergewissern.114 Wie der ortlose und untote Gracchus bezeichnet auch das Gedicht einen schwebenden und prekären Zustand; es kann durch die zahlreichen Deutungsversuche nicht in einen gesicherten, ‚ruhigen‘ Zustand überführt werden. Der lyrische Sprecher ist von der Rede der ‚Sinnigen‘ getrennt: „Es hat den Anschein, als stehe diese in Spannung zum Individuellen, das sich gerade nicht durch Sinnzuschreibungen fassen lässt.“115 Das Pflücken des zu Beginn des Gedichts genannten ‚großen Geheimnisses‘: Das käme seiner Aufhebung als Geheimnis gleich; es steht in einem engen Konnex zum „Schatzwort“ (V. 23),116 dem zweimal von dem Ich zu sich selbst gesagten „sinnig“ – und genau dieses Wort fehlt dem „halbierten Nachbarn“ Gracchus/Kafka. „Sinnig“: etwas Sinnvolles, Geistreiches, Überlegtes, Feinsinniges, gleichzeitig alludiert das „Schatzwort“ Hölderlins Gedichtentwurf Die Titanen: „Die Händ’ einander, sinnig ist es / Auf Erden und es sind nicht umsonst / Die Augen an den Boden geheftet.“117 Auch im Titanen-Fragment ist eine Dualität vorherrschend, die man für Ars Poetica 62 geltend machen kann und die das Gedicht beispiels112 Werner Hamacher spricht von „der fast obsessiven Aufmerksamkeit, mit der Kafka dem Sinn seines Namens nachgegangen ist“. Werner Hamacher: Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan. Frankfurt a. M. 1998, S. 296. „Sinn des Namens – das heißt hier zunächst: sein Name hatte für ihn einen Sinn und nicht bloß eine designative Funktion.“ Ebd.  – Am 25. Dezember 1911 schrieb Kafka in sein Tagebuch: „Ich heiße hebräisch Amschel“, Celans Name lautete ursprünglich Ancel (Antschel), den er 1948 in Celan verwandelte. Vgl. hierzu auch John Felstiner: Paul Celan. Eine Biographie. Deutsch von Holger Fliessbach. München 2000, S. 408. 113 Vivian Liska: Ein Meridian wider die Zeit. Von Celan zu Kafka. In: Manfred Engel, Dieter Lamping (Hg.): Franz Kafka und die Weltliteratur. Göttingen 2006, S. 210– 233, hier S. 216. 114 „Kafkas Werk ist ein innerer Bezugspunkt in Celans poetologischer Reflexion.“ Sparr, Celan und Kafka (Anm. 27), S. 145. 115 Welling, „Vom Anblick der Amseln“ (Anm. 107), S. 289. 116 Dass es dem lyrischen Subjekt um Sprache und Dichtung geht, konnotiert das „Schatzwort“, das sogleich an ‚Wortschatz‘ denken lässt. 117 Friedrich Hölderlin: Sämtliche Gedichte und Hyperion. Hg. von Jochen Schmidt. Frankfurt a. M. – Leipzig 62019, S. 392. Vgl. hierzu auch Heike Gfrereis: Hölderlin, 44

Kafka als Reflexionsfigur für den Heimatdiskurs nach 1945

weise durch den Gedankenstrich im ersten Vers performativ gestaltet.118 Die „Zäsur“ des „Mann[es] mit der Dohle“ (Kafka) ist geschlossen,119 bleibt jedoch fragil, sie ist lediglich ‚vernäht‘  – sie bezeichnet auch einen geschichtlichen Einschnitt, nämlich den der Shoah. Die Schlussverse werden in Klammern gesetzt und mit dem Adverb „Sonst“ (V. 24) eingeleitet. Konjunktivisch-hypothetisch „wär auch / die zweite Hälfte“ des Jägers „gestorben“ (V. 25). Die „zweite Hälfte“ spielt auf Hölderlins – dem ‚andern Nachbarn‘ des lyrischen Sprechers – Hälfte des Lebens an. Wäre die „zweite Hälfte“ des „halbierten Nachbarn“ „gestorben“, dann wäre er „aus- / leg- / bar.)“ (V. 26) – dann wäre er deutbar, verstehbar, bedeutungsvoll. Das ist zugleich eine selbstreflexive Geste: Auch das Gedicht ist letztendlich nicht abschließend ‚auslegbar‘, sondern fordert immer wieder zu neuen Deutungen heraus. In die große Traditionslinie ‚Hölderlin  – Kafka‘ reiht sich das Gedicht ein; es erinnert an Hölderlins berühmten Vers „Ein Zeichen sind wir, deutungslos“ (Mnemosyne). Etwas ‚Ausgelegtes‘ ist zugleich etwas Sichtbares, Präsentiertes, ‚Auslegware‘ – so wie auch Celan die einzelnen Silben typografisch ‚auseinanderlegt‘.120 Jetzt, nach der radikalen Fragmentierung, ist das Gedicht wirklich an ein Ende gekommen, weiter, an der Grenze zum Verstummen, kann es nicht mehr gehen. Der heimatlose Jäger Gracchus muss sein „Geheimnis“ behalten, die Heimkehr bleibt ihm verwehrt. Die Beispieltexte irritieren die Semantik von ‚Heimat‘ – sie ist mitnichten der Ort der Selbstverständlichkeit des je Eigenen. Kafka ist für die genannten Autor*innen die Orientierungsfigur, er ist der Autor der modernen Nicht-Zugehörigkeit. Der Jäger Gracchus, die limbischen Gewässer befahrend, ist vielleicht die paradigmatische Figur für die Unmöglichkeit von Heimat nach 1945, Sinnbild des heimatlos gewordenen Schriftstellers. Die Frage nach Heimat und Zugehörigkeit stellt einen literaturgeschichtlichen Nexus zwischen den Texten her. Kafka, der kanonische Autor der Moderne: Sein bleibendes Verdienst liegt auch darin, den Blick auf ‚Heimat‘ radikal gewendet zu haben. In diesen ästhe-

Celan und die Sprachen der Poesie. Marbach a.  N. 2020 (marbacher magazin 169/170), S. 171 f. 118 Auch hier lassen sich Bezüge zum Gracchus-Fragment herstellen: Der Text beginnt mit „Zwei Knaben“, die folgenden Sätze beginnen mit „Ein Mann“, „Ein Mädchen“, „Ein Obstverkäufer“, dann werden wieder „zwei Männer beim Wein“ erwähnt. Kafka, Jäger Gracchus (Anm. 22), S. 266. 119 Zu den zahlreichen Implikationen der ‚Dohle‘  – Kafka, diebischer Charakter, GollAffäre, Bild des schlechten Dichters bei Horaz – vgl. Florian Wellings eindrucksvolle Studie (Anm. 107), S. 294–300. 120 Wobei auch die einzelnen Silben Semantiken mit sich führen. 45

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tisch formulierten Heimatlosigkeiten verweist sie nicht auf ein Sich-Einrichten oder auf ein Angekommen-Sein. Die Schreibprozesse sind von Diskontinuitäten und schroffen Abbrüchen gekennzeichnet, von Rissen und Nicht-Linearitäten; sie sind wie der Jäger Gracchus immer in Bewegung. Diese Reihe von Texten, die in den Jahren nach der nationalsozialistischen Herrschaft und nach der Shoah entstanden sind, konstituiert im Dialog mit Kafka einen ganz eigenen Heimatdiskurs. Unausweichlich führen diese Kafka-Interpretamente im Kontext der Reflexionen über Heimat und Zugehörigkeit dazu, das Prekäre, die Bewegung, das Bedrohliche und Ziellose, die Unmöglichkeit der Heimkehr, das Leben in Untergängen stärker zu akzentuieren als die Stabilität einer unerschütterlichen heimatlichen Ordnung – eine Heimatlosigkeit, die sich jedem Ortungsversuch energisch widersetzt.

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Auf der Suche nach einer ‚literarischen Heimat‘ Heinrich Bölls „Bekenntnis zur Trümmerliteratur“ Als Heinrich Böll im September 1945 aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft entlassen wurde und nach einer kurzen Interimsphase auf dem Land endlich wieder im Februar 1946 in seine Heimatstadt Köln zurückkehren konnte, holte ihn die Realität der unmittelbaren Nachkriegszeit rasch ein. Er trug die Verantwortung für seine Familie, eine finanzielle Absicherung war nicht in Sicht, und hinzukam die Verarbeitung der traumatischen Kriegserlebnisse, die ihm das Ankommen im Alltag erschwerten. Köln, die Stadt seiner Kinder- und Jugendzeit, der unversehrte urbane Raum, in dem der junge Heinrich Böll aufgewachsen war, existierte nur noch bruchstückhaft. Rückblickend bemerkte Böll, dass seine Heimatstadt vor dem Krieg, für ihn „eine verschwundene, versunkene Stadt“ ist, in der „ich einige Punkte noch erkenne, und das sind eben hauptsächlich die Kirchen, die romanischen Kirchen. Vielleicht zehn Häuser noch.“1 Das Ausmaß der Zerstörung und Verwüstung Kölns war immens. Die Bilder vom Kölner Dom, der als einziges Bauwerk aus den Trümmern der Stadt herausragte, Aufnahmen von Trümmerbergen und Ruinenfeldern in der Stadtlandschaft sind exemplarisch durch Fotografien von Walter Dirks und der US-amerikanischen Fotografin Lee Miller ins kollektive Gedächtnis gedrungen. Es verwundert nicht, dass der heimkehrende Böll beim Anblick seiner zerstörten Heimatstadt fassungslos vor den Trümmerhalden stand: „Als wir Köln wiedersahen, weinten wir. Wir kamen über die geländerlose, von Lehm glitschige Behelfsbrücke von Deutz herüber, ein englischer Panzer, der uns entgegenkam und ins Rutschen geriet, drängte uns fast in den Rhein. Wieder und noch einmal: Todesangst.“2 Atmosphärisch beschrieb Böll häufig in seinen Texten die Stimmung in der Stadt, in der nur noch Staub und Stille zwischen den Ruinen herrschten. In dem 1965 erschienenen Essay Heimat und keine, der die unmittelbare Nachkriegszeit beschreibt, findet sich eine längere Passage, in der Böll über den Trümmer1

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Heinrich Böll: „Eure Ruinen waren unsere Spielplätze“. Gespräch mit Wolfgang Niedecken (1985). In: Ders.: Werke. Kölner Ausgabe (KA), Bd. 26. Hg. von Jochen Schubert. Köln 2010, S. 410–446, hier S. 433. Heinrich Böll: Stichworte (1965). In: KA, Bd. 14, S. 297–314, hier S. 312. 47

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staub schrieb: „Was nicht sichtbar gemacht werden kann, vielleicht aber spürbar wird: der Staub und die Stille. Staub, Puder der Zerstörung, drang durch alle Ritzen, setzte sich in Bücher, Manuskripte, auf Windeln, aufs Brot und in die Suppe; er war vermählt mit der Luft, sie waren ein Leib und eine Seele; jahrelang die tödliche Qual, gegen alle Vernunft, gegen alle Hoffnung als Sisyphus und Herakles diese Unermeßlichkeit des Staubs zu bekämpfen, wie ihn eine zerstörte Stadt von den Ausmaßen Kölns hervorbringt; er klebte auf Wimpern und Brauen, zwischen den Zähnen, auf Gaumen und Schleimhäuten, in Wunden – jahrelang dieser Kampf gegen die Atomisierung unermeßlicher Mengen von Mörtel und Stein.“3 Das alte Köln mit seinen Gassen und Giebeln, mit seinen Kirchen und Plätzen, in dem man sich wie in einer Stadt in Flandern vorkam, etwa in Antwerpen oder Gent, wie Böll später in einem Interview darlegte, gab es nicht mehr. Die verletzte und zerstörte Stadt wurde für den angehenden Schriftsteller zu seinem neuen Zuhause, in dem er sich einrichten musste und sich trotz Schutt, Staub und Zerstörung wohlfühlen konnte, „weil diese Stadt endlich ernst war“4 und Größe hatte. Bölls Erlebnisse und Empfindungen in dieser für ihn so prägenden Lebensphase waren gleichermaßen spannungsreich und widersprüchlich. Das Leben in einer Ruinenstadt, barg nicht nur Erschwernisse und Probleme, sondern auch Reize „weil in dieser Zeit, so zwischen 45 und 48, die bürgerlichen Gesetze von Eigentum ziemlich mißachtet wurden, auch von den Bürgern.“5 Schwarzmarkterfahrungen, Versorgungsschwierigkeiten und Diebstähle erscheinen als positive und befreiende Erfahrungen, weil die bürgerlichen Gesetze von Eigentum überschreitbar sind. Die Komplexität der zeitgeschichtlichen Erfahrung ist damit umrissen: Sie reichte über das materielle Entbehren weit hinaus. Das zerstörte Köln war für ihn ebenso ein Ort der Hoffnung. Vergangen war schließlich die Stadt unter der Herrschaft der Nationalsozialisten. Stattdessen entstand in seinen Augen nun so etwas wie eine klassenlose Gesellschaft. Was die Nachkriegserfahrung eigentlich enthielt, war mehr als die Erfahrung der Trümmer, des Hungers und körperlichen Elends, es war das Erlebnis einer verwüsteten Gesellschaft. Und es ist Bölls ganz eigene Erfahrung seiner Zeit, in ihr stets das Geflecht des Gesellschaftlichen und in diesem wiederum das geschichtlich Bedingte zu erfassen.

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Heinrich Böll: Heimat und keine (1965). In: KA, Bd. 14, S. 374–380, hier S. 377. Vgl. Anm. 1, S. 433. Heinrich Böll: Eine deutsche Erinnerung. Gespräch mit René Wintzen (1978). In: KA, Bd. 25, S. 292–465, hier S. 436.

Auf der Suche nach einer ‚literarischen Heimat‘

Nach ihrer Rückkehr richtete sich Böll mit seiner Familie in einem halbzerstörten Haus, in welchem auch Bölls Verwandtschaft wohnte, in Köln-Bayenthal ein. In der Schreinerei seines Bruders Alois fand er zunächst eine Anstellung als Hilfsarbeiter. Formal nahm er auch sein Studium der Klassischen Philologie und Germanistik an der Kölner Universität wieder auf, wo er bereits im Sommer 1939 immatrikuliert war und von dort zur Wehrmacht einberufen worden war. Ein weiterer Grund für die Wiederaufnahme des Studiums war auch die dadurch berechtigte Zuweisung von Lebensmittelkarten. Wie aus einem Brief vom 27. April 1946 an seinen Freund Ernst-Adolf Kunz hervorgeht, spielte das universitäre Leben für Böll nur eine sekundäre Rolle, zumal er sich eine wissenschaftliche Laufbahn für die Zukunft nicht mehr vorstellen konnte: „Ich bin fast ein wenig lebensüberdrüssig. Ich arbeite immer noch bei meinem Bruder, habe mich aber auch für die Universität angemeldet, um wenigstens ein paar Semester zusammenzubringen. Ich weiß gar nicht, ob es überhaupt viel Sinn hat, sich eine sichere sogenannte ‚Existenz‘ aufzubauen. Mir ist das alles so gleichgültig und erscheint mir nach den Erlebnissen des Krieges und der Gefangenschaft auch ziemlich belanglos, welche Rolle ich in der so sehr erfreulichen menschlichen Gesellschaft spielen soll. Denn eine ‚Rolle spielen‘ ist es ja doch, es ist doch alles lächerlicher Blödsinn.“6 Der Kampf um das tägliche Brot war für Böll elementarer und dieser gelang nur durch seine Frau Annemarie, die die Existenz der Familie durch ihre Anstellung als Lehrerin an einer Kölner Schule sicherte. In dieser Lebensphase nahm Böll seine in den 1930er Jahren begonnene schriftstellerische Arbeit, die aus kurzen Erzählungen und Gedichten bestand, wieder auf. Ernst-Adolf Kunz berichtete er im Februar 1946, dass er zwar „nicht zum Schreiben aufgelegt“ sei7, und die Universität besuchte er, nach eigener Aussage, „alle halbe Jahre einmal“, denn was sollte ihm „das wesenlose Gerede da nützen? […] ich habe das Wagnis aufgenommen und schreibe.“8 Bölls eigentliche Profession war das Schreiben und diesen steinigen, mühseligen und perspektivlosen Weg verfolgte er ab 1946 konsequent und mit aller Beharrlichkeit. Er ließ sich auf ein Wagnis ein, dessen Ausgang ungewiss und mit der Option des Scheiterns verbunden war. Allein die äußerlichen Bedingungen waren für einen angehenden Schriftsteller widrig. Der Schreibprozess

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Brief von Heinrich Böll an Ernst-Adolf Kunz, 27.4.1946. In: Die Hoffnung ist wie ein wildes Tier. Der Briefwechsel zwischen Heinrich Böll und Ernst-Adolf Kunz 1945– 1953. Hg. von Herbert Hoven. Köln 1994, S. 20. Brief von Heinrich Böll an Ernst-Adolf Kunz, 8.2.1946, ebd., S. 18. Brief von Heinrich Böll an Ernst-Adolf Kunz, 15.10.1946, ebd., S. 24. 49

Gabriele Ewenz

wurde bereits durch fehlendes Material und desolate Schreibbedingungen zu einer Herausforderung. Die ersten Probleme ergaben sich bereits bei der Beschaffung von Schreibmaschine und Kohlepapier für die Durchschriften, Papiermangel kam noch hinzu. Schließlich fand sich eine alte Büromaschine seines Vaters, die den Krieg überdauert hatte. In einem autobiografischen Text von 1973 beschrieb Böll sehr anschaulich die widrigen Umstände beim Verfassen seines ersten Romans Kreuz ohne Liebe (1946/1947). Die Bewältigung des Alltags wurde zu einer zeitraubenden Notwendigkeit, zumal sich die Familie durch die Geburt zweier weiterer Söhne vergrößerte. Schreiben konnte Böll nur abends oder nachts, um seine Frau und die Kinder nicht zu stören. Er saß auf der Bettkante, vor sich, auf einem Stuhl stehend, die Schreibmaschine des Vaters: „Ein heilloses Papierdurcheinander in unserem Wohnschlafzimmer, wo auf dem Bett, auf Kommoden und Stühlen, in Bücherregalen zusammengeheftete Romankapitel, streng nach Abschrift eins, zwei usw. getrennt, umherlagen. Die ganze Wohnung stand unter dem Zeichen des bläulichen, sehr holzreichen Papiers, und überall auch lag bis aufs letzte ausgesaugtes Kohlepapier, von dem ich mich, da es so kostbar, nicht trennen konnte.“9 An eine intensive literarische Arbeit war unter diesen Umständen jedoch noch nicht zu denken. Dies änderte sich erst im April 1948, als Heinrich Böll eine angemietete Mansarde beziehen konnte. Trotz aller Widrigkeiten und Entbehrungen hielt Böll an seinem Vorhaben, Schriftsteller zu werden, fest. In der Trümmerwüste erlebte der junge Schriftsteller glückliche Stunden. Er saß in seiner Mansarde, trank Tee, rauchte Zigaretten und tippte auf der alten Schreibmaschine seines Vaters. In einem Brief an seinen Freund Kunz beschrieb er seine Not, aber auch die freudigen Momente, die er beim Verfassen seiner Kurzgeschichten, Gedichte und Romane hatte: „Es ist ein großes Auf und Ab des Überzeugtseins von mir selbst und des Bewußtseins meiner vollkommenen Unfähigkeit […]“.10 Doch welche Beweggründe hatte der junge Böll? Warum schlug er einen Weg als Schriftsteller ein, der zumindest aus der damaligen Perspektive, kein ruhmvoller und erfolgreicher sein und höchst wahrscheinlich in einer Sackgasse enden würde? Erhellend in diesem Zusammenhang sind Bölls Feldpostbriefe, die er an seine damalige Verlobte und spätere Ehefrau Annemarie schrieb. Hier formulierte Böll seinen literarischen Auftrag, der tief in seinem christlichen Glauben verankert war. „Gott hat mir nicht umsonst eine so tiefe Empfindsamkeit gegeben und hat mich nicht umsonst so leiden lassen, ich habe gewiß eine 9 10 50

Heinrich Böll: Am Anfang (1973). In: KA, Bd. 18, S. 219–222, hier S. 219 f. Vgl. Anm. 8.

Auf der Suche nach einer ‚literarischen Heimat‘

Aufgabe zu erfüllen […]. Ich glaube, ich habe den Auftrag, allen Menschen eindringlich zu sagen, daß es nichts so Geheimnisvolles, nichts so Verehrenswürdiges gibt wie das Leid; nichts, das so unmittelbar uns geschenkt ist, regelrecht geschenkt, nicht auferlegt.“11 Und an anderer Stelle heißt es: „Ich bete zu Gott, dass er mich soll heil werden lassen, und dann, dann will ich nicht die Toten auferwecken, denn die Toten sollen ihre Toten begraben, nein, den Ermordeten will ich ein Lied singen“.12 Böll handelt sozusagen im göttlichen Auftrag, zumal er mit Gottes Hilfe den Krieg überleben konnte. Die christliche Metaphorik, die in diesen Briefpassagen ihren Ausdruck findet, zeigt, wie sehr sich Böll mit den Fragen des Überlebens und der daraus resultierenden Verantwortung auseinandersetzte. In den frühen Erzählungen scheint Böll immer noch im Bann seiner traumatischen Kriegserlebnisse zu stehen, und sein Lebensgefühl ist äußerst düster, ja verzweifelt. Was er als Soldat erlebte, sollte ihn als Schriftsteller nie wieder loslassen. In seinem Frühwerk erweist sich Böll als Meister der kurzen Form, gekennzeichnet durch einen schonungslosen Realismus, atmosphärische Verdichtung und fundamentale Gesellschaftskritik. Seine ‚Trümmerliteratur‘ richtet den Blick auf den Wahnsinn des Krieges, auf Zerstörung, Hunger und Ungerechtigkeit. Zugleich hatte die Schreibarbeit der frühen Jahre für Böll immer auch eine therapeutische Funktion. Mit diesem Instrument, das sich über die Jahre hinweg verfeinern und immer besser zum Einsatz bringen lassen wird, gelang es Böll, die Schrecken des Krieges und die traumatischen Erlebnisse, die er im Feld machen musste, zu reflektieren und zu bearbeiten und in eine literarische Form zu überführen. Böll war ein Getriebener, der seinen Auftrag unbedingt erfüllen wollte. Seine literarische Produktion war in diesen Anfangsjahren immens, neben seinem Roman Kreuz ohne Liebe entstanden zahlreiche kleinere, aber auch umfangreicherer Erzählwerke, in denen sich Böll intensiv mit der Nazi-Diktatur, dem Zweiten Weltkrieg sowie der unmittelbaren Nachkriegszeit auseinandersetzte. In dieser Zeit manifestiert sich der für Böll in dieser Lebensphase programmatische Typus der Kriegs-, Heimkehr- und Trümmerliteratur. Diese frühen Prosastücke sind Paradebeispiele für jene Literatur, die Böll wenige Jahre später in seinem programmatischen Essay Bekenntnis zur Trümmerliteratur verteidigen 11

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Brief von Heinrich Böll an Annemarie Böll, 12.2.1941. In: Heinrich Böll: Briefe aus dem Krieg 1939–1945. Mit einem Vorwort von Annemarie Böll und einem Nachwort von Hamish Reid. Hg. von Jochen Schubert. 2 Bde. Köln 2001, Bd. 1, S. 170. Brief von Heinrich Böll an Annemarie Böll, 19.11.1940. In: Ebd., S. 131 f. 51

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sollte: „Wir schrieben also vom Krieg, von der Heimkehr und dem, was wir im Krieg gesehen hatten und bei der Heimkehr vorfanden: von Trümmern; das ergab drei Schlagwörter, die der jungen Literatur angehängt wurden: Kriegs-, Heimkehrer- und Trümmerliteratur.“13 Das Interesse an jenen Texten hielt sich jedoch in Grenzen. Die lesende Bevölkerung wollte nichts mehr von Krieg und Zerstörung lesen, gefragt war Unterhaltungsliteratur. Mit dem Terminus von der ‚Stunde Null‘, der einen literaturhistorischen Wendepunkt markieren sollte, versuchte man den Bruch mit der Nazi-Herrschaft einzuläuten. Gerade für die Nachkriegsliteratur, die am nachdrücklichsten mit der Idee eines radikalen Neubeginns arbeitete, ist die Realität eines Nullpunktes am entschiedensten verworfen und als unhistorische und letztlich utopisches Konzept infrage gestellt worden. Tatsächlich erwies sich die ‚Stunde Null‘ als große Illusion. Auch für Böll war dieser geschichtsinterpretierende Begriff, der den mit der Kapitulation Deutschlands bzw. dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Nazi-Diktatur gegebene Zeitpunkt einer von ihrer Vergangenheit freigesetzten Geschichte suggeriert, der jedoch angesichts der vielfältigen Kontinuitäten des Nationalsozialismus in der unmittelbaren Nachkriegszeit und über sie hinaus in der Bundesrepublik nie bestanden hat, problematisch. In einem Interview mit Margarete Limberg positionierte er sich dazu wie folgt: „Der Ausdruck ‚Stunde Null‘, dem möchte ich, was mich persönlich betrifft, widersprechen. Für mich war es die Stunde Nichts.“14 Diese frühen Jahre seines Schreibens, sind Jahre des Hausierens und des Scheiterns. 1946/1947 wagte sich Böll mit einer Auswahl seiner Texte an die Öffentlichkeit. In seinen Begleitbriefen an Zeitschriften- und Zeitungsredaktionen stellte sich Böll – wie in fast allen entsprechenden Briefen dieser Zeit – als „Angehöriger der jungen Generation“ vor. Im März 1946 kontaktierte er die christlich-soziale Wochenzeitung Rheinischer Merkur und sandte dort die Geschichten In guter Hut und Vor der Eskaladierwand ein, die erst im Mai 1947 als Teilabdruck unter dem Titel Aus der Vorzeit als erste Publikation von Heinrich Böll erschien. Weitere Einsendungen gingen an die katholische Monatsschrift Hochland sowie an die von Eugen Kogon und Walter Dirks herausgegebenen Frankfurter Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik. Ferner kontaktierte er die Zeitschrift Das Karussell. An den Rheinischen Merkur, sandte er die drei Kurzgeschichten Der Dieb, Im Käfig und Der Angriff, angenommen wurde nur die 13 14

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Heinrich Böll: Bekenntnis zur Trümmerliteratur (1952). In: KA, Bd. 6, S. 58–62, hier S. 58. Heinrich Böll: Es stirbt täglich Freiheit weg. Interview mit Margarete Limberg (1985). In: KA, Bd. 26, S. 487–497, hier S. 487 u. S. 846.

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letztgenannte Erzählung, die am 13. September 1947 erschien. Weitere Kurzgeschichten (Ein altes Gesicht sowie Rendezvous in Trümmern) gingen an die Redaktion der Zeitschrift Die Fähre (später Literarische Revue) sowie Der Schulschwänzer, Veronika und Der blasse Hund an Alfred Döblins Monatsschrift Das goldene Tor. Für Böll war das Resultat seiner Bemühungen niederschmetternd. Zwar gelang es ihm zwischen 1947 und 1948 einige seiner Kurzgeschichten in Zeitschriften und Zeitungen zu platzieren, die meisten Einsendungen kamen jedoch ohne Begründung mit einer Absage zurück. An seinen Freund Ernst-Adolf Kunz schrieb Böll im Oktober 1948: „Mein eigentliches Gebiet ist ja offenbar der Krieg mit allen Nebenerscheinungen und keine Sau will etwas vom Krieg lesen oder hören und ohne jedes Echo zu arbeiten, das macht dich verrückt.“15 Nein, ein Durchbruch konnte Böll mit seiner Schreibarbeit in dieser Lebensphase nicht erzielen. Dennoch hielt er an seinem Entschluss, als freier Schriftsteller zu arbeiten, weiterhin fest. Unterstützt wurde der fast 30-jährige Jungautor dabei maßgeblich durch seine Ehefrau Annemarie, die nicht nur als Englischlehrerin für den Lebensunterhalt der Familie sorgte, sondern auch den Haushalt organisierte und sich um die Kinder kümmerte. Darüber hinaus lektorierte sie die Texte ihres Ehemanns, fertigte Abschriften seiner Texte an und erweiterte ab den 1950er Jahren das Einkommensspektrum, in dem sie sich auf Übersetzungen der englischsprachigen Literatur ins Deutsche konzentrierte. Über 70 Bücher übersetzte Annemarie Böll im Verlauf ihrer Berufstätigkeit, zum Teil gemeinsam mit ihrem Ehemann. Namhafte Autoren und Autorinnen wie Brendan Behan, Flann O’Brien, George Bernard Shaw, Saul Bellow, O. Henry, Patrick White und Judith Kerr machte Annemarie mit ihrer Arbeit überhaupt erst in Deutschland bekannt. Die Situation der Schriftsteller, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Köln zurückkehrten war, wie in vielen anderen Städten auch, desolat. Durch die verheerenden Bombardements in den letzten Kriegsmonaten war die Stadt zu 90 Prozent zerstört und auf dem tiefsten Punkt ihrer fast zweitausendjährigen Geschichte angelangt. Albrecht Fabri beschrieb seine Rückkehr wie folgt: „Ich kam aus dem Krieg zurück und wollte eigentlich gar nicht nach Köln. Aber ich wußte nicht wohin. […] In München war gar nichts. In Berlin war auch nichts. In Köln war mehr.“16 Die Phase der ‚Trümmerkultur‘, also jene Zeit des kulturel15 16

Brief von Heinrich Böll an Ernst-Adolf Kunz, 11.10.1948. In: Ebd., S. 143. Albrecht Fabri in einem Zeitzeugengespräch am 7.6.1990. Zitiert nach: Kunst- und Kultur in Köln nach 1945. Musik, Theater, Tanz, Literatur, Museen. Hg. vom Historischen Archiv der Stadt Köln, Köln 1996, S. 255. 53

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len Lebens in Kellern, Schutt und Provisorien, dauerte in Köln bis in die 1950er Jahre hinein. Auch für Jürgen Becker, der 1950 von Erfurt wieder nach Köln zurückkehrte, zeigte sich drastisch das Ausmaß seiner zerstörten Heimatstadt: „Köln war noch eine Trümmerstadt, was ich allerdings als völlig normal empfand. Ich erlebte die Stadt jedes Jahr in den Ferien, wenn ich aus Erfurt kam, das erst in den letzten Monaten bombardiert wurde. Wenn man nach Köln kam im Zug, sah man bereits im Ruhrgebiet, in Städten wie Wuppertal, die Zerstörungen. Man musste in Köln-Deutz aussteigen, weil der Hauptbahnhof schon gar nicht mehr in Betrieb war. Auch die Straßenbahn fuhr nicht mehr am Neumarkt ab, sondern am Deutzer Bahnhof. Ein Kind sieht diese Zerstörungen, erschrickt, gewöhnt sich aber auch bald daran. Es gab keinen Gedanken an Verlust, kein Gefühl der Traurigkeit. Das kam erst später. Heute bin ich traurig, wenn ich sehe, wie Köln mal war und was man in der Zeit des Wiederaufbaus daraus gemacht hat. Der Gang zur Straßenbahn ging damals an Ruinen vorbei, da sah man ausgebrannte Fassaden. Das war völlig normal. Das Unnormale begann, als die Ruinen verschwanden und plötzlich Häuser entstanden mit völlig einfallslosen Fassaden. Das Unnormale war der Wiederaufbau. Die Trümmer waren noch etwas Vertrautes.“17 Nach 1945 entwickelte sich der politische, wirtschaftliche und kulturelle Neubeginn in Köln sehr langsam und schleppend. Ambitionierte Pläne, wie man die materiell und ideell schwer in Mitleidenschaft gezogene Stadt wieder zu einer kulturell attraktiven Metropole errichten könne, gab es viele, realisiert werden konnten in den ersten Nachkriegsjahren hingegen nur wenige. Einer dieser Pläne war, ein Buch- und Verlagszentrum in Köln zu errichten. Der damalige Oberbürgermeister Konrad Adenauer wollte die in Leipzig ansässige Deutsche Bücherei, die im Krieg erhebliche Schäden hinnehmen musste, nach Köln überführen, ebenso war geplant, dass der Börsenverein des Deutschen Buchhandels nach Köln umzieht. Beide Vorhaben zerschlugen sich. Frankfurt am Main erwies sich als der geeignetere Standort. Eine weitere Säule, die den kulturellen und wirtschaftlichen Neuanfang der Stadt tragen sollte, war das Verlagswesen. Das Spektrum der ansässigen Verlage war in den ersten Nachkriegsjahren durchaus überschaubar. Die meisten der traditionsreichen Verlagshäuser Kölns wie DuMont Schauberg, Bachem u. Greven lagen in Schutt und Asche. Im Bestreben, der Stadt auch wirtschaftliche 17

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„Die Moderne rauschhaft aufgesaugt“. Jürgen Becker im Gespräch. In: Doppelleben. Literarische Szenen aus Nachkriegsdeutschland. 2. Bde. Hg. von Helmut Böttiger, Bernd Busch und Thomas Combrinck. Göttingen 2009, Bd. 2, S. 219–226, hier S. 222.

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Impulse zu verleihen, wurde bewusst auf die Umsiedlung von Verlagen aus der sowjetischen Besatzungszone gesetzt. Da die dort ansässigen Verlagshäuser sich zunehmend den politischen und ideologischen Interessen der Partei konfrontiert sahen, suchten zahlreiche von ihnen nach Möglichkeiten für einen Neubeginn in den Westzonen. Köln bot sich den umzugswilligen Verlagen als Standort an und versuchte, die Verleger mit einer Startbeihilfe von 5000 DM zu locken, eine für die damalige Zeit respektable Summe. Um die vorläufige Unterbringung der Verlage zu sichern, wurde ein Hochbunker in Köln Riehl als eine Art Verlagshaus eingerichtet. In diesem unwirtlichen, aber in der Not akzeptablen Gemäuer, in das schließlich sogar Fenster gestemmt wurden, siedelten sich sukzessive immer mehr Verlage an: 1948 kam der Jenaer Verlag Eugen Diederichs, es folgten 1950 der Verlag Kiepenheuer &  Witsch und 1951 der Böhlau Verlag aus Weimar. Diese, sowie die Kunstbuchverlage E. A. Seemann, Wienand und DuMont Schauberg waren an der verlegerischen Vielfalt der Stadt maßgeblich beteiligt. Verlage, mit ausgesprochen belletristischer Ausrichtung, waren in diesem Reigen allerdings kaum auszumachen. Lediglich Eugen Diederichs und Kiepenheuer & Witsch offerierten mit ihren Programmen ein attraktives literarisches Angebot. Während sich der erste vornehmlich auf die Literatur des 19.  Jahrhunderts konzentrierte, nutzte der zweite anfänglich die von Gustav Kiepenheuer eingeholten Rechte deutscher und internationaler Literatur des 20. Jahrhunderts. Maßgeblich an der Programmgestaltung des Verlags beteiligt war Dieter Wellershoff, der in seiner Funktion als Lektor viele neue junge Autoren entdeckte, darunter Rolf Dieter Brinkmann, Günter Seuren, und Nicolas Born. Mit seinem Plädoyer für eine Reanimation des Realismus avancierte Wellershoff zum Mentor der sogenannten ‚Kölner Schule‘, die unter diesem Markennamen dann auch in die Literaturgeschichte einging. Für die Entwicklung einer literarischen Infrastruktur war die Präsenz des Rundfunks nicht unerheblich. Über die Sendeanstalt, die in den ersten Nachkriegsjahren primär ein Ableger des Nordwestdeutschen Rundfunks in Hamburg war, kamen in literarischen Beiträgen auch viele Kölner Autoren zu Wort. Der NWDR entwickelte sich zu einem der größten und wichtigsten Arbeitgeber für die Schriftsteller. Features und Hörspiele als spezifische literarische Formen mit eigenem ästhetischem Konzept, wurden zu wichtigen Betätigungsfeldern und regelmäßigen Einnahmequellen für Autoren wie Heinrich Böll, Dieter Wellershoff, Albrecht Fabri, Jürgen Becker oder Wolfdietrich Schnurre. Trotz all dieser vielfältigen Aktivitäten gelang es in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch nicht, Köln den Charakter einer Stadt zu verleihen, in der Literatur eine wesentliche Rolle spielte: „Als ich im 55

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Herbst 1959 nach Köln kam, um Lektor im Verlag Kiepenheuer & Witsch zu werden“, so Dieter Wellershoff, „zeigte sich mir noch nichts von der schöpferischen Unruhe der folgenden Jahre, und Köln war außer dem WDR als literarische Szene eine terra incognita für mich.“18 Mit dem weiteren Ausbau des Senders, vor allem nach seiner Eigenständigkeit ab 1956, wuchs dessen Attraktivität für Autorinnen und Autoren. Darüber hinaus etablierten sich in Köln zwei weitere Rundfunksender, die Deutsche Welle (1953) sowie der Deutschlandfunk (1960). Schriftsteller und Schriftstellerinnen wie Carola Stern, Ralph Giordano, Irmgard Keun, Werner Koch, Manfred Franke, Jürgen Becker, Hans G. Helms u .a. m. sahen in ihrer Rundfunkarbeit nicht nur die materielle Absicherung für das literarische Schreiben, sondern auch die Herausforderung, im Bereich des Hörspiels, neue Wege zu beschreiten. Experimente gegen traditionelle Hörgewohnheiten sowie die neuen technischen Möglichkeiten der Stereophonie eröffneten ungeahnte Gestaltungsmöglichkeiten, mit denen man ein differenzierteres Bild von der Wirklichkeit vermitteln konnte als mit einfachen Dialogformen. Was Köln in jenen Jahren darüber hinaus fehlte, war ein literarisches Zentrum, eine Anlaufstelle und ein Treffpunkt für Leser und Schriftsteller gleichermaßen, sowie eine Koordinationsstelle für die verschiedensten Aktivitäten auf literarischem Gebiet. Literatur, die in Köln geschrieben, gedruckt, verlegt und gehandelt wurde, blieb im Bewusstsein der meisten Bürger ein eher konturloses Phänomen. Auch die Bemühungen einzelner Autoren, Gesprächskreise und Zusammenkünfte zu organisieren, schlugen weitgehend fehl. Hans Bender, der 1959 nach Köln kam, rief gemeinsam mit  dem Literaturkritiker und späteren Böll-Biografen Heinrich Vormweg einen offenen Gesprächskreis für Schriftsteller ins Leben: „Jeden Donnerstag, um 17 Uhr sollten die Schriftsteller ins Kranzler kommen. Es fing vielversprechend an, doch schon nach zwei, drei Monaten kam es vor, daß nur noch zwei, drei Autoren kamen. Was soll man daraus folgern? Daß Schriftsteller nicht geeignet sind für Stammtische, für Termine, für Kollegialität?“19

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Dieter Wellershoff: Ein Gefühl von Überfluß. In: Ders.: Werke. Bd. 3. Autobiographische Schriften. Hg. von Keith Bullivant u. Manfred Durzak. Köln 1996, S. 261–268, hier S. 262. Interview mit Hans Bender, Rainer Steinberg und Michael Zimmermann, Köln 1990. In: Gelegenheit macht Dichter. Vom Leben, Schreiben und Herausgeben. Ausstellung zum 75. Geburtstag. Hg. vom Historischen Archiv der Stadt Köln. Köln 1994, S. 130–135, hier S. 132.

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Auch Bölls schriftstellerischer Neuanfang vollzog sich in außerordentlicher Isolierung. Seine Begleitschreiben an Verlage und Zeitschriftenredaktionen verband er oft im Falle einer Ablehnung seiner Texte mit dem Wunsch nach Rat und Kritik: „Es ist verzweifelt schwierig für mich, eine literarische Heimat zu finden“, schrieb er am 3. Juli 1948 an Herbert Burgmüller, Redakteur des Willi Weismann Verlags. „Den sogenannten christlichen Verlagen bin ich zu frech und ‚modern‘, und den sogenannten liberalen entschieden zu christlich […] Einige Monate werde ich mich noch gerade über Wasser halten können. Bis dahin muß sich entschieden haben, ob ich etwas tauge. Im anderen Fall werde ich gezwungen sein, wieder Steine zu klopfen oder Schutt zu fahren, […].“20 Für Böll gab es kaum Möglichkeiten des Austausches, wie unbefriedigend dieser Zustand für den angehenden Schriftsteller gewesen sein muss, geht deutlich aus seiner damaligen Korrespondenz hervor. An Alfred Andersch schrieb er am 8. Juli 1948: „Sie mögen mir glauben, daß ich mich sehr freuen würde, wenn Sie irgendwie Zeit fänden – falls Sie Köln berühren – mich einmal zu besuchen. Vielleicht können Sie mir auch irgendwie Anschluß an Gruppen junger Schriftsteller ermöglichen.“21 Auch andere Kölner Autoren beklagten diese Situation. Jürgen Becker beschrieb die Atmosphäre in der Rheinmetropole nach seiner Rückkehr wie folgt: Köln war „eine Nachkriegsstadt, die alles tat, den Krieg vergessen zu machen, der doch in so vielen Trümmerhalden, ausgebrannten Ruinen, leeren Schuttplätzen noch gegenwärtig war. Der erste, der einzige Schriftsteller-Freund, den ich damals hatte, lebte mitten im Ruinenfeld am Ursulakloster in einem Keller, dem das Haus darüber fehlte […] Dort saß in seinem freigelegten Gemäuer Jo Kirchner und schrieb wundersame Trümmergeschichten, die er mir vorlas. Ich las ihm meine Geschichten vor, wir besprachen einander und spielten, vor dem Publikum unserer damaligen Ehefrauen, Gruppe 47, ohne zu wissen, dass es sie gab.“22 Bölls Anschluss an die bundesrepublikanische Literaturszene begann nicht in der ‚Gruppe 47‘, sondern in der von Johannes M. Hönscheid initiierten ‚gruppe junger autoren‘, einem lockeren Verbund junger Schriftstellerinnen und Schriftsteller, der sich als Gegenbewegung zur ‚Gruppe 47‘ verstand und seinen Sitz in Kassel hatte. Das Ziel der Gruppe war es, sich gegenseitig in Form von Lesungen und vergleichbaren Veranstaltungen zu unterstützen. Gemein-

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Brief von Heinrich Böll an Hubert Burgmüller, 3.7.1948. HBA Bestand Korr. 4003, Bl. 4–5. Brief von Heinrich Böll an Alfred Andersch, 8.7.1948. HBA Bestand 4005, Bl. 5. Brief von Jürgen Becker an Reinhold Neven Du Mont, November 2003. In: Reinhold Neven DuMont: Gebrauchsanweisung für Köln. München 2004, S. 142 f. 57

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sam wollte man sich für die Interessen junger Autoren einsetzen, geplant war ebenso eine Anthologie mit eigenen Texten. Neben Böll gehörten auch die Kölner Autoren Hans Bender und Paul Schallück dazu. Böll wurde als vorläufiges Mitglied aufgenommen und sollte gemeinsam mit Schallück den monatlich erscheinenden Pressedienst und die kulturelle Berichterstattung aus Köln übernehmen. Gefragt waren Theaterkritiken und andere Beiträge aus dem literarischen Leben der Stadt. Bölls Mitgliedschaft in der ‚gruppe junger autoren‘ war nur von kurzer Dauer, der Versuch, Kontakt mit Gleichgesinnten aufzunehmen, war gescheitert, zu sehr rieb er sich an Provinzialismus und Dilettantismus in der Gruppe, sodass ein Ausscheiden für ihn immer näher rückte. Bölls Entrée in den damaligen Literaturbetrieb sollte erst 1951 mit einer Einladung zur Tagung der ‚Gruppe 47‘ in Bad Dürkheim stattfinden. Der Initiator der Einladung war Alfred Andersch. Die ökonomisch schwierige Situation riss bei Böll nicht ab, kleinere Publikationen konnte er verbuchen, für den großen Wurf war der Zeitpunkt noch nicht gekommen. Unverdrossen schickte er seine Manuskripte an die Verlage und Zeitschriftenredaktionen. „Von der Literatur höre ich nichts Positives“, schrieb er an seinen Freund Ernst-Adolf Kunz. Zwar bekam er gute Feuilleton-Angebote, die er jedoch nicht annehmen konnte, da er nur „optimistischen Kram“ liefern solle. „Der wird gut bezahlt und ‚geht‘ ab wie frische Brötchen. Aber ich kann einfach nicht. Ich kann auch in diesem Punkt keine Konzessionen machen, selbst wenn ich technisch dazu in der Läge wäre, das wirst du verstehen. Ich versaue mir meine ganze Arbeit, meinen Stil und meine Linie und werde schließlich nur ein Flickschuster“23. Böll wollte keine Kompromisse machen und konnte sich nicht mit dem beliebten Genre der Unterhaltungsliteratur anfreunden. Eingereichte Erzählungen erhielt er zurück mit der Bemerkung: „Es müßten allerdings Arbeiten sein, in denen der Ruinen-, Elends- und Nachkriegsmythos noch mehr gedrosselt wird und – wenn überhaupt – so doch nur leicht spürbar wird“.24 Doch genau das wollte Böll nicht, für „optimistischen Kram“ war er nicht zu haben. Polemisch formulierte er 1952 stellvertretend für die junge Generation in seiner literarischen Standortbestimmung Bekenntnis zur Trümmerliteratur: „Die Zeitgenossen in die Idylle zu entführen würde uns allzu grausam erscheinen, das Erwachen daraus wäre schrecklich, oder sollen

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Brief von Heinrich Böll an Ernst-Adolf Kunz, 31.8.1948, S. 127. Brief von Armin Eichholz an Heinrich Böll, 31.3.1948, HBA Bestand Korr. 4005, Bl. 39.

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wir wirklich Blindekuh miteinander spielen?“25 Die Weigerung, sich den Normen der älteren Generation gemäß zu verhalten, hatte einen politischen Kern, verstanden sich die Jungen doch als eine Generation, deren Bildungserlebnis der Krieg war. Die ersten schriftstellerischen Erfolge zeichneten sich erst in den folgenden Jahren ab. Durch die Übersetzungstätigkeit von Heinrich und Annemarie Böll entstanden erste Kontakte zu dem Opladener Friedrich Middelhauve Verlag, dem die Bölls einen von ihnen übersetzten Essay von Stephen Spender über W. H. Auden and the Poets of the Thirties einreichten. In der von Hans Werner Richter und Alfred Andersch begründeten Zeitschrift Der Ruf, die zu dieser Zeit eines der wichtigsten Publikationsorgane der jungen deutschen Literatur darstellte, kam 1949 die Kurzgeschichte An der Brücke heraus. Unter dem Titel Der Zug war pünktlich (1949) erschien im Middelhauve Verlag eine längere Erzählung, die von der Kritik sehr positiv wahrgenommen wurde. 1950 folgte die Veröffentlichung eines Bandes mit Kurzgeschichten, Wanderer, kommst du nach Spa … Fortan wuchs das Interesse an Bölls Texten stetig, mehrere Verlage, darunter die Frankfurter Verlagsanstalt und der Rowohlt Verlag bemühten sich, Böll als Autor zu gewinnen. Entscheidend für seine zukünftige literarische Laufbahn war der Wechsel zu dem in Köln ansässigen Verlag Kiepenheuer & Witsch, für den Böll in der Folgezeit auch als Lektor, Gutachter und Übersetzer tätig war. Durch Vermittlung von Alfred Andersch knüpfte Böll, der sich bei Middelhauve verlegerisch nur schlecht betreut fühlte, erste Kontakte zu Kiepenheuer &  Witsch. Ein gravierender Grund für den Verlagswechsel war ebenso, dass der von Middelhauve zusammen mit der Erzählung Das Vermächtnis (1949) bereits angekündigte Roman Der Engel schwieg (1951) kurzfristig vom Programm abgesetzt wurde. Die dort verarbeitete Thematik entsprach nicht mehr dem Publikumsgeschmack. Die zunehmende Anerkennung, die Böll im Lauf der 1950er Jahre im literarischen Feld erfuhr, hing auch mit dem Preis der ‚Gruppe 47‘ zusammen, den Böll 1951 für seine Erzählung Die schwarzen Schafe erhielt. Böll gelang es, in den 1950er Jahren schnell zum profiliertesten Autor der ‚jungen Generation‘ zu avancieren. In der Wochenzeitung Die Zeit war bereits 1954 in einer Besprechung neuer Romane zu lesen, dass Böll seit seinem Roman Wo warst Du, Adam?, „den er vor einigen Jahren veröffentlichte, als der begabteste Erzähler unter den jüngeren deutschen Autoren“ gelte. „Seine Novelle ‚Nicht nur zur

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Heinrich Böll: Bekenntnis zur Trümmerliteratur (1952). In: KA, Bd. 6, S. 58–62, hier S. 59. 59

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Weihnachtszeit‘ und sein letzter Roman ‚Und sagte kein einziges Wort‘, in dem er ein so gefährliches Thema wie die Ehe aufgreift, festigten, diesen Ruf.“26 Bereits 1949 äußerte sich Böll erstmals öffentlich über die Literatur seiner Zeit. Im März dieses Jahres bat die Literarische Revue mehrere Autoren, zu denen neben Böll auch Otto Mühl und Wolfdietrich Schnurre gehörten, an einer Umfrage teilzunehmen. „Die junge Generation der Nachkriegszeit“ sollte zu Wort kommen. Angesprochen wurden Autoren und Autorinnen, von denen bereits Texte in der Literarischen Revue publiziert worden waren. Böll konnte auf zwei Veröffentlichungen in dieser Zeitschrift zurückblicken: Wiedersehen in der Allee (1948) und In der Finsternis (1949). Interessant ist Bölls Antwort auf die Frage: „In welchem Umfang ist die Auseinandersetzung mit der Zeit bestimmend für ihr literarisches Schaffen?“ Präzise und knapp formulierte er: „Alle ‚Zeiterscheinungen‘ transparent zu machen, so daß das Gültige sichtbar wird“.27 Dieses Statement kann als erste schriftliche Äußerung Bölls über die zeitgenössische Literatur gesehen werden. Seine Antworten auf die Befragung „Antworten junger Autoren auf eine Umfrage“ ist ein wichtiges Zeugnis für seine literarische Entwicklung jener Jahre. Bekenntnis zur Trümmerliteratur erschien am 15. Mai 1952 in der Literaturzeitschrift Die Literatur, einem Sprachrohr der ‚Gruppe 47‘ und gilt als Bölls bekanntester poetologischer Text. Die von Hans Werner Richter herausgegebene Zeitschrift musste aus finanziellen Gründen nach wenigen Monaten wieder eingestellt werden. Bereits in der ersten Nummer sollte eine Satire von Böll mit dem Titel Die Suche nach dem Leser (1952) erscheinen, die Geschichte wurde jedoch nach Einsendung des Textes abgelehnt. – Bölls Essay Bekenntnis zur Trümmerliteratur kann als theoretische Fortsetzung jener Satire verstanden werden, da der Autor hier mit anderen Mitteln der Frage nachgeht, warum die Bücher der ‚jungen Generation‘ in der Bundesrepublik Deutschland kaum eine Leserschaft finden. In dem kleinen satirischen Werk, in dem Böll wohl seine eigenen Erfahrungen als angehender Schriftsteller verarbeitet hat, zweifelt der Verfasser am Beruf des Schriftstellers, da er weitgehend erfolglos bleibe, jahrelang „hat er auf den Steppen der Kultur das magere Gras dieser Kunst gefressen bis er einen Verleger fand.“28 Mit den Mitteln der Übertreibung und 26 27 28 60

Paul Hühnerfeld: Wir sind nicht verloren. Bemerkungen zu neuen deutschen Romanen von Böll, Bender und Stahl, in: Die Zeit, 23.9.1954. Antworten junger Autoren auf eine Umfrage (1949). In: KA, Bd. 4, S. 158. Heinrich Böll: Die Suche nach dem Leser (1952). In: KA, Bd. 6, S. 16–19, hier S. 16.

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Verzerrung persifliert Böll seine eigene Situation als junger Autor auf dem Literaturmarkt. Böll versuchte die Geschichte auch beim Rundfunk unterzubringen. Unter dem Titel Ein Beruf, ein richtiger Beruf – Spaß und Ernst von Heinrich Böll wurde die Satire Die Suche nach dem Leser zusammen mit der Kurzgeschichte Der Mann mit den Messern sowie einem Einführungstext von Böll, der bereits Passagen aus dem Essay Bekenntnis zur Trümmerliteratur enthielt, am 11. Juli 1952 im RIAS Berlin gesendet. Interessant ist in diesem Kontext, dass Böll eine gekürzte Fassung seines Essays mit dem Titel Das Auge des Schriftstellers am 12. Dezember 1952 in der Deutschen Studentenzeitung publizierte. Durch die Wahl des neuen Titels unterstrich Böll einen zentralen Aspekt aus seinem Essay. Er konzentrierte sich nicht mehr auf die Tatsache, dass die Bücher der ‚jungen Generation‘ nicht gekauft werden, sondern hob vielmehr die Gründe dafür hervor: auf das „krampfhafte Augenzumachen“ des Publikums und auf die sehenden Augen des Schriftstellers, auf die Alternative „Sehen“ oder „Blindekuh spielen“ und auf die Gefahren des Sehens. Das Auge gehört nach Böll zum „Handwerkszeug“ des Schriftstellers. In Anlehnung an das Bibelzitat „Wer Ohren hat zum Hören, der höre!“ (Mk, 4,9) hebt Böll hervor, dass sich das Sehen des Schriftstellers nicht nur auf visuell Wahrnehmbares beziehe, sondern eine Durchdringung der Wirklichkeit erfordere. Visuelle Kategorien könnten für ein Verständnis des Wirklichkeitsbezugs der Literatur nur metaphorisch verwendet werden. Nicht die Beobachtung, sondern die Interpretation ermögliche eine adäquate Wirklichkeitserkenntnis: „Wer Augen hat zu sehen, der sehe! Und in unserer schönen Muttersprache hat Sehen eine Bedeutung, die nicht mit optischen Kategorien allein zu erschöpfen ist: wer Augen hat, zu sehen, für den werden die Dinge durchsichtig – und es müßte ihm möglich werden, sie zu durchschauen, und man kann versuchen, sie mittels der Sprache zu durchschauen, in sie hineinzusehen. Das Auge des Schriftstellers sollte menschlich und unbestechlich sein: man braucht nicht gerade Blindekuh zu spielen, es gibt rosarote, blaue, schwarze Brillen – sie färben die Wirklichkeit jeweils so, wie man sie gerade braucht.“29 Bölls programmatische Erklärung des Begriffs der Trümmerliteratur spiegelt wider, was der Autor bei seiner Rückkehr in die Heimat vorfand, nämlich Trümmer – sowohl äußerlich (Ruinen) als auch innerlich (seelische Verfassung, zerstörte Ideale und Werte). Böll stellt den Begriff synonym neben Kriegs- und Heimkehrerliteratur und wehrt Einwände gegen Trümmer als literarisches 29

Heinrich Böll: Bekenntnis zur Trümmerliteratur (1952). In: KA, Bd. 6, S. 58–62, hier S. 61 f. 61

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Motiv ab, indem er auf Homer verweist, der in der Odyssee von Krieg, Zerstörung und Heimkehr erzählt. Auf diese Weise nobilitierte Böll quasi die Gattung der Trümmerliteratur und stellt sie in einen direkten historischen Bezug zur griechischen Antike. Er betonte, dass es keinen Grund gäbe, sich „dieser Bezeichnung zu schämen“. „Wir schrieben also vom Krieg, von der Heimkehr und dem, was wir im Krieg gesehen hatten und bei der Heimkehr vorfanden: von Trümmern; das ergab drei Schlagwörter, die der jungen Literatur angehängt wurden: Kriegs-, Heimkehrer- und Trümmerliteratur“. Dabei formulierte er als Ziel, dass die Literatur die Leser nicht in die Idylle entführen dürfe, sondern ein möglichst realistisches Bild der Nachkriegszeit zeichnen müsse. Zu einer weiteren Verbreitung der Trümmerliteratur-Thematik trugen öffentliche Auftritte Bölls bei. Legendär war die Diskussionsveranstaltung im Wartesaal des Kölner Hauptbahnhofs. Initiator der berühmten ‚Kölner Mittwochsgespräche‘ war der Buchhändler Gerhard Ludwig, Betreiber der Bahnhofsbuchhandlung.30 Neben merkantilen Interessen erkannte Ludwig bereits sehr früh die Zeichen der Zeit, er verstand es, die Bedürfnisse und Vorlieben der Menschen zu erkennen und in eine Form zu kleiden. Bis zu 800 Menschen zwängten sich in die Räume seiner Bahnhofsbuchhandlung. Unter dem Motto „Freier Eintritt, freie Fragen, freie Antworten“ wurden die Veranstaltungsbesucher zur aktiven Teilnahme an den Diskussionsrunden aufgefordert und das Interesse an freier Meinungsäußerung, nach kulturellen und politischen Themen der Zeit, war nach den Jahren der Repressionen unter dem Nationalsozialismus sehr groß.  – Am 23. Juli 1952 fand das 90. Mittwochsgespräch zur Frage Warum Trümmerliteratur? statt. Als Referenten nahmen Heinrich Böll und sein Schriftstellerkollege Paul Schallück teil. Zuerst las Böll seinen Text Bekenntnis zur Trümmerliteratur, im Anschluss daran hatte das Publikum Gelegenheit sich aktiv einzubringen. Ludwig moderierte das Gespräch und eröffnete die Diskussionsrunde mit einer an Böll gerichteten Frage zur Bedeutung von Trümmerliteratur, die Böll an Schallück übergab. – Schallück argumentierte wie folgt: „Also zur ‚Trümmerliteratur‘ gehören nach unserer Ansicht all die Dinge, die sich mit unserer Zeit realistisch beschäftigen, die sagen ‚was ist‘. Und wenn man sagt ‚was ist‘, kann man natürlich nicht sagen: ‚Wir haben keine Trümmer‘, oder auch nur so tun, als ob unsere Städte nicht zerstört wären.“31 Böll und

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Vgl. Die Kölner Mittwochsgespräche. 1950–1956. Hg. vom Historischen Archiv der Stadt Köln, Köln 1991. Warum Trümmerliteratur. 90. Mittwochgespräch. Diskussionsveranstaltung am 23.7.1952 im Wartesaal des Kölner Hauptbahnhofs. In: KA, Bd. 6, S. 556–567, hier S. 557.

Auf der Suche nach einer ‚literarischen Heimat‘

Schallück waren beide Vertreter der ‚jungen Generation‘. Schallück kam 1947 nach Köln und zählt neben Böll zu einem der führenden Vertreter der ‚Trümmerliteratur‘, die für die 1950er Jahre als Antwort auf die Kriegserlebnisse und -nachwirkungen vor allem im völlig kriegszerstörten Westen Deutschlands so charakteristisch werden sollte. Schallück studierte an der Universität zu Köln Germanistik und Philosophie. Der Blick auf die in Trümmern liegende Domstadt sollte seinen weiteren Lebensweg maßgeblich beeinflussen. Ebenso wie Böll vermittelte auch Schallück in seinen Texten eindringlich eine ungeschönte Sicht auf eine nüchterne, aber dennoch nicht hoffnungslose Gegenwart. Sein erster Roman, der 1951 unter dem Titel Wenn man aufhören könnte zu lügen erschien, sowie Bölls Roman Und sagte kein einziges Wort (1953) waren erfolgreich, weil in ihnen moralische Werte in einer durcheinander gerüttelten und erst langsam wieder Fuß fassenden Gesellschaft thematisiert wurden. Das Köln der Nachkriegszeit gab dabei den Schauplatz für jene Erzählungen und Romane ab. Von der Kritik wurde der abwertende Begriff Trümmerliteratur zur Charakterisierung dieser Werke verwendet, den sich Böll und Schallück jedoch ebenso überzeugend wie selbstbewusst zu eigen machten. Ganz gezielt lenkten beide Autoren während der Diskussionsveranstaltung im Kölner Hauptbahnhof das Augenmerk auf die Darstellung der Gegenwart und setzten sich für die Verteidigung des Begriffes ein. Der Terminus ‚Trümmerliteratur‘ wird nach der Veröffentlichung von Bölls Bekenntnis vor allem mit seinem Werk verbunden. Sein vehementer Einsatz für eine Literatur des Hinsehens und Benennens stieß nicht nur auf Befürworter, im Gegenteil. Wenn der Kölner Bürgermeister Ernst Schwering im Jahr 1951 Bölls Roman Der Zug war pünktlich als „geschmacklos“ und „lastervolle Selbstenthüllung“32 charakterisierte, so drückte er damit eine allgemeine vorherrschende Stimmung aus, die einer künstlerischen Verarbeitung unbequemer Wahrheiten entgegenstand. Die Trümmerthematik griff Böll vier Jahre nach Erscheinen seines Bekenntnisses noch einmal in literarischer Form auf. Für die von V. O. Stomps herausgegebene Streit-Zeit-Schrift schrieb Böll eine Glosse mit dem Titel Selbstkritik: „Morgens, wenn ich erwacht bin, denke ich schon darüber nach, welches Problem schmutzig und zeitnah genug und damit wert ist, dargestellt zu werden. Wie andere Weihrauchstäbchen entzünden, lasse ich – um mich in die richtige Stimmung zu versetzen – von meinen Söhnen ein wenig Trüm32

Zitiert nach: Eberhard Illner: Von der Botschaft zur Gesellschaftskritik. Kulturpolitik in Köln. In: Kunst und Kultur in Köln (Anm. 16), S. 24. 63

Gabriele Ewenz

merstaub im Schlafzimmer ausbeuteln; das geht so vor sich: Da die Trümmer meistens aus größeren Brocken bestehen, bitte ich meine Frau um ein ausgedientes Handtuch, eine aussortierte Windel und schicke einen meiner Söhne, natürlich geht das der Reihe nach, und jeder hat zweimal in der Woche Beuteldienst, in den Keller, wo ich stets einen größeren Vorrat Trümmerbrocken in Reserve halte. (In Wirklichkeit, entgegen dem, was amerikanische Reisebüros den Travellers als Warnung zurufen: Reist nach Europa, im nächsten Jahr seht ihr keine Trümmer mehr!, in Wirklichkeit gibt es von diesem Stoff noch genug; auch habe ich Geheimquellen und einen Mittelsmann, der versprochen hat, in Zeiten äußerster Knappheit mir Trümmerbrocken zu mäßigen Schwarzmarktpreisen zu besorgen.) Hat derjenige meiner Söhne, der Beuteldienst hat, die entsprechende Tagesration (etwa zwei bis drei Kilo) eingebeutelt (unser Familienjargon), so müssen nun die beiden anderen Söhne den Beutel gegen Wände, Decken, Schränke schlagen, woraufhin dem Beutel ein feiner, köstlich nihilistischer Staub entsteigt: jenes Stimulans, ohne das ich einfach nicht arbeiten kann; ich atme diesen Puder der Vernichtung, wie andere Opium, Haschisch schlucken mögen, tief ein, woraufhin sich bei mir ein rauschhafter Zustand einstellt, jener, in dem allein ich zu schreiben fähig bin.“33

Bölls Auseinandersetzung mit der Trümmerthematik impliziert auch immer seine Reflexion über Heimat - und Sprachverlust. Die Trümmer der Nachkriegszeit dienten ihm als Metapher sowohl für eine materielle als auch geistige Trümmerwelt. Der Verlust der Heimat vollzog sich für Böll somit auf verschiedenen Ebenen, aber auch ganz konkret beim Anblick seiner zerstörten Heimatstadt. Kaum ein Schriftsteller ist im Bewusstsein seiner Leser so sehr mit einer Stadt verbunden wie Heinrich Böll. Die zerstörte und verletzte Stadt war reizvoll für ihn, weil sie „ernst geworden war“. Böll benannte bereits vorausschauend in seinem Bekenntnis zur Trümmerliteratur die Gefahren des Wiederaufbaues. Die Trümmerhaufen in den Städten verloren für ihn nur scheinbar an Bedeutung, denn in allen Neubauten erkannte er vor allem Verwaltungen, die kaum der Not der Menschen abhelfen. Er fühlte sich berufen, „daran zu erinnern, daß der Mensch nicht nur existiert, um verwaltet zu werden – und daß die Zerstörungen in unserer Welt nicht nur äußerer Art sind und nicht so geringfügiger Natur, daß man sich anmaßen kann, sie in wenigen Jahren zu heilen.“34 Die städtebaulichen Entwicklungen in der Nachkriegszeit begleitete Böll mit Kritik 33 34

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Heinrich Böll: Selbstkritik (1956). In: KA, Bd. 10, S. 42 f., hier S. 42. Heinrich Böll: Bekenntnis zur Trümmerliteratur (1952). In: KA, Bd. 6, S. 58–62, hier S. 62.

Auf der Suche nach einer ‚literarischen Heimat‘

und Distanz. Den sogenannten Wiederaufbau versuchte er nicht nur durch polemische Statements, sondern auch literarisch zu verarbeiten. Sein Langgedicht Köln III, das Impressionen von einem Spaziergang Bölls am Pfingstsonntag des Jahres 1971 wiedergibt, ist ein sprechendes Zeugnis dafür: die Stadt in freudloser Sonne verödet wieder mal aufgewühlt im dreißigjährigen Krieg der Bauplaner maschinen firmen ausschüsse bagger krane unzählige Abschüsse nach dreißigjährigem Einsatz der Preßlufthammerflak Gefallene Gefangene Siege in Aufriß und Abbau unaufhaltsamer Vormarsch […]35

Obwohl Böll zeitlebens ein ausgeprägtes kritisches Verhältnis zu seinem Geburtsort hatte, waren die Stadt und das Rheinland sein Arbeits- und Ausdrucksmaterial, wie er in einem Interview mit Werner Koch anmerkte.36 Im Kontext des lokalen Heimatbegriffs äußerte sich Böll in einem Vorwort in dem von Chargesheimer herausgegebenen Fotoband Köln 5 Uhr 30: „Ich wohne in dieser Stadt, ich bin in ihr geboren. Fragte man mich, ob sie meine Heimat sei, wüßte ich keine Antwort.“37 Trotz allem, durchzieht die Topografie der Stadt

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Heinrich Böll: Köln III. In: KA, Bd. 18, S. 96–106, hier S. 96. Köln gibt’s schon, aber es ist ein Traum. Gespräch mit Werner Koch (1979). In: KA, Bd. 25, S. 602–628. Heinrich Böll: Es geht immer weiter. Vorwort für den Bildband „Köln 5 Uhr 30“ des Photographen Chargesheimer. Köln 1970. In: KA, Bd. 16, S. 328 f., hier S. 329. 65

Gabriele Ewenz

sowohl sein narratives als auch sein essayistisches Werk. Gerade in seinen autobiografisch angelegten Texten, z. B. Straßen wie diese (1958), Raderberg, Raderthal (1965), tritt jener Begriff von Heimat hervor, den der Autor als „warm und schön“, ja, als „metaphysisch überfremdet“ bezeichnet38, gemeint ist das vergangene, entrückte Köln, das nur noch in der Erinnerung existiert und durch diese lebendig gehalten wird. Sowohl das Köln der Vorkriegszeit als auch das zerstörte Köln sind in diesem Sinn heimatlich und bilden den „Gegenstand der Erinnerung  – und der Sentimentalität natürlich“ konstatierte Böll in seinem Essay Heimat und keine, einem prägnanten Text über die eigentümliche Heimatlosigkeit der Menschen. Für Heinrich Böll ging der Heimatbegriff weit über eine topografische Fixierung hinaus, Lokalpatriotismus, war ihm fremd. Böll der existenziell die Erfahrungen des Heimatverlustes im eigenen Land erfahren hatte, verband Heimat vor allem auch mit den Menschen und mit der Sprache. Der Verlust der Heimat in der Sprache durch den Missbrauch mit und an ihr unter dem Nationalsozialismus begründet die Aufgabe des Dichters, diese Heimat neu zu konstituieren, wie Böll in seinen poetologischen Überlegungen hervorhob. Schreiben heißt für ihn daher „die Suche nach einer bewohnbaren Sprache in einem bewohnbaren Land“.39 Sprache sei dort ein „letzte[r] Hort der Freiheit“,40 wo sie untröstlich bleibe gegenüber der Vergänglichkeit. Während sich also die Nachkriegsdeutschen im Wiederaufbau dem Verdrängen der Vergangenheit hingeben könnten, umso mehr sei es nach Böll die Aufgabe des Schriftstellers, die Erinnerung zu fordern und zu pflegen. Heimat ist Böll zufolge keine statische Kategorie im Sinne von etwas Bleibendem oder gar Unveränderbarem, im Gegenteil: durch historische Entwicklungen, gesellschaftliche Veränderungen und individuelles Handeln verändern sich die räumlichen Komponenten sowie die Lebensverhältnisse des Menschen. „Die Geschichte des Ortes“, so schrieb Böll in Heimat und keine (1965), „an dem einer wohnt, ist gegeben, die Geschichte der Person ergibt sich aus unzähligen Einzelheiten und Erlebnissen, die unbeschreiblich und unwiederbringlich sind.“41 Es sind die Erfahrungen und Erinnerungen, auch Verschiebun38 39 40

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Köln gibt’s schon, aber es ist ein Traum. Gespräch mit Werner Koch (1979). In: KA, Bd. 25, S. 602–628, hier S. 605. Heinrich Böll: Frankfurter Vorlesungen (1964). In: KA, Bd. 14, S. 139–201, hier S. 159. Heinrich Böll: Rede, gehalten anläßlich der Entgegennahme des Eduard-von-derHeydt Preises der Stadt Wuppertal am 24.1.1959. In: KA, Bd. 10, S. 536–541, hier S. 537. Heinrich Böll: Heimat und keine (1965). In: KA, Bd. 14, S. 376–380, hier S. 376.

Auf der Suche nach einer ‚literarischen Heimat‘

gen innerhalb der Erinnerungen, an Staub und Stille, die Erfahrung der Not und Vertreibung, nicht zuletzt des Hungers und der Angst, die Böll in den Schichtungen unterschiedlicher Köln-Bilder (das Vorkriegs-Köln seiner Kindheit und Jugend, das zerstörte Köln, das Köln der Nachkriegszeit und das wiederaufgebaute Köln) entwirft und die von ihm als Bilder mehrerer Heimaten künstlerisch und klug vor Augen gestellt werden. Bölls Heimatbegriff ist damit keine gleichbleibende, unabänderliche Konstante, sondern ein vorwärtsgewandter, prozesshafter Vorgang, der äußeren und inneren Entwicklungen unterworfen ist.

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Eugen Wenzel

„Hier erst haben wir ja auch gelernt, was Heimat ist“ Der Begriff der Heimat in der deutschsprachigen Stalingrad-Literatur Heinrich Heine, einer der prominentesten Exilanten der deutschsprachigen Literaturgeschichte, schreibt in seinem Vorwort zu Salon I (1833), „das Wesen des Frühlings erkenn[e] man erst im Winter, […] die Freyheitsliebe [sei] eine Kerkerblume und erst im Gefängnisse fühl[e] man den Werth der Freyheit, [so dass] die deutsche Vaterlandsliebe erst an der deutschen Grenze“1 beginne. Paraphrasiert bedeutet dies, dass nur jener Mensch tatsächlich begreife, was Heimat bedeute, der sie verlassen habe, ob freiwillig oder gezwungenermaßen. Exakt in dieselbe Kerbe schlägt auch Heinrich Gerlach, wenn er in seinem 1944/45 entstandenen Roman Durchbruch bei Stalingrad einen in der Schlacht an der Wolga im Winter 1942/43 sterbenden Soldaten sagen lässt: „Hier erst haben wir ja auch gelernt, was Heimat ist.“2 Mag es sich mit der Richtigkeit dieses Standpunktes verhalten wie es möge, fest steht: Ein Diskurs darüber, wie mit dem Begriff der Heimat in der deutschen Nachkriegsliteratur umgegangen worden ist, muss zwangsläufig ein lückenhafter bleiben, wenn er nicht die Stalingrad-Literatur thematisiert, die in nicht zu vernachlässigendem Maße durch die Frage nach der Heimat bestimmt wird. Diesem Missstand abzuhelfen, ist Sinn und Zweck des vorliegenden Textes. Heimat wird gemeinhin definiert als eine „subjektiv von einzelnen Menschen oder kollektiv von Gruppen, Stämmen, Völkern, Nationen erlebte territoriale Einheit, zu der ein Gefühl besonders enger Verbundenheit besteht“.3 Vor allem dieses Raumbezugs wegen ist sie nach Michail Bachtin als ein Gegenstand der Literatur ein Chronotopos, d. h. ein Kontinuum, in welchem „räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Gan-

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Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. In Verbindung mit dem Heinrich-Heine-Institut hg. von Manfred Windfuhr. Hamburg 1973–1997. Bd. 5, S. 373. Heinrich Gerlach: Durchbruch bei Stalingrad. Hg. von Carsten Gansel. Berlin 2016, S. 205. Johannes Schmid: Heimat. In: Brockhaus. Die Enzyklopädie in 24 Bänden. München 2001. Bd. 9, S. 631–633, hier S. 631.

„Hier erst haben wir ja auch gelernt, was Heimat ist“

zen“4 verschmelzen. Damit ist indirekt gesagt, dass es „eine Vielzahl von Chronotopoi“5 gibt. Diese „können sich aneinander anschließen, miteinander koexistieren, sich miteinander verflechten, einander ablösen, vergleichend oder kontrastiv einander gegenübergestellt sein oder in komplizierten Wechselbeziehungen zueinander stehen“.6 Niemals sind sie also isoliert voneinander, und den Begriff der Heimat in der Literatur zur Schlacht um Stalingrad adäquat zu erfassen, bedeutet folglich selbstredend, ihn stets in seiner Relation zu anderen zentralen Chronotopoi dieses Korpusses zu sehen, die da wären: auf der einen Seite die Idylle und der Bunker, die an den Chronotopos Heimat anschließen, und auf der anderen Seite die Front und der Kessel (d. h. die völlige Einzingelung einer Armee durch eine andere, die gewaltsame Krümmung der Front- zu einer geschlossenen Kreislinie), die sich miteinander verflechten und der Heimat, der Idylle und dem Bunker kontrastiv gegenüberstehen, wobei ihr Verhältnis zum Letzteren ein durchaus ambivalentes ist, wie noch zu sehen sein wird. Die vorliegende Untersuchung würde jedoch entschieden zu kurz greifen, wollte sie sich lediglich auf die Darstellung des soeben Gesagten beschränken. Es muss nämlich bedacht werden, dass der Begriff der Heimat kein ausschließlich geografischer ist. Es gibt darüber hinaus noch „eine geistige, kulturelle und sprachliche, nicht zuletzt politische Heimat“,7 wobei auch diese Definition keineswegs vollständig oder zumindest nicht präzise genug ist: Sie erwähnt nicht ausdrücklich die für die Literatur zu Stalingrad besonders beachtenswerte Vorstellung von der religiösen Heimat, welche die Geborgenheit des Menschen in Gott beschreibt und beispielsweise von Heinrich Böll auch als die „kosmische Heimat“8 bezeichnet wird. Die nachfolgenden Ausführungen werden sich also auch mit diesen und ähnlichen Aspekten zu befassen haben. Von Anbeginn an ist die Stalingrad-Literatur aufs Engste mit dem Chronotopos Heimat verbunden, unter welchem sie vorrangig den geografischen Ort Deutschland und die dort herrschenden Sitten und Gebräuche fasst. Den Impuls hierzu setzten bereits die Nationalsozialisten, indem sie unentwegt propagierten, ihr am 22. Juni 1941 begonnener und mit aller Härte geführter Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion sei der einzige gangbare und notfalls bis 4 5 6 7 8

Michail Bachtin: Chronotopos. Hg. von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke. Berlin 2017, S. 7. Ebd., S. 190. Ebd. Schmid, Heimat (Anm. 3), S. 631. Heinrich Böll: Erzählungen. Hg. von Viktor Böll und Karl Heiner Busse. Köln 1994, S. 70. 69

Eugen Wenzel

zum bitteren Ende zu gehender Weg der Verteidigung der geliebten Heimat vor dem Bolschewismus, der allein darauf aus sei, in einem erneuten ‚Hunnensturm‘ Deutschland und die gesamte europäische Kultur und Zivilisation gnadenlos zu unterjochen. Genau hierauf rekurriert beispielsweise ein General in Gerlachs Die verratene Armee (1957),9 wenn er zu seinen Untergebenen sagt: „Hart sein gegen uns selbst, gegen unsere Leute und gegen den barbarischen Feind, der kein Erbarmen kennt – das Letzte verlangen von uns selbst und von anderen, das ist es, das erwartet die Heimat von uns.“10 Ähnliches lässt sich auch von normalen Soldaten vernehmen, so etwa in Christoph Fromms 1993 erschienenem Roman Stalingrad. Die Einsamkeit vor dem Sterben. „Wir verteidigen hier unsere Heimat“,11 heißt es da entschieden aus dem Mund eines Landsers, sodass von einer gewissen Breitenwirkung der NSPropaganda in diesem Punkte gesprochen werden kann. Dieser Sachverhalt trägt einen Anteil zur Erklärung bei, wieso sich die deutschen Truppen in Stalingrad so lange geweigert haben, zu kapitulieren. Zugleich ist es auch das Naheliegende, dass sie den Standpunkt, sie würden dort ihre geliebte Heimat verteidigen, spätestens dann kritisch zu hinterfragen anfingen, als sich der katastrophale Ausgang der Kampagne abzuzeichnen begann. Kaum erstaunlich ist es daher, dass es in den literarischen Texten zu dieser Schlacht immer wieder zur Diskussion der Frage kommt: „Um wessen Vaterland kämpfte man eigentlich hier, 2000 Kilometer von Deutschland entfernt?“12 Viel 9

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Dieser Roman ist die spätere Fassung des von Gerlach in sowjetischer Kriegsgefangenschaft verfassten Textes Durchbruch bei Stalingrad. Die Konfiskation des Manuskripts durch die Lagerleitung im Jahre 1949 veranlasste den Autor, den Roman nach seiner Rückkehr nach Westdeutschland mit Hilfe der Hypnose in sein Gedächtnis zurückzuholen, ihn zwischen 1951 und 1955 ein zweites Mal zu schreiben und anschließend unter dem Titel Die verratene Armee zu publizieren. Diverse Abweichungen vom Original waren bei dieser Methode vorprogrammiert. Den ursprünglichen Text entdeckte Carsten Gansel zu Beginn der 2010er Jahre im Russischen Staatlichen Militärarchiv (RGVA) und brachte ihn 2016 heraus. Heinrich Gerlach: Die verratene Armee. Der Stalingrad-Roman. München 1986, S. 26. Christoph Fromm: Stalingrad. Die Einsamkeit vor dem Sterben. München 2013, S. 303. Gerlach, Die verratene Armee (Anm. 10), S. 288. Auffällig ist an dieser Debatte vor allem, dass sich letztendlich zwar alle darin einig sind, es sei „eine komische Verteidigung, bei der man zwölfhundert Kilometer weit ins andere Land reinmarschiert“ (Fromm, Stalingrad [Anm. 11], S. 254.), dass die sowjetische Perspektive in der Regel jedoch kaum in Betracht gezogen wird. Selbst ein so spät entstandener Roman wie der von Fromm kommt über oberflächliche Formulierungen wie die, dass „die Russen […] hier mit dem Rücken zur Wand ihre Heimat verteidigten“

„Hier erst haben wir ja auch gelernt, was Heimat ist“

verwunderlicher mag es stattdessen klingen, aber höchstens im allerersten Moment, dass es nicht wenige gab, die selbst noch nach der vollständigen Demaskierung der nationalsozialistischen Propaganda der Ansicht blieben, sie würden mitten in Russland für die Verteidigung ihrer Heimat streiten. Was sie diese Haltung gewinnen ließ, war die Vorstellung, dass die Rote Armee im Falle einer Niederlage Deutschlands die unvorstellbarste Rache nehmen würde für all die Gräuel, die ihnen die Deutschen zugefügt hatten. „Wir müssen kämpfen für die Heimat“, so bringt es der soeben zitierte Roman Fromms auf den Punkt, „damit die Russen sich nicht rächen“13 für den, so kann hier sinngemäß mit Ernst Nolte ergänzt werden, „ungeheuerlichsten Eroberungs-, Versklavungsund Vernichtungskrieg, den die moderne Geschichte kennt“14 und dessen Zahlen und Fakten jegliches menschliche Fassungsvermögen bei Weitem übersteigen: In der „Zahl der sowjetischen Kriegsopfer – insgesamt ca. 30 Millionen Tote“15  – sind die kaum zählbaren Millionen Verstümmelter, Traumatisierter, Vergewaltigter, Verwaister und aller noch irgendwie anders Betroffener nicht inbegriffen; eine von der deutschen Grenze bis zur Wolga in Schutt und Asche gelegte Heimat war da noch das kleinste Übel. Aus der Perspektive der Soldaten der Wehrmacht rückte Deutschland, für das sie kämpften, mit dem Beginn des Unternehmens Barbarossa zwangsläufig in die Ferne, und weil die Handlung in den Werken der Stalingrad-Literatur sehr selten dahin springt, so zeichnet sich der Chronotopos Heimat im Rahmen dieser Texte vor allem durch seine Abwesenheit aus. Lediglich in den Gedanken, Ängsten, Hoffnungen und Gebeten der Soldaten, Offiziere, Ärzte und Feldgeistlichen ist er präsent, was jedoch keinesfalls seine Bedeutung mindert. Eher das Umgekehrte ist de facto der Fall, denn je weiter er sich mit dem Vor-

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(Ebd., S. 361.), nicht hinaus. Die Erklärung für diesen Sachverhalt ist vorrangig darin zu suchen, dass die bis heute währende „Kontroverse um deutsche Täter und Opfer“ während des ‚Dritten Reiches‘ aufgrund des immer noch spürbaren Einflusses des Opfernarrativs, sprich: der bewussten und unbewussten Selbstinszenierung der Deutschen als Opfer des Hitlerregimes, „vor allem selbstreflexiv [verläuft], d. h. ohne dass darin russische bzw. sowjetische Opfer eine nennenswerte Rolle spielen würden“ (Boris Hoge: Schreiben über Russland. Die Konstruktion von Raum, Geschichte und kultureller Identität in deutschen Erzähltexten seit 1989. Heidelberg 2012, S. 173). Ein näheres Eingehen darauf, wie die sowjetischen Soldaten dazu standen, die Deutschen würden in Stalingrad ihre Heimat verteidigen, wäre in diesem Kontext im höchsten Maße kontraproduktiv. Fromm, Stalingrad (Anm. 11), S. 325. Ernst Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche. München 1963, S. 436. Elena Stepanova: Den Krieg beschreiben. Der Vernichtungskrieg im Osten in deutscher und russischer Gegenwartsprosa. Bielefeld 2009, S. 310. 71

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marsch der Wehrmacht entfernt und je tiefer diese in Stalingrad in Schwierigkeiten geraten, desto schmerzhafter empfinden diese Menschen sein Fehlen und desto stärker steuert er ihre Gefühle, Gedanken und Taten. Viel mehr noch als der Vormarsch des deutschen Heeres kann die Schlacht um Stalingrad selbst als eine schrittweise, überaus leidvolle und bis zum Äußersten getriebene Entfernung und Trennung von der Heimat beschrieben werden. In ihrer ersten Phase, die vom Anfang August 1942 dauerte und wo das deutsche Vorrücken im erbitterten Ruinenkampf im Stalingrader Stadtgebiet Schritt für Schritt zum gänzlichen Erliegen kam, bestand noch eine direkte Landverbindung zur Heimat. Bereits zu diesem Zeitpunkt waren die deutschen Soldaten so durch die Härte des Krieges gezeichnet, dass viele von ihnen sich nichts sehnlicher wünschten, als in die sichere Heimat zurückkehren zu können. So heißt es deshalb wenig überraschend in Die verratene Armee: „Der Bahnhof Tschir ist der Endpunkt eines der dünnen Fühler, die die Heimat weit in das feindliche Land hineinstreckt. Bis hierher kommen die Fronturlauberzüge, wenn die Partisanen sie nicht vorher in die Luft jagen, von hier aus rollen sie heimwärts. Jeder deutsche Landser an Wolga und Don träumt von dem Bahnhof Tschir.“16 Ab dem 19. November 1942 gingen die sowjetischen Truppen zu ihrer Großoffensive über. Dabei wandten sie eine Taktik an, die sie von den Deutschen übernommen hatten und welche für deren Blitzsiege in den vorherigen Kriegen und Schlachten hauptsächlich verantwortlich zeichnete, sprich: das schnelle und vollständige Einkreisen des Gegners. Das Bewusstsein, von allen Seiten umstellt und von den eigenen Leuten abgeschnitten zu sein, sorgt nämlich für eine rapide Zersetzung der psychischen Widerstandskraft und lässt den Feind in Folge davon meistens sehr schnell kollabieren. Im Falle der 6. deutschen Armee und der 4. deutschen Panzerarmee, die am 22. November 1942 bei Stalingrad komplett eingeschlossen wurden, machte sich dieser Zersetzungsprozess nicht unmittelbar bemerkbar und kam erst mit der Zeit zur vollen Entfaltung, weil es sich bei diesen in toto 22 Divisionen um erfahrene Eliteverbände mit einer Gesamtstärke von über 300 000 Mann handelte, die von Adolf Hitler persönlich, der bis dahin nur von Sieg zu Sieg geeilt war und lediglich vor Moskau im Winter 1941/42 einen wirklich erwähnenswerten Rückschlag erlitt, das Versprechen bekommen hatten, er werde rechtzeitig für Entsatz sorgen. Für die eingeschlossenen deutschen Truppen gab es ab dem 22. November 1942 also keinen Landweg mehr in die Heimat. „Die Truppe ist jetzt Heimat“,17 16 17 72

Gerlach, Die verratene Armee (Anm. 10), S. 68. Ebd., S. 100.

„Hier erst haben wir ja auch gelernt, was Heimat ist“

kommentiert der Erzähler aus Gerlachs Roman entsprechend die Situation, während eine der Figuren die immer deutlicher werdende zersetzende Wirkung der Einzingelung wie folgt beschreibt, wobei ganz offensichtlich wird, wie das Fehlen der Heimat seinen gehörigen Anteil dazu beiträgt: „2000 km von der Heimat entfernt, abgeschnitten von allem, was uns lieb und … Das frißt an uns. Man kann sich nicht behaupten. Man verfault irgendwie von innen her.“18 Erst vor diesem Hintergrund erklärt sich die traumatisierende Wirkung des Verlustes der einzigen zwei Stalingrader Flugplätze, Pitomnik (am 16.) und Gumrak (am 21. Januar 1943), auf die eingeschlossenen Soldaten, bedeutet dies doch das Abreißen der letzten wirklichen Brücke in die Heimat, allein von wo noch Hilfe bei der Rettung vor dem beinahe sicheren Tod hätte kommen können und wohin man zuvor, wenn man das ‚Glück‘ hatte, schwer verwundet zu werden, zumindest noch die geringe Chance hatte, ausgeflogen zu werden. Hinzu kommt, dass der Verlust der Flugplätze territoriale Verluste, d. h. eine weitere Verkleinerung des von den Deutschen in Stalingrad kontrollierten Gebietes darstellte, was den Druck auf die Eingezingelten natürlich noch größer werden ließ, als er es ohnehin schon war. Spätestens bei diesem Bild von der Druckerhöhung wird begreiflich, warum sich ziemlich schnell der Begriff des Kessels und nicht der gelegentlich ebenfalls gebräuchliche Begriff des Ringes als die weitaus angemessenere Metapher für die Beschreibung der Einzingelung und der sich daran anschließenden Vernichtung durch den Feind durchsetzen musste. Mit dieser Vokabel werden nämlich sofort ein ordentliches Einheizen (Heizkessel), eine immense Erzeugung von Druck (Dampfkessel) und das Garen von Fleisch in einem gusseisernen und häufig mit einem schweren Deckel dicht verschlossenen Kochbehälter (Kochkessel) assoziiert, aus dem es kein Entrinnen gibt. Als ein Chronotopos steht der Kessel in der Stalingrad-Literatur, wie eingangs schon erwähnt, der Heimat kontrastiv gegenüber: Dank ihm, d. h. aufgrund der sich in ihm offenbarenden völligen Schutzlosigkeit des Menschen, zeigt sich, dass die in Stalingrad eingekesselten Soldaten Heimat im ganz archaischen Sinne hauptsächlich als Schutz begreifen. Die Aussage in Durchbruch bei Stalingrad, „auch ein Erdloch kann Heimat sein“,19 weil es dem Soldaten zumindest irgendeinen Schutz vor den feindlichen Angriffen und der Kälte des russischen Winters bietet, ist nur eine der unzähligen Äußerungen, die diese Sichtweise stützen. Darüber hinaus zeigt sich dank dem Chronotopos Kessel auch, dass die Heimat in den literarischen Darstellungen der Stalingrader Schlacht eine zentrale Rolle nicht 18 19

Ebd., S. 144. Gerlach, Durchbruch bei Stalingrad (Anm. 2), S. 427. 73

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nur spielt, sondern zwangsläufig auch spielen muss, denn aufgrund dessen, dass er den Soldaten durch das Leid, welches er ihm zufügt, glauben lehrt, sie sei der Inbegriff des Schutzes, wird dieser mit einer unerschütterlichen Gesetzmäßigkeit umso stärker an sie denken und sich nach ihr sehnen, je mehr sich der Druck im Kessel auf ihn erhöht. An dieser Stelle muss jedoch einschränkend festgehalten werden, dass das Leiden auch irgendwann einen Punkt erreicht, an dem der Mensch in vollkommene Apathie verfällt und an nichts mehr denkt, nicht einmal an die rettende Heimat, was wiederum nicht heißt, dass diese nicht sogleich wieder zum alles beherrschenden Gegenstand wird, sobald auch nur der kleinste Funke Hoffnung am Horizont auftaucht. Dies zeigt sich überdeutlich am Beispiel des völlig apathisch gewordenen Protagonisten aus Gerlachs Roman, der ganz unverhofft die Chance bekommt, wegen einer Augenverletzung ausgeflogen zu werden, und vor dessen geistigem Auge auf der Stelle etwas „leuchtend und zwingend [aufsteigt], was in eine undeutliche Ferne entschwunden war: die Heimat“.20 Natürlich wusste auch die sowjetische Führung über die Wirkung des Kessels und die Bedeutung der Heimat für die eingekesselten deutschen Soldaten sehr gut Bescheid und so lockte sie die Landser deshalb via Flugblätter, Lautsprecher und Rundfunk unermüdlich mit dem „Versprechen auf eine rasche Rückkehr in die Heimat“21 zum Überlaufen, was es diesen selbstredend noch weniger leicht machte durchzuhalten. War das Radio damit zum einen zu einer Quelle der Versuchung geworden, so war es seit dem Fall der Flugplätze zum anderen auch die letzte verbliebene Verbindung zur Heimat. Über den Äther hofften die Soldaten bis zuletzt, wie Gerlach es formuliert, „das erlösende Wort“22 zu empfangen, d. h. die Nachricht, dass Entsatz kommen würde und Hitler und die Heimat sie nicht im Stich gelassen hätten. Bekanntlich erzeugt und fördert große Not oft die unterschiedlichsten Formen des Aberglaubens. Daher ist es von Gerlach keinesfalls verkehrt, zum einen mit dem Wort ‚erlösende‘ eine Vokabel aus dem religiösen Kontext zu gebrauchen und zum anderen zu behaupten, viele der in Stalingrad Eingekesselten hätten auf Hitler wie auf einen Messias gewartet. Von ihm, der sich von Anfang an als den von Gott gesandten Erlöser der arischen Rasse inszeniert hat und dabei aus den unterschiedlichsten Richtungen auch tatkräftig unterstützt worden ist,23 erwarteten

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Gerlach, Die verratene Armee (Anm. 10), S. 419 f. Fromm, Stalingrad (Anm. 11), S. 303. Gerlach, Die verratene Armee (Anm. 10), S. 512. Vgl. hierzu die durchaus lesenswerte Studie von Klaus Vondung: Deutsche Wege zur Erlösung. Formen des Religiösen im Nationalsozialismus. München 2013.

„Hier erst haben wir ja auch gelernt, was Heimat ist“

sie, dass er, „der einzige, einmalige, der alles sah und wußte und dem in seiner Unfehlbarkeit alles gelang, eines Tages […] den Zauberstab schwingen und die Seinen heimführen [würde] in Glanz und Herrlichkeit“,24 d. h. hinaus aus der ‚Hölle‘ namens Stalingrad und zurück ins verlorene ‚Paradies‘, welches da Deutschland heißt. Kein Tag schien den im Aberglauben Befangenen für die Ankündigung dieses nahen ‚Wunders‘ geeigneter zu sein als der 30. Januar 1943, sprich: der zehnte Jahrestag der ‚Machtergreifung‘ der Nationalsozialisten. Doch nicht Hitler war an diesem Tag über den Rundfunk zu hören, sondern Hermann Göring, der zum größten Entsetzen der Eingekesselten nicht zu ihnen, sondern vielmehr über sie sprach und sie, die nicht protestieren konnten, vorzeitig für tot erklärte und als Vorbilder für wahres Heldentum hinstellte, welches angeblich im Kampf bis zur letzten Patrone und im Fallen für die geliebte Heimat bestehe.25 Auf diese Weise schlachteten die Nationalsozialisten Stalingrad zu ihrem Zweck aus, das deutsche Volk für den ‚totalen Krieg‘ zu mobilisieren, und kappten damit gleichzeitig auch die allerletzte Verbindung der Eingeschlossenen zur Heimat. „Stalingrad war abgeschrieben, das war es, was die fette Stimme aus Berlin deutlich machte“,26 fasst Theodor Plievier die Rede des Reichsmarschalls in seinem Roman Stalingrad (1945) entsprechend zusammen. Er kommentiert sie, indem er darstellt, wie Tausende verwundeter und kampfunfähiger Soldaten sie vernehmen, die mit qualvollen Schmerzen, medizinisch vollkommen unversorgt und ausgehungert in Eiseskälte und unter schwerem feindlichen Feuer in den Kellerruinen von Stalingrad zwischen bereits Toten und steifgefrorenen Leichnamen liegen und nur noch auf den Tod warten, da Hitler die Kapitulation unter allen Umständen untersagt hat. Durch diesen stärksten Kontrast zwischen dem hohlen Pathos des Redners und dem Zustand der Zuhörer gibt Plievier unverkennbar zu verstehen, dass das sinnlose Sterben in Stalingrad unmöglich einen heldenhaften Tod für die Heimat bedeuten könne, weil es einzig ihr Ableben befördere. „Wer immer hier sinnlos stirbt, mit ihm stirbt

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Gerlach, Die verratene Armee (Anm. 10), S. 239. Vgl. hierzu Hermann Göring: Rede vom 30.1.1943. Transkription der Tonbandaufnahme durch Peter Krüger: Etzels Halle und Stalingrad. Die Rede Görings vom 30.1.1943. In: Joachim Heinzle, Anneliese Waldschmid (Hg.): Die Nibelungen, ein deutscher Wahn, ein deutscher Alptraum. Studien und Dokumente zur Rezeption des Nibelungenstoffs im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1991, S. 151–192. Theodor Plievier: Stalingrad. Hg. von Gertrud von Hollander und Rudolf Frank. Gütersloh 1962, S. 429. 75

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Deutschland“,27 sagt nämlich General Vilshofen (der den ganzen Wahnsinn des Ostfeldzugs durchschaut) und damit weniger den militärischen Fall seines Landes, als den Untergang des Wertesystems der Heimat meint, der unmittelbar einsetzen muss, sobald sie anfängt, Menschenleben sinnlos zu opfern. Am Tag nach der Rede Görings kapitulierte der südliche Teil des von den sowjetischen Truppen inzwischen zweigeteilten Kessels und am 2. Februar 1943 folgte der nördliche, womit die Schlacht um Stalingrad ihr offizielles Ende fand. Das schrittweise Abrücken der Heimat in immer unerreichbarere Fernen war das eine, die Unerträglichkeit des Kessels war das andere und das Land, welches zwischen diesen Punkten lag, Russland, war ein Drittes. Auch es ist ein Chronotopos, welcher jene aus- und diesen in sich einschloss, wodurch der Druck auf die eingeschlossenen Soldaten nur noch weiter stieg. Auf ihrem Vormarsch hatten sie nämlich die überwältigende räumliche Ausdehnung Russlands zu sehen bekommen, dessen scheinbare Unendlichkeit bei den deutschen Soldaten beispielsweise beim Blick aus den Fenstern ihrer nach Osten fahrenden Züge sehr leicht den Eindruck erwecken musste, sie hätten einen „Gehirnstillstand“ erlitten, denn „wenn de nicht wüsstest, dass der Zug fährt, würdste denken, wir stehen seit zehn Stunden an derselben Stelle“.28 Diese russischen Weiten, welche den an die recht beengten europäischen Raumverhältnisse gewöhnten Deutschen an sich schon äußerst unheimlich erscheinen mussten,29 wurden mit der Zeit nur noch grauenhafter: Je tiefer die Invasoren 27 28 29

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Ebd., S. 292. Fromm, Stalingrad (Anm. 11), S. 20 f. Nirgends wird dies so offensichtlich wie vielleicht in Franz Fühmanns Erzählung „Entdeckungen auf der Landkarte“ aus Das Judenauto (1962). Darin bringen die Nachrichten von den Geschehnissen vor Moskau im Winter 1941/42 einen fast noch von der Schulbank an die Ostfront abkommandierten Rekruten dazu, sich im eroberten Kiew auf einer Landkarte anzuschauen, wo genau der Fluss Beresina verläuft, bei dessen Überquerung die aus Russland 1812 fliehende Grande Armée Napoleon Bonapartes aufgrund von permanenten Feindeinwirkungen gewaltige Verluste zu beklagen hatte. Als er die Karte hervorholt, bekommt er einen Schock: „Ich wollte sehen, wo die Beresina […] eigentlich lag, ob vor oder hinter Kiew, aber ich fand die Beresina nicht. Kiew hingegen fand ich sofort: Es war die Stadt am äußersten westlichen Rande eines riesigen, roten Reiches, vor dem ein paar Farbpünktchen lagen, deren eines Deutschland hieß. Ich starrte auf das Kartenblatt und wollte meinen Augen nicht trauen: Wir waren doch vorgestoßen, monatelang, unaufhaltsam, wie das Messer durch die Butter, und hatten nichts mehr zertrennt als eines Apfels Haut! Da lag das russische Reich, rot, Sowjetrussland; es dehnte sich über die halbe Erde, am Ural fing es ja eigentlich erst an und dann kam noch der Amur und da lag Sibirien und Kasachstan, die Lena und Kap Tscheljuskin und Tschita und der Pamir und ganz links, ganz am Rand, am westlichen Rand, lag Kiew, ein Kratzer nur bis

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eindrangen, desto kleiner kamen sie sich vor, und je klarer ihnen wurde, dass sie nicht mehr die Oberhand besaßen, desto größer wurde ihre Angst, in diesem Riesenreich, das sie gegen sich in Hass aufgebracht hatten, gänzlich spurlos unterzugehen. Hinter dem Stalingrader Kessel, „von dem einige bereits befürchteten, dass sie nicht einmal durch den Tod hinausfinden würden“,30 ragte das gewaltige Russland wie ein noch größerer Kessel auf, weshalb für viele der Glaube zur absoluten Gewissheit werden musste, dass falls es jemandem gelang, jenen zu überstehen, er spätestens in diesem untergehen würde. In dieser Überzeugung liegt ein weiterer Grund dafür, warum die Desertion für viele der in Stalingrad Eingekesselten (sehr lange) nicht infrage kam und sie die sowjetische Kriegsgefangenschaft in Sibirien dem sicheren Tod gleichsetzten. Überdeutlich wird dies z. B. in dem Roman Hunde, wollt ihr ewig leben (1957) von Fritz Wöss, wo es einem Hauptmann beim Wort ‚Sibirien‘ im Kopf zu hämmern anfängt: „Keiner wird es überleben und die Heimat je wiedersehen.“31 Einer solchen extremen psychischen Belastung muss der Mensch etwas entgegensetzen, um nicht vollends unter ihr zusammenzubrechen. Abgetrennt von der Heimat, muss er ihren Verlust irgendwie kompensieren. An dieser Stelle rückt der Begriff der Idylle in den Vordergrund. Entsprechend Bachtin war „die Idylle für die Entwicklung des Romans von enormer Bedeutung“.32 Dieser Satz gilt in etwas abgeschwächter Form zweifelsohne auch für die StalingradLiteratur, und Friedrich Schiller trifft sicherlich den Kern der Definition des Begriffs Idylle, wenn er sie in seiner Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung (1795) dahingehend bestimmt, in ihr befinde sich der Mensch „im Stand der Unschuld, d. h. in einem Zustand der Harmonie und des Friedens mit sich selbst“.33 Diesen Zustand lokalisiert Schiller „vor dem Anfange der Kultur in dem kindlichen Alter der Menschheit“ und ergänzt, dass es der

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dahin, ein Kratzer in der Haut eines Herkules“ (Franz Fühmann: Das Judenauto. Vierzehn Tage aus zwei Jahrzehnten. Rostock 2019, S. 90 f.). Die Karte zieht die Aufmerksamkeit auch der anderen sich im Raum befindlichen Soldaten auf sich. Sie kommen heran und erleiden ebenfalls einen Schock: „,Mensch!‘ sagte Johann, ein bejahrter Telegraphenarbeiter, der rechts neben mir lag, ‚Mensch‘, sagte er und sah auf die Karte und dann verstummte er und starrte stumm die Karte an, und auch die anderen Kameraden starrten auf die Karte“ (Ebd., S. 91.). Fromm, Stalingrad (Anm. 11), S. 293. Fritz Wöss: Hunde, wollt ihr ewig leben. Ein Stalingrad-Roman. Piaseczno 2017, S. 432. Bachtin, Chronotopos (Anm. 4), S. 164. Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Hg. von Johannes Wychgram. Augsburg 1998. Bd. 4, S. 719. 77

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Kultur „letztes Ziel“34 sei, zu ihm zurückzukehren. Damit entwirft der Jenaer Geschichtsprofessor ein dynamisches und triadisches Geschichtsverständnis, das eine Bewegung des Verlierens und des Wiederfindens beschreibt und hinsichtlich der Forderungen der Jetztzeit an die Zukunft auch dann noch funktioniert, wenn von der ersten Phase (der idyllischen) nicht einmal angenommen wird, dass sie existiert haben könnte. Diese Denkfigur oder anders formuliert: „das Thema der Zerstörung der Idylle (im weiten Sinne) wird am Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem der wichtigsten Themen der Literatur“.35 Die Ursache dafür liegt in einer negativen Bewertung der damals gerade entstehenden „neue[n], kapitalistische[n] Welt […], in der die Menschen [angeblich] isoliert leben, sich egoistisch zurückziehen und auf praktischen Nutzen bedacht sind. […] Diese große Welt muß [daher] auf einer neuen Grundlage zusammengeführt, muß zu einer heimatlichen gemacht, muß vermenschlicht werden.“36 Die Möglichkeit der Wiederherstellung respektive Erschaffung der Idylle wurde jedoch nicht nur von einer Reihe von Schriftstellern thematisiert, sondern auch von Philosophen, die die Meinung vertraten, die Philosophie habe die Welt bisher lediglich interpretiert, es käme jedoch darauf an, sie zu verändern. Dieser Verweis auf Karl Marx wird im Zusammenhang mit Ernst Blochs Heimatverständnis und mit Franz Fühmanns Stalingrad-Rezeption noch von Bedeutung sein, hier gilt es hingegen festzuhalten, dass die deutschen Soldaten in Stalingrad im Rahmen des ihnen Möglichen ebenfalls die Forderung, eine (in ihrem Falle durch einen Ortswechsel von Deutschland nach Russland) unheimisch gewordene Umgebung wieder heimisch werden zu lassen, in die Realität umzusetzen versucht haben. Die weit entfernte Heimat, die in Wirklichkeit häufig nicht allzu idyllisch ist und an der Front nicht weniger oft idealisiert wird, wie dies in extremen Notsituationen bekanntlich nicht selten die Regel zu sein pflegt, versuchten die Soldaten zumindest ein Stück weit wieder in ihr Leben zurückzuholen, indem sie vor allem ihre Bunker heimisch einrichteten, was mehr als offensichtlich ist, weil diese wie die Heimat für nichts so sehr stehen wie für Schutz. Erst vor diesem Hintergrund wird begreiflich, dass beispielsweise Gerlach keinesfalls übertreibt, wenn er im Zusammenhang mit einem Befehl, den Bunker aufzugeben und sich vor dem anrückenden Feind zurückzuziehen, über eine Gruppe von Soldaten schreibt: „Auch ein Bunkerloch kann ja Heimat sein! Und bis 34 35 36 78

Ebd. Bachtin, Chronotopos (Anm. 4), S. 169. Ebd., S. 169 f.

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zum letzten hätten sie, wenn es nach ihnen gegangen wäre, diese Erdlöcher verteidigt wie die Heimat selbst.“37 Wo es ihnen gelang, bauten die Deutschen so gut eingerichtete Bunker wie nur möglich, „holzgetäfelt und ausgestattet mit stilvollen Bauernmöbeln, Eisenbetten und Herdöfen aus Rohziegeln“.38 Manche hatten „sogar richtige Fenster und Türen“39 und andere wiederum „gerahmte Oeldrucke an den Wänden, auf dem gedielten Fußboden eine Astrachanbrücke, gelbglänzende Schreibtische mit allem Komfort wie nur in irgendeinem Dienstzimmer der Heimat“.40 Sogar von einem Bunker mit einer Bar ist einmal die Rede, „einer richtigen Bar mit Hockern, Schanktisch und rot getönten Wänden, von einem Könner schwungvoll bemalt mit tanzenden Paaren, leichtbekleideten Frauengestalten und Schlagertexten“.41 Kurzum: „Es waren keine Löcher oder Behausungen, sondern Wohnungen, bequem und mit Liebe angelegt wie für die Ewigkeit.“42 Solche Bilder scheinen alles weiter oben zum Stalingrader Kessel Gesagte irgendwie ad absurdum zu führen, weshalb es einiger klärender Worte bedarf. Die soeben beschriebenen Bunker waren während der ersten Phase der Schlacht um Stalingrad, also auf dem Vormarsch der Deutschen, wo noch alles in bester Ordnung zu sein schien, entstanden und verdankten sich ganz und gar dem elementaren Bedürfnis eines an der Front stehenden Menschen nach der Heimat. Die deutsche Heeresführung war bestens über die gefährliche demoralisierende Wirkung der fehlenden Heimat unterrichtet und förderte deshalb sogar ausdrücklich eine entsprechende Ausstattung von Bunkern. Letzteres geht beispielsweise aus den „Erläuterungen zur Kasernen- und Stubenordnung“ der Wehrmacht hervor, in denen es heißt: „Die Stube ist das Heim des Soldaten, und es soll dort genauso wie zu Hause sein. […] Unter solchen Gesichtspunkten“ waren all die von Gerlach dargestellten Bunker „einmal ausgebaut worden“,43 und Plievier erwähnt diesen Sachverhalt in seinem Roman, um damit zu zeigen, wie damals mit dem Ziel, den eigenen Leuten das Gefühl der Heimat zu vermitteln, anderen Menschen bedenkenlos die ihrige genommen wurde. „Die Hütten der Nachbardörfer“, so schreibt er, um diesen seinen Gedanken am Beispiel eines von den Deutschen okkupierten Dorfes bei Stalingrad darzustellen, wo deutsche Truppen Bunker errichtet 37 38 39 40 41 42 43

Gerlach, Die verratene Armee (Anm. 10), S. 97 f. Ebd., S. 81. Ebd., S. 119. Ebd., S. 321. Ebd., S. 323. Ebd., S. 313. Plievier, Stalingrad (Anm. 26), S. 93. 79

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hatten, „hatten Türen und Fenster samt Tür- und Fensterrahmen und ihre sonstigen Bestandteile, auch Tische und Bänke, hergeben müssen. Eine Tür konnte im Bunker wieder zur Tür oder auch zu anderem werden, und Fenster samt Fensterrahmen und den dazugehörigen mit Schnitzereien versehenen Fensterklappen schienen wie geschaffen dazu, Bunkerschränke zu werden“,44 ganz gleich, ob dadurch der unterjochten Zivilbevölkerung der letzte Schutz vor der Eiseskälte des Winters, die Werte von bis zu -40 °C erreichen konnte, genommen wurde oder nicht. Viele dieser Bunker blieben bis fast in die Schlussphase der Schlacht hinein intakt, was auf folgenden Sachverhalt zurückzuführen ist: Der Kessel von Stalingrad war zu Beginn der Einkesselung mehr als 60 km lang und über 40 km breit, umfasste nicht nur die an seinem östlichen Rand liegende Stadt selbst, sondern auch die umliegenden Dörfer, Schluchten, Flüsse und randlosen „eisigen Schneewüsten“45 und hatte „die Form eines menschlichen Herzens, und es war ein aus seinem Organismus herausgerissenes und in wilden Schlägen pochendes Herz“,46 welches „in eine klammernde Faust gekommen war“,47 die es in den nachfolgenden Wochen und Monaten beinahe ausschließlich von Westen her zerdrückte. Das bedeutet, dass große Teile der deutschen Truppen im nördlichen und rechten Teil des Kessels recht lange völlig unbehelligt in ihren wohlausgebauten Bunkeranlagen liegen bleiben konnten, und so kam es nicht selten vor, dass aus dem Westen nach Osten fliehende und von der „größte[n] Kesselschlacht der Weltgeschichte“48 bereits zutiefst gezeichnete Angehörige der Wehrmacht in Gegenden kamen, die einer Idylle glichen. Von einer solchen Szene wird etwa bei Gerlach berichtet, in concreto von der Ankunft Breuers, des Protagonisten des Buches, in der sich östlich von Stalingrad erstreckenden Talowojschlucht, welche dalag als ein Tal des Friedens. Ihre Hänge waren mit Buschwerk und vereinzelten niedrigen Bäumen bestanden, dazwischen lugten die Holzfronten von Bunkern wie Wochenendhäuschen hervor. Im Talgrund weideten dicke Pferde, irgendwo trocknete frische Wäsche an langen Leinen. Eine dampfende Feldküche sandte den verlockenden Duft von Erbsensuppe durch das Tal. Unweit davon war ein Schlächterzug an der Arbeit. Rosig und lecker leuch-

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Ebd. Gerlach, Durchbruch bei Stalingrad (Anm. 2), S. 304. Plievier, Stalingrad (Anm. 26), S. 83 f. Ebd., S. 107. Gerlach, Die verratene Armee (Anm. 10), S. 130.

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teten von den Schuppenwänden die Breitseiten frischgeschlachteter Tiere. Breuer […] blickte auf diese Idylle wie auf eine Fata Morgana.49

Die Ankunft des Fliehenden markiert das nahe Ende dieser idyllischen kleinen Welt inmitten einer unbeschreiblichen Katastrophe, denn schon bald wird die Breuer dicht auf den Fersen folgende Rote Armee auch diesen Ort unter schweren Beschuss nehmen und damit das ‚Thema der Zerstörung der Idylle‘ um eine zusätzliche Variante bereichern, oder anders formuliert: Die Darstellung der Zerstörung von deutschen Bunkern im Stalingrader Kessel ist im Rahmen der literarischen Texte zu dieser Schlacht nach dem Narrativ der immer größer werdenden Entfernung der Wehrmacht von Deutschland sozusagen die zweite Geschichte einer Vertreibung aus der Heimat, die entsprechend schwer auf den Soldaten lastet. Die Ursache für dieses Fortjagen aus dem Paradies ist nicht in allen Fällen das feindliche Heer. Je schlimmer nämlich die Gesamtlage wird und die Soldaten aus den unterschiedlichsten Gründen einfach nicht mehr weiterkönnen, desto größer wird die Zahl derer, die in den Bunkern liegenbleiben und ihr weiteres Los dem Schicksal überlassen (müssen). Dies hat aber unmittelbar zur Folge, dass sich die Bunker mit dahinsiechenden Verwundeten und Bergen von Leichen füllen, was letztendlich nichts anderes als die Transformation des Ortes des Schutzes und der Geborgenheit in ein Leichenhaus bedeutet. Manche, die die Kälte und den feindlichen Beschuss nicht mehr ertragen können, suchen dennoch Zuflucht in ihnen, andere hingegen werden von ihrem Anblick auf der Stelle in die Flucht geschlagen, so wie Breuer: „Er will fort, hinaus ins Freie. Kälte und Schnee und Bomben, ein Tod unter freiem Himmel, das ist menschlich. Aber dieses hier, dieser Gestank von Brand und Verwesung, die schwammigen Toten zu seinen Füßen, das alles ist unerträglich, unmenschlich, das ist der Eingang zur Hölle.“50 Damit ist das Thema Idylle im Zusammenhang mit der Stalingrad-Literatur jedoch noch lange nicht erschöpft.51 Als Nächstes, weil es mit dem Stichpunkt

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Ebd., S. 321. Ebd., S. 416. Die Ausführungen zum Thema der Idylle im Kontext der Stalingrad-Literatur wären übrigens genauso wenig vollständig, wenn sie nicht auch auf folgenden Aspekt aus Hunde, wollt ihr ewig leben eingehen würden. In einer Rückblende schildert darin Wöss die amourösen Abenteuer seines Helden Wisse, hinter welchem unschwer der Verfasser selbst erkennbar ist und der im besetzten Frankreich zusammen mit einem Kameraden namens Stein ein Rendezvous mit zwei Einheimischen hat. Da sie aus naheliegenden Gründen nicht entdeckt werden dürfen, finden sie ein verborgenes Plätzchen an der Küste, wo sie sich ungestört mit den Mädchen amüsie81 https://doi.org/10.5771/9783967075397

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Bunker in unmittelbarer Beziehung steht, muss ein Ereignis zur Sprache gebracht werden, welches im Dezember 1942 in vielen Bunkern der Wehrmacht in Stalingrad eine ganz besondere Rolle gespielt hat: das Weihnachtsfest, das im deutschen Sprachraum wie kein anderes mit Heim und Heimat assoziiert wird. Daher überrascht es wenig, wenn es etwa in Alexander Kluges Schlachtbeschreibung (1964) heißt: „In den Weihnachtstagen glaubten sie noch einmal in diesem Eiskessel von Stalingrad ganz fest an die Heimat – jeder konzentrierte sich auf eine andere imaginäre Strecke seiner Seele, die für ihn ‚Heimat‘ und ‚Weihnacht‘ bedeutete.“52 Zugleich versuchten sie aber auch, den Heiligen Abend so idyllisch wie möglich zu gestalten, um nicht unter dem Bewusstsein der fehlenden Heimat zusammenzubrechen, das in dieser Nacht besonders schwer auf ihnen lasten musste. Viele machten sich aus dem Wenigen, was sie noch hatten, gegenseitig Geschenke, einige bastelten Weihnachtsbäume

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ren können. Auffällig ist die Schilderung dieses Ortes, die mit der Szene einsetzt, in der Wisse neben einem Turm stehend auf Stein und die beiden Mädchen wartet: „,Hollerüdi!‘ hörte er plötzlich Stein spöttisch jodeln. Der steht mit zwei Mädchen zwanzig Meter unter dem Turm in einem Kessel, der, gegen das Land zu verborgen, von Klippen umschlossen, sich auf die See hin öffnet. Teilweise auf dem Hosenboden rutschend, muss er unter dem Lachen der Mädchen, die neugierig zusehen, den Steilabfall in den Kessel hinunter. ‚Hast du meinen Zettel unter dem großen Stein auf unserem Platz nicht gefunden?‘ empfängt ihn sein Kamerad: ‚Es führt nämlich ein versteckter und nur diesen Damen bekannter Fußweg in dieses Idyll. Hier sind wir vor jeder Entdeckung sicher!“ (Wöss, Hunde, wollt ihr ewig leben [Anm. 31], S. 184). Die Anspielung auf den Stalingrader Kessel, der gleichfalls gegen das Land hin von Klippen, sprich: sowjetischen Truppen, umschlossen und an der einzigen offenen Stelle vom Wasser, d. h. von der Wolga, eingefasst wird, ist mehr als offensichtlich und die Gleichsetzung des Kessels mit der Idylle bewirkt, dass dieser auf einmal nicht mehr für tödliche Gefahr, sondern für größtmöglichen Schutz und Sicherheit steht. Den Begriff des Kessels so zu besetzen, ist äußerst untypisch, nicht nur im Zusammenhang mit Stalingrad, und die dahinterstehende Absicht des Autors dürfte wohl darin bestehen, durch die Erschaffung dieses absoluten Kontrapunktes zum Stalingrader Kessel, sprich: durch die Figur des stärksten Kontrastes, zusätzlich zu unterstreichen, dass die Verhältnisse in Stalingrad in puncto Menschlichkeit kaum unterboten werden konnten. Derselbe Kontrast prägt entsprechend auch Wisses Verhältnis zu Russland und Frankreich. Während er jenes als ein „ödes, barbarisches, grausames Land“, d. h. als ein ihm und seinem Wesen gänzlich fremdes Phänomen ansieht, betrachtet er dieses „wie eine zweite ferne Heimat“, wobei es kaum überrascht, dass dieser erst im Beginn seines dritten Lebensjahrzehnts stehende Mann den Begriff der zweiten Heimat vor allem darüber zu definieren scheint, wo er „sein stärkstes männliches Erlebnis hatte“ (Ebd., S. 174 f.) und wo ihm die Umgebung deshalb beinahe zwangsläufig zur Idylle werden musste. Alexander Kluge: Schlachtbeschreibung. Baden-Baden 1983, S. 263 f.

„Hier erst haben wir ja auch gelernt, was Heimat ist“

etwa „aus alten Faßreifen“, die sie „mit Kiefernzweigen“53 umflochten. „Auf Säcke und Packpapier [malten] sie Madonnen […], Altäre, Engel, bunte Kugeln [und] in zusammengelöteten leeren Patronenhülsen [gossen] sie aus Hindenburglichtern und Tierfett Weihnachtskerzen.“54 Wiederum andere legten Kabel und schlossen Lautsprecher an, aus denen dann „deutsche Weihnachtsmusik tönt[e]“.55 Wer eine solche Möglichkeit nicht hatte, sang z. B. zur Mundharmonika im kleinen Chor Weihnachtslieder, mit deren Klängen „die Heimat hinein in den Raum“56 zog, und wenige hatten sogar das Glück, einen Brief aus Deutschland zu erhalten. Diese Briefe waren zuvor aus Versorgungsflugzeugen der Luftwaffe über der Stadt abgeworfen und in einigen Fällen von den Zustellern vor Ort auch einige Tage lang „eigenmächtig zurückbehalten [worden, eigens] für den Heiligen Abend“,57 an dem „überall im Kessel Stalingrad […] die Kerzen“ aufflackerten, die bekanntlich viel zum Einzug einer idyllischen Stimmung beitragen, und es war, was gleichfalls ein eindeutiges Indiz für eine Idylle darstellt, „als halte für eine ganz kurze Zeit die Weltgeschichte den Atem an“, in der Menschen „sich um das flackernde Licht einer Kerze sammelten, die Hände falteten und leise das Vaterunser beteten, mit einer Innigkeit, die sonst nie in ihnen gewohnt hatte“.58 So wurde „Stalingrad […] in dieser Weihnacht eine deutsche Insel“,59 wurde „diese[s] Fleckchen fremder Erde […] für eine kurze Zeit [zur] Heimat“ der Eingeschlossenen, die ihre klar definierte Grenze an den Schwellen der einzelnen Bunker fand: „Draußen aber flog kein Engel, da strich der Tod mit schwarzem Flügelschlag über das Land.“60 Die ganzen Bemühungen um ein halbwegs idyllisches Weihnachten konnten jedoch bestenfalls nur für eine äußerst kurze leichte Aufhellung der Stimmung sorgen: Die aufgrund dieses Festes in den Vordergrund gerückte Erinnerung an die Heimat machte es vielen noch deutlicher, wie sehr sie sich durch den Krieg und vor allem durch den Kessel von ihr entfremdet hatten. „23. Dezember. Es ist der Tag vor Weihnachten. Wie viele seiner Kameraden in Stalingrad“, schreibt beispielsweise Wöss in diesem Kontext über die Hauptgestalt seines Romans, „denkt auch Wisse an die unendlich ferne Heimat. Als ein Fremder, der einsam und ausgeschlossen ist, sieht er sich mitten im Strom 53 54 55 56 57 58 59 60

Gerlach, Die verratene Armee (Anm. 10), S. 184. Heinz G. Konsalik: Das Herz der 6. Armee. Köln 1990, S. 184. Wöss, Hunde, wollt ihr ewig leben (Anm. 31), S. 307. Gerlach, Die verratene Armee (Anm. 10), S. 187. Wöss, Hunde, wollt ihr ewig leben (Anm. 31), S. 307. Konsalik, Das Herz der 6. Armee (Anm. 54), S. 192. Wöss, Hunde, wollt ihr ewig leben (Anm. 31), S. 309. Gerlach, Die verratene Armee (Anm. 10), S. 188. 83

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schon festlich gestimmter Menschen.“61 Problemlos könnte an dieser Stelle mit den Worten Gerlachs über den Protagonisten seines Buches, Breuer, angeknüpft werden: „Bestürzt empfand er, wie sich [in den zurückliegenden Wochen nicht nur räumlich, sondern] auch geistig die Kluft zwischen ‚hier‘ und ‚drüben‘ vertieft hatte.“62 Die Menschen daheim „lebten dort in einer anderen Welt, und ihr Jubel für diesen Krieg war ebenso dumm und anmaßend wie ihre Trauer“,63 weil sie nichts von all den unbeschreiblichen Schrecken kannten, die die Soldaten im Stalingrader Kessel erleben und erleiden mussten: „Es gibt keinen einzigen Menschen in Deutschland, der so fühlt, sieht oder denkt wie irgendeiner der Beteiligten von 1942.“64 Daher ist es auch im höchsten Maße einfach nur lächerlich, wenn sich beispielsweise eine Frau aus Kluges Schlachtbeschreibung erinnert, es sei „auf der Schwäbischen Alb […] im Winter 1942 so ‚bitter‘ kalt [gewesen], daß [sie] ‚wußte‘, was Stalingrad war“,65 wo Menschen Ohren, Finger und Zehen vor Kälte einfach abbrachen. Da Entfremdung im Grunde genommen nichts anderes als einen inneren Verlust bezeichnet, kann das soeben Dargestellte mit den Worten zusammengefasst werden: Der gänzlich aus der Not heraus geborene Versuch, an Weihnachten zumindest für wenige Momente eine heimische Atmosphäre zu erzeugen, trug vielerorts im Kessel von Stalingrad zur Verstärkung der bitteren Einsicht bei, der Heimat innerlich verlustig gegangen zu sein, wovon die Ursache eine tiefgreifende Entfremdung vom Vaterland in Folge der traumatischen Erfahrungen in der Schlacht um die Stadt an der Wolga war. Stalingrad vertrieb die deutschen Soldaten also auch auf diese Weise aus ihrer Heimat und eine der unmittelbaren Konsequenzen daraus war, dass viele von den 5000, die die Schlacht überlebten und im Anschluss an die darauffolgende Kriegsgefangenschaft nach Deutschland zurückkamen, kaum mehr behaupten konnten, sie seien wirklich heimgekehrt, weil sie in ein Land zurückkehrten, dem sie geistig zutiefst fremd geworden waren; erschwerend kam noch hinzu, dass Deutschland sich seit 1942/43 gleichfalls sehr stark verändert hatte.66

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Wöss, Hunde, wollt ihr ewig leben (Anm. 31), S. 293. Gerlach, Die verratene Armee (Anm. 10), S. 201. Fromm, Stalingrad (Anm. 11), S. 253. Kluge, Schlachtbeschreibung (Anm. 52), S. 298. Ebd., S. 297. Eine literarische Darstellung des Schicksals eines solchen Menschen bildet Wolfgang Borcherts Stalingrad-Heimkehrerdrama Draußen vor der Tür (1947). Für Näheres bezüglich dieses Punktes vgl. meinen Aufsatz ‚Und der – der von Stalingrad, der Andere, bist du der auch?‘ – Die ‚Heimkehr in die Fremde‘ in Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür‘“. In: Fremdes zwischen Teilhabe und Distanz: Fluktuationen von

„Hier erst haben wir ja auch gelernt, was Heimat ist“

Naheliegend ist es daher, dass sie sich noch in Stalingrad die Frage zu stellen anfingen, ob es ihnen überhaupt jemals wieder möglich sein würde, in der Heimat heimisch zu werden. Oft fiel die Antwort darauf durch und durch negativ aus. So fragt beispielsweise bei Plievier ein Soldat einen anderen: “,Denkst du eigentlich niemals an zu Hause?‘ – ‚Zu Hause …‘, sagte Gimpf nur“,67 der von seinem Vorgesetzten einige Zeit zuvor genötigt worden ist, „drei kleine Kinder“ mit einem „Spaten“68 zu erschlagen, und seitdem vollkommen lethargisch ist. Er verstummt beim Gedanken an die Heimat, weil er vor allem begreift, wie sehr er sich durch sein monströses Verbrechen allem Menschlichen entfremdet hat, und er sich deswegen selbst in seinem engsten Familienkreis nur noch als einen Fremdkörper wird empfinden können. Als einen solchen nimmt sich auch ein Soldat aus Fromms Stalingrad-Roman wahr, der seinen Kameraden an Weihnachten 1942 erzählt, wie ihm seine Frau und Kinder bereits bei seinem Heimaturlaub Weihnachten 1941 aufgrund seiner Erfahrungen beim Ostfeldzug „fremder als jedes russische Frontschwein“ gewesen seien und er sich erst bei seiner Rückkehr an die Front „wieder zu Hause“69 gefühlt habe. Meistens war die Ursache hierfür, dass die Menschen in der vordersten Kampflinie dieselben Erfahrungen machten und sich daher verstanden. Die Konsequenz, die der Erzähler aus dem Ganzen zog, war, dass er seiner Frau schreiben ließ, „dass ich gefallen bin“,70 denn selbst wenn er den Krieg überleben sollte, so werde er die stattgefundene Entfremdung nicht mehr rückgängig machen können. Das Beste sei es deswegen gewesen, sie ganz von vorn anfangen zu lassen, d. h. ohne ihn. Zu erwähnen ist in diesem Kontext auch eine Erzählung aus Kluges Schlachtbeschreibung. In deren Unterkapitel „Die Heimat haben wir schon in Stalingrad verloren“ ist zu lesen, wie es vier Angehörigen der Wehrmacht gelingt, auf eigene Faust aus dem Stalingrader Kessel zu fliehen und nach China zu gelangen, wo sie zunächst als „Sklaven eines Provinzgenerals“ die Aufgabe übernehmen, „Gefangene zu verhören“,71 bevor sie irgendwann nach Westdeutschland weiterkönnen. Dort arbeiten sie die nächsten Jahre als Agenten auf einem US-amerikanischen „Bunkergelände […] in der Nähe von Frank-

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(Nicht-)Zugehörigkeiten in Sprache, Literatur und Kultur. Hg. von Arletta Szmorhun und Andrey Kotin. Wien, Köln 2021. Plievier, Stalingrad (Anm. 26), S. 262. Ebd., S. 501. Fromm, Stalingrad (Anm. 11), S. 238 f. Ebd., S. 238. Kluge, Schlachtbeschreibung (Anm. 52), S. 269. 85

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furt/Main“,72 bis der Ausbruch des Dritten Weltkriegs sie zwingt, die Erde zu verlassen und auf dem „Mond Minas“73 Schutz zu suchen. Sich hier in vollkommener Sicherheit wissend, verzweifeln sie in den ersten Momenten, weil sie erkennen, dass mit der Vernichtung der Erde im Zuge dieser militärischen Auseinandersetzung ihr „Plan, der Endkatastrophe zu entkommen“,74 der seit Stalingrad ihr ganzes Denken und Handeln beherrscht und ihrem Dasein damit einen Sinn verleiht, hinfällig geworden ist. Doch die Verzweiflung an der sich plötzlich aufgetanen Sinnlosigkeit ihres Lebens währt nicht lange: Das „Wiederauftauchen des Sinnzusammenhangs“ vollzieht sich mit dem Eintreffen der Neuigkeit, dass sich „die Zerstörung des Planeten Erde [nicht] als vollständig“75 erwiesen habe, d. h. dass es noch Feinde gebe und der sinnstiftende Kampf ums nackte Überleben in die nächste Runde gehen könne: „Mond Minas ist abwehrbereit. Die Freunde: hellwach und vom Gegner zu festen Persönlichkeiten zusammengeschlossen.“76 Diese Erzählung erschließt sich durch die Aussage der vier Soldaten, die sie nach ihrer Ankunft im Reich der Mitte tätigen: „Wir glauben an nichts mehr. Wir haben unsere Sprache, Geschichte, die Uniform, alle Hoffnungen (auch die Hoffnung auf die uns von Hitler versprochenen Äcker im Osten) aufgegeben.“77 Mit anderen Worten: Stalingrad hat ihnen die Heimat, d. h. alles, was diese ausmacht (Sprache, Geschichte, Uniform, Hoffnungen etc.) genommen und durch diese Nihilierung aller tradierten Werte sie auf immer jeglichen Glaubens beraubt, der ihrem Leben hätte Halt geben können. Das Einzige, was ihnen noch hilft, sich nicht selbst umzubringen, ist, ihr Leben ständig in Gefahr zu wissen. Löst sie sich auf, und damit auch die „starre Konzentration auf die Überlebenschance [des] Ich“,78 so fällt dieses bis dahin lediglich durch den gegnerischen Druck, der nicht mehr vorhanden ist, zu einer ‚festen Persönlichkeit‘ von außen ‚zusammengeschlossene‘ Ich auf der Stelle auseinander, weil es keinen eigenen, inneren Halt, sprich: keinen echten sinnstiftenden Glauben an irgendetwas besitzt. Auf diese Weise zeigt sich Stalingrad bei Kluge als das absolute Nihilierungsmomentum, das es den Menschen unmöglich macht, sich irgendwo heimisch zu fühlen und dadurch noch irgendeinen echten sinnstiftenden Glauben zu erlangen. 72 73 74 75 76 77 78 86

Ebd., S. 272. Ebd., S. 277. Ebd. Ebd., S. 279. Ebd., S. 280. Ebd., S. 269 f. Ebd., S. 277.

„Hier erst haben wir ja auch gelernt, was Heimat ist“

Die letzte Aussage inkludiert, dass Stalingrad nicht nur den Glauben an die irdische und die geistige Heimat nihiliert, sondern auch denjenigen an die himmlische. Vorab eine kurze Bemerkung bezüglich dieses Begriffs: Die eigentliche Heimat des Menschen ist im christlichen Weltverständnis (um welches es an dieser Stelle ausschließlich geht) der Garten Eden, das Paradies, dessen Pendant im rein diesseitigen Bereich die Idylle darstellt, und er ist deshalb seine Heimat, weil der Mensch sich da in der unmittelbaren Nähe Gottes, seines Beschützers, befindet. Aufgrund des Sündenfalls Adams und Evas musste der Mensch sie jedoch verlassen und lebt seitdem im Exil, womit in aller unmissverständlichen Klarheit vorgegeben ist, worin der ganze Sinn und Zweck seiner irdischen Existenz besteht: in der Rückkehr in seine himmlische Heimat, in der Heimkehr zu Gott, in der Wiederkehr des verlorenen Sohnes ins schützende väterliche Haus. Den Weg dahin zu suchen, waren viele, die in Stalingrad eingeschlossen waren, nicht bereit. Es dürften wohl hauptsächlich folgende zwei Gründe gewesen sein, die sie dazu bewegten, den Glauben an ihre himmlische Heimat fahrenzulassen. Der eine, weniger gewichtige, ist das Konkordat zwischen den christlichen Kirchen und Hitler, das in der Verbreitung der Lehre gipfelte, der Soldat dürfe nur dann auf die Rückkehr in die himmlische Heimat hoffen, wenn er bereit sei, für die irdische bis zur letzten Patrone zu kämpfen und dem Führer, dessen ganzes Streben der Heimat gelte, bedingungslos bis zum bitteren Ende zu gehorchen. Daher findet sich beispielsweise in Fromms Roman folgendes Gebet, welches eine Gruppe von Soldaten einem Feldgeistlichen inbrünstig nachbetet: Herr, segne die Wehrmacht, die dazu berufen ist, den Frieden zu wahren und den heimischen Herd zu schützen, und gib ihren Angehörigen die Kraft zum höchsten Opfer für Führer, Volk und Vaterland. Segne insbesondere unseren Führer und obersten Feldherrn. Lass uns alle in unserer Hingabe an Volk und Vaterland eine heilige Aufgabe sehen, damit wir durch Glauben, Gehorsam und Treue die ewige Heimat erlangen im Reiche deines Lichts und deines Friedens. Amen.79

Der andere, deutlich gewichtigere Grund ist das Verzweifeln der leidgeprüften Menschen an der großen Theodizee-Frage: Wie konnte Gott, wenn er doch allmächtig ist und allgütig, so etwas unbeschreiblich Schreckliches wie Stalingrad zulassen? Die Konsequenz daraus ist häufig, dass der Mensch entweder

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Fromm, Stalingrad (Anm. 11), S. 363. 87

Eugen Wenzel

gänzlich aufhört, an Gott und damit auch an die himmlische Heimat zu glauben, oder sich wie Fjodor Dostojewskijs Iwan Karamasow aus Protest gegen Gottes Einrichtung der Welt weigert, die Einladung ins Paradies anzunehmen. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang vor allem ein Mann aus Gerlachs Durchbruch bei Stalingrad, weil sein Handeln in gewisser Weise eine Synthese aus beiden Möglichkeiten darstellt: Er möchte Weihnachten nicht mitfeiern und übernimmt daher freiwillig eine Wache vor dem Eingang zum Bunker, d. h. außerhalb des idyllischen Bereichs. Seine Entscheidung begründet er mit den Worten: „Ich kann nicht mehr Weihnachten feiern … Für mich ist Gott vor Stalingrad gefallen.“80 Der Pfarrer, dem er diese Erklärung entgegenhält, ist Vertreter der exakt entgegengesetzten Position. Seine Replik lautet daher: „Sie haben recht, Gott ist vor Stalingrad gefallen … tausendmal. Jedes Leid hat er mitgelitten, jeden Tod ist er mitgestorben  – Und vor Stalingrad wird er auferstehen!“81 Diese Sichtweise ist auf die Überzeugung zurückzuführen, Gott habe Stalingrad zugelassen, weil er den Menschen damit sozusagen den Schlüssel zur Tür gegeben hat, die zur himmlischen Heimat führt. Bekanntlich ist dieser Schlüssel das Gebot der Nächsten- und Feindesliebe und der Mensch spürt und begreift die dringende Notwendigkeit der Liebe dort am deutlichsten, wo er dem tiefsten Hass der Menschen untereinander begegnet, der einzig jeglichen Frieden zu rauben und endloses Leiden zu erzeugen vermag. Genau dies möchte etwa Gerlachs Breuer ausdrücken, wenn er an Heiligabend zu seinen Kameraden im Bunker sagt: „Noch nie zuvor ist uns klarer aufgegangen als hier in diesem Ring des Hasses das Evangelium der Liebe, das uns den Frieden bringen will.“82 Wie als ob dies seine eigenen Worte wären, fragt etwas später auch ein durch Stalingrad zur Raison gekommener ehemaliger SA-Führer kurz vor seinem Tod den soeben zitierten Pfarrer: „Mußten wir wirklich erst nach Stalingrad kommen, um das alles zu begreifen?“83 Der Angesprochene erwidert zwar nichts, seine Antwort ist aber mehr als offenkundig und könnte wie beispielsweise die rhetorische Frage seines Amtsbruders aus Heinz G. Konsaliks Das Herz der 6. Armee (1964) lauten, die sinngemäß dasselbe aussagt (bloß nicht auf die irdische, sondern auf die himmlische Heimat bezogen) wie die zu Beginn dieser Arbeit gebrachten Zitate Heines und Gerlachs: „Erkennt man

80 81 82 83 88

Gerlach, Durchbruch bei Stalingrad (Anm. 2), S. 207. Ebd., S. 208. Gerlach, Die verratene Armee (Anm. 10), S. 188. Ebd., S. 197.

„Hier erst haben wir ja auch gelernt, was Heimat ist“

[nicht] inmitten einer donnernden, flammenden Hölle […] um so mehr die Schönheit des Friedens?“84 Dies erkennen auch die Menschen in der Anthologie Die Madonna von Stalingrad des Marineoberpfarrers Arno Pötzsch. Er schrieb diese Gedichte 1944 bei der Betrachtung des von dem Oberarzt Kurt Reuber anlässlich des Weihnachtsfestes 1942 im Stalingrader Kessel angefertigten Bildes, welches die Madonna mit dem Jesuskind darstellt und heute in der Kaiser-WilhelmGedächtniskirche zu Berlin aushängt. Wie Pötzsch im Vorwort zu seiner Gedichtsammlung festhält, bescherte Reuber mit dieser Zeichnung auf der Rückseite einer sowjetischen Landkarte „seinen Kameraden im Kessel von Stalingrad eine eigenartige und eindrucksvolle, unvergessliche Weihnachtsfreude, die ihnen zugleich zu einer starken Hilfe wurde“,85 weil „sie, die es wußten, daß sie sterben müssen“, durch sie „erkannten, daß sie leben sollen“,86 d. h. dass sie dank der Fürbitten der Jungfrau bei Gott das ewige Leben in ihrer himmlischen Heimat erlangen sollen: „Die Mutter Gottes von Stalingrad – / o hört doch, jetzt singt sie ganz leise! / Den Männern klingt es wie Heimat und Licht. // […] Jetzt spricht sie: Kommt alle, ich bring euch nach Haus, / ich will euch, die Mutter, versorgen!“87 Mit anderen Worten: Die Gedichtreihe Pötzschs liefert ein weiteres Exemplum dafür, wie die Idylle den deutschen Soldaten in Stalingrad half, den auf ihnen lastenden Druck des Kessels ein wenig besser auszuhalten. Dabei muss jedoch auch differenzierend gesagt werden, dass es sich in diesem Falle im Gegensatz etwa zu den kurzlebigen Weihnachtsidyllen in den Bunkern um keine gegenwärtige Idylle handelt, sondern um eine noch kommende, jenseitige und ewige. Zu erwähnen ist an dieser Stelle ferner, dass auch in der Madonna von Stalingrad der Gedanke grundlegend ist, Stalingrad sei eine Art Schlüssel zum Himmelreich, weil wir „nur in der Nacht […] der Sterne Schein“88 sehen können. Die Nacht ist hier nämlich eine Metapher für die Schlacht an der Wolga und das Licht steht bekanntlich für Gott, weshalb notabene auch der Vers: „Und in die Nacht brach Gott als Licht herein“89 dahingehend übersetzt werden kann, dass das Schließen und Zusammenziehen des Stalingrader Kessels nichts anderes als das Hinabsteigen Gottvaters zu den darin eingeschlossenen Menschenkindern bedeutet. Last but not least sei auch gesagt, dass die Madonna deshalb ihre 84 85 86 87 88 89

Konsalik, Das Herz der 6. Armee (Anm. 54), S. 184. Arno Pötzsch: Die Madonna von Stalingrad. Hamburg 1946, S. 4. Ebd., S. 7. Ebd., S. 18. Ebd., S. 11. Ebd. 89

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starke Wirkung auf die eingeschlossenen Soldaten entfaltete, weil die schützende und fürsorgliche Mutter, deren Inbegriff sie darstellt, zum innersten Kern zahlreicher landläufiger Heimatvorstellungen gehört. Ist die Rede von einer solchen Rezeption der Stalingrader Schlacht wie der soeben dargestellten, so können natürlich auch jene Vorstellungen von Stalingrad als einem positiven Schlüsselereignis im Hinblick auf den Aspekt Heimat nicht unerwähnt bleiben, die zwar demselben christlichen Geschichtsverständnis entspringen, jedoch nicht in die Transzendenz hinaus-, sondern in die Immanenz zurückweisen. Zu denken ist hierbei vor allem an Fühmanns Dichtung Die Fahrt nach Stalingrad (1953). Der diesbezügliche Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass die weiter oben skizzierte Schiller’sche Geschichtsauffassung die säkulare Adaption der dreigliedrigen christlichen Lehre vom Verlieren, Suchen und Wiederfinden der himmlischen Heimat bildet. Was es sie bei Schiller zu einer säkularen Vorstellung werden lässt, ist das Streben nach der Realisierung des Paradieses bereits in der diesseitigen und nicht erst in der jenseitigen Welt.90 Daran anknüpfend, entwickelte Georg Wilhelm Friedrich Hegel sein Geschichtsbild, und wiederum darauf gründete Marx seinen dialektischen Materialismus, der in der Umsetzung der kommunistischen Theorie den Beginn der dritten Stufe, das Ziel der Geschichte, und damit das Kommen des irdischen Paradieses erkennt. Seine Realisierung besteht in der Aufhebung der die zweite Stufe kennzeichnenden Entfremdung von der Arbeit infolge einer Entäußerung derselben, die sich mit der Ausbildung von Privateigentum erklärt, welches folglich die auszurottende Ursache allen Übels ist. Dieser Ansatz wird von Bloch adaptiert und variiert. Laut ihm lebt der Mensch in der zweiten Geschichtsphase „noch überall in der Vorgeschichte“ und die eigentliche Geschichte beginnt erst da, wo „die Wurzel der Geschichte, [d. h.] der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch, […] das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet[.] So entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“91 90

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„Wir wollen hier auf Erden schon / Das Himmelreich errichten“ (Heine: Historischkritische Gesamtausgabe der Werke. [Anm. 1], Bd. 4, S. 92.), so könnte dieses Streben z. B. mit den Worten Heines aus Deutschland. Ein Wintermärchen (1844) auf den Punkt gebracht werden. Für nähere Angaben bezüglich der neuzeitlichen Transformation von Theologumena in säkulare Denkmuster siehe: Eugen Wenzel: Ein neues Lied? Ein besseres Lied? Die neuen ‚Evangelien‘ nach Heine, Wagner und Nietzsche. Würzburg 2014. Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt a. M. 1959. Bd. 3, S. 1628. Hilde Domin ist vor dem Hintergrund des bisher Dargelegten zuzustimmen, wenn sie

„Hier erst haben wir ja auch gelernt, was Heimat ist“

Die Einsicht, dass Heimat, entgegen den meisten gängigen Annahmen von diesem Begriff, etwas sei, was der Mensch überhaupt noch nicht kenne, ist in der Fahrt nach Stalingrad von zentraler Bedeutung. „Wir kamen aus keinem Vaterland“,92 heißt da die in diesem Kontext wichtigste Textstelle, die zugleich (wie schon die Überschrift) auch einen Verweis auf einen zurückgelegten Weg darstellt. „Man kann geradezu sagen, daß der Weg [nicht allein] in der Folklore, [die im Brennpunkt der Betrachtungen Bachtins zu diesem Chronotopos steht, sondern auch in der Stalingrad-Literatur] niemals einfach ein Weg ist, sondern immer den  – ganzen oder partiellen  – Lebensweg verkörpert; die Wahl des Weges ist eine Wahl des Lebensweges [und] der Aufbruch aus dem Elternhaus zur Wanderschaft und die Rückkehr in die Heimat bezeichnen gewöhnlich Stufen im Lebensalter (als Jüngling bricht er auf, als Mann kehrt er zurück).“93 Ein Beispiel par excellence für diese Aussage ist die Hauptfigur aus Fühmanns Dichtung (hinter welcher unschwer der Autor selbst zu erkennen ist), wobei ihr Weg keine lediglich zum Ausgangspunkt zurückkehrende Kreislinie bezeichnet, sondern vielmehr eine drei Mal sich wiederholende Hin-und-her-Bewegung des Erzählers zwischen Deutschland und der Sowjetunion beschreibt: Zuerst zieht der kaum dem Elternhaus entwachsene Soldat in den Krieg gegen die UdSSR, kehrt dann auf Heimaturlaub zurück und geht erneut an die Ostfront, wo er in sowjetische Kriegsgefangenschaft gerät und anschließend am Wiederaufbau Stalingrads mitwirken muss, bevor er wieder in die Heimat darf, aus der er 1953 zum dritten Mal nach Russland, zur Stadt an der Wolga, aufbricht, nun allerdings nicht als Okkupant oder Gefangener, sondern als willkommener Gast und Freund. Buchstäblich auf diesem Wege erlangt er die Erkenntnis, die ihn von einem Jüngling (einem Nationalsozialisten) zu einem Mann (einem überzeugten Kommunisten) heranreifen lässt und in der Überzeugung gipfelt: Der Nationalsozialismus sei lediglich ein Ableger des Kapitalismus und die Heimat sei auch schon lange vor Hitler keine echte gewesen, denn in einem Land, wo Geld und Profit das Zepter führten, könne kein Mensch sich wirklich heimisch fühlen, könne niemand ernstlich behaupten, es sei eine Art Paradies auf Erden. Die wahre geistige Heimat des Menschen ist somit der Sozialismus, der das deutsche Vaterland im Zuge der Realisierung des kommunistischen Systems zu einer tatsächlichen Heimat umgestalten wird, d. h. zu einem idyllischen Ort

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lich dieses Ausspruchs Blochs kommentierend festhält: „Ebenso gut hätte er ‚Paradies‘ sagen können“ (Hilde Domin: Aber die Hoffnung. Autobiographisches aus und über Deutschland. Frankfurt a. M. 1993, S. 11.). Franz Fühmann: Die Fahrt nach Stalingrad. Berlin 1953, S. 48. Bachtin, Chronotopos (Anm. 4), S. 46. 91

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mit „goldene[n] und silberne[n] Paläste[n] / und regenbogenfarbne[n] Gärten“.94 Angesichts dieser Sichtweise der Dinge vermag es wenig zu überraschen, dass Fühmann die Schlacht um Stalingrad als eine „Wende und Errettung“, als den „Durchgang / in einen lichten Tag“,95 kurzum: als die Erlöserin der geknechteten Heimat ansieht, da im Falle eines Sieges der Nationalsozialisten in dieser militärischen Auseinandersetzung, die Sowjetunion, der zu jener Zeit einzige sozialistische Staat auf dem Planeten Erde, den Krieg höchstwahrscheinlich verloren hätte (zumindest nach den damals gängigen Überzeugungen) und dadurch der Ausbreitung des Sozialismus ein vorzeitiges Ende gesetzt worden wäre. Kaum erstaunlich ist es daher auch, dass Fühmann als äußere Form für seine literarische Darstellung die des Heldenepos wählt. Mit der Einteilung seines Textes in zwölf Abschnitte lehnt er sich nicht so sehr an die homerischen Epen Ilias und Odyssee (jeweils zu 24 Gesängen) als vielmehr an die Aeneis des Publius Vergilius Maro mit ihren ebenfalls zwölf Gesängen an. So wie Vergil darin die Heldentaten des Aeneas feiert: „Arma virumque cano“,96 zu Deutsch: ‚Ich besinge die Waffentaten und den Mann‘, der fast noch als Jugendlicher aus seiner brennenden Heimat Troja fliehen muss, in Italien nach langen Irrfahrten und großen Mühen eine neue findet und damit, d. h. am Ende dieses seines Weges, zum Ahnherren der Römer wird, so preist auch Fühmann die Rote Armee und das sowjetische Volk im Allgemeinen und die „Heldenstadt“97, die „erlösend[e] Stadt“98 Stalingrad im Besonderen. Er feiert sie vor allem dafür, dass sie ihm und seiner deutschen Heimat (vorerst zumindest der Osthälfte) die Möglichkeit eines echten Neubeginns eröffnet haben. Am Ende angelangt, gilt es ein Fazit zu ziehen. Das Thema Heimat ist im Rahmen der Stalingrad-Literatur ein durch und durch relevantes. Sie ist hier etwas, das unaufhaltsam in immer weitere Ferne rückt, und weil sie nicht da ist, bleibt sie die ganze Zeit über mehr als präsent: Ihr Fehlen ist besonders in einem Kessel äußerst belastend, sodass die Menschen immerfort dazu genötigt sind, ihre Absenz irgendwie zu kompensieren. An diesem Punkt gerät sie in die unmittelbare Nähe von Chronotopoi wie Bunker und Idylle und definiert sich zum einen durch diese Nachbarschaft und zum anderen zwangsläufig durch den Kontrast zu Begriffen wie Front und Kessel. Zugleich fühlen sich die Menschen aber auch von ihr abgestoßen, nicht nur aufgrund der in Deutsch-

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Fühmann, Die Fahrt nach Stalingrad (Anm. 92), S. 54. Ebd., S. 49. Publius Vergilius Maro: Aeneis. Hg. von Gerhard Fink. Düsseldorf 2009, S. 8. Fühmann, Die Fahrt nach Stalingrad (Anm. 92), S. 49. Ebd., S. 8.

„Hier erst haben wir ja auch gelernt, was Heimat ist“

land herrschenden NS-Ideologie, sondern vor allem wegen der Entfremdung zwischen ihr und ihnen. Den einen reduziert dies auf die primitivsten Selbsterhaltungsinstinkte, den anderen lässt es nach religiösen Auswegen suchen und den dritten führt es zum Bewusstsein dessen, dass das Leiden von Stalingrad nötig war, damit das deutsche Volk überhaupt erst eine Chance auf eine echte Heimat bekam. Diese Aufzählung wäre allerdings nicht vollständig, wenn nicht auch diejenigen Erwähnung finden würden, die sich in den letzten Tagen des Stalingrader Kessels die Frage nach dem Selbstmord stellten und sie verneinten, da sie gerade jetzt, wo die schwersten Stunden für ihre geliebte Heimat anbrachen, sich verpflichtet fühlten, für sie da zu sein, für ein „in die Irre geführte[s] und in seiner physischen Existenz bedrohte[s] Volk“.99 Da zu sein bedeutete für sie hauptsächlich, die Wahrheit darüber auszusagen, „was in Stalingrad geschehen ist“,100 damit es den Nationalsozialisten und den Militaristen der Zukunft nicht gelang, es für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. „Es wäre eine Tat. Die erste Tat gegen ihn“,101 d. h. gegen Hitler und sein Regime, und zumindest der allererste kleine Schritt Deutschlands in die Richtung der friedlichen Gemeinschaft der Völker. Nicht sterben um der Heimat willen, so wie die Nationalsozialisten es von ihnen forderten, sondern um ihretwillen weiterleben – dies war ihre Devise. Damit zeigte sich die Heimat von ihrer sicherlich besten Seite, nämlich als eine das Leben fördernde Kraft.

99 Plievier, Stalingrad (Anm. 26), S. 506. 100 Wöss, Hunde, wollt ihr ewig leben (Anm. 31), S. 382. 101 Gerlach, Die verratene Armee (Anm. 10), S. 513. 93

Unbehaustheit

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„Heimat, Heimat? My country. Es krachte, als wir heimkamen.“ Zum Konzept Heimat im Gesamtwerk von Ilse Aichinger Am Fluchtpunkt der Luxusmenüs und der Scheinzugewandtheit des Personals sinkender Schiffe und abstürzender Jumbo-Jets liegen die Heimatländer. Ilse Aichinger, Das Verhalten auf sinkenden Schiffen (1997)1

Ilse Aichinger hat die Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs, die Zeit der Ausgrenzung, der Entrechtung, der Enteignung, der Verfolgung, der Verschleppung und der Ermordung der österreichischen Juden gemeinsam mit ihrer jüdischen Mutter in Wien überlebt. Nach Kriegsende beginnt sie zunächst ein Medizinstudium, gibt dieses aber bald wieder auf, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Ihre ersten Texte erscheinen in der Wiener Tagespresse und in einschlägigen Literatur- und Kulturzeitschriften und Anthologien.2 Hans Weigel vermittelt Aichingers gleich nach Kriegsende begonnenes Romanmanuskript Die größere Hoffnung an den Berman-Fischer-Verlag.3 Der Roman erscheint Ende 1948, damals noch am Verlagsort Amsterdam.4 Über diese Publikation kommt Aichinger nur wenig später mit Inge Scholl, der älte-

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Ilse Aichinger, Gert Jonke: Das Verhalten auf sinkenden Schiffen. Reden zum ErichFried-Preis. Salzburg 1997, S. 9. Vgl. zu letzteren die folgenden Texte von Ilse Aichinger: Junge Dichter. In: Der Plan 1 (1946), H. 4, S. 309–310; Bekenntnis zu Trakl. In: Der Plan 1 (1946), H. 7, S. 554; Aufruf zum Misstrauen. In: Der Plan 1 (1946), H. 7, S. 588; Der Londoner „Verlorene Sohn“, Theater der Stephansspieler 1.3.1946. In: Der Turm 2 (1946) H. 3/4, S. 161– 162; Der Kai [Auszug aus dem Kapitel „Der Kai“ aus Die größere Hoffnung]. In: Der Turm 2 (1946) H. 5/6, S. 210–212; Die geöffnete Order. In: Stimmen der Gegenwart. Hg. im Auftrag der Gesellschaft für Freiheit der Kultur von Hans Weigel. Wien 1951, S. 12–18; Vorrede [Das Erzählen in dieser Zeit]. In: Stimmen der Gegenwart. Wien 1952, S. 108–109; Mondgeschichte [Ophelia und Miß Universum]. In: Stimmen der Gegenwart. Wien 1953, S. 88–98. https://www.kunstsenat.at/mitglieder/aichinger.htm (20.5.2021) Ilse Aichinger: Die größere Hoffnung. Amsterdam 1948. Der Text des Romans wurde für die zweite Auflage (Frankfurt a. M. 1960) überarbeitet. Alle folgenden Ausgaben beruhen auf der späteren Fassung. 97

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ren Schwester der Geschwister Scholl, in Kontakt.5 Inge Scholl hatte zur selben Zeit damit begonnen, gemeinsam mit ihrem späteren Mann Otl Aicher die am Jahrestag nach der Befreiung Ulms durch die amerikanischen Truppen eröffnete Volkshochschule Ulm (vh) zu einer humanistischen Bildungseinrichtung für Erwachsene auszubauen. Ihre weiteren Aktivitäten galten der Gründung und dem Aufbau der Hochschule für Gestaltung (hfg) Ulm (1954–1968).6 Nach einer Lesung aus ihrem Roman in der vh Ulm nimmt Aichinger ein Angebot von Inge Scholl an, als deren Assistentin zu arbeiten und bei den Eltern Scholl zu wohnen. So gelingt ihr zu Beginn der 1950er Jahre, was ihr nach dem sogenannten Anschluss Österreichs verwehrt gewesen war: die Ausreise. Aichinger verlässt Wien und geht für lange Zeit ins Ausland.7 Die verspätete Ausreise und die jahrelange Distanz zu Österreich bzw. zu Wien haben Aichingers Schreiben nachhaltig geprägt. Zwischen 1950 und 1988 lebt die Autorin für kurze Zeit als Verlagsmitarbeiterin in Frankfurt am Main, später in Ulm, und nach ihrer Heirat mit Günter Eich im deutsch-österreichischen Grenzland, bevor sie für einige Jahre noch einmal nach Frankfurt zieht.8 Während dieser Phase von fast vier Jahrzehnten entsteht der Hauptteil ihres literarischen Werks.

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Sophie und Hans Scholl waren als Mitglieder der Münchner Widerstandsgruppe Die Weiße Rose 1943 von der Gestapo gefasst und hingerichtet worden. Die Hinrichtung fand am 22.2.1943 statt. Vgl. Inge Scholl: Die Weiße Rose. Frankfurt a. M. 1952. Die Nachricht von der Hinrichtung wurde für die junge Ilse Aichinger zu einem Schlüsselerlebnis. Vgl. Ilse Aichinger: „Nach der weißen Rose“. In: Ilse Aichinger: Kleist, Moos, Fasane. Frankfurt a. M. 1996, S. 32–33. Vgl. René Spitz: hfg ulm. der blick hinter den vordergrund. die politische geschichte der hochschule für gestaltung (1953–1968). Stuttgart, London 2002. Otl Aicher, Gründungsdirektor der HfG, die an die Tradition des Bauhauses anzuschließen suchte, wurde im Laufe der Jahre zu einem der führenden Designer in Nachkriegsdeutschland und war verantwortlich für das Erscheinungsbild einer ganzen Reihe repräsentativer ‚Aushängeschilder‘ der Bundesrepublik, von der Lufthansa bis zur Olympiade in München. Er gestaltete im Sinne dieser Ästhetik auch die Cover vieler Buchausgaben Ilse Aichingers im Fischer Verlag bis hin zur Gesamtausgabe ihrer Werke (Ilse Aichinger: Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden. Hg. von Richard Reichensperger. Frankfurt a. M. 1991). Vgl. Eva Moser: Otl Aicher. Gestalter. Eine Biografie. Ostfildern 2011. Vgl. Christine Ivanovic: Ilse Aichinger in Ulm. SPUREN 93. Hg. von der Deutschen Schillergesellschaft Marbach a. N. 2014. Von 1953–1955 lebt Aichinger mit Günter Eich in Breitbrunn in der Nähe von Rosenheim, bis 1963 in Lenggries in Oberbayern und bis 1981 in Großgmain im Salzburger Land, von wo aus sie nach Frankfurt a. M. umsiedelt.

„Heimat, Heimat? My country. Es krachte, als wir heimkamen.“

Mit diesem Werk gehört Ilse Aichinger zum engsten Kreis jener, die die bundesdeutsche Nachkriegsliteratur und Nachkriegskultur entscheidend geprägt haben. Über Inge Scholl und Otl Aicher lernt sie neben anderen Hans Werner Richter, den Gründer der Gruppe 47, kennen;9 seit 1951 nimmt sie regelmäßig an den Gruppentreffen teil. Bei der Frühjahrstagung in Niendorf 1952 erhält sie als dritte Preisträgerin nach Heinrich Böll und Günter Eich den Preis der Gruppe für ihre Spiegelgeschichte. Von da an gehört sie, wie auch Günter Eich, den sie im selben Jahr geheiratet hatte, zum Kern der Gruppe bis zu deren Auflösung im Sommer 1968.10 Schon mit ihrem ersten Buch Die größere Hoffnung bindet sich Aichinger an den Fischer Verlag (mit dem späteren Verlagsort Frankfurt). Ab den 1950er Jahren publiziert sie regelmäßig in führenden deutschen Literatur- und Kulturzeitschriften und verfasst mehrere Radiofeatures und Hörspiele für den Deutschen Rundfunk.11 Die in diesem Zeitraum entstandenen Texte und deren Publikationen kommen, so scheint es, fast ganz ohne Bezugnahmen auf den Raum Österreich aus. Aichingers Profil ist das einer im bundesdeutschen Kulturbetrieb gut verankerten deutschen Autorin, die in ihren nach der Größeren Hoffnung verfassten Texten auf Lokalkolorit weitgehend zu verzichten und kaum Anspielungen auf spezifische Daten der österreichischen Literatur und Geschichte zu machen scheint. Gleichzeitig gilt Aichinger in Österreich als die Autorin, mit der die österreichische Nachkriegsliteratur begann,12 so eine immer wieder angeführte Einschätzung von Hans Weigel aus dem Jahr 1966. Weigel bezieht sich damit allerdings nicht auf Aichingers Roman, der, so ebenfalls Weigel, bei seinem Erscheinen (in Amsterdam) nicht die geringste Sensation erregt habe und nur in geringer Zahl abgesetzt wurde,13 während andererseits, wie Karl Müller festgestellt hat, „viele der noch im Jahr 1946 auf der republikanischen, antinazistischen Liste der gesperrten Autoren und Bücher stehenden Titel der

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Vgl. Ilse Aichinger in Ulm (Anm. 7), S. 11 f. Vgl. dazu auch Klaus Briegleb: Missachtung und Tabu. Eine Streitschrift zur Frage „Wie antisemitisch war die Gruppe 47“? Berlin, Wien 2003. Vgl. dazu die Dokumentation von Andreas Dittrich: dial. das digitale ilse aichinger literaturverzeichnis http://dial.aichingerhaus.at/ (20.5.2021). Hans Weigel: Es begann mit Ilse Aichinger. Fragmentarische Erinnerungen an die Wiedergeburtsstunde der österreichischen Literatur nach 1945. In: Protokolle 1 (1966), S. 3–8. Wieder abgedruckt in: Otto Breicha, Gerhard Fritsch (Hg.): Aufforderung zum Mißtrauen. Literatur, bildende Kunst, Musik in Österreich seit 1945. Salzburg 1967, S. 25–30. Ebd., S. 27. 99

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nationalsozialistischen Kulturträger […] in der Nachkriegszeit Auflagen von bis zu 200 000 Stück erreichten“.14 Neben dem außerhalb Österreichs publizierten Roman waren von Aichinger schon in den ersten beiden Jahren nach Kriegsende einige kleinere Texte in Wiener Zeitungen und Zeitschriften erschienen wie „Aufruf zum Mißtrauen“ in Der Plan (1946) oder „Bitte – Stefan Zweig“ im Wiener Kurier vom 3.4.1946. Sie waren in einschlägigen Kreisen sehr wohl wahrgenommen worden, wie Weigels Einschätzung „Es begann mit Ilse Aichinger“ belegt. Ihr früher „Aufruf zum Mißtrauen“ wurde 20 Jahre später zum programmatischen Titel einer der ersten Dokumentationen dieser Phase.15 Für die Frage nach dem Konzept von Heimat in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur und dessen kulturpolitischen Rahmenbedingungen stellt das Werk Aichingers eine Ausnahmeerscheinung allein schon deshalb dar, weil die Autorin eine der wenigen ist, die den Holocaust in Wien überlebten, die literarisch tätig wurde und die ein komplexes Werk von hohem literarischen Rang geschaffen hat. Ihre später bewusst gewählte Situierung im Zwischenraum zwischen der bundesdeutschen und der österreichischen Literatur verdient dabei besondere Aufmerksamkeit. Wenn ich im folgenden Aichingers Rekurs auf das Konzept Heimat in ihren Texten zu charakterisieren versuche, beschränke ich mich bewusst auf die expliziten Nennungen von Heimat im bisher publizierten Gesamtwerk. Im weiteren semantischen Umfeld dominieren eher konkretere Bezugnahmen auf „Heim“ im Sinne von zu Hause/daheim, oder von „Wohnheim“, „Altersheim“, „Pflegeheim“ etc. in Verbindung mit den zugeordneten Bewegungen des „Heimgehens“ und (in einem weiteren Sinne) des „Heimkehrens“ oder auch „Heimschickens“.

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Karl Müller: Sieben Jahre später in einem Totenhaus oder Zäsur ohne Folgen? Zu einigen Voraussetzungen des literarischen Lebens in Österreich nach 1945. In: Edward Białek, Leszek Z˙ylin´ski (Hg.): Die Quarantäne. Deutsche und österreichische Literatur der fünfziger Jahre zwischen Kontinuität und Neubeginn. 2. erw. Auflage, Wrocław, Dresden 2006, S. 11–42, hier S. 19. Breicha, Fritsch (Hg.): Aufforderung zum Mißtrauen (Anm. 12). Die Herausgeber beziehen sich bereits auf der ersten Seite auf Aichingers „Aufruf zum Mißtrauen“, von dem sie zwei kleine Ausschnitte wieder abdrucken (ebd., S. 10). Ob sich ihre Aufforderung zum Mißtrauen so ganz mit Aichingers Verständnis deckt, sei dahingestellt. Breicha und Fritsch formulieren explizit: „Auch und gerade in Österreich lebt die Kunst in kritischer Position zur Gesellschaft, ihrem eigenen Material misstrauend“. Ebd., S. 5.

„Heimat, Heimat? My country. Es krachte, als wir heimkamen.“

Und anstelle des „Heimatlichen“16 oder des „Heimischen“17 finden sich insbesondere im Roman Die größere Hoffnung gehäuft Ableitungen im Sinne des Heimlich/Unheimlichen, oder Wendungen im semantischen Feld von „geheim“, „verheimlichen“, „heimsuchen“, „heimleuchten“, und sogar „heimtückisch“. Der Begriff „Heimat“, um den es im folgenden gehen wird, lässt sich im publizierten Gesamtwerk Aichingers insgesamt 59 Mal nachweisen: 30 Nennungen – also knapp die Hälfte – enthält allein der Prosatext Zweifel an Balkonen.18 Er erschien zum ersten Mal in der von Alois Brandstetter 1973 im Salzburger Residenzverlag herausgegebenen Anthologie Daheim ist daheim. Neue Heimatgeschichten. 1976 hat Aichinger den Text in ihren Band Schlechte Wörter aufgenommen. Der Band gilt vielen als der Höhepunkt ihres literarischen Werks.

1. Die Heimat als die Fremde – die Fremde als Heimat Die früheste Nennung des Begriffs „Heimat“ in Aichingers Werk findet sich in ihrer allerersten Publikation. An dem Tag, als der Krieg begann, und in dem Jahr, in dem er zu Ende ging, am 1.9.1945, erschien zum ersten Mal ein Text von Ilse Aichinger in der soeben gegründeten Tageszeitung Wiener Kurier: „Das vierte Tor“.19 Aus zweifacher zeitlicher und räumlicher Perspektive – einmal am Anfang und einmal am Ende des Krieges, einmal aus der Nähe im Gespräch mit den Beteiligten, einmal aus der Ferne im Gespräch mit Unbeteiligten – richtet er den Fokus auf den jüdischen Teil des Wiener Zentralfriedhofs, „diese letzte Insel einer Heimat“, die den aus der Gesellschaft ausgestoßenen dort spielenden Kindern verblieben ist, und fragt: 16

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„Heimatlich“ kommt im untersuchten Gesamtwerk nur zweimal vor: In der Wendung „heimatlicher Balkon“ in „Zweifel an Balkonen“. In: Ilse Aichinger: Schlechte Wörter. Frankfurt a. M. 1991, S. 22, sowie als Zitat aus dem Werbeprospekt eines Reiseveranstalters: „Egal ob Wüstensafari oder heimatliche Gefilde, das Angebot ist riesig.“ Ilse Aichinger: Subtexte. Wien 2006, S. 41. Bemerkenswert in der Wendung „die in Schnee und Fels geratenen Kinder werden noch in derselben Nacht gerettet und durch diese Rettung erst heimisch in ihrem Dorf“. Ilse Aichinger: „Zu Adalbert Stifter“. In: Aichinger: Kleist, Moos, Fasane (Anm. 5), S. 94. Evaluiert wurden die acht Bände der Werkausgabe (Anm. 6) sowie alle danach erschienenen Buchausgaben Aichingers. Ilse Aichinger: „Das vierte Tor“. In: Wiener Kurier 1/6 (1.9.1945), S. 3; wieder in Aichinger: Die größere Hoffnung (Anm. 4), S. 272–275. 101

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Sind denn die Toten hier wirklich verlassen? Fluten nicht vielmehr Ströme von Sehnsucht über die wogenden Wiesen auf sie zu? Sind es nicht unsichtbare Wellen brennender Liebe von jedem Punkt der Erde, stärker als Hass und Zensur, die der Wind auf diese letzte Insel einer Heimat trägt? Ist es nicht gerade dieser letzte verlorene Friedhof, der durchblutet, durchglüht und durchströmt vom Puls der Welt hier am Rand einer geistig getöteten, gefesselten Stadt zur Insel der Lebendigen wird? Ja – kommt nicht die Welt selbst im alten Glanz des Mittags liebend und allumfassend über die Felder gezogen, mischt ihre Stimme in das Jauchzen der verstoßenen Kinder, ihr Blühen in den Duft des Jasmins, ihre Hoffnung in den Glanz des Frühsommers, hält Millionen zerrissener zerstreuter Herzen in ihren mütterlichen Händen und segnet sie?20

Der jüdische Teil des Zentralfriedhofs fungiert, so erzählt der Text, unter den Gesetzen des Nationalsozialismus gerade nicht als ‚Toteninsel‘,21 sondern umgekehrt als Ausschnitt lebendigen Lebens aus der dem Tod anheimgestellten Stadt, als letztes Refugium, ja, gewissermaßen als ‚Insel der Glückseligen‘ (Elysion), als „letzte Insel einer Heimat“. Einer Heimat, in der der fundamentale Gegensatz zwischen der geistig getöteten, gefesselten Stadt und dem idyllisch überhöhten Naturbild eines locus amoenus auf dem Friedhof (die wogenden Wiesen, Glanz des Mittags, Felder, Blühen, Frühsommer etc.) ebenso aufhorchen lässt wie der unbestimmte Artikel, den Aichinger gebraucht. Er zeigt bereits in diesem frühen Text an, dass sich Ilse Aichinger nicht ohne weiteres auf die Heimat, geschweige denn auf eine ihr eigene Heimat beziehen kann. Die anfängliche utopische Auslegung des Ausschlusses der jüdischen Kinder aus dem Gemeinschaftsleben der Stadt weicht bereits in Aichinger Roman Die größere Hoffnung (1948) einer kategorischen Absage an das Konzept „Heimat“ als Abstraktion von „Daheim“. Dem Entzug des Zugangs zum öffentlichen Raum, über den Zugehörigkeit zu einem Kollektiv geschaffen wird, korrespondiert nämlich in diesem historischen Moment auch noch das Zerbrechen jener Geborgenheit, die das private Zuhause (Daheim) bieten soll, infolge der gewaltsamen Interventionen der Gestapo (Verhaftungen und Abholungen von Zuhause). Das konkrete Zuhause wie das abstrahierte ‚Heimatliche‘ werden durch die Naziideologie kontaminiert, durch die Gewaltakte ins Unheimliche

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Ebd., S. 274. Vgl. die von fünf gleichnamigen, zwischen 1880 und 1886 entstandenen Gemälden des deutschen Malers Arnold Böcklin ausgehende und zum Stereotyp gewordene Vorstellung von der „Toteninsel“. Am bekanntesten wurde die dritte Version (1883) in der Alten Nationalgalerie zu Berlin.

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verkehrt und von Heimtücke und Heimsuchung zerstört. Der „Geschmack der Heimat“,22 wie es noch in einem der spätesten Texte Aichingers heißt, verkommt zum Klischee. „Wo ich gewohnt habe“, stellt die Protagonistin Ellen bereits in Die Größere Hoffnung fest, „war ich noch nie zu Hause“.23 Der wenige Jahre später verfasste Prosatext Wo ich wohne wird dann zum Sinnbild eines unheimlichen, vom kollektiven Umfeld geflissentlich übersehenen Absinkens des eigenen Zuhauses ins Bodenlose.24 „Daheim“ und „Heimat“ sind die beiden Seiten einer elementaren, lebenswichtigen und identitätsstiftenden Konstruktion, die Nationalsozialismus und Krieg dauerhaft zerstört haben. In einem ihrer spätesten Erinnerungstexte von 2000 resümiert Aichinger noch einmal den ideologischen Wahnsinn der Epoche und seine Folgen für die Heimat – nun aber im kritischen Rückblick auf Hartmut Bitomskys Deutschlandbilder: Nur eins mußte unverlierbar sein: die Gemeinsamkeit, das ferne Ziel. Infanteristen, Kanoniere oder Matrosenfrauen daheim, wo einem das Dach auf den Kopf fiel, bevor es die Bomben daran hinderten. Und die Infanteristen, Kanoniere und Matrosen, in gerahmten Fotos an den Stubenwänden: uniformiert, dekoriert und glücklich, endlich weg zu sein: Krieg. Die Meeresstraßen, die Luftwege, die Autobahnen: alle, die nahe Ziele fernhielten. Die Heimat, die nicht nur damals zum Moloch wurde.25

Auch hier werden daheim und Heimat überblendet und – selbst bei Infanteristen, Kanoniere[n] und Matrosen – überführt in die Intention weg zu sein, dem Moloch zu entkommen. Der die Passage rahmende Gegensatz „das ferne Ziel“ vs. „nahe Ziele“, die möglichst fern zu halten seien, verweist noch einmal explizit auf die Verbindung von Heimat und Intentionalität; auf die ideologische Konstruiertheit des Konzepts „Heimat“, das sich keinesfalls darauf beschränkt, Obdach und damit ein kollektives Zuhause zu generieren, sondern das darüber hinausweisende hegemonistische Ziele verfolgt. Nähe und Ferne, Heimat und Fremde, Frieden (daheim) und Krieg (woanders) sind die dafür konstitutiven Oppositionen. Der Drang, sich aus der Heimat zu entfernen, weil sie fremd geworden ist; die Bewertung der Bewegung von Zuhause weg als etwas Positives und die 22 23 24 25

Aichinger: Subtexte (Anm. 16), S. 27. Aichinger: Die größere Hoffnung (Anm. 4), S. 203. In: Ilse Aichinger: Der Gefesselte. Frankfurt a. M. 1991, S. 93–98. Ilse Aichinger: Film und Verhängnis. Frankfurt a. M. 2000, S. 79. 103

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Sehnsucht nach Hause zurückzukehren als mindestens ambivalent, werden zum dominanten Motiv in Aichingers Texten seit den 1950er Jahren. In der Spiegelgeschichte heißt es: „ihr geht nach Hause, als ob ihr weglieft, und weg, als gingt ihr heim“.26 Theoretisch reflektiert Aichinger in dieser Schaffensphase die Opposition von Nähe und Ferne, Heimat und Fremde auch in ihrem Essay Die Sicht der Entfremdung. Über Berichte und Geschichten von Ernst Schnabel (1954).27 Für die neue Sicht der Entfremdung, deren Erkenntnispotenzial sie am Beispiel von Schnabel herausarbeitet, sei kein Preis zu hoch: Fast alle von uns haben diesen Preis in den vergangenen Jahren bezahlt, aber nur die wenigsten haben begriffen, wofür, haben sich selbst als Schatten gegen die Sterne begriffen, als etwas ungeheuer Fremdes, das Nächste als das Fernste und die Heimat als die Fremde, die sie zugleich ist.28

Angelegt war diese Umkehr der Sichtweise auf die Heimat bereits im Roman Die größere Hoffnung, wo die Traumfigur König David im Kapitel „Das heilige Land“ ausruft: „Wer ist fremder, ihr oder ich? Der haßt, ist fremder, als der gehaßt wird, und die Fremdesten sind, die sich am meisten zu Hause fühlen!“29 In einem 20 Jahre später (1966) konzipierten Erinnerungstext beschreibt Aichinger im realen historischen Kontext und mit einer vergleichbaren idealisierenden Überhöhung die während der Zeit der Verfolgungen in Wien so wichtige Hilfsstelle für die vom nationalsozialistischen Regime Verfolgten. Der gleichnamige Prosatext erschien wiederum erst zehn Jahre später, am 19.9.1987 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er ruft deutliche Erinnerungen auch an Die größere Hoffnung wach: Ich sah uns die alte Kirche betreten, ein Schiff, das uns aufnahm, das uns in ein Land trug, wo keine Bürgschaften verlangt wurden, wo man nicht zurückgewiesen oder mit Unbehagen betrachtet wurde, ein Land, das sich umsomehr als Heimat erwies, je fremder es vielen von uns zuerst schien.30 26 27 28 29 30

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Aichinger: Der Gefesselte (Anm. 24), S. 69. Ilse Aichinger: Die Sicht der Entfremdung. Über Berichte und Geschichten von Ernst Schnabel. In: Frankfurter Hefte 9 (1954), H. 1, S. 46–50. Ilse Aichinger: Kurzschlüsse. Wien. Wien 2001, S. 60. Aichinger: Die größere Hoffnung (Anm. 4), S. 76. Ilse Aichinger: Hilfsstelle. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 217 (19.9.1987), S. 2; wieder in: Aichinger: Kleist, Moos, Fasane (Anm. 5), S. 29.

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Hilfsstelle wurde noch im selben Jahr 1987 im Band Kleist, Moos, Fasane publiziert, der Aichingers von Erinnerungstexten dominiertes Spätwerk einleitet. Im selben Band findet sich unter den Aphorismen, die hier erstmals aus Aichingers Tagebüchern der Jahre 1950–1985 publiziert werden, auch noch eine andere, weit frühere Aufzeichnung aus dem Jahr 1950, in der der Begriff Heimat in vergleichbarem Sinne gebraucht wird: „Nichts erscheint so sehr Heimat als das, wovon man Abschied nimmt. Es scheint, dass der Abschied zuerst war. Auch Mütter werden zu Müttern im Augenblick der Trennung.“31 Und 1956 notiert Aichinger: „Es ist möglich, dass man von dem Augenblick an, in dem man selbst zur Heimat wird, sich weniger spürt.“32 Zweifellos ist Aichingers Heimatbegriff, ihr Heimatempfinden von dem traumatischen Erlebnis des Abschiednehmens, der erzwungenen Trennung von ihrer Zwillingsschwester 1939 und der Deportation und Ermordung ihrer jüdischen Verwandten 1942 geprägt,33 ein Erlebnis, das in einem einzigen Augenblick die Welt für immer verändert hat. Die in ihrem Roman einige Jahre später von „König David“ entlarvte Diffamierung des Anderen als Fremdem, Nichtdazugehörigem einerseits, die Erfahrung von Abschied und Trennung, Entfernung und Tötung der eigenen Verwandten andererseits führen bei Aichinger zu einer emphatischen Neubewertung des Fremden, respektive der Fremde als potenziellem Ort der Rettung, als Sehnsuchtsort, welchem nun in utopischem Sinne die ursprünglich positive Konnotation von Heimat neu zugewiesen wird. So schreibt Aichinger in Kleist, Moos, Fasane mit Blick auf England: „ein Land, das sich umsomehr als Heimat erwies, je fremder es vielen von uns zuerst schien“.34 Nicht Heimkehr ins fremd gewordene „Daheim“, sondern Aufnahme in der Fremde soll Heimat gewähren. Die Erfahrung der Verstoßung der ihr nächsten Menschen aus der realen Heimat, und die Unmöglichkeit für Ilse Aichinger  – im Gegensatz zu ihrer Schwester  – Aufnahme an einem Ort zu finden, der ihr das Gefühl von Heimat wieder vermit-

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Ebd., S. 47. Ebd., S. 65. Am 4.7.1939 verlässt Ilse Aichingers Zwillingsschwester Helga mit einem Kindertransport Wien; sie überlebt den Holocaust in London und wird dort später Künstlerin. Am 6.5.1942 werden die Großmutter sowie Onkel und Tante der Zwillinge aus Wien deportiert. Sie kommen wenig später im Lager Malyj Trostinec in der Nähe von Minsk ums Leben. Vgl. Christine Ivanovic (Hg.): I am Beginning to Want what I Am. Helga Michie. Works 1968–1985. Wien 2018. Aichinger: Kleist, Moos, Fasane (Anm. 5), S. 29. 105

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telt hätte, lassen einen selbst zur Heimat werden  – mit der dramatischen Folge, dass man „von dem Augenblick an […] sich weniger spürt“.35

2. Die Orte, die wir sahen, sehen uns an. Ein weiteres Modell von zentraler Bedeutung ist die Verschiebung des Konzepts Heimat in die Kategorie Ort. Ausgehend vom Nukleus der Erzählung der Kinder aus Das vierte Tor36 schreibt Aichinger in den Monaten nach Kriegsende Die größere Hoffnung. Der Roman erzählt, wie den jüdischen Menschen in Wien das Recht auf Heimat und schließlich das Recht auf Leben entrissen wurde. An vielen Details wird die Stadt in diesem historischen Moment ihrer Geschichte erkennbar – allein ihr Name bleibt ungenannt. Es ist ein Wiener Heimatroman ohne Wien und ohne Heimat. Nur wenige Jahre später, zwischen 1953 und 1955, in den ersten Jahren ihrer Ehe mit dem deutschen Schriftsteller Günter Eich, als sie bereits im bayerisch-österreichischen Grenzland wohnt, verfasst Aichinger dann aus historischer wie räumlicher Distanz in kurzen Prosaskizzen (Prosagedichten) anhand der Topografie Wiens eine nachgeholte Anamnese des Geschehenen, der Geschichte, die sich in dieser Stadt ereignet und die sie dort erlebt hatte. Vor dem Hintergrund ihrer während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in Wien gemachten realen Erfahrungen und in konkretem Bezug auf einzelne Orte entwirft Aichinger das Bild einer Heimat eben in dem Moment, in dem traditionelle Konzepte von „Zuhause“ oder „Daheim“ oder „Heimat“ durch das Eindringen des Unheimlichen bis in den intimsten Raum hinein radikal infrage gestellt wurden – und die jüdische Bevölkerung der Stadt zum Verschwinden gebracht wurde. Einige dieser Texte erschienen weitgehend resonanzlos in mehreren deutschen Zeitschriften: im ersten Jahrgang der Akzente 1 (1954), im Jahresring (1954), in Die Neue Rundschau 66 (1955) – in einer Phase, in der das politische Schicksal Österreichs durch die 1955 vollzogene Staatsgründung auch international einige Aufmerksamkeit auf sich zog. 14 dieser Prosaminiaturen wurden 1955 in den Band Lebendige Stadt aufgenommen, einem ‚Literarischen Almanach‘, den das Amt für Kultur und Volksbildung der Stadt Wien herausgab in genau dem Jahr, in dem Österreich nach

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Ebd., S. 65. Vgl. Anm. 19.

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dem Ende des Zweiten Weltkriegs offiziell für frei erklärt wurde.37 Hier wie auch in dem erst 2001 herausgekommenen Band Kurzschlüsse. Wien wird Aichingers Textfolge eröffnet von dem Text Stadtmitte, dessen berühmt gewordene letzte Zeile lautet: „Die Orte, die wir sahen, sehen uns an.“38 Er benennt präzise Aichingers Poetik eines dezidiert ortsbezogenen Erinnerns, das, jenseits der Heimat, aus der Ferne wiederholen und durcharbeiten muss, was geschehen war. Die stereotypen Versatzstücke traditioneller österreichischer Heimatbilder hingegen, die auf die ländlich-dörfliche Idylle der Berg-, Wald- und Seenlandschaft Österreichs rekurrieren und die die Zeit des Nationalsozialismus bis heute unbeschadet überstanden zu haben scheinen, werden von Aichinger in ihrem Gesamtwerk geradezu systematisch dekonstruiert und teilweise zu hoch aufgeladenen Grundworten ihrer Poetik ausgearbeitet, darunter erstrangig die Begriffe „Heu“ und „Schnee“, aber auch „Gebirge“, „Wald“, „Gras“, „Das Bauern von Dörfern“ sowie – als geradezu utopische Vorstellung aus der Perspektive eines nicht am Meer liegenden Staates – „die Hochsee: das ist die einzige Sucht, die meiner Sucht nach dem Kino gewachsen ist: ein Ort ohne Heimatort“.39 Dies ist der poetologisch komplexeste Bereich von Aichingers Schaffen, der erst noch einer genaueren Erforschung bedarf. Im Folgenden konzentriere ich mich ausschließlich auf Aichingers explizite Bezugnahmen auf den Begriff „Heimat“.

3. Publikationen im Kontext der österreichischen Nachkriegs-Heimatliteratur Das subversive Verfahren von Aichinger, das im späteren Werk im Zusammenspiel mit der durch Günter Eich bekannt gewordenen Poetik der Maulwürfe40 und mit ihren eigenen „schlechten Wörtern“ zu voller Entfaltung kommt, ist schon früh zu beobachten, aber noch keineswegs in seinem ganzen Umfang 37

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Ilse Aichinger: Straßen und Plätze. In: Lebendige Stadt. Hg. von Amt für Kultur und Volkskunde der Stadt Wien, Wien 1955, S. 191–198. Vgl. auch die späteren Publikationen in den Bänden Städte 1945. Berichte und Bekenntnisse. Hg. Ingeborg Drewitz. Düsseldorf, Köln 1970, sowie Vorfreude Wien. Literarische Warnungen 1945– 1995. Hg. Richard Reichensperger. Frankfurt a. M. 1995. Aichinger: Kurzschlüsse. Wien (Anm. 28), S. 11. Ilse Aichinger: Unglaubwürdige Reisen. Frankfurt a. M. 2005, S. 49. Vgl. Günter Eich: Maulwürfe. Frankfurt a. M. 1968; ders.: Ein Tibeter in meinem Büro – 49 Maulwürfe. Frankfurt a. M. 1970. 107

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erfasst worden. In Bezug auf das hier infrage stehende Konzept „Heimat“ wäre zu erwägen, ob sich Aichingers Praxis des Veröffentlichens in diversen regionalen österreichischen Publikationen zumindest in einigen Fällen ebenfalls in subversivem Sinne verstehen lässt. Es erscheint lohnend, ihr Werk im Kontext des um 1970 entwickelten subversiven Heimatdiskurses in der österreichischen Literatur genauer zu betrachten. Inwiefern ihre Texte sogar eine gewisse Vorbildfunktion hatten, so etwa für die Schreibweise von Elfriede Jelinek, wäre erst noch zu untersuchen.41 Andreas Dittrich hat vor Kurzem in minutiöser Recherche alle Einzelpublikationen Ilse Aichingers recherchiert und als navigierbares Verzeichnis online zugänglich gemacht.42 Anhand der hier versammelten Daten lässt sich Aichingers Publikations- und Überarbeitungspraxis Text für Text nachvollziehen und analysieren. Im vorliegenden Zusammenhang erscheinen mir insbesondere ein Vergleich zwischen ihren Publikationen in Deutschland und in Österreich sowie eine Untersuchung der breiten Ausfächerung der Platzierung ihrer Texte in österreichischen Organen unterschiedlichster Couleur aufschlussreich. Sie reichen (ich gebe nur einige Titel an) vom Plan bis zur Kur- und Reisezeitung Seefeld-Tirol, von Profil bis zur Furche, von der im Waldviertel erscheinenden Literaturzeitschrift Heimatland bis zur Salzburger Literaturzeitschrift Salz, von Alois Brandstetters Daheim ist daheim. Neue Heimatgeschichten (1973) und der Anthologie Glückliches Österreich. Literarische Besichtigung eines Vaterlands (im Residenz Verlag Salzburg 1978 herausgegeben von Jochen Jung und Friedrich Achleitner) bis zu Richard Reichenspergers Vorfreude Wien. Literarische Warnungen, einer anlässlich der Präsentation Österreichs auf der Frankfurter Buchmesse 1995 erschienenen Anthologie. Nicht alle dieser Titel sind so gemeint wie sie klingen. Ein guter Teil davon ist eher subversiv formuliert. Um nur ein Beispiel für Aichingers Publikationspraxis im Kontext der österreichischen Nachkriegs-Heimatliteratur zu geben (das freilich selbst noch einer genaueren Untersuchung bedarf), möchte ich kurz auf den Almanach Stillere Heimat eingehen, der seit 1940 von der oberösterreichischen Landeshauptstadt Linz – damals Hauptstadt des Gaus Oberdonau – herausgegeben wird. Zwischen 1952 und 1981 publiziert Aichinger nahezu kontinuierlich in diesem jährlich erscheinenden Almanach; von den 30 Jahrgängen dieses Zeitraums

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Gert Jonkes Geometrischer Heimatroman war 1969 erschienen; Jelineks Karikatur des Genres in Die Liebhaberinnen (1975) gilt als ihr literarischer Durchbruch. Dittrich: dial (Anm. 11). Vgl. auch Ilse Aichinger: „Reise nach England“. In: Andreas Dittrich (Hg.): Aufruf zum Mißtrauen. Verstreute Publikationen 1946–2005. Frankfurt a. M. 2021.

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enthalten 19 Bände Texte von ihr. 1952 bis 1964 ist sie fast durchgängig vertreten, zwischen 1964 und 1981 regelmäßig mit Pausen. Das Jahrbuch Stillere Heimat war nach dem sogenannten Anschluss Österreichs an das ‚Deutsche Reich‘ ins Leben gerufen worden, um „vom dichterischen Schaffen dieses Gaues [Oberdonau] ein Bild [zu] geben“.43 Nach kurzer Unterbrechung während der beiden letzten Kriegsjahre und der ersten Nachkriegsjahre wurde der Almanach ab 1952 unter demselben Titel, demselben Programm und weitgehend derselben redaktionellen Ausstattung weitergeführt.44 1970 wurde der Name in Facetten geändert, während die Grundprinzipien der Textauswahl und Konzeption des Almanachs beibehalten wurden. Grundsätzlich soll eine repräsentative Auswahl und Dokumentation der literarischen Produktion eines Jahres präsentiert werden, wobei die infrage kommenden Autoren und Autorinnen in irgendeiner Weise Oberösterreich verbunden sein sollen. Eine Jury entscheidet über die Aufnahme der eingereichten (und honorierten) Texte. Sie sorgt vor allem dafür, dass die bereits etablierten Autoren und Autorinnen kontinuierlich vertreten sind (darunter auch Mitglieder der Jury selbst), und dass regelmäßig jüngere vorgestellt werden, die das Gedeihen und die Entwicklung der oberösterreichischen Literatur eindrucksvoll belegen sollen. Das literarische Jahrbuch Stillere Heimat dokumentiert als Institution die Kontinuität der österreichischen Literatur und Kulturpolitik über den Geschichtsbruch hinweg – immerhin waren zwei Drittel der Beiträger zum ersten Band nach dem Krieg bereits in den während des Krieges herausgekommenen Almanachen vertreten gewesen –, erfordert aber eine differenzierte Evaluierung. Einen knappen geschichtlichen Überblick und eine vorsichtige Stellungnahme hat Tanja Gausterer für die Homepage des Stifter-Hauses in Linz, des offiziellen Literaturhauses des Landes Oberösterreich, formuliert.45 43

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Stillere Heimat 1940, 7. In der Glosse Das Gasthaus an der Themse schreibt Aichinger, dass „Oberösterreich[,] nicht nur die Heimat Anton Bruckners und von Adolf Eichmann“, gewesen sei, fügt also anstelle des ausgesparten Namens Hitlers noch den Namen des nicht aus Oberösterreich stammenden Hauptverantwortlichen für die Organisation und Durchführung der Ermordungen ein. Ilse Aichinger: Film und Verhängnis (Anm. 25), S. 183. Vgl. „Fünf Bände wurden vorbereitet; der für 1944 geplante fünfte und vorläufig letzte Jahrgang wurde allerdings erst 1945 fertiggestellt und vom Kulturamt nicht mehr regulär ausgeliefert. […] Nach den Jahren des Wiederaufbaus wurde das literarische Jahrbuch 1952 erneut ins Leben gerufen.“ Tanja Gausterer: „Stillere Heimat / Facetten“. StifterHaus online (Stand: 21. April 2015) https://bit.ly/3u9kpof (20.5.2021). Vgl. ebd. Das Jahrbuch war 1940 durch den neu eingesetzten Linzer Oberbürgermeister Leopod Sturma initiiert worden, die Organisation des Almanachs oblag 109

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Wie kommen die Texte Ilse Aichingers in diesen Almanach? Die Autorin ist vom zuständigen Kulturreferenten der Stadt Linz, Karl Kleinschmidt, Jahr für Jahr insistierend um Beiträge gebeten worden, wie sich der im Stadtarchiv bewahrten Korrespondenz zum Almanach entnehmen lässt. In den biografischen Notizen zu den Beiträgern wird ab 1956 kontinuierlich festgehalten: „Ilse Aichinger, geboren 1921 in Wien, Eltern stammen aus Oberösterreich […]“, was freilich nur zur väterlichen Hälfte den Tatsachen entspricht. In den Linzer Almanachen publizierte Aichinger unter anderen die Texte Wo ich wohne (1955), Erstes Semester (1956), Meine Sprache und ich (1968), Die Schwestern Jouet (1969), Die Liebhaber der Westsäulen (1973). Zum Teil sind es Erstdrucke von Texten, die Aichinger später in ihre Bücher integriert hat; einige wenige sind weder in die Buchausgaben noch in die Werkausgabe übernommen worden (Nichts und das Boot, 1954; Der junge Leutnant, 1957; Pfingstrosen, 1958; Jeanne. Szene aus einem Schauspiel, 1981). Für den zuletzt publizierten Text ist keine weitere Publikation nachgewiesen. Im Prinzip lässt sich (wie von den Herausgebern intendiert) an der langen Folge der Publikationen über knapp zwei Jahrzehnte hinweg die allmähliche Entwicklung von Aichingers Werk gut nachvollziehen.46 Auch findet sich nahezu das gesamte Spektrum der Gattungen abgebildet, in denen Aichinger geschrieben hat  – Prosa (mit Ausnahme nichtfiktionaler Prosa), Lyrik und das ihr eigene Genre der szenischen Dialoge. Keiner der hier publizierten Texte jedoch weist einen sichtbaren Bezug zur (ober)österreichischen Heimat auf.47 Der Begriff „Heimat“ erscheint nur in zwei der hier enthaltenen Beiträge: im Gedicht „Breitbrunn“, auf das ich noch eingehen werde, und im szenischen Dialog „Erstes Semester“. Insgesamt ist der Almanach ein gutes Beispiel für die im Land (Ober)österreich präsente ‚Vielstimmigkeit‘: Neben heimatverbundenen, natur-

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weitgehend Karl Kleinschmidt. Dies gilt sowohl für die Kriegsjahre wie für die ersten Jahrzehnte nach Kriegsende. 1952 hatte der sozialdemokratische Oberbürgermeister der Stadt Linz, Ernst Koref (1945–1962), die Wiederaufnahme des literarischen Jahrbuchs angeregt und durch ein Geleitwort regelmäßig unterstützt. Kleinschmidt war von 1952 bis zu seiner Pensionierung 1974 als Kulturreferent der Stadt Linz hauptberuflich für das Jahrbuch zuständig. Vgl. auch Uwe Baur, Karin Gradwohl-Schlacher: Literatur in Österreich 1938–1945. Handbuch eines literarischen Systems. Band 3: Oberösterreich. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2014, S. 266. Dies wird in der Aichinger gewidmeten Ausstellung „Ich mit dem Tag auf den Versen“ im StifterHaus Linz (Eröffnung 19.10.2021) dokumentiert. Einen einzigen Text, auf den dies zuträfe, Das neue Lied, hat Aichinger zunächst eingereicht und wenig später zurückgezogen (lt. Korrespondenz mit K. Kleinschmidt; Stadtarchiv Linz). Er erschien wenig später im Band Ilse Aichinger: Zu keiner Stunde. Frankfurt a. M. 1991, S. 103–121.

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mystischen, konservativ-bürgerlichen Texten, die teils von Bekennern zum Nationalsozialismus oder von damaligen Erfolgsautoren stammten (u. a. Josef Weinheber, Alexander Lernet-Holenia, Richard Billinger, Franz Tumler, Gertrud Fussenegger, Erna Blaas), finden sich kontinuierlich eben auch Texte einer vom Regime ausgegrenzten Holocaust-Überlebenden, Ilse Aichinger, wie auch Texte von Heimrad Bäcker,48 Marlen Haushofer oder dem damals noch jungen Oberösterreicher Thomas Bernhard. Im Gegensatz zu Paul Celan, der den Kontakt mit ehemaligen Repräsentanten oder Sympathisanten des Nazi-Regimes und die Nachbarschaft seiner Gedichte zu deren Texten strikt zu vermeiden suchte (mit einigen berühmten Ausnahmen), hat Aichinger sich mit Stellungnahmen zu dieser Frage eher zurückgehalten – aber ihre Texte sprechen lassen.

4. Heimatländer Aichingers Beiträge zum Almanach Stillere Heimat bzw. dessen Fortsetzung unter dem Titel Facetten beziehen sich mit den Ausnahmen des Dialogs Erstes Semester (1956) und des Gedichts Breitbrunn (1960) nicht explizit auf das im Titel angesprochene Konzept der Heimat.49 Anders verhält es sich mit der wohl 1972 entstandenen Erzählung Zweifel an Balkonen, die den von Alois Brandstetter 1973 im Salzburger Residenz Verlag herausgegebenen Band Daheim ist daheim. Neue Heimatgeschichten eröffnete, bevor Aichinger ihn in ihr Buch 48

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Dass im Jahrbuch „zeitgemäße Strömungen und Tendenzen […] wahrgenommen“ wurden, belegt nach Gausterer beispielhaft „Heimrad Bäckers Präsenz, der von 1952 bis 1954 mit teilweise ideologiekritischen, insgesamt postexpressionistisch orientierten Gedichten aufscheint, ehe er 1973 Konkrete Dichtung (FA 1973, 73–75) erklärt und damit gewissermaßen der Avantgarde- und Experimentalliteratur den Weg ebnet.“ Ebd. Einen im klassischen Sinne unheimlichen Zusammenhang zwischen „Heim“ und „Heimat“ bringt der Text Erstes Semester zum Vorschein. Er gestaltet den auf der Schwelle geführten Dialog zwischen der Pförtnerin eines „Heim[s] für auswärtige Studentinnen“, das diese als „besetzt“ erklärt (Zu keiner Stunde [Anm. 47], S. 53) und einer eben in der Stadt angekommen Studentin des ersten Semesters, die dort um Aufnahme ansucht. Das Gespräch entwickelt sich von der anfänglichen Abwehr der Pförtnerin zu deren deutlichem Bemühen, die Studentin zum Eintreten zu bewegen, was diese zum Schluss jedoch ablehnt. Eine der Passagen, die die Studentin überreden sollen, argumentieren mit Weihnachten: „Pförtnerin: Da Sie ja eben von zu Hause kommen. Dieser Tag hat auch den Vorzug, dass er vom Sommer noch nicht gar zu weit entfernt ist. Es ist sogar der Tag, an dem der Sommer sich so recht entfaltet. Sie haben noch die Heimat, Felder, Wiesen, Heu im Sinn  – ohne dass sie Ihnen freilich den Sinn verstörten!“ Ebd., S. 57. 111

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Schlechte Wörter (1976) aufnahm.50 Der aus Oberösterreich stammende, zum Zeitpunkt der Publikation noch an der Universität des Saarlandes lehrende Mediävist und vielfach ausgezeichnete Autor Brandstetter gilt im positiven Sinne als Geschichtenzerstörer.51 Er war damals wie Aichinger ein Grenzgänger zwischen dem bundesdeutschen und dem österreichischen Kulturbetrieb.52 Im Wintersemester 1971/72 hatte er als Gastprofessor an der Universität Salzburg gelehrt, bevor er 1974 von Saarbrücken auf eine Professur an die Universität Klagenfurt wechselte, wo er bis heute lebt. Brandstetters Anthologie Neue Heimatgeschichten versammelt Geschichten, die sich in ihrer Reflexion auf Heimat, mehrheitlich kritisch und tendenziell eher ästhetisch, mit der jüngeren Geschichte innovativ auseinandersetzen: „16 Topographen aus Österreich, der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz“ versuchen, so Brandstetter, „Heimaterde unter die Feder zu bekommen“,53 ein erstaunlicher Metapherngebrauch in einem sich kaum als konservativ verstehenden Projekt. Unter den Autoren befinden sich neben Aichinger und Brandstetter selbst u. a. Jürgen Becker, Peter O. Chotjewitz, Barbara Frischmuth, Peter Handke, Ludwig Harig, Adolf Muschg, Peter Rosei, Jutta Schutting und Guntram Vesper. Wie in Gert Jonkes 1969 erschienenem Geometrischen Heimatroman wird das Schreiben über Heimat von Brandstetter in seinem Vorwort buchstäblich als ein Akt der Land(schafts)- das heißt hier aber der „Bodenvermessung“54 verstanden. Im Gegensatz aber zu Jonke – und zu Aichinger – stellt Brandstetter das Konzept Heimat als ein sprachliches nicht explizit infrage. Ich zitiere aus Brandstetters Vorwort: Von einer Heimatgeschichte wird man Genauigkeit erwarten und nicht Unschärfe. In keinem anderen Fall ist der Schriftsteller mit seinem Gegenstand enger vertraut als im heimischen Glücksfall. Eben hat Martin Walser das Thema Heimat eine Rüstkammer für Realistik genannt. Wenn denn weder Betriebs- noch Ortsblindheit den Autor behindern, dann wird sich in seinem Text eine Evidenz und Stimmigkeit einstellen, die auch dem fremden und ortsunkundigen Leser unmittelbar einleuchtet. Sie erstaunt, aber 50 51 52

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Ilse Aichinger: Zweifel an Balkonen. In: Alois Brandstetter (Hg.): Daheim ist daheim. Neue Heimatgeschichten. Salzburg 1973, S. 7–11. Vgl. Sabine E. Selzer: Alois Brandstetter. Die Zärtlichkeit des Eisenkeils. http://www. literaturhaus.at/index.php?id=606litera (20.5.2021). Zur Abhängigkeit insbesondere der jungen österreichischen Autor*innen vom bundesdeutschen Literaturbetrieb vgl. Wynfrid Kriegleder: Die Literatur der fünfziger Jahre in Österreich – ein Überblick. In: treibhaus 10 (2014), S. 29–49, hier S. 39. Brandstetter (Hg.): Daheim ist daheim (Anm. 50), S. 5. Ebd.

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befremdet nicht. Eine derartige regional-überregionale Plausibilität in der Darstellung von Land und Landsleuten kennzeichnet meines Erachtens die gute Heimatliteratur. Die angesprochene Präzision, die weder kalt ist noch kalt läßt, sondern im Gegenteil das Herz erwärmt, ließe sich vielleicht als Echtheit bezeichnen.55

Der erste Satz erinnert in seiner Diktion durchaus an (spätere) Formulierungen Ilse Aichingers, für deren Poetik Genauigkeit in der Diktion ein Schlüsselbegriff war und die wiederholt die Präzision im Ausdruck als entscheidendes Merkmal gelungenen literarischen Scheibens bei Stifter, Conrad, Kafka, Winkler hervorgehoben hat.56 Ebenso klingt aber auch eine Feststellung Hannah Arendts aus ihrer Studie über Rahel von Varnhagen: Die Allgemeinheit des Dichterischen ist nur verbindlich, wenn sie aus der letzten und schärfsten Genauigkeit des Wortes entspringt, wenn sie jedes Wort beim Worte nehmen weiß.57

Brandstetters im Anschluss an den ersten Satz entfaltete und auf Martin Walser referenzierende Vorstellung von Realistik (ungewöhnlich nicht nur diese Nominalbildung, sondern auch der kriegsaffine Subtext des Walser-Zitats) erscheint dann jedoch weit entfernt von der Praxis der Texte Ilse Aichingers, die in dem hier präsentierten, den Band eröffnenden Beitrag in programmatischer Weise gerade keine Bodenvermessung vornimmt. Vielmehr geht es um die ‚Vermessung‘ der sprachlichen Konstruiertheit und der historischen Kontamination des Konzepts „Heimat“, das explizit im ‚Bodenlosen‘ stattfindet, im spektakulären Grenzbereich von Oben und Unten, Drinnen und Draußen der Balkone, und das im Gegensatz von An- und Aussprechen und Vernehmen, von Sichzurschaustellen und von Gesehenwerden, von Identifikation, Solidarisierung und Distanzierung, von (Selbst-)Erkenntnis und daraus erwachsender Krise visuell wie sprachlich abgetastet wird. In dieser Vorgehensweise steht 55 56 57

Ebd. Vgl. u. a. im Band Kleist, Moos, Fasane (Anm. 5) S. 91, 96. 106, 112. Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. München 2001, S. 126; deutsche Erstausgabe 1959. Ein (damals noch nicht publiziertes) Notat von Hannah Arendt in ihrem Denktagebuch vom Februar 1954 klingt ebenfalls mit an: „Nur von Dichtern erwarten wir Wahrheit (nicht von Philosophen, von denen wir Gedachtes erwarten“. Hannah Arendt: Denktagebuch 1950 bis 1973. Erster Band. Hg. Ursula Ludz, Ingeborg Nordmann. München, Zürich 2002, Heft 19, Februar 1954, Eintrag 35, S. 469. 113

Christine Ivanovic

Aichingers wahrhaft philosophisches Zweifeln an Balkonen, genauer an den „Balkone[n] der Heimatländer“, eher jener auf dichterische Wahrheit abzielenden Poetik nahe, die Günter Eich bereits 1956 in Vézelay so formuliert hatte: Erst durch das Schreiben erlangen für mich die Dinge Wirklichkeit. Sie ist nicht meine Voraussetzung, sondern mein Ziel. Ich muß sie erst herstellen. Ich bin Schriftsteller, das ist nicht nur ein Beruf, sondern die Entscheidung, die Welt als Sprache zu sehen. Als die eigentliche Sprache erscheint mir die, in der das Wort und das Ding zusammenfallen.58

Mit ihrem Text Zweifel an Balkonen, in dem sie zum ersten Mal seit 1954 in einer Publikation den Begriff „Heimat“ wieder verwendet  – nun bewusst exzessiv, ja geradezu inflationär als zentralen Fokus ihrer Reflexion – entspricht Aichinger zwar akkurat der zitierten Entscheidung (und Selbstidentifikation) des Schriftstellers Günter Eich „die Welt als Sprache“ zu sehen. Nicht ohne Grund spielt der Herausgeber von Aichingers Werkausgabe, Richard Reichensperger, im Editorial zum Band Schlechte Wörter auf eine berühmte Formulierung Eichs aus der oben zitierten Rede an, wenn er bemerkt, es handle sich um Texte, „die Alltagsgegenstände wie Flecken und Balkone plötzlich zum Zentrum des Erzählens machen – aber auch zu trigonometrischen Punkten, wo die Welt aus den Angeln gehoben und in ihren Phrasen und Brutalitäten entlarvt wird.“59 In dieser Radikalität geht Aichinger zweifellos über Eichs Ansatz noch hinaus, wenn sie nicht allein das Verhältnis von Wort und Ding, sondern auch den ‚Zusammenfall‘ von Sprecher und Gesprochenem reflektiert, wie es in „Zweifel an Balkonen“ exemplarisch vorgeführt wird, wenn derjenige, der über „die Balkone der Heimatländer“ sinniert (zunächst als kollektives Subjekt), sich schon bald mit der Frage konfrontiert sieht, ob nicht er selbst ein solcher Balkon sei (nun sich selbst als Individuum vom Kollektiv abgrenzend). Aichingers „Zweifel an Balkonen“ liest sich daher mit Arendt wie eine genaue – „jedes Wort beim Worte nehmen[de]“ – Reflexion gerade auf das Herstellen von Wirklichkeit in und mit Sprache – einer sprachlichen Wirklichkeit, die realhistorische Fakten geschaffen hat. Zu Beginn des Textes wird in dem saturierten Diskurs über die Spezifik der „Balkone in den Heimatländern“, die so anders seien als „die Balkone in den 58 59

114

Günter Eich: Der Schriftsteller vor der Realität. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 4. Hg. von Axel Vieregg. Frankfurt a. M. 1991, S. 613. [Richard Reichensperger: Editorial] In: Ilse Aichinger: Schlechte Wörter (Anm. 16), S. 2.

„Heimat, Heimat? My country. Es krachte, als wir heimkamen.“

Ausländern“, auf sehr ernsthafte Weise, wenn auch in absurder Komik ein in sich kreisendes, jeder Logik entbehrenden, sich selbst begründendes Heimatkonzept vorgeführt. Die ernsthaft vorgetragene Qualifikation der „Balkone der Heimatländer“ scheut weder Fragwürdigkeit noch bornierte Ignoranz. Ihre Verankerung, so heißt es, „ist identisch mit der gefährlichen Verankerung der Treue, die sich nicht kennt“;60 „ihre Schuld ist unbeweisbar, ihre Vorzüge nicht zu bestreiten“;61 sie werden getragen von der Sicherheit der Balkone, dass sie im Himmel rechts bei den Engeln landen werden,62 dabei „schmälert diese Sicherheit nicht, dass sie von woanders, von der Fremde her, als fremdländische Balkone angesehen werden könnten. Das ergibt keinen Sinn für sie“;63 denn: „Niemand kann ihnen etwas anhaben, solange es gibt, was sie bestimmt: Balkone und Heimatländer.“64 Die scheinbar unanfechtbare Selbstsicherheit dieser Argumentation stürzt den Sprecher (Vertreter eines kollektiven Wir) aber doch recht bald in eine fundamentale Erkenntniskrise: Vermutlich haben wir lange schon begonnen, zuviel zu wissen, zuviel über abwegige Dinge nachzudenken wie etwa über die Balkone der Heimatländer. Niemand hat es von uns verlangt. Unterscheidungen von Aus- und Inländerbalkonen führen zu einer Zersplitterung, deren Ausgang nicht abzusehen ist. Wer, der einmal damit begonnen hat, sollte noch unbefangen, an ein Balkongitter gelehnt, Sonnen- oder Mondaufgänge auf sein Gemüt wirken lassen? […] Aber können wir zurück? Kann, wer einmal die Balkone der Heimatländer als die Balkone der Heimatländer erkannt hat, diese Erkenntnis abweisen? In ihre Grenzen rufen?65

Das im Übergang vom sprechenden „wir“ zur unbeantwortet bleibenden Frage „wer“ und dem sich daraus konstituierenden „er“ resultierende Erkenntnisproblem erreicht schließlich das Subjekt selbst, das sich als singuläres, 60 61 62

63 64 65

Ilse Aichinger: Schlechte Wörter (Anm. 16), S. 19. Ebd., S. 20. „Es geht aus verschiedenen Auslegungen hervor, dass sie beim jüngsten Gericht gesondert aufgerufen werden und vermutlich landen sie rechts bei den Engeln, sie werden Vorwände finden. Man kann es sich gut vorstellen, wie die Balkone ineinander verkrallt zu den Engeln stürzen, liebevoll von Flügeln getragen, und man wagt nicht zu bedenken, was sich daraus ergeben könnte, in welcher Form sie daraus Nutzen zögen.“ Ebd., S. 19. Ebd. Ebd. Ebd., S. 22. 115

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erkennendes Subjekt nicht mehr mit den „Balkonen der Heimatländer“ identifizieren mag: Er ist jetzt mit seinen Balkonen allein, mit seiner verzweifelten Erkenntnis, mit seiner messerscharfen Unterscheidung, die ihn nicht mehr ruhen läßt. Wann kam sie, wann fiel es ihm ein?66 Er ist anders als die Balkone der Heimatländer. Er gibt sich nicht zufrieden. Wie aber, wenn er es doch wäre? Er selbst der Balkon eines Heimatlandes in einem Heimatland.67

Der Zweifelnde weiß sich gegen Ende des Textes nur dadurch aus der durch die mögliche Identifizierung als „Balkon der Heimatländer“ provozierten Identitätskrise zu retten, dass er beschließt „zu verreisen, um dieser Frage auszuweichen, er wird weit weg fahren“. Zugleich denunziert er „die Balkone der Heimatländer“ als „die großen unscheinbaren Täuscher“: „Soll er sie lassen, weiter täuschen lassen? Immerhin nur den, der getäuscht werden will. Oder getäuscht werden soll.“68 Seine zuletzt beschlossene buchstäbliche Distanzierung geschieht aus Überzeugung und sichert ihm freies Geleit: „Er wird nicht dabei sein.“69 Im Kontext der Geschichte Österreichs kann Aichingers Text als sarkastische Auseinandersetzung mit dem ‚Mitläufertum‘ der Bevölkerung während des Nationalsozialismus – und ihrer späteren Distanzierung davon gelesen werden (niemand wollte am Heldenplatz dabeigewesen sein, als Hitler vom Balkon der Hofburg herab den Anschluss Österreichs verkündet hat). Balkonszenen umrahmen aber nicht nur diesen Moment der österreichischen Geschichte. In einer umfangreichen Argumentation hat Christoph Leitgeb Aichingers „Zweifel an Balkonen“ vor allem auf einen anderen Moment der österreichischen Geschichte bezogen, nämlich die nach der am 15.5.1955 erfolgten Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrags dem damaligen Außenminister Leopold Figl zugeschriebene legendäre Proklamation vom Balkon des Belvedere herab: „Österreich ist frei!“70 Unter der Voraussetzung dieser historischen Referenz subvertiere Aichingers Text, so Leitgeb, „die Selbstverständlichkeit, in der sich 66 67 68 69 70

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Ebd., S. 23. Ebd., S. 24. Ebd. Ebd. Christoph Leitgeb: Subversive Unheimlichkeit, unheimliche Subversion. Ilse Aichingers untergrabene Balkone. In: Arvi Sepp, Gunther Martens: Gegen den Strich: das Subversive in der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Berlin, S. 71–83.

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ein Subjekt durch den performativen Akt in einem Diskurs zugleich verortet und konstituiert“.71 Dabei erzeuge „die Subversion der Performanz des Sprechakts von Balkonen […] Unheimlichkeit, auch wenn man von der österreichischen Geschichte abstrahiert: Sie aktualisiert das, was ein Subjekt verdrängt, wenn es von einem autonom gesetzten Standpunkt aus zu sprechen vorgibt.“72

5. Das Sprachmuster von Heimat In ihrer Laudatio für Gert Jonke anlässlich der Verleihung des Erich Fried-Preises im Jahr 1997 bezieht sich Aichinger kurz auch auf dessen Geometrischen Heimatroman, und bemerkt dazu, Jonke entwerfe hier „das Sprachmuster von Heimat“:73 „Dieses Muster wird vorgegeben vom Amt. Jonke deckt die Brutalität der Ämter in verschiedenen Sprachschichten auf.“74 Jonkes minutiöse Wirklichkeitsvermessung von Heimat zielt nun auf etwas anderes als jene „Bodenvermessung“, wie sie Brandstetter in seinem Almanach versammelt hat. Jonke vermisst die Sprache der Heimat im Sinne der „Verwaltungssprache“,75 wie Aichinger sagt: „damit demonstriert er, wie Personen in Akte verwandelt werden, die man verwechseln, verschließen, verlieren und unauffindbar machen kann. […] Die Brutalität ist ein Sprachvorgang: Polizeiwachen, Gefängnisse, Dienstleistungsstellen, Spitäler, die Sprache führt direkt in den Abgrund.“76 Ein Beispiel für diese Art, wie die Sprache der Heimat „unauffindbar“ machen und „direkt in den Abgrund“ führen kann, findet sich bei Aichinger selbst schon relativ früh in einem der Texte, die sie 1960 im Almanach Stillere Heimat publiziert hatte, nämlich im Gedicht Breitbrunn: Breitbrunn Es neigen sich die Tage der Kindheit den späten Tagen zu. Und fragst du nach der Heimat, so sagen alle, die blieben: 71 72 73 74 75 76

Ebd., S. 79. Ebd., S. 81. Ilse Aichinger, Gert Jonke: Das Verhalten auf sinkenden Schiffen (Anm. 1), S. 9. Ebd., S. 10. Ebd., S. 8. Ebd. 117

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Das Gras ist gewachsen. Aber nichts davon, dass die gewundenen Wege die Hügel hinab aufstanden und seufzten. Ehe sie sterben, ziehen die Pfarrer in andere Dörfer.77

Im Nachlass von Ilse Aichingers Zwillingsschwester Helga Michie hat sich eine Ansichtspostkarte mit einem Bild von Paul Klee erhalten, auf deren Rückseite Aichinger das Gedicht notiert und darunter vermerkt hat: „(Köln, 15. Juni 1955 / eben geschrieben.)“78 – das Datum liegt genau einen Monat nach der Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrags. In der Intention auf die Schwester bekommt das Gedicht eine spezifische Wertigkeit. Es konstituiert sich im imaginären Gespräch mit ihr, die „die Heimat“ 1939 mit einem Kindertransport verlassen musste. Räumlich wie zeitlich gesehen ist es ein Bericht aus der Ferne und in die Ferne. Als Aichinger das Gedicht schreibt, befindet sie sich selbst nicht am Ort ihrer Herkunft und auch nicht an dem Ort, den ihr Text nennt, am Ort ihres neuen Zuhauses im oberbayerischen Breitbrunn, sondern in Köln, wo Eich und Aichinger im Sommer 1955 das leerstehende Haus von Heinrich Böll nutzen durften, der sich zu diesem Zeitpunkt auf Irlandreise befand.79 Seine besondere Brisanz erhält das Gedicht also gerade dadurch, dass zum Zeitpunkt der Niederschrift beide Schwestern nicht daheim sind. Die Frage „nach der Heimat“ stellt sich hier genau aus der – räumlichen wie zeitlichen – Entfernung. Unmittelbar nach seiner Niederschrift wird das Gedicht auf der Ansichtspostkarte als Brief über den Kanal zur Schwester nach England gesandt. Es spricht davon, dass sich der „Neigungswinkel der Existenz“, wie Paul Celan an prominenter Stelle später formulierte (1960 in seiner BüchnerPreis-Rede),80 und die damit verbundenen ‚Zuneigungen‘ verändert haben. Die einst mit der Schwester gemeinsam am selben Ort verbrachte Kindheit konsolidiert sich in einer späteren Zeit getrennten Lebens, was nun einen Rückblick 77 78 79 80

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Ilse Aichinger: Verschenkter Rat. Frankfurt a. M. 1991, S. 39. Die Postkarte wurde mir dankenswerterweise von Ruth und Hugh Rix zugänglich gemacht. Hans-Ulrich Wagner: Günter Eich und der Rundfunk. Essay und Dokumentation. Potsdam 1999, S. 291. Paul Celan: Der Meridian. In: Ders.: Gesammelte Werke Bd. III. Frankfurt a. M. 2000, S. 168.

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erlaubt. Die im Gedicht imaginierte Frage des angesprochenen „Du“ – es kann die Schwester gemeint sein, es kann aber auch eine Selbstansprache sein – „nach der Heimat“ wird von den Daheimgebliebenen beschwichtigend beantwortet im Sinne der Wendung „es ist Gras über die Sache gewachsen“ – wohl zu verstehen als Anspielung auf den allgemeinen Umgang mit den Verwerfungen der jüngsten Vergangenheit.81 Im Gegensatz zu dieser Sprachgeste, die die Verschwundenen nochmals zum Verschwinden bringt, im Gegensatz auch zu den Pfarrern, die sich ihrer Gemeinde entziehen und das Sterben mit sich nehmen,82 bringt das Gedicht nun eine unheimliche Bewegung der Natur zur Sprache: Die Natur selbst habe nicht ‚still gehalten‘, weiß es zu berichten, sondern „die gewundenen Wege/ die Hügel hinab“ hätten in ihrem Aufstand Schmerz und Trauer sichtbar und hörbar werden lassen („seufzten“ als typische Verlautbarung des Gespensts, des Wiedergängers). So liest sich das Gedicht am Ende meiner Reihe von Heimatreferenzen im Werk Ilse Aichingers fast wie eine Rehabilitation der Heimat/Natur im Gegensatz zum Sprachmuster der diese Heimat repräsentierenden – der den topografischen Raum als „Heimat“ deklarierenden – Menschen, der „Daheimgebliebenen“, das die Verschwundenen dem Vergessen anheimstellt. Die in Italien gedruckte Karte, auf deren Rückseite Aichinger das Gedicht notiert hat, zeigt auf der Vorderseite Paul Klees Aquarell „Frisst aus der Hand“

81

82

So die übereinstimmende Lesart fast aller Interpreten. Vgl. dazu insbesondere Johann Sonnleitner: Lyrik nach Auschwitz. Der Fall Ilse Aichingers. In: Ingeborg Rabenstein-Michel, Françoise Retif, Erika Tunner: Misstrauen als Engagement? Würzburg 2009, S. 17–25, hier S. 22. Hannah Markus, die ansonsten in ihrer Gesamtuntersuchung zur Lyrik Aichingers die Relevanz von Sonnleitners Argument, die Gedichte stärker im Kontext von Auschwitz zu lesen, mehrfach betont, relativiert diesen Ansatz aber gerade in Bezug auf den hier in Frage stehenden Text: „Die Lesart eines Holocaust-Subtexts in Gedichten wie Breitbrunn oder Heu […] lässt sich zwar durchaus schlüssig herleiten, zugleich aber sind diese Gedichte in ihrer Metaphorik so offen, dass auch ganz andere Interpretationen möglich und einleuchtend sind.“ Hannah Markus: Ilse Aichingers Lyrik. Das gedruckte Werk und die Handschriften. Berlin, Boston 2015, S. 562. Dementsprechend notiert sie an anderer Stelle noch einmal explizit die Ausnahme von „Breitbrunn“, wo die „Tage der Kindheit“, die sich den „späten Tagen“ zuneigen, eher neutral zu lesen seien (ebd., S. 106, Anm. 375). Wenn man diese aber nicht als Hinweis auf die Schrecken der Epoche, in der Aichinger und ihre Schwester ihre Kindheit verbracht haben, liest, lässt sich für die darauf folgenden Verse wie für das Gedicht als Ganzes kaum ein Sinnzusammenhang ausmachen. Sonnleitner verweist hier auf das Bild der Passionsgeschichte Jesu. Vgl. Sonnleitner: Lyrik nach Auschwitz (Anm. 82), S. 22. 119

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von 1920 (im Besitz der Münchner Staatsgalerie für moderne Kunst).83 Wie so oft bei Klee bilden Titel und Darstellung einen spannungsvollen Kontrast mit hintergründigem Humor. „Er frisst mir aus der Hand“ ist eine weitere geläufige Redewendung im Deutschen, die selbstbewusst die ‚Zähmung‘ eines potenziellen Kontrahenten pointiert; Klee kappt in seinem Titel auf ironische Weise gerade die so selbstbewusste wie verblendete Bezeichnung der Beteiligten. Beim Betrachten des Bildes hat man den Eindruck, ein Wolf beiße eine dem Rotkäppchen ähnliche Figur in die Hand. Der Blick der weiblichen Figur wendet sich mit Entsetzen dem Betrachter zu. Das Motiv des Rotkäppchens diente in Aichingers Roman Die größere Hoffnung als Folie für den verzweifelten Versuch der Protagonistin, eines der bekanntesten aus Grimms Kinder- und Hausmärchen neu zu erzählen, um die Geschichte um-, und damit abzuwenden. In einer anderen Märchenadaption hat Aichinger Jahre später (1974) die Mär vom Wolf und den sieben Geißlein als Parabel des Massenmordes neu ausgelegt.84  – auch dies ein Versuch, wie ich meine, der Auseinandersetzung mit dem, was „Heimat“ und „Sprache“ verbindet.

6. „Es krachte, als wir heimkamen“ – Zusammenfassung Im Umgang mit dem Begriff „Heimat“ erkenne ich im Gesamtwerk Aichingers folgende Tendenzen: Erstens: Die Tendenz zur Abstrahierung und Offenlegung des konzeptuellen, sprachlich konstruierten Charakters von Heimat. Dabei kommt es zum Umschlag einer anfänglich utopischen Aufladung des Heimatbegriffs ins Dystopische, Heimat konvergiert auf vielfältige Weise mit dem Unheimlichen und dessen Potenzial der Wiederkehr von (sprachlich) Verdrängtem. Zweitens: Die Lösung des Heimatkonzepts aus seiner Bindung an eine bestimmte, identifizierbare Region oder Nation, insbesondere an Österreich bzw. dessen Bundesländer Wien, Oberösterreich, Salzburger Land und Tirol. An die Stelle der Regionalismen tritt eine Bearbeitung der sprachlichen Konzeptualisierung ihrer markanten sprachlichen Zeichen wie etwa im Gedicht Breit83 84

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Vgl. Paul-Klee-Stiftung, Kunstmuseum Bern (Hg.): Catalogue raisonné. Paul Klee. Werkverzeichnis Band 3: Werke 1919–1922. Bern 1999. Ilse Aichinger: Der Wolf und die sieben Geißlein. In: Märchen, Sagen und Abenteuergeschichten auf alten Bilderbogen neu erzählt von Autoren unserer Zeit. München 1974, S. 9; Ilse Aichinger: Der Wolf und die sieben jungen Geißlein. Wien 2004, S. 17–21. Im oben zitierten Text Zweifel an Balkonen erscheint das Motiv des Wolfes im Wolfshund wieder.

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brunn, das den ‚Heimatdiskurs‘ zudem ins Bayerische, an den ‚fremden‘ Heimatort verschiebt. Drittens: „Heimat“ kann in den Texten Aichingers sowohl auf die Darstellung des ländlichen wie des städtischen Raums bezogen werden, darin entspricht sie durchaus einer allgemeinen Tendenz der ihrem Schreiben zeitgenössischen Literatur. Neben einer Dekonstruktion der ländlichen Heimat-Stereotype Österreichs wie „Heu“ oder „Schnee“ findet sich bei Aichinger eine spezifische und neuartige Profilierung des Konzepts „Ort“ anstelle von „Heimat“ im Sinne eines Erinnerungsorts. Dieses Verfahren korrespondiert dem in der jüngeren Historiografie so wesentlich gewordenen Konzept der Erinnerungsorte (lieux de mémoire), wie sie Pierre Nora beschrieben hat.85 Viertens: Noch charakteristischer für Aichinger erscheint die Umkehr in der Bewertung der oppositionellen Struktur von Heimat vs. Fremde; dabei arbeitet Aichinger vor allem den Ort der Schwelle, der Grenzsituation für den Umschlag von negativ erfahrener Heimat in eine positiv apperzipierte Fremde heraus. Fünftens: In diesem Zusammenhang findet sich bei Aichinger schließlich eine spezifische Reflexion auch auf das Verhältnis von Heimat und Sprache, Vaterland, Mutterland und Muttersprache, bis hin zum ‚Einschlag‘ der anderen, fremden Sprache, im Besonderen des Englischen ins Deutsche. Dazu abschließend noch zwei Beispiele: In der bereits erwähnten Glosse Die Hochsee mitten in Wien, die erstmals am 26.7.2002 in der Tageszeitung Der Standard erschien und die später in den Band Unglaubwürdige Reisen übernommen wurde,86 verknüpft Aichinger Alltagsanekdoten aus dem aktuellen Wien mit einem Diskurs über die Erinnerungsfunktion der vor allem in Österreich und Oberbayern üblichen Pestsäulen sowie mit Episoden aus ihrer Kindheit in Linz (ein Erinnerungsfragment an das schizophrene Kindermädchen, das die beiden Aichinger-Zwillinge zur Linzer Irrenanstalt geführt hatte). Das Stichwort „Heimatschein“ das im ganzen Werk von Aichinger nur zwei Mal vorkommt, verbindet diesen Text mit einem nur wenig früher entstandenen, in dem ebenfalls vom Kindermädchen die Rede war. Dort heißt es: Schon im Bruchteil einer Sekunde danach [nach der Geburt] sind neue Instanzen zuständig: staatliche und kirchliche Behörden, Paßämter, Pfarrämter, Standesämter, Tauf- und Geburtsurkunden und früher noch ein „Heimat85 86

Vgl. Pierre Nora: Les Lieux de mémoire. Paris 1984–1992. Ilse Aichinger: Unglaubwürdige Reisen (Anm. 38), S. 49 f. 121

Christine Ivanovic

schein“, der unglaubwürdigste Beweis für die erste unglaubwürdige Reise: Geboren in Wien, dagegen ist nichts zu machen, aber danach?87

Die Glosse Die Hochsee mitten in Wien greift diesen Gedanken wieder auf: Der Ort, an dem man für immer bleibt, wird ohnehin rasch der fremdeste von allen, ohne Absprungschanze, etwas für Ausbruchsversuche, aber zementiert wie die Hochsicherungs-Haftanstalten in den USA. Früher gab es „Heimatscheine“, um diesen Ort eindeutig zu definieren: Religion, Geburtsort, Zuständigkeitsbereich, rechteckig, blank und unzerstörbar, liniert und hellgelb wie ein ländlicher Sonntagsanzug.88

Anschließend leitet das Stichwort „Heimatschein“ über zur Erinnerung an genau jene Person, die Aichinger mit Linz, mit Oberösterreich, mit dem österreichischen Vaterland verband: Dieser amtliche Heimatgeruch erinnert mich jetzt an das „Bürgerschulgebäude“ in Linz, schräg gegenüber der Herz-Jesu-Kirche, in der unser Vater Deutsch, Erdkunde, Geschichte und nach dem Krieg sogar Russisch unterrichtete. Er konnte kein Wort Russisch. Aber er ahnte, daß es wichtiger wäre, wenn die Inländer andere Sprachen lernen, anstatt von Ausländern Deutsch zu verlangen.89

Vermittelt durch den  – absurden  – Sprachunterricht im Russischen, den der Vater nach dem Krieg erteilt hat (über die politischen Implikationen dieses Unterrichts schweigt sich Aichinger aus), wird Sprache als Indikator von Heimat hier in denselben Kontext gerückt, den Aichinger auch sonst für ihr HeimatKonzept favorisiert: Das Fremdwerden der Heimat scheint wichtiger als die Assimilierung der Fremden an das Heimatliche. Sprachliche Hybridisierungen, insbesondere durch das Einbringen englischer Wendungen, finden sich in den Texten Aichingers gerade dann verstärkt, wenn es um die Evokation von Heimat-Konzepten geht, etwa wenn sie in der späten Glosse Das Gasthaus an der Themse in Anspielung auf ein schottisches Lied von den Highlands of Tyrol spricht.90 87 88 89 90 122

Ebd., S. 20. Ebd., S. 49 f. Ebd. Aichinger: Film und Verhängnis (Anm. 25), S. 183.

„Heimat, Heimat? My country. Es krachte, als wir heimkamen.“

Auf komplexe Weise reflektiert Aichinger in ihrer Bezugnahme auf Heimat nicht allein die im Nationalsozialismus obskur gewordene Frage der Abstammung und Zugehörigkeit. Im Prosatext Die Schwestern Jouet ist es die Spannung zum Mutterland, die die offenbar in einer Kolonie befindlichen Schwestern beschäftigt. Die infrage gestellte Heimat wird hier durch ein Wort der anderen, der fremden, der englischen Sprache beantwortet – englisch, Englisch, England, der Engel als Sinnbild der Rettung. Heimat erkennen die Schwestern, die es so ganz weit in die Ferne, in die Fremde verschlagen hat, zuletzt am Laut: Natürlich die Art, erwidert Anna zerstreut. Mit Hakenschuhen, schwarzer Lack aus der Heimat. Heimat, Heimat? My country. Es krachte, als wir heimkamen. Ich meine, hierherkamen, jedesmal die beiden Male, es knirschte in den Strümpfen, ja, das tat es.91

91

Ilse Aichinger: Eliza Eliza. Frankfurt a. M. 1991, S. 193 f. 123

Walter Hettche

Das Dasein der Schnecke Heimaträume in Günter Eichs Nachkriegslyrik Mit unbekannten Fassungen einiger Gedichte und einem Brief an Peter Huchel I Mit zwei knappen Sätzen beginnt Günter Eich am 28. Oktober 1945 einen Brief an seinen Schriftstellerkollegen Hermann Kasack: „Da bin ich wieder. Aber wo finde ich Sie?“1 In diesem „Da“ und „Wo“ verbergen sich für Eich wie für Millionen anderer Menschen in den ersten Nachkriegsmonaten schwere Sorgen. „Ich bin von allen Freunden und Bekannten abgeschnitten und weiß von niemandem“, berichtet Eich; seine Frau2 ist „verschollen“, die Mutter „vermutlich“ in Mecklenburg, der Aufenthaltsort des Bruders unbekannt. Er selbst ist an einem Ort angekommen, wo es ihm „eigentlich gut“ geht: „Seit drei Tagen habe ich ein Zimmer mit geliehenen Möbeln und einem Ofen, – nur mangelts an jeglichem Heizmaterial.“ Das eingangs zitierte „Da“, in dem er ein Logis gefunden hat, ist der niederbayerische Markt Geisenhausen, wo er schon während des Krieges eine Zeit lang bei der Familie des Spenglermeisters Schmid einquartiert war und fortan – von kurzen Unterbrechungen abgesehen – bis 1954 wohnen wird, so lange wie nirgendwo sonst in seinem Leben.3 Der Brief an Kasack ist einer unter vielen Versuchen Eichs, alte Verbindungen wiederzubeleben und für den Neuaufbau seiner schriftstellerischen Existenz zu nutzen.4 Da er im Krieg alle seine Manuskripte verloren hat, liegt ihm vor allem an der Sicherung des möglicherweise anderswo noch Vorhandenen. Auch bei Kasack erkundigt sich Eich, ob er noch Arbeiten von ihm besitze, zumal unterdessen „[e]ine ganze Menge“5 neuer Gedichte entstanden waren, die er 1 2

3 4 5 124

Günter Eich an Hermann Kasack. 28. Oktober 1945. Marbacher Faksimile Nr. 38. Marbach 1995. Vgl. Hans-Ulrich Wagner: Günter Eich und der Rundfunk. Essay und Dokumentation. Potsdam 1999, S. 74, sowie Roland Berbig: Am Rande der Welt. Günter Eich in Geisenhausen 1944–1954. Göttingen 2013, S. 114 f. Dazu ausführlich Berbig: Am Rande der Welt (Anm. 2). Vgl. dazu Wagner: Günter Eich und der Rundfunk (Anm. 2), S. 67 f., sowie Berbig: Am Rande der Welt (Anm. 2), S. 50–87. Eich an Kasack (Anm. 1).

Das Dasein der Schnecke

mit allenfalls noch erhaltenen älteren Texten zu einem größeren Lyrikband vereinigen wollte. Hatte Eich bis dahin nur ein schlankes Heft mit 13 Gedichten auf 23 Seiten vorgelegt,6 konnte der fast elf Jahre ältere Kasack auf eine Reihe selbstständiger Gedichtpublikationen zurückblicken und dem Freund ein kompetenter Ratgeber sein. Im Dezember 1945 gibt er Eich zu bedenken, den geplanten Neuanfang nicht von vornherein mit der Wiederverwertung seiner Vorkriegslyrik zu belasten. Eich antwortet am 17. Dezember 1945: Sie raten mir, nicht auf vergangene Produktion zurückzugreifen. Ich tue es nur insoweit als ich das Zerstreute und Ungedruckte sammle und manches aus dem Gedächtnis ergänze. Sonst aber haben die Verse, die ich jetzt geschrieben habe, meinem Empfinden nach nur noch soweit Ähnlichkeit mit den alten, als sie vom gleichen Verfasser sind und ein Teil der Konstitution selbst unter den größten Veränderungen der Welt unverändert bleibt.7

In dem Buch, das aus diesen Überlegungen hervorging, sollte das Nebeneinander des alten und neuen Materials ursprünglich in einer strengen Zweiteilung deutlich werden: Der erste, mit „Jugendbildnis“ überschriebene Abschnitt war den Gedichten aus den Jahren bis 1935 vorbehalten, der zweite, „Gefangenschaft“ genannte, der Lyrik aus der Zeit nach 1945. Der Verleger Georg Kurt Schauer hat das Buch nicht als Ausdruck eines Neubeginns, sondern als Inszenierung der Rückkehr in eine Art literarisierte Heimat präsentieren wollen, wofür ihm der Titel Wiederkehr – nach der Überschrift eines Gedichts aus dem Jahr 1938  – als eine gute Wahl erschien. Eich konnte sich damit nicht anfreunden,8 doch auch sein eigener Vorschlag, Abgelegene Gehöfte, deutet weniger auf ausgeprägten Gegenwartsbezug als auf die Hinwendung zu einer dörflich-abseitigen Vergangenheit. In der Tat enthält der Band einige ältere Poeme von zweifelhafter Qualität,9 und selbst in den Nachkriegsgedichten fällt Eich des Öfteren in ein neoromantisches Raunen zurück, etwa in Die Toten6 7 8

9

Günter Eich: Gedichte. Dresden 1930. Hermann Kasack. 1896–1966. Bearbeitet von Reinhard Tgahrt und Jutta Salchow. Marbacher Magazin 2 (1976), S. 43. Seine Gründe erläutert er dem Verleger in einem Brief vom 17. November 1946; vgl. Günter Eich: Gesammelte Werke in vier Bänden. Revidierte Ausgabe. Hg. von Axel Vieregg. Frankfurt a. M. 1991. Bd. 1, S. 436. – Nach dieser Ausgabe wird durchgehend zitiert, künftig nur unter Angabe von Band- und Seitenzahl. Vgl. die kritischen Äußerungen von Heinz F. Schafroth: Günter Eich. München 1976, S. 50 f. sowie Fabian Lampart: Nachkriegsmoderne. Transformationen der deutschsprachigen Lyrik 1945–1960. Berlin, Boston 2013, S. 155–157. 125

Walter Hettche

trompete und Abends am Zaun.10 Wenn es einerseits zutrifft, dass Teile des Bandes „erstaunlich rückwärtsgewandt“11 wirken, so ist andererseits vielen der jüngeren naturlyrischen Gedichte – wie auch denen aus der Gefangenschaft – anzumerken, dass sie der aktuellen Lebenslage ihres Autors entstammen. Die literarische Reflexion der neugewonnenen lokalen Einbindung im ländlichen Niederbayern bildet den zweiten Schwerpunkt in Eichs erstem Lyrikband nach 1945. Gedichte wie das titelgebende Abgelegene Gehöfte, Frühlingsbeginn oder Abendliches Fuhrwerk sind jedoch alles andere als triviale Heimatkunst. Zwar steht es für Geisenhausens Bürger bis heute außer Frage, dass der „Todesschrei der Sau“ im Gedicht Frühlingsbeginn12 „aus dem nahen Schlachthaus“ des Metzgers Angstl dringt, und es erscheint ihnen selbstverständlich, dass das „Abendliche Fuhrwerk“13 nur „der mit ungarischen Pferden bespannte Leiterwagen des Herrn Smolin bei einer Fahrt nach Altfraunhofen“ sein kann.14 Die überwiegende Mehrheit der Leserinnen und Leser des Jahres 1948 wusste davon so wenig wie große Teile des heutigen Publikums. Es schadet aber nicht, wenn man diese biografischen Hintergründe bei der Lektüre ausblendet oder sie überhaupt nicht kennt, im Gegenteil: es er weitert den Deutungshorizont, weil es davor bewahrt, der Versuchung banaler positivistischer Reduktionen nachzugeben. So können beispielsweise die Fragen nach den taub werdenden Ohren und dem rätselhaften „Grau“, das dem Mitfahrer auf dem Fuhrwerk „in die Haare“ zu fliegen scheint, als erste Ahnungen des Lebensabends aufgefasst werden, wie es auch die Betonung der abendlichen Stunde im Titel des Gedichts nahelegt. Die „andere[n] Schritte“, die das Ich „im Klappen des Pferdeschritts“ vernimmt, erlauben wiederum Assoziationen an soldatischen Marschtritt, wodurch den vielerlei akustischen, haptischen und visuellen Sinneseindrücken der Hauch einer Reminiszenz an Krieg und Gefangenschaft beigemischt wird.15 10 11

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Bd. 1, S. 40 und S. 42. Schafroth: Günter Eich (Anm. 9), S. 50. Vgl. Sandie Attia: „Günter Eich (…), der neulich aus dem Chaos auftauchte und mir sehr schöne neue Arbeiten sandte.“ Wandlungen und Paradoxe des Gedichtbandes Abgelegene Gehöfte. In: Detlef Haberland (Hg.): Ästhetik und Ideologie 1945. Wandlung oder Kontinuität poetologischer Paradigmen in Werken deutschsprachiger Schriftsteller. München 2017, S. 357–372. Bd. 1, S. 26. Bd. 1, S. 19. Oskar Schmid: Günter Eich in Geisenhausen. In: Geisenhausen. 1000 Jahre Heimat und Lebensraum. Festschrift zum Jubiläumsjahr 1982. Hg. im Auftrag der Marktgemeinde Geisenhausen von Joseph Hager. Geisenhausen 1982, S. 272–279, hier S. 273 und S. 275. Vgl. zur dritten Strophe des Gedichts Jörg Drews: Nachwort. In: Günter Eich: Sämtliche Gedichte. Auf der Grundlage der Ausgabe von Axel Vieregg hg. von Jörg

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Ähnlich Beunruhigendes geschieht im Gedicht Angst.16 Ein „Motorpflug“ vernebelt eine Hügellandschaft mit „Auspuffgas“, was um so unheimlicher wirkt, als das Ackergerät sich subjekthaft ganz ohne menschliches Zutun bewegt: „Zeilen in die Hügelflanke / zieht der Motorpflug“. Sobald „der Traktor schweigt“, befällt den Beobachter eine namenlose Angst vor den aufgescheuchten Krähen, von denen er sich „umlauert“ fühlt und deren „Flügelschrift“ ihn „behext“. In der letzten Strophe starrt er „[i]n den leeren Himmel“, in bangem Harren auf das Grauen, „das ich lesen soll“. Wie im Abendlichen Fuhrwerk bleibt offen, welche Ängste das Ich so stark affizieren, doch gerade dieses Verschweigen ermöglicht es den Leserinnen und Lesern, die so geschaffene Leerstelle aus eigener Anstrengung zu füllen. Verheißt bereits der Gedichttitel Angst keine erfreuliche Lektüre, wecken Überschriften, die das Nomen ‚Frühling‘ in sich tragen, ganz andere Erwartungen. Wer nicht weiß, dass die „Goldene Meil“ ein Kriegsgefangenen-Camp bei Remagen ist, wird überrascht sein, dass ihn in einem Gedicht mit dem Titel Frühling in der Goldenen Meil17 nicht die „Klingenden, singenden Wellen / Des vollen Frühlings“ umfächeln wie in Eichendorffs Frühlingsfahrt,18 sondern der „Geruch von Latrine und Chlor“, und es wird ihn verstören, über „Ekel und Qual“ unterrichtet zu werden, die der Sprecher „[a]n Achselhöhle und Geschlecht“ nährt. Vollends nach epigonal uhlandisierendem Lobpreis von Frühlingsahnung, Frühlingsglaube und Frühlingsruhe klingt Eichs Titel Frühlingsbeginn.19 Aber wie Heinrich Heines lustig leuchtender Mai20 bewirkt auch dieser Frühling keine Aufheiterung des Bekümmerten:

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Drews. Frankfurt a. M. 2006, S. 624, sowie Thomas Betz: „mit fremden Zeichen“ – Zur Poetologie im Werk Günter Eichs 1927–1955. In: Gustav Frank, Rachel Palfreyman, Stefan Scherer (Hg.): Modern times? German Literature and Arts Beyond Political Chronologies / Kontinuitäten der Kultur: 1925–1955, S. 93–114, hier S. 97 („Soldatenschritt“). Bd. 1, S. 72 f. Laut Notizkalender hat Eich das Gedicht am 18. April 1947 geschrieben; nach dem Erstdruck (1948 im Merkur) ist es 1949 in Untergrundbahn aufgenommen worden; vgl. Bd. 1, S. 449. Bd. 1, S. 30 f.; dort mit dem sinnentstellenden Druckfehler „die Unvollkommenheit der Welt“ (statt richtig „Vollkommenheit“). Joseph von Eichendorff: Werke. Hg. von Jost Perfahl. München 1980, Bd. 1, S. 90. Frühlingsfahrt ist im Erstdruck (1818) der Titel des Gedichts Die zwei Gesellen. Bd. 1, S. 26. Buch der Lieder, Die Heimkehr III: „Mein Herz, mein Herz ist traurig / Doch lustig leuchtet der Mai“. Heinrich Heine: Sämtliche Schriften. Hg. von Klaus Briegleb. München 21975, Bd. 1, S. 108. 127

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Aus dem wochenlang verhangnen Himmel überquillt das angestaute Licht. Im verzerrten Spiegelbild der Augen blickt der Regen aus dem Angesicht. Was an Staub, an Schwamm und schwarzem Schimmel aus der Dunkelheit der Stuben wuchs, dringt ins dumpfe Wort und wird vernehmlich im Gemurmel eines Leichenzugs.

Wenn schließlich die bekanntermaßen ausgesprochen übel riechenden „Silodünste“ wabern, der „Todesschrei der Sau“ das „Gemurmel eines Leichenzugs“ übertönt und der „Kastanientrieb […] nah dem Grauen“ verborgen ist, „welches ungestaltet / wie Rachitis in den Ästen blieb“, dann helfen die makellosen trochäischen Fünfheber und ausnahmslos reinen Reime genauso wenig gegen den trostlosen Gesamteindruck, wie die preziösen Alliterationen den Staub, den Schwamm, den schwarzen Schimmel und die dunklen Stuben zu erhellen vermögen. Auch das Gedicht Abgelegene Gehöfte21 feiert die im Titel adressierte rurale Abgeschiedenheit weder als „Zuflucht des Dichters“22 noch als romantischen Sehnsuchtsort, wie es Theodor Storm getan hat, der in seinem Gedicht Abseits die „alten Gräbermale“ und „ein halbverfallen’ niedrig’ Haus“ idyllisierend mit „rosenrote[m] Schimmer“ und „warme[m] Mittagssonnenscheine“ beleuchtet, derweil der „Heideduft […] in die blaue Sommerluft“ steigt.23 Eich hingegen zeichnet das naturalistische Bild eines Bauernhofs, wo das Gebet der Landwirte in einem unlieblichen Ambiente von Schmutz und bröckelndem Mauerbewurf zelebriert wird. Erst vor dieser leicht verwahrlosten Kulisse kann der in den beiden folgenden Strophen aufgedeckte Zusammenhang sichtbar werden, der diese unscheinbare Region mit den „großen Namen der Welt“ und ihrer Geschichte seit Alexander dem Großen verbindet.24 Das „Rübenland“ ist mithin mehr als eine das nackte Leben sichernde „Zuflucht“, es wird auch

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Bd. 1, S. 24 f. So der ursprünglich erwogene Titel; vgl. Bd. 1, S. 439. Theodor Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden. Hg. von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier. Bd. 1: Gedichte. Novellen 1848–1867. Hg. von Dieter Lohmeier. Frankfurt a. M. 1987, S. 12. Vgl. auch das Gedicht Aurora von 1946: „In Kürbis und in Rüben / wächst Rom und Attika“ (Bd. 1, S. 24).

Das Dasein der Schnecke

zum Entstehungsraum von Literatur. In Angst kommuniziert Eich diese Einsicht in einer poetologischen Metapher. Die „Zeilen“, die der Pflug zieht, sind semantisch mit dem Wort ‚Vers‘ verwandt: „Versus, von vertere, wenden, bedeutet die Kehre beim Pflügen, wenn der Pflug am Ende der Ackerzeile gewendet und an den Anfang zurückgeführt wird.“25 In Abgelegene Gehöfte erfüllen die Spinnen (Vers 9) diese selbstreferenzielle Funktion. Sie gehören zwar zur gewöhnlichen Population eines landwirtschaftlichen Betriebs wie Hühner, Enten und Spitz, sind aber im Unterschied zu diesen mit einer zweiten, übertragenen Bedeutung aufgeladen. Nicht umsonst werden sie in Eichs Gedicht bei der Tätigkeit des Webens beobachtet, ist die Spinne doch von alters her ein „Symbol dichterischer Produktion“, die „Produzentin von Faden, Gewebe oder Text, die dieses aus sich selbst heraus schafft.“26 Auf so geheimnisvolle Weise tritt in der letzten Strophe, im Ackerland unter Schmutz und pfeifenden Ratten, unversehens ein „Vers“ in Erscheinung – und er trägt in dem Verb, mit dem seine Bewegung veranschaulicht wird, die Herkunft aus dem Prozess seiner Herstellung wortspielhaft mit sich: er „schwebt“. Im letzten Vers steigt „Rauch“ auf, der – anders als Storms „Heideduft“ – nicht nur ornamentale Staffage ist. Die Zeile, die mit dem „Rauch“ beginnt, mündet in dem Wort „Gedicht“, mit dem er verglichen wird und das zugleich das Produkt des Webens ist: das Sprachgewebe, textus, der Text, der die Fortdauer des flüchtigen Rauchs verbürgt. Als sei es mit dieser Metapher noch nicht genug, fügt Eich dem „Gedicht“ noch das Attribut „feurig“ bei, das Symbol der prometheischen Kreativität.27

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Alfred Behrmann: Einführung in den neueren deutschen Vers. Von Luther bis zur Gegenwart. Stuttgart 1989, S. 8 (Hervorhebung W. H.). Ch[ristiane] W[eller]: Art. „Spinne“. In: Günter Butzer, Joachim Jacob: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart, Weimar 22012, S. 417 f., hier S. 418. – Spinnen und Spinnweben kommen bei Eich öfter vor, zum Beispiel in Die Spinnenkammer (Bd. 1, S. 43), Wald vor dem Tage (Bd. 1, S. 56 f.) und Der Beerenwald (Bd. 1, S. 63), alle in Abgelegene Gehöfte, aber auch später noch: Ungültige Landkarte (Bd. 1, S. 133) und Zukunftstraum (Bd. 1, S. 134) aus dem Band Zu den Akten (1964), Halb (Bd. 1, S. 159) und Kleine Tochter (Bd. 1, S. 162 f.) in Anlässe und Steingärten (1966). Vgl. dazu Roland Berbig: Untergraben und Abfedern. Günter Eichs poetische Tierwelt. In: Hans Jürgen Scheuer, Ulrike Vedder (Hg.): Tier im Text. Exemplarität und Allegorizität literarischer Lebewesen. Bern u. a. 2017, S. 271–293, hier S. 280 f. A[ndrea] H[übener]: Art. „Feuer/Flamme“. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole (Anm. 26), S. 119–121, hier S. 120. Zu den poetologischen Implikationen dieses Gedichts vgl. Gerhard Kaiser: Geschichte der deutschen Lyrik von Heine bis zur Gegenwart. Ein Grundriß in Interpretationen. Zweiter Teil. Frankfurt a. M. 1991, S. 689–691. 129

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Das Gedicht Abgelegene Gehöfte führt die poetische Rekonstruktion seiner eigenen Genese aus der fremden Heimat des „Rübenlands“ vor, sodass sie in jedem Lektüreakt erneut nacherlebt werden kann. In dieser Hinsicht ist es ein Komplementärgedicht zu Inventur.28 Auch dort endet die Aufzählung der Elemente, aus der sich die Lebenswelt des Soldaten zusammensetzt, mit einer poetologisch konnotierten Metapher: Neben der Gesamtheit der inventarisierten Dinge, die den Besitz des Sprechenden ausmachen, meint der „Zwirn“ genau diese sieben Strophen, in deren Versgewebe das Vorbild von Richard Weiners Gedicht Jean Baptiste Chardin weitergesponnen wird.29 Die zahlreichen textilen Metaphern (Leinen, Wolle, Zwirn, Mantel, Handtuch etc.) und die sowohl als Schreib- wie als Beschreibstoff brauchbaren Gegenstände wie Nagel und Dose, Bleistiftmine und Notizbuch verweisen indessen nicht nur auf ältere literarische Formen, sondern voraus auf eine neue Dichtung, die gar nicht anders kann, als sich der noch brauchbaren Überbleibsel der korrumpierten deutschen Sprache zu bedienen. Insofern geht Müller-Hanpfts Einwand, eine „‚neue Sprache‘ […] dürfte dieses Gedicht wohl kaum vortragen“,30 ins Leere. In der Rede zur Verleihung des Büchner-Preises (1959)31 wird sich Günter Eich mit eben diesem Problem einer notwendigen ‚neuen Sprache‘ beschäftigen. Für die Gedichte Abendliches Fuhrwerk und Abgelegene Gehöfte hat Eich die seit den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts beliebte Volksliedstrophe gewählt. Er begnügt sich freilich nicht mit ihrer schlichten Nachahmung. Die Reime vernichten die jämmerlichen Reste dörflicher ‚Romantik‘: Der „Schmutz“ im Hof und der „Putz“ am Mauerwerk, dessen allmählichem Verfall man förmlich zuschauen kann, werden notdürftig mit dem äußerlichen Schmuck von Metrum und Reimbindung übertüncht, und das „Beten“ wird

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Bd. 1, S. 35 f. Susanne Müller-Hanpft: Lyrik und Rezeption. Das Beispiel Günter Eich. München 1972, S. 36.  – Zur Selbstreferenzialität des Gedichts vgl. Gerhard Kaiser: Günter Eich: Inventur. Poetologie am Nullpunkt. In: Olaf Hildebrand (Hg.): Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Gedichte und Interpretationen. Köln 2003, S. 268– 285, bes. S. 276 und S. 281; Rolf Selbmann: Günter Eichs „Inventur“ und die Poetik der Stunde Null. In: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft 38 (2007), S. 203–207; Silke Arnold-de Simine: „Dies ist meine Mütze“ oder: Zum Verhältnis zwischen Worten und Dingen in Günter Eichs „Inventur“. In: Andreas Böhn, Ulrich Kittstein, Christoph Weiß (Hg.): Lyrik im historischen Kontext. Festschrift für Reiner Wild. Würzburg 2009, S. 334–344. Müller-Hanpft: Lyrik und Rezeption (Anm. 29), S. 48. Bd. 4, S. 615–627.

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mit dem „Treten“ des Federviehs verknüpft,32 was mindestens so anstößig ist wie der vielberedete Reim Hölderlin/Urin oder die Paarung der deutschen Kulturgüter „Nibelungen und Faust“ mit dem Partizip „verlaust“.33 In Abendliches Fuhrwerk spielt Eich mit den überkommenen Mitteln der Klangkorrespondenz, indem er den üblichen halben oder vollständigen Kreuzreim durch eine Zwischenform ersetzt. Die Verse 1und 3 jeder Strophe reimt er zwar nicht, beschließt sie aber auch nicht mit Waisen, sondern mit diskreten, gerade noch als solche wahrnehmbaren Assonanzen: Bretterwagen/Nabe, Schimmel/Serpentine, Schläfe/gehen, Haare/Wagen. Dieser mit einiger Raffinesse hergestellte Wohlklang mildert das in harter k-r-sch-Konsonanz enervierend „kreischend[e] crescendo“ der „Nabe“, während das unregelmäßige Holpern des Fuhrwerks, hörbar in den ausgiebig gebrauchten Doppelsenkungen, durch den altvertrauten Ton der Strophenform etwas erträglicher wird.34 Der über „Schlaglöcher“ dahinrumpelnde Bretterwagen „schüttert“ den Mitfahrenden. Dieses erste Verb des Gedichts – und damit des Bandes Abgelegene Gehöfte – benennt ein wesentliches Thema der Sammlung. Seine häufigste Bedeutung ist „heftig bewegt werden; von grund und boden, geräten, dingen“, daneben wird es zum Ausdruck „einer gewaltsamen bewegung des menschlichen inneren“ gebraucht, zur Schilderung „von menschen in seelenbewegung […]; in angst, schreck, grausen“ sowie von den „seelenregungen selbst und dem was sie hervorruft“.35 Derlei physische wie psychische Erschütterungen betreffen viele der Figuren in Eichs Nachkriegslyrik. Sie haben es in der Regel nicht so gut getroffen wie ihr Schöpfer Günter Eich, der auf vielen Fotos aus der Geisenhausener Zeit wie ein Familienmitglied mitten unter seinen Gastgebern zu sehen ist.36 In den Gedichten aus dieser Schaffensperiode sind die Betrachter, aus deren Perspektive Menschen, Tiere, Gebäude und Landschaften gesehen werden, bloße Randfiguren und Außenseiter, die häufig als grammatisches Objekt des Geschehens auftreten und auffallend oft in der Senkung verschwinden. In Abgelegene Gehöfte beginnt gleich der erste Vers des Eingangsgedichts Abendliches Fuhrwerk mit einem solchen unbetonten Objekt – „Mich schüttert der Bretterwagen“ –, und es folgen ihm noch drei weitere: „streift mir“, „Flog mir“, „werden die Ohren mir taub“. Die Rolle des Agens übernehmen dagegen (unter anderem) die „Nabe“, ein „Etwas“, die

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Bd. 1, S. 24. In den Gedichten Latrine und Frühling in der Goldenen Meil. Bd. 1, S. 37 und S. 30 f. Bd. 1, S. 19. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 9, Sp. 2116–2118. Zahlreiche Abbildungen bei Berbig: Am Rande der Welt (Anm. 2). 131

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„Serpentine“ und „ein Grau“. Im Gedicht Februar37 fungieren alle Pronomina, die auf das erlebende Ich referieren, als Objekt, „der Schnee“, ein „Schatten“ und „ein Schlittengeläut“ als Subjekt. „Ochsengespann“, „Glocken und Vögel“ sind die Akteure in Geisenhausen,38 „mein Raum und meine Zeit“ die Prädikative, und in Abgelegene Gehöfte haben sich „Vers“ und „Gedicht“ so weit verselbstständigt und von ihrem Urheber gelöst, dass die Verse ganz ohne ein Ich auskommen können. Diese Gedichte stürzen die sprechende oder wahrnehmende Instanz in eine gewissermaßen grammatische Heimatlosigkeit, sie entwerfen keinen Ersatzraum für das „Daheim“, in dem „Kleider und Schuh, Nibelungen und Faust“ verbrannten, sondern eine Heimat für andere, fremde Menschen. Das Ich oder das Textsubjekt39 steht all dem als unbeteiligter Zuschauer gegenüber. Die neueren Gedichte in Abgelegene Gehöfte bieten keine idealisierende Darstellung ländlichen Lebens, die sich in Eichs Beiträgen aus dem Umfeld des Königswusterhauser Landboten (1933–1936) bis zum puren Kitsch gesteigert hatte, etwa im Besingen von Petroleumlampen, Kartoffeln, Pflaumenmus, Heringen, Bratäpfeln und sauren Gurken.40 Bei der Lektüre dieser bemerkenswert schlechten Verse drängt sich der Eindruck auf, ihr Verfasser könnte sie selbst nicht ernst genommen haben. Es sind gerade solche Fabrikate einer pseudoliterarischen Gebrauchsdichtung, die Eich später den nicht unberechtigten Vorwurf der Korrumpierung und Anbiederung an die nationalsozialistische Kulturpolitik einbringen werden.41 In dem Essay Die heutige Situation der Lyrik (1947) hat er sich von der „Schollendichtung des Dritten Reichs“42 dann ebenso distanziert wie von seinen eigenen Bemerkungen über Lyrik von 1932, in denen er sich kritisch über die Verwendung von Alltagsvokabeln „wie ‚Dynamo‘ oder ‚Telefonkabel‘“43 in Gedichten geäußert hatte. Inzwischen ist es ihm ganz unbegreiflich, dass im Jahre 1947 „der Anblick von Autos, das 37

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Bd. 1, S. 69 f. Das am 8. April 1947 entworfene Gedicht wurde zuerst 1949 in Untergrundbahn gedruckt, dann 1955 in veränderter Gestalt in Botschaften des Regens (Bd. 1, S. 92 f.). Bd. 1, S. 41. Vgl. zu diesem Terminus Dieter Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse. Stuttgart 3 2015, S. 195–197. Bd. 1, S. 234, S. 237–239. Vgl. Glenn R. Cuomo: Career at the cost of compromise. Günter Eich’s life and work in the years 1933/1945. Amsterdam 1989; Axel Vieregg: Der eigenen Fehlbarkeit begegnen. Günter Eichs Realitäten 1933–1945. Eggingen 1993, sowie ders.: „Unsere Sünden sind Maulwürfe“. Die Günter-Eich-Debatte. Amsterdam 1996. Bd. 4, S. 475. Bd. 4, S. 459.

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elektrische Licht, Maschinenhallen und Operationssäle, Bahnhöfe und Massenquartiere selbstverständlich geworden sind, die Erwähnung solcher Dinge im ernsten Gedicht als shocking“44 empfunden wird, was ihn nicht zuletzt deshalb gewundert haben mag, weil sich schon die Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts diesen „Dingen“ nicht eben selten gewidmet hat.

II Im Herbst 1947 nimmt Eich nach vielen Jahren des beiderseitigen Schweigens45 den Kontakt mit Peter Huchel wieder auf, den er seit 1934 kennt.46 Huchel ist damals, wie Eich aus einem Brief von Hermann Kasack weiß, „Leiter der literarischen Abteilung des Berliner Rundfunk[s]“,47 also in einer Position, in der er dem Hörspiel-Autor Eich eventuell nützlich werden könnte. Eich ist in großer finanzieller Not und hat beträchtliche Schulden, vor allem wegen der Ausgaben für seine drogensüchtige Ehefrau, sodass er dringend neue Einnahmequellen erschließen muss. Im September 1947 hatte er bei einem Aufenthalt in Berlin vergeblich versucht, Huchel zu treffen, aber er lässt sich davon nicht entmutigen. Sechs Wochen nach seiner Rückkehr, am 1. November 1947, schreibt er aus Geisenhausen einen kurzen Brief48 an Huchel, den er wie in alten Zeiten mit seinem Spitznamen anredet: 1. 11. 47 Lieber Piese, die Wolfsgebisse der Gläubiger sind am Zuschnappen. So bin ich also dabei, die letzten Reserven zu mobilisieren. Können Sie etwas für mich tun? In Dresden49 fand ich ein Hörspiel von mir Johann Peter Hebels 44 45

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Bd. 4, S. 475. Vgl. Hannah Markus: Bescheidene Übersetzer. Günter Eich und Peter Huchel. In: Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens 7 (2005), S. 245–263, hier S. 259 f. Vgl. Huchel an Axel Vieregg, 3. Januar 1974. In: Peter Huchel: Gesammelte Werke in zwei Bänden. Hg. von Axel Vieregg. Frankfurt a. M. 1984. Bd. 2, S. 358. Markus: Bescheidene Übersetzer (Anm. 45), S. 260. Das Blatt habe ich 2020 auf einer Auktion der Firma Schneider-Henn (Seefeld/Obb.) erworben; ich danke Herrn Simon Distenfeld M. A., der mich auf diese Versteigerung aufmerksam gemacht hat. Frau Mirjam Eich bin ich dankbar für die freundlich gewährte Zitiererlaubnis. Dort hatte Eich die Witwe seines Freundes Martin Raschke besucht (vgl. Berbig: Am Rande der Welt [Anm. 2], S. 108); vermutlich hat er bei ihr ein Typoskript des Hörspiels gefunden. Zu Raschke vgl. Wilhelm Haefs, Walter Schmitz (Hg.): Martin Raschke (1905–1943). Leben und Werk. Dresden 2002. 133

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Schatzkästlein (Lustiges Lumpenpack), – hat es Zweck, Ihnen das zu schicken? Was machen Dora und Muckelchen?50 Horst Lange und Oda Schaefer51 sind in die Schweiz gefahren. Das war der letzte Umgang, den ich hier noch hatte. Ich grüße Sie! Ihr Günter Eich.

Ob Eich ernsthaft geglaubt hat, Huchel könnte sich für das zaghaft angebotene Hörspiel interessieren, ist zu bezweifeln. Es ist angejahrte Vorkriegsware von der Resterampe, im Dezember 1933 erstmals gesendet52 und allein deshalb für einen Rundfunksender unter sowjetischer Kontrolle denkbar ungeeignet. Die Materialität des Blattes, auf das Eich seine Zeilen an Huchel getippt hat, ist ein Indiz für die tatsächliche Absicht seines Schreibens. Er hat zu einem bereits benutzten, auf der Rückseite vollständig beschrifteten transparenten Durchschlagpapier gegriffen, weshalb der Brieftext schwierig zu entziffern ist. Unter normalen Umständen wäre das einigermaßen unhöflich, aber in Zeiten großer Papierknappheit kann es ohne weiteres als lässliche Sünde durchgehen. Auf der ursprünglichen Recto-Seite findet sich nun nicht irgendein Text, sondern eine maschinenschriftliche Zusammenstellung von sechs Gedichten Eichs, nämlich Zu einem japanischen Holzschnitt, Ende eines Sommers, Herde am Waldrand, Ende August, Lupinen und Ein Windstoß.53 Die Vermutung liegt nahe, dass Huchels Aufmerksamkeit eher auf diese Gedichte gelenkt werden sollte als auf den womöglich nur als Vorwand dienenden Hörspiel-Vorschlag. Die klug komponierte Miniatur-Anthologie aus Eichs Gedichten ist Zeugnis einer Übergangsphase seines lyrischen Schaffens. Neben Versen neueren 50 51

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Dora ist Peter Huchels erste Ehefrau Dora Lassel (1904–1965), Muckelchen die Tochter Susanne Huchel (geb. 1935). Mit dem Schriftstellerehepaar Horst Lange und Oda Schaefer war Eich seit Ende der 1920er Jahre befreundet; vgl. Antje Liebau, Christina Manukowa, Nadin Seltsam: Aus den Briefen von Günter Eich an Oda Schaefer und Horst Lange (1945– 1960). In: Berliner Hefte (Anm. 45), S. 103–116. Uraufführung am 14. Dezember 1933 im Deutschlandsender; eine Neuproduktion brachte der Reichssender Leipzig am 15. April 1937. Vgl. Günter Eich: Hebels „Schatzkästlein“ im Rundfunk (Bd. 4, S. 462) sowie Hans-Ulrich Wagner: Günter Eich und der Rundfunk (Anm. 2), S. 125 f. und S. 175. In Eichs Nachlass (Deutsches Literaturarchiv Marbach) sind zwei Typoskripte des Hörspiels erhalten; in die Gesammelten Werke wurde es nicht aufgenommen (vgl. Bd. 2, S. 785). So die wahrscheinlichste Reihenfolge der Niederschrift.

Das Dasein der Schnecke

Datums, die später zum Teil in Untergrundbahn und Botschaften des Regens aufgenommen werden, enthält das Blatt ein älteres, 1935 entstandenes Gedicht, Lupinen,54 das erst 1960 in den von Walter Höllerer herausgegebenen Ausgewählten Gedichten gedruckt wurde. Die Fassung von 1947 blieb unveröffentlicht.55 Lupinen [1935/1960] Einst ein gelbes Feld Lupinen hinter Kiefern, hinter Mohn, heute mir als Duft erschienen, – ach, das Herz verdrießt mich schon. Der ich einmal war, der Knabe, Blütenähre in der Hand, wußt ich vieles, weiß ich wenig, rauscht die Welt am Grabenrand? In der Ferne knarrt ein Wagen, lockt mich süßer in Betäubung. Dunkler Ton von Flügelschlagen bleibt als Raunen der Bestäubung. War es damals, ist es heute? Blatt und Blüte, hohes Ziel! Nehm ich einen Duft als Beute, meine ich, es wäre viel. Oft verstört mich fern ein Wagen, Flügelschlag tönt wie ein Feuer. Daß ich ohne Schuld gewesen, füllt das Herz mir ungeheuer. Duftende Lupinenflamme, – knarrt der Sonnenwagen selber? Nein, das Land, woher ich stamme, summte dunkler, glänzte gelber.

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Bd. 1, S. 197 f. In Viereggs Werkausgabe nicht erwähnt. 135

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Lupinen [1947] Jenes gelbe Feld Lupinen, in den Kiefernwald gestreckt, wenn es mir als Duft erschienen, hat die Ferne mich erschreckt. Der ich einmal war, der Knabe, hockt im Wald am Grabenrand, Blütenähre in der Hand, wie ich mich vergessen habe. In der Ferne knarrt der Wagen, lockt mich süßer in Betäubung. Dunkler Ton von Flügelschlagen bleibt als Raunen der Bestäubung. Was ich Ungelebtes trage, nahet sich als Fracht von Wunder, schlägt als Flamme aus dem Zunder trockner Rechenvormittage. Duftende Lupinenflamme, – knarrt der Sonnenwagen selber? Ach, das Land, woher ich stamme, summte dunkler, glänzte gelber.

Es ist nicht mehr zu klären, ob Eich seine Auswahl eigens für Peter Huchel arrangiert hat; doch ist Lupinen als Antwort auf Huchels Gedicht Der Knabenteich56 zu lesen, das Eich nachweislich kannte.57 Wie Huchel gestaltet Eich fließende Übergänge zwischen Einst und Jetzt, eine Überblendung von erinnerndem Ich und erinnertem „Knaben“, der sich in Zeit und Raum seiner Kindheit versetzt sieht, in eine Landschaft, die mit ihrer Vegetation von Kiefernwald, Mohnblumen und Lupinen als die märkisch-brandenburgische Heimat Eichs wie Huchels kenntlich wird: „Die gelbe L[upine] stammt aus Sizilien, wurde in

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Huchel: Gesammelte Werke (Anm. 46), Bd. 1, S. 59 f. Das Gedicht ist enthalten in Martin Raschke (Hg.): Neue lyrische Anthologie. Dresden 1932, S. 39 f., in der auch Eich mit sechs Gedichten vertreten ist. Der Erstdruck in der Literarischen Welt und der Wiederabdruck in der Zeitschrift Die Kolonne (beide 1932) dürften ihm ebenfalls nicht entgangen sein.

Das Dasein der Schnecke

Deutschland zuerst 1840 in Groß-Ballerstedt in der Altmark gebaut und verbreitete sich von da sehr bald im Sandland.“58 Eich breitet eine Fülle sinnlicher Wahrnehmungen aus, von Düften, Farben und Geräuschen und dem leuchtenden Lupinenfeld, dessen Pracht nur über die Synästhesie der ‚duftenden Flamme‘ vermittelt werden kann. Das Ganze kleidet er in die seit Goethes West-östlichem Divan so genannte Schenkenstrophe, die nicht allein die wechselseitige Spiegelung von Vergangenheit und Gegenwart auf der Formebene abbildet, sondern wie die sizilianische Lupine aus dem romanischen Kulturraum stammt. Damit wird diese ‚abgelegene‘ Gegend mit einer Spur Exotik angereichert, so ähnlich wie – nach einem Bonmot Ernst Blochs – in Goldsmiths Vicar of Wakefield: „Die Ferne kommt hier nur als Tee vor.“59 Die Veränderungen, die mit der Eingemeindung von Nutzpflanze und Strophe in nördliche Gefilde einhergehen, werden in Eichs Lupinen-Gedicht an den Reimen bemerkbar. Anders als in der Grundform der reimlosen, allenfalls assonierenden spanischen Trochäen, aber auch anders als im Divan-Vorbild schwankt das Schema in Eichs Gedicht zwischen durchgehendem und halbem Kreuzreim und dem umarmenden Reim. In der Version von 1947 stellt Eich daraus eine übergreifende Ordnung her, indem er alternierend zwischen kreuz- und umarmend gereimten Strophen wechselt. Die reizvolle äußere Anmutung darf indessen nicht über die Irritationen hinwegtäuschen, die sich in den so reich ausgemalten Gedächtnisraum einschleichen, Verdruss in der frühen Fassung, in der späteren ein Erschrecken vor der „Ferne“ und die nagende Erinnerung an schulische Belästigungen, ausgedrückt in dem originellen Neologismus der „Rechenvormittage“, die ihren Anteil am versäumten, ungelebten Leben haben. Einer vergleichbaren zuspitzenden Überarbeitung unterzieht Eich das Gedicht Ein Windstoß. Der Titel zitiert Eichs Gedicht Verse an vielen Abenden (1927) und die darin erhobene Forderung, „zum Naturganzen“60 zurückzukehren: „Du mußt wieder stumm werden, unbeschwert, / eine Mücke, ein Windstoß, eine Lilie sein.“61 In Ein Windstoß wird dieser Appell revidiert; der 58

59

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Meyers Großes Konversationslexikon, 5. Auflage 1893–1897. Bd. 11, S. 624. Diese Auflage hat Eich in Geisenhausen benutzt; vgl. Schmid: Günter Eich in Geisenhausen (Anm. 14), S. 272. Ernst Bloch: Dargestellte Wunschlandschaft in Malerei, Oper, Dichtung. In: Sinn und Form 1 (1949), H. 5, S. 18–64, hier S. 26. Im selben Heft erschienen Eichs Übersetzungen aus dem Chinesischen: Gedichte des Su Tung P’o, S. 88–91. Axel Vieregg: Günter Eich. In: Hartmut Steinecke (Hg.): Deutsche Dichter des 20. Jahrhunderts. Berlin 1994, S. 507–519, hier S. 510. Bd. 1, S. 10. Vgl. auch Thomas Betz: „mit fremden Zeichen“ (Anm. 15), S. 104 f. 137

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Mensch soll (und kann natürlich) kein „Windstoß“ sein, vielmehr „fällt“ ihm aus dem Wind „zu“, was immer er sich wünscht: Ein Windstoß [1947] Starrer stehn die Weizenhalme, wenn der Wind den Roggen wellt. Solchem Winde nachzudenken, staubt das ockerrote Feld. Aus dem Wind und aus dem Staube fällt mir zu, was mir gefällt, ist der Weizen mein Gedanke und der Roggen voll von Welt.

Wie Lupinen ist dieses Gedicht nach einer der geläufigsten Vers- und Strophenformen der deutschsprachigen Lyrik gebaut, der Suleikastrophe, hier im halben Kreuzreim mit abwechselnd weiblichen und männlichen Kadenzen. Später, im Band Botschaften des Regens, verschleiert Eich diese Herkunft ein wenig, indem er die strophische Gliederung aufgibt und die Verse stichisch reiht, ansonsten ändert er nichts an der Form. Auf das Spiel mit äquivoken Reimen (Welt/wellt, fällt/gefällt/Feld) verzichtet er nicht, und auch die vielen W- und St-Alliterationen sind ihm wichtig; gewiss nicht nur, weil man darin mit etwas Fantasie das Rauschen des Windes vernehmen kann, sondern weil er die aus dem Verdrängten und Vergessenen, dem „Ungelebten“ aufbrechenden Erinnerungen bevorzugt in Bilder des Amorphen, Volatilen und im Wortsinne Unfassbaren wie Staub, Wind und Wellen übersetzt.62 Dieses Moment des Bedrohlichen kommt im Windstoß-Gedicht erst 1955 in Botschaften des Regens zur Geltung: Ein Windstoß [1955] Starrer stehn die Weizenhalme, wenn der Wind den Roggen wellt. Staub hängt in zerrißnen Fahnen länger als der Wind sie hält. Nicht sein Wehen, sein Gedächtnis

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Vgl. das Gedicht Abendliches Fuhrwerk.

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regt sich im bewegten Feld, bis der Staub, der ihn vergessen, ockerrot und lautlos fällt.63

War die erste Version von einem optimistischen Grundton getragen, der dem Sprecher-Ich das Getreidefeld „voll von Welt“ erscheinen lässt, spricht die zweite von nicht näher definierten „zerrißnen Fahnen“, bei denen man eben wegen dieser Vagheit an den einstigen Fahnenkult der Nationalsozialisten denken darf. Dagegen ist von dem ‚Gefallen‘, das dem Ich aus Wind und Staub zufällt, nicht mehr die Rede. Stattdessen wird der Staub als unzuverlässiger Wissensspeicher dargestellt, der den Wind „vergessen“ hat. Wind und Staub haften ihrerseits nur im Gedächtnis, weil der literarische Text sie konserviert. In Eichs Lyrik werden sowohl die Figuren innerhalb des Fiktionsraums als auch die Leserinnen und Leser nicht vom Aufflammen überwunden geglaubter, körperlicher wie seelischer Verletzungen verschont. Die „Herde am Waldrand“ im gleichnamigen Gedicht weidet friedlich in der „Schonung“ – ein Wort, das Schutz und Sicherheit verspricht –, doch kaum betritt der Hirte die Szene, fällt er durch unmotivierte und rational nicht erklärbare Gewaltakte auf: Herde am Waldrand Im Gras der Schonung weiden die Schafe. Der Schäfer zertritt den Parasol. Er bohrt die Hirtenschaufel in den Boden, unter den Hufen klingt die Erde hohl. Den Hund hat eine Unruhe befallen, daß er die längst verheilte Schwäre leckt. Den Schäfer verwundert plötzlich das Wachsen der Wolle, wie er ein Spinngewebe zwischen den Zähnen schmeckt.64

63 64

Bd. 1, S. 104 f. Dort steht im dritten Vers „zerrissnen“, weil Vieregg die spätere Auflage in der edition suhrkamp (1963) als Druckvorlage gewählt hat. Hier zitiert nach dem Typoskript für Huchel von 1947. 1949 in Untergrundbahn hat Eich zwischen der ersten und zweiten Strophe eine weitere eingeschoben, die nicht zu seinen besten gehört: „Ein Nordlicht war in der Nacht zu sehen / und die Liebste hat im Karren geweint. / Nur die Frauen oder die Tiere wissen, / wen der Himmel mit solchen Zeichen meint.“ (Bd. 1, S. 78 f.). 139

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Der Titel und der erste Vers beziehen sich auf die Tradition der bukolischen Dichtung, aber im Textverlauf entfaltet sich keine arkadische, von unentfremdet und sorglos dahinlebenden Hirten bevölkerte Landschaft. In der Umgebung von Eichs „Waldrand“ fehlen die obligatorischen zärtlichen Schäferinnen, die den untypisch groben Schäfer daran hindern könnten, den Parasol zu zertreten, immerhin einen „wohlschmeckende[n]“ Speisepilz65 und damit ein Symbol für die in Arkadien jederzeit bequem zur Verfügung stehenden naturgegebenen Nahrungsmittel. Da der Name des Pilzes eine Metapher ist – ‚Parasol‘ ist der Sonnenschirm –, transportiert er zusätzlich die semantischen Merkmale von Schutz und Abwehr, die durch die Handlungsweise des Hirten ebenso getilgt werden wie die Grundbedeutung der „Schonung“, die vielleicht in Arkadien zu finden wäre, aber nicht mehr in diesem Gedicht. Wenn der Schäfer im Anschluss an die Zerstörung des Parasols die Schaufel in die Erde „bohrt“, scheint auch diese Handlung keinen vernünftigen Zweck zu verfolgen. Sie fördert lediglich die Entdeckung zutage, dass „die Erde hohl“ klingt. Davor hat sich schon Büchners Woyzeck gefürchtet: „Es geht hinter mir, unter mir (stampft auf den Boden) hohl, hörst du? Alles hohl da unten. Die Freimaurer!“66 Kein Wunder, dass mit dem Bemerken der Fragilität des Bodens, auf dem man fest zu stehen glaubte, Tier und Mensch in Eichs Gedicht von Unruhe und Verwunderung „befallen“ werden. Nachdem der Schäfer mit dem „Parasol“ pars pro toto fundamentale Bestandteile des kulturellen Konstrukts ‚Arkadien‘ eliminiert hat, wird ihm das bisher wie von selbst geschehende „Wachsen der Wolle“ fragwürdig. Versteht man die Wolle und das Spinngewebe nicht nur im Literalsinn, sondern als Metaphern für den Text, erweist sich Herde am Waldrand als poetologisches Gedicht, das zwar wie Abgelegene Gehöfte eine literarische Tradition aufnimmt, die es aber – im Gegensatz zu Abgelegene Gehöfte und Inventur – gleichzeitig destruiert. Das ‚Gewebe‘, das ‚zwischen die Zähne‘ gerät, kann keinen neuen arkadischen Sehnsuchtsraum generieren. Die Zähigkeit, die das natürliche mit dem metaphorischen Spinnennetz gemeinsam hat, wird im Gedicht Ende eines Sommers aus Botschaften des Regens erkennbar, genauer: an seinem Verhältnis zum bisher unbekannten frühesten Stadium der Textgenese, das in der Auswahl für Huchel dokumentiert

65 66

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Meyers Großes Konversationslexikon (Anm. 58), Bd. 1, S. 192 s. v. „Agaricus“. Szene „Freies Feld. Die Stadt in der Ferne“. Georg Büchner: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Simm und Edda Ziegler. München 1988, S. 235 (Hervorhebung original).

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ist.67 Ende eines Sommers ist 1947 noch ein zweistrophiges, kreuzgereimtes Gedicht aus drei- bis fünfhebigen Versen mit freien Senkungsfüllungen: Ende eines Sommers Die Pflaumenfarbe geht schon ins Blaue. Unter dem Brückenbogen rauscht die Zeit. Der Vogelzug, dem ich mich anvertraue, mißt seinen Teil von Ewigkeit. Aber die schreckenden Reste des Sommers, ungetan und ungelebt, schweben als Mückenleib zwischen dem Geäste, in der Spinne unentrinnbares Netz geklebt.

Die Farbe der Pflaumen, die Pfirsiche, die rauschende Zeit „unter dem Brückenbogen“ kennt man aus der Fassung von 1955, wo sie in den neuen Kontext von Verzweiflung, Sterben und Tod integriert werden. Der zweite Vierzeiler ist irgendwann zwischen 1947 und 1955 ersatzlos gestrichen worden, wie es scheint. Aber ist es wirklich so? Das Ungetane und Ungelebte, das seinen Schrecken nicht verlieren kann, die „Reste“ und der ausgesogene „Mückenleib“ sind – wenn man die Spinne, ihr Gewebe und das [S]chweben als Metaphern für literarisches Schreiben liest – für immer im Textnetz des Gedichts aufgehoben. Diese Bildersprache eröffnet ein weites Spektrum von Möglichkeiten für die Dechiffrierung. Die Witwe des unbekannten Soldaten wird sich unter dem perennierenden Schrecken etwas anderes vorstellen als der Heimkehrer, die Germanistin etwas anderes als der Metzger Angstl, die KZ-Überlebende etwas anderes als ein Kriegsverbrecher und Peter Huchel etwas anderes als Günter Eich. Womöglich war diese leichte Erschließbarkeit einer der Gründe für die radikale Umarbeitung der Strophen. Auf dem Weg zum Druck wird der Text buchstäblich dunkler; das ‚Schreckende‘ im Gedicht von 1947 wird paronomastisch in die „Strecken“ des Vogelzugs übertragen, der „Mückenleib“ im Spinnennetz „zwischen dem Geäste“ wandelt sich zum „dunkle[n] Zwang“ im „Blattwerk“.68 Das Unterfangen, sich aus dem „unentrinnbare[n] Netz“ der Strophen von 1947 zu befreien, 67 68

Bisher unveröffentlicht und in Viereggs Werkausgabe nicht erwähnt. Vgl. das Gedicht Lesen im Gewitter aus Botschaften des Regens: „schwarzes Geäst, / Laubwerk, / in die Ordnung des Bösen gebracht“ (Bd. 1, S. 105). 141

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indem man den „Mückenleib“ der „schreckenden Reste“ durch Verschweigen und Verschlüsseln negiert, gelingt indes nur oberflächlich. Die 21 Wörter der Strophe mögen gelöscht sein, aber die Aufbewahrung des Typoskripts macht die Unentrinnbarkeit wieder erfahrbar: Wer das Gedicht einmal in dieser frühen Form gelesen hat, wird bei der Lektüre des in Botschaften des Regens gedruckten Gedichts spüren, wie die „schreckenden Reste“ weiterhin im Gedächtnis ‚kleben‘, und wer die Verse von 1947 nicht kennt, entkommt ihrem bis in die spätere Version fortwirkenden „dunklen Zwang“ ebenso wenig wie der „Klapper des Aussätzigen“: „halt dir die Ohren zu und ziehe dir nachts die Decke über den Kopf: / Die Klapper des Aussätzigen hörst du immer.“69

III Die Daseinsorte, die Eich in seiner Nachkriegslyrik entwirft, sind alle mehr oder minder lebensfeindlich. Sie unterwerfen ihre Bewohner peinigenden Gefühlen der Ausgrenzung und Unwillkommenheit oder sind von unbewältigten Erinnerungen imprägniert. Es sind Orte des im Wortsinne Un-Heimlichen, besonders, wenn sich in ihnen so Entsetzliches ereignet wie in dem Gedicht mit dem harmlosen Titel Der Nachmittag: „Die Aggregatzustände verändern sich. / Häuser werden zu Flüssigem und der Rauch zu Stein.“70 Noch abstoßender sind die Biotope des spießbürgerlich Heimeligen, wo man „voller Behaglichkeit in dem Zimmer“ sitzen kann, „das auf den Garten hinausgeht“, bei geschlossenen Fenstern, um „die Klapper des Aussätzigen“ nicht hören zu müssen.71 So verhält sich über hundert Jahre zuvor der junge Mann in Eichendorffs Gedicht Die zwei Gesellen, der untätig „aus heimlichem Stübchen / Behaglich ins Feld hinaus“ schaut.72 Das war schon 1818 eine Karikatur des frühbiedermeierlichen Eskapismus, der nach 1945 – angesichts der zeittypisch73 nicht differenzierten Opfer von Krieg und Shoah, für die der „Aussätzige“ steht – vollends degoutant geworden ist. Der problematische Rückzug ins häusliche Behagen beschäftigt Eich auch in dem Krypto-Sonett Der Mann in der blauen Jacke. Dessen Protagonist ist 69 70 71 72 73

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Bd. 1, S. 75. Bd. 1, S. 74. Bd. 1, S. 75. Eichendorff: Werke (Anm. 18), Bd. 1, S. 90. Eklatant in Hans Werner Richters Vorwort zur Anthologie Deine Söhne, Europa. Gedichte deutscher Kriegsgefangener. München 1947, S. 5 f., und in vielen dort abgedruckten Gedichten.

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offenbar ein Bauer oder Landarbeiter, denn er wird mit Männern verglichen, die „aus den Reisfeldern von Burma, / den Kartoffeläckern von Mecklenburg“ und „aus Weinbergen Burgunds und kalifornischen Gärten“ nach Hause gehen.74 Der Zeuge dieses Heimwegs scheint mit diesen Menschen und ihrer Lebensweise zu sympathisieren wie das Sprecher-Ich in dem Gedicht Ein Dorf am Flusse We des chinesischen Lyrikers Wang Wei (ca. 699–759), das Eich 1951 übersetzt hat: […] Wo Bauern sich begegnen, Plaudern sie eine Weile, Die Hacke auf der Schulter, Und haben keine Eile. Neid fühl ich vor der Muße Althergebrachter Welt, Und was ich singe, klagt, Daß Einfachheit verfällt.75

Die Hacke ist in diesen Versen nichts weiter als ein notwendiges Werkzeug des Bauern, ein unverdächtiges Accessoire in einem Ensemble, das einen halbwegs verständlichen Neid erregen kann. Was jedoch in der Nachdichtung eines 1200 Jahre alten, aus einem fernen Kulturraum stammenden Text als dekorative Chinoiserie hingenommen werden mag, ist zehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr ohne Weiteres reproduzierbar. Die Hacke auf der Schulter eines Mannes beschwört mittlerweile ganz andere Bilder aus jüngerer Vergangenheit herauf: Wenn die Lampe hinter beschlagenen Scheiben aufscheint, neide ich ihnen ihr Glück, das ich nicht teilen muß, den patriarchalischen Abend mit Herdrauch, Kinderwäsche, Bescheidenheit.

Neid auf ein Glück, das man selber nicht zu teilen gezwungen ist – das ist eine paradoxe Formulierung; eher zu erwarten wäre doch ein Bedauern, an diesem ‚Glück‘ nicht teilhaben zu dürfen. Die „Lampe“ erhellt aber ein nicht wirklich 74 75

Bd. 1, S. 98. Bd. 4, S. 398; laut Notizbuch am 6. Juni 1951 übersetzt. 143

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erstrebenswertes Lebensumfeld, eine dumpfe Atmosphäre von Küchenmief, Wäschedunst und „patriarchalischen“ Feierabendfreuden, die tatsächlich nur zu ertragen wäre, wenn man keine allzu großen Ansprüche an ein gelungenes Leben stellt. Mit der schockierenden Schlusswendung zu dieser Karikatur eines sehr kleinen Glücks decouvriert Eich denn auch die Verlogenheit und den Missbrauch, der in der Blut-und-Boden-Literatur mit der Überhöhung bäuerlichen Daseins getrieben wurde:76 Der Mann in der blauen Jacke geht heimwärts; seine Hacke, die er geschultert hat, gleicht in der sinkenden Dämmerung einem Gewehr.77

In der Nachbarschaft solcher Apotheosen des Bauernstandes geht die Die Pfarrersköchin78 ihrem Beruf nach. Wie auf einem Genrebild sieht man sie mit „Pfanne“ und „Emaillekanne“ hantieren und ein Gericht aus „Eiweiß, Lauch und Fisch“ zubereiten, sie „schwitzt im Feuerschein“, es riecht nach „Rauch“ und „Gewürzen“, die Nachspeise, eine „rote Grütze“, ist fast fertig – die Szene sieht aus wie „das kleine, scharfe Gemälde, das das Heimweh in sich trägt“, von dem Ernst Bloch gesprochen hat.79 Für diese nostalgische Miniatur ist die Strophenform aus vierhebigen, umarmend gereimten jambischen Versen der passende Rahmen; sie ist seit dem frühen 16. Jahrhundert in der deutschen Literatur heimisch und findet im 20. Jahrhundert „einigen Anklang insbesondere für Stimmungsbilder“.80 Doch die ‚Stimmung‘ ist nicht ungetrübt. Das vermeintliche Idyll ist dem Untergang geweiht; nur „das Netz der Spinnen“ sichert hier wie in vielen anderen Gedichten Eichs das Überleben im Medium der Literatur: Der Mesner zieht die Glockenschnur, im Echo schwingt das Netz der Spinnen. Unhörbar mahnt im Niederrinnen der rote Sand der Eieruhr.

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Schafroth: Günter Eich (Anm. 9), S. 56. Bd. 1, S. 98. Bd. 1, S. 98 f. Bloch: Dargestellte Wunschlandschaft (Anm. 59), S. 20. Horst Joachim Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen. München 1980, S. 231.

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Die Sprechinstanz bleibt in diesem Gedicht ohne Individualität und Namen, nicht einmal als Personalpronomen ist sie anwesend, als sei das Betreten der Pfarrhausküche verboten. Nicht viel besser ergeht es dem Mann, den Eich im Eröffnungsgedicht des Bändchens Untergrundbahn auf den „Weg zum Bahnhof“81 schickt. Er darf zwar in der ersten Person über sich sprechen, aber er ist einsam und betrübt: Weg zum Bahnhof Noch schweigt die Fabrik, verödet im Mondschein. Das Frösteln des Morgens wollt ich gewohnt sein! Rechts in der Jacke die Kaffeeflasche, die frierende Hand in der Hosentasche, so ging ich halb schlafend zum Sechsuhrzug, mich griffe kein Trauern, ich wär mir genug. Nun aber rührt der warme Hauch aus den Bäckerein mein Herz an wie eine Zärtlichkeit und ich kann nicht gelassen sein.

An den äußeren Umständen kann es nicht liegen, dass der Mensch so bedrückt ist. Der Ort, an dem er sich befindet, ist nicht per se unwirtlich oder gar unbewohnbar, die Fabrik ist kein grundsätzlich stilles Gebäude, sondern nur wegen der frühen Stunde ungeschäftig; es ist vor sechs Uhr und die Belegschaft noch nicht bei der Arbeit. Überhaupt bewegt sich der Müde in einem durchaus zivilisierten Gebiet mit funktionierender Infrastruktur; es gibt einen Bahnhof, und für die dringendsten Ernährungsbedürfnisse ist mit dem Kaffee in der Flasche und gleich mehreren Bäckereien in der Nähe gesorgt. 81

Bd. 1, S. 69; 1955 unverändert in Botschaften des Regens übernommen (Bd. 1, S. 91 f.). 145

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Die Ursache für die Nachdenklichkeit des Mannes ist aus der grammatischen Beschaffenheit der ersten drei Strophen zu erschließen. Könnte man „wollt“ (Vers 4) und „ging“ (Vers 9) noch für das Präteritum des Indikativs halten, signalisiert das eindeutig konjunktivische „griffe“ (Vers 11), dass die Binnenstrophen 2 und 3 durchgängig als Wunschbilder aufzufassen sind. Sie lassen erkennen, wie sich der Sprecher augenblicklich lieber fühlen würde, nämlich unberührt von Traurigkeit und zufrieden in sich ruhend. Er geht den Weg nicht regelmäßig oder gar täglich und ist Morgenkühle und Müdigkeit nicht gewohnt, sonst könnte „der warme Hauch der Bäckerein“ seinem Frösteln abhelfen, anstatt ihm in einer Art Proust’schem Madeleine-Moment eine verloren gegangene Geborgenheit ins Gedächtnis zu rufen.82 Die Schwermut des morgendlichen Fußgängers wird in Weg zum Bahnhof mit drei Gruppen aus vier zweihebigen Versen im halben Kreuzraum orchestriert, Verwandten einer seit dem frühen 18. Jahrhundert weitverzweigten Strophenfamilie, deren bekannteste Mitglieder Goethes überschäumend jubelndes Mailied und Conrad Ferdinand Meyers sanft dahingleitende Zwei Segel sind, Formen, deren „[m]elodischer Meister“ nach Horst Joachim Franks Urteil Clemens Brentano war.83 Auf die Empfindsamkeit und die Romantik rekurriert auch der Mond, von dem Eich sich eigentlich längst verabschiedet hatte: Im Fensterfrost, im weißen Farn steigt auf der Mond, so gelb wie Harn. Ich hasse ihn. Er wandelt still, verschönt, was nicht verschönt sein will, verfälscht mit seinem sanften Licht den Kot der Erde zum Gedicht […]84

Auf dem „Weg zum Bahnhof“ ist das Gestirn gleichfalls kein „[s]chöner, stiller Gefährt der Nacht“ und „Gedankenfreund“ wie bei Klopstock,85 sondern ein eher unspektakulärer Leuchtkörper, der nichts zur Aufhellung der Ödnis bei82 83 84

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Vgl. auch das Gedicht Pfannkuchenrezept, das ebenfalls einen solchen Erinnerungsschub darstellt (Bd. 1, S. 31 f.). Frank: Handbuch (Anm. 80), S. 84. Abschied vom Mond, Bd. 1, S. 265. Das Gedicht wurde zu Eichs Lebzeiten nicht veröffentlicht. Vieregg druckt es nach einer auf den 19. März 1948 datierten Handschrift; Eich hat es jedoch schon am 29. Januar 1947 an Oda Schaefer geschickt (Münchner Stadtbibliothek / Monacensia im Hildebrandhaus, OdS B 70). Die frühen Gräber. Friedrich Gottlieb Klopstock: Ausgewählte Werke. Hg. von Karl August Schleiden. München 1962, S. 108.

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trägt. Dafür hebt der „Mondschein“ als nicht ganz reines Reimwort das ersehnte ‚Gewohntsein‘ um so klarer hervor. Die Kluft zwischen Schein und Sein öffnet sich zudem im gespaltenen Reim „gewohnt sein“, der den Wunsch („gewohnt“) und die Wirklichkeit („sein“) auch auf der Formebene auseinandertreibt. Anders als in den ersten drei Strophen ist im abschließenden Vierzeiler die Schilderung der Gemütslage des Sprechers mit dem Metrum und den Reimen der Chevy-Chase-Strophe unterlegt, die durch Gleims preußische Kriegs- und Siegeslieder populär geworden ist und in deren durchgehend männlichen Kadenzen Lessing etwas „der kriegerischen Trommete ähnliches zu hören“ glaubte.86 Das ist keine angenehme Musik für sechs Uhr morgens, und gerade deswegen eignet sie sich gut zur dissonanten Untermalung einer Klage über Fremdheit und fehlende Gemütsruhe. Der monologische Charakter des Gedichts bringt es mit sich, dass man nach der Lektüre über den Gehenden nicht mehr weiß als das, was er im Selbstgespräch über seine psychische Verfassung verrät. Man erfährt nicht, ob er alt ist oder jung, welchen Beruf er ausübt, ob er eine Familie hat oder wie es um seine Wohnsituation bestellt ist; es ist nicht einmal ausgemacht, ob er mit dem „Sechsuhrzug“ zur Arbeit in die Fabrik fahren muss oder ob der Weg zum Bahnhof an ihr vorbeiführt. Wie bei den meisten in Geisenhausen entstandenen Gedichten steht das für seine Gastfamilie außer Frage: „Im ‚Weg zum Bahnhof‘ […] ist unschwer die Geisenhausener Bahnhofstraße zu erkennen.“87 Aber Eich hat den Namen des Ortes nicht ohne Grund verschwiegen. Er nennt keine topografischen Details, um die Festlegung auf eine genaue Lokalisierung auszuschließen und eine breite Palette von Interpretationsmöglichkeiten zu garantieren. Wie sorgsam Eich auf Diskretion in biografischer Hinsicht bedacht war, belegt sein Umgang mit dem Gedicht Wege, Wasser, Brücken88 von 1956. Darin überlagern sich zwei Orte, von denen sich einer anhand der „Isarbrücke“ leicht als Lenggries identifizieren lässt, Eichs Wohnort von 1956 bis 1963, während der andere explizit genannt wird: „Potsdam“ und seine „Havelbrücke“, die Heimatstadt des Freundes Hermann Kasack, dem Eich das Gedicht zum 60. Geburtstag widmen wollte. Er hat es nie veröffentlicht.89

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[Gotthold Ephraim Lessing:] Vorbericht. In: [Johann Wilhelm Ludwig Gleim:] Preussische Kriegslieder in den Feldzügen 1756 und 1757. Mit Melodien Berlin [1758], S. [VIII, unpag.]. Schmid: Günter Eich in Geisenhausen (Anm. 14), S. 275. Bd. 1, S. 274 f. Bd. 1, S. 521. 147

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IV Keiner der Figuren in Eichs Gedichten ist ein dauerhafter Wohnsitz vergönnt, der mit dem Begriff ‚Heimat‘ angemessen charakterisiert wäre. Das Wort kommt in seiner Lyrik nicht vor, und weil das Verb ‚wohnen‘ ebenfalls „gern das element des behaglichen, geruhsamen betont“,90 wird auch dieses nicht eindeutig positiv bewertet, sondern vornehmlich im Zusammenhang mit unzumutbaren Unterkünften gebraucht. In dem Gedicht Wo ich wohne zählt ein entnervter Mieter die absonderlichen Behelligungen auf, denen er sich ausgesetzt sieht: „Als ich das Fenster öffnete, / schwammen Fische ins Zimmer, / Heringe. […] / Sie sind lästig. / Lästiger aber sind noch / die Matrosen […].“ Die Mängelliste kulminiert in dem Entschluss: „Ich will ausziehen.“91 Aber wohin? Eich bedenkt in den Gedichten der 1950er und 1960er Jahre mancherlei Alternativen zu den vielen ungastlichen Lokalitäten seiner lyrischen Welt. Dabei verbietet sich eine fiktive Heimkehr in den eigenen biografischen Herkunftsraum, weil sein Geburtsort Lebus für die Verklärung zur trauten Heimat nicht taugt: „Hier gedeiht das Vollkommene nicht“, schreibt er in Oder, mein Fluß, und wen es dorthin verschlägt, der „geht bald wieder fort“.92 Da Eich sich schon in der Gefangenschaft als „mobiles Ich“ imaginiert hat, „das an keinen Raum und keine Zeit gebunden ist“,93 erscheint ihm eine Kombination von Bewegungsfreiheit und festem Zuhause als wünschenswerte Daseinsform. Im Gedicht Ende August hält sich der Sprecher an einem Totenort auf, von dem er sich gerne entfernt sähe: Mit weißen Bäuchen hängen die toten Fische zwischen Entengrütze und Schilf. Die Krähen haben Flügel, dem Tod zu entrinnen. Manchmal weiß ich, daß Gott am meisten sich sorgt um das Dasein der Schnecke. Er baut ihr ein Haus. Uns aber liebt er nicht.94 90 91 92

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Deutsches Wörterbuch (Anm. 35), Bd. 14/2, Sp. 1207. Bd. 1, S. 94. Bd. 1, S. 210 (Zitat aus der ersten Fassung), S. 211 (aus der zweiten Fassung). Vgl. zu diesem Gedicht Roland Berbig: Landschaft und Ort bei Günter Eich und Ilse Aichinger. Bremen 2017, S. 18–22. Arnold-de Simine: „Dies ist meine Mütze“ (Anm. 29), S. 337. Hier zitiert nach der Version in zwei vierzeiligen Strophen aus freien Versen (Bd. 1, S. 78). In dieser Form erscheint das Gedicht zuerst auf dem Typoskript für Peter Huchel, danach gedruckt im Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 2 (1948), Nr. 9, H. 3, S. 397, und in Untergrundbahn (1949). In Botschaften des

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Das „Dasein der Schnecke“ mit seiner Synthese aus minimaler Mobilität und dem Gottesgeschenk eines stabilen Hauses kommt Eichs Ideal recht nahe, hat allerdings den Nachteil eines recht geringen Identifikationspotenzials für die Leserschaft. In den Gedichten der 1960er Jahre wiederum verschlägt es Eichs Figuren in langweilige Neubaugebiete am Stadtrand – „Neubauten, ungeborene / Zimmer, nach zehn / bitte Stille im Sarg“95 – oder vollends deprimierende Quartiere wie das Aufgelassene Zollamt: „Hier ist der Ort, / wo wir bleiben“,96 und „die verlassenen Alterssitze […] / hier will ich wohnen, / wo kein Ziel erreicht wird“.97 Einen Mittelweg zwischen diesen trübseligen Behausungen und der unerfüllbaren Sehnsucht nach einem Schneckendasein hat Eich in den Botschaften des Regens gefunden. Er verbirgt ihn in einem Gedicht, dessen Vorform 1947 auf dem Blatt für Peter Huchel an erster Stelle steht: Zu einem japanischen Holzschnitt Wer hier auch schläft, aus seinem Traume ruft ihn ein gelber Vogel wach. Ein Roß bewegt das Haupt im Zaume und wartet unterm Binsendach. Wer will es reiten? Ach ein gelber, ein Vogel hat mich jäh erschreckt. Vielleicht bin ich der Schläfer selber, den er mit seinem Pfeifen weckt. Das rosa Pferd scharrt mit den Hufen. Verwischt sind Farben, Holz und Rohr. Wohin mich Roß und Vogel rufen, bald kommt es aus den Schleiern vor.98

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Regens (1955) ist der Zeilenfall verändert, der Text identisch mit den früheren Fassungen. Laut Eichs Notizbucheintrag vom 25. August 1947 sollte das Gedicht zuerst den Titel „Abend im August“ tragen.  – Im ersten Vers des Gedichts hat Roland Berbig „eine bitter-melancholische Persiflage auf Hölderlins ‚Hälfte des Lebens‘“ erkannt; Berbig: Am Rande der Welt (Anm. 2), S. 106. Bd. 1, S. 181. Bd. 1, S. 126. Bd. 1, S. 297. Hier zitiert nach dem Typskript für Peter Huchel. Das Gedicht wurde mit kleinen Änderungen am 31. Januar 1950 in der Zeitung Die Welt gedruckt, danach erst wieder in den postumen Werkausgaben, mit dem durchgehend mitgeschleppten Druckfehler „Zaune“ statt richtig „Zaume“ in Vers 3 (Bd. 1, S. 205). 149

Walter Hettche

Trotz des fernöstlichen Gegenstands wählt Eich eine durchaus konventionelle, gleichwohl „außerordentlich beliebt[e]“ Strophenform aus kreuzgereimten Vierhebern mit Auftakt und abwechselnd weiblicher und männlicher Kadenz, deren Ursprünge in „die Mitte des 14. Jahrhunderts“ reichen.99 In der Weiterentwicklung befreit er das Gedicht aus den Zwängen von Metrum und Reim: Japanischer Holzschnitt Ein rosa Pferd, gezäumt und gesattelt, – für wen? Wie nah der Reiter auch sei, er bleibt verborgen. Komm du für ihn, tritt in das Bild ein und ergreif die Zügel!100

Der einzige in dem Gedicht erwähnte Mensch ist der unsichtbare Reiter, der seine ‚Bleibe‘ im Verborgenen hat. Die drei Imperative „Komm“, „tritt“, und „ergreif“ weisen dem adressierten Du den Weg in einen menschengemäßen Lebensraum, indem sie auf eine in der Zukunft liegende Bewegung zielen: die Überschreitung der Grenze zwischen dem außerliterarischen Ort des Lesers und dem Binnenkosmos des Textes. Das Gedicht ermutigt Leserin und Leser, sich auf das im ‚japanischen‘ Sujet repräsentierte Fremde und die freie lyrische Form einzulassen – wie Günter Eich, der nach Botschaften des Regens ausschließlich reimlose, prosanahe freie Verse geschrieben hat. In Japanischer Holzschnitt redet kein Ich, das sich – wie der Sprecher in Eichendorffs Mondnacht  – im Irrealis „nach Haus“ träumen könnte.101 Das Gedicht lädt stattdessen zum Betreten des einzigen Raums, in dem ein Konzept wie ‚Heimat‘ zu denken ist: im Bereich des Spiels, der Fiktion, in Musik, Kunst und Literatur. In der sogenannten realen Welt gibt es dagegen auf die

99 Frank: Handbuch (Anm. 80), S. 232. Die Form ist die sechsthäufigste in der deutschen Lyrik. 100 Bd. 1, S. 104. 101 Eichendorff: Werke (Anm. 18), Bd. 1, S. 285. 150

Das Dasein der Schnecke

Frage nach dem einen Ort, an dem es sich zu leben lohnt, immer nur die resignierende Antwort, die Eich in einem seiner letzten Gedichte findet: Nach dem Ende der Biographie Vielleicht hätte sich Trapezunt gelohnt. Die schwarze Nordküste mit Vokabeln der Volksbücher. Er weiß es nicht, wußte es nicht, wird es nicht wissen.102

102 Bd. 1, S. 182. Das Gedicht ist in Eichs letztem Gedichtbüchlein erschienen, Nach Seumes Papieren (1972). 151

Bodo Plachta

Klaus Manns Schreibtische 1 Friedrich Schiller schrieb am 13. Mai 1789 dem Freund Christian Gottfried Körner, sein Schreibtisch sei das „wichtigstes Meubel“ in der soeben frisch bezogenen Wohnung.1 Er hatte sich den Schreibtisch zum Antritt seiner Professur an der Universität Jena, seiner ersten festen akademischen Anstellung, eigens anfertigen lassen. Er entsprach – wenn auch in schlichterer Ausführung – dem damals modischen Typus des Zylinderbureaus.2 Bei diesem Möbeltyp handelt es sich um einen in Frankreich entwickelten Schreibtisch, der mit einem zylindrisch geformten Rollverschluss versehen war. Zylinderbureaus waren nicht nur wegen ihrer kunstvollen Marketerien und Intarsien ästhetisch ansprechende Möbel, sondern sie waren auch aufgrund ihrer technischen Raffinesse, des Stauraums in unterschiedlich großen Schubkästen und Fächern sowie einer großzügig bemessenen Arbeitsfläche europaweit sehr gefragt. Legendär waren seinerzeit die prächtigen Zylinderbureaus aus der Manufaktur von David Roentgen in Neuwied, an denen sich auch Schillers Schreibmöbel stilistisch orientierte. Schillers Zylinderbureau besteht aus einem auf Vierkantbeinen aufliegenden Kommodenunterteil mit zwei großen Schubladen sowie einem kastenförmigen Aufsatz, der mit einer Rollzylinderklappe verschließbar ist.3 Aus dem geöffneten Aufsatz kann man eine Schreibplatte herausziehen. Gefertigt ist dieses Möbel aus einfachen, preiswerten Materialien, und zwar aus Kiefern-, Birnbaum- und Kirschholz. Für die Furniere wurde ebenfalls Birnbaumholz verwendet. Schiller, dessen Budget knapp bemessen und der überdies sehr spar1

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Schillers Werke. Nationalausgabe. Hg. von Julius Petersen und Gerhard Fricke, [seit 1948:] Hg. von Julius Petersen und Hermann Schneider, [seit 1961:] Hg. von Lieselotte Blumental und Benno von Wiese, [seit 1960:] Hg. von Norbert Oellers und Siegfried Seidel, [seit 1992:] Hg. im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Nationalmuseums Marbach von Norbert Oellers. Weimar 1943 ff., Bd. 25, S. 254. Wieland besaß ebenfalls einen Zylinderschreibtisch (heute: Wielandgut Oßmannstedt), und Goethe ließ einen als Geschenk für Charlotte von Stein anfertigen (heute: Schloss Kochberg). Martin Marquardt: Die Schreibkommode von Friedrich Schiller. Untersuchung und Entwicklung eines Restaurierungskonzeptes. In: Restauro 98 (1992) H. 6, S. 373– 381, hier S. 374 f. – Der Schreibtisch gehört heute zum Bestand des Schiller-Nationalmuseums in Marbach/Neckar.

Klaus Manns Schreibtische

sam war, bezahlte für das Möbel „zwei Caroline“ und war davon überzeugt, einen guten Kauf getätigt zu haben. Dieser Schreibtisch – und darin liegt seine symbolische Bedeutung  – markiert den Auftakt zur ‚klassischen‘ Phase von Schillers akademischer und literarischer Karriere mit allen ihren Licht- und Schattenseiten, die mit dem Schreiben verbunden sind: „Ich bin täglich 14 Stunden lesend oder schreibend, in Arbeit“.4 Schillers Jenaer Schreibtisch ist nur ein Beispiel von vielen erhaltenen Schreibtischen aus dem Besitz von Dichtern, Komponisten oder bildenden Künstlern. In Museen, Archiven und Gedenkstätten werden nicht nur Schreibmöbel als Einzelstücke verwahrt, manchmal haben sich sogar komplette Arbeitsräume samt Mobiliar erhalten. Betrachtet man Schreibtische und Arbeitszimmer mit dem Wissen, dass sie Orte und Kontexte der Textentstehung fixieren, dann nehmen wir gleichzeitig Autorinnen und Autoren in den Blick, die ihre Schreibumgebung einerseits bewusst gestalten, ja sogar regelrecht inszenieren und diese Inszenierung auch kommunizieren. Andererseits begegnen wir Arbeitsplätzen, die nur Mittel zum Zweck sind oder deren Erscheinungsbild dem Zufall geschuldet ist und von der Öffentlichkeit gänzlich unbemerkt blieben. In dem einen Fall sind Möbel reine Gebrauchsgegenstände, im anderen bedeutungsvolles „Lebenszubehör“.5 Mit welcher Perspektive man sich dem Phänomen Arbeitsplatz nähert, wir treffen zwar stets auf singuläre, individuelle und private Situationen, die aber in einer Orientierung an Vorbildern Züge von Kontinuität mit einem Hang zum Festhalten an Bewährtem haben.6 Arbeitsplätze sind, so kann man pauschal resümieren, immer Netzwerke aus „sichtbaren und unsichtbaren Verbindungen“,7 die wiederum auf variablen materialen wie immateriellen Gegebenheiten beruhen. Entsprechend hat Ingeborg Bachmann für das literarische Schreiben eingeschränkt: „Sie können einen Dirigenten sehen beim Dirigieren, einen Sänger 4 5 6

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Brief an Körner, 18. Juni 1790; Schillers Werke, Nationalausgabe (Anm. 1), Bd. 26, S. 26. Francis Watson: Die Geschichte der Möbel. In deutscher Bearbeitung. Übers. von Susanne Haisch, Tilmann Winkler und Armin Winkler. München 1979, S. 7. Hierzu Bodo Plachta: Werkstatt, Showroom, Archiv und Pantheon. Arbeitsräume von Schriftstellern, bildenden Künstlern und Komponisten. In: Die Werkstatt des Dichters. Imaginationsräume literarischer Produktion. Hg. von Klaus Kastberger und Stefan Maurer unter Mitarb. von Georg Hofer und Bernhard Judex. Berlin, Boston 2017 (Literatur und Archiv. 1), S. 29–45, hier S. 29 f. Markus Krajewski: Denkmöbel. Die Tische der Schreiber zwischen analog und digital. In: Archive für Literatur. Der Nachlass und seine Ordnungen. Hg. von PetraMaria Dallinger, Georg Hofer und Bernhard Judex unter Mitarb. von Stefan Maurer. Berlin, Boston 2018 (Literatur und Archiv. 2), S. 193–213, hier S. 194. 153

Bodo Plachta

beim Singen, einen Schauspieler wenn er spielt, aber es kann niemand sehen, was Schreiben ist.“8 Arbeitszimmer und Schreibtische überbrücken dieses Manko, indem sie quasi stellvertretend „einen Einblick in die ‚Blackbox‘ der literarischen Produktion, in den unsichtbaren Schaffensprozess“ gewähren.9 Bei der Beschäftigung mit realen Arbeitsplätzen können wir vielfältige Faktoren beobachten, die auf Form und Gestaltung einer Schreibumgebung Einfluss nehmen und die einem großen kultur-, sozial-, medien- und literaturgeschichtlichen und selbstverständlich einem persönlich-individuellen Reservoir entstammen. Diese Faktoren und ihre Auswirkungen haben bislang viel zu selten im Fokus der Betrachtung gestanden, denn sie öffnen andere Zugänge zum literarischen Schreiben als die uns geläufigen. Arbeitszimmer, Werkstätten und Ateliers markieren Orte, wo sich Künstlertum und jeweiliger Lebenskontext, aber auch Arbeits- und Werkstrategien lokalisieren lassen. Doch meistens sehen wir in diesen Orten nur den legendären, andächtig beschworenen und auratisch aufgeladenen ‚genius loci‘, obwohl wir durchaus die Möglichkeit haben, hier dem Künstler unvoreingenommen „als Menschen“10 zu begegnen. Martin Walsers Äußerungen über sein Arbeitszimmer und sein Bedürfnis nach häuslichem Komfort sind daher durchaus verallgemeinerbar, weil sie zunächst die Diskrepanz von Heimat und Fremde, dann aber die Abhängigkeit kreativen Arbeitens von einem wie auch immer gestalteten Kontext spiegeln: Ich arbeite nur am eigenen Schreibtisch im eigenen Arbeitszimmer. In jeder anderen Umgebung bin ich vollkommen unfähig zur Arbeit. In dem Raum, in dem ich sozusagen immer bin, spielt Zeit keine Rolle. Das ist die wichtigste Bedingung. Dazu kommt noch: in einem fremden Raum (in einem Hotelzimmer zum Beispiel) kennt man die Gegenstände nicht, sie erregen die Aufmerksamkeit, lenken einen ab, fremde Stühle scharren mit den Füßen, bis man wieder hinschaut, schon ist man gestört. Die Stühle zu Hause benehmen sich nicht so aufdringlich. Mit ihnen hat man seine Ruhe. Sie sind Bestandteil der Ruhe, die zur Arbeit nötig ist.11

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Ingeborg Bachmann: Werke. Hg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum, Clemens Münster. 4 Bde. 4. Aufl. München, Zürich 1993, Bd. 4, S. 294. Anne-Kathrin Reulecke: Der Schreibtisch im Exil. Thomas Manns schwimmendes Arbeitszimmer. In: Die Werkstatt des Dichters (Anm. 6), S. 215–234, hier S. 229. Heike Gfrereis: Didaktik des Schweigens. Das Literaturmuseum der Moderne des Deutschen Literaturarchivs Marbach. In: Der Deutschunterricht 61, 2009, H. 2, S. 20–29, hier S. 21. Zit. nach: Rudolf Walter Leonhardt: Kleine Soziologie schriftstellerischer Arbeit. In: Die Zeit 44, 27. Oktober 1961.

Klaus Manns Schreibtische

Diese Ausgangssituation hat zum einen Auswirkungen auf die individuell-persönliche Arbeitsumgebung eines Schreibers oder einer Schreiberin, sagt zum anderen etwas aus über das jeweils praktizierte Schreiben sowie über die Art und Weise, wie das Schreiben selbst wahrgenommen und beschrieben wird. Arbeitszimmer, die beim Betreten „Papierlawinen“12 auslösen, illustrieren dies ebenso wie Schreibtische, deren Benutzer an der „einmal getroffene[n] Anordnung“13 streng festhalten. Aber auch der die Sinne stimulierende Geruch verfaulender Äpfel, wie er aus Schillers Schreibtischschubladen aufgestiegen sein soll, ist ein signifikantes Beispiel für das enge Verhältnis zwischen Schreibtischgestaltung und Arbeitsprozess. Schreibkontexte werden weiterhin von Schreibmitteln und -materialien oder von Gegenständen aller Arten beeinflusst, die sich auf dem Schreibtisch befinden. Ihre Auswahl, ihr Arrangement und Gebrauch illustrieren nicht nur individuelle Vorlieben und Praktiken, sondern auch die Auswirkungen technischer Entwicklungen auf das Schreiben. Schreibfederhalter, Streusandbüchsen, Federmesser, Kerzen zum Siegeln, Kästchen für Siegellack, Tischglocken, Tintengefäße aus Metall oder Porzellan wichen der elektrischen Schreibtischlampe, dem Telefon, der Schreibmaschine, dem Computer oder dem Kugelschreiber, Tesafilm, Radiergummi, den Büroklammern und den bunten Klebezetteln. Wie schnell der Gebrauch neuer Schreibmittel die Arbeitsorganisation verändert, zeigt eine Äußerung von Elfriede Jelinek, für die die Umstellung auf den Computer „eine neue Art, Ordnung zu halten“ mit sich brachte: „Jemand“, führt sie aus, der so chronisch unordentlich und chaotisch ist wie ich, muß da schon lernen, seine Diskettensammlung zu organisieren, das Speichern nicht zu vergessen. Meine Texte sind sehr lang, es sind ganze Schachteln voll Disketten, und es ist eine Lebensnotwendigkeit, immer Sicherheitskopien zu machen und sie genau zu beschriften … Aber so unordentlich ich bin, so zwangsneurotisch bin ich beim Arbeiten mit dem Computer. Da herrschte von Anfang an Ordnung, denn es wäre ein Alptraum für mich, etwas zu verlieren, was ich einmal geschrieben habe. Weil es so viel Mühe macht zu schreiben.14 12

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Herlinde Koelbl: Im Schreiben zu Haus. Wie Schriftsteller zu Werke gehen. Fotografien und Gespräche. München 21998, S. 9 (mit Bezug auf das Arbeitszimmer von Friederike Mayröcker). Robert Musil in seiner Antwort auf die Umfrage nach der „Psychologie des dichterischen Schaffens“ von Magnus Hirschfeld 1928 in der Literarischen Welt; zit. nach: Vom Schreiben 4. Im Caféhaus oder Wo schreiben? Bearb. von Rudi Kienzle. Marbach/Neckar 1996 (Marbacher Magazin. 74), S. 59. Koelbl: Im Schreiben zu Haus (Anm. 12), S. 65 f. 155

Bodo Plachta

Es ist daher eine Binsenweisheit, dass räumliche und organisatorische Kontexte konkrete Auswirkungen auf das Schreiben haben. „Schreibort und Schreiben“ stellt Ursula Krechel trotzdem fest, „stehen in einem schwer definierbaren Bezug“, um fortzufahren: „Wie jeder Mensch einen Geburtsort hat (amtlich beglaubigt, ihm mythisch zugewachsen, gefälscht, eingemeindet in die fiktionalisierte Autor-Gestalt), so hat jeder Text einen Schreibort.“15 Virginia Woolfs Forderung nach einem „room of one’s own“, die Quietschtür („the cracking door“), die Jane Austen davor warnte, dass jemand das Zimmer betrat, in dem sie verbotenerweise dichtete,16 oder Kafkas ‚Schreibtisch- und Kanapeeleben‘, das er träumend oder halluzinierend für seine Schreib-„Verrichtungen“17 nutzte, sollen hier stellvertretend das Universum von Schreibumgebungen und die Skala unterschiedlichster Arbeitsbedingungen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern aufrufen. Wir haben in den zurückliegenden Jahrzehnten häufig und perspektivenreich über die Kontexte und die Materialien, die dem Schreibort und dem Schreiben überhaupt zugrunde liegen, nachgedacht. Der Schreibtisch als Zentrum all dieser Prozesse spielte jedoch eine eher periphere Rolle.18 Dabei gehören Arbeitszimmer und insbesondere Schreibtische zu den Höhepunkten einer Besichtigung von Dichterhäusern,19 weil gerade hier der authentische, genau zu bezeichnende Ort, an dem Literatur entstanden ist, das „Eingangsportal“ bildet, durch das Besucher „die Welt der Literatur“ betreten.20 Sicherlich ist es eine Illusion zu glauben, an solchen Orten gelinge durch den „materiellen Kontakt“ der „mit der imaginären Welt der Literatur“, doch gerade dieser „through the looking glass-Effekt“ macht das Dichterhaus zu einer außergewöhnlichen

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Ursula Krechel: Ausgesetzt in Einfallsschneisen; zit. nach: Vom Schreiben 4 (Anm. 13), S. 6. Vgl. Severin Perrig: Am Schreibtisch großer Dichter und Denkerinnen. Eine Geschichte literarischer Arbeitsorte. Zürich 2011, S. 75–79. Franz Kafka: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. von Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit. Frankfurt a. M. 1982– 2014; Tagebücher, Textband, S. 875. Vgl. Bodo Plachta: „episches Hausgerät“. In: Text – Material – Medium. Zur Relevanz editorischer Dokumentationen für die literaturwissenschaftliche Interpretation. Hg. von Wolfgang Lukas, Rüdiger Nutt-Kofoth und Madleen Podewski. Berlin, Boston 2014 (Beihefte zu editio. 37), S. 289–303. Hierzu Bodo Plachta: Dichterhäuser. Mit Fotografien von Achim Bednorz. Darmstadt 2017. Dichter und ihre Häuser. Die Zukunft der Vergangenheit. Hg. von Hans Wißkirchen. Lübeck 2002, S. 5.

Klaus Manns Schreibtische

musealen Einrichtung21 und das Arbeitszimmer zu einem ergiebigen Untersuchungsgegenstand. Obwohl das Schreiben eigentlich nicht an einen bestimmten Ort gebunden ist, und auch auf einem Stein sitzend, im Liegestuhl, im Caféhaus, im Hotel, im Zug, auf dem Schiff, am Strand, im Bett, auf dem Balkon oder in der Sofaecke stattfinden kann, spielen Schreibtische in Selbstäußerungen von Autorinnen und Autoren eine erhebliche Rolle. Der „Physiognomie des Schreibortes“22 wird viel Aufmerksamkeit geschenkt, wobei die Perspektive auf das Schreibmöbel selbstverständlich wechselt und nicht selten von Ritualen oder exzentrischen Befindlichkeiten beeinflusst ist. Schreibtische sind prädestiniert, den „Rahmen“23 für das Schreiben vorzugeben. Goethe favorisierte Schreibtische, die „ganz simpel“ sind, „aber schöne Formen“ haben,24 und Jean Paul gibt sich ebenfalls bescheiden: „Ich meines Orts brauche blos einen elenden altväterischen mit einer Schublade versehenen Schreib- und Schmiertisch; (um Gottes Willen keinen verfluchten zarten Sekretair von Mahagony!) Kurz einen Tisch, dessen sich der schlechteste Kanzlist schämen würde.“25 Stifter nennt seinen aus der Renaissance stammenden massiven Delphinschreibtisch, der im Nachsommer ausführlich beschrieben wird, bedeutungsschwer einen „Schreibschrein“.26 Annette von Droste-Hülshoff erlebte ihren Arbeitsplatz als eine „Arche Noah von angefangenen Arbeiten“.27 Für Gottfried Benn war der Schreibtisch der „Mittelpunkt“ seines Arbeitszimmers, das zugleich ärztliches Sprechzimmer war.28 Bei Heinrich Böll fungierte der Schreibtisch als „Ein21

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Harald Hendrix: Philologie, materielle Kultur und Authentizität. Das Dichterhaus zwischen Dokumentation und Imagination. In: Die Herkulesarbeiten der Philologie. Hg. von Sophie Bertho und Bodo Plachta. Berlin 2008, S. 211–231, hier S. 223. Vom Schreiben 4 (Anm. 13), S. 21. Martin Stingelin: ‚Schreiben‘. Einleitung. In: „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. Hg. von Martin Stingelin in Zusammenarb. mit Davide Giuriato und Sandro Zanetti. München 2004 (Zur Genealogie des Schreibens. 1), S. 7–21, hier S. 8. Brief an Adam Friedrich Oeser, 15. Juni 1778; Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 133 Bde. in 143. Weimar 1887–1919, Abt. IV, Bd. 1, S. 231. Brief an Emanuel Osmund, 29. Juli 1804; Jean Paul  – Sämtliche Briefe digital; https://www.jeanpaul-edition.de/brief.html?num=IV_488 (20.5.2021). Adalbert Stifter: Werke. Hg. und mit Nachworten versehen von Uwe Japp und Hans Joachim Piechotta. 4 Bde. Frankfurt a. M. 1978, Bd. 3, S. 70. Brief an Elise Rüdiger, 2. August 1845; Annette von Droste-Hülshoff: Historisch-kritische Ausgabe. Werke. Briefwechsel. Hg. von Winfried Woesler. 14 Bde. in 28. Tübingen 1978–2000, Bd. X,1, S. 299. Zit. nach: Vom Schreiben 4 (Anm. 13), S. 66. 157

Bodo Plachta

stiegs-Vehikel“29 für das Schreiben überhaupt, Thomas Bernhard erlebte das Arbeitszimmer als „Denk- und Schreibkerker“,30 manchmal sogar als „Narrenhaus“.31 Hermann Hesse oder Arno Schmidt ließen sich Schreibtische nach genauen Vorgaben, Zeichnungen und Maßangaben anfertigen. Hesse legte Wert auf Funktionalität und Solidität, Schmidt rühmte das Ergebnis des Tischlers als „ein Hölzernes Meer von 3 Quadratmetern“,32 an dem er, umgeben von seinen Zettelkästen, arbeitete. Wolfgang Koeppen erkannte seinen „unaufgeräumten Schreibtisch“ als Abbild eines „nichtvollendeten Lebens“,33 und Roland Barthes kopierte für sein Feriendomizil in Urt das Pariser Arbeitszimmer zwanghaft bis ins kleinste Detail.34 Exilautoren, ihrer Heimat beraubt und in ihrem Schreiben durch ständige Ortswechsel beeinträchtigt, haben darauf hingewiesen, dass sie überwiegend an Provisorien gearbeitet haben. Erich Maria Remarque dagegen legte seine Bücherhonorare bewusst in Kunstwerken wie einer wertvollen venezianischen Schreibtischantiquität an, während Nelly Sachs im Stockholmer Exil so beengt lebte, dass es für ihre Manuskripte nur Platz im „Küchenschrank“35 gab. Oskar Maria Graf ließ sich von dem vom Chiemsee stammenden Freund und Kunsttischler Hein Kirchmeier für seine New Yorker Exilwohnung Schreibtisch, Regale und Schränke schreinern, die er mit Postkarten, Bildern und einer Landkarte seiner Heimat beklebte.36 Im KZ, GULag oder Viehwagon auf dem Weg ins Lager suchte sich das Schreiben zwar

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Heinrich Böll: Werke. Kölner Ausgabe. Hg. von Árpád Bernáth, Hans Joachim Bernhard, Robert C. Conrad, Frank Finlay, J. H. Reid, Ralf Schnell, Jochen Schubert. 27 Bde. Köln 2002–10, Bd. 18, S. 203. Thomas Bernhard: Meine eigene Einsamkeit. In: Neue Presse, 24. Dezember 1965. Karl Ignaz Hennetmair: Ein Jahr mit Thomas Bernhard. Das notariell versiegelte Tagebuch 1972. Transkription Johannes Berchtold und Fritz Simhandl. 2. Aufl. Salzburg, Wien 2000, S. 467. Arno Schmidt: Der Platz, an dem ich schreibe. In: Ders.: Werke. Bargfelder Ausgabe. Hg. von der Arno Schmidt Stiftung. Werkgruppe III, Bd. 4. Bargfeld, Zürich 1995, S. 28. Wolfgang Koeppen: Auf dem Phantasieroß. Prosa aus dem Nachlaß. Hg. von Alfred Estermann. Frankfurt a. M. 2000, S. 683. Ottmar Ette: Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie. Frankfurt a. M. 1998, S. 391. Briefe der Nelly Sachs. Hg. von Ruth Dinesen und Helmut Müssener. Frankfurt a. M. 1984, S. 189. Elisabeth Tworek: Dichterschreibtische in der Monacensia. Orte der Erinnerung. In: Freunde der Monacensia e. V. Jahrbuch 2009. Hg. von Waldemar Fromm und Wolfram Göbel unter Mitarb. von Gabriele Förg, Kristina Kargl und Elisabeth Tworek. München 2009, S. 122–128, hier S. 122 f.; Grafs Schreibtisch befindet sich heute im Münchner Literaturarchiv Monacensia.

Klaus Manns Schreibtische

die „Nische eines persönlichen Sprachraums“,37 fand dann aber doch  – so Alexander Solschenizyn im Archipel GULag – „Nur im Kopf!“ statt.38 Auch das Schlachtfeld war ein Schreibort, der ebenfalls extremen Bedingungen unterworfen war. Andere Autoren wie Mörike oder Raabe zeichneten bzw. skizzierten ihre Arbeitszimmer samt deren Interieurs;39 wieder andere Autoren verweigerten den Blick in ihr Arbeitszimmer, weil sie, wie Sten Nadolny, der Ansicht waren: „Wenn die Menschen in mein Zimmer schauen, auch wenn es nur fotografisch ist, kann ich nicht mehr darin arbeiten.“40 Wieder für andere Autoren, deren Arbeitsweise vom Diktieren geprägt war, verlor der Schreibtisch an Bedeutung, an ihm saß nun der Sekretär. Schreibtische blieben sowohl als Möbeltypus als auch als Arbeitsinstrument im Laufe der Zeit stabil, während sich Schreibmittel und -materialen veränderten und damit den auf die Literatur einwirkenden Medienwandel in seinen historischen Etappen anschaulich machen. Schreibtische gehören trotzdem zur „dokumentarischen Materialität“41 von Schreibprozessen, zumal sie unaufhaltsam von der Peripherie ins Zentrum schriftstellerischer Arbeit rücken und schließlich sogar ganze Zimmer dominieren. Gerade weil Schriftstellerschreibtische sich in ihrer Funktion ausdifferenziert haben und ihre Benutzung von variablen Faktoren, etwa der Möglichkeit, Materialien temporär oder dauerhaft zu verstauen sowie der Disposition von Gegenständen auf der Schreibplatte, die sich aus den jeweiligen individuellen Rahmenbedingungen des Schreibens speisen, abhängig ist, lassen sie sich in das Konzept der „Schreibszene“ integrieren, als deren wesentliche Kennzeichen Rüdiger Campe ein „nicht-stabiles Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste“42 herausgestellt hat. Als Gegenstand der „Schreibszene“ gehört der Schreibtisch zu den „Begleitum37 38 39 40 41

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Günter Hirt, Sascha Wonders (Hg.): Präprintium. Moskauer Bücher aus dem Samizad. [Ausstellungskatalog.] Bremen 1998, S. 22. Alexander Solschenizyn: Der Archipel GULAG. Aus dem Russischen von Anna Peturning. Reinbek bei Hamburg 1978, Bd. 2, S. 445. Vgl. Vom Schreiben 4 (Anm. 13), S. 34 f., 39, 43. Koelbl: Im Schreiben zu Haus (Anm. 12), S. 9. Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Aus dem Französischen übers. von Ulrich Köppen. Frankfurt a. M. 1981, S. 183–190; zu dieser Materialität zählt Foucault u. a. „Bücher, Texte, Erzählungen, Register, Akten, Gebäude, Institutionen, Regelungen, Techniken, Gegenstände, Sitten usw.“ (S. 15). Rüdiger Campe: Die Schreibszene. Schreiben. In: Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Hg. von Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer. Unter Mitarbeit von Irene Chytraeus-Auerbach, Ralf Kaczerowski, Ralph Kray, Ute Peter, Bernd Schulte, Thomas Studer, Barbara Ullrich, Benno Wagner. Frankfurt a. M. 1991, S. 759–772, hier S. 760. 159

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stände[n]“,43 deren Spuren oftmals verloren oder verwischt sind und daher fallweise rekonstruiert werden müssen. Walter Benjamin hat nach einem Besuch von Goethes Arbeitszimmer in Weimar in einem ‚Denkbild‘ seine Überraschung über die Einfachheit dieses Schreibortes festgehalten und darauf hingewiesen, dass ein „Wille […] Figur und Formen in Schranken gehalten“ hätte.44 Das, was man nach Benjamin aus diesem Schreibort herauslesen könne, erfordere aber eine „Philologie, die diese nächste, bestimmendste Umwelt – die wahrhafte Antike des Dichters – vor uns eröffne.“45

2 Klaus Manns Schreibtische sind unbekannt, keiner seiner Schreibtische ist überliefert oder fotografisch dokumentiert. Wir müssen sogar davon ausgehen, dass er überhaupt nie einen eigenen Schreibtisch besessen hat. Trotzdem haben Klaus Manns Schreibtische eine symbolische und das an ihnen praktizierte Schreiben eine prototypische Bedeutung, nicht zuletzt auch für die Rezeption in der Nachkriegszeit. Diese Bedeutung speist sich vor allem aus der Tatsache, dass Klaus Mann zu den prominenten Exil-Autoren zählt, die von den Nationalsozialisten 1933 aus Deutschland vertrieben wurden und von einem auf den anderen Tag vom deutschen Literaturbetrieb abgeschnitten waren. Das Exil mit dem plötzlichen Verlust gewohnter und vertrauter kultureller und sozialer Umgebungen – Klaus Mann sprach von der Emigration als dem „Verlust der deutschen Basis“46 – spitzte die eigentlich unkonventionellen Lebens- und Arbeitsweisen eines Autors zu, der bis dahin sowieso den Großteil seines Lebens in Hotelzimmern und zur Untermiete in Pensionen verbracht hatte oder – mal nur wenige Tage, dann wieder Wochen und Monate – Unterschlupf bei Freunden oder der Familie fand.47 Die wenigen Versuche, in eigenen Apart43 44

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Uwe Johnson: Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt a. M. 1980. Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. 5 Bde. Frankfurt a. M. 1972–74, Bd. IV.1, S. 354. Ebd. Tagebucheintrag vom 27. Dezember 1933; Klaus Mann: Tagebücher. Hg. von Joachim Heimannsberg, Peter Laemmel und Wilfried F. Schoeller. 6 Bde. Reinbek bei Hamburg 1995, Bd. 1, S. 185. Im Wendepunkt erinnert er folgende Abschiedsszene: „Ich sehe mich die steinernen Stufen vom Eingang unseres Hauses [in München] herunterkommen und den Garten durchqueren, während Hans, der Chauffeur, mich draußen in der Föhringer Allee beim offenen Wagen erwartet. Es ist eine meiner vielen Abreisen, ich weiß

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ments zu leben, scheiterten sämtlich und erst recht im Exil. „‚Daheim‘  –“, bekennt Klaus Mann in seinem „Lebensbericht“ Der Wendepunkt, „das bedeutete für mich die Gastfreundschaft meiner Eltern oder eine Stube irgendwo, in einem armseligen Wirtshaus oder in einem ‚Palace‘ mit allem Komfort der Neuzeit.“48 So anstrengend diese Lebensweise auch erscheinen mag, sie wirkte sich nie schreibhemmend aus, denn Manns literarische Produktion war erstaunlich, und die Zahl der täglich geschriebenen Briefe ist auch heute erst ansatzweise abzuschätzen. Klaus Mann, der schon seit seiner Jugend viel und weit gereist war, hatte Lieblingsunterkünfte in Städten wie Paris, Zürich, Wien, Amsterdam oder New York, in die er gern zurückkehrte. Aber er verstand es auch sich zu arrangieren, sogar mit Unterkünften, in denen Schreiben kaum möglich war, weil das Zimmer „so infam hellhörig angelegt [ist], daß ich aus beiden Nebenzimmern alle Geräusche höre – vom Zähneputzen bis zu jenen, an denen schon jemand im Zauberberg mit Recht Anstoß nimmt“.49 Improvisation und jede Form von Behelf waren für Klaus Mann nichts Fremdes, Abschreckendes und Unüberwindliches. Seine Biografie – er selbst spricht von seinem „etwas komische[n] Vagabundenleben“  –50 ist von rasant wechselnden Lebensstationen, dem zwanghaften Bedürfnis, nichts verpassen zu dürfen,

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nicht, wohin ich fahre. Ich fahre irgendwohin, ich trage meinen Handkoffer, ein paar Bücher, den Regenmantel. Gerade da Hans mit einer höflichen kleinen Verbeugung den Wagenschlag für mich öffnet – ‚Zum Hauptbahnhof, Herr Klaus?‘ –, erscheint mein Vater am Fenster seines Schlafzimmers im ersten Stock. Es muß vier Uhr nachmittags sein  – seine Ruhestunde. Er trägt seinen dunklen Schlafrock, eine schöne Robe aus blauem Brokat, in der er sich fast niemals vor uns sehen läßt, und ist eben dabei, die Jalousien herunterzulassen. Aber er unterbricht sich in seiner Hantierung, da er den Wagen, das Gepäck, den Chauffeur und mich drunten in der Allee bemerkt. Wie deutlich ich das Bild vor Augen habe! Der Vater dort oben, im Rahmen des offenen Fensters … Und nun winkt er mir zu, mit einem müden und ernsten Lächeln. | ‚Viel Glück, mein Sohn!‘ sagte der Vater, mit halb scherzhafter Feierlichkeit. ‚Und komm heim, wenn du elend bist!‘“; Klaus Mann: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht. Mit einem Nachwort von Frido Mann. Reinbek bei Hamburg 172001, S. 244 f. – Es war übrigens der Chauffeur Hans Holzner – inzwischen als Nazispitzel gegen die Familie Mann tätig –, der Klaus Mann am 13. März 1933 zum Münchner Hauptbahnhof fuhr, wo dieser den Nachtzug nach Paris nahm und sich ins Exil begab. Klaus Mann: Der Wendepunkt (Anm. 47), S. 300. Brief an Katia Mann, 11. März 1935; Klaus Mann: Briefe und Antworten. 1922–1949. Hg. und mit einem Vorwort von Martin Gregor-Dellin. Golo Mann: Erinnerungen an meinen Bruder Klaus. Reinbek bei Hamburg 1991, S. 210. Brief an Lajos Hatvany, 12. August 1937; zit. nach: Fredric Kroll, Klaus Täubert: Repräsentant des Exils. Hamburg 2006 (Klaus-Mann-Schriftenreihe. Bd. 4.2), S. 970. 161

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turbulenten persönlichen Beziehungen, homosexueller Promiskuität und einem permanenten, zeitweise sogar ungezügelten Drogenkonsum geprägt. Das mag in den 1920er Jahren noch einem bohemehaften Lebensgefühl entsprochen haben. Doch diese ungebremste Dynamik war schon zu dieser Zeit Auslöser von Depressionen, Zusammenbrüchen und Selbstmordgedanken. Ruhelosigkeit und Nervosität, das erwähnte fast manische Schreibpensum („Arbeit als Rettung“;51 „Schreiben ist die mir eigentlich natürliche Beschäftigung“52) und die Unfähigkeit, dauerhaft einen eigenen Lebensrahmen zu definieren, ziehen sich wie ein roter Faden durch diese Schriftstellerexistenz. Sie finden Niederschlag in den Romanen und prägen ihre Figuren. Zu diesem Leben scheint kein fester Schreibtisch zu passen, denn ein Schreibtisch ist ein „Regulativ“, das Distanz zum Schreiben schafft.53 Klaus Mann fürchtete solche Formen von Distanz, denn sein Schreiben erhielt einen wesentlichen Antrieb gerade durch Distanzlosigkeit, Neugierde und Offenheit für unterschiedlichste Themen. Trotz aller Ortslosigkeit, der ständig drohenden Entwurzelung und Furcht vor einer zusammenbrechenden Existenzgrundlage lebte Klaus Mann nicht im Chaos. Sein Alltag war auf das Schreiben und Aktivitäten ausgerichtet, die damit in Zusammenhang standen. Aber – und hier traf sich sein Realitätssinn mit dem der Schwester Erika – gerade in der Exilzeit dienten Ortswechsel auch der Sicherheit, und der Entschluss, in die USA zu emigrieren, fiel den Geschwistern deshalb leichter als ihren Eltern Katia und Thomas Mann. Der Vater fragte sich noch 1936: „Warum bringt man sich nicht in Sicherheit. Man lebt mit eigentümlichem Fatalismus in den Tag und in das Chaos hinein.“54 Anders als die Eltern, die auf ihr gewohntes Lebensumfeld nicht verzichten wollten, war es für Klaus Mann kein Problem, seine Bedürfnisse einzuschränken oder der jeweiligen Situation anzupassen. Der Notbehelf war ihm nicht fremd. Während die Eltern stets auf einen repräsentativen Lebensstil achteten und lange um den Transport des in München zurückgelassenen Interieurs ins Schweizer Exil kämpften, legte der Sohn mehr Wert auf die Fortsetzung seiner persönlichen Kontakte und investierte viel Energie in die gerade zu Exilzeiten bedrohte Kommunikation mit Freunden und Kollegen. Er war schon immer mit kleinem Gepäck unterwegs gewesen, musste nie große Umzüge organisieren und 51 52 53 54

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Tagebucheintrag vom 11. Mai 1934; Klaus Mann: Tagebücher (Anm. 46), Bd. 2, S. 33. Tagebucheintrag vom 3. August 1938; ebd., Bd. 4, S. 56. Nicole Schaenzler: Klaus Mann. Eine Biographie. Frankfurt a. M., New York 1999, S. 117. Thomas Mann: Tagebücher. Hg. von Peter de Mendelssohn und Inge Jens. 10 Bde. Frankfurt a. M. 1977–1995, Tagebücher 1935–1936, S. 383.

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Möbel oder Alltagsdinge retten. An diesem Lebensstil änderte sich auch im Exil kaum etwas, was nicht bedeutete, dass das Exil keine existenziellen Spuren hinterließ – ganz im Gegenteil. Klaus Mann pflegte – wie gesagt – einen großen Freundeskreis und sein Briefwechsel zeigt, dass er ein guter und gewiefter Netzwerker im Literaturbetrieb vor und im Exil war. Seine Umgangsformen waren perfekt, mit einem Anflug von Snobismus. Konzert-, Theater- und Kinobesuche, gute Restaurants und Partys mit kultivierten Gästen gehören zum Alltag und zu dem Notierenswerten im Tagebuch. Er legte Wert auf ein gepflegtes Äußeres und das gewissenhafte Ein- und Auspacken seiner Koffer sowie die Sorge um seine Bücher und Manuskripte werden ebenfalls mit buchhalterischer Attitüde im Tagebuch vermerkt. Meist ist diese Tätigkeit Routine, dann gibt sie aber auch Anlass zu Klagen und Grund für Zukunftsängste: „Bücher-Packen. Korrespondenz u. s. w. – Alle Koffer zu klein. Masse der sich sammelnden Papiere. Weiss nicht, wohin damit. Gefühl der Heimatlosigkeit.“55 Vor dem Exil deponierte er Bücher und Manuskripte im Münchner Elternhaus in der Poschingerstraße. Die Situation, nun nicht zu wissen, wo er seine persönlichen Dinge während seiner Reisen sicher aufbewahren sollte, beunruhigte ihn offenkundig. Diese Sorge legte sich, sobald die Eltern in ihrem Exil wieder einen festen Wohnsitz hatten und er seine Unterlagen wieder zu ihnen schaffen konnte. Seine Bücher und Papiere wanderten wohl mit den Eltern und deren Hab und Gut durch das Exil. Vermutlich ist das der Grund, dass sich Klaus Manns handschriftlicher Nachlass trotz aller Widrigkeiten gerade für die Zeit des Exils in überraschend großer Vollständigkeit erhalten hat. Ein weiterer Grund dürfte sicherlich in einer ständigen Aufmerksamkeit für die persönlichen, vor allem literarischen Dinge liegen, weil sie Ordnung und Sicherheit in diesem unruhigen Leben versprachen. Klaus Mann, der scheinbar ‚Unbehauste‘, hatte einen guten Blick für schöne Wohnungen und Interieurs, wie Romanszenen oder Beschreibungen in Briefen und Tagebuch zeigen. Er zeigt sich einerseits beeindruckt von der „malerische[n] Unordnung“ in André Gides Pariser Arbeitszimmer.56 Andererseits münden seine Beobachtungen in vernichtende Urteile, wenn er die „unwohnliche Wohnung“ seines Onkels Heinrich Mann in Nizza als „Möbellager“ bezeichnet und – obwohl er dessen Exilnöte kannte – das harsche, mit der Familientradition hadernde Urteil fällt: „Das halb Abenteuerliche, halb starr-Bürgerliche. 55 56

Tagebucheintrag vom 2. Juni 1934; Klaus Mann: Tagebücher (Anm. 46), Bd. 2, S. 36. Klaus Mann: Auf verlorenem Posten. Aufsätze, Reden, Kritiken. 1942–1949. Hg. von Uwe Naumann und Michael Töteberg. Reinbek bei Hamburg 1994, S. 458. 163

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(Lübeck.)“.57 Schreiborte spielen für Klaus Mann eine wichtige Rolle, und es gibt immer wieder – wenn auch knappe – Bemerkungen, in welchem Kontext Schreiben stattfand und vor allem produktiv war. Das können Hinweise sein, dass er sich in der New Yorker Public Library „nicht sehr wohl“ fühlt, weil er hier beim Arbeiten „nicht rauchen darf“,58 aber auch umgekehrt, dass er das Schreiben in ganzen Zügen genoss, wie im April 1936, als er in einem Zimmer des Hôtel de La Tour in Sanary-sur-Mer trotz massiver Drogenprobleme konzentriert an den letzten Kapiteln des Mephisto-Romans arbeitete: „Täglich neue Freude an dem Blick aus meinem Zimmer. – Grade jetzt, während ich schreibe, lasse ich mir die Sonne auf den nackten Oberkörper scheinen.“59 Die Arbeitszimmer von Kollegen und Kolleginnen nahm er genau zur Kenntnis, vielleicht weil er selbst nie eines hatte. Über das New Yorker Arbeitszimmer von Thomas Wolfe in einem stattlichen Haus an der 1st Avenue von Midtown Manhattan heißt es nach einem Besuch bei dem bewunderten Autor, dessen autobiografischen Roman Look Homeward, Angel (1929) er wegen seiner „Sturzflut von Assoziationen, Erinnerungsmotiven, Lebensfragmenten“60 sehr schätzte: von seinem Arbeitszimmer hatte man den schönsten Blick über den EastRiver, dessen Brücken und Schiffe im grauen Dunst eines nebligen Winternachmittags verschwammen. Bei unserem Eintritt stand der Dichter im Rahmen der offenen Balkontür, ein Riese mit seltsam kindlicher und weicher Miene, versunken in den Anblick der geisterhaft vorübergleitenden Frachtkähne und bleichen Boote. Er wandte sich nach uns um, deutete mit großer, sanfter Geste auf das verwunschene, undeutliche Panorama. | „It’s glorious, isn’t it? Den ganzen Tag lang könnte ich hier stehen und schauen.“ In seine Worte hinein klang eine Schiffssirene, ein schwermütig gezogener, klagender, lockender Ruf von den verschleierten Wassern.61

Klaus Mann zeigt sich nicht nur von dem Gespür Wolfes beeindruckt, sich in seinem Arbeitszimmer effektvoll in Szene zu setzen, sondern er verknüpft seine Beobachtung mit den „zugleich trivialen und geheimnisvollen, sonderbar suggestiven Episoden, aus denen die autobiographischen Romane von Thomas 57 58 59 60 61

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Tagebucheintrag vom 17. Juni 1936; Klaus Mann: Tagebücher (Anm. 46), Bd. 3, S. 58. Tagebucheintrag vom 11. Februar und 9. März 1940; ebd., Bd. 5, S. 17, 25. Tagebucheintrag vom 24. April 1936; ebd., Bd. 3, S. 46. Klaus Mann: Das Wunder von Madrid. Aufsätze, Reden, Kritiken 1936–1938. Hg. von Uwe Naumann und Michael Töteberg. Reinbek bei Hamburg 1993, S. 168 f. Klaus Mann: Der Wendepunkt (Anm. 47), S. 495.  – Der Besuch fand gemeinsam mit Erika Mann und Annemarie Schwarzenbach am 14. November 1936 statt; vgl. Klaus Mann: Tagebücher (Anm. 46), Bd. 3, S. 85.

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Wolfe sich zusammensetzen“.62 Die Begegnung mit diesem prototypischen „Poet[en] des Heimwehs“,63 der Deutschland kannte und bei Rowohlt verlegt wurde, formt sich in Manns Erinnerung zu einer Episode, in der Wolfes aus Bayern stammende und in New York kaum assimilierte „Zugehfrau“ ihren Auftritt hat und die „eine gräßliche Mischung aus bayerischem Dialekt und schlechtem Amerikanisch“ sprach.64 War der Empfang im Arbeitszimmer als effektheischende, aber freundliche Geste für die deutschen Gäste gedacht, wird die ebenfalls bewusst herbeigeführte Begegnung mit der „Zugehfrau“ zur neuerlichen Erfahrung kultureller, „in mancher Hinsicht feindlich-häßlich[en]“ Differenz: „War nicht Heimweh das Leitmotiv, das immer wieder abgewandelte, innig variierte Thema seiner epischen Dichtung? Da ihn jede Botschaft aus der provinziellen Welt seiner Herkunft aufs tiefste rührte und bezauberte, glaubte er wohl gar, daß der Klang einer bayerischen Stimme Empfindungen von ähnlich bitter-süßer, schwermütig seliger Art in uns auslösen müsse.“65 Solche Beobachtungen, so sentimental sie anmuten, illustrieren, dass Klaus Mann sich zeitlebens bewusst war, wie ambivalent, provisorisch und komfortlos seine Aufenthalts- und Schreiborte waren. Dennoch war er in der Lage, dieser Form von Heimatlosigkeit noch im Exil etwas Positives abzugewinnen und es als durchaus interessante Facette seines Selbstbildes in die Öffentlichkeit zu transportieren. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass er dieses „kräftezehrende Lebenstempo“ nie ernsthaft infrage stellte oder keine Distanz dazu entwickelte.66 Bereits Jahre zuvor, im August 1931, hatte er in der Berliner Zeitschrift Der Querschnitt einen in seiner Länge monströsen Gruß an das zwölfhundertste Hotelzimmer eingerückt: Zwölfhundertstes Hotelzimmer – sei mir gegrüßt! Sei mir gegrüßt, mit mäßig gutem Bett, Spiegelschrank, Kommode, wackeligem Schreibtisch; Mit rosa Nachttischlampe, abgeschabtem Teppich, Wasserkaraffe, Briefpapier, Kofferständer. Sei gegrüßt, Heimat seit einer halben Stunde, Heimat für zwei, drei oder vierzehn Tage –: Wirst du mir freundlich gesinnt sein?

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Ebd., S. 495. Fredric Kroll, Klaus Täubert: 1935–1937. Im Zeichen der Volksfront. Hamburg 2006 (Klaus-Mann-Schriftenreihe. Bd. 4.2), S. 776. Klaus Mann: Der Wendepunkt (Anm. 47), S. 496. Ebd., S. 497. Schaenzler: Klaus Mann (Anm. 53), S. 115. 165

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Werde ich bei dir ausruhen dürfen? Oder gibt es gleich Aerger, weil der Kellner mich neun geschlagene Minuten warten läßt, seit ich nach meinem Frühstück geklingelt habe? Neun bittere Minuten, die ich, zornig summend, zwischen Bett und Waschtisch spazierengehe; Neun verfluchte Minuten, zwischen Aufstehen und Café complet, die nicht mehr zur Nacht, noch nicht zum Tage gehören; Was kann ein Tag bringen, der so beginnt? Schlechte Heimat! Schon ist das Vertrauen dahin, das ich dir zunächst entgegenbrachte. – Werde ich nach Kleiderhölzern, Tinte, Aschenbecher, Papierkorb erst verlangen müssen, oder ist alles zur Stelle? (Was für eine Heimat wäre denn das, ohne Tinte und ohne Papierkorb!) Versuchest du ihn zu bluffen oder zu verblüffen, deinen Gast, deinen Schutzbefohlenen – Oder trachtest du vielmehr danach, sachlich für ihn zu sorgen? (Bluff scheint mir, wenn ich drei Glocken übereinander angebracht finde, für Kellner, Hausburschen, Zimmermädchen – noch dazu mit neckisch erläuternden Bildern, komisch flatterndem Frack des Kellners, Zimmermädchen, sich niedlich machend mit Besen: Es ist aber gleichgültig, auf welche Klingel man drückt, immer erscheint der Angestellte, der gerade nichts andres zu tun hat.) Wie ist der Nachtportier? Gestattet er mir, meinen Besuch mit aufs Zimmer zu nehmen, schaut höflich beiseite, wenn ich, mit gemachter Selbstverständlichkeit, vorbeischlendere an seiner Loge? Oder spielt er den Strengen – „bitte sich ins Schreibzimmer zu bemühen, gibt es noch was zu besprechen.“ Wie verhält sich das Bett? Ist die Steppdecke ganz appetitlich, garantiert frisch bezogen – Oder ein wenig klebrig, nicht kühl genug, von verdächtiger Weichheit? Oberkellner, schwatzest du mir zuviel, Trinkgeldlüsterner? Oder erklärst du mir gar, daß nach zehn Uhr morgens kein Frühstück erhältlich? (Bin ich in einem Gefängnis?) O Heimat von drei, vier Tagen, sechs Wochen, zweieinhalb Monaten – wieviel Enttäuschungen hast du mir schon bereitet! Wie hart und peinlich hast du sie schon bestraft, meine Unruhe, Unrast, meinen Ehrgeiz und mein Abwechslungsbedürfnis. Und es mich als Beschämung empfinden lassen, daß ich immer wieder zu dir zurückkehren mußte. –

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Aber freilich, wieviel Gutes hast du mir schon gewährt, wieviel Rührendes, Sanftes, Aufmerksames. Laßt mich euch danken, meine zwölfhundert kleinen Heimatländer! Ich schaue durch euch hindurch, Ihr reiht euch, eins hinters andere, in unendlicher Perspektive – Wie wenn man zwei Spiegel sich spiegeln läßt ineinander. (Badezimmer wie Grotten der Operndekoration). Nein, nicht wie zwei Spiegel. So ähnlich ihr euch nun scheint, so verschieden wart ihr euch doch. Ich sehe mich durch euch hindurchgehen, Kilometer um Kilometer. Kleiner Punkt, winzige Figur, die hartnäckig wandert, ganz allmählich herankommt; Dort länger verweilend, dort nur sehr flüchtig; Plaudernd mit Zimmermädchen, mit Kellnern, Portiers, Im Hotelzimmer lesend, schreibend, Freiübungen machend; Viel allein, manchmal mit Besuch Tee trinkend am Tischchen (schlechtes Gebäck). Einsame Nacht, da man über den Rand des Buches in eine Oede starrt, die den kleinen Raum ins Unendliche weitet. Liebesnacht im Hotelzimmer – oh, welcher Töne bedürfte ich, um deine Reize zu schildern, die, bitterer, zärtlicher, unverbindlicher, als Liebesnächte in anderen Zimmern sie kennen, den Geschmack des Endes in jeder Umarmung hatten. (Und draußen Meer und eine mondbeschienene Promenade; oder die große Stadt; oder das schwarze Gebirg.) Ihr verlorenen zwölfhundert! Ich glaubte, jeden von euch ohne Schmerzen hinter mir zu lassen, ihn gleich zu vergessen. Aber, ach, es waren zwölfhundert Abschiede – Ohne daß ich es merkte. Nach jedem von euch ist mir eine winzig kleine Sehnsucht geblieben. Ich trage eure Gerüche in meinem Herzen. Ich gehe dahin, schwer von zahllosen unbeträchtlichen und doch schweren Erinnerungen. Hotelzimmer des Südens, wo man unter einem Moskitonetz schläft, wie inmitten einer weißen Wolke; Gasthausstube auf dem bayerischen Land, mit schweren, rotkarierten Plumeaus, schweren Wasserkrügen, Blumenkästen am Fenster. Amerikanisches Hotelzimmer, mit Bibel und Eiswasser, und voll technischer kleiner Tricks (grünes Lämpchen flammt auf, wenn Post für dich unten).

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Französisches Zimmer, mit Kamin, geblümter Tapete, enorm breitem Bett, Paravent vor dem aufdringlich placierten Bidet; etwas staubig, etwas parfümiert. Spanisches Zimmer, mit Steinboden und Wasserhähnen, die so ungeschickt konstruiert am Rande des Beckens sind, daß man sich wirklich kaum die Hände waschen kann. Wiener Hotelzimmer, wo die Direktion einen fast allabendlich mit kleinen Geschenken überrascht (Blumenkörbchen, Petits fours) – Und ihr, ihr Berliner, in denen man den ganzen Tag telefoniert, und über die sonst nichts, nichts, nichts zu sagen ist. Schmutz des Balkans, Ostseegeruch vorm Fenster, Palmenallee der Riviera. Phantastisch orientalisch vermummte Zimmer in den Luxuskästen des fernen Ostens (Badezimmer wie Grotten in der Operndekoration). Schweizer Zimmermädchen. Arabische Magd, brauner Bursche in roter, gebeutelter Hose. Marmornes Treppenhaus, muffiges Treppenhaus, weißes, sachliches Treppenhaus. Legion der Speisesäle. Unendliche Ausblicke auf Gärten, Höfe, Promenaden, auf Hauptverkehrsstraßen, auf stille Winkel und auf das Meer. Oh, wie bestürmt ihr mein Herz mit scheinbar unbeträchtlichen und doch so schweren Erinnerungen (Badezimmer, Geruch des Hotelautobus). Wieviel von meinem Leben ließ ich bei euch. – Und da ich in dich eintrete, mein liebes Zwölfhundertstes, prüfe ich, mißtrauisch, aber zärtlich, kennerisch und doch mit unendlicher Wehmut, die Beschaffenheit deiner Bettdecken, deines Briefpapiers und des Schrankes, der wieder einmal nicht schließt.67

Das Hotel als Lebensform ist vielfach literarisch beschrieben worden, auch die dort mögliche glückliche Begegnung von Kunst und Leben. Doch das Gefühl, im Hotelzimmer nur eine Heimat auf Abruf gefunden zu haben, herrscht bei Klaus Mann persönlich und bei seinen Figuren vor, deren Lebensorte in den Romanen Treffpunkt im Unendlichen und Der Vulkan überwiegend das Hotelzimmer sind und damit zur Chiffre ihrer Heimatlosigkeit und einer Sehnsucht nach Stabilität und vielleicht auch nach Geborgenheit werden. Als „nomadisie-

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In: Der Querschnitt 11, August 1931, H. 8, S. 552–554.

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render Hotelbewohner“68 wurde Klaus Mann schließlich selbst zum personifizierten Exil. Mit der „Routine alter Globetrotter“69 arrangierte er sich mit jeder neuen Situation, indem er eingeübte Rituale vollzog: „Sobald ich irgendwo eintraf – in Prag, in Zürich, in Juan-les-Pins –, gleich wurde das Schreibmaterial, die kleine Handbibliothek ausgepackt und mit nervöser Pedanterie geordnet.“70 Ähnlich schildert er am 23. April 1937 die Ankunft im Prager Hotel Esplanade: „Et me voilà, de nouveau, dans une autre chambre d’hôtel … Schon fängt eine gewisse ‚Gemütlichkeit‘, durch die Verteilung von Büchern, Photographien u. s. w. an, sich herzustellen.“71 „Der Entwurzelte, der leicht Wurzeln schlägt“,72 so charakterisiert sich Klaus Mann. In dieser Äußerung spiegelt sich ein symptomatischer, mit Sorgfalt gepflegter Zug seiner Lebensweise, an die auch sein Vater nach dem Tod des Sohnes erinnert: „Wohin er kam auf seinen beständigen Wanderungen, in jedem Gast- oder Hotel-Zimmer, war sofort eine auf Arbeit abgesehene, nette Ordnung hergestellt: ein paar Bilder gehängt, ein paar Bücher gereiht, Photographieen verteilt, und er saß an der Schreibmaschine.“73 Sogar zwei Fotos, die während Klaus Manns Kriegseinsatz 1944/45 in amerikanischen Army-Camps während des Italien-Feldzugs der Alliierten entstanden sind, bestätigen den Eindruck des Vaters.74 Beide Schreibtischaufnahmen zeigen den Autor in Uniform bei der Arbeit an der Schreibmaschine. Klaus Manns Aufgabe war es u. a., Flugblätter, die an die deutschen Soldaten

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Klaus Hermsdorf, Hugo Fetting, Silvia Schlenstedt: Exil in den Niederlanden und in Spanien. Leipzig 1981 (Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933–1945 in sieben Bänden), Bd. 6, S. 115. Brief an Thomas Mann, 2. Juni 1936; Klaus Mann, Briefe und Antworten (Anm. 49), S. 260. Klaus Mann: Der Wendepunkt (Anm. 47), S. 300. Klaus Mann: Tagebücher (Anm. 46), Bd. 3, S. 128. Tagebucheintrag vom 29. Juli 1933; ebd., Bd. 1, S. 160. Klaus Mann zum Gedächtnis. Mit einem Vorwort von Thomas Mann. Amsterdam 1950, S. 9. – Ähnlich schildert Klaus Mann in einem Tagebuchbeintrag vom 4. Januar 1935, wie er sein Zimmer in der Amsterdamer Pension Hirsch einrichtet: „Gestern Photos aufgehängt und aufgestellt: das grosse, lebendige Bild von Mielein; Rickis Zeichnung mit den sich umarmenden Knaben, deren Münder die Linie eines Mundes bilden; E, als Märchenerzählerin am Pult; Miro, an der Schreibmaschine; Wolfgang, Babs, im Badeanzug an einem Photo-Apparat knieend; das Kind Skl., als ‚Erfinder‘, mit dem Segelschiff, das er ernsthaft betrachtet; eine italienische Zeichnung – Jünglingskopf mit einem verführerisch lebendigen, atmenden, strengen und weichen Mund. Das klassische Kinderbild, von E und mir, mit Mielein“; Klaus Mann: Tagebücher (Anm. 46), Bd. 2, S. 89. Abgebildet in: „Ruhe gibt es nicht, bis zum Schluß“. Klaus Mann (1906–1949). Bilder und Dokumente. Hg. von Uwe Naumann. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 282, 289. 169

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gerichtet waren, als Teil der psychologischen Kriegsführung zu entwerfen oder zu redigieren. Auch für Radiosendungen und Lautsprecherpropaganda an der Front schrieb er Texte, die den deutschen Soldaten ihre aussichtslose Lage schilderten und sie zu Kapitulation oder zum Desertieren ermutigten. Daneben verfasste er Beiträge für die Soldatenzeitung The Stars and Stripes. Das Ambiente, das beide Fotos festhalten und das beim Vormarsch der Truppen durch eine „Schlamm- und Felsen-Wildnis“75 schnell wechselte, ist erwartungsgemäß „primitiv“76 und schmucklos, nur an der Wand neben dem Schreibtischprovisorium sind jeweils Flugblätter geheftet, auf einem Foto ist sogar eine Porträtaufnahme des Vaters zu sehen. Beide Schreibszenen zeigen einen Autor, der sich seiner verantwortungsvollen Aufgabe bewusst ist und diese mit wenigen professionellen Mitteln, zu denen auch eine auf das Nötigste beschränkte Schreibumgebung gehört, zielstrebig verfolgt. Der Autor Klaus Mann inszeniert sich als schreibenden Angehörigen der US-Army am improvisierten Schreibtisch im aktuellen Kampfgeschehen und zeigt bei Freund wie Feind Präsenz.77

3 Klaus Manns Texte entstanden überall dort, wo es eine Schreibmöglichkeit gab, denn „das Schreiben war mir eine natürliche Funktion wie Essen, Schlafen, Verdauen“.78 Der Autor war nicht wählerisch, er passte seine Schreiborte seinem ruhelosen Leben an und reduzierte mit konsequentem Pragmatismus die Schreibbedingungen auf das Nötigste, wobei die Möglichkeit rauchen zu dürfen ein Grundbedürfnis war. Nicht einmal ein Tisch war erforderlich, denn für die Niederschrift seiner Texte benutzte Klaus Mann oft Schreibblöcke mit abreißbaren Blättern, die man notfalls auf die Oberschenkel legen konnte und auf diese Weise eine Schreibunterlage hatte. Erkennbar ist diese Schreibpraxis heute noch an den Perforationsspuren am oberen Seitenrand vieler Manuskripte.

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Klaus Mann: Der Wendepunkt (Anm. 47), S. 656. Ebd., S. 635. Bereits auf ihrer ersten USA-Reise ließen sich Erika und Klaus Mann zu Werbezwecken unter der Schlagzeile „Twin Geniuses Follow in Father’s Footsteps“ für eine amerikanische Zeitschrift (27. Februar 1928) fotografieren, wobei Klaus Mann an der Schreibmaschine sitzt und Erika Mann ihm begeistert beim Tippen zuschaut; abgebildet in: „Ruhe gibt es nicht, bis zum Schluß“ (Anm. 74), S. 87. Klaus Mann: Der Wendepunkt (Anm. 47), S. 300.

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Alternativ benutzte er Klemmbretter als Schreibunterlagen.79 Ein Foto aus dem Jahr 1939 zeigt ihn, wie er rauchend im Foyer seines New Yorker Lieblingshotels „Bedford“ – dem „Emigrantenhotel par excellence“80 – sitzt und ein Typoskript redigiert oder korrigiert, das er gerade seinem Klemmbrett entnommen hat. Klaus Mann schrieb vorwiegend mit der Hand, deshalb war der Diebstahl seines Federhalters während einer Behandlung in der Armee-Krankenstation von Florenz ein Ereignis, das er ausdrücklich im Tagebuch vermerkt: „Mein Füller gestohlen.“81 Nur für ‚geschäftliche‘ Briefe und später beim Verfassen von Flugblättern für die amerikanische Armee benutzte er die Schreibmaschine. Druckvorlagen für Artikel in Zeitungen und Zeitschriften tippte er ebenfalls. Bei der Anfertigung von umfangreichen Typoskripten als Druckvorlagen seiner Romane griff er vielfach auf die Hilfe professioneller Schreibkräfte zurück, denen er seine zunächst handschriftlich verfassten Texte diktierte. Ergänzungen und kürzere Überarbeitungen tippte er meistens selbst. Unter den Geschenken, die Klaus Mann 1931 zu Weihnachten erhielt, war eine Schreibmaschine. Offensichtlich war es seine erste Schreibmaschine, denn im Tagebuch berichtet er am 25. Dezember über noch unbeholfene Schreibversuche: „Angefangen, mich auf der Maschine zu üben […]. Will jetzt versuchen, auf der Maschine an Willi [Luschnat] zu schreiben. […] Noch einen Brief an Gert [Gertrud Wissing-Frank] (einen irren) auf der Maschine geschustert.“82 Dieser Tagebucheintrag ist für lange Zeit der einzige, der sich mit dem Schreiben auf der Schreibmaschine beschäftigt, denn das Schreiben auf einer Maschine gehörte schnell zum Arbeitsalltag, war deshalb nicht mehr erwähnenswert. Erst 1941, als Klaus Mann lange Monate in verschiedenen Camps der amerikanischen Army sowohl auf seine Einbürgerung als auch seinen Marschbefehl wartete, erregten die Schreibmaschine und der Soldat, der jede Minute seiner Freizeit an der Schreibmaschine verbrachte, bei seinen Kameraden Aufmerksamkeit. Augenscheinlich war es Klaus Mann gelungen, sich eine Schreibmaschine zu organisieren: „Die Konsequenzen aus dem 79

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Thomas Mann veränderte nach seiner Lungenoperation im Mai 1946 seine Arbeitsweise, verließ den Schreibtisch und nutzte nun auch das Klemmbrett, wie er in der Entstehung des Doktor Faustus erläutert: „das Schreiben in der Sofa-Ecke, auf dem Schoß das in die Metallklammer einer Unterlage gespannte Papier“; Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Frankfurt a. M. 1974, Bd. XI, 271. Diese „Arbeitspositur“ behält er bis zu seinem Tod bei. Curt Riess: Das waren Zeiten. Eine nostalgische Autobiographie mit vielen Mitwirkenden. Wien, München, Zürich, Innsbruck 1977, S. 179. Tagebucheintrag vom 1. September 1944; Klaus Mann: Tagebücher (Anm. 46), Bd. 6, S. 47. Ebd., Bd. 1, S. 22 f. 171

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Besitz einer Schreibmaschine. Kameraden kommen mit sonderbaren kleinen Bitten. Heute nachmittag, zum Beispiel, tippte ich jemandem die Überschriften für sein Fotoalbum: ‚Jennie (ein Hund), Lexington, Ky., August 1942…‘ etc.“83 Ausführlicher – sicherlich aus Mangel an wirklich Berichtenswertem – wird im Tagebuch die Geschichte eines Journalisten der Chicago Tribune notiert, der als erster amerikanischer Kriegsberichterstatter „einen Fallschirmabsprung mit Luftlandetruppen gemacht hat“. Erwähnenswert erscheint Klaus Mann dieser „Moderne Typ“ wohl weniger, weil ihm das abenteuerliche Draufgängertum imponierte, als vielmehr, weil der Journalist geschickt die mediale Wirkung seiner Aktion steuert: „Er trug eine schwere Schreibmaschine unterm Arm. Er verstauchte sich das Knie und brach sich eine Rippe, als er auf den Boden schlug, bestand aber darauf, weiterzuarbeiten ……. Was für ein sagenhaftes Bild! Der Journalist, der mit Schreibmaschine und allem vom Himmel fällt …. Etwas für Karl Kraus.“84 Die Schreibmaschine ist eine Chiffre, um Berufsethos und Arbeitsfähigkeit in jeder noch so kritischen Situation zu demonstrieren, sie ist aber auch Garant für ein als sinnvoll erfahrenes Leben, für das sich ein halsbrecherischer Sprung mit dem Fallschirm lohnt. Diese Auffassung teilten der auf seinen Einsatz wartende Soldat und der um eine seinen schriftstellerischen Fertigkeiten entsprechende Verwendung bittende Klaus Mann. Die Schreibmaschine ist, so lassen seine Aufzeichnungen wissen, seine eigentliche Waffe. Das entbehrungsreiche Leben als Soldat ist nur Mittel zum Zweck, um den Kampf gegen den Faschismus nun auch an der Front zu führen, allerdings nur mit der Schreibmaschine und in der eher sicheren Etappe. An Erika Mann schreibt er am 14. November 1943 „auf der schönen Schreibmaschine des First Sergeant“ über den Army-Alltag und die Reaktionen der Kameraden auf den Fremden an der Schreibmaschine: Das Exerzieren fällt mir ziemlich schwer, die langen Märsche machen mich recht müde, und mit der Flinte weiß ich noch immer nicht viel anzufangen. Du kennst ja meine manuelle Ungeschicklichkeit. Da läge es doch nahe, daß die Fußballspieler meiner spotteten, zumal ich ja auch sonst ein wenig aus dem Rahmen falle. Mein Akzent ist fremd, ich lese Bücher, soll sogar selbst welche geschrieben haben: Alles sehr zum Kichern! Man kichert aber nicht, sondern schmunzelt höchstens und nennt mich ‚the professor‘.85

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Tagebucheintrag vom 8. Juli 1943; ebd., Bd. 5, S. 151. Tagebucheintrag vom 16. Juli 1943; ebd., Bd. 5, S. 157. Klaus Mann: Der Wendepunkt (Anm. 47), S. 616 f.

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4 Klaus Mann besaß keinen Schreibtisch, der ihm wie für jeden anderen Autor und jede andere Autorin ständig als „ein Instrument des Schreibens, eine Fläche der Verräumlichung und Anordnung der Arbeitsprojekte und ein Raum für die Sammlung von Schreibwerkzeug und Erinnerungsstücken“ diente.86 Er schuf sich Alternativen, die provisorisch und wenig dauerhaft und trotzdem die Grundlage für eine gut eingespielte Schreibwerkstatt waren. Es waren eben nur der Situation geschuldete Alternativen. Sie waren fragil, aber im Ernstfall meistens zuverlässig und halfen, Ängste und Krisen schreibend zu bewältigen. Wenn, oder besser: weil die eigene Schreibsituation aus dem Rahmen des Üblichen fiel, wählte Klaus Mann im Wendepunkt wohl nicht ohne Absicht das Arbeitszimmer und den Schreibtisch seines Vaters Thomas Mann als Beispiel dafür, wie wichtig es war, im Exil über „Institutionen“ zu verfügen, „auf deren Dauerhaftigkeit man sich verlassen konnte“.87 Thomas Manns Schreibtisch und mit ihm eine Reihe von „Lieblingsmöbeln“88 waren das genaue Gegenteil von Klaus Manns nicht-existentem Schreibtisch. Die Möbel des Vaters gehörten ebenso unabdingbar zu Thomas Manns Schreibuniversum wie die Rituale seines Schreiballtags mit geregelten Arbeitsstunden, Mahlzeiten, Spaziergängen, Korrespondenz, Lektüre, sozialen Kontakten und Ruhephasen. Dieses Arbeitszimmer war ein exklusiver Ort von „sachdienliche[r] Bequemlichkeit“,89 den zu betreten es einer ausdrücklichen Einladung bedurfte, wie Klaus Mann berichtet: „Von neun Uhr morgens bis zwölf Uhr mittags muß man sich still verhalten, weil der Vater arbeitet, und von vier bis fünf Uhr nachmittags hat es im Hause auch wieder leise zu sein: Es ist die Stunde der Siesta. Sein Arbeitszimmer zu betreten, während er dort mysteriös beschäftigt ist, wäre die gräßlichste Blasphemie.“90 Gerade in unsicheren Lebensverhältnissen und unruhigen Zeitläuften während der Exilwanderschaft bildeten Thomas Manns Arbeitszimmer, seine Arbeitsbibliothek und natürlich sein Schreibtisch das „Kraftzentrum“,91 das Schreiben und Überleben sicherten. Golo Mann sprach später von Arbeitszimmer und Schreibtisch des Vaters als der „immer gleichbleibenden Anordnung 86 87 88 89 90 91

Anne-Kathrin Reulecke: Der Schreibtisch im Exil (Anm. 9), S. 232. Klaus Mann: Der Wendepunkt (Anm. 47), S. 423. Thomas Mann: Tagebücher (Anm. 54), 1933–1934, S. 80. So in dem Essay Vom schönen Zimmer; Thomas Mann: Gesammelte Werke (Anm. 79), Bd. X, S. 908. Klaus Mann: Der Wendepunkt (Anm. 47), S. 32. Inge Jens: Am Schreibtisch. Thomas Mann und seine Welt. Reinbek bei Hamburg 2013, S. 55. 173

Bodo Plachta

seines Lebens“, eine Form von Heimat, wo sich Thomas Manns „unbewußter Wunsch und Wille“ erfüllt habe.92 Dieser Schreibtisch, der nach vielen Anstrengungen und zuletzt mit „Kriegslist“93 aus München ins Exil gerettet wurde, „avancierte zum Symbol der Lebens- und Schaffenseinheit, der Beständigkeit, Festigkeit, Unbeirrbarkeit, ja einer letzten triumphalen Unberührbarkeit“.94 Er war – um mit Heinrich Heine zu sprechen  – Thomas Manns „portatives Vaterland“.95 Thomas Mann und der Komponist Arnold Schönberg96 sind die einzigen – mir bekannten – Exilanten, denen es gelang, ihre Schreib- und Arbeitsmöbel aus Deutschland zu retten und an ihren Exilorten wieder aufzustellen. Arnold Schönberg – so sein Schwiegersohn, der Komponist Luigi Nono – habe sein Arbeitszimmer immer als „ein Stück Wien“ bezeichnet.97 Thomas Mann vermerkt in seinem Tagebuch akribisch und stets mit großer Erleichterung, wenn der Schreibtisch am neuen Wohnort wieder aufgestellt, unangenehme Provisorien beendet, die gewohnte Schreibordnung wieder intakt und die gefürchtete „Ungewißheit des Arbeitszimmers“98 beendet war. Über die Aufstellung der soeben aus Europa eingetroffenen Möbel im Arbeitszimmer des Hauses in Princeton heißt es am 7. Oktober 1938: Mein Schreibtisch, Umstellung in der Library. Mein Münchener Lesestuhl, Medis Kopf, die Schweizer Uhr. Höchste Phantastik, die Dinge hier wieder um mich zu haben. Genaue Wiederherstellung des Schreibtisches, jedes Stück, Medaillen, ägyptischer Diener, genau an seinem Platz wie in Küsnacht u. schon in München. Ein paar Schubladen verwechselt, Verwirrung, 92

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Golo Mann 1962 bei der Eröffnung des Thomas-Mann-Archivs, zit. nach: Im Geiste der Genauigkeit. Das Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich 1956–2006. Hg. von Thomas Sprecher. Frankfurt a. M. 2006 (Thomas-Mann-Studien. 35), S. 387. Klaus Mann: Der Wendepunkt (Anm. 47), S. 423. Thomas Sprecher: Thomas Mann in Zürich. Zürich 1992, S. 38. Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. von Manfred Windfuhr im Auftrag der Landeshauptstadt Düsseldorf. 16 Bde. in 23. Hamburg 1973–97, Bd. 15, S. 43. Schönbergs Arbeitszimmer, das heute im Wiener Arnold Schönberg Center wieder aufgebaut ist, bestand in seiner Grundstruktur schon in den Mödlinger Jahren (1918–1925). Über Berlin gelangte es ins Exil nach Los Angeles; Bodo Plachta | Text, Achim Bednorz | Bild: Komponistenhäuser. Wohn- und Arbeitsräume berühmter Musiker aus fünf Jahrhunderten. München 2018, S. 178–180. Luigi Nono: Dokumente. Materialien. Hg. von Andreas Wagner für Netzwerk Saar. Saarbrücken 2003, S. 62. Eintrag vom 29. September 1938; Thomas Mann: Tagebücher (Anm. 54), 1937– 1939, S. 300.

Klaus Manns Schreibtische

Sperrung, dann Wiederherstellung. – Dies das Erste, was ich am eigenen Tische schreibe, angesichts des schönen Siam-Kriegers. –99

Arbeitszimmer und Schreibtisch waren für Thomas Mann sowohl in literarischer als auch in persönlicher Hinsicht ein „Symbol für gelingendes Leben“,100 ihre unbeschadete Existenz Garant für die Gewissheit, im Schreiben eine Handhabe gegen die faschistische Bedrohung von Zivilisation, Kultur und Recht zu haben. Arbeitszimmer und Schreibtisch sind nicht allein für Professor Cornelius in der Erzählung Unordnung und frühes Leid, sondern auch für den Autor selbst ein „gefriedetes Reich“, „wo er die Rolläden herunterläßt, die Schreibtischlampe andreht und sich zu seiner Arbeit setzt“.101 Auf diese Gewissheit konnte Klaus Mann nicht bauen, ebenso wenig auf die Tatsache, dass jeder neue Schreibtisch „Garant einer neuen Beheimatung“102 war. Keines der benutzten Schreibmöbel war sein Eigentum, jedes war nur ein vorgefundenes Gebrauchsmöbel auf Zeit, war Mittel zum Zweck. Dennoch war jeder einzelne Schreibtisch das „wichtigste Meubel“, das ihn durch sein ganzes Leben immer wieder aufs Neue als Symbol seiner Autorschaft begleitete. Während Klaus Mann sich mit Schreib-Provisorien zu arrangieren verstand, war der Vater vom einmal getroffenen Arrangement seiner Arbeitsumgebung lebenslang abhängig. Nur so konnte er die Selbstsicherheit seines Schreibens erreichen. Diese Selbstsicherheit spiegelt sich noch in der Tatsache, dass Schreibtisch und Arbeitszimmer als Teil seiner literarischen Hinterlassenschaft heute im Zürcher Thomas-Mann-Archiv zu sehen sind. Thomas Manns Schreibtisch ist museal geworden, und wir können ihn als ‚genius loci‘ betrachten.

5 Die Wanderschaft eines Schreibtischs durch das Exil und seine Rückkehr war die Ausnahme. Autoren und Autorinnen, die nach Deutschland zurückkehrten, richteten sich neue Arbeitszimmer mit neuen Schreibtischen ein; allenfalls Schreibmaschinen brachte man an den neuen Schreibort mit. Obwohl diese Arbeitszimmer als neuerliche Zäsur oder als Zeichen eines ambivalenten Neuanfangs empfunden wurden, hat sich die Erinnerung an das Exil in alle Räume 99 100 101 102

Ebd., S. 306. Inge Jens: Am Schreibtisch (Anm. 91), S. 173. Thomas Mann: Gesammelte Werke (Anm. 79), Bd. VIII, S. 639. Inge Jens: Am Schreibtisch (Anm. 91), S. 8. 175

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eingeschrieben. Zwei Beispiele: Anna Seghers ließ sich für ihre heute noch zu besichtigende Wohnung in Berlin-Adlershof von einem Schreiner einen schlichten, aber großen quadratischen Arbeitstisch anfertigen. An die dem Tisch gegenüberliegende Wand hängte sie das Autograf eines Briefs von Heinrich Heine an seine Mutter vom 27. Mai 1848,103 in dem es um Folgendes geht: Trotz gesundheitlicher Beschwerden, Schreibblockaden und der deprimierenden Erfahrung des Scheiterns der Märzrevolution von 1848 berichtet Heine von einem schönen Maitag, den er in einem „schönen Gartenhaus“ in Passy, einem Vorort von Paris, verbringt. Er beschließt den Brief scherzhaft: „Der Papagey schreit, und meine Frau läßt grüßen. | Eur getreuer | H. Heine.“104 Dieses HeineAutograf hatte Anna Seghers von ihrem Vater Isidor Reiling, einem Kunst- und Antiquitätenhändler, 1933 kurz vor ihrer Flucht aus Deutschland als Geschenk und ‚Notgroschen‘ erhalten. Sie verwahrte den Brief des 1831 aus Deutschland nach Frankreich vertriebenen Autors durch die Jahre der Emigration und trennte sich nicht von ihm. Heine war einer ihrer Lieblingsdichter, von dem sie sagte, er habe „alle Stationen der Emigration mit uns geteilt: Die Flucht und die Heimatlosigkeit und die Zensur und die Kämpfe und das Heimweh.“105 Auch in der Wohnung Bertolt Brechts in der Berliner Chausseestraße begegnen wir in fast jedem Raum Gegenständen, die an das Exil erinnern. So sehr diese Wohnung mit ihren „Viele[n] Tische[n]“,106 die über mehrere Zimmer verteilt waren und die Brecht für die Theaterarbeit und das Schreiben brauchte, im Vergleich mit früheren Wohnungen eine Form des Angekommenseins vermittelte, war die Erfahrung von Flucht und Exil in allen Zimmern gegenwärtig. 1949 hatte Brecht bei der Rückkehr nach Berlin in dem Gedicht Ein neues Haus notiert: „Immer noch | Liegt auf dem Schrank mit den Manuskripten | Mein Koffer.“107 Diese Skepsis dauerte an, als er in der neuen Wohnung das große Rollbild des ‚Zweiflers‘, die japanischen Nô-Masken, die kleinen chinesischen 103 Das Original des Briefs vermachte Anna Seghers der Berliner Staatsbibliothek, heute hängt hier ein Faksimile. 104 Heinrich Heine: Säkularausgabe. Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Hg. von der Stiftung Weimarer Klassik und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris. Paris, Berlin 1970 ff., Bd. 22, S. 276 f. 105 Anna Seghers: Abschied vom Heinrich-Heine-Klub. In: Dies.: Über Kunstwerk und Wirklichkeit. Bearb. und eingel. von Sigrid Bock. 3 Bde. Berlin/DDR 1970/71, Bd. 1, S. 205–208, hier S. 207. 106 Brechts Lai-Tu. Erinnerungen und Notate von Ruth Berlau. Hg. und mit einem Nachwort von Hans Bunge. Darmstadt, Neuwied 1985, S. 289. 107 Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlef Müller. Berlin, Weimar, Frankfurt a. M. 1988–2000, Bd. 15, S. 205. 176

Klaus Manns Schreibtische

Plastiken oder die großen, als Aschenbecher benutzten Zinnteller auspackte, denn sie standen stellvertretend für biografische und literarische Exilstationen. Durch ihre Präsentation in der Wohnung waren Brechts Erfahrungen als Flüchtling in der neuen Lebens- und Arbeitsumgebung ständig präsent und mahnten ihn zu Vorsicht und politischer Wachsamkeit. Dagegen gelang Klaus Mann nicht die Rückkehr in den deutschsprachigen Literaturbetrieb, ebensowenig gelang es ihm, einen festen Wohnort zu finden. Er machte sich darüber keine Illusionen, bereits am 20. Mai 1945 nach einem Besuch im kriegszerstörten München und angesichts der Ruine des Elternhauses hatte er in der amerikanischen Soldatenzeitung The Stars and Stripes entschieden: „You can’t go home again!“108 Einmal mehr erkannte er, dass seine Schreibtische nie in einem „gefriedeten Reich“ standen oder stehen würden. Daher war es nach der Verfolgung durch den Hitler-Faschismus eine besonders perfide Erfahrung, in der bundesdeutschen Presse als „Kominternagent“ verdächtigt und als Mitglied von „Stalins Fünfter Kolonne“109 diffamiert zu werden. Trotz vieler Anstrengungen gelang es Klaus Mann nirgendwo, einen Schreibtisch dauerhaft und endgültig aufzustellen, was vielleicht auch daran lag, das er den jungen literarischen Aufbruch in Nachkriegsdeutschland nicht wirklich zur Kenntnis nahm. Wurde Thomas Manns Schreibtisch bald als „Beweis für die Kontinuität der deutschen Kultur“110 im Exil wie eine Ikone verehrt, bestätigte das Bundesverfassungsgericht am 24. Februar 1971 das gegen Klaus Manns berühmtesten Roman Mephisto verhängte Verbot als grundgesetzkonform, wobei sich die Verfassungsrichter der exilskeptischen Einschätzung der Vorinstanzen anschlossen, bei Mephisto handle es sich um eine „Schmähschrift in Romanform“.111 Klaus Mann war ein Störenfried im bundesdeutschen Literaturbetrieb. Es dauerte in der Tat lange, bis seine 1947 getroffene Feststellung „Bücher von Exil-Schriftstellern sind in Nachkriegsdeutschland nicht erhältlich!“112 unzutreffend war und die Rezeption seiner Werke in der Bundesrepublik endlich nicht mehr blockiert war. Nun konnten auch seine Schreibtische Beachtung finden.

108 Zit. nach dem digitalen Dokument in der Monacensia; https://www.monacensiadigital.de/mann/periodical/pageview/134094 (20.5.2021). 109 Harry (Schulze-)Wilde: Vor einem neuen Novemberputsch? In: Echo der Woche 2, Nr. 63, 22. Oktober 1948. 110 Anne-Kathrin Reulecke: Der Schreibtisch im Exil (Anm. 9), S. 232. 111 Zit. nach: Bodo Plachta: Erläuterungen und Dokumente. Klaus Mann. Mephisto. Stuttgart 2008, S. 233. 112 Klaus Mann: Auf verlorenem Posten (Anm. 56), S. 393. 177

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Des Krieges und der Liebe Lehren Die Fremde in zwei Nachkriegsromanen Hilde Spiels und Geno Hartlaubs als Ort des Diskurses über Politik und Erotik Die Begriffe ‚Heimat‘ und ‚Fremde‘ sind in der Nachkriegszeit mit anderen Vorzeichen als heute besetzt: ‚Heimat‘ ist das (vielfach zerstörte) Umfeld, aus dem man stammt und zu dem man trotz des humanen, wirtschaftlichen und politischen Desasters noch immer eine gefühlsmäßige Bindung hat, aber auch eine große Unsicherheit erlebt: „[…] der Alltag [war] unbeschreiblich beschwerlich. Der Kampf um das Nötigste nahm uns voll in Anspruch, aber auch dies war begleitet von neuen zwischenmenschlichen Begegnungen und Erfahrungen. […] Anfangs überwog Verwirrung, Desinteresse, Skepsis. Wer sollte, wer mußte für all das schreckliche, grauenhafte Geschehen die Verantwortung übernehmen?“1 Bei ‚Fremde‘ denkt man in diesem Kontext eher an Fronteinsätze und Tod im Ausland oder an Gefangenschaft: „Sie [die gegenwärtig lebenden Schriftsteller] wissen beispielsweise nicht, daß der Hürtgenwald – er liegt so fern, im Westen unseres Lands, aber unendlich viele tote Soldaten, von den andern und von uns, bilden seinen Grund […] – sich unter ihren eignen Füßen ausbreitet, unter ihren verstockten Herzen, unter ihren denaturierten Hirnen […].“2 Eine andere Fremde wird bald wieder zum Sehnsuchtsort werden, wenn nach der Befriedigung der ersten existenziellen Nöte und begünstigt durch den wirtschaftlichen Aufschwung3 die Reiselust der Deutschen etwa ab 1952 wieder erwacht. Ob es der Schwarzwald ist, Italien oder gleich die ganze Welt – tou1

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Hildegard Hamm-Brücher: Nachdenkliche Erinnerungen an den geistig-kulturellen und politischen Neuanfang nach 1945. In: Literatur und literarisches Leben in Deutschland 1945–1949. Eine Ausstellung der Deutschen Bibliothek mit dem Arbeitskreis selbständiger Kultur-Institute e. V. Bonn 1989, S. 15–24, hier S. 17, 19. Hier wenigstens genannt werden sollen die auf persönlicher Erfahrung beruhenden Berichte von Stig Dagerman (Frankfurt a. M. 1987), Stephen Spender (Heidelberg 1995 u. ö.) und Margaret Bourke-White (München 1979). Wolfgang Weyrauch: Nachwort. In: Ders. (Hg.): Tausend Gramm. Sammlung neuer deutscher Geschichten. Hamburg [u. a.] 1949, S. 207–219, hier S. 212. Siehe dazu: Josef Heinrich Darchinger: Wirtschaft. Die Schlote rauchen wieder. In: Frank Darchinger (Hg.): Wirtschaftswunder. Deutschland nach dem Krieg. Germany after the war. Köln 2012, S. 104–145; Michael Kriegeskorte: Werbung in Deutschland 1945–1965. Die Nachkriegszeit im Spiegel ihrer Anzeigen. Köln 1992.

Des Krieges und der Liebe Lehren

ristisch gereist wird in steigendem Maße.4 Insofern verwundert es nicht, wenn auch in der Literatur der 1950er Jahre die Fremde einen durchaus sichtbaren Rang einnimmt.5 Anders als etwa Heinrich Böll oder Siegfried Lenz in ihren frühen Romanen und Erzählungen, in dem Krieg und Nachkriegszeit entscheidende thematische und ästhetische Parameter sind, beschäftigen sich Hilde Spiel (1911–1990) und Geno Hartlaub (1915–2007) nicht vorrangig mit (Über-)Lebensproblemen in Deutschland, sondern verlegen die Handlungen ihrer Romane nach Italien – sodass die Vermutung naheliegt, sie wollten literarische Eskapismus-Rezepte bieten: Spiels Flöte und Trommeln (1947) und Hartlaubs Die Tauben von San Marco (1953). Beide Autorinnen sind verschiedentlich in der Forschung behandelt worden, allerdings hält sich die Anzahl der Detailuntersuchungen sehr in Grenzen: Es sind vor allem Handbuch- und Lexikoneinträge sowie Würdigungen, mit 4

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Soziologisch aufschlussreich ist die Widerspiegelung des Reisens durch die Spieleindustrie in den 1950er Jahren, sowohl in der jungen Bundesrepublik wie in der DDR. Jörg Bohn: Reisespiele. In: Trödler, 2013, H. 4. Auch online: www.wirtschaftswundermuseum.de (20.5.2021). „In den 50er-Jahren war Italien das Traumziel der Deutschen. Mit Italien verbanden sie Sonne, Strand und Meer. Aber auch Kunst, Kultur und Dolce Vita. Gerade was das Essen betraf war Italien ein Land voller Exotik.“ Online: https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/Italien-Traumziel-der-Deutschen-in-50ern,urlaubsreisen100.html (20.5.2021). Da noch kein Massentourismus möglich war, blieb auch Italien für viele Deutsche zunächst ein Traumziel – war aber doch fest in den Köpfen verankert. Es seien nachfolgend nur einige wenige Prosawerke aufgeführt, in denen ein ausländischer Handlungsort dominiert. Es wäre aufschlussreich, den narratologischen Gründen für die Ortswahl nachzugehen und der Frage, was sie explizit zum Gehalt beiträgt; die Italien-Dominanz wird deutlich: Alfred Andersch: Die Rote. Olten, Freiburg i. Br. 1960 [Venedig]; Vicki Baum: Die goldenen Schuhe. Roman einer Ballerina. Köln, Berlin 1958 [New York]; Heinrich Böll: Irisches Tagebuch. Köln, Berlin 1957; P[aul] C[oelestin] Ettighoffer: Atomstadt. Roman. Bonn 1949 [Nordfinnland]; Gerd Gaiser: Gianna aus dem Schatten. München 1957 [Italien]; Werner Helwig: Capri. Lieblicher Unfug der Götter. Düsseldorf, Köln 1959; Gustav René Hocke: Der tanzende Gott. Roman. München 1948 [Süditalien]; Hans-Ulrich Horster [d.i. Eduard Rhein]: Die Toteninsel. Der Roman einer ausweglosen Liebe. Berlin 1951 [Südostasien]; Editha Klipstein: Hotel in Kastilien. Novelle. Berlin, Frankfurt a. M. 1951 [Spanien]; Alexander Lernet-Holenia: Der Graf Luna. Roman. Wien 1955 [Rom]; Edgar Maass: Don Pedro und der Teufel. Ein Roman aus der Zeit des untergehenden Rittertums. Hamburg 1954 [Peru]; Gerhard Nebel: Phäakische Inseln. Eine Reise zum Kanarischen Archipel. Stuttgart 1954; Joachim Rasmus-Braune: Schirokko, keinen entlässest du ungeglüht. Ein Sizilien-Roman. Darmstadt 1958; Frank Thiess: Tropische Dämmerung. Salzburg 1951 [Guatemala].  – Heimkehrer- und Kriegsromane sind in dieser kurzen Auflistung nicht berücksichtigt. 179

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denen die beiden bedacht wurden.6 Nun ist aber die Frage danach, warum in beiden hier behandelten Romanen Italien als Ort der Handlung gewählt wurde, keine marginale nach geschmacklichen oder regionalen Vorlieben. Vielmehr sind die Lokalitäten, in denen sich literarische Figuren bewegen, eine zentrale Kategorie hinsichtlich der Analyse und des Verständnisses des jeweiligen poetischen Textes.7 Es ist keinesfalls nebensächlich, dass Die Strudlhofstiege (1951) von Heimito von Doderer in Wien angesiedelt ist, dass sich Fontanes Schach von Wuthenow (1883) größtenteils in Berlin oder dass sich Aus dem Leben eines Taugenichts (1826) von Eichendorff zwischen Deutschland und Italien sowie in Rom abspielt. Die Lokalität bettet die Handlungen der Figuren in ein bestimmtes, sinngebendes Umfeld ein, andererseits bestimmen die Handlungen und Charaktere der Figuren die Auswahl dessen, was der Erzähler von der Lokalität zu bieten bereit ist. * Hilde Spiels Roman Flöte und Trommeln ließe sich zunächst leicht als eine psychologische Studie über eine junge Frau verstehen, deren Entwicklung zur Unabhängigkeit aus einer unbefriedigenden Beziehung gezeigt wird. Sandra reist mit ihrem Freund Konrad nach Italien, ihr Ziel ist das Hotel Danieli in Venedig; dort wollen sie ein anderes Paar treffen. An der Grenze gibt es jedoch Schwierigkeiten mit Sandras Pass, weil dies nur „ein kleines Papier [war], oft gefaltet und zerknittert und in französischer Sprache ausgestellt“.8 Darüber hinaus stellt sich heraus, dass ihre nationale Identität keineswegs dem üblichen

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Siehe dazu Heiner Schmidt: Quellenlexikon zur deutschen Literaturgeschichte. 3., überarb., wesentl. erw. u. auf den neuesten Stand gebrachte Aufl. Duisburg; zu Hartlaub: Bd. 10 (1997), S. 342, zu Spiel: Bd. 29 (2001), S. 443. Auch nach diesen Erscheinungsdaten hat sich dies nicht grundsätzlich geändert. Der Komplex des ‚spatial‘- oder ‚topographical‘-turn kann hier natürlich nicht aufgerollt werden. Es kann aber vorausgesetzt werden, dass erzählte Räume, die sich auf eine außerliterarische Realität beziehen (Köln, Eifel, Venedig, Italien etc.), sowohl Aufschluss über den „Wirklichkeitsbezug“ der Dichtung vermitteln und ein Hilfsmittel sind, die „Charakterisierung der räumlichen Selektionsstruktur“ und ein „zentrales Kennzeichen“ zu erfassen. Ansgar Nünning: Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung: Grundlagen, Ansätze, narratologische Kategorien und neue Perspektiven. In: Wolfgang Hallet, Birgit Neumann (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Bielefeld 2009, S. 33–52, hier S. 40. Hilde Spiel: Flöte und Trommeln. Roman. Hamburg: Wolfgang Krüger Verlag, 1949, S. 6; im Folgenden Seitenzahlen in Klammern nach den Zitaten.

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Durchschnitt entspricht. Sandras Vater ist Russe, ihre Mutter eine Irin mit amerikanischer Staatsbürgerschaft, ihre eigene bleibt im Dunkeln (6). Konrad, der einen ordentlichen Schweizer Pass vorweisen kann, ist charakterisiert durch bürgerliche Pendanterie, Engstirnigkeit und Einfallslosigkeit. Als Sandra eine Pause einschalten will, barfuß durch einen Bach watet, sich einen Kranz aus Vergissmeinicht flicht und schließlich um ihren Koffer bittet, wirft Konrad diesen aus dem Auto. Sandras Entscheidung, die Reise allein fortzusetzen, ist spontan und nicht begründet: „Es war eine herrliche Leichtigkeit in meinen Gliedern, ich fühlte den Wind auf meiner Stirn und das Flimmern des Abends vor meinen Augen.“ (8) Konrads Kommentar lautet: „Du bist verrückt“ (9), und Sandras Erwiderung ist unter anderem: „Ich bin nur die Katze, die allein spazierengehen will“ – „I am the cat who walks by himself […]“ (9). Die dahinterstehende Logik von Fantasie und Romantik, die grundsätzlich für das Verständnis des Romans ist, erschließt sich erst bei der Entschlüsselung dieser Szene:9 Es geht um die

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Die Analyse von Bettina Hawlitschek geht fast durchweg an den Intentionen des Textes vorbei. Dies.: Fluchtwege aus patriarchaler Versteinerung. Geschlechterrollen und Geschlechterbeziehungen im Frühwerk Hilde Spiels. Pfaffenweiler 1997 (Frauen in der Literaturgeschichte 8), S. 152–189. Hier nur drei Beispiele aus den ersten beiden Seiten für die Absurdität und Fehlerhaftigkeit der Argumentation mit dem Ziel, um jeden Preis mit einer „post-Freudsche[n] Teiltheorie“ (S. 5) die „patriarchalische Versteinerung“ (S. 63) zu dekonstruieren, die nach Auffassung von Hawlitschek das Frühwerk Spiels dominiert. Mit Sandra steht nicht „unverkennbar eine Vagabundin im Mittelpunkt der Handlung“ (S. 153). Das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm führt unter dem Lemma ‚Vagabund‘ an, dies sei ein „Landstreicher“ (die historischen Belege unterstützen diese Erklärung des aus dem Französischen stammenden Wortes). Sandra ist keine Landstreicherin ohne Ziel, die das Stromern zum Lebensinhalt hat, sondern sie sucht sich einen eigenen Weg. Das wird durch die englische Zeile unterstützt, die an der Stelle zitiert wird, als sich Sandra von Konrad trennt: „I am the cat who walks by himself, and all places […] are slike [!] to me. […]“ (9) Dies lässt Hawlitschek unkommentiert, obwohl hier einer der Schlüssel zu dem Roman liegt. Der erste Teil des Satzes ist der Titel einer fantastischen Erzählung Rudyard Kiplings von 1902, in der sprechende Tiere auftreten. Hier wäre schlichtweg ein intertextueller Ansatz nützlich, um diese Szene als Ausgangpunkt der Wanderung Sandras zu verstehen. Und schließlich ist die Charakterisierung des „opportunistischen“ Konrads als „Präfiguration“ der „später auftauchenden Faschisten“ (ebd.) einfach unsinnig und wird durch nichts im Text bestätigt. Konrad repräsentiert vielmehr die bürgerliche Welt der Schweiz, in die er wieder zurückkehrt. – Es ließen sich auf diese Weise Seite für Seite Fehler, Einseitigkeiten und Fehldeutungen aufzeigen, die Hawlitscheks Annahme, es ginge um die Kritik an Normen und Konventionen, indem Sandra „anarchistisch ein unweibliches Leben führt, das patriarchale[n] Gesetze außer Kraft setzt“, um doch in eine „typisch weibliche altruistisch-emotionale, helfende Existenzform“ zu münden (S. 189). Die Tätig181 https://doi.org/10.5771/9783967075397

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Lösung von überkommenen Denkmustern, um in Freiheit (wie immer diese aussieht) eine eigene Perspektive zu finden. Sandra mäandert, meist ohne Geld und zum Teil krank, durch Italien und lernt die verschiedensten Menschen kennen: u. a. den herzkranken Philosophen Ernesto Grave, den Maler André und den Schriftsteller Popow, deutsche Studenten, italienische Bauern, Wirte, Soldaten und Handwerker sowie den alten Komponisten Ferdinand Graupius. In ihren Gesprächen geht es zumeist um die Suche nach einer Wirklichkeit, die hinter den sichtbaren Fassaden existiert: „Für alle, die das Abseitige suchen, die subtilen kleinen Sensationen, hat Venedig einen eigentümlichen Reiz. Aber es liegt am Rand der Wirklichkeit, verstehen Sie, und es ist nicht Italien –“, sagt Grave (13). Hingegen ist die Wirklichkeit der einfachen Menschen die des Überlebens. In der Literatur Popows wiederum verwandelt sich die Komplexität der Wirklichkeit für Sandra in etwas, was keine Erkenntnis verspricht: „Sie [Popows Romane] enthielten Gedanken und Gefühle, die bestürzend richtig schienen. Aber wie ein krankes Gewebe das gesunde frißt, so fraßen die falschen Worte die echten, und aus Wahrheit wurde Lüge in den Romanen von Popow.“ (30) Sandras Reise endet zunächst auf Capri, wo sie zufällig Konrad wiedertrifft, der sie gar nicht wiedererkennt, so sehr hat sie sich verändert. Er hat inzwischen eine andere Frau getroffen, womit sich seine ursprünglich geplante Verlobung mit Sandra von selbst erledigt (108, 215 f.). Erneut trifft sie Grave wieder. In einem letzten grundsätzlichen Gespräch mit ihm enthüllt Sandra ihre Entwicklung: Ich habe nichts getan. Ich habe Männer und Frauen mit dem Tode kämpfen sehen und dabeigestanden, als ein Kind zur Welt gebracht wurde. Ich bin dem Schmerz, der Liebe, dem Ekel begegnet. Ich habe die Unmoral, die lächelnde Niedertracht kennengelernt. Schatten, Schatten, Grave. Es waren nur Schatten! Was für eine Leichtfertigkeit, mit der Welt umzugehen! Was für eine Flucht aus der Wirklichkeit! Die Wirklichkeit ist: ich habe eine Reise durch Italien gemacht. Und jetzt ist Krieg – (219)

Schon zuvor wird deutlich, dass der Roman nicht in einem zeitlosen Irgendwo spielt, sondern eingepasst ist in eine bestimmte Phase der italienischen Gekeit als Krankenschwester in Abessinien schließlich, für die sie sich entscheidet, soll ihr angeblich wieder eine „gewisse männliche Macht“ über die Verletzten verschaffen (ebd.) und die Schwesterntracht ihr erlauben, diese Macht unter dieser „Verkleidung“ zu „behalten“ (ebd.). 182

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schichte – damit wird der Grund, warum der Roman in Italien spielt, klar: Es ist die Zeit des beginnenden Faschismus, wie an mehreren Stellen deutlich wird: Der „beste Kopf, den das neue Italien uns zu bieten hat“, so charakterisiert der Student Felix den Professor Francesco Corà, der vom Rektor für seine Antrittsvorlesung auf das Podium geführt wird: „Der Vertreter des Fascio entbot den Römischen Gruß.“ (102) Oder: Es ist entschieden! Man bereitet einen Krieg, und er wird der erste sein in einer langen Kette. […] Die alten Statuen werden von ihrer Stelle gerückt und hauchen ihren Geist aus auf falschen Postamenten. Aber wo der Geist stirbt, entfesseln sich die maßlosen Triebe. Es geht bergab, Sandra, in rasender Eile bergab. Ein Mensch in dieser Zeit sein, heißt dem Abgrund zustürzen. (115)

Auch der Krieg wird genau benannt: Es ist der Abbessinienkrieg, der vom 3. Oktober 1935 bis zum 27. November 1941 dauerte: „Wieder werfen wir unsere Augen auf Afrika. Ein neues Karthago soll erobert werden, aber nicht von Scipio – von einem Macchiavelli, einem Gattamelata, einem Pippo Spano.“ (150) Derjenige, der am meisten verzweifelt, ist Grave. Er hat nach dem Ersten Weltkrieg die Hoffnung genährt, dass sich in Italien alles zum Besseren wenden werde: „Als ich aus dem Krieg kam und auf die Universität von Bologna – wie wollte ich es groß und edel und europäisch sehen! Aus den liebenswürdigen Gauklern, aus den Mondscheinschwätzern sollte ein besonnenes und ernstes Volk entstehen.“ Aber seine Hoffnung wird nicht erfüllt: „Haben die guten Geister keine Macht, keinen mitreißenden Schwung?“ (220) Grave kennt auch den Grund: Denn das Böse macht sich gut, und es ist zuweilen gut, voll sanftem Edelmut, so überzeugend umgibt es sich mit Tugend. Sandra, das und so vieles mehr kann man mit Worten sagen, aber die Menschen hören diese Worte nicht mehr. Die Menschen hören, was mit Pauken in ihre Ohren geschlagen wird. Sie hören die Trommeln, sie hören das heisere Geschrei. Aber die Stimme des Rufers in der Wüste muß verhallen – (221).

Graves Tod hat Sandra für die Entscheidung einer Lebenswende frei gemacht: Sie geht mit einem Arzt in ein Lazarett nach Afrika: „Wir schritten durch die Kontrolle. Niemand fragte nach meinen Papieren. Ich trug ein rotes Kreuz auf meinem Mantel und eine Schwesternhaube über meinem Haar.“ (225) 183

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Flöte und Trommeln ist alles andere als ein feministischer, zeitloser oder gar unpolitischer Roman.10 Es ist ein Roman, in dem sich Hilde Spiel am Beispiel Italiens mit der politischen Situation in Europa 1935 auseinandersetzt und die Reifung ihrer Hauptfigur durch die sozialen und politischen Umstände herbeiführt – allerdings führt die Reise Sandra bis an den Rand ihrer Existenz.11 Die Lokalität ‚Italien‘ ist hierbei nur eine sehr schwache Kaschierung der Intention Spiels, die Entwicklung in Deutschland zu kritisieren. Die Musikmetapher des Titels weist, allerdings vor der Lektüre nicht erkennbar, auf die Feinsinnigkeit der Kultur und die Brutalität der aktuellen politischen Situation hin. Insofern erhält der Raumbezug des Romans eine eminent politische Dimension. Eigentlich hätte er sowohl aufgrund seiner erzählerischen Leichtigkeit als auch wegen seiner humanistischen Grundtendenz ein zentrales poetisches Dokument nach 1945 werden können. Er ist es nicht geworden. Bereits 1939 im englischen Exil unter dem Titel Flute and Drums erschienen,12 veröffentlichte ihn Hilde Spiel direkt nach dem Krieg – wahrscheinlich, weil sie auf die ihm innewohnende politische Botschaft vertraute – noch zweimal: Er erschien 1947 in Wien13 und 1949 in Hamburg.14 Zur ersten deutschsprachigen Ausgabe bemerkte sie resigniert: Kummer auch mit dem Wiener Verlag. Von meinem Italienroman wurden fünfzig Exemplare verkauft. […] Immerhin sehe ich Peters ‚Nürnberger Dokumente‘, auf deutsch unter dem unseligen Titel Sein Kampf herausgebracht, in den Schaufenstern aller Buchhandlungen – wenn schon der Weg 10

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So Heidi Zimmer: „Die endgültige Emanzipation von einem Männlichkeitswahn und die Selbstfindung einer jungen Frau“, wie auch in der problematischen, nicht zureichenden Charakterisierung des Romans, er „wirkt weniger zeitgebunden als ihre ersten beiden Werke, die sehr genau die Stimmung der Dreißiger Jahre beschreiben“. Dies.: Spiel, Hilde. In: Dietz-Rüdiger Moser (Hg.), begr. v. Hermann Kunisch: Neues Handbuch der deutschen Gegenwartsliteratur seit 1945. München 1990, S. 587 f., hier S. 587. Sandra Wiesinger-Stock sieht in dem Roman eine „Warnung vor dem Zweiten Weltkrieg“. Diess.: Hilde Spiel. Ein Leben ohne Heimat? Mit einem Vorwort von Erika Weinzierl. Wien 1996 (Biographische Texte zur Kultur- und Zeitgeschichte 16), S. 115 mit weiteren Verweisen. Sandra entblößt sich von allem Besitz und gibt sich Eindrücken und Begegnungen restlos hin. Dies lässt sich zu Recht mit dem Begriff der „Initiation“ bezeichnen (Hawlitschek, Fluchtwege [Anm. 9], S. 186 f.)  – wodurch ihre letztlich gefundene berufliche Bestimmung umso überzeugender ist, da sie unter diesem Gesichtspunkt fast den Status einer religiös-mystischen Entwicklung erreicht. London: Hutchinson 1939. Wien: Wiener Verlag 1947. Diese erste deutsche Auflage lag bei 3000 Exemplaren. Siehe die bibliografischen Daten in Anmerkung 8.

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meiner armen Romanheldin Sandra von der Schweizer Grenze bis Neapel und in den Abessinienkrieg nun in Wien versandet ist.15

Der relativ bescheidene Erfolg des Romans ist umso erstaunlicher, als in ihm eine europäische Internationalität auf kulturhistorischer Basis beschworen wird, die sich krass vom faschistischen und nationalsozialistischen Nationalismus abhebt.16 Ihre poetische Darstellung fügte sich – auch und gerade nach dem Zweiten Weltkrieg – ohne weiteres in das Bemühen anderer zeitgenössischer Schriftsteller ein, die deutsche Literatur aus dem verengten Blick der Jahre zwischen 1933 und 1945, aus jeder rückwärtsgewandten Heimattümelei herauszuführen. Insofern ist der Versuch, mit zwei Ausgaben im deutschsprachigen Raum Aufmerksamkeit zu finden, verständlich und nachvollziehbar. Hilde Spiel ist nicht die einzige, die diese Tendenz vertritt. Auf dem Gebiet der theoretischen Auseinandersetzung und der Textpräsentation sind wenigstens Werner Milch,17 Alfred Andersch18 und Hans Werner Richter19 zu nennen, die mit ganz anders gearteten Arbeiten genau diese Intention realisieren. In diesen Kontext gehört auch der „autobiographisch gefärbte[] Reisebericht“20 Das verschwundene Gesicht. Ein Abenteuer in Italien des Journalisten und Kulturhistorikers Gustav René Hocke,21 der nach dem Zweiten Weltkrieg in einer stark überarbeiteten Fassung erschien.22 Auch dieser Text basiert wie der

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Hilde Spiel: Welche Welt ist meine Welt? Erinnerungen 1946–1989. München, Leipzig 1990, S. 55. Siehe dazu die Bemerkung Christoph Parrys in: Zur europäischen Identitätskonstruktion von Hilde Spiels Roman Lisas Zimmer. In: Komparatistik. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 2003/2004 (2004), S. 101–122, hier S. 105. Auch durch die Neuedition eines anderen Romans scheint Spiel versucht zu haben, an das literarische Leben in Deutschland Anschluss zu finden. Ihr kleiner Roman Sommer am Wolfgangsee (Reinbek bei Hamburg 1961; Rowohlts Rotationsroman 430) basiert auf dem Roman Verwirrung am Wolfgangsee (Leipzig, Wien 1935). Werner Milch: Ströme Formeln Manifeste. Drei Vorträge zur Geschichte der deutschen Literatur im zwanzigsten Jahrhundert. Marburg 1949 (Marburger Reihe 1). Alfred Andersch (Hg.): Europäische Avantgarde. Frankfurt a. M. 1949. Die von ihm herausgegebene Anthologie Deine Söhne, Europa. Gedichte deutscher Kriegsgefangener (München 1947) nimmt genau dies bereits im Titel auf. Johannes Graf: „Die notwendige Reise“. Reisen und Reiseliteratur junger Autoren während des Nationalsozialismus. Stuttgart 1995, S. 222. Leipzig-Markkleeberg: Karl Rauch, 1939. Gustav René Hocke: Magna Graecia. Wanderungen durch das griechische Unteritalien. Herrenalb, Berlin-West 1960. Zu den Änderungen im Hinblick auf die politische Bewertung siehe Graf (Anm. 20), S. 281–285. 185

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von Hilde Spiel auf einer tatsächlich durchgeführten Reise und stellt neben der Schilderung der verschiedenen Reisestationen den Versuch des Autors dar, „ausgehend von der Krisenerfahrung der ‚jungen Generation‘ Perspektiven für die aktuelle Gegenwart zu entwickeln“.23 * Auch der Roman Die Tauben von San Marco von Geno Hartlaub spielt in Italien und sogar genau definiert, in Venedig.24 Im Folgenden seien, weil der Roman im literarhistorischen Bewusstsein nicht mehr präsent ist, einige Kernszenen deskriptiv vergegenwärtigt, um an ihnen seine Bedeutung herauszuarbeiten. Irene und der 20 Jahre ältere Ben wollen die Flitterwochen in der Lagunenstadt verbringen. Hartlaub stellt mit ihr ein klassisches Reiseziel der Deutschen ins Zentrum ihres Romans; allerdings ist die Örtlichkeit ‚Venedig‘, weil sie (praktisch) räumlich abgeschlossen und von der allgemeinen Entwicklung abgekoppelt ist, etwas Besonderes: Sie stellt eine Art ‚Labor‘ dar, in dem sich die Figuren bewegen.25 Auch Hartlaubs Roman beginnt wie der von Hilde Spiel mit einer Konfliktszene: „‚Was ist mir dir, träumst du, hast du Gesichte?‘ Ben fragte es schon zum dritten Mal mit lauter Stimme, um das immer stärker werdende Brausen des Zuges zu übertönen.“ (7) Unglaublich unsensibel greift er schließlich zu einer rabiaten Methode, um die Aufmerksamkeit seiner jungen Frau auf sich zu ziehen, nachdem sie gebeten hat: „‚Ich bitte dich, laß mir ein wenig Ruhe. Ich bin müde, siehst du es nicht?‘ Ben beugte sich mit einem Ruck zu ihr vor und ergriff ihre Handgelenke.“ (8) Es stellt sich schnell heraus, dass Irene sehr empfindsam ist, Ben hingegen erfahren, was sich an dem beginnenden „leuchtenden Tag“ (22) zeigt:

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Graf, Notwendige Reise (Anm. 20), S. 223. Die Tauben von San Marco. Roman. Frankfurt a. M. 1953. Die Auflage betrug 5000 Exemplare. Seitenzahlen in Klammern nach den Zitaten. Die Leser der 1950er Jahre wussten zu Beginn des Romans natürlich nicht, was sie erwartete. Daher konnten sie den Handlungsort zunächst nur als einen Stimulus aufgreifen, mit dem ihnen ein zentrales touristisches Ziel mit entsprechenden stereotypisierten und verkitschten Repräsentationen in Künsten und Medien als „romantisch-abenteuerliche Liebesstätte“ oder als „historisches Museum für kanonisierte europäische Kultur“ geboten wurde – diese Erwartung erfüllte sich bei fortschreitender Lektüre eben nicht. Maximilian Aue: An der Schwelle zur Utopie. Zum deutschsprachigen literarischen Venedigbild im zwanzigsten Jahrhundert. Würzburg 2013, S. 73.

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Jetzt wandte sie sich […] nach ihm um und rief mit einer hellen, etwas atemlosen Stimme: „Ist es nicht schön!“ Er nickte, doch statt aus dem Fenster zu sehen, ließ er den Blick mit einem Ausdruck zwischen Rührung und Spott auf ihr ruhen. Sie trat einen Schritt vom Fenster zurück und sagte: „Es ist schrecklich mit dir, Ben. Nichts begeistert dich mehr. Wie oft hast du das schon gesehen?“ Er zog die Schultern hoch: „Genau weiß ich es nicht, müßte erst überlegen.“ (23)

Ben, der schon das dritte Mal in Venedig ist und daher die Stadt kennt (26), nutzt die Zeit, in der die ermüdete Irene schläft, zu einem Stadtbummel ohne sie, was sie aus einer hinterlassenen Notiz mit „einem feinen Stich der Enttäuschung“ (31) zur Kenntnis nimmt. Sie entschließt sich, selbst die Stadt zu erkunden und gelangt in ein etwas heruntergekommenes Viertel fernab der Sehenswürdigkeiten. Dort vollzieht sich eine überraschende innere Wende, die der Erzähler preisgibt: Hier lehnte sie an der fremden Mauerwand, als sei sie allein und frei, eine Abenteurerin, auf die nirgends in der Welt jemand wartet. Seitdem sie von der Uferstraße in diese verhexte Gasse eingebogen war, hatte sie kein einziges Mal an Ben gedacht. Ganz leer war ihr Inneres gewesen, ausgewischt die Erinnerung, und noch in diesem Augenblick fiel es ihr schwer, sich auf die letzten, unendlich weit entrückten Stunden ihres Lebens zu besinnen. Dabei hatte der ganze Streifzug nur ein listiges Manöver sein sollen. Sie hatte sich rächen wollen für Bens einsamen Rundgang. Doch nun zuckt ihr Herz nicht einmal mehr zusammen, wenn sie seinen Namen aussprach, es war nicht mehr aufzufinden, zitterte irgendwo an den Schläfen, am Puls, in den Fingerspitzen. (36)

Diese unerwartete Wendung eröffnet ein weites Aktionsfeld, das sich in zahlreichen kontroversen und spannungsgeladenen Situationen konkretisiert. Damit baut Hartlaub sehr schnell ein wirkungsvolles „Gegenvenedig“ auf, das immer wieder zum Vorschein kommt.26 Die prächtige Fassade wird dadurch literarisch perforiert. Überhaupt erweist sich die Flitterwochen-Harmonie als ziemlich brüchig: Eine harmlose Restaurantszene wird zu einer strengen Observation, die eindeutig an ein dominantes Verhalten erinnert: Aus zusammengekniffenen Augen beobachtete er jede ihrer Bewegungen und beklagte sich über ihre umherzigeunernden Blicke, die ihm bewiesen, dass ihr die Kirchgänger, der Sternhimmel und die Häuserfassaden dieses 26

Ebd., z. B. S. 34, 85 f., 89, 143 f. 187

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öden Platzes wichtiger seien als er. Sie fuhr zusammen, entschuldigte sich: „Ich weiß nicht, wo ich zuerst hinschauen soll. Es ist alles so aufregend neu.“ „Nur ich nicht“, meinte er die Stirn in komische Falten legend, „an mich bist du offenbar schon gewöhnt, ich zähle nicht mehr mit. Aber warte nur“, er ergriff ihre Handgelenke, „ich werde dich zwingen, mir deine Aufmerksamkeit zuzuwenden.“ (46)

Irene gelingt es, in einer entgleitenden Situation des abendlichen Sekttrinkens ihre Souveränität wenigstens ein klein wenig zurückzuerobern, und sie entdeckt dabei Züge an Ben, die ihrem feinen Sinn gar nicht gefallen: Hätte er es bei einer Flasche bewenden lassen, es wäre noch hingegangen, doch beim Anblick der zweiten drängte sich ihr wider Willen die Vorstellung von Bens Junggesellennächten in verwilderter Einsamkeit oder in zweifelhafter Gesellschaft auf. […] Ben, der ihr zerstreut eines der halb gefüllten Gläser zugeschoben hatte, schien auf den ersten schäumenden Schluck so gierig zu sein, daß er sie nicht einmal ansah und das Zutrinken vergaß. […] Sie mußte über einen bitteren Geschmack im Munde hinwegschlucken und war den Tränen nah vor Enttäuschung. Endlich schien auch der sekt-besessene Ben etwas von ihrer Veränderung zu bemerken […]. Er sollte sich wundern, sie zögerte nicht, sich in der eigenen Hochzeitsnacht zu betrinken. […] Sie zog die Beine zu sich auf den Sessel und lächelte ihn über den Rand des Glases hinweg an, indem sie sich zwang, den Blick so lange auf seine Augen zu heften, bis diese zu zucken anfingen. Auf einmal schienen die Rollen vertauscht zu sein. (66 f.)

In der Folge kommt es zu einem heftigen Übergriff: Ben müht sich erfolglos, Irene körperlich nahe zu kommen, küsst sie auf die Brust und versucht sie zu entkleiden. Es gelingt ihr jedoch, sich zu wehren: „Sie schien nichts zu merken davon, doch glaubte sie zu spüren, wie sich unter Bens Blick verwandelte; schon in jenem Augenblick, da sie seine Hand beim Zerren am Träger des Unterkleides ertappt hatte, war sie eine andere geworden.“ (72) Es gelingt ihr mit einem Mal, „ihm gerade und genau ins Gesicht zwischen die Augen zu blicken“ (73), und sie gesteht ihm mit „heller und kalter Stimme“, dass sie „nicht mehr unberührt“ sei und mehrere „Liebhaber“ gehabt habe (73). Während eines Ausflugs kommt Irene die Stadt auf einmal „verseucht und vergiftet“ vor (86), die Gondel erinnert sie an einen „Sarg“, der „über den Totenfluß gleitet“ (89). Die Besichtigung eines Palazzos, dessen Besitzerin Ben offensichtlich kennt (92), wird zu einem wenig schönen Erlebnis: Die Halle ist „dunkel und feucht“, die Treppe „verwahrlost und schmutzig“, der kaum 188

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beleuchtete Schlafraum ist „ungelüftet“ und riecht „beklemmend“ (92). Der nächste Raum ist zwar heller, aber mit mythologischen Fresken mit „nackten Leibern“ ausgemalt (93). Irene schaut nach oben und sieht einen „nackten Frauenkörper“; deren Leib war „sorgfältig, fast zärtlich modelliert durch Glanzlichter und Halbschatten an den Schwellungen und Vertiefungen“ (93), ein Vogel berührte mit seinem Schnabel ihre „wie im Schlaf geöffneten Lippen“ (93). Es ist das bekannte Motiv von Leda und dem Schwan. Die ganze Darstellung des „blinden Aufruhr[s] nackter Glieder und stiebenden Gefieders“ macht das Bild für Irene „erregend und widerwärtig“ (94).27 Die Erotik der Szene ist zwar gebrochen durch ihre ausschließliche Mittelbarkeit (nicht Ben und Irene vereinigen sich, sondern stellvertretend die mythologischen Figuren), aber das Motiv ist dennoch ein eindeutiger Hinweis auf die körperliche Liebe – genau sie hat Irene bei der ersten Annäherung Bens zu vermeiden gesucht, weil seine Annäherung zu grob und nicht behutsam genug war. Erst als sie hohes Fieber hat und im Bett bleiben muss, zeigt der „verwandelte Ben, was ihr not tat“ (101): Er erzeigt sich als fürsorglich und küsst ihre geschlossenen Augen, noch nie, „kam ihr vor, hatte er sie so behutsam berührt, noch nie hatte sie solch ein strömendes Wohlgefühl bei seinen Liebkosungen empfunden“ (101). Diese Szene ist keineswegs die Peripetie von Disharmonie und Alterität zu Harmonie und seelisch-erotischem Glück. Denn Ben hat sich keineswegs gewandelt, sondern überfällt sie ein weiteres Mal und scheint sie erotisch zu besitzen (112 f.). Die Stimmungsschwankungen des 20 Jahre Älteren werden mit seinen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg erklärt, aus dem er „erledigt, fertig, wie ausgebrannt“ zurückgekommen war (106). Auch gibt er zu, dass er die Liebe erst von Irene „lernen“ müsse (111). Schließlich sehen sie in einem Restaurant eine auffällige Unbekannte – bei ihrem Anblick war Ben „blaß geworden, die gebräunte Haut seines Gesichts hatte sich in ein fleckiges Gelb verfärbt“ (116). Die Dame geht zielstrebig zu Bens und Irenes Tisch, „lachte und rief ungeniert mit einer vollen, tiefen 27

Die Szene erinnert an Thomas Manns Erzählung Die Betrogene, in der der Amerikaner Ken und seine Düsseldorfer Bekannte Rosalie sich in einer Gruft des Schlosses Benrath küssen: „[…] die Moderluft des Geheimganges nahm sie auf, in dem sie einige Schritte vorwärts taten. Es war dunkel um sie. Mit einem aus letzten Tiefen heraufgeholten Seufzer schlang Rosalie die Arme um den Nacken des Jungen, und auch er umfing beglückt ihre zitternde Gestalt.“ Schließlich gelangen sie in „einen Alkoven […], dessen Tapeten mit schnäbelnden Taubenpaaren durchwirkt waren. Eine Art von Causeuse stand da, an der ein geschnitzter Amor mit verbundenen Augen in einer Hand ein Ding hielt wie eine Fackelleuchte. Dort saßen sie nieder im Dumpfen.“ Thomas Mann: Die Betrogene. Erzählung. Frankfurt a. M. 1953, S. 118, 120. 189

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Stimme: ‚Da schau her, hier trifft man sich wieder.‘“ (117) Es stellt sich schnell heraus, dass Nina della Torre eine alte Bekannte Bens ist. Sie dominiert die zweite Hälfte des Romans. Vor allem dadurch, dass Nina eigenständige Auffassungen vertritt, mit denen sie nicht selten in Widerspruch zu Ben steht. Sie erkennt Irenes Charakter sehr genau: „Während wir hier reden, schaut sie die ganze Zeit mit flehenden Blicken zu dir herüber. Ich bin sicher, sie zittert vor Angst, daß ich dich vor ihren Augen verführe.“ (125) Als es zu einem Wortgefecht zwischen Ben und Nina kommt, das Irene beobachtet, aber nicht hören kann, zieht Nina blitzschnell die Konsequenz: Sie erhebt sich „plötzlich so heftig von ihrem Platze“, dass die Gläser klirrten. Sie hatte die Augen zusammengezogen und die Lippen aufeinandergepreßt, ihr Gesicht schimmerte vor Blässe. […] Noch immer schien Nina erregt, die Augen funkelten, und die üppige Brust bewegte sich bei jedem Atemzug. […] Ben aber bekam keine Hand, sondern nur ein erbittertes Kopfnicken. (126 f.)

Sein daraufhin gefasster Plan, mit Irene Venedig für ein paar Tage zu verlassen, weil er „diese Stadt eine Weile nicht mehr sehen möchte“ (128), irritiert sie, aber sie willigt ein. Zu ihrer großen Überraschung findet sie sich am nächsten Morgen jedoch allein im Hotel und nur eine Notiz vor – Ben ist ohne sie abgereist, das „alte Übel“ sei „wieder ausgebrochen, für das es keine rechte Bezeichnung gibt: eine dumpfe Starre, an der die Unruhe zerrt“ (136). Irene entdeckt zunächst vor allem sich selbst: Sie imaginiert Bens „unerträglich sanfte[n] Liebkosung“ ihres Rückens (149), ist zugleich voll Angst, er könne sie „von hinten umschlingen“, erkennt gleichwohl das „schmerzhafte Verlangen nach seiner Nähe“ (149). Aber dann überfällt sie eine irrationale Stimmung: „Auf einmal geriet sie in Wut. Wie lange noch sollte sie diesen Zustand widernatürlicher Abhängigkeit ertragen? Noch war sie frei, noch immer und solange sie es wollte.“ (150) Es erweist sich, dass unter der Schicht der bürgerlichen Konventionen noch eine zweite Irene existiert, was im Halbtraum auf einer Parkbank in Venedig aus der Erinnerung an die ersten Liebeserlebnisse hochsteigt: „[…] was nur damit zusammenhängen konnte, daß sie seit ihren Kindertagen unter dem einfältig heiteren Gesicht ein zweites wissendes und erwachsenes verborgen hatte.“ (154) Irene sucht Nina auf, um von ihr Hilfe zu erbitten. Mit ihr kommt es zu einer für die 1950er Jahre außergewöhnlichen Begegnung. Irene versucht zunächst Aufschluss über Bens Beziehung zu Nina zu erhalten. Deren Antwort ist zunächst kurz und knapp: „Um es ganz genau zu sagen: Er ist nicht mehr hier. 190

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Ich habe ihn weggeschickt. L’ho mandato via“ (180), und damit will sie auch Irene wegschicken. Erst als diese zusammenbricht und gesteht, dass sie Hilfe erwartet habe, kommt es zu einem gemeinsamen Abendessen und schließlich zu einer großen Aussprache. Aber nicht nur dies: Irene kann bei ihr übernachten! Sie beobachtet die Ältere bei der Abendtoilette: „Heimlich bewunderte sie die marmorweiße Haut an Ninas Hals und Oberarmen und die Schattennester in den Ellbogenbeugen und an jener Stelle, wo die Brust sich teilt.“ (205) Bei einem frisch gekochten Kaffee und leger in einem „weitgeschnittenen Morgenrock“ (205) geht Nina zunächst die Bescheidenheit Irenes an: „Wenn ich so etwas höre“, rief sie aus, „diese jungmädchenhafte Bescheidenheit: ich will alles auf mich nehmen, wenn nur  … Damit werden Sie nicht weit bei ihm kommen. Es sollte mich nicht wundern, wenn er fortgelaufen wäre, weil er Ihre Ergebenheit nicht ertragen konnte.“ (208)

Irene ärgert sich zwar und bringt die eheliche Liebe ins Spiel. Damit kommt sie bei Nina allerdings an die rechte, die aufspringt und Irene eine Philippika hält: Die Liebe, ich meine nicht die körperliche. Wie das klingt – wie jung, wie stolz und ahnungslos! Wo fängt die eine an, wo endet die andere? Ich jedenfalls weiß es nicht. Ich vermisse die Zärtlichkeiten eines Mannes, und die Seele tut mir weh, ihre Leere schmerzt bis zur Atemnot. Ich bin glücklich in seinen Armen, und diese Seele spannt sich, füllt sich mit Licht, fängt wieder zu atmen an. Zum Teufel mit eurer Verachtung der Körperlichen. Nur wer nichts erlebt hat, kann so reden wie Sie. […] Aber ihr seid einfach dumm, vernagelt, verrannt. Ich weiß nicht, wie man heutzutage die jungen Mädchen erzieht. Machen euch eure Mütter noch immer vor, daß man sich schon in der Kinderstube über nichts freuen darf, was schändlich körperlich ist? (209)

Damit setzt sich Nina in direkte und ironische Opposition zur herrschenden Moralvorstellung der 1950er Jahre. Aber sie geht noch einen Schritt weiter und fährt fort: Sie sehen gar nicht so aus, als ob Sie nicht zu bekehren seien zur Liebe, ich meine die körperliche. Ben muß es verdammt falsch bei Ihnen angestellt haben. (210)

Der Leser weiß, dass genau das zutrifft. Nina zwingt Irene, bei ihr zu bleiben. Noch immer ist die Jüngere angespannt, wird aber von ihrer neuen „ungleichen 191

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Schwester“ (216) sanft, aber systematisch bearbeitet, sodass sie den Gedanken, ins Hotel zurückzukehren, aufgegeben und im Stillen eingewilligt hat, bei Nina zu übernachten. Zwar wird nur durch den Erzähler der Eindruck vermittelt, bei Ninas Agieren handele es sich um eine „Verführungsszene“ (210 f.), aber ihre Reaktionen – Zurückweichen, Ablehnen, eigensinniger Stolz – sprechen eine deutliche Sprache. Aber nicht nur das: Nina gelingt es, Irene durch das Überlassen eines Nachthemds und eines Morgenrocks zu verwandeln. Zwar ist die Jüngere „verlegen“ (216), nimmt die Gabe aber an. Noch einmal wird die Ältere grundsätzlich: Ihr Jungen denkt immer, mit euch fängt die Welt noch einmal von vorne an. Was ihr empfindet, ist noch nie dagewesen, so erhaben, so rein und einzigartig. Geh doch, geh. Wenn ihr auf andere Leute mit mehr Leben und Erfahrung hören wolltet, könntet ihr euch den ganzen Aufwand sparen. Ihr bekommt doch nur abgegriffene Münzen in die Hand, und wenn sie noch so blinken und glänzen. Mit denen, mit genau den gleichen, haben wir schon vor vielen Jahren unsere Schulden bezahlt. […] Aber ihr wollt es nicht wahrhaben hinter euren engen glatten Stirnen, daß ihr genau das gleiche erleben und erfahren werdet wie wir. Daß wir euch helfen könnten zu finden, was ihr sucht. Es kommt doch nichts Neues hinzu, mein Kleines, das, was vorhanden ist in der Welt, wird immer nur ein wenig anders verteilt. […] Glaub mir, das geht von Hand zu Hand, wird von Mund zu Mund geflüstert, in der Kette, reihum. Man sollte ruhig zuhören, wenn einem jemand eines von den Ketten-Geheimnissen verrät, dann kommt es nicht zu solchen Zwischenfällen wie bei euch. […] Vor dem Einschlafen kann man einander ruhig die Wahrheit sagen. (217 f.)

Schließlich setzt sich Irene weinend auf den Rand von Ninas Bett. Das ist der Moment, in dem Nina ihr eine weitere Lektion erteilt: „Was du wissen mußt, […] sind ganz andere Dinge. Daß Ben keine Frau brauchen kann, die sich mit Tränen und bösen Träumen zermartert. Daß du verdammt wach sein mußt, um ihm zu gefallen: zartfühlend, aber nicht zimperlich, leidenschaftlich, aber nicht zerfließend vor Glück, hingebend, aber niemals so sehr, daß du den Halt und die Form verlierst. Kein leichtes Kunststück, wenn man verliebt ist, ich gebe es zu. Was du wissen mußt, ist“, sie senkte die Stimme, nun sprach sie schneller und halb von ihr abgewandt, „daß die Liebe, die körperliche, eine verdammt ernste Sache ist. […] So [wie mit dem Schlaf] ist es mit der Liebe, mit der Lust, eine Frage der Innigkeit, der Versenkung. […].“ (219 f.)

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Irene hat trotzdem das Gefühl, dass die Situation für sie etwas Besonderes ist: „Wer zum ersten Male liebt, ist in manchen Stunden dem Tode so nahe, daß ihm das Leben wie ein Verrat an seiner Liebe vorkommt.“ (221) Ninas Haltung sieht sie als Verrat, aber diese hält ihr entgegen: „Vielleicht hast du recht. Diese erste Liebe ist tödlich, die meisten sterben an ihr und führen von da an das Dasein von Schatten. Einige jedoch überstehen die furchtbare Krankheit und verbünden sich mit dem Leben.“ (221) Obwohl ihr Irene auf ihre eigensinnige Weise widerspricht, verzeiht Nina ihr, denn Irene sieht ein, dass sie mit ihrem „Trotz“ und „Eigensinn“ (223) „alles falsch“ macht (222). Wange an Wange schlafen beide ein; Irene versucht sogar, sich Ninas Atemrhythmus anzupassen: Jetzt ist sie „endlich angelangt auf der Schwelle zum Tempelinnern, bereit, sich auszuliefern an die Natur, die nimmermüde, die sich erneuert in der Ruhe“ (225). Und schließlich erhält sie noch eine weitere Rückendeckung von der fast entschlummerten Nina: Versprich mir, Kleines, keiner soll wissen, wo du gewesen bist in dieser Nacht. Niemand soll ein Wort erfahren von dem, was wir geredet haben, auch nicht Ben, auch nicht dein Mann, er am wenigsten von allen. Es ist unser Geheimnis. Wenn du darüber schweigst, wird noch alles gut zwischen euch werden. (225)

„Wenn sich die Frauen überall zusammenschlössen wie wir“, denkt Irene, „wäre die Welt ein sicherer Aufenthalt. Niemand würde ihr mehr entgleiten und abstürzen in die Leere, ins Nichts.“ (225) Sie erreicht Ben gegenüber durch ihre neu gewonnene innere Festigkeit und ein verändertes Auftreten („keiner soll den anderen fragen, wo er gewesen ist und was er erlebt hat in diesen Tagen und Nächten“ [237]) eine derartige Sicherheit, dass dieser über sie staunt und ihre Haltung akzeptiert: „Es ist unbegreiflich, wie sehr du dich verändert hast in den paar Tagen. Ich glaube, du bist viel älter geworden inzwischen. […] Also gut, […] wenn du es so willst. Man soll auch Geheimnisse voreinander haben.“ (236 f.) Der Roman ist nur auf den ersten Blick oberflächlich und behandelt nur scheinbar lediglich „Eheprobleme“,28 diese Charakterisierung ist viel zu allgemein. Auch der Vorwurf, „die Personen [!]“ würden „an keiner Stelle ausführlich charakterisiert“, die „Personencharakterisierung [!]“ sei „mangelhaft“, sie

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So Winfried Zehemaier: Hartlaub, Geno. In: Moser: Neues Handbuch der deutschen Gegenwartsliteratur (Anm. 10), S. 259 f., hier S. 260. 193

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wirkten eher „flach“, die Figur der Irene sei „nicht sehr plastisch“ dargestellt,29 und vor allem müssten, da man kaum etwas über die Vorgeschichte der Figuren erführe, „ihre Gefühle, Meinungen, Wünsche […] als Dialog dargestellt werden“.30 Genau dies macht Lebendigkeit, Nachvollziehbarkeit und Realismus des Romans aus, dass die Leser nicht mit langen Erklärungen oder Retrospektiven abgespeist werden. Ein soziologischer Blick auf die Lebenswirklichkeit der 1950er Jahre – da doch das Thema ‚Ehe‘ in diesem Roman zentral ist  – zeigt vielmehr, dass gesellschaftliche Werte und Leitbilder erst „insbesondere in den 1960er bis Mitte der 1970er Jahre“ eine „tiefgreifende Veränderung“ erfuhren.31 Parallel damit wird auch eine Neuorientierung in sexueller Hinsicht sichtbar.32 Zwar werden überkommene Wertvorstellungen auch schon in den 1950er Jahren angezweifelt, gleichwohl erweist sich die soziale Wirklichkeit als erheblich resistenter. Was das traditionelle Bild von der sexuellen Ausrichtung der Frau (bestimmt zur Mutterschaft), der Treue in der Ehe und ihrer Position im partnerschaftlichen Verhältnis betrifft, so formulierte die erfolgreiche und verbreitete Frauenzeitschrift Constanze schon früh Gegenpositionen und warb, wenn auch nicht konsequent, für eine größere Selbstständigkeit der Frauen, angelehnt an US-amerikanische Vorbilder.33 Der Erfolg war jedoch zunächst gering, da die Leserbriefschreiber(innen) erkennbar an alten Werten festhielten.34 29 30

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Christina Burck: Schreiben als Selbstfindung. Zum Zusammenhang von Biographie und literarischer Produktion im Werk Geno Hartlaubs. Oldenburg 2005, S. 226, 229. Ebd., S. 226. Auf die Lösung des Konflikts und dessen Facetten geht Burck nicht ein. Für sie ist die „Machart“ des Romans „konventionell“. Ebd., S. 230. Wie weitreichend Burck zu kurz greift, zeigt sich an ihrer Zusammenfassung der gesamten Nina-Episode: „Von Nina […] läßt Irene sich schließlich in die Geheimnisse der Liebe einweihen, um Ben eine gute Ehefrau sein zu können.“ Ebd., S. 226. Maria S. Rerrich: Balanceakt Familie. Zwischen alten Leitbildern und neuen Lebensformen. 2., aktual. Aufl. Freiburg i. Br. 1990, S. 93. Ebd. S. 104. Siehe dazu Stephanie Hoffmann: „Darüber spricht man nicht“? Die öffentliche Diskussion über die Sexualmoral in den 50er Jahren im Spiegel der Frauenzeitschrift „Constanze“. In: Johanna Meyer-Lenz (Hg.): Die Ordnung des Paares ist ungleich. Irritationen am und im Geschlechterdiskurs nach 1945. Münster [u. a.] 2000 (Geschlecht – Kultur – Gesellschaft 1), S. 57–83, hier S. 60–64. Leserbriefe zeigen, dass sich die Frauen diese Positionen (noch) nicht zu eigen machten. Ähnlich auch Sylke Scholz: „Ich bekenne mich zu dieser so leidenschaftlichen Hommage an die gute alte Ehe.“ Die Liebessemantik in Ehe- und Beziehungsratgebern von den 1950er Jahren bis zur Gegenwart. In: Takemitsu Morikawa (Hg.): Die Welt der Liebe. Liebessemantiken zwischen Globalität und Lokalität. Bielefeld 2014, S. 251–273. Hoffmann: „Darüber spricht man nicht“ (Anm. 33), S. 61 f. (zur Doppelmoral), S. 64 (zum vorehelichen Geschlechtsverkehr), S. 70 (zur Untreue des Mannes).

Des Krieges und der Liebe Lehren

Ähnliches gilt für den Film der Nachkriegszeit: Es zeichnet sich „eine Tendenz zur Erneuerung konservativer Werte ab. Der öffentliche Diskurs ist, ungeachtet des realen Frauenüberschusses, männlich.“35 Das Resultat ist in West und Ost gleich: „Nicht nur die westdeutsche Frau verliert infolge ihrer Domestizierung an Autonomie, auch die ostdeutsche Protagonistin zahlt ihre Emanzipation um den Preis der Selbstaufgabe“.36 Horbrügger geht sogar soweit zu postulieren: „anstelle des privaten tritt der gesellschaftliche Patriarchalismus“.37 Allein vor dem Hintergrund dieser Bezüge wird deutlich, dass Hartlaubs Figur Irene einerseits den tradierten Rollenvorstellungen folgt, selbst auch noch nach ihrer „Befreiung“ durch Nina: „Ich gebe mich in deine Hände“ (237) sagt sie zu Ben. Allerdings tut sie dies vor dem Hintergrund der tatsächlich erlangten inneren Freiheit. Auch die Geste, mit der sie schutzsuchend vor den sie umflatternden Tauben ihren „Kopf an Bens Schulter barg“ (239), lässt sich sicher noch dem seinerzeitigen traditionellen Rollenverständnis vom ‚starken Mann‘ und der ‚schwachen Frau‘ zurechnen. Ganz eigenständig geht Geno Hartlaub jedoch bei der Lösung des eingangs dargestellten Konflikts vor. Es geht ihr nicht darum, etwa durch eine Trennung Irenes von Ben die Probleme der Nachkriegsgesellschaft widerzuspiegeln.38 Es ist ihr auch nicht um den „Rückzug ins Private“ zu tun. Und schließlich hat sie nicht das Ziel, irgendeine Form der „Gendergerechtigkeit“ avant la lettre zu propagieren. Die Figur Irene bleibt am Ende des Romans ein „Kind ihrer Zeit“, aber sie hat sich in zwei wesentlichen Punkten eine eigene Position erarbeitet: Zunächst ist sie nicht vor Nina geflohen, sondern hat sich bezwingen lassen, die Nacht mit ihr zu verbringen; teilweise sogar mit ihr im selben Bett. Der zweite Aspekt ihrer neuen Position ist, dass sie sie ganz selbstverständlich vertritt  –  zwar höflich formuliert („Ich möchte dir einen Vorschlag machen“ [237]), aber ohne Diskussion („keiner soll den anderen fragen, wo er gewesen ist“ [237]). Das Modalverb ‚sollen‘ ist in Irenes zukunftsorientierter 35

36 37 38

Anja Horbrügger: Aufbruch zur Kontinuität – Kontinuität im Aufbruch. Geschlechterkonstruktionen im west- und ostdeutschen Nachkriegsfilm von 1945 bis 1952. Marburg 2007, S. 253. Ergänzend dazu: Uta Schwarz: Wochenschau, westdeutsche Identität und Geschlecht in den fünfziger Jahren. Frankfurt a. M. [u. a.] 2002 (Geschichte und Geschlechter 37). Ebd., S. 256. Ebd. Zwar halbiert sich die Scheidungsrate zwischen 1946 und 1959 von 16,9 % auf 8,3 % (auf 10 000 Einwohner, bleibt aber doch, bezogen auf die Gesamtbevölkerung Westdeutschlands (rd. 44 Mio. – 52 Mio. Einwohner), ein erheblicher Faktor. Hoffmann: „Darüber spricht man nicht“ (Anm. 29), S. 68 f. und Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland 1959. Stuttgart, Mainz 1961, S. 36, 69. 195

Detlef Haberland

Forderung („keiner soll den anderen fragen“ [237]) ein starkes sprachliches Signal der Notwendigkeit, Unbedingtheit und Unumkehrbarkeit. Dem kann sich Ben nicht verweigern, will er nicht die neue Form der Partnerschaft gefährden. Auf dieser Grundlage kann sie sich Ben „ausliefern“: „Ich gebe mich in deine Hände.“ (237) Die Freiheit ihrer Selbstfindung konnte ihr offenbar nur in der Fremde gelingen – enthoben der deutschen Kontexte, begleitet von einer souveränen fremden Frau. Geno Hartlaubs Roman folgt in weiten Strecken konventionellen Erzählmustern, sie ist weit entfernt von Formen, wie sie – singulär – Arno Schmidt in seinen in den 1950er Jahren erschienen Prosawerken oder Wolfgang Koeppen in Tauben im Gras (1951) realisieren. Gleichwohl gelingt ihr mehr als die Darstellung eines „Eheproblems“, dessen Lösung zwar harmonisch, aber in den Bahnen der zeitgenössischen Konvention erfolgt. Dazu trägt auch die Figur der Nina bei. Es mag zunächst scheinen, dass sie eine Art ‚femme fatale‘ ist. Aber dieser Eindruck täuscht: Sie ist eine erfahrene, reife Frau, die unabhängig von der Meinung anderer lebt und daher, gerade in Fragen der Partnerbeziehungen und der Erotik, ganz ehrlich sein kann. Es ist nicht nur eine pikante erzählerische Spitze, wenn sie Irene zu sich ins Bett nimmt – auch wenn es dezidiert nicht zu erotischen Handlungen kommt.39 Dass Irene im Bett von Nina, „das viele Liebkosungen, Umarmungen, Seufzer erduldet und mit den Fluten des Schlafes hinweggeschwemmt hatte“ (224 f.), „auf der Schwelle zum Tempelinnern“ (225) angekommen ist, meint eben nicht den Schlaf, sondern sie liefert sich „an die Natur [aus], die nimmermüde, die sich erneuert in der Ruhe“ (225). Die Natur, die sich erneuert in der Ruhe, ist die erotische Weiblichkeit – nicht als hingebungsvolle Ehefrau, nicht als Vamp, nicht als Prostituierte. Hartlaub formuliert hier im Grunde das weitreichende Konzept einer Erotik, die gewissermaßen als Basso continuo das individuelle, partnerschaftliche und gesellschaftliche Leben fundiert. Die Autorin gibt nicht einer abgrenzenden oder ausschließenden weiblichen Erotik das Wort, sondern versteht die weibliche Seite der Lust als einen wesentlichen eigenen Beitrag zu einer humanen Zukunft. Sie

39

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Diese Szene als lesbisch (oder mindestens als verdeckte Form lesbischer Liebe) aufzufassen, ist wenig sinnvoll und führt im Kontext der Handlung zu keinem Ergebnis. Es ist vielmehr ersichtlich, dass Nina der jungen Irene Wärme und Geborgenheit schenken will, sodass sie durch ruhige Überlegung zu einer eigenen Position gelangen kann. Daher ist auch die Untersuchung von Madeleine Marti (Hinterlegte Botschaften. Die Darstellung lesbischer Frauen in der deutschsprachigen Literatur seit 1945. Stuttgart 1992) für diesen Rooman der 1950er Jahre (ebd. S. 42–81) nicht fruchtbar zu machen.

Des Krieges und der Liebe Lehren

schreibt eine Prosa, die leicht konsumierbar ist, aber in der Tiefe des Textes einen nicht unerheblichen Zündstoff enthält. Venedig ist nicht mehr der Ort der Flucht aus einer unangenehmen Realität, keine Traumkulisse und kein historisches Schatzkästchen. Die Lagunenstadt verhindert vielmehr, dass die Protagonisten sich weit voneinander entfernen – und wenn Ben das tut, dann flieht er vor Irene und vor sich selbst. Die touristische Fremde bedient kein Stereotyp und ist nicht als Déjà-vu-Lektüre gedacht, sondern konzentriert das zentrale Problem räumlich, zeitlich und durch die Auswahl der dort agierenden Figuren. Neun Jahre später und vermutlich nicht im Rückblick auf Die Tauben von San Marco äußert sich Geno Hartlaub zur Unterhaltungsliteratur. Marcel ReichRanicki, von jeher mit einem untrüglichen Sinn für zentrale Fragestellungen begabt, hebt aus einem ihrer Artikel einen Satz heraus: „Nie ist die Kluft zwischen Kolportageliteratur und ernsthafter oder gar experimenteller Schriftstellerei so groß gewesen wie in unseren Tagen.“40 Diese Beobachtung ist zutreffend. Dabei müsste allerdings beachtet werden, dass nicht jede Prosa, die sich durch verständliche Sprache und Handlung auszeichnet, zur Kolportageliteratur gezählt werden kann. Vielfach verstecken sich hinter unscheinbaren Sätzen Sprengsätze sozialer und anderer Art.41 Dass Geno Hartlaub als eine wichtige Stimme in den 1950er Jahren wahrgenommen wurde, geht sicher auch auf einen Roman wie Die Tauben von San Marco zurück.42

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Marcel Reich-Ranicki: Deutsche Unterhaltungsliteratur. In: Ders.: Literarisches Leben in Deutschland. Kommentare und Pamphlete. München 1965, S. 78–82, hier S. 79. Er zitiert aus Hartlaubs Essay Die ewige Gartenlaube, die in der Süddeutschen Zeitung vom 31. März 1962 erschienen war. Es ist bezeichnend, dass Hartlaub im Bericht über die Tagung der Gruppe 47 im Mai 1951 als eine derjenigen Schriftsteller erwähnt wird, die zum wichtigen und unverzichtbaren Querschnitt der Gegenwartsliteratur gehören. Ernst Theo Rohner: Das literarische Deutschland. Darmstadt 20.5.1951. In: Reinhard Lettau (Hg.): Die Gruppe 47. Bericht, Kritik, Polemik. Ein Handbuch. Neuwied, Berlin 1967, S. 58–63, hier S. 63. Hartlaub bewegt sich mit etwas über 20 Rezensionen in literarischen Zeitschriften im oberen Feld. Günter Häntzschel: Zur Präsenz weiblicher Autoren auf dem Buchmarkt der 1950er Jahre. In: Brigitte E. Jirku, Marion Schulz (Hg.): Fiktionen und Realitäten. Schriftstellerinnen im deutschsprachigen Literaturbetrieb. Frankfurt a. M. [u. a.] 2013 (Inter-Lit 14), S. 25–36, hier S. 32. Hilde Spiel taucht in dieser Untersuchung nicht auf. 197

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„Die Heimat ist ein Teil unserer Seele.“ Heimat und Fremde bei Regina Ullmann Die Autorin ‚Heimat und Fremde‘ bildet nicht nur ein Motiv in Regina Ullmanns literarischem Erzählwerk, sondern charakterisiert zu guten Teilen auch ihr wechselvolles Leben an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten. Obwohl 1884 als Tochter eines Kaufmanns und dessen Ehefrau aus dem gleichen Milieu in St. Gallen geboren, erhält sie nicht die schweizerische, sondern die österreichische Staatsbürgerschaft, da ihr aus dem österreichischem Hohenems stammender Vater als Jude in St. Gallen keine Heimatberechtigung erworben hatte. Nach dem Tod des Vaters 1889 und der Schulzeit in St. Gallen übersiedelt die Mutter mit ihren beiden Töchtern nach München, wo Regina Ullmann zeitweilig an der Bayerischen Staatsbibliothek arbeitet und erste Prosatexte schreibt. Nach einem Aufenthalt in Wien, wo nach einer Beziehung mit dem Sozialwissenschaftler Hanns Dorn 1906 ihre Tochter Gerda geboren wird, lebt sie eine Zeit lang in der Steiermark und kehrt 1907 wieder nach München zurück. 1908 kommt dort ihre zweite uneheliche Tochter Camilla zur Welt, der Vater ist der Psychiater Otto Gross. Beide Töchter gibt sie bei verschiedenen Familien in Pflege. Ihr 1907 erschienenes Buch Feldpredigt schickt sie auf gut Glück, ohne ihn näher zu kennen, an Rainer Maria Rilke nach Paris. Rilke, beeindruckt von dieser originären dramatischen im ländlichen Raum angesiedelten Dichtung, steht ihr als Mentor bis zu seinem Tod 1926 zur Seite. 1910 verfasst er ein Vorwort zu ihrer zweiten Buchveröffentlichung, dem Prosaband Von der Erde des Lebens; in den folgenden Jahren vermittelt er ihr Bekanntschaften mit prominenten Persönlichkeiten des literarischen und kulturellen Lebens, unter anderen mit Lou Andreas-Salomé, Eva Cassirer, Ellen Delp, Rudolf Kassner. Er verschafft ihr die Verbindung zum Insel Verlag, redigiert mit ihr gemeinsam den dort 1919 erscheinenden Band Gedichte und kann sogar den Verlag dazu bewegen, ihr ab 1921 bis zu seinem Tod 1926 monatlich 500 Mark zu zahlen. Mehrere Reisen nach Rom und Florenz und Aufenthalte bei neuen Freunden folgen, 1915 wohnt Regina Ullmann mit ihrer Mutter in der kleinen niederbayrischen Stadt Burghausen, und von 1917 bis 1923 lebt sie allein in dem ehemaligen Wallfahrtsort Mariabrunn bei Dachau, wo sie sich neben ihrem Schreiben als Gärtnerin betätigt. Dann folgt eine Phase einsamer Wanderungen und Reisen, 201

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später verbringt sie einige Jahre in Begleitung von Bekannten in Österreich und Italien und kehrt wieder nach München zurück, bis sie, erst mit ihrer Mutter, dann allein in einem gemeinsam erworbenen Haus in dem in der Nähe liegendem Dorf Planegg lebt. Sie erweitert ihren Rezipientenkreis durch öffentliche Lesungen und Publikationen in Zeitschriften. Die Schweizer Schiller-Stiftung Pro Arte unterstützt sie finanziell, ältere und neu gewonnene Freunde verschaffen ihr Resonanz, Karl Wolfskehl betreut einen ihrer Prosabände, sie unterhält umfangreiche Korrespondenzen mit Autoren und Autorinnen. Auch diese Jahre stehen im Zeichen des Wechsels von Heimat und Fremde. 1927 verbringt sie ein halbes Jahr in Rilkes geliebtem Schlösschen Muzot, ist dann bei Bekannten in Zürich und Umgebung zu Gast, hält sich bald in Wien, bald in Böhmen, bald in Paris auf und lebt zeitweilig wieder in München und Planegg. Auch nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten hält das unruhige Leben an, bis sie sich 1938 nach der Besetzung Österreichs als Österreicherin und Jüdin in St. Gallen um die Schweizer Nationalität bewirbt, vorläufig aber nur einen deutschen Pass bekommt. Bis 1958 findet sie dort Unterkunft in der Klostergemeinschaft der Schwestern vom Heiligen Kreuz, in den Nachkriegsjahren wieder unterbrochen von mehreren Reisen nach München und in andere deutsche Städte. 1950 erhält sie das Bürgerrecht des Kantons St. Gallen. 1959 schließlich verlegt sie ihren Wohnsitz zu ihrer Tochter Camilla in das kleine Dorf Eglharting im Osten Münchens, wo sie bis zu ihrem Tod 1961 im nahen Ebersberg bleibt. Ein Jahr zuvor hatte sie gemeinsam mit ihrer Freundin Ellen Delp ihre Gesammelten Werke in zwei Bänden im Benzinger Verlag, Einsiedeln, Zürich, Köln herausgegeben, die Friedhelm Kemp 1978 unverändert, nur um einige Selbstzeugnisse vermehrt, noch einmal im Kösel Verlag, München unter dem Titel Erzählungen. Prosastücke. Gedichte vorlegte. Regina Ullmanns literarisches Werk spiegelt den erlebten Gegensatz von Heimat und Fremde, vor allem im ländlichen und kleinstädtischen Raum, den sie als ihre eigentliche Heimat versteht, während die großen Städte als Schauplätze ihrer Erzählungen nur randständig erscheinen. Die schweizerische Autorin, in ihrem Heimatland von den Anfängen an beachtet, erfuhr mit zunehmendem Alter immer bedeutendere Ehrungen und Auszeichnungen. Sie häuften sich zu ihrem 50. und 60. Geburtstag und fanden ihren Höhepunkt 1954, als die Stadt St. Gallen der nun Siebzigjährigen den Kulturpreis der Stadt widmete und der Tschudy Verlag Regina Ullmann zum siebzigsten Geburtstag eine Festschrift vorlegte mit 25 persönlichen Gratulationsschreiben von Honoratioren ihrer Heimatstadt, dem Schweizer Bundesrat, der Landesbibliothek Bern, dem Schweizer Botschafter in Paris und vielen Autoren und Professoren, unter ihnen Hans Carossa, Hermann Hesse, 202

„Die Heimat ist ein Teil unserer Seele.“ Heimat und Fremde bei Regina Ullmann

Thomas Mann, Max Mell, Emil Anderegg, Robert Faesi, Max Picard, Fritz Strich, Werner Weber. Die kontinuierliche Rezeption ihrer ersten Veröffentlichungen in Deutschland brach dagegen ab, die in der Schweiz Hochgelobte blieb dort nach 1933 fast unbekannt. Trotz ihrer Konversion zum Katholizismus 1911 wurde sie als Jüdin von den Nationalsozialisten totgeschwiegen und aus dem Deutschen Schriftsteller-Verbund ausgeschlossen. Nach 1945 konnte sie, obwohl 1949 von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München zum außerordentlichen Mitglied aufgenommen, im literarischen Leben aufgrund des unglücklichen Verlagswechsels nicht mehr recht Fuß fassen. Während ihre bis 1934 veröffentlichten Bücher im Münchner Frauen-Verlag und bei den renommierten Verlagen Insel in Leipzig und Beck in München, im Schweizer Rentsch-Verlag und bei Herder in Freiburg von der deutschen Literaturkritik positive Beachtung fanden, geriet sie ab 1942 mit dem katholischen Schweizer Verlag Benziger in Einsiedeln ins Abseits. Denn unversehens fand sie sich hier im Umkreis von Wallfahrts- und Devotionalien-Literatur, frommer und frömmelnder Belletristik, moralischer Jugendschriften und oft sentimental illustrierten Erbauungsbüchern,1 die von den deutschen literarischen Rezensionsorganen übergangen wurden. Die Literaturwissenschaft hat bisher, von wenigen Ausnahmen abgesehen, das Werk wenig beachtet und hauptsächlich die Biografie der Autorin untersucht.2

Regina Ullmanns Heimatbild Regina Ullmanns eigenwillige Art der Heimatliteratur hatte sich schon seit ihren Anfängen von der gängigen Heimatkunstbewegung, den Dorf- und Bauerngeschichten seit der Jahrhundertwende bis zur völkischen Dichtung unterschieden. Nach 1945 fügte sie sich nicht in das Konzept der nun wieder neu belebten 1 2

Vgl. Heinz Nauer: Fromme Industrie. Der Benzinger-Verlag Einsiedeln 1750–1970. Baden/ Schweiz 2017. Charles Linsmayer (Hg.): Regina Ullmann. „Ich bin den Umweg statt den Weg gegangen.“ Ein Lesebuch. Frauenfeld, Stuttgart, Wien 2000, S. 305–424, Nachwort. Eine Annäherung an Leben und Werk von Regina Ullmann; Kristina Kargl: Aus der Schwabinger Bohème ins Schweizer Exil. Das ruhelose Leben der Schriftstellerin Regina Ullmann. In: Ilse Macek (Hg.): Ausgegrenzt – entrechtet – deportiert. Schwabing und Schwabinger Schicksale 1933–1945. München 2008, S. 489–498; Dies.: „In das Nichts gewürfelt ist meine ganze Welt.“ Ein Porträt der Autorin Regina Ullmann zum 125. Geburtstag. In: Jahrbuch der Freunde der Monacensia 2009, S. 172–185. 203

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Heimatliteratur ein, wie diese in harmonisierend-trivialen Romanen, Heftserien, Illustrierten und Filmen weite Verbreitung fand. Diese Literatur entsprach in der Nachkriegszeit dem aktuellen Bedürfnis nach Heimat der Millionen von Vertriebenen und Flüchtlingen, die ihre Heimat verloren hatten, wie den Ausgebombten in den zerstörten deutschen Großstädten, deren Heimat in Trümmern lag; und sicher diente sie auch in ihrem harmlosen, beschwichtigenden und harmonisierenden Tenor großen Teilen der übrigen Bevölkerung als Ablenkung von ihren Verstrickungen in die nationalsozialistische Ideologie und Politik. Trotzdem traf Regina Ullmanns individuelle Art der Heimatliteratur die Lebenssituation des ländlichen Gebiets, der Bevölkerung der Dörfer und Kleinstädte, die ja weitgehend von den Zerstörungen verschont geblieben waren. Von der Literaturwissenschaft ist dieses Terrain bisher wenig beachtet worden. Regina Ullmann bietet tatsächlich ein ungewöhnliches Bild von Heimat in ebenso ungewöhnlicher Schreibweise. Der Titel ihrer ersten Prosaveröffentlichung, Von der Erde des Lebens zeichnet programmatisch die Erdenschwere, das schwere, harte und mühsame Dasein der armen Leute, der Knechte, Mägde, Hausierer, der physisch und psychisch Leidenden, Lebensmüden, Unterdrückten und Außenseitern, die von der gängigen Heimatliteratur meist übergangen wurden. Die Titelgeschichte schildert eine Beerdigung. Sterben und Tod bilden Motive mehrerer Erzählungen; eindringlich sind die Qualen eines scharlachkranken jungen Mädchens ohne Aussicht auf Hoffnung beschrieben, ebenso die Angstträume einer sterbenden Greisin. In einem ihrer bekanntesten Texte, Die Landstraße, begegnet die Erzählerin dem Tod in Persona. Die sexuelle Gier eines geistig beschränkten Knechts nach einem schwachsinnigen Mädchen endet mit einer Vergewaltigung des einem brünstigen Hirsch Gleichenden. Die auf christliche Symbolik anspielende Sammlung Vom Brot der Stillen von 1932 bringt Beispiele des harten, mühseligen Lebens derjenigen, die sonst wenig zu Wort kommen, die oft weder schreiben noch ihr Leid formulieren können, Alte, Unmündige, Behinderte, überhaupt Unbeachtete, Benachteiligte, Schwergeprüfte. Die kurze Erzählung Der Luftballon vermehrt das Personal dörflicher Außenseiter und städtischer Sonderlinge um eine ärmliche Akrobatenfamilie, deren Vater Kunststücke an einem aufsteigenden Ballon vorführt, die von den umstehenden Zuschauern nur schnöde beachtet und wenig honoriert werden. Ein Text gilt einem Buckligen, der sich gedemütigt und verlacht fühlt, als er bei einer Zirkusvorstellung einem ebenfalls buckligen Clown begegnet. In ähnlich düsterem Licht erscheinen die Schauplätze ländlicher Städte. In Die kleine Stadt schweift der Blick vom Äußeren ins Innere, von den niedrigen alten Häusern, der Kirche und den Straßen zu den Bewohnern in ihrem 204

„Die Heimat ist ein Teil unserer Seele.“ Heimat und Fremde bei Regina Ullmann

ten und ihren Gewohnheiten. Der engen kleinstädtischen Mentalität gemäß sind sie als habgierig, lethargisch, bodenständig, verschlossen, unbeweglich vorgeführt. „Alles, was in der Welt vorgeht, liegt für ihre Seele weit in der Ferne, und sie ahnen das Leben wie den Gesang der Amsel.“3 Originelle Vergleiche dienen weniger der Klärung und Veranschaulichung als ihrer Mystifizierung: „[…] die Stadt war ein Grab, in das sich Seelen mit ihrer Habe geflüchtet hatten.“ (27) „Und wenn im Zorn und Hader sie sich entzweien, dann ringt ihre Seele und zieht sich wieder in sich zurück, und das bleibt ihr einziges Erlebnis.“ (27) Dem Kollektiv folgen Einzelschicksale: Das frohe Schneiderlein stellt einen Vertreter dieser Zunft in den Mittelpunkt und entlarvt den vermeintlich frohen, flinken und fleißigen Schneider als einen in seiner Kindheit ungerecht behandelten, stark gedemütigten Menschen, der entmutigt alle Initiative verloren hatte und resigniert vereinsamt sein Leben im väterlichen Haus vertrauerte. Die Erzählung Die Mühle schildert ein betagtes Ehepaar, dessen Lebenswunsch, einmal aus ihrem engen, mühevollen Arbeitsleben zu „einer großen Meerfahrt“ (42) aufbrechen zu können, um „die Welt, die feste Erde zu besitzen“ (43), nicht in Erfüllung gegangen ist. Einsamkeit, ein Motiv mehrerer Texte, führt zu brutalen, aggressiven wie depressiven Handlungsweisen, zu seelischer Erstarrung eines bösartigen Mannes, in seinem verhärteten Wesen ein „steingewordenes Holz“ (168) geworden, sodass die von ihm gedemütigte, zum Unheil gezwungene Frau vergeblich nach Harmonie bettelnd ihrem allmählichen Dahinsterben entgegensieht. Hermann Hesse urteilte: „In ihren kleinen Erzählungen ist alles das erreicht, wonach die falschen Volks- und Heimatdichter so sehr streben.“ „Meines Wissens sind diese Erzählungen ohne Vorbilder.“4 Regina Ullmann nennt ihre Poetik ein „Zauberbuch. Und wer es zu handhaben versteht, der ist ein Dichter.“ (25) Ein Zauber, eine magische Sphäre umgibt die Mehrzahl ihrer Erzählungen und verleiht auch gewöhnlichen, unbedeutenden Vorgängen oder Handlungsweisen einen eigenen Reiz. Während Erzähler des poetischen Realismus etwa in der Regel das geschilderte Geschehen in ausgewogener Komposition und logischer Abfolge strukturieren, die auftretenden Figuren in einem sozialen oder landschaftlichen Milieu positionieren, ihren Handlungsgang auf einer symbolischen Ebene spiegeln, umgeht Regina Ull3

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Regina Ullmann. Die kleine Stadt. In: Dies.: Erzählungen, Prosastücke, Gedichte. Zwei Bände. Zusammengestellt von Regina Ullmann und Ellen Delp. Neu hg. von Friedhelm Kemp. Bd. 1. München 1978, S. 28. Nach dieser Ausgabe die Zitatnachweise in runden Klammern, beim zweiten Band mit der voranstehenden Ziffer 2. Hermann Hesse: Rezension von Regina Ullmann: Vom Brot der Stillen. 1932. In: Die Neue Rundschau 44 (1933), Heft 6, S. 402–404, hier S. 404, 403. 205

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mann eine realitätsnahe, überschaubare Zeichnung, formuliert spontan oder assoziativ, lässt ihren Gedankengang erst allmählich sichtbar werden, formt bewusst oder unbewusst erzählte Vorgänge in enigmatisch wirkende Begebenheiten um. Unbestimmtheiten, Ambivalenzen, Andeutungen oder Vermutungen ergeben sich aus gezielten Leerstellen. Disparate Themen überschneiden sich oder wirken infolge ihrer Kürze elliptisch. Eingangssätze bieten oft keine Verbindung mit den folgenden Passagen, abrupte Themenwechsel und simultane Vorgänge erschweren ein schnelles Verständnis, beflügeln aber die Fantasie der Rezipienten zu mehrfachen Deutungen. Erst nach intensiver Lektüre kann sich eine Empathie mit den Figuren entwickeln und die verdeckte Logik entfalten. Anthropomorphismen von Naturerscheinungen, etwa der Sonne, eines Hügels, des Nebels oder Wassers, mystifizierende Vergleiche und Gleichnisse tauchen die dargestellte Welt in eine okkulte Sphäre. Schwer zu unterscheiden ist, ob derartige Stilzüge aus einer bestimmten Poetologie resultieren, also kalkuliert sind, oder ob sie, wovon Rilke überzeugt ist, „aus einer ihr unbewußten seelischen Tiefe stammen, für die sie nur eine Art Medium ist“.5 Eine Untersuchung ihrer poetischen Verfahrensweise steht noch aus. Wie dem auch sei, ist zu konstatieren, dass Regina Ullmann selbstständig, ohne Vorbilder eine ganz eigene, unverbrauchte Sprache entwickelt, die in Metaphorik, Syntax, Wortfügung, Erzählhaltung keinem der Stilzüge ihrer Zeit gleicht. Versuche, sie dem Naturalismus, dem Stilpluralismus der Jahrhundertwende, dem Expressionismus, dem Magischen Realismus oder der Neuen Sachlichkeit zuzuordnen, schlagen fehl. In der Erzählung Weihnachtsvisite zeigen die Besucher beim Betrachten der Geschenke kein Interesse, als der Sohn stolz einen Atlas ausbreitet – „da konnte man die ganze Welt sehen“ 186) –, während eine „Laterne magica“ (187), die der Vater herbeiholt, größtes Entzücken hervorruft. Die Anwesenden genießen es, wie sie das dunkle Zimmer in wechselnde Farben taucht, die Möbel, das Geschirr, den Barbarazweig am Fenster, die Hyazinthen wie alle vertrauten Dinge mit einer geheimnisvollen Aura umgibt und sie um fantasiereiche Vorstellungen bereichert. Diese Inszenierung lässt sich als poetologisches Programm Regina Ullmanns verstehen, die Umsetzung der Realität in ein magisches, zauberhaftes Fluidum, und weist zugleich thematisch auf die Gegenüberstellung von Heimat und Fremde hin, wobei in diesem Fall der Welt als Fremde eine Absage zugunsten der vertrauten Heimat erteilt wird.

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Linsmayer: Regina Ullmann (Anm. 2), S. 371.

„Die Heimat ist ein Teil unserer Seele.“ Heimat und Fremde bei Regina Ullmann

Heimat und Fremde Der Kontrast von Heimat und Fremde strukturiert eine Anzahl von Erzählungen aus den Jahren 1932 und 1954, die in den Gesammelten Werken von 1960 nun erneut vorliegen. Gemeinsam zeichnen sie sich durch eine Mischung dunkler, surrealer, geheimnisvoller Passagen mit realitätsnah dargestellten Handlungen und Vorgängen aus, die in der jeweiligen Gegenwart spielen, teilweise Ortsangaben enthalten und die aufgrund bestimmter Hinweise oder Anspielungen auf die erzählte Zeit indirekt zu datieren sind. Da die Nachkriegsepoche der 1950er Jahre in der Schweiz und in Deutschland trotz des politischen Umbruchs noch manche Gemeinsamkeiten mit den Konstellationen der 1920er und 1930er Jahre hat, etwa im Anteil von Land und Stadt, von Klein- und Großstädten, in religiöser Bindung und lebensweltlicher Mentalität, können auch die aus den älteren Texten stammenden Geschehnisse auf die Gegenwart der 1950er Jahre bezogen werden. Diese Erzählungen bieten typische Situationen der Heimatund Fremde-Beziehung.

Angst vor der Fremde Die in einer kleinen Stadt der deutschsprachigen Schweiz spielende Erzählung Von dem Modewarengeschäft der Frau Laura Nägeli schildert das enge Zusammenleben der verwitweten Inhaberin mit ihrer 15-jährigen Tochter Lisabethli, die der liebevollen, aber willensstarken, nüchternen und geschäftstüchtigen Mutter von früh an bei ihrer Arbeit zur Seite steht. Obwohl beide „unausgesprochen ihre Heimat“ lieben (278), will die Mutter Lisabethli mindestens für ein Jahr als „Haustochter“ (279) und zum Erlernen der Sprache nach Welschland, also in die französisch sprechende Schweiz schicken, wogegen das heimatgebundene „Nesthöckerli“ (289) um jeden Preis protestiert, bis es sich nach langen Konflikten endlich – „wenn ich eben muß …“ (279) – dem Willen der Mutter notgedrungen fügt. Da die Mutter Verbindung mit einem ebenfalls verwitweten Genfer Hutmacher angeknüpft hatte, der seinen Sohn auch in einem fremden Geschäft hospitieren lassen möchte, steht einem Austausch der beiden Kinder nichts mehr im Wege. Die letzten vier Tage daheim sind schmerzlich, nicht nur für Lisabethli, auch ihre Mutter bereut im letzten Augenblick ihre allzu energische egoistische Entscheidung bitter. Gerade beim Eintreffen des Hutmacher-Sohn aus Genf ist das bedrängte Mädchen „an einer Krankheit gestorben, die dazulande, obgleich oft wiederkehrend, doch legendär nur mit dem Tode endigte: an dem Heimweh!“ (294) 207

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Den äußeren wirklichkeitsnah geschilderten Handlungsablauf überlagern innere Vorgänge, Empfindungen und Ängste der um ihre Heimat bangenden, die Fremde fürchtenden und vor Kummer stumm gewordenen Lisabethli: „inniger [als an der Heimatstadt] hing sein Kinderherz an den vielen Dingen des Hauses.“ (286) Bevormundet, fremd bestimmt, seines eigenen Willens beraubt, gerät das Mädchen, das sich niemanden anvertrauen kann, dem tröstende Freundinnen fehlen und das von der Mutter in ihrem Kummer nicht verstanden wird, in eine traurig-magische Stimmung. Sie klammert sich an die sie umgebenden Dinge, begreift diese aber nicht als bloße Gegenstände oder Objekte, sondern erfährt sie im Sinne Bruno Latours als „nichtmenschliche Wesen“.6 Weit entfernt von einem instrumentellen Verhältnis zu den Dingen, erlebt sie sich in einer Symbiose mit ihnen, nimmt die Dinge nicht nur wahr, sondern erfährt ein quasi menschenähnliches Zusammenleben mit ihnen. „Es war, als müsse es bei allem dabeibleiben. Die Dinge ‚hüten‘, die um es waren, und als sei das am besten, was am nächsten sei. [.…] Wenn es reglos dasaß, war es, als sei es eingeschlafen. Heimweh macht müde. Aber dabei zehrte es von seinen Gegenständen mit dem Herzen auf eine langsame Weise, als nähme das Leben kein Ende und habe immer diese Zeit, die nicht mehr besteht …“ (285) „Mit einer Art Andacht“, also gleichsam in religiöser Stimmung vereint sie sich mit ihrer „Kommode, deren Politur mit dem Brunnen gleichbedeutend schien, indem immer ein Licht in ihr spielte, nämlich der Himmel mit den Platanen.“ (286) Rosen, Nelken, Lilien und Weintrauben auf einem Bild über dem Kanapee erinnern sie an ein Geschenk. Die weiß bezogene Bettstatt, der Tisch mit dem Körbchen darauf, drei ledergepolsterte Stühle, das Schreibpult, vergegenwärtigen ihr noch einmal das gemütliche Leben in ihrem Zimmer und der heimischen Wohnung, den Umgang mit der Handnähmaschine in der Werkstatt der Mutter, alles liebgewordene Stätten, die sie nun verlassen muss und bei deren Anblick sie sich selbst schon „irgendwie entkörpert“ (286) vorkommt und alles im Schwinden begriffen ist. Sie spürt, dass diese anheimelnde Wirkung der vertrauten Gegenstände nur andauert, solange der Scheidende noch zu Hause ist. „Geht dieser von der Welt, oder nur von dem Orte fort, dann scheinen sie nur noch dafür dazusein, den Zurückbleibenden zu erinnern und zu quälen.“ (286 f.) Auch leiblich ist sie mit der Heimat verbunden: „Heimat ist Hafermus, ist Schrotbrot, Heimat ist Alpenmilch! Und diese Milch kann nicht in jedem Häfeli gewärmt werden, und die Schüssel voll

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Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt a. M. 2007, S. 12.

„Die Heimat ist ein Teil unserer Seele.“ Heimat und Fremde bei Regina Ullmann

Mus nicht auf einen beliebigen Tisch der Welt gestellt werden. Heimat ist ein einziger Ort!“ (288) In der Gewissheit, am nächsten Tag abreisen zu müssen, obwohl die Mutter schon eingelenkt hatte, flüchtet die von Heimweh Verstörte in ihr Bett, schläft ein, um nicht mehr aufzuwachen.

Heimatverlust Der in der Inflationszeit spielende Text Von einem weinenden Kinde thematisiert am Fall eines zum Verkauf stehenden Bauernhauses die sozialen Veränderungen jener „Zeitwende“ (347) in der ländlichen Region. Die Erzählung erhält ihre Spannkraft durch den leitmotivisch geschilderten, mehrfach auch wörtlich benannten „Wechsel“ von validen herkömmlichen Verhältnissen zu neuen unbekannten labilen Lebenssituationen oder zeigt – in Regina Ullmanns Worten  –, wie den traditionsverhafteten Bauern „das Weltfremde“, hier in der Bedeutung der den Bauern bis dahin noch unbekannten Welt, „schließlich selber zur Welt“ (346), zum Alltäglichen voller „Unruhe“ (347), zu einer neuen Existenz wird, die das Gewohnte vermissen lässt. Diesem Wechsel entspricht die kontrastive Erzählstruktur. Die den Text erzählende Ich-Figur, eine „jener vielen, die Sehnsucht nach einer Heimat hatten“ (347), sucht als Fremde von außen kommend die bäuerlichen, zum Verlassen ihrer Heimat gezwungenen Eigentümer des Hauses auf. Der aus finanziellen Gründen erforderliche Verkauf resultiert vermutlich, ohne verbaliter genannt zu werden, neben den zeitbedingten wirtschaftlichen Problemen aus dem Tod des im Weltkrieg gefallenen Familienvaters, denn dieser fehlt in der Familie, und der daraus folgenden Überlastung der allein mit ihren beiden Ziehtöchtern lebenden Bäuerin, letzteres eine autobiografische Anspielung. Während die 18-Jährige sich schon aus dem bäuerlichen Stand gelöst und als erfolgreiche Dorfschneiderin eine neue Existenz gefunden hat, verharrt „das zwölfjährige Töchterchen“, die Titelfigur, noch gänzlich in dem gewohnten traditionellen agrarischen Leben. Ihr Verhalten demonstriert die ganze Tragik der erzwungenen Landflucht. Fassungslos, das geliebte Haus und das naturverbundene Landleben, ihre Heimat verlassen zu müssen, hat sie nichts anderes im Sinn, als den Verkauf um alles in der Welt zu verhindern. Wie in dem vorigen Text ist das Geschehen hier und sogar in doppelter Weise durch eine enge Beziehung der Akteure zu den Dingen hervorgehoben, sowohl im Verhalten des feindlichen aufbegehrenden Kindes wie in dem der kaufbegehrenden Fremden. Das Kind „schien sich Wild, ich ihm Jäger zu sein“ 209

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(352), spürt die fremde Städterin. Das als „wilde Brombeerranke“ (348) bezeichnete Kind, stachelig, verletzend, ungebändigt, sich den wilden Naturvorgängen nahezu als ‚nichtmenschlichen Wesen‘ hingebend, protestiert gegen den Verkauf und entflieht in seinem Schmerz der menschlichen Gemeinschaft bei der Verkaufsverhandlung, lässt sich bis in die tiefe Nacht nicht mehr blicken, schlägt „zornig wie eine Hummel gegen die Fensterscheibe“ (352), ängstigt die Mutter, steigert deren Schuldgefühl und bringt ihre Familie wie die kaufwillige Fremde in schlimmste Gewissensqualen. In jähem „Wetterumschlag“ mit Sturm, Regen und einem in der Dunkelheit „durch Mark und Bein“ gehenden aufkommenden „Kälteschauer“ (353) draußen bleibend, offenbart sich seine seelische Not, die, als es endlich doch heimgekommen ist, in ein „unablässige[s] und bitterliche[s] Weinen“ übergeht, in einen „Landregen im Landregen“ (356). Als Kontrast und damit den Schmerz des weinenden Kindes steigernd empfindet die kaufwillige Fremde das Innere des Bauernhauses mit seinem gediegenen Mobiliar als behaglich und anheimelnd: „Räume, die die guten Leute nur auf bloßen Sohlen oder in schafwollenen Strümpfen betraten und die so reingescheuert waren, daß sie einen milden Glanz von sich gaben.“ Beeindruckt von dem sanften „Widerspiel der Lichter, welche der perlmutterfarbene Fußboden von einem patriarchalischen Kachelofen und zahllosen, aneinandergereihten Hinterglasbildern empfing“, vermeint sie darin „die heitere Verwandtschaft des Himmels“ (351) zu erkennen. Ebenso genießt sie die schlichte reinliche Kammer, mit Zinkschüssel, Seifenschüssel, Wasserglas, zusammengefaltetem Handtuch, Kerzenhalter und Schwefelhölzchen, in der die vom Regen aufgehaltene Käuferin übernachtet, wobei sie mit schlechtem Gewissen den immer wieder „neuen Schmerzausbrüchen“ (356) des untröstlichen Kindes lauscht, seinen „Tränenbruch“ (357), „das unaufhaltsame Weinen, ohne Ziel und Ende“ (357) hören muss, sodass sie sich vom Kauf zurückzutreten entschließt. Die Reaktionen beider Figuren zeigen die Verquickung von Menschen mit nichtmenschlichen Wesen: der „Landregen im Landregen“ des weinenden Kindes wie der Schlaf der fremden Kaufwilligen in der reinlichen, mit ihr verwobenen Kammer, die vielleicht ein letztes Mal von einem fremden Gast bewohnt wird. Das Fazit lautet: „Die Heimat ist ein Teil unserer Seele: verkaufen wir sie, so haben wir uns selbst verkauft!“ (359) Nur auf den ersten Blick kann diese Erzählung mit ihrem vermeintlichen Happy End sentimental wirken, denn der hier erfolgende Verzicht auf den Kauf entlastet zwar die zurücktretende Kaufwillige, verhindert aber nicht den Verkauf des Anwesens als solchem, auf das Hunderte anderer schon begierig warten. 210

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Aus der Perspektive des weinenden Kindes endet der zu ergänzende Schluss tragisch. Regina Ullmann stellt der grassierenden Landflucht keine harmonische, weltfremde Idylle gegenüber, sondern zeigt die schmerzliche Härte des sozialen Wandels für die Betroffenen. Eine ähnliche Begebenheit verlorener Heimat schildert die anrührende Erzählung Bemalte Fahne unter dem am Beginn formulierten Motto „Man muß den allzu warmen Pelz des Reichtums zuweilen wohl auf seine lederne, kühle Seite kehren und findet darin eine Art Gerechtigkeit und Genüge.“ (319) Auf einer Fahrt über den Bodensee mit einem Schaufelraddampfer begegnen unter den weiteren Fahrgästen drei begüterte Gamswildjäger einer traurigen jungen Frau, wohl einer verarmten Häuslerin, mit zwei kleinen Kindern, einem sie begleitenden Hüterbuben, einer Kuh, einem Hahn, Geflügel, Schafen, Kisten, Ballen und allerlei häuslichem Kram, den die zum Verlassen ihrer Heimat Gezwungene mit sich trägt. Symbole und Kontraste unterstreichen die bekümmerte Atmosphäre dieser Fahrt bei prächtigem Herbstwetter. Neben dem Gegensatz von Arm und Reich ist die Überfahrt, um sie in ihrer bitteren Notwendigkeit deutlich von einer sonntäglichen Vergnügungsfahrt abzusetzen, auf einen „Montag“ (321) datiert. Selbst freundlich wirkende Naturerscheinungen werden entmystifiziert oder eschatologisch gedeutet: Goldgelb leuchtende Bäume sind Folgen „eines heißtrockenen Sommer[s]. Und ein schwermütiges Moosgrün, einst im Sommer unbeachtet, redete jetzt von der Vergänglichkeit alles Irdischen …“. (321) Ein Schmetterling, das bekannte Symbol für die Seele, wird nur als „dessen Schattenbild auf dem Schiffsboden“ (320) sichtbar. Ein vorbeistreifendes Segelschiff wirft Tod und Vergänglichkeit ankündend seinen „Riesenschatten über die Kuh, über die Frau und die Kinder“ (321). Der in „Klagelaute“ ausbrechende „Hund“ (321) deutet antiker Tradition gemäß auf den Tod voraus, während der Hahnenschrei christlicher Symbolik gemäß auf Überwindung des Todes, auf Auferstehung und Rettung der aus ihrer Heimat Vertriebenen hinweisen könnte. Wenn nicht gleich eine Rettung, so doch eine erhebliche Hilfe für die aus der Heimat Vertriebenen und in Not Geratenen wird ihnen von den Fahrgästen durch Initiative der drei Jäger zuteil. Hatten diese die arme Familie zuerst als bloße „Ladung“ (320) behandelt, so geben sie ihre herablassende Haltung auf, nehmen die klägliche Situation der Ausreisenden ernst und ermuntern die Anwesenden zu einer ergiebigen Geldsammlung, zu der sie den Löwenanteil geben. Die Erzählung endet unerwartet mit der Ehrung des Spenden-Initiators. Als die drei Jäger später von einer Gebirgstour zurückkehren und eine kleine Kapelle in der Nähe des Sees, die sonst immer verschlossen war, besichtigen wollen, erleben sie eine Fahnenweihe, die zu ihrer Verblüffung ihnen 211

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selbst gilt, denn auf der Kordel steht in gestickten Buchstaben: „Dem fremden Jäger, der einer armen Witwe, welche in höchster Not war, die verpfändete Kuh hochherzigerweise zurückgekauft hat, sei zum ewigen Andenken diese Fahne gestiftet.“ Fraglich bleibt, ob dieser auf den ersten Blick befremdende Schluss, die Auszeichnung des Spenders, nicht kitschig wirkt, da von der heimatlos gewordenen armen Familie und deren späterem Schicksal keine Rede mehr ist. Da Regina Ullmann jedoch in der Regel mehr beobachtet als wertet, bietet sich aufgrund einer Leerstelle eine andere Lesart an: Die Ernsthaftigkeit der christlichen überschwänglichen Ehrung des ‚Retters‘ wäre als Provokation zu verstehen, um auf die ausbleibende, um vieles dringendere nachhaltige Nothilfe der Familie aufmerksam zu machen.

Als Flüchtling in der neuen Heimat Baltische Gräfin, die Erzählung von einer aus dem Baltikum in ein deutschsprachiges Land geflohenen Adligen, gehört zu den wenigen Texten Regina Ullmanns, die sich auf einen realen politisch-historischen Hintergrund beziehen. Als nach dem Ende des Deutschen Reichs 1918 im Baltikum die neuen Republiken Estland, Lettland und Litauen entstanden, suchten sich deren Bewohner nicht nur gegen den Machtanspruch der kommunistischen Roten Armee und der russischen Weißen Armee der Monarchisten zur Wehr zu setzen, sondern sie enteigneten auch die adligen deutsch-baltischen Großgrundbesitzer und zwangen damit viele von ihnen, ihre Heimat zu verlassen. Die Baltische Gräfin schildert das Schicksal eines aus der Heimat vertriebenen und in die Fremde verstoßenen Flüchtlings, ein nach dem Zweiten Weltkrieg erneut aktuelles Thema, sodass Regina Ullmann mit dieser Erzählung in ihren Gesammelten Werken von 1960 quasi als zeitgemäße Autorin erscheinen kann. Die problematische Situation der allgemein verordneten Einquartierung von Flüchtlingen in die bestehenden Wohn- und Besitzergemeinschaften ist hier durch die Konzentration des Schauplatzes auf einen einzigen Raum, den sich die Fremde und die heimische Bewohnerin, eine Buchbinderin teilen müssen und der zugleich deren Arbeitsraum ist, als besonders erschwerend hervorgehoben. Der Altersunterschied beider Personen trägt zu deren Schwierigkeiten eines nahen Umgangs bei: Die Gräfin als „eine halsstarrige, alte Dame“ (388) trifft mit der überarbeiteten jungen Frau zusammen. Der Text fängt die angespannt-bedrückende Atmosphäre dieser feindseligen, manchmal einander anschweigenden, dann allmählich sich konsolidierenden Gemeinschaft ein 212

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und schildert, von einer im Präteritum sprechenden Erzählerfigur berichtet, die beiderseitigen Irritationen in einem permanenten Prozess von Annäherung und Abwehr. Das wirklichkeitsnah dargestellte Geschehen ist von einer Reflexionsebene mit aparten Vergleichen und über die konkrete Situation hinausweisenden Fragen und Erwägungen begleitet, die dem Text einen mehrschichtigen Charakter verleihen und die Titelfigur in ihrem inneren Zwiespalt zwischen Resignation und Wutausbrüchen profilieren. So erscheint etwa die verstörte neue Bewohnerin bei der Einladung ihrer Vermieterin zu gemeinsamen Teetrinken „wie Lampen, die lange nicht gebrannt haben, der Flamme des Zündholzes, nicht fügsam entgegenkommen“ (388). Den schwierigen Umgang der Vermieterin mit dem fremden Gast setzt ein Vergleich ins Bild: „[…] die Junge rechnete bereits mit der Gräfin wie mit einem schönen alten Spinett, welches ihr jemand vorübergehend in die Stube gestellt, und das sie nicht auszuprobieren imstande war.“ Vom Vergleich zum Gleichnis übergehend, heißt es weiter: „Aber so im Vorbeigehen lüftete sie doch den Deckel, um ein wenig zu klimpern. Indessen es gab keinen Ton von sich.“ (390) Vergleiche konvergieren mit allegorischen Bildern: „Überhaupt ist das Leben zuweilen durchsichtiger als Glas, und man will nur nicht in es hineinschauen, weil man sich vor dem, was es in einem auslöst, fürchtet.“ (389) Fragen und Erwägungen der Erzählfigur deuten nicht nur auf die Unsicherheit der Gräfin in der fremden Umgebung hin, sondern relativieren auch ihr bisweilen beleidigendes Verhalten. Nachdem von ihrer Schroffheit der Gutmeinenden gegenüber die Rede gewesen war, sucht die Erzählfigur sich in das Innere der Protagonistin einzufühlen, sie zu entschuldigen und den Rezipienten diverse Erklärungsmöglichkeiten anzubieten: „Möglicherweise konnte in der Gräfin nachträglich eine Feindseligkeit dem geteilten Zustand gegenüber, den sie stillschweigend zugegeben zu haben schien, erwacht sein. Denn wer weiß, was allein in einer Stunde schon in alten Menschen, die obdachlos und einer ungewissen Zukunft ausgesetzt sind, alles vor sich geht. Vielleicht benehmen sie sich plötzlich unbekümmert und herausfordernd. […] Oder sie werden mit der Zeit apathisch, und das letzte, das sie äußern, ist ein hochfahrend vor sich hin gesprochenes Wort.“ (389) Das Verhalten der Gräfin steigert sich am Schluss dramatisch durch die leitmotivische Wiederaufnahme einer Redensart. Die Aussage der Erzählfigur „Man konnte deutlich fühlen, dass ihr die Menschen Luft waren“ (389) mutiert zur Figurenrede. Als die Buchbinderin die Gräfin in einem Verzweiflungsausbruch trösten möchte, schrie sie diese – „gegen alle ihre Wohltäter“ gerichtet – an: „Sie sind mir Luft! […], ich kenne sie nicht, sie sollen alle gehängt 213

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werden!“ (394) Starrsinnig findet sie auch am nächsten Morgen keinen Ausweg aus der „Sackgasse“ (394). Trotzdem endet der Text nicht mit diesem bösen Wort, sondern mit dem versöhnenden Bild der Gräfin als „einer alten Frau in blauer Handwerksschürze“ (394), in der sie offenbar ihren Adelsstolz abgelegt hat und der helfenden Buchbinderin nahegekommen ist, die zuvor selbst in „blauleinene[m] Handwerksschurz“ (388) aufgetreten war. Eine derartige Annäherung von Fremden an den Usus der Einheimischen ist eine allgemeine Verhaltensweise. Dass Regina Ullmann mit diesem Text auf eine solche abzielt, könnte dem zu erwartenden, aber hier fehlenden bestimmten Artikel im Titel zu entnehmen sein: Baltische Gräfin zielt nicht auf eine bestimmte Gräfin hin, sondern zeichnet den Typus. Ungeachtet der Anspielung auf die Zeit um 1918 könnten Thema und Darstellungsweise dieser Erzählung in der Nachkriegszeit und in den 1950er Jahren in Regina Ullmanns Gesammelten Werken wieder aktuell wirken.

Fremde in der Heimat Fremde von Einheimischen abgewiesen und Einheimische von Fremden gestört, diese Konstellation tritt bei Regina Ullmann in mehreren Varianten auf. Die Erzählung Durchs Glasaug von 1954 etwa gibt Einblicke in die egoistische Mentalität der Bauern. Als nach dem üppigen Essen einer Martinsgans eine entferntere Verwandte der Familie zufällig und unangemeldet hinzukommt, räumt die Familie in aller Eile die verbliebenen Reste der Mahlzeit ab, empfängt die Verwandte als Fremde nur an der Tür und bittet sie nicht herein, sodass die Besucherin wieder abziehen muss, eine in der Nachkriegszeit nicht unübliche Verhaltensweise. Fantasievoller und mehrschichtiger ist dieses Thema in dem ebenfalls 1954 veröffentlichten, schon durch seinen sonderbaren Titel Erstaunen erregenden Text Bosniak und Mädchen ausgebreitet. Bosniaken nennt man die Angehörigen einer südslawischen Minderheit, die hauptsächlich in Bosnien und Herzegowina lebten, deren Angehörige nach dem Ersten Wettkrieg und der Gründung der sozialistischen Diktatur Jugoslawien 1945 auswanderten und sich dann fast gänzlich zerstreut haben. Vermutlich hat die Verfasserin diesen im Deutschen ungebräuchlichen Namen gewählt, um damit schon sprachlich die Fremdheit der Titelfigur zu unterstreichen. Zugleich zielen die fehlenden Artikel bei beiden Personen wieder auf den Typus, Bosniak repräsentiert den Vertreter einer fremden ethnischen Gemeinschaft, Mädchen unter anderem den Typ der ‚Fremden‘ oder der ‚Wandernden“ die von anderswo herbeikommt, eine 214

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Gestalt, die in mehreren Texten auftritt und in der sich Regina Ullmann bisweilen selbst gesehen hat.7 Ein aus einem Kurort kommendes Mädchen gelangt nach einer Wanderung auf den Bauernmarkt einer kleinen Stadt, wo ihr unter den Verkaufsständen und Zelten ein Mann durch einen Fez auffällt, der besagte Bosniak. Nachdem sie auf dem Markt einen Schirm gekauft hatte, begegnet sie dem Fremden abends im Wirthaus wieder und kommt zufällig ganz in seiner Nähe zu sitzen. Bald wird auch der Bosniak auf das Mädchen als dem einzigen weiblichen Wesen unter der Menge von einheimischen Bauern und Händlern in der übervollen Gaststätte aufmerksam. Er redet sie „in gebrochenem Deutsch, halb artig und halb spottlustig mit den Worten an“: „Gute Geschäfte gemakt, schönes Froilain?“ (2, 325) Auf die lakonische Antwort „Ja“ des lächelnden Mädchens entwickelt sich folgender Dialog: „Mit was denn, Froilain?“ „Mit Parapluie“. „Habe Sie nix gesehen, Froilain?“ „Bin in die Häuser gegangen!“ „‚Wo sind sie denn?‘ (Die Parapluies, meinte er.)“ „Hab alle verkauft!“ (2, 325 f.) Erstaunt über das ein wenig freche, aber liebenswürdige Mädchen, es für eine Parapluie-Händlerin haltend und zu einem Flirt aufgelegt, macht er Anstalten, mit ihr zusammenzubleiben. Das Mädchen jedoch hatte von dem Spaß schon bald genug, verlässt den Mann, fährt allein mit der Bahn davon und befindet sich am nächsten Tag bei ihren Freunden in einer anderen Stadt, wo es überraschend noch einmal zu einer Begegnung mit dem Bosniak kommt. Als fliegenden Händler sieht sie ihn auf einem Jahrmarkt Kinderspielzeug verkaufen, freut sich über eine an einem Gummiband befestigte Kobold-Figur, mit der er der Wiedererkannten, wohl beleidigt und enttäuscht über das schnelle Verschwinden gestern, einen „peitschenähnlichen Schmerz“ (2, 332) zufügt. So kurios diese Erzählung mit ihren mehrfachen Unwahrscheinlichkeiten, Gewaltsamkeiten und logischen Schnitzern sein mag, so ergiebig ist sie für das Problem von Heimat und Fremde, weil hier anstelle der üblichen bloßen Gegenüberstellung beider Fronten eine raffinierte Figuren-Konstellation vorgenommen ist. Beide Protagonisten sind Fremdkörper in der heimatlichen Umgebung des bäuerlichen Markts, der Bosniak als Ausländer unten den heimischen Bauern und Händlern, das Mädchen sogar in dreifacher Gestalt: als Angehörige der bürgerlichen Gesellschaftsschicht  – sie kommt aus einem „Kurort“ (2, 327) hinzu –, als regional Fremde aus einer anderen Gegend und als einziges weibliches Wesen im Gasthaus. Zugleich aber sind beide, der Bosniak und das Mädchen, einander fremd. Die von der Verfasserin arrangierte Platzverteilung der 7

Vgl. Friedhelm Kemp im Nachwort zu Regina Ullmann: Goldener Griffel und andere Erzählungen. München 1984, S. 87. 215

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beiden am Wirtshaustisch demonstriert die mehrfache Fremdheit überdeutlich: Zwischen Mädchen und Bosniak sitzt als „Grenzpfahl“ (2, 326) der stur schweigende, seine Nachbarn bewusst ignorierende Bauer, sodass der Bosniak „gefangen wie in einer Falle, in einer Menschenfalle“ (2, 323) steckt. Der Bosniak und das Mädchen können nur hinter dem Rücken des „Grenzpfahl“-Bauern kommunizieren. Dieser ist jedoch nicht der einzige Frauen- und Fremden-Ignorant oder -Verächter, denn für alle Bauern „war das Mädchen soviel wie Luft“ (2, 324). Keinem von ihnen wäre es eingefallen, das Mädchen anzusprechen. Schließlich verhält sich das Mädchen dem Bosniak gegenüber zwiespältig. Von der auktorialen Erzählinstanz als „eine komische Figur in dem kleinen, sehr entlegenen ‚Welttheater‘“ bezeichnet und im Gespräch mit dem Bosniak „ohne es eigentlich zu wollen, in eine Rolle hineingeraten […], die ihm aber nicht gehörte“ (2, 325), kokettiert es erst mit ihm, erweckt leichtsinnig seine Sympathie, um dann den Fremden unvermittelt fallen zu lassen: „Sie hatte auch bereits allein schon von dem Spaß genug und trachtete in ihrem Innern darnach, dem Manne da zu entweichen.“ (2, 327) Auch hier also zwar keine direkte Fremdenfeindlichkeit, aber doch ein recht herablassendes Verhalten dem Fremden gegenüber, sodass dieser enttäuscht ist und sich verspottet vorkommt und die Gelegenheit ergreift, die mittlerweile von Freunden und Bekannten ihres Standes umgebene Ungetreue mit dem Kobold zu bestrafen. Damit endet der Text, wohl kaum aber das Nachdenken über den Bosniak, der äußerlich als neckender Kobold auftritt, innerlich aber tief gekränkt sein muss, wenn er im Glauben, die Fremdheit zwischen ihm und dem Mädchen überwinden zu können, nun so schroff abgewiesen wird. Was für das Mädchen nicht mehr war als eine Spielerei, hatte er als eine ernstgemeinte Annäherung verstehen können. Die unterschiedlichen Szenen der Begegnungen von Einheimischen und Fremden zeigen eine vorurteilsfreie, kritische Bewertung beider Seiten. Heimat ist an keiner Stelle wie in der Heimatdichtung seit der Jahrhundertwende bis in die 1950er Jahre idealisiert und positiv dargestellt, und ebenso wenig erscheint die Fremde nur als eine negative, feindliche Instanz. Vielmehr ist eine Mischung wahrzunehmen, in der Heimat treten auch starre und abweisende Charaktere auf, unter den Fremden sind die leidenden, problematischen Naturen ernst genommen. Heimatliebe kann bedrückend und hemmend sein, Fremde kann befreiend wirken. Und sämtliche Figuren agieren auf einem Feld, das von der Literatur der1950er Jahre wenig bestellt ist, im ländlichen und kleinstädtischen Raum. Regina Ullmann widmet sich dort alltäglichen Schicksalen und thematisiert innere, intime Empfindungen derjenigen, denen „Heimat“ als Besitz oder Verlust „ein Teil“ ihrer „Seele“ ist. 216

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‚Dekade der Flucht‘ – Flucht und Vertreibung in Arno Schmidts Prosawerk der 1950er Jahre Ende 2019 flohen weltweit laut Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) geschätzt etwa 79,5 Millionen Menschen.1 Aber bereits in den Fünfzigerjahren des vorangegangenen Jahrhunderts waren Flucht und Vertreibung ein in Deutschland drängendes Massenphänomen, welches weite Teile der Gesellschaft betraf. Arno Schmidt, ein Autor, dessen eigene Erfahrungen erzwungener Migration über mehr als ein Jahrzehnt zum maßgeblichen Repertoire seines erzählerischen Werkes wurden, wird bis heute leider nur sporadisch und unzureichend zum Kanon deutschsprachiger Fluchtliteratur gezählt. Es ist auffällig, dass bis heute nur sehr wenige Analysen zu ausgewählten Werken die zeitgenössisch-historischen und künstlerischen Verflechtungen dieses Autors mit dem für die 1950er Jahre neben dem Wiederaufbau‚ dem ‚Wirtschaftswunder‘ oder der weitestgehend konservativen Gesellschaftsordnung der ‚Adenauer-Ära‘ in Westdeutschland gesellschaftspolitisch bestimmenden Thema von Flucht und Vertreibung Deutscher in Folge des Zweiten Weltkriegs höchstens punktuell und wenn, so fast ausschließlich in Anlehnung an Schmidts eigene Biografie, in die literaturwissenschaftliche Betrachtung einfließen lassen. Im Folgenden werden Flucht und Vertreibung in der Prosa des Autors als narrativ konstituierende und leitmotivisch strukturierende Elemente herausgearbeitet. Damit hat Schmidt deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen ein bisher ungewürdigtes, wahrscheinlich frühestes und umfassendes literarisches Denkmal gesetzt – dabei gesellschafts- und ideologiekritisch, kritisch auch den genannten Gruppen gegenüber und vor allem frei von revanchistischen Untertönen und Tendenzen. Es ist erstaunlich, welchen Beitrag zur gegenwärtigen Erinnerungskultur Schmidts Erzählungen unter diesem Aspekt leisten könnten, vervollständigen sie doch eindrucksvoll das Bild des Bemühens deutschsprachiger Literatur um Aufarbeitung von Folgen des Zweiten Weltkrieges im ersten Nachkriegsjahrzehnt und fungieren zugleich als eine literarische Spiegelung eines immensen Integrationsprozesses innerhalb der deutschen Gesellschaft, der aus heutiger Sicht beispielhaft ist.

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Vgl. https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fluechtlinge/zahlen-fakten.html (20.5.2021). 217

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Arbeiten zu diesem Thema sind in der Schmidt-Forschung in Hinsicht auf das Fluchtmotiv nur vereinzelt vorhanden. Die wichtigsten Texte aus sowohl sozial- wie motivgeschichtlicher Perspektive legten hierzu Susanne Fischer mit ihrer Untersuchung zu Schmidts Erzählung Die Umsiedler und – bereits stark eingeschränkt – Hans Wollschlägers Aufsatz zum ‚Insel-Motiv‘ als möglichem imaginären Zufluchtsort vor. Fischer demonstriert erstmalig anhand Schmidts biografischer Daten und Materialien sowie umfangreicher sozialhistorischer Fakten die auffälligen Parallelen zwischen den Lebensumständen des Ehepaares Schmidt und den in Die Umsiedler geschilderten Geschehnissen  – eine Auffälligkeit, die in wechselndem Umfang auch auf den Großteil der zu betrachtenden Werke in den 1950er Jahren zutrifft.2 Wollschlägers Rede anlässlich der Verleihung des ‚Arno Schmidt Preises‘ 1982 vermerkt, dass die Flüchtlingsschicksale den Mittelpunkt in Schmidts Literatur als „genaueste Chroniken der Zeit“ bilden.3 Wollschlägers Fokus jedoch liegt auf Schmidts biografischer wie literarischer ‚Segregation‘ – dem übergreifenden Bezug seiner ‚Insel-Metapher‘  –, die damit verbundene ‚Insel‘ als wiederkehrender Idyllentopos in Leben und Werk des Autors als allgemeine Reaktion auf die ursprüngliche Katastrophenerfahrungen des Zweiten Weltkrieges sei darauf zurückzuführen.4 So wird bei Wollschläger das Flucht-Sujet anstatt eines in unterschiedlichen Facetten und Ausprägungen beobachtbaren Textphänomens innerhalb eines klar umrissenen Zeitraums und Werkumfangs zum Psychogramm Schmidts und einem als werkübergreifend erachteten „Grundthema der Heimatlosigkeit des Einzelnen bis hinaus in die Metaphysik.“5 Hartmut Vollmers 1990 erschienener Aufsatz Das vertriebene und flüchtende Ich beschränkt sich in seinen Betrachtungen des Fluchtsujets auf Konflikte zwischen ‚genialischem Ich‘ jeweiliger Protagonisten und der sie umgebenden unverständigen, tumben Gesellschaft, welche die Protagonisten vor die Wahl stellen würden, sich zurückzuziehen, zu 2

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Vgl. Susanne Fischer (Hg.): „Umgängliche Nachbarn erwarten euch“. Zu Arno Schmidts Die Umsiedler. Bargfeld 1995 (Arno Schmidt Stiftung, Hefte zur Forschung 3). Hans Wollschläger: Die Insel und einige andere Metaphern für Arno Schmidt. Rede zur Verleihung des Arno-Schmidt-Preises am 18.1.1982 in Bargfeld. In: Ders: Die Insel und einige andere Metaphern für Arno Schmidt. Göttingen 2008 (Hans Wollschläger. Schriften in Einzelausgaben), S. 141–220, hier S. 147. Vgl. ebd., S. 159. Wollschläger erkennt zwar die Fluchtthematik als zentrales Sujet an, sein Fokus auf die psychische Konstitution des Autors Schmidt und dessen lebenslanger Suche eines ‚inselartigen Fluchtortes‘ jedoch hat anscheinend eine intensivere Auseinandersetzung mit der Ausformung und literarischen Darstellung dieser Thematik im Werk verdrängt. Ebd., S. 147.

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flüchten oder zu opponieren.6 Timm Menke hat 2004 hingegen den ersten umfassenderen Versuch gemacht, sich der Flucht und Vertreibung bei Schmidt über deren faktisch-historische Bezüge hinaus anzunähern und den Kreis der betrachteten Werke erweitert. Er hebt es als anzuerkennende Leistung des Autors hervor, „[a]ls einer der wenigen Zeitzeugen […] in seinen Werken die Thematik der Leiden der deutschen Zivilbevölkerung am Ende des Zweiten Weltkriegs auf[zugreifen]“.7 Jan Philipp Reemtsma beschied 2007 hierzu ganz ähnlich: „Der Name Arno Schmidt muss […] fallen, wenn es um das Thema Flucht und Vertreibung geht. Interessanterweise kommt der Name bei allen denen, die Grass für einen Avantgardisten dieses Themas halten, nicht vor – es ist schlicht und einfach eine Frage der Bildung, wie mir scheint.“8 Aber wie die Vorgenannten benennt, qualifiziert oder verortet auch er kein in Schmidts Prosawerken der 1950er Jahre diesbezügliches Leitmotiv. Die bisher schwache, vereinzelte Resonanz in der Forschung zu Flucht und Vertreibung im erzählerischen Werk Arno Schmidts verwundert noch mehr, je stärker man sich vor Augen hält, wie sehr diese Faktoren nicht nur das Leben und Werk des Autors selbst, sondern auch knapp zwölfeinhalb Millionen seiner Mitbürger direkt und damit die innergesellschaftlichen Tendenzen der noch jungen Bundesrepublik bis weit in die 1950er Jahre hinein bestimmten. 1928 zog der vierzehnjährige Arno Schmidt nach dem Tod des Vaters mit Mutter und Schwester von Hamburg ins schlesische Lauban, 1938 von dort mit seiner Frau Alice in das benachbarte Greiffenberg.9 Seine neue Heimat Schlesien hat er, nach Kriegsende aus der Gefangenschaft entlassen, nicht wiedergesehen. Während eines kurzen Fronturlaubs wurden gemeinsam die Details der nahenden Flucht geplant: Eindrucksvoll zeigt ein überliefertes „Fragment einer Liste der auf der Flucht aus Greiffenberg mitzunehmenden Bücher“, was dem jungen Autor als unverzichtbar erschien.10 Lakonisch mag die spätere, 6

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Vgl. Hartmut Vollmer: Das vertriebene und flüchtende Ich. Zu den Protagonisten im Frühwerk Arno Schmidts. In: Michael Matthias Schardt, Hartmut Vollmer (Hg.): Arno Schmidt. Leben – Werk – Wirkung. Hamburg 1990, S. 89–108. Timm Menke: Flüchtlings- und Vertriebenenschicksale im Werk Arno Schmidts. In: German Life & Letters 57 (2004), S. 427–439, hier S. 427. Jan Philipp Reemtsma: Flucht und Vertreibung bei Arno Schmidt und Walter Kempowski. In: Stefan Hermes, Amir Muhic´ (Hg.): Täter als Opfer? Deutschsprachige Literatur zu Krieg und Vertreibung im 20.  Jahrhundert. Hamburg 2007 (Poetica. Schriften zur Literaturwissenschaft 100), S. 60. Vgl. Wolfgang Martynkewicz: Arno Schmidt. Hamburg 1992, S. 24, 33. Vgl. fotografische Abbildung des Dokuments in Bernd Rauschenbach, Jan Philipp Reemtsma (Hg.): „Wu Hi?“. Arno Schmidt in Görlitz Lauban Greiffenberg. Edition der Arno Schmidt Stiftung. Zürich 1986, S. 190. 219

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biografisch konnotierte Aussage seines Protagonisten Joachim in Seelandschaft mit Pocahontas anmuten, er habe „ein komplettes Haus im Schlesischen“ verloren.11 Verlust ist dabei das verbindende Element aller Flüchtlinge und Vertriebenen, unabhängig von Alter, Geschlecht, religiöser oder politischer Überzeugung. Das Ende des Zweiten Weltkrieges und dessen Folgen bedeuteten für etwa 14 Millionen Deutsche insbesondere als Resultat des Gebietsverlustes im Osten nicht nur psychische und physische Verletzungen, materielle Verluste bis zur Aufgabe der gesamten wirtschaftlichen Existenzgrundlage und erzwungene Migration, sondern für über zwei Millionen Menschen auch den Verlust des Lebens selbst. Der Strom der Überlebenden und mit ihnen eine Flut individueller Schicksale und massiver Versorgungsprobleme überkam die Besatzungszonen; zusammen mit den Gruppen der Kriegsheimkehrer, ehemaligen Zwangsarbeitern und befreiten Häftlingen (displaced persons) sowie wegen der Bombardierungen aus Städten Evakuierten bildeten Flüchtlinge und Vertriebene eine Migrationsbewegung bisher ungekannten Ausmaßes: Allein Flüchtlinge und Vertriebene stellten knapp ein Viertel aller auf dem Gebiet der Bundesrepublik befindlichen Personen.12 Dabei war das Aufkommen dieser Gruppe nicht auf die direkten Nachkriegsjahre beschränkt: Die Massenflucht aus der DDR, die bis 1961 andauerte, schloss „sich an die Flüchtlings- und Vertreibungswelle der Vorjahre unmittelbar [an]“.13 Die gesamten 1950er Jahre hinweg blieb die Folge der unfreiwilligen Migration ein signifikantes Problemfeld, welches sich zusammen mit den Kriegsfolgen noch potenzierte. Neben Versorgungsschwierigkeiten mit Lebensmitteln oder Gütern des Grundbedarfs war insbesondere der Mangel an Wohnraum das Hauptproblem. Die gesellschaftlichen Probleme blieben hingegen bestehen und wurden oft als noch unerträglicher als der Mangel an Gütern des täglichen Bedarfs oder an Wohnraum empfunden. Hans-Ulrich Wehler beschreibt das soziale Klima in knappen Worten: „Sie [die Flüchtlinge und Vertriebenen] wurden von Einheimischen oft diskriminiert, mußten häufig eine berufsfremde, schlechter bezahlte Tätigkeit in weniger angesehenen Berufen übernehmen, überproportional häufig Gelegenheitsjobs akzeptieren oder anstrengende Bauarbeit ausführen, sich zunächst mit primitiven Wohnverhältnissen abfinden und eine höhere Arbeitslosenquote hinnehmen.“14 11 12 13 14 220

Arno Schmidt: Seelandschaft mit Pocahontas. In: Ders: Bargfelder Ausgabe I/1. Zürich 1987, S. 391–437, hier S. 428. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bundesrepublik und DDR 1949–1990. Bd. 5, München 2008, S. 109. Ebd., S. 43. Ebd., S. 157.

‚Dekade der Flucht‘

Von der Politik, der insuffizienten, überforderten Verwaltung und den Einheimischen wurden die Notleidenden als Belastung wahrgenommen, ab 1946 stritten die drei westlichen Besatzungszonen miteinander um eine gleichmäßige Verteilung der Menschen. Es wurde ‚umgesiedelt‘. In den Aufnahmegebieten herrschten ebenfalls Wohnraummangel und Arbeitslosigkeit, und der meist nur unter Zwang geteilte Wohnraum und die Requirierung von Möbeln brachten die Ortsansässigen auf. Die Flüchtlinge und Vertriebenen waren nicht nur permanenter Existenznot, sondern so auch den Anfeindungen der meisten Einheimischen ausgesetzt, die ihr verbliebenes Eigentum und ihre in kulturellen wie konfessionellen Aspekten lang gehegten Ressentiments verteidigten.15 Die Integration dauerte bis zum Beginn der 1960er Jahre an und gelang erst mit fortschreitendem Wirtschaftswachstum sowie wachsendem Wohlstand in der Bevölkerung – eine Leistung, die ohne das ‚Humankapital‘ der Flüchtlinge und Vertriebenen nicht hätte erbracht werden können.16 Nach Kriegsende und seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft wurden Arno Schmidt und seine Frau im westfälischen Cordingen angesiedelt. Anfänglich an der Hilfspolizeischule Benefeld eingesetzt, arbeitete Schmidt nach deren Auflösung gegen Ende 1946 als freier Schriftsteller, dem „nun das ganze Leben zum Reservoir seiner Erzählungen [wird], zum Material, aus dem die fiktionale Konstruktion hervorgeht“.17 Dieses Leben unter dem Vorzeichen von Flucht und Vertreibung – und mit ihm seine Literatur – wird bis zum Ende der 1950er Jahre ein unstetes und getriebenes sein. Von Cordingen wird der Autor umgesiedelt werden, mehrere Aufenthaltsorte beziehen und ihnen meist enttäuscht den Rücken kehren, bis das Ehepaar Schmidt schließlich 1958 an seinem letzten Wohnort in Bargfeld im Kreis Celle ‚ankommt‘. Genau unter diesen politischen und sozialen Einflüssen schreibt Schmidt in den 1950er Jahren und spiegelt sie in verschiedenen Facetten wider. Dabei lassen sich drei teils miteinander verbundene Einzelstränge bestimmen, aus dem sich das ‚Flucht-Sujet‘ als Ganzes zusammensetzt: 1. Flucht als erzwungene Bewegung und das erfahrene Gefühl der Ablehnung, des ‚AusgestoßenSeins‘, 2. Flucht als Ursache physischer wie psychischer Traumata und 3. das Abhandenkommen von Ankommen: Der stetige Zusammenbruch von Idyllen und Fluchträumen. Die literarische Phase der Flucht beginnt mit der eruptiv startenden Bewegungsdynamik am Ende von Leviathan oder Die beste 15 16 17

Vgl. Fischer (Hg.), „Umgängliche Nachbarn erwarten euch“ (Anm. 2), S. 10–14. Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte (Anm. 12), S. 51, 157. Vgl. Martynkewicz, Arno Schmidt (Anm. 9), S. 47. 221

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der Welten und wird im Fanal einer apokalyptischen Vertreibung in KAFF auch Mare Crisium beendet.

1. Flucht als erzwungene Bewegung Im betrachteten Abschnitt von Schmidts erzählerischem Werk ist eine oft auffällige Bewegung seiner Protagonistinnen und Protagonisten zu beobachten, die durch Ruhelosigkeit, Zwang, Abstoßung, Trennung, Unsicherheit und Gewalt gekennzeichnet ist: eine literarische Mimesis von Flucht und Vertreibung als – wenn auch nicht immer direkt durch äußere Einflüsse erzwungene, so doch ungeliebte, schmerzhafte – Bewegung. Diese Dynamik folgt Schmidts eigenen biografischen ‚Wegmarkierungen‘ und bildet sein Erleben literarisch ab. Den Beginn macht die schon 1949 erschienene und 1951 mit dem ‚Großen Literaturpreis der Akademie der Wissenschaft und Literatur‘ ausgezeichnete Erzählung Leviathan oder Die beste der Welten: Eine Personengruppe flüchtet am 14. Februar 1945, dem symbolträchtigen Datum der Bombardierung Dresdens, in einem Güterwagen vor der heranrückenden Roten Armee aus Schlesien.18 Dabei lässt Schmidt biografische Parallelen einfließen, indem er seinen namenlosen Protagonisten zusammen mit dessen Vertrauter Anne an den Orten nahe seines Wohnortes entlangführt und den jungen Soldaten mit einem Detail seiner eigenen Vita ausstattet: dem Marschbefehl nach Ratzeburg.19 Der autobiografische Einfluss der Flucht des Ehepaares Schmidt ist offenkundig. Die beschriebene Fluchtbewegung jedoch geschieht in einem Setting der unmittelbaren Lebensbedrohung  – die Flüchtenden werden wiederholt von Granateinschlägen und MG-Salven getrieben, jedes Verharren ist lebensgefährlich.20 Das beeindruckendste Moment des erzwungenen Bewegens in seinem 18

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Das Datum ist anscheinend bewusst gewählt, um eine Analogie zwischen dem Schicksal der flüchtenden Figuren und der Katastrophe Zehntausender getöteter Flüchtlinge und Vertriebener infolge des alliierten Bombenangriffs auf Dresden herzustellen. Das Leiden des kleinen Figurenkreises während der Flucht und damit die Fluchtthematik im Werk wird so von Schmidt in einen Gesamtzusammenhang viel größeren Ausmaßes gesetzt. In Leviathan steht hierzu drucktechnisch hervorgehoben: „(Einmal ganz fern schweres erdbebengleiches Rollen. Lange. Wie ein Riesenluftangriff. Dresden? Gott spaziert auf Bombenteppichen.)“ Arno Schmidt: Leviathan oder Die beste der Welten. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe I/1. Zürich 1987, S. 33–54, hier S. 52. Vgl. Martynkewicz, Arno Schmidt (Anm. 9) S. 145 und Schmidt, Leviathan (Anm. 18), S. 35, 42. Vgl. Schmidt, Leviathan (Anm. 18), S. 42 ff.

‚Dekade der Flucht‘

Höhepunkt zeigt die Erzählung jedoch an ihrem Ende. Abgeschnitten auf einem Viadukt, ohne die Möglichkeit weiterer Flucht, löst der Autor die Situation mit einer letzten Bewegung auf: Wir werden in die grobrote bereifte Tür treten. Goldig geschleiert wird die Teufels-Winter-Sonne lauern, weißrosa und bleikalt. Sie wird das Kinn vorschieben und bengelhaft den Mund spitzen, die Hüften zum Schwung heben. Starr werde ich den Arm um sie legen. Da schlenkere ich das Heft voran: flieg. Fetzen.21

Gemeinsam stürzt sich das junge Paar in die Tiefe. Schmidts Erzählung zeigt als erstes veröffentlichtes Werk des Autors starke autobiografische Einflüsse und gibt der nachfolgenden ‚Werkphase der Flucht‘ eine initiierende ‚Bewegungsenergie‘. Der mutmaßliche Sturz in die Tiefe kann mit der unkontrollierbaren Bewegung gleichgesetzt werden, denen die Protagonisten nachfolgender Erzählungen ausgesetzt sind. Der Verlust menschlicher Bindung als Folge dieser erzwungenen, unkontrollierbaren Bewegung, der der ‚heim(at)lose‘ Mensch quasi objekthaft ausgesetzt ist, wird in den 1951 veröffentlichten Erzählungen Brand’s Haide und Schwarze Spiegel besonders deutlich. Eine ‚Liebesgeschichte im Vorbeigehen‘ ist Brand’s Haide; der aus Gefangenschaft in Belgien kommende Kriegsheimkehrer Schmidt – von Beruf Schriftsteller – wird in einem norddeutschen Dorf einquartiert, und verliebt sich in die Ältere zweier geflüchteter Schlesierinnen.22 Die existenziellen Unsicherheiten, denen die Figuren ausgesetzt sind, treiben sie wieder auseinander. Ihre Existenz als Flüchtlinge ist ihnen quälend bewusst: „Flüchtlinge ! : ich sah mich fest im Kreise um, lachte grell […].“23 Sie sind in einfachen Holzverschlägen untergebracht, ernähren sich von Mundraub und kargsten Rationen und unterliegen den Ängsten, der Krieg entflamme von neuem. Der Protagonist fasst dieses Sein schlicht zusammen: „Man ist ein verdammter Exmensch!“24 Unter diesen Bedingungen scheint ein Ende der erzwungenen Bewegung unmöglich: „Wer weiß, was aus Uns wird […].“25 Der Mangel und die pragmatische Sorge um eine gesicherte Zukunft trennen die Figuren schlussendlich wieder vonein21 22

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Ebd., S. 54. Die autobiografischen Parallelen zwischen Autor und Erzähler sind noch wesentlich zahlreicher: Vgl. Arno Schmidt: Brand’s Haide. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe I/1. Zürich 1987, S. 115–198, hier S. 117, 120 f., 128 f., 130. Ebd., S. 133. Ebd., S. 173. Ebd., S. 180. 223

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ander. Stabile zwischenmenschliche Beziehungen sind Schmidts Figuren versagt, sie werden regiert durch ein ‚Sich-bewegen-müssen‘.26 Situationen des Abschieds, erzwungen durch die Umstände der Flucht, waren dem Ehepaar Schmidt in ihrer Lebenswirklichkeit nicht fremd. Zeitnah zur Entstehung beider genannter Erzählungen erlebten sie zum ersten Mal eine Umsiedlung, als sie Ende 1950 von Cordingen nach Gau-Bickelheim in die französische Besatzungszone umzogen. Betont werden muss der Umstand äußerer Bedrängung, der den Autor und seine Frau zur Umsiedlung ‚zwang‘: Die heftigen Anfeindungen im Ort, denen das Ehepaar Schmidt von Seiten ihrer Quartiergeber wegen eines Streits um zur Verfügung gestelltes Mobiliar ausgesetzt waren und die das Paar sogar per umstrittenem Gerichtsurteil in höchste finanzielle Not brachten, trieben sie zur Suche nach einem neuen Wohnort.27 Die schon beschriebenen Ressentiments der Ortsansässigen gegenüber Flüchtlingen und Vertriebenen mögen sich hier tätlich niedergeschlagen haben. Alice Schmidt schreibt über den Abschied von den wenigen Freunden bei einem letzten Besuch in das gemeinsame Tagebuch: „Dann zu Sprengmann. […] Uns ists nicht, als führen wir morgen & sie könnens auch nicht glauben. Spr. kriegt Gräber, Götter & Gelehrte – Dann gerührter Abschied. Sie ist ganz dicht am losheulen. Taschentuchwinken bis wir uns nimmer sehn können. Letzter Gang durch schöne Uferstr. – Morgen!?!“28 Doch auch GauBickelheim bleibt nur eine kurzfristige Durchgangsstation; schon im Juli 1951 bemüht sich das Ehepaar um eine weitere Umsiedlung nach Kastel an der Saar: Das Leben dieser beiden Flüchtlinge kommt nicht zur Ruhe und gleicht in seinen Umständen jenen, denen das Gros ihrer Leidensgenossen ebenfalls ausgesetzt war. Noch vor der ebenfalls 1953 veröffentlichten Erzählung Die Umsiedler, in welcher sich die autobiografischen Einflüsse der ersten Umsiedlung widerspiegeln, entstand Alexander oder Was ist Wahrheit. Obwohl diese Erzählung 26

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Interessant ist in dieser Hinsicht das häufige Motiv des Windes in Brand’s Haide: 38 Mal benannt, ist er jeweils die unsichtbare Kraft, die Menschen oder Gegenstände bewegt, vor sich hertreibt. Martynkewicz, Arno Schmidt (Anm. 9), S. 50 f. Fischer (Hg.), „Umgängliche Nachbarn erwarten euch“ (Anm. 2), S. 71 f. Auffällig sind immer wieder die Parallelen zwischen Leben und Werk. Alice Schmidts Skepsis gegenüber der unsicheren Zukunft, die aus dem „Morgen!?!“ spricht, findet sich beispielsweise ebenso in der oben zitierten Aussage des Ich-Erzählers aus Brand‘s Haide wieder: „Wer weiß, was aus Uns wird […].“ Zur Vertiefung dieser Betrachtung, welche aus Gründen des reduzierten Umfangs dieses Aufsatzes nur angedeutet werden kann, werden Abgleiche mit den umfangreichen Tagebucheinträgen ausdrücklich empfohlen.

‚Dekade der Flucht‘

inhaltlich an Prosatexte des Frühwerks wie Enthymesis und Gadir anschließt, ist sie eine interessante Variation der Aufarbeitung eines Gefühls ‚erzwungener Bewegung‘: Keine physische Flucht oder Vertreibung, sondern eine durch Debatten initiierte ‚Vertreibung‘ aus einer Ideologie ist im Fokus einer dargestellten geistigen Entwicklung des Protagonisten. Dass diese Veränderung mit einer Reise der Figuren einhergeht, verstärkt den äußerlichen Charakter der Bewegung. Interessant macht dieses Werk zudem die gebrochen erscheinende Kohärenz des historischen Settings; einzelne Verweise des Ich-Erzählers Lampon von Samos, der als ehemaliger Schüler Aristoteles‘ in Begleitung einer Gauklertruppe zur Residenz Alexanders des Großen nach Babylon reist, nehmen Bezug auf die Zeit von nationalsozialistischer Herrschaft und Zweitem Weltkrieg.29 Zuerst noch ein Verfechter des ungetrübten Ansehens sowohl Aristoteles’ als auch Alexanders, konfrontieren ihn seine welterfahreneren Begleiter mit der Kehrseite seiner Idole: Aus „Gelegen und gezweifelt“ wird mit fortlaufender Konfrontation bald „Ich habe viel Einzelnes gelernt, aber zu wenig gedacht“, und schließlich erfolgt ein Paradigmenwechsel, in welchem der Erzähler im Herrscher den „Tyrannen“ erkennt und der unwidersprochenen Autorität seines einstigen Lehrers kritischer gegenübersteht.30 Eine ‚Flucht aus einer Ideologie‘, einem ‚Weltbild‘ wird daran ersichtlich und offenbart zugleich,

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So zum Beispiel, wenn der Erzähler den ‚offiziellen Wehrmachtsbericht‘ erwähnt, oder persische Alliierte die paraphrasierten ersten Zeilen des Horst-Wessel-Liedes singen. Diese anklingenden Tendenzen einer Aufarbeitung eigenen Erlebens von Verführbarkeit und Indoktrination durch ein diktatorisches Regime sind eine gesonderte Thematik, die das erzählerische Werk Schmidts oft streiflichtartig durchzieht. Die Reisebeschreibungen in Alexander oder Was ist Wahrheit offenbaren Äquivalenzen mit Flüchtlingsmigration: Bewegung durch Gegenden voller Militärpräsenz, Einquartierung in requirierten Unterkünften. Vgl. Arno Schmidt: Alexander oder Was ist Wahrheit. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe I/1. Zürich 1987, S. 77–114, hier S. 85, 91, 104. Alle Zitate ebd., S. 91, S. 100, S. 108. An dieser Stelle kann angemerkt werden, dass die ideologiekritische Charakterentwicklung des Erzählers Lampon an anderer Stelle im Werk Schmidts und von einem anderen Erzähler – in Aus dem Leben eines Fauns vom Protagonisten Düring – weitergeführt wird: Der ‚Vertreibung aus der gewohnten Weltsicht‘ mittels Lampons Erkenntnis der Tyrannei folgt die Flucht in die ‚innere Emigration‘ und soziale Isolation Dürings. Das Komplementäre der Texte in der Entwicklung und Handlung beider Erzähler – durch den jeweiligen Plot zwar getrennt, aber im Bezug auf die jeweilige Reaktion hinsichtlich der Ideologie des NS-Regimes geeint – ist auffällig und sei einer tieferen Analyse anempfohlen, kann aber aufgrund des Umfanges hier leider nur angedeutet werden. Vgl. Arno Schmidt: Aus dem Leben eines Fauns. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe I/1. Zürich 1987, S. 299–390. 225

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dass sich die Thematik von Flucht und Vertreibung als tiefgreifender verankert zeigt und nicht nur auf die Beschreibung äußerer Migration in Schmidts Werk beschränkt. Das zentrale Werk im Betrachtungsfokus von Flucht und Vertreibung als ‚konstante Themenlinie‘ im Prosawerk Schmidts der 1950er Jahre ist jedoch seine im Mai 1952 beendete und 1953 veröffentlichte Erzählung Die Umsiedler. Die autobiografischen Erlebnisse Schmidts bei der Umsiedlung von Cordingen nach Gau-Bickelheim dienen ihr als Hintergrund und geben einen Eindruck von der Not, der Ungewissheit und Zwangslage, in der sich die Umgesiedelten befinden.31 Alice Schmidt beschreibt beobachtete Momente dieser Reise und der Ankunft im Tagebuch wie folgt: Überall rollten nun die Flüchtlingsfuhrwerke oder Laster ran. Alles alte zus. gestoppelte Klamotten, wie auch wir. U. da rollte auch W. vorbei & stolz zeigte mir die Frau den selbstgefertigten Kleiderständer. – Fand das recht rührend. Er saß aphatisch [sic!] drauf. Es war ihm wohl noch nicht so recht wohl. – Einige Frauen kamen, halb heulend an: in was für Löcher sie ziehen sollten. Eine kriegte ’n halben Lachkrampf vor Verzweiflung.32

Alle historisch belegten und von Fischer beschriebenen sozialen und materiellen Bedingungen geben ein Bild von Flüchtlingen und Vertriebenen als getriebene Individuen, die sich ihres herabgesetzten gesellschaftlichen Status bewusst sind, die negativen Reaktionen ihrer Umwelt wahrnehmen und erdulden, und doch keine andere Möglichkeit haben, als der ihnen aufgezwungenen Bewegung zu folgen. Diese ‚Abbildungskraft‘ spiegelt sich vielleicht auch im auf den besonderen Drucksatz hinweisenden Untertitel der Erstausgabe wider: 24 aufnahmen mit verbindendem text  – jedem Abschnitt ist ein fotoähnlich gerahmter Textabschnitt vorangestellt, was den Autor dazu veranlasst haben mag, diese Erzählung als ‚Fotoalbum‘ zu bezeichnen.33 Unter dem spezifischen Aspekt ‚erzwungener Bewegung‘ von einer Flüchtlingsunterkunft zur nächsten

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Vgl. Martynkewicz, Arno Schmidt (Anm. 9), S. 59. Fischer (Hg.), „Umgängliche Nachbarn erwarten euch“ (Anm. 2), S. 85. Vgl. Martynkewicz, Arno Schmidt (Anm. 9), S. 59. „‚Foto‘ ist für Schmidt auch die Bezeichnung seines bestimmten literarischen Verfahrens, den Verlauf der Erinnerung und des täglichen Erlebens mittels einer zeitraffenden Abfolge einzelner heller Bilder (eben ‚Fotos‘) darzustellen.“ Forum Bomlitz (Hg.): Einführungstext zur Ausstellung ‚Schwarze Spiegel‘  – Benefeld 1945–1950. In: Ders.: Arno Schmidt im Forum. Walsrode, o. J., S. 3.

‚Dekade der Flucht‘

sind die literarischen Bewegungsbeschreibungen in dieser Erzählung von herausragender Bedeutung. Die Situation des Bewegens wird erzählerisch unter dem Einfluss von (verwaltungs-)technischen und äußeren, atmosphärischen Bedingungen dargestellt. Einer Herde gleich werden die Flüchtlinge und mit ihnen der Ich-Erzähler und seine Begleiterin – beide schlesischer Herkunft – durch ‚Kreisflüchtlingsbetreuer‘ und andere geleitet, eingeteilt, zum Transport verladen und angewiesen.34 Beklemmend liest sich die nächtliche VerladeSzene zu Beginn der Erzählung: Im assoziationsbildenden Wortfeld des zu beladenden Güterwaggons, des außen mit Kreide angeschriebenen Zielortes und des ‚spitzen Sterns‘, der die Szene beleuchtet, klingt die Erinnerung an größeres Leiden an und dient dazu, diese Umsiedlung als aufgezwungene, auf Leiden gründende Migration zu charakterisieren.35 Begleitet wird die erzwungene Bewegung immer wieder durch die unsichtbare Kraft des Windes: Er gibt ‚krummen Flüchtlingen Püffe‘, fummelt eilig an ihnen, ist ‚viel zu kalt‘, flucht ihnen, bläst Staub in ihre Gesichter oder ‚überfährt‘ die Protagonisten.36 Zum Objekt degradiert und fremden Entscheidungen ausgeliefert, erfahren der Erzähler und seine Mitreisenden die Umsiedlung als Akt der Gewalt und der Willkür.37 Die Zugfahrt gerät zu einer albtraumhaften Vision: Es gab einen furchtbaren Ruck, Funkiges fuhr seidenrot vorbei, und wir rollten wieder ein Stückchen. Das Licht hieb mit geschliffenen Äxten durchs Abteil, zackige Schwertbündel rannten an uns hoch, noch floß Jedem die große Messingsäge durchs Gesicht; […]. Jede Station henkerte uns mit Bogenlampen, hackte Hände ab, saugte die gestreiften Rümpfe hastig in zu kurze Lichtbretter; so also sah Katrin ohne Kopf aus.38

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Vgl. Arno Schmidt: Die Umsiedler. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe I/1. Zürich: 1987, S. 261–297, hier S. 264 f. Vgl. ebd., S. 264. An dieser Stelle mag man urteilen, dass Schmidts poetische Bildlichkeit in der deutlichen Nähe zu einem relativierend oder ‚aufrechnend‘ wirkenden ‚Holocaustvergleich‘ entgleist. Vgl. ebd., S. 264, 267, 271. Wie bereits in Fußnote 26 zu Brand’s Haide beschrieben, bildet auch in Die Umsiedler der Begriff ‚Wind‘ 26 Mal eine weite Metapher für eine unsichtbare, Bewegung vorantreibende und ‚kommentierende‘ Kraft, der die Flüchtlinge und Vertriebenen schutzlos ausgesetzt sind. Die ‚Objektifizierung‘ und erfahrene Willkür im direkten Zusammenhang mit der ‚erzwungenen Bewegung‘ stellt der Erzähler beispielsweise wie folgt dar: „[…] man rangierte uns hin, her. […] [M]it Soldaten und Flüchtlingen können sie Alles machen !“ Vgl. Schmidt, Umsiedler (Anm. 34), S. 271 „[F]ür die halbe Stunde aufs Nebengleis geschoben […].“ Ebd., S. 274. Ebd., S. 270 f. 227

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Diese eindrücklich-bildhafte Gleichsetzung von Bewegung und Gewalt setzt Schmidt ein weiteres Mal in der 1955 veröffentlichten Erzählung Seelandschaft mit Pocahontas in Szene. Dort reist der mittellose Schriftsteller Joachim als Flüchtling mit schlesischer Heimat von der Saar nach Niedersachsen – nimmt also den umgekehrten Weg der ‚Umsiedler‘ – und wieder gerät diese Zugfahrt zu einer assoziativ quälenden Bewegung.39 Lautmalerisch wird das typische Geräusch überfahrener Schienenanschlüsse in verstörende Bilder eingebettet: Rattatá Rattatá Rattatá. / Eine Zeit lang hatten alle Mädchen schwarze Kreise statt der Augen gehabt, mondäne Eulengesichter mit feuerrotem Querschlitz darin : Rattatá. / […] Gedanken von allen Seiten : mit Flammen als Gesichtern; in schwarzen Mänteln, unter denen lange weiße Beine gehen; Gedanken wie leere sonnige Liegestühle : rattatá. / Rauchumloht Gesicht und Haar : diesmal strömte er aus einer kecken Blondnase, […].40

Die Bewegung als solche gerät so selbst im weiter gefassten erzählerischen Kontext von Flucht zu einem assoziativ mit Gewalt verbundenen Akt. Dass ausgerechnet dieses letztzitierte Werk eine neuerliche Flucht Schmidts auslöst, mutet angesichts der bis dato signifikanten Migrationserlebnisse des Autors beinahe ironisch an: Ausgelöst durch mehrere Anzeigen gegen Seelandschaft mit Pocahontas wegen Verstoßes gegen §§ 166 und 184 StGB – ‚Gotteslästerung‘ und ‚Verbreitung unzüchtiger Schriften‘ – verschlechtert sich das soziale Klima im kleinbürgerlich-katholischen Umfeld der Umgesiedelten derart, dass sich Arno Schmidt schon Ende 1955 gezwungen sieht, mit seiner Ehefrau nach Darmstadt umzuziehen.41 Flucht als Beschreibung eines Bewegungsprozesses wird ab Mitte der 1950er Jahre in den Erzählungen Schmidts zunehmend vom Erzähler auf andere Protagonisten ‚verschoben‘, bleibt aber ein konstituierender Bestandteil der Werke. So wird die Fluchtbewegung der Figur Line Hübners in der 1956 erschienen Erzählung Das steinerne Herz mit Distanz vom Erzähler Walter Eggers geschildert: Der Erzähler ist nicht mehr der Flüchtende selbst,42 er 39 40 41

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Vgl. Schmidt, Seelandschaft (Anm. 11), S. 393 f. Ebd., S. 393. Vgl. Martynkewicz, Arno Schmidt (Anm. 9), S. 77 f. und 80 f., sowie Georg Eyring, Jan Philipp Reemtsma (Hg.): In Sachen Arno Schmidt./. Prozesse 1 &  2. Zürich 1988, S. 7–10, 97 ff. Die Figur Walter Eggers hegt jedoch selbst Fluchtgedanken, die aber keine zentrale Bedeutung in Bezug auf die Handlung haben: Er will nach erfolgreicher Tat in einer sorgfältig geplanten Nachtaktion seiner ihm zugewandten Hauswirtin entfliehen –

‚Dekade der Flucht‘

reflektiert, kommentiert und beschreibt Flucht. Zwar bleiben die Wurzeln der Flucht weiterhin mit dem Kontext des Endes des Zweiten Weltkrieges verbunden, jedoch werden zunehmend zeitgenössische Kontexte wie die Massenflucht aus der DDR oder in späteren Werken die mit Pessimismus betrachtete Wiederbewaffnung der Bundesrepublik im Zeichen der Blockbildung des Kalten Krieges zu weiteren ‚Fluchtauslösern‘. An der literarischen Ausdruckskraft vom Leiden der Figuren im Zusammenhang mit diesen erzwungenen Migrationen und deren thematischer Kontinuität im veröffentlichten Prosawerk Schmidts bis 1960 ändert sich allerdings nichts. Wird die Fluchtbewegung Line Hübners in Das steinerne Herz noch mit Enteignung und Missbrauchserfahrungen im besetzten Schlesien eingeleitet, sind es die als lebensbedrohlich geschilderten Lebensumstände in der DDR, welche die Figur Dank vom Erzähler gefälschter Papiere in die Bundesrepublik flüchten lassen.43 Aber der Fluchtbewegung geht in den folgenden relevanten Werken zunehmend der rettende Charakter verloren: Flucht führt aus der Ausweglosigkeit in die Ausweglosigkeit und hat auch darin eine biografische Parallele. Der Umzug nach Darmstadt hat dem Autor ebenfalls keine Ruhe beschert: das Städtische und die nun häufigeren sozialen Kontakte behagen Arno Schmidt nicht.44 Interessant ist, wie stark der ‚Fluchtwille‘ zu dieser Zeit in der Psyche des Autors verankert gewesen zu sein scheint. Anfang 1956 werden Südfrankreich und Korsika als Zufluchtsorte diskutiert, um vor allem der befürchteten juristischen Verfolgung der wegen Seelandschaft mit Pocahontas anhängenden Klagen zu entkommen: Schlotter […] schlägt vor, doch nach Südfrankreich oder Korsika auszuwandern, gäbe dort billige Weinberghäuserchen. Könne man billig leben. Er würde uns hinfahren. […] Als Schl. dann gegangen, staubsaugere ich die Stube und A. [Arno] traurig, daß man also hier beginne, gegen ihn zu sein. Auswandererpläne ventiliert. […] Arno dann zu tiefst niedergeschlagen: bloß raus aus diesem Darmstadt. […] Laß uns bloß raus machen. Ein Baräckchen in der Heide.45

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ein Gedanke, der erst dann fallen gelassen wird, als die Dame überraschend zu einem Vermögen kommt. Vgl. Arno Schmidt: Das steinerne Herz. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe I/2. Zürich 1986, S. 7–163, hier S. 108. Eine andere Einbindung der Fluchtthematik zeigt sich in einer Szene, in der Eggers die missglückte Flucht der Prinzessin von Ahlden im 18. Jh. erzählt. Vgl. ebd., S. 19, 33, 48. Vgl. ebd., S. 61, 69, 72, 82 ff., 93 f., 110 ff. Vgl. Martynkewicz, Arno Schmidt (Anm. 9), S. 81 f. Alice Schmidt: Tagebuch aus dem Jahr 1956. Hg. von Susanne Fischer. Bargfeld 2011, S. 103, 105. 229

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Erfüllt von Pessimismus gegenüber einer Zukunft in der konservativen, ‚wiederbewaffneten‘ und westorientierten ‚Adenauer-Ära‘ der Bundesrepublik, keimt im Autor sogar der Gedanke auf, nach Irland auszuwandern: „Ende 1956 heißt die Insel seiner Sehnsucht Irland, dort glaubt er sich von politischen und lebensweltlichen Zwängen vollkommen abkoppeln zu können, um nur noch zu schreiben.“46 Doch die Pläne zerschlagen sich vorerst. Im 1957 erschienen Werk Die Gelehrtenrepublik gerät die Bewegung selbst zur Metapher des Scheiterns. Ist die Hinbewegung des Erzählers zur künstlichen Insel ‚IRAS‘  – Rückzugsort für Künstler und Intellektuelle  – noch eine Reise durch eine fantastische Landschaft mit insektenähnlichen Wesen und sprechenden Zentauren, entlarvt sich der Ankunftsort ihm gegenüber als Abbild der unter der Blockbildung gespaltenen und dem Konflikt der jeweiligen Ideologien leidenden Welt. Neidisch betritt der Reisende die Insel, wähnt ersehnte Freiheiten, aber das Scheitern dieses Fluchtraums steht unmittelbar bevor. Es gipfelt in einer Bewegung, die selbst zur Gewalt wird: Im Streit zwischen den verfeindeten Parteien entscheidet sich jede Hälfte dafür, die jeweils ihrer Inselseite zugehörigen Antriebe zu starten  – die schwimmende Insel dreht sich auf der Stelle und droht zu zerreißen: (Und der Mund des alten Inders flüsterte an einem meiner Ohren  – an welchem konnte ich nicht mehr unterscheiden –: „Die Amerikaner haben ‚Volle Kraft rückwärts‘ gegeben; die Russen ‚Unverändert Volldampf voraus‘.“ / „Und das Ergebnis?“). Das Ergebnis?: „Wir drehen Uns!: Auf der Stelle!“ […] Vielleicht zerreißt [die Insel] auch der Länge nach […].47

Zunehmend wird deutlich, dass geschilderte Fluchtbewegungen nicht nur mit Qual und Gewalt assoziiert werden, sondern ins Leere laufen. Der tatsächlich historische Kontext wie beispielsweise noch in den Erzählungen Die Umsiedler, Seelandschaft mit Pocahontas oder Das steinerne Herz weicht einer Schilderung von ‚Flucht im imaginären Raum‘, zu der die fantastischen Elemente der Hinreise aus Die Gelehrtenrepublik nur der Anfang waren. Die Fluchtbewegung an sich erreicht damit einhergehend im 1959 entstandenen und 1960 erschienenen KAFF auch Mare Crisium ihr größtmögliches Ausmaß. Noch immer berührt hier Schmidts Prosa die Flucht aus Schlesien – anscheinend aufgrund der eigenen biografischen Parallelen der ‚Archetyp‘ für Schmidts Begriff von 46 47

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Martynkewicz, Arno Schmidt (Anm. 9), S. 88. Arno Schmidt: Die Gelehrtenrepublik. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe I/2. Zürich 1986, S. 221–349, hier S. 347 f.

‚Dekade der Flucht‘

‚Flucht‘ – in Form der anklingenden Erinnerungen der traumatisierten Vertriebenen Hertha Theunert als Ausgangspunkt. In ihren Ausmaßen jedoch hat der Autor den endgültigen Höhepunkt erreicht: Die Reste der Menschheit haben sich vor der totalen nuklearen Vernichtung der Erde infolge des Konflikts zwischen den Blöcken auf den Mond gerettet, nur um dort erneut in ideologischem Block- und Lagerdenken zu erstarren.48 Diese Flucht bildet das Finale der Fluchtthematik in Schmidts Œuvre und fällt zugleich in den Zeitraum, in dem auch der Autor seine individuelle Migrationsbewegung beendet hat. Am 26. November 1958 zieht das Ehepaar Schmidt durch Vermittlung und mit Hilfe von Freunden in das abgeschieden am östlichen Rand der Lüneburger Heide gelegene, sehr ländliche Dörfchen Bargfeld – das schon zitierte ‚Baräckchen in der Heide‘ wird Wirklichkeit.49 Der Aspekt der Bewegung ist in Hinsicht auf die zugrunde gelegte These einer kohärenten Thematik von Flucht und Vertreibung der am deutlichsten hervortretende. Er wird jedoch komplettiert durch die unmittelbar mit der Fluchtbewegung verbundenen Darstellungen physisch und psychisch verletzter, traumatisierter Figuren.

2. Flucht und Verletzung – die Darstellung von traumatisierter Psyche und physischer Verletzung im Kontext der Fluchtthematik Die Geschlossenheit der Fluchtthematik in Schmidts Erzählwerk der 1950er Jahre drückt sich nicht nur in den konsequenten Bewegungsbeschreibungen im betreffenden Kontext aus. Die Ursachen und äußeren Bedingungen der erzwungenen Migration werden vielfach zu Auslösern psychischer Verletzungen: Verlusterfahrungen und traumatisierende Erlebnisse infolge des Kriegsendes sowie die sozialen Ausgrenzungen und Mangelerfahrungen der Nachkriegszeit finden in der Figurengestaltung vielfachen Ausdruck und bilden neben dem Bewegungsaspekt ein weiteres tragfähiges Indiz für die werkübergreifende Fluchtthematik. Wie die Bewegung seiner literarischen Figuren Parallelen zur Biografie des Autors über einen begrenzten Zeitraum hinweg nachzeichnete, so können auch die möglichen psychischen Belastungen Schmidts

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Vgl. Arno Schmidt: Kaff auch Mare Crisium. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe I/3. Zürich 1987, S. 7–277. Vgl. Martynkewicz, Arno Schmidt (Anm. 9), S. 89 f. 231

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in die Charakterzeichnungen eingeflossen sein, auf die Quellenberichte Hinweise geben. Soziale Konflikte zwischen Flüchtlingen und Einheimischen prägen seine literarische Darstellung an vielen Stellen: Flüchtlinge leben ausgegrenzt und angefeindet am Rand der Gesellschaft. „‚Oh Gott! […] Na ja; kommen Sie bitte rein‘, kapitulierte sie.“50 So heißt man den einquartierten Ankömmling in Brand’s Haide ‚willkommen‘. Anfeindungen und Schikanen durch die Einheimischen werden erduldet und führen dazu, dass Flüchtlinge beziehungsweise Vertriebene als nahezu homogene Gruppe einer Front aus Ablehnung gegenüberstehen. Dabei bietet das ‚Wir-Gefühl‘ aus den schon geschilderten Gründen vor dem Hintergrund unaufhaltsam erscheinender Bewegung und ‚sozialer Flüchtigkeit‘ keinen Schutz, gesellschaftliche Isolation und Schutzlosigkeit des geflüchteten Individuums treten deutlich hervor. Vielmehr verstärkt der Blick der Flüchtlinge auf das ablehnende Gegenüber die Selbstreflexion in Hinsicht auf eigene Armut und Hilflosigkeit. Szenen materieller Armut  – fast immer verbunden mit dem Gefühl der Scham – werden dargestellt, in denen den Rezipienten wiederholt eine ‚Inventur‘ der Habseligkeiten beschrieben wird, wie am Beispiel des Protagonisten in Brand’s Haide: „Was haben Sie eigentlich für Wäsche ?!“. […] Ich senkte den Kopf : ich war doch keine gute Partie. […] „Hemden und Unterhosen geben Sie jetzt gleich rein; Strümpfe und Pullover“ […] „Je ein Stück“ sagte ich dumpf; sie waren einen Augenblick still; dann meinte Lore resolut : „Ja : also was Sie anhaben. Und sonst Nichts … ?“ Nichts.51

Erinnerungen an materielle Verluste in der Heimat wie „n schönes Haus wars : zweistöckig. Und Landwirtschaft dabei. Fümfunfvirzich sind ma rausgemacht, wie da Russe kam […].“52 und das ausgeprägte Gefühl, von aller Hilfe verlassen zu sein, werden in Schmidts Werk bis 1955 in Die Umsiedler am ausführlichsten beschrieben: Der große Knochige hatte den roten Schal und ne Tommybluse um und sagte laut : „Von der Regierung helfen sie uns nicht, da wollen wir selber lostrecken.“ Und wir beluden wieder die Wagen und flossen über alle Straßen; der Wind schlug unsere Deckenmäntel zu Falten; die Eimer klappten

50 51 52 232

Schmidt, Brand’s Haide (Anm. 22), S. 118. Ebd., S. 143. Schmidt, Umsiedler (Anm. 34), S. 271.

‚Dekade der Flucht‘

hinten um die entzündeten Schlusslichter. Oben auf einem saß katrindünn eine Frau, das verdorrte Kind im amputierten Arm und blies ein gefährliches Lied auf der Maultrommel, daß die fetten Einheimischen in ihren Bauernschaften erschraken und wispernd nach Polizeien fernsprachen.53

Konflikte, Verlust und Mangel stehen in Schmidts Darstellungen in unmittelbarem ursächlichen Zusammenhang mit offenbaren ‚Verletzungen‘. Nur selten werden sie als physische beschrieben wie die Verstümmelung im oben angeführten Zitat oder der Körperbehinderung der Protagonistin Katrin.54 Die äußerlichen Beschreibungen heben konsequent die Verletzlichkeit, das Leiden und die Erschöpfung der Figuren hervor, wenn beispielsweise von ‚krummen, schmalen Flüchtlingsrücken‘ die Rede ist.55 Es gibt lediglich eine Belegstelle im Werk der 1950er Jahre, die einen deutlichen Zusammenhang zwischen erlittener Vertreibung und physischer Verletzung demonstriert: in der kurzen Erzählung Zählergesang von 1957. Kurze Dialoge schildern den Hintergrund der Nachbarn des Erzählers – „(dem Dialekt nach alles Flüchtlinge)“56 –, denen er sich aus Interesse an einer jungen Dame nähert: „Ach, Sie komm‘ aus Pommern?“; und der Hausherr bejahte bereitwillig; das ist das einzig Gute unserer Zeit, daß man sich leicht unterhält: „Sie sind auch vertrieben?! Wie war bei Euch der Russe?“ Oh weh, und alles winkte ab. […] Als der Russe kam, flohen sie in die Wälder. Das Haus zu halten war unmöglich für die Frauen, wegen der vielen Vergewaltigungen („Wenn die Besoffenen dann ankamen, und die Mädchen verlangten, bin ich immer mit raufgegangen,“ mitteilte tönern die untersetzte Mutter). […] Eben kam die Kleine […]. „Sagen Sie, wie heißt eigentlich die junge Dame oben? […].“ Wissen Sie denn nicht? ….“. Ich wußte natürlich nicht; und sie erklärte es mir: „Können Sie sich’s nicht denken, warum Lise immer diese Mütze trägt?: Die hat kein einziges Haar mehr auf’m Kopf! Kahl wie ne Kniescheibe. Die kriegt nie mehr n Mann!“57

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54 55 56 57

Ebd., S. 273. Hier wird die ‚gesellschaftliche Gegnerschaft‘ durch konträre Merkmalszuschreibung von Flüchtlingen und Einheimischen besonders plastisch dargestellt: Der ‚Knochige‘ und die dünne, verletzte Flüchtlingsfrau mit ‚verdorrtem‘ Kind einerseits und die ‚fetten Einheimischen‘ andererseits, denen bereits Nichtigkeiten einen Anlass zu Anfeindungen geben. Ebd., S. 280. Vgl. ebd., S. 263 ff. Arno Schmidt: Zählergesang. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe I/4. Zürich: Haffmans, 1987, S. 103–106, hier S. 104. Ebd., S. 105 f. 233

Sven Behnke

Die häufigsten Verletzungen, die Schmidt seinen Charakteren zuschreibt, sind psychischer Natur: Sie betreffen ein verringertes Selbstwertgefühl aller Flüchtlingsfiguren und -charaktere im Tone des bereits zitierten ‚Exmensch-Gefühls‘ und gipfeln in der schlichten, resignierten Anklage „ihr denkt woll weil wir bloß Flüchtlinge sind?!“58 Der Autor formuliert in der allgemeinen psychologischen Darstellung seiner Figuren die Gefühle von Entwürdigung und Entmenschlichung. Diese konkreten und detaillierten literarischen Darstellungen der Umstände treffen vor allem auf die früheren Werke zu, deren Ich-Erzähler noch direkten Bezug zur Fluchtthematik aufweisen, also selbst geflüchtet oder vertrieben worden sind. Dieser Teil der Werkphase fällt mit biografischen Parallelen zusammen, in denen der Autor selbst die radikalsten Auswirkungen seiner Flüchtlingsexistenz erlebt: „[I]hm [wird] nun das ganze Leben zum Reservoir seiner Erzählungen, zum Material, aus dem die fiktionale Konstruktion hervorgeht.“59 Arno Schmidts Literatur war bis weit in die 1950er Jahre hinein ein Spiegel seiner Lebensumstände als freier Schriftsteller. Er, der sich am Ort der ersten Ansiedlung, in Cordingen, als Dorftrottel betrachtet sieht, „als den misstrauisch beäugten Fremden, der keine gesellschaftlich anerkannte Arbeit leistet“,60 wird von diesem Gefühl der sozialen Anfeindung bis an seinen letzten Wohnort Bargfeld begleitet. Besonders in den Jahren bis 1955, bis zum Umzug nach Darmstadt, können die Lebensumstände des Ehepaares Schmidt nur als äußerst primitiv und ‚in Armut‘ bezeichnet werden. Empfunden hat Schmidt diese Zustände als unverschuldete, ungerechte Benachteiligung, die er selbst dem schicksalhaften Eingriff des Krieges und dessen Folgen in seinen Lebenslauf und der mangelnden Würdigung seiner schriftstellerischen Begabung zugerechnet hat: Bei einem Treffen mit seinem Verleger platzt es schließlich nach Angaben Anwesender aus ihm heraus: „Ein Genie wie er müsse in Armut leben, während die Verleger, wie man ja sähe, sich in Wohlleben wälzten.“61 Abgefunden oder arrangiert hat sich der Autor damit nicht; er ‚lebt‘ nach Ansicht von Martynkewicz seinen Protagonisten die ‚Pose des Angefeindeten und Verbitterten‘ vor. So demonstriert Arno Schmidt bei der Verleihung des Großen Literaturpreises seine Lebensumstände öffentlich, indem er kein Hemd unter der Jacke trägt und diesen Umstand umso auffälliger zu verdecken versucht.62

58 59 60 61 62 234

Schmidt, Umsiedler (Anm. 34), S. 279. Martynkewicz, Arno Schmidt (Anm. 9), S. 47. Ebd., S. 47. Walter Kiaulehn: Mein Freund der Verleger. Ernst Rowohlt und seine Zeit. Reinbek 1967, S. 244. Vgl. Martynkewicz, Arno Schmidt (Anm. 9), S. 53.

‚Dekade der Flucht‘

Bequem für seine Umwelt, für die Nachbarn des ‚Flüchtlings Schmidt‘, war er nie; vielmehr zeugen Berichte seines näheren Umfeldes davon, wie egozentrisch er darauf bedacht war, sich alles ihm seiner Meinung nach Zustehende zu sichern  – immer das eigene Notleiden kompensierend und die ihm widerfahren(d)e Ungerechtigkeit vorschützend.63 Übersetzungsaufträge, gelegentliche Radiosendungen und kleinere Veröffentlichungen in Zeitungen sichern die Existenzgrundlage des Ehepaares notdürftig, bevor schließlich das Jahr 1955 den Höhe- und Wendepunkt der Krise darstellt: „Schmidt hatte keinen festen Verlag, seine letzte Buchveröffentlichung lag fast zwei Jahre zurück, und auch das neue Manuskript vom Steinernen Herzen stieß – und das passte für Schmidt natürlich ins Bild – auf Ablehnung.“64 Die Wende gelingt jedoch mit Hilfe der einsetzenden regelmäßigen Zuwendungen Wilhelm Michels’ und zahlreicher werdenden Aufträgen für das Nachtprogramm des Süddeutschen Rundfunks durch Vermittlung von Alfred Andersch.65 Bezeugt der beschriebene Charakter des Protagonisten und IchErzählers Joachim in Seelandschaft mit Pocahontas als Alter Ego des Autors noch Verbitterung und Hoffnungslosigkeit als direkte, die Handlung leitenden psychischen Verletzungen ob seiner Situation als Flüchtling, so wird in Das steinerne Herz und KAFF äquivalent zur Analyse der Bewegungsdarstellung eine Distanz des Erzählers zu den Injurien deutlich.66 Aber auch die Qualität der Verletzung verändert sich. Verschoben auf die begleitenden Figuren, wird der Aspekt der psychischen Verletzung wieder stärker mit seinem Ursprung in der Fluchterfahrung verbunden und ist nicht erst durch Interpretation zu erschließen, sondern wird explizit als solche markiert. Passend zur Szenerie eines ‚eklig grünen Sonnenuntergangs im Regen‘ erzählt Line Hübner in Das steinerne Herz ihre Vertreibung dem ihr nur flüchtig bekannten Ich-Erzähler Walter Eggers. Abwesend, wie zu sich selbst spre-

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Vgl. Forum Bomlitz (Hg.): Nachbarn und Zeitzeugen erinnern sich – Benefeld 1945– 1950. In: Ders.: Arno Schmidt im Forum. Walsrode, o. J. Interessant ist insbesondere die Ambivalenz, die Arno Schmidt im Umgang mit seiner eigenen materiellen Notlage gezeigt hat: Er bemühte sich in Anträgen um Nothilfe und scheute sich nicht, den Nachbarn heimlich nachts das unreife Obst zu stehlen, lehnte aber zugleich gelegentliche Geschenke von Bekannten brüsk ab. Martynkewicz, Arno Schmidt (Anm. 9), S. 78. Vgl. ebd., S. 78 f. Zu den biografischen Parallelen in Seelandschaft mit Pocahontas vgl. Bernd Rauschenbach: „… a very mad affair  … Liebe und Tod am Dümmer See“. Hefte zur Forschung 2. Teiche zwischen Nord- und Südmeer. Bargfeld 1994, S. 55–74, hier S. 58. 235

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chend, beschreibt die ängstliche, unterwürfig wirkende junge Vollwaise, die der Erzähler eine „auf Alles gefaßte […] Halbsklavin“67 nennt, detailliert: Und laufend die Ausweisungen der Deutschen: „Ich hatte meinen Reisekorb auch immer fertig gepackt: 500 Reichsmark durfte man mitnehmen; dann noch I Bettstück; Kleider, Wäsche, Gebrauchsgegenstände: 40 Kilo im Ganzen. – : Einmal hatt‘ ich schon mitgesollt: da bin ich ‚ohnmächtig‘ geworden.“ Diesmal (am 26. Juli 1947) wieder.  – „Wir dachten, der Zug wäre schon weg […]: da kam die Miliz, mich holen: ‚Deutsches Schwein!‘ : ‚Hast Dich von Trannsporrt gedrückt !‘“ (und immer mit dem Stock drauf; auf den flehenden Handbogen oben !) „Dann haben sie mich an Ort und Stelle durchsucht: soo gemein !“ (mit dem finger; überall; und ich überlegte, ob es jetzt noch Zweck hätte, die Faust als Zeichen der Anteilnahme auf den Tisch zu legen, daß sich die Ecke bog; […] Das bissel Büstenhalter abgerissen; „hinten reingefahren“; im Hemdsaum fanden sie das einzige goldene Zwanzigmarkstück).68

Der emotionale Abstand des Erzählers, der aus seinen Überlegungen zur vordergründig demonstrierten Anteilnahme spricht, steht für die veränderte Positionierung der Fluchtthematik in Schmidts Werk. Aus den teils abstrakten Reflexionen der Erzähler über ihre Gefühle und Erfahrungen mit Flucht, Vertreibung, Umsiedlung und deren Folgen werden in dem Maße, in dem der empirische Autor selbst Abstand hierzu gewinnt, literarisch weniger komplex dargestellte, dafür jedoch detailliertere erzählerisch kommentierte ‚Fremd-Erfahrungen‘. Auch Schmidts letztes Werk mit Bezug zur Fluchtthematik zeugt davon, aus der Distanz heraus ein Trauma zu beschreiben: In Kaff sind es die nachhaltig bedrückenden Erfahrungen der Figur Hertha Theunert, die erst im Zusammenspiel mit dem Erzähler an die Oberfläche kommen und ihr Verhalten erklären. Karls Versuche erotisch-körperlicher Annäherung werden von ihr im Lauf der Erzählung meist abgewiesen und haben zur Folge, dass der Erzähler Begehren und Sexualität ihr gegenüber zunehmend stärker thematisiert. Als Hertha während einer gemeinsamen Autofahrt seinen Annäherungsversuchen und bildhaften Beschreibungen auf (auch kommunikativ) engem Raum nicht mehr auszuweichen vermag, werden die psychischen Ursachen für ihr Ausweichverhalten ausgesprochen: „Ach=Hertha : Liepstis Herthielein ! – Tz. - Achmeingott …“. (Denn sie war schtumm an den Schtraßenrant gefahren. Bieder hatten, obwohl ihr schon 67 68 236

Schmidt, Steinernes Herz (Anm. 42), S. 93. Ebd., S. 93 f.

‚Dekade der Flucht‘

Wasser übers Gesicht lief, die Hände noch gedreht & gebremmst. Jetz’aß sie da; und wimmerte & heulte & rang mit den Augen nach – ja was ? […]: „Sei ock nie böse=Karle. – Ich hab bloß so=drann denkn müssn –. : Wie ich damals rüber kam –“ (wo also jener Pollacke, mit seinem ungewaschenen Mittel=Finger; ich weiß. : Sehr schnell schtreicheln.) […] : „Achnee; desweegn gaa nie. : Ich kenn Dich=ja.“ / : „Aber ich haap wieder so drann denkn müssn - : wie=Wir, im Feebruar 46, über de Grentze gekomm‘ sint. : Da hatt’ooch Eene – nakkt – im Schnee geleegn. So gans=verrengt; wie anne Puppe=weeßDe ? : und die hatt’ooch lauter ‚Reif=im=Schaam=Haar‘ gehaapt.“ / : Ich war doch erst Sechznn=weeßDe ? Unt ich haap ma das – gans gedanknlos – Alles so angesehn. Danneebm gesessn. Uff amm Schteine : wir warn ja soo müde. Ich konnz Fahr=ratt nimmer schiebm. Meinemutter hatt ma a Tüppl inn de Hant gegeebm, mit Terrmoß=Kaffeh – : ich haap’s nie haltn könn’n !“ / „Und=dann hab’ich da, neebm der Frau : Koffeeh getrunkn.“69

Demütigung, Gewalt- und Missbrauchserfahrungen prägen neben Erlebnissen von existenziellem Mangel und Verlustempfinden in direktem Zusammenhang mit der Thematik von Flucht als erzwungener Migration sowohl die physischen als auch die psychischen Verletzungen vieler literarischer Figuren Schmidts.

3. Der stetige Zusammenbruch von Idyllen und Fluchträumen Die bisher aufgezeigten Verletzungen korrelieren möglicherweise weitestgehend mit der ebenfalls zu beobachtenden literarischen Konstruktion von Idyllen: Schmidts Fluchtthematik der 1950er Jahre berührt auch seine Darstellungen idyllenartiger Zufluchts- oder Rückzugsorte – ‚Kurorte‘ für die ‚beschädigten‘ Figuren.70 Eine ‚Heilung‘ jedoch bleibt den Hilfesuchenden verwehrt; Schmidts Idyllen gewähren keinen Schutz, keine Erholung, sie versagen als Fluchträume. Bereits der Waggon, der dem Erzähler in Leviathan als Zuflucht dient, der die Hoffnung auf ein glückliches Entrinnen nährt und einen eng begrenzenden, von der Außenwelt und ihrer Kälte und Gefahr abschirmenden Raum darstellt 69 70

Schmidt, Kaff (Anm. 48), S. 196 f. Der Topos der Idylle ist in kunst- wie literaturgeschichtlicher Betrachtungsweise stets ein Ort für Rückzug, Schutz und Erholung. Rückzugscharakter und eine klare, enge räumliche Begrenzung prägen die Idylle  – Jean Pauls ‚Vollglück in der Beschränkung‘. Zur Vielfalt und literarischen Kontinuität der Idyllendarstellungen und besonders deren Scheitern sei verwiesen auf Jens Tismar: Gestörte Idyllen. Eine Studie zur Problematik der idyllischen Wunschvorstellungen am Beispiel von Jean Paul, Adalbert Stifter, Robert Walser und Thomas Bernhard. München 1973. 237

Sven Behnke

und in dem Nähe zur begehrten Begleiterin möglich ist, wird schlussendlich zur Todesfalle. In Brand’s Haide ist es analog dazu die kleine Bretterhütte der geflüchteten Freundinnen, in der der Erzähler und die Frauen, von der Außenwelt und damit den Reflexionsanlässen ihres Leidens abgeschirmt, glücklicher ausgehenden Fluchtgeschichten Fouqués lauschen.71 Auch dieser Zufluchtsort kann die bereits beschriebene ‚soziale Flüchtigkeit‘ nicht aufhalten und zerbricht. Der Beamte Düring, Ich-Erzähler der 1953 erschienen Erzählung Aus dem Leben eines Fauns, verwirklicht während der Nazidiktatur seine eigenen Fluchtwünsche vor Familie, gleichgeschalteter Gesellschaft und der Autorität seiner Vorgesetzten durch Nutzung einer versteckten Hütte im Wald, in der er in der Zweisamkeit mit der jungen Nachbarstochter vorübergehendes Glück findet. Aber Schmidt lässt auch dieses ‚Vollglück in Beschränkung‘ zerfallen: Düring sieht sich zum Ende nach Entdeckung durch Fremde gezwungen, die Hütte selbst in Brand zu setzen.72 Schmidts Erzählung Seelandschaft mit Pocahontas bietet aus der Perspektive dieses Aspekts die umfassendste Darstellung des Zusammenhangs von Flucht, verletzter Psyche und Wunsch nach Heilung in einem Text, der oberflächlich betrachtet als „idyllische Ferien und Liebesgeschichte rezipiert […] [werden kann].“73 Unter dieser Oberfläche verbirgt sich aber eine ausgeprägte semantische Ebene, derzufolge der durch Kriegs- und Verlusterfahrungen traumatisierte Flüchtling Joachim im Kurzurlaub am Dümmer und speziell in der sich dort entwickelnden Affäre Heilung und ‚Kompensation‘ seiner psychischen Beschädigung sucht. „[I]n der Riesenmuschel von Himmel und Dümmer“74 – dem eng begrenzten Setting der Erzählung, außerhalb dessen in der Reflexion des Protagonisten die Welt nur noch verschwommen und eher als ‚Idee‘ existiert – sucht der Erzähler bewusst die Abgeschiedenheit: Vor dem touristischen Betrieb seines Ankunftsortes Lembruch flüchtet er auf die andere Seeseite, nach Dümmerlohhausen.75 In seiner dortigen Beziehung zu Selma wird eine doppelte Strategie eines Strebens nach ‚Heilung‘ sichtbar: Aus der Textebene der ‚Alter-Ego-Konstruktion‘ ‚Joachim alias John Smith‘ und ‚Selma alias Pocahontas‘ wird ein Rettungswunsch des Erzählers ersichtlich, der zusammen mit dem Versuch patriarchaler Dominanz durch Joachim auf der Textoberfläche als Kompensation für erfahrenen Machtverlust die Idylle deutlich als Ort

71 72 73 74 75 238

Vgl. Schmidt, Brand’s Haide (Anm. 22), S. 133 ff. Vgl. Schmidt, Faun (Anm. 30), S. 388 f. Rauschenbach, Liebe und Tod am Dümmer See (Anm. 66), S. 60. Schmidt, Seelandschaft (Anm. 11), S. 424. Vgl. ebd., S. 395.

‚Dekade der Flucht‘

der Rettung markiert. Dieser Fluchtraum versagt. Gewaltassoziationen lassen den Flüchtling und Kriegsheimkehrer keine Erholung finden, und Selma ergibt sich nicht in die ihr zugedachte Rolle der unterwürfig-ergebenen ‚Retterin in letzter Sekunde‘.76 Die Idylle zerbricht; die bereits unter dem Aspekt der Bewegung beschriebene Flüchtigkeit sozialer Bindungen als Merkmal des FluchtSujets in Schmidts Werk lässt den Erzähler allein zurück.77 Ein Wandel, ähnlich der bereits beschriebenen ‚Entfernung‘ des Erzählers vom eigenen Erleben hin zum ‚Fremd-Erleben‘ von Flucht und Vertreibung in der literarischen Darstellung, vollzieht sich auch an der Erfahrung der Idylle: Vom geflüchteten erzählenden Individuum, das Rettung in der Idylle sucht und ein Zusammenbrechen des Zufluchtsortes prozesshaft erlebt, hin zum ‚geflüchteten Kollektiv‘, dessen Zufluchtsort seinen idyllischen Schein schon von Beginn an in der reflektierten Schilderung des Erzählers verliert. Weisen die abgeschiedene Insellage/-konstruktion und Deklaration der ‚IRAS‘ als expliziter Rückzugsort für Künstler und Intellektuelle sowie die ‚Heilserwartungen‘ des anreisenden Erzählers die ‚Gelehrtenrepublik‘ der gleichnamigen Erzählung bereits als Idyllenkonstruktion aus, werden die dortigen Konflikte und Missstände unmittelbar und im Kontrast zum äußeren Anschein dargestellt. Während die ‚Gelehrtenrepublik‘ noch als Rückzugsort inmitten einer als feindlich oder ungeeignet erscheinenden Um-/Welt dient, werden die Kuppel-Reservate der Mondkolonien in Kaff als zuallererst rettende Fluchtorte der noch verbliebenen Menschheit geschildert, von denen aus eine Rückkehr unmöglich geworden ist. Das Versagen dieses Ortes beruht auf der Beibehaltung derselben Ursachen beziehungsweise Verhaltensweisen, die ursprünglich zur Vernichtung der Erde und damit zur Flucht führten. Schmidt konstruiert dieses ‚Fanal‘ der Fluchtthematik als pessimistischen, misanthropischen Höhepunkt: Flucht wird aus Sicht dieser fortgesetzten und nun zum Abschluss gebrachten literarischen Darstellung zum endlosen Unterfangen, das von keinem Ort aufgefangen wird. Heinrich Schwier konstatiert in seiner Analyse zu gebrochenen Idyllen-Topoi in Kaff etwas, was zugleich auf alle hier genannten Erzählungen anwendbar ist: „Der idyllischen Landschaft […] ist nicht zu trauen: hinter jedem friedlich scheinenden locus amoenus verbirgt sich ein locus terribilis.“78 76

77 78

Vgl. Sven Behnke: Das Scheitern des patriarchalen Gestus. Zu „Seelandschaft mit Pocahontas“. In: Friedhelm Rathjen (Hg.): Bargfelder Bote. Lieferung 327/328, München 2010, S. 3–20, hier S. 16 f. Vgl. Schmidt, Seelandschaft (Anm. 11), S. 435. Heinrich Schwier: Kaff  – ein Schüdderump voll angemurkster Idyllen. In: Jörg Drews, Doris Plöschberger (Hg.): Starker Toback, voller Glockenklang. Zehn Studien zum Werk Arno Schmidts. Bielefeld 2001, S. 93–105, hier S. 97. 239

Sven Behnke

Zu der Suche und dem Versagen von Idyllen, Fluchtorten, können wiederum leicht biografische Parallelen im ‚Flüchtlings-Leben‘ des Autors ausgemacht werden. Die Umsiedlungen infolge von Anfeindungen und Mangelempfindungen (von Cordingen nach Gau-Bickelheim, dann nach Kastel, von dort aus nach Darmstadt und weiter nach Bargfeld) zeigen eine Suche und das Versagen von Orten als ‚Idyllen‘ an. Schmidt selbst räumt in seinen autobiografischen Ausführungen zu Materialien für eine Biografie ein, wie sehr er sich als „in entscheidendem Maße vom O r t abhängig“79 sah. Die Vorliebe des Autors für eine ‚idyllenartige‘ Lage der jeweiligen Wohnorte hebt auch Martynkewicz hervor, wenn er beispielsweise Kastel in seiner Abgelegenheit, seiner ‚Inselartigkeit‘ infolge der Entfernung zu verkehrstechnischen Anbindungen, als größtmögliche Entsprechung von Schmidts Wünschen beschreibt.80 Die Aufnahme des Aspekts der literarisch konstruierten Idylle verdeutlicht, welche umfangreiche Dimension die Thematik um Flucht und Vertreibung in Schmidts erzählerischem Werk innehat; sie schließt den Aufbau als Ziel- und Zufluchtsort von Fluchtbewegung und ursächlich darauf zurückzuführende Verletzungen ab. In den vorangegangenen Abschnitten konnte verdeutlicht werden, dass in weiten Teilen von Arno Schmidts Prosa-Werk der 1950er Jahre eine vielschichtigkomplexe, aufarbeitende Darstellung des Sujets ‚Flucht und Vertreibung‘ ihren Niederschlag gefunden hat. Die Aufnahme dieser Thematik kann sowohl mit dem die Dekade soziokulturell nachdrücklich beeinflussenden Faktum erzwungener Migration deutscher Flüchtlinge und Vertriebenen infolge des Zweiten Weltkriegs sowie der zeitlich daran anschließenden Massenflucht aus der DDR und den daraus resultierenden gesellschaftlichen wie individuellen Problemen als auch mit den konkreten, damit verbundenen biografischen Erlebnissen des Autors in Verbindung gebracht werden. Die insgesamt zehn Erzählungen, erschienen von 1949 bis 1960, weisen in der jeweiligen Inszenierung des Sujets deutliche Parallelen zu den (wahrscheinlich) als Vorlage beziehungsweise ‚Inspiration‘ dienenden Erfahrungen Schmidts auf. Die Textinhalte folgen dabei der Vita des ‚flüchtenden Autors‘ in ihrer jeweiligen erzählerischen Konstruktion und thematischen Fokussierung sowie den ausgeführten Aspekten der ‚erzwungenen Bewegung‘, der Darstellung von Verletzungen im Zusammenhang mit Flucht und Vertreibung als auch des Versagens von Zufluchtsorten. Bezeichnend für die biografische Orientierung ist auch die mit Ansiedlung in Bargfeld – dem Ankommen im ‚Baräckchen in der Heide‘ – abreißende literari79 80 240

Rauschenbach, Reemtsma (Hg.), „Wu Hi?“ (Anm. 10), S. 14. Vgl. Martynkewicz, Arno Schmidt (Anm. 9), S. 59.

‚Dekade der Flucht‘

sche Umsetzung des Sujets: Nach KAFF wird kein weiterer Text Schmidts das Sujet wieder so hervorgehoben darstellen. Während des Zeitraums der 1950er Jahre ist Flucht und Vertreibung ein konstituierender Themenkomplex im Werk Arno Schmidts. Hervorzuheben bleibt die Authentizität, die diese Werkphase auszeichnet. Sie erwächst aus der literarischen Nähe zum Erlebten. Dieser heute literaturwissenschaftlich wenig beachtete Aspekt dieses leitmotivischen Themas des ‚Avantgarde‘-Schriftstellers war für zeitgenössische Rezensenten noch wesentlich präsenter: Gar die Grundsituation des modernen Menschen – die Flucht selbst – sah man beispielsweise zum Auftakt der Fluchtthematik in Leviathan gespiegelt.81 Dabei kann Schmidt nicht auf eine einseitige (möglicherweise ideologisch motivierte) Position als ‚unkritischer Flüchtlingsautor‘ reduziert werden; dazu setzt sich der Autor in seinen detailreichen Darstellungen zu oft auch kritisch mit der Gruppe der Flüchtlinge und Vertriebenen insgesamt auseinander, indem er in ihr vorhandene übertriebene Erwartungen von materieller Hilfe, verlustfreier Fortführung alter Lebensstile und Lebensgewohnheiten, eine Ablehnungshaltung gegenüber der Aufnahmegesellschaft sowie ihrer Kultur und eine (geschichtlich undifferenzierte) Glorifizierung der Heimat thematisiert: „Ex silesiam non vita“ (~ Es gibt kein Leben außerhalb Schlesiens) –, so parodiert der Autor beispielsweise die überhöhte Heimatverbundenheit seiner Landsleute.82 Dieses und die Betrachtung der Heterogenität seines Gesamtwerks, die gegen eine semantisch einschränkende Fixierung auf die Fluchtthematik spricht, bieten die Chance, über die betreffenden Erzählungen Schmidts dem Thema der Flucht und Vertreibung Deutscher in der deutschsprachigen Literatur einen Platz ohne den Dünkel des Revanchismus einzuräumen. Dabei böte eine verstärkte Hinwendung aktueller literaturwissenschaftlicher Forschung auf diesen Themenkomplex sowohl die Chance, die Literatur gewordenen ‚intradeutschen Erfahrungen‘ mit gesellschaftlichen Integrationsleistungen und -schwierigkeiten der Nachkriegszeit und 1950er Jahre hervorzuheben und mit dem gegenwärtigen kultur- und gesellschaftswissenschaftlichen Diskurs über den Umgang mit migrierenden Minderheiten infolge von Flucht und Vertreibung zu verbinden als auch gleichzeitig einen wichtigen Beitrag zur Erinnerungskultur zu leisten.

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Nt.: Der Mensch auf der Flucht. [Darmstädter Echo, 21.12.1949]. In: Hans-Michael Bock (Hg.): Über Arno Schmidt. Rezensionen von „Leviathan“ bis zur „Julia“. Zürich 1984, S. 9 f. Vgl. Schmidt, Leviathan (Anm. 18), S. 37. 241

Emanuela Ferragamo

Steiler Berg, weiße Wand: Das Paradies und (bescheidenere) Gärten in Marlen Haushofers Die Wand Die Wand ist unzweifelhaft der bekannteste Roman Marlen Haushofers.1 Der Inhalt in Kürze: Eine Frau fährt zu Besuch ihrer Cousine Louise und deren Mann Hugo ins Gebirge. Das Ehepaar geht noch am selben Nachmittag ins Dorf, sie bleibt zu Hause. Am folgenden Tag trennt eine unsichtbare Wand sie von allem, was sie früher kannte. Das Leben jenseits ist erloschen, sie scheint die einzig Überlebende einer Apokalypse zu sein. Aus ihrer Perspektive, als Ich-Erzählung, ist der Roman geschrieben. Der Roman, erschienen 1963, bildet Haushofers poetologisches Programm ab. Nach ihrer Selbstauskunft sei der „Stoff zur Wand“ „immer schon da gewesen“, sie habe ihn „mehrere Jahre herumgetragen“.2 Der Niederschrift voraus ging die Veröffentlichung der Novelle Wir töten Stella (1958),3 in der verwandte Motive anklingen. Erzählt wird dort von einem zweifachen Verrat: vom Ehebruch Richards mit der jungen Stella, die seiner Ehefrau Anna zur Betreuung überlassen wurde  – und vom Verrat Annas an Stella: Wohl wissend, dass Richard der Liebelei bald überdrüssig werden würde, warnt Anna das Mädchen nicht, und Stella nimmt sich das Leben. Im Bewusstsein ihrer Schuld ist Anna gefangen im weiblichen Rollenmuster der 1950er Jahre.4

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Der Roman war zur Lebenszeit Haushofers kein Erfolg. Erst die Auflage im Jahr 1983 macht Haushofer im deutschsprachigen Raum berühmt. Trotz der begeisterten Rezension von Wiegel verkaufte sich der Roman in seiner ersten Auflage nicht gut: erst die öffentlichen Debatten über den Nato-Doppelbeschluss und die feministischen Bewegungen der 1970er Jahre brachten eine Wende. Für einen Überblick über die Rezeption des Romans siehe auch Grazziella Predoiu: Raumkonstellationen in Marlen Haushofers Roman Die Wand. In: Germanistische Beiträge 38 (2016), S. 66–88, vor allem S. 68–71. Zit. nach Daniela Strigl: „Wahrscheinlich bin ich verrückt …“. Marlen Haushofer – die Biographie. Berlin 2007, S. 244. Christine Schmidjell: Zur Werkgenese von Marlen Haushofers Die Wand anhand zweier Manuskripte. In: Anke Bosse, Clemens Ruthner (Hg.): „Eine geheime Schrift aus diesem Splitterwerk enträtseln …“. Marlen Haushofers Werk im Kontext. Tübingen, Basel 2000, S. 41–58, hier S. 42. Thomas Lorenzen: Initiation und Verrat  – zitierte und verborgene Motive antiker Texte in Marlen Haushofers Wir töten Stella. In: ebd., S. 257–276, hier S. 264.

Steiler Berg, weiße Wand: Das Paradies und ... Gärten in Marlen Haushofers Die Wand

Die „Aussichtlosigkeit“5 der psychischen Unterwerfung der Frau wird, symbolisiert von der Wand, wird im Roman durch die für Poetik Haushofers kennzeichnenden Raum-Metaphern durchlässig.6 Während sich Anna durch eine „unsichtbare Wand“ (St 20) vom Leben getrennt fühlt, dient in der Wand das Bewusstwerden der Landschaft der Konturierung einer neuen Verantwortlichkeit gegenüber der Welt-Heimat. Die Studie der literarischen Strategien der Landschaftsrepräsentation ermöglicht es, so würde die These dieses Essays lauten, eine Taxonomie der Heimat im Roman zu versuchen. Und dass trotz der Tatsache, dass Haushofer das Wort „Heimat“ dort nicht einmal erwähnt und am liebsten über verschiedene „Heimwege“ schreibt. Ein Grund für diese Bevorzugung liegt im semiotischen Wert der Darstellung von Räumlichkeit: Die rastlosen Wanderungen der namenlosen weiblichen Hauptfigur hin und her zur Wand, ihre Treibjagden durch den Wald sind es, durch die ihre Landschaftsbilder entstehen. Alexander G. Baumgarten würde diese Repräsentationen ästhetisch nennen: Ästhetik hieße dann „ein Gesetz der sinnlichen und lebhaften Erkenntnis“, eine Systematisierung des Erlebnisses.7 Heimat heißt, so das Wörterbuch der Gebrüder Grimm, „das land oder auch nur der landstrich, in dem man geboren ist oder bleibenden aufenthalt hat“.8 Die Bezeichnung hebt, bezogen auf Die Wand, zwei Aspekte der Heimat-Konturierung hervor. So erscheint dort zum einen die Frage nach einem „bleibenden Aufenthalt“ dadurch erschwert, dass es nach der Apokalypse keinen Ort mehr gibt, wo man sich beheimatet fühlen könnte. (Und vielleicht gäbe es auch vor der Wand für Frauen kein Zuhause.) In diesem Sinn ist eine für den Roman wichtige Strategie die der „Verfremdung“, wie sie von Darko Suvin im Zusammenhang mit der Utopie problematisiert wird.9 Die Betrachtung der Heimat als ein Geburtsort ermöglicht zum anderen, die kulturelle Bedeutung der Landschaft zur Gestaltung und Überarbeitung von Gesellschafts- und Identitätsfigurationen zu erforschen.

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Marlen Haushofer: Wir töten Stella. Erzählung. München 1996, S. 12. Seitennachweise im Folgenden mit dem Kürzel St in Klammern im Text. Christof Laumont: Die Wand in der Wirklichkeit. Zu Marlen Haushofers allegorischem Realismus. In: Bosse, Ruthner (Hg.), Haushofers Werk im Kontext (Anm. 3), S. 137–156, hier S. 137. Alexander G. Baumgarten: Ästhetik. Hamburg 2007, S. 27. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. IV, 2. Bearbeitet von Moritz Heyse. Leipzig 1877, Sp. 865. Vgl. Darko Suvin: Darko Suvin: Le metamorfosi della fantascienza: poetica e storia di un genere letterario. Bologna 1985. 243

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Einige Elemente zur Konturierung der „Landschaft“ Was ist Landschaft? Joachim Ritter beantwortet die Frage, indem er auf die historische Entfaltung des Landschaftsgefühls hinweist: Es führe auf den Verlust der antiken, kosmischen Einigkeit mit dem Natürlichen im späten Hellenismus zurück. So umfasse Landschaft das, was nicht mehr Natur ist.10 In eurozentrischer Einschränkung unterliegt Landschaft hier nicht ontologischen Merkmalen, sondern meint eine jeweilige Entwicklungsstufe.11 Nicht als ein immer geltendes Prädikat für die Landschaft, sondern als die Beschreibung ihres Prozesshaften bietet Ritters Theorie ein für den methodologischen Vergleich mit der Heimat wichtiges Konzept: das der Kompensation. Antike Menschen hätten, so Ritter, mit der Landschaft das Ende der kosmischen Verbundenheit zur Naturwelt kompensieren wollen.12 In einer ähnlichen Weise beruht auch Heimat auf einem kompensatorischen Verfahren, indem sie das definiert, was nicht fremd ist.13 Das scheint hier hinsichtlich der Epistemologie menschlicher Wahrnehmung von Interesse: Kompensatorische Strategien der Landschaft und der Heimat setzen die Analyse der Prozesse voraus, anhand derer man etwas als heimatliches, erkennbares Gebiet wahrnimmt. Das Bild einer Landschaft hänge, so Matteo Meschiari, von der kognitiven Dimension des fühlenden Subjekts ab.14 Dieser Perspektive ist die Phänomenologie der Wahrnehmung Gaston Bachelards besonders angemessen: Menschliches Raumverständnis ist nicht bloß geometrisch – es verlangt eine Wechselbeziehung zwischen empfundenem Raum und empfindendem Körper.15 So habe prähistorischen Kulturen eine genaue Erfahrung der Landschaft zum Vorteil gereicht, um sich am Leben zu erhalten und die eigene Weltanschauung der Form des Territoriums nachzubilden.16 Diesem antiken Landschaftsverständnis entsprechend, plädiert Meschiari für das Studium der

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Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. In: Ders.: Subjektivität. Frankfurt a. M. 1974, S. 172–190, hier S. 173. Andrea Siegmund: Der Landschaftsgarten als Gegenwelt. Ein Beitrag zur Theorie der Landschaft im Spannungsfeld von Aufklärung, Empfindsamkeit, Romantik und Gegenaufklärung. Würzburg 2011, S. 55. Ebd., S. 55. Sören Schöbel-Rutschmann: Von der Heimat zur Landschaft. In: Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen 105 (2016), S. 57–61, hier S. 57. Matteo Meschiari: Sistemi selvaggi. Antropologia del paesaggio scritto. Palermo 2008, S. 124. Ebd., S. 125. Ebd., S. 126.

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„existentiellen Bedeutung“ von subjektiven und kulturell tradierten Landschaftsbildern.17 Das betrifft zwar auch die emotive Betroffenheit von Landschaft: Von besonderer Bedeutung ist jedoch nach Meschiari die Wechselwirkung zwischen Landschaft- und Körpererkenntnis.18 Demnach habe die Landschaft auch eine unsichtbare Seite, das heißt, man könne die Landschaft als Ganzes vernehmen, auch wenn man davon nur ein partielles Bild habe.19 So erinnert sich die Frau in Die Wand während ihres ersten Berggewitters an die Fenster ihrer Wohnung in der Stadt, auch wenn sie nun seit Langem diesseits der Trennwand lebt.20 Das zeigt, dass Landschaft nicht eine Gesamtheit von einzelnen Phänomenen ist, sondern eine kohärente Einheit, die als eine räumliche Ausdehnung des Körpers gilt.21 Etymologisch bezeichnet Landschaft kein manifestes Territorium als vielmehr dessen prozessuale Formgebung durch Eingriffe in die Natur.22 Eine Landschaft zu bewohnen, heiße folglich, aktiv an ihrer Gestaltung teilzuhaben, wobei alle Bewohner zur ethischen Verantwortung für eine möglichst gemeinsame Landschaftsplanung beitragen.23 Das verrät das moderne Bewusstsein, der Mensch könne die göttliche Schöpfung verbessern: wie die Utopie,24 offenbart die Landschaft die erworbene Befreiung menschlicher Geschichte von aller transzendentalen Vorsehung. Auch die Frau in der Wand pflegt ihre Umgebung, weil sie auf sich allein vertraut.25 Das heißt aber nicht unbedingt, ihre Landschaftsbilder seien bloß subjektiv: auch sie sprechen von der Kultur, die sie geprägt hat. Beispielhaft dafür ist die Notiz vom 24. Dezember, wenn die schneebedeckte Berglandschaft die Erinnerung an die damaligen Weihnachtsfeste erweckt (W 132). Dass der Hund Luchs nicht begreife, warum sie sich auf den Schnee nicht freue, lässt die Frau über die Bedeutung von tradierten Weihnachtsbildern nachdenken (W 133). 17 18 19 20 21 22 23 24 25

Ebd., S. 128. Ebd., S. 128. Ebd., S. 130. Marlen Haushofer: Die Wand. Roman. Frankfurt a. M., Berlin 1985, S. 92. Seitennachweise im Folgenden mit dem Kürzel W in Klammern im Text. Meschiari, Sistemi selvaggi (Anm. 14), S. 130. Michel Collot: Landschaft. In: Jörg Dünne, Andreas Mahler (Hg.): Handbuch Literatur und Raum. Berlin 2015, S. 151–159, hier S. 151. Franco Zagari: Questo è paesaggio. 48 Definizioni. Rom 2012, S. 45. Maurizio Cacciari: Utopia. In: Ders., Paolo Prodi (Hg.): Occidente senza utopie. Bologna 2016, S. 69. Marlen Haushofer: „Meine Bücher sind alle verstoßene Kinder“. Ein Gespräch mit Dora Dunkl. In: Anne Duden (Hg.): Oder war da manchmal noch etwas anderes? Texte zu Marlen Haushofer. Frankfurt a. M. 1986, S. 134–136, hier S. 135. 245

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Daher wird nach ihrem Tod „ein verschneiter Wald nichts anders bedeuten als ein verschneiter Wald“ (W 134). Die Wechselwirkung zwischen Kultur und Landschaft fasst Martin Schwind so zusammen, dass er die Landschaft als ein von der Gemeinschaft kreiertes Kunstwerk betrachtet.26 Auch Renzo Dubbini meint, Landschaft, Kultur und Geschichte seien miteinander so verflochten, dass die Landschaftskonfiguration das Bestreben einer bestimmten Kulturstimmung widerspiegelt.27 Der Aspekt könnte nirgendwo markanter sein, als in der Wand, denn dort ist der Wahnsinn moderner Technik schuld an der Zerstörung der Landschaft, wobei Haushofer mit „Technik“ meistens ein grausames, verantwortungsloses Spiel mit der Natur meint: etwa die Erfindung immer tödlicherer Zerstörungsmittel oder den eugenetischen Wahn der NS-Zeit. Deswegen behauptet Dorothea Zeemann zu Recht, Haushofer ängstige sich nicht vor der Neutronenbombe, die damals nicht auf die Tagesordnung gestanden habe, sondern vor dem emotiven Erstarren der Hitlerjugend.28 Kulturelle Symbole werden deswegen in toto abgelehnt, die Klassifizierungssucht der Wissenschaft ebenso wie die Luxussymbole der Konsumgesellschaft.29 (Dass diese sich auf der heuchlerischen Verdrängung der NS-Zeit beruht, belegt am deutlichsten die Figur des Richard in Wir töten Stella: heute ein erfolgreicher Bürger, damals aber wohl ein Nazi-Sympathisant.30 „Es gibt so viele von seiner Art“ schreibt Anna, „alle Welt weiß es offenbar und nimmt es hin, und niemand macht ihnen den Prozeß.“ [St 21])

Grenzen. Eine semiotische Raumfiguration Ein Konzept, das zur Konturierung der Heimat und der Landschaft aus Sichtweise der Kultur viele Anregungen bietet, ist das der „Grenze“. Es war bekanntlich Juri M. Lotman, der Grenzen sogar als das wesentliche Verfahren der semiotischen Individualisierung betrachtete und topologisch in

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Vgl. Raffaele Milani: L’arte del paesaggio. Bologna 2017, S. 42. Renzo Dubbini: Geografie dello sguardo: visione e paesaggio in età moderna. Turin 1994, S. 3. Dorothea Zeemann: Eine Frau verweigert sich. In: Duden (Hg.), Texte zu Marlen Haushofer (Anm. 25), S. 67–72, hier S. 70. Wolfgang Bunzel: „Ich glaube, es hat niemals ein Paradies gegeben“. Zivilisationskritik und anthropologischer Diskurs in Marlen Haushofers Romanen Die Wand und Himmel, der nirgendwo endet. In: Bosse, Ruthner (Hg.), Haushofers Werk im Kontext (Anm. 3), S. 103–120, hier S. 115. Lorenzen, Initiation und Verrat (Anm. 4), S. 262.

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seiner Forschung anwendete.31 Auf topologische Muster beruft er sich auch, wenn er eine für die Beschreibung von semiotischen Kulturformen möglichst objektive Sprache prägt, wovon sein Essay zur Metasprache topologischer Kultur-Beschreibung handelt.32 Dort werden als Grenzen nicht nur morphologische oder politische Trennungen zwischen Gebieten, sondern allgemein die für eine bestimmte Kultur kennzeichnenden Eigentümlichkeiten aufgezeigt.33 Daher weisen sogar „natürliche“ Grenzen am Ende eine kulturelle Differenzierung auf.34 Ähnlich liest es sich in Haushofers Roman: Hätte sich die Katastrophe in Belutschistan abgespielt, säßen wir völlig ungerührt in den Kaffeehäusern und läsen darüber in der Zeitung. Heute sind wir Belutschistan, ein sehr entferntes fremdes Land, von dem man kaum weiß, wo es liegt (W 45).

Das Zitat ist mit einer vorherigen Stelle des Romans zu vergleichen, wenn die Protagonistin die Wand mit der Begründung verleugnet, so etwas könne nicht geschehen, „nicht in einem kleinen Dort im Gebirge, nicht in Österreich und nicht in Europa“ (W 19). Bemerkenswert ist, wie hier die Wand durch die Antinomie von Nähe und Ferne thematisiert wird. Gegen die Angst vor einer weiteren Annäherung des unheimlichen Gegenstandes an die Berghütte kämpfend, stößt ihn die Frau in metaphorischer Weise in eine unbestimmte, geografische Ferne zurück. Das persische Gebiet Belutschistans scheint fern genug zu sein, um sich von der Wand nicht bedroht zu fühlen – zumal die implizite Gegenüberstellung von Europa und Asien kulturell bestimmt wird: das Wort „Kaffeehaus“ (es zeugt von den vielen Austriazismen der Prosa Haushofers) erweckt ein gemütliches, heimeliges Gefühl. Desto irritierender klingt deshalb die Behauptung, Österreich sei zum „entfernte[n], fremde[n]“ Belutschistan geworden (W 45). Die Aufhebung kultureller Grenzen führt zur Gleichstellung von Heimat und Fremde. Dieses Paradoxon der „Verfremdung“ ist nach Suvin eine für die utopische Gattung sehr beliebte Strategie. Es bezeichne ein Verfahren, das die soziopolitischen Zustände der historischen Realität des Utopisten mittels fiktionaler Veränderung inszeniert.35 In ähnlicher Weise erscheint die existenzielle Lage 31 32 33 34 35

Juri M. Lotman: Universe of the Mind. A Semiotic Theory of Culture. Bloomington, Indianapolis 2000, S. 131. Massimo Leone: Signatim. Profili di semiotica della cultura. Ariccia 2015, S. 54. Zit. nach ebd., S. 54. Zit. nach ebd. Suvin, Metamorphoses of Science Fiction (Anm. 9), S. 21. 247

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der Protagonistin der Wand durch den Hinweis auf das ferne Land Belutschistan aus ihrem normalen sozio-politischen Kontext radikal verfremdet. Aber selbst die Wand dient als narratives Verfremdungsmittel, als „Novum“. Als solches definiert Suvin ein wesentliches Element der Science-Fiction-Literatur, dass eine von der Norm der impliziten Leser und des Schriftstellers abweichende kognitive Erfindung bezeichnet.36 Das Novum Wand offenbart zwei Fragen der kultur-tradierten Repräsentation der Berglandschaft: die Probleme der ästhetischen Auseinandersetzung mit einer unbeständigen Bergumgebung und die sozio-politische Isolierung der Berggemeinschaften. Die erste Frage sei nur kurz angedeutet. In seinem Aufsatz über die Alpen behauptet Georg Simmel, alle ästhetische Auseinandersetzung mit dem Gebirge solle mit dessen irritierender Formlosigkeit rechnen: Würden auch die Alpen als fürchterliche Sinnbilder des Transzendenten gelten, so seien sie doch von einem zufälligen und formlosen Chaos geprägt.37 Vor allem die verschneite Firnlandschaft drücke die vollkommene Allegorie des Verstummens aller Form, der endgültigen Ferne aus dem Leben aus.38 Diese Entfernung offenbart die Darstellung der Wand als künstliche Grenze. Die unsichtbare Trennwand stellt sich denn als „kühle[r] Widerstand“ (W 15) und „unsichtbare[s] Hindernis“ dar (W 16), das alles „Weitergehen“ unmöglich macht (W 15). Die Frau begreift sehr bald, dass die Wand sie „von dem Unbegreiflichen“ trennt, das den Menschen und Tieren jenseits der glatten Oberfläche des rätselhaften Dings widerfahren ist (W 17), fühlt sich aber in eine Falle gelockt, weil die Wand sie in ein „Waldgefängnis“ zwinge (W 22). Diese radikale Abgeschiedenheit steht für ein emotives Unbehagen der Protagonistin und damit für eine Kritik am Patriarchat.39 Diese Deutung beschreibt ebenso die Isolationslust Annas, die als „Hüterin“ des Hauses Richards (St 32) über die „Ausweglosigkeit des Kerkers“ nachdenkt, die für sie Familie heißt (St 12). Doch gilt es unbedingt, die Landschaft zu berücksichtigen, in der die Wand spielt. Die Landschaft ist nicht bloß eine Szenerie, sondern birgt der Interpretation zahlreiche anregende Elemente. So hebt die gezwungene Isolierung diesseits der Wand den Topos der Absonderung hervor, der

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Ebd., S. 86. Georg Simmel: Die Alpen. In: Ders.: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais. Leipzig 1911, S. 147–157, hier S. 149. Ebd., S. 151. Vgl. dazu Michael Hofmann: Verweigerte Idylle. Weiblichkeitskonzepte im Widerstreit zwischen Robinsonade und Utopie: Marlen Haushofers Roman Die Wand. In: Bosse, Ruthner (Hg.), Haushofers Werk im Kontext (Anm. 3), S. 193–206.

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historisch das Gebirge prägt. Nicht nur versinnbildlicht es eine Welt „an sich“,40 die wegen ihrer Höhe von der Geschichte kaum berührt wurde und als solche in der religiösen Anthropologie eine für das Göttliche bedeutende Figuration darstellt.41 Die Berge symbolisieren vielmehr einen Gegensatz zum abendländischen Kulturparadigma, das sich lieber auf das Wasser und seine ökonomische Funktionalisierung im Handelsverkehr und als treibende Kraft der Industrierevolution stützt.42 Erst während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird die scheinbare Immobilität der Berge als eine für den Massentourismus attraktive Eigenschaft verwertet.43 Auch die Protagonistin der Wand fährt ins Gebirge, um sich aus der frustrierenden Routine ihres Familienlebens zu flüchten (W 10).

Die Langweile und die Kurzweil. Zivilisationskritik und Gegenwärtigkeit in der Wand Dass Haushofer die Berglandschaft zunächst als Freizeitort beschreibt, ruft die Frage nach der Langweile hervor. Sie wird anhand der narrativen Form der Intrige untersucht, die Anregungen zur Analyse der Heimat als Ort der Gestaltung und der (möglichen) Überarbeitung von gesellschaftlichen Relationen bietet. Marc Augé behandelt die soziale Bedeutung von Intrigen in einem Essay zur Idee der Zukunft. Nach ihm würden Vorstellungsbilder des Künftigen das soziale Leben und seine wesentliche Solidarität darstellen.44 Beide Momente enthalten die Erzählform der Intrige, die vom Leser erwartet, er sei gleichzeitig auf die Entfaltung der Handlung und auf deren Vorgeschichte neugierig.45 Die Lösung von Intrigen setze nämlich die Fähigkeit voraus, Indizien zu enträtseln und auszudeuten.46 Übrigens sei dieses Prozedere für unsere Kultur üblich und erläutere, warum wir die Gegenwart häufig erst durch die Vergan-

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Robert MacFarlane: Mountains of the Mind. A History of a Fascination. New York 2003, S. 53. Julien Ries: Homo religiosus e il simbolismo della montagna sacra. In: Ders. (Hg.): Montagna sacra. Mailand 2010, S. 8–16, hier S. 11. Nicolas Giudici: La philosophie du Mont Blanc. De l’alpinisme à l’économie immatérielle. Paris 2000, S. 47. Aurel Schmidt: Die Alpen. Schleichende Zerstörung eines Mythos. Zürich 1990, S. 136 Marc Augé: Futuro. Turin 2012, S. 13. Augé, Futuro (Anm. 44), S. 15. Ebd. 249

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genheit zu erklären vermögen.47 Diese unsere Tendenz thematisiert Haushofer mit der Anspielung auf eine Gattung, die Augé als musterhaft für die Intrige nennt: den Kriminalroman: Die Protagonistin der Wand findet ein paar alte Krimis (W 37). Der Hinweis auf den Kriminalroman soll zunächst in den Kontext der „Robinsonade“ gebracht werden, weil zur Tradition dieser Gattung eben das Auflisten von übrig gebliebenen Gütern gehört.48 Eine solche Liste ist auch in der Wand zu finden. Sie liegt vor den Augen der Frau, die sie jedoch nicht abschreibt, denn „im Lauf dieses Berichts wird ja fast jedes Ding“, das sie besitzt, „erwähnt werden“ (W 42). Der Bezug auf Kriminalromane ist jedoch hier aus einem anderen Grund von Interesse. Die Lösung von Intrigen fordert das Entwirren von den interindividuellen und sozialen Beziehungen zwischen Personen. Das heißt, so Augé, Intrigen geben ein treues Bild der menschlichen Beziehungen wieder und bieten gleichzeitig die Möglichkeit, sie aufs Spiel zu setzen.49 Das sieht man am deutlichsten in Wir töten Stella, weil der Titel eine Detektiverzählung verspricht. Wird aber wirklich diese Erwartung deswegen frustriert, wie es Maria-Regina Kecht meint, weil man genau wisse, wer Stellas Mörder ist?50 Vielmehr sei hier der paratextuelle Hinweis auf die Krimigattung als ein Mittel verstanden, die Dimension der Intrige zu betonen: So polemisiert Wir töten Stella gegen das patriarchalische Verständnis der Geschlechterrollen in der österreichischen Nachkriegsgesellschaft.51 Es ist hier bedeutend, dass Kriminalromane in der Wand zutiefst mit Langweile verbunden sind. So gesteht die Frau bald nach der Entdeckung von Hugos Krimis, ihr Interesse für die Handlung sei in der Tat sehr gering (W 48). Selbst Hugo sei übrigens „regelmäßig auf der dritten oder vierten Seite seiner harten Krimis eingenickt“ (W 42). Deutlicher noch, bemerkt die Protagonistin später, auch Magazine und Zeitungen hätten sie immer zu Tode gelangweilt: „Ich wußte nur nicht, daß das ständige leichte Unbehagen Langweile war. Sogar meine armen Kinder litten schon darunter und konnten nicht zehn Minuten allein bleiben. Wir waren alle ganz betäubt von Langweile.“ (W 110)

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Ebd., S. 29. Claudio Magris: Le Robinsonaden fra la narrativa barocca e il romanzo borghese. In: Arte e storia. Studi in onore di Lionello Vincenti. Turin 1965, S. 235–284, hier S. 249. Augé, Futuro (Anm. 44), S. 18. Maria-Regina Kecht: Marlen Haushofer: Recollections of Crime and Complicity. In: STTCL. Studies in Twentieth & Twenty-First Century Literature 31 (2007), S. 83–108, hier S. 92. Ebd., S. 92.

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Zwar rückt dies den Roman und seine Autorin in die Nähe des Existenzialismus,52 der unmittelbare Grund des „Unbehagens“ der Frau gegenüber Krimis und Magazinen liegt aber darin, dass beide ein stereotypes Weiblichkeitsbild darstellen. Die Krimis handeln von „Mädchenhandel“ (W 48), die Magazine beschäftigen sich mit Kosmetik und Mode (W 129). Dass die Wand „unter anderem“ die Langweile „getötet“ habe (W 110), heißt, sie habe der Banalisierung der Beziehung zwischen den Geschlechtern ein jähes Ende bereitet. In diesem Sinn kann man Suvin zustimmen, dass die utopische Verfremdungsstrategie zu einer „positiven Negation“ führe: Weil der Utopist glaube, aktuell in einer verfremdeten Realität zu leben, diene die Verfremdung in der Tat zur Bejahung dieser von den sozio-historischen Umständen verleugneten Werte.53 Es geht um die Kritik am Wunsch der österreichischen Nachkriegszeit, ein ruhiges Leben „ohne Furcht und Erinnerung“ zu führen, wie es in Wir töten Stella heißt (St 5). Die Aufgabe der Frauen in den 1950er Jahren war es, diesen Wunsch zu verwirklichen: Man erwartete von ihnen die Versöhnung von familialen (und sozialen) Konflikten.54 Auch daher ist die Ankunft Stellas so unerwünscht: Das Mädchen kennt weder „die unzähligen Tabus“ der Familie (St 16) noch die sozialen Regeln. Sie erweist sich als „Fremdkörper“ (St 35), und das bezeuge, so Maria-Regina Kecht, dass Frauen am stärksten den Preis der sozialen Versöhnung der 1950er Jahre bezahlen.55 In Die Wand wird der Langweile eine reiche Imagination der Gegenwart entgegengestellt. In einem ähnlichen Sinn stellt die Ich-Erzählerin fest, sie sei in einer Welt aufgewachsen, „die den Frauen feindlich gegenüberstand und ihnen fremd und unheimlich“ gewesen sei (W 83). So drückt die Langweile die Kritik Haushofers an der stereotypischen Gestaltung der sozialen Rollen von Menschen und Frauen in der Gesellschaft aus und ermöglicht eine Überlegung über die allgemeine Bedeutung der Heimat als identitätsgewährenden Lebensraum.56 Eine andere Aufwertung der Verfremdung, die für die Konturierung des Heimat-Begriffs bedeutende Anregungen bietet, hat Pierre Hadot in Hinsicht

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Daniela Strigl: Vertreibung aus dem Paradies. Marlen Haushofers Existentialismus. In: Bosse, Ruthner (Hg.), Haushofers Werk im Kontext (Anm. 3), S. 121–136. Suvin, Le metamorfosi della fantascienza (Anm. 9), S. 72. Kecht, Recollections of Crime and Complicity (Anm. 50), S. 87. Ebd., S. 99. David Morley, Kevin Robins: Spaces of Identity. Global Media, Electronic Landscapes and Cultural Boundaries. London 1995, S. 87. 251

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auf die philosophische Verbindung zwischen Verfremdung und Gegenwärtigkeit vorgeschlagen. Er meint, antike Menschen empfanden die Verfremdung als etwas, das mit dem Wunder verflochten wurde.57 Solch ein Verfremdungsgefühl, dessen Vorbote sich schon in der Dichtung des Kaisers Marc Aurel finden ließe, entspreche der Höhenlust: Schon vor Petrarcas Besteigen des Mont Ventoux hätten sich antike Griechen und Römer an der Vogelperspektive erfreut und sie als ein Mittel zur Erweiterung des egoistischen Gesichtspunktes des Einzelnen betrachtet.58 Für Carlo Gabbani stellt die Verfremdung die Epistemologie und die emotive Beziehung zur Welt infrage.59 Diese taxonomische Annäherung von Verfremdung und Wunder ermöglicht es nun, über die Bedeutung der Gegenwärtigkeit in der Wand zu reflektieren. Das Wunder versteht sich denn, so Hadot, als der reine Genuss des Goethe’schen „schönen Augenblicks“: das Bewusstwerden einer emotiven und daher nicht ermessbaren Dimension der Gegenwart, die mit der Uhrzeit nicht übereinstimmt.60 Für Die Wand stellt sich Haushofer zwei Arten der Gegenwart vor: die des Bergtales und die Aufhebung aller Zeitlichkeit in der paradiesischen Landschaft der Almen. Wenn auch schroff unterschiedlich, versinnbildlicht diese doppelte Gegenwart zwei Heimatfigurationen.

Die Gegenwart auf der Alm: Eine Betäubung und ihre topologische Darstellung Als locus amoenus erweist sich die Berglandschaft auf der Alm. Dort erlebt die Frau eine so vollkommene Harmonie mit der Natur, dass sie auf die Idee der eigenen Individualität zu verzichten wagt: „Es war fast unmöglich, in der summenden Stille der Wiese unter dem großen Himmel ein einzelnes, abgesondertes Ich zu bleiben, ein kleines, blindes, eigensinniges Leben, das sich nicht einfügen wollte in die große Gemeinschaft“, notiert sie (W 185). Der Wunsch kündet von der Negativität der idyllischen Landschaft in Haushofers Prosa. Kargl und Le Née bemerken, das Idyll in der Wand offenbare die Vernichtung

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Pierre Hadot: La filosofia come modo di vivere. Conversazioni con Jeannie Carlier e Arnold I. Davidson. Turin 2008, S. 123. Ebd., S. 124. Carlo Gabbani: Epistemologia, straniamento e riduzionismo. In: Annali del Dipartimento di Filosofia (Nuova Serie) XVII (2011), S. 95–134, hier S. 100. Hadot, La filosofia come modo di vivere (Anm. 57), S. 125.

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des Selbst,61 und Daniela Strigl behauptet, eine Einheit mit der Natur sei nur um den Preis der endgültigen Selbstentfremdung erreichbar.62 Haushofer lehnt einem Brief an Hans Weigel idyllisches Schreiben strikt ab. Sie möchte es, schreibt sie, „sehr gern, aber das wäre gelogen. Gerade diese Mischung von Dämonie u. Idylle, auf die ich unentwegt stoße, bereitet mir das größte Unbehagen und fasziniert mich zugleich.“63 Doppeldeutig ist auch die Alm. Das Leben dort scheint der Frau ein neues, „betäubendes“ Gegenwartserlebnis zu bieten. Sie hat den Eindruck, die Alm liege „außerhalb der Zeit“ und gesteht, dass einzig die Rückkehr zur „Unterwelt“ des Tales sie begreifen ließ, wie sehr sie die Alm „auf geheimnisvolle Weise“ von sich selbst „erlöste“ (W 182). Und doch hat sie ihr gegenüber ambivalente Gefühle. Die Alm sei „wie alles Fremde voll heimlicher Verlockung“ (W 175) und mit dem übrigen Leben im Tal unversöhnbar: Dorthin zurückgekehrt, denke sie an die Alm „fast mit Furcht und Widerwillen“ (W 184) – wobei diese Haltung eine für die Auseinandersetzung mit der Heimat interessante Frage aufwirft. Unter Ambivalenz versteht Augé im früher erwähnten Essay zur Zukunftsvorstellung eine doppelte Negation: bezeichnet er das Verhalten dessen, der zwei verschiedene Postulate als gleich geltend annimmt („ich bin sowohl das, als auch das“) als „zweideutig“, so ist als „ambivalent“ der Mustersatz „ich bin weder das, noch das“ zu betrachten.64 Wendet man die Differenzierung auf die Beziehung der Alm zur Talschlucht an, so hieße das, die Hauptfigur könne sich weder mit der Alm noch mit der Schlucht identifizieren. Die Behauptung wird vom Roman bestätigt. Während der Wald in der Bergtalschlucht nicht wolle, „dass die Menschen zurückkommen“ (W 185), sei die Alm nach dem Tod des Hundes Luchs „verloren“ (W 182). Verloren war die Alm jedoch schon früher. Eine kleine Einführung in das Konzept der Entfremdung hilft, die Raumkonfiguration der Almlandschaft zu verstehen.

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Elisabeth Kargl, Aurélie Le Née: „Es stimmt nicht, daß ich nicht idyllisch sein will.“ Idylle et anti-idylle dans l’œuvre de Marlen Haushofer. In: Sylvie Arlaud, Marc Lacheny, Jacques Lajarrige, Éric Leroy du Cardonnoy (Hg.): Dekonstruktion der symbolischen Ordnung bei Marlen Haushofer. Die Wand und Die Mansarde. Berlin 2019, S. 59–73, hier S. 71. Strigl, Vertreibung aus dem Paradies (Anm. 52), S. 130. Kargl, Le Née, Idylle et anti-idylle (Anm. 61), hier S. 59. Augé, Futuro (Anm. 44), S. 23. 253

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Die Erhabenheit auf der Alm als eine Form menschlicher Entfremdung Um genau zu wissen, wo die Wand liegt, legt die Protagonistin Holzstücke entlang der Grundlinie. Die Grenze, die sie markiert, sehe so aus, „als hätten Kinder gespielt, ein heiteres, harmloses Frühlingsspiel“ (W 20), und zugleich ein Ausweis der Machtlosigkeit der Frau; denn nichts kann die Wand auf ein bestimmtes Gebiet einschränken. In metaphorischer Weise wiederholt die Grenzabsteckung das Schreiben des Berichts: Zielt dieses darauf ab, Klarheit über die Wand zu gewinnen, so machen die Holzstücke die Wand erst sichtbar und dadurch bedeutungsvoll.65 Die Semantik des Spiels kehrt in der Wand oft wieder. Neben der von der Frau gebauten „Spielzeuggrenze“ (W 21) werden die ungenügenden Maßnahmen, die Hugo traf, um seine Angst vor einer Atomkatastrophe zu stillen, ohne als Sonderling beurteilt zu werden (W 100), als bloße „Spielereien“ bezeichnet. Gefährliche „Spiele“ sind für Haushofer auch diejenigen, die die Menschen immer „gespielt“ hätten und die „fast immer übel gegangen“ seien (W 209). Daraus erhellt, dass unter „Spiel“ eine Disproportion zu verstehen ist: sei es das Fehlen eines umweltfreundlichen Verhältnisses, das zur Verletzung der „großen Ordnung“ durch die Erfindung der Waffe Wand führte (W 75), sei es die Unangemessenheit der Maßnahmen zum Lebensschutz wie in Hugos Beispiel – oder die Unterlegenheit der Menschen gegenüber den Naturelementen. Als ein „Spielzeughaus“ erscheint der Frau das Jagdhaus im Tal während eines gewaltigen Berggewitters, auf dem ein „Riese“ „mit gespreizten Beinen“ seinen „feurigen Hammer“ schwänge (W 91). In diesem Sinn zieht die Spielsemantik das dynamische Erhabene des Immanuel Kant hinzu: das Bewusstwerden der Stärke einer hereinbrechenden Naturgewalt, gegenüber der der Mensch jedoch ein Gefühl sittlicher Überlegenheit empfinde.66 Obwohl die Ich-Erzählerin die übliche Bedeutung der Moral ernüchternd als ein soziales Konstrukt enthüllt, das sich auf die Furcht vor gesellschaftlicher Missbilligung beziehe, spürt sie noch das Kantische Gefühl der Erhabenheit gegenüber der Natur. Eine ausführliche Analyse des Erhabenen in Haushofers Roman geht über das Ziel dieses Beitrags hinaus. Den aktuellen Forschungsstand zur Taxonomie

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Hofmann, Verweigerte Idylle (Anm. 39), S. 193. Zit. nach Flavio Cuniberto: Sublime. In: Nicola Carchia, Paolo D’Angelo: Dizionario di estetica. Bari 1999, S. 289–294, hier S. 293.

Steiler Berg, weiße Wand: Das Paradies und ... Gärten in Marlen Haushofers Die Wand

des Konzepts für die Literaturwissenschaft beiseite lassend, sei aber erwähnt, dass die Fragen nach dem Erhabenen sich um einige für die landscape-studies anregungsvolle Problemstellungen drehen, wie zum Beispiel die ästhetische Darstellung von Erlebnissen im posthumanen Paradigma einer steigenden menschlichen Hybridisierung mit nicht-menschlichen Subjekten.67 Der Aspekt ist hier hinsichtlich der modernen Funktionalisierung des Erhabenen als eine Form der Entfremdung von Interesse: Nach Carchia offenbare das traditionelle Erhabenheitserlebnis der Affinität zum Tod eine für die Moderne eigentümliche Unentschiedenheit, das Eigene vom Fremden unterscheiden zu können.68 Diesem Konflikt entsprechend, kann sich die Ich-Erzählerin nur zum Teil mit dem „unendlichen Heer von Toten“ jenseits der Trennwand empathisch verbinden (W 94). Man hat behauptet, die Wand versinnbildliche die katastrophalen Folgen des kapitalistischen Paradigmas, wobei die Unfähigkeit der Ich-Erzählerin, sich in die „versteinerten“ Menschen ganz hineinzuversetzen (W 228), schon einen Ansatzpunkt der Entfremdung ausmache. In der von Marx geprägten Semantik bedeutet das Wort die falsche Befriedigung von Bedürfnissen, infolge derer der Mensch „hinter seinen historischen Möglichkeiten“ zurückbleibe.69 Die ironische Bemerkung der Ich-Erzählerin, Hugos Mercedes sei ein „herrliches Heim“ für Wilde geworden, spricht von dieser entschiedenen Polemik gegen das Vergötzen von „Gebrauchsgegenständen“ (W 222). (Es klingt daher in der Erzählung Wir töten Stella die Frage Wolfgangs irritierend, ob vielleicht „ein kleiner Hund oder auch nur eine Biene“ wertvoller sei, „als alles andere“ [St 45].) Aber selbst wenn man vermutet, dass die „steinernen Dinge“ (W 95), die einmal lebendige Menschen waren, letzten Endes allegorisch von dem emotiven Erstarren der Protagonistin sprechen – so würde auch diese Ausdeutung eine Semantik der Entfremdung unterstreichen: ein durch die Existenz des Menschen gegebener Verlust der authentischen, ganzheitlichen Weise menschlichen Seins.70 Besonders diese anthropologisch fundierte Bedeutung der Entfremdung kehrt in dem Raumerlebnis der Alm wieder.

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Massimo Fusillo: Sublime isterico, estremismo tragico, posthuman, massimalismo in: CoSMo 8 (2016), S. 95–103, hier S. 100. Cuniberto, Sublime (Anm. 66), S. 293. Bruno Schmid: Der Entfremdungsbegriff in der Gegenwart und seine ethische Relevanz. In: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 25 (1984), S. 225–316, hier S. 295. Ebd. 255

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Die Alm als Wiederholung des Paradies-Gartens Fusillo erkennt als Merkmal des postmodernen Erhabenen die Überarbeitung des alten Themas des versteinernden Blicks der Medusa.71 Etwas Ähnliches ist auch im Roman Haushofers wiederzufinden, als sie sich daran erinnert, wie sie als Kind unter der Angst gelitten hätte, „daß alles, was ich sah, verschwand, sobald ich ihm den Rücken kehrte“ (W 186). Der darauffolgende Wunsch, allem mit den Augen folgen zu können, äußert sich am deutlichsten in der Beziehung zur Alm. Dort stillt die Frau den kindlichen Traum einer möglichst vollkommenen Vision, indem sie einen Aussichtspunkt findet, von dem aus sie den Blick auf der Landschaft ruhen lassen kann (W 207). Überdies ist die Alm auch mit der Kindheit tief verbunden, weil sie nur einmal zu erleben ist. „Als ich mich, ehe ich in den Wald trat, zum letzten Mal umwandte, sah ich noch einmal die Wiese, vom Herbstwind gekräuselt, unter dem hohen blauen Himmel“, erinnert sich die Ich-Erzählerin und gesteht, sie habe schon gewusst, „daß es nie mehr so sein würde wie in diesem Sommer“ (W 216). So etwas, erklärt sie, habe sie sich nicht gewünscht: Einzig die Einmaligkeit des Erlebnisses der Alm versichere, sie und ihre Tiere würden keine Gefahr laufen (W 216). Als sie jedoch später wieder auf die Tatsache zurückkommt, die Alm sei „unbetretbar“ hebt sie ihre Abneigung gegen alle „schwächere Wiederholung“ ihres ersten Sommers auf der Alm hervor (W 264). Niemand erlebt ungestraft die Kindheit, mit der das Erlebnis der Alm verbunden wird. Es ist eine allegorische Kindheit, die die Mythologeme des Paradiesgartens variiert. Diese in der Forschung zum Roman wiederkehrende Interpretation ruft die Frage der Beziehung der Utopie zum Mythos hervor, wobei es nun kurz darauf zu verweisen ist, dass Suvin den Vergleich zwischen Utopie und Mythos als fragwürdig bezeichnet hat.72 Möge auch die Utopie mythische Topoi verwenden, Utopien konzentrierten sich auf wirkliche, historische Gesellschaften, Mythen dagegen auf das Unveränderliche der menschlichen Seele.73 Diese Trennung ist jedoch in der Prosa Haushofers, die Oskar Jan Tauschinski eher mit „magischem Idealismus“ beschreibt, nicht immer vorhanden.74

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Fusillo, Sublime isterico (Anm. 67), S. 102. Suvin, Le metamorfosi della fantascienza (Anm. 9), S. 70. Ebd., S. 70. Oskar Jan Tauschinski: Die geheimen Tapetentüren in Marlen Haushofers Prosa. In: Duden (Hg.), Texte zu Marlen Haushofer (Anm. 25), S. 141–166, hier S. 162.

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Dass Kindheit für Haushofer ein Mythos ist, heißt, sie stellt sie nicht so sehr als ein Lebensalter dar, sondern als eine Allegorie des menschlichen Wunsches nach Unsterblichkeit.75 So schreibt die Ich-Erzählerin in Die Wand, den Tod habe sie als eine „persönliche Beleidigung“ betrachtet und daran gedacht, sich „in eine Höhle zurückzuziehen“, um vom Tod nicht gefunden zu werden (W 103). „Dieser Gedanke“, stellt sie fest, „hat noch immer einen gewissen Reiz für mich; es ist wie ein Spiel, das man als Kind gespielt hat und an das man noch manchmal gerne zurückdenkt.“ (W 103) Die Hoffnung spiegelt den Mythos vom Garten-Eden wieder. Die Vertreibung versinnbildliche laut Arturo Graf die menschliche Verleugnung, den Tod als einen natürlichen Teil des Lebens begreifen zu wollen.76 Der Paradiesgarten sei daher die vollkommenste Figuration des Mythos: Er stelle etwas dar, das sich durch die Zeit wiederholen müsse.77 Diese ewige Gegenwärtigkeit des Mythos des Paradiesgartens ist aber für die IchErzählerin gefährlich. Von der Schönheit der Alm betäubt, vergisst sie bald, sich um ihre Tiere zu kümmern und für die Zukunft zu sorgen. Stattdessen beginnt sie, auf einer „kleine[n] warme[n] Insel des Jetzt und Hier“ (W 213) zu leben, als wäre die Almwiese „ein grünes, feuchtglänzendes Schiff auf den weißen Gischtwellen eines brodelnden Ozeans“ (W 194). Die in der Utopie sehr beliebte Metapher des Insellebens vertieft und vervollkommnet in einer gewissen Weise die Einsamkeit der Frau: Einsam ist sie nun nicht nur, weil sie als Einzige die Katastrophe überlebte, sondern weil sie sich von allem entfernt hat und das Weltall zum ersten Mal mit eigenen Augen sieht (W 210). Während es früher „andere Menschen“ gewesen seien, die ihr „vorgedacht und getan“ hätten (W 210), so bringe sie nun die Stille der Almwiese dazu, „für Augenblicke ohne Erinnerung und Bewusstsein noch einmal den großen Glanz des Lebens zu sehen“ (W 211). Auch Tiere würden so sehen und daher „bis zu ihrem Tod in einer Welt des Schreckens und Entzückens“ leben (W 211). Vor allem sind aber diese Erfahrungen wahrhafte Momente der Erhabenheit. Sie münden in der Betrachtung des nächtlichen Sternenhimmels, als die Frau, die Augen zu einem Spalt geschlossen, die „unendlichen Abgründe“ sieht, „die sich zwischen den Sternenhaufen auftaten“ (W 190). Gegenüber 75 76 77

Robert C. Elliot: The Shape of Utopia. Studies in a Literary Genre. Oxford, Bern u. a. 2013, S. 10. Arturo Graf: Miti, leggende e superstizioni del Medio Evo. Hg. von Clara Allasia und Walter Meliga. Mailand 2002, S. 8. Rosario Assunto: Fuga dal giardino e ritrovamento del giardino (con alcune variazioni intorno ai consigli del Serpente). In: Alessandro Tagliolini, Massimo Venturi Ferriolo (Hg.): Il giardino. Idea natura realtà. Mailand 1987, S. 16–40, hier S. 37. 257

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diesen „schwarzen Höhlen“ (W 190) wie gegenüber Höhlen überhaupt schwankt sie zwischen Anziehung und Schrecken (W 103) – eine für das Erhabene typische Ambivalenz, die Edmund Burke einen schmerzhaften delight nennt. Und da, wie bereits ausgeführt, die Erhabenheit in der modernen Literatur oft in Entfremdung gipfelt, so erweckt sie in der Ich-Erzählerin den Eindruck, aus „zwei ganz verschiedenen Menschen“ zu bestehen (W 184). „Es war sonderbar“, erklärt sie, „sobald ich im Tal war, dachte ich an die Alm fast mit Furcht oder Widerwillen, auf der Alm aber konnte ich mir nicht vorstellen, wie man im Tal leben konnte“ (W 184). Schon während des Aufenthaltes auf der Alm fühlt sie sich zwischen einem „kleine[n] kindliche[n] Ich“ und einem erwachsenen Ich innerlich gespalten (W 254): Alle Verantwortung für ihre Tiere vergessend, will sie „zurück in die Wärme und Stille des Kinderzimmers, oder noch weiter zurück in die Wärme und Stille, aus der man mich ans Licht gerissen hatte“ (W 254). Als Luchs sich verletzt und es zu schneien beginnt, erwacht sie aus allen „Träumen“ von einem „behütenden Kinderschlaf“ (W 255).

Der Obstgarten und die eifrige Gegenwärtigkeit der Heimat Der Verzicht auf die Alm drückt die Entscheidung gegen die Möglichkeit aus, eine kreatürliche Kindheit noch einmal erleben zu können. Dennoch herrscht kein arkadischer Friede in der Welt der Alm, sondern „Gefahren von allen Seiten und harte Arbeit“ (W 255). Das heißt aber nicht, dass auf die mythenhafte Landschaftsfiguration des Gartens zur Stilisierung einer möglichen Heimat verzichtet wird. Eine positive Alternative zum Garten Eden bietet der in seiner Bescheidenheit freundliche Obstgarten. Schon zu Beginn bei der ersten Entdeckung der Wand ließ die Protagonistin den Blick auf einem Gärtchen jenseits der unsichtbaren Mauer ruhen (W 17). Die Freude an dem Obstgarten erzählt von der dort erreichten vollkommenen Einheit von Nutzen und Schönheit: Der Garten dient zwar dem Lebensunterhalt der neuen „Familie“ der Frau, ohne jedoch wie die Jagd, ein „blutiges Geschäft“ zu sein; zudem bietet er einen aufheiternden Anblick. Bedenkt man nun, dass Assunto Schönheit und Nutzen als eigentümlich für den mythischen Urgarten des Paradieses betrachtet,78 so lässt sich vermuten, Haushofer habe mit dem Obstgarten eine pragmatische Überarbeitung des Gartens Eden bieten wollen. Dies bezweckt, im Gegensatz zur erhabenen Exzentrik der Alm, eine Rückkehr der Geselligkeit. 78 258

Ebd., S. 37.

Steiler Berg, weiße Wand: Das Paradies und ... Gärten in Marlen Haushofers Die Wand

Mit dem stillen Einklang der verschiedenen Pflanzen symbolisiert der Garten den Wunsch nach einer Versöhnung sozialer Konflikte.79 Einen Garten zu bewohnen heißt, eine Überwindung der Antinomie von Kultur und Natur zu versuchen. Diese Opposition verliert ihre Bedeutung, bedenkt man nur, dass „Kultur“ auf das lateinische colere zurückgeht.80 Mit dem Wort bebauen, das auch die Pflege des Gartens einschließt, lässt sich „Kultur“ als die Pflege der Natur durch ethische Beziehung zur bewohnten Landschaft verstehen.81 Dass dagegen Anna, die Protagonistin in Wir töten Stella, den Garten nie betritt und nur aus dem Fenstern auf ihn schaut, kennzeichnet ihren „reduzierten Zustand“: den „eine[s] Automaten, der seine Arbeit verrichtet“ (St 20). Ihre psychische Erstarrung, die Maria-Regina Kecht eine Entfremdung des Frauensubjekts nennt,82 erklärt auch die Passivität gegenüber dem Garten: ihn betrachtend, schiebt sie die Hände in die Ärmel (St 19). Wird der Garten als eine „konzentrierte“ Landschaft betrachtet, und zwar als die kleinste, ästhetische Einheit der Landschaftsanalyse,83 bietet der Garten ein Muster, wie man anders leben könnte. Venturi schreibt hier eher von einem „Bewohnen“, das nicht bloß einen Aufenthaltsort, sondern ein affektives Zugehörigkeitsgefühl zu einer bestimmten Geschichte und Landschaft definiert.84 In ähnlicher Weise vergleicht die Ich-Erzählerin in Die Wand ihr stilles, langsames Leben im Wald mit der nervösen Hast der Stadt, als sie kaum Zeit hatte, um sich zu schauen. Die Wende fasst sie in das Sinnbild, ihre damalige Langeweile sei die „eines biederen Rosenzüchters auf einem Kongress der Autofabrikanten“ (W 221). Wie sich die Pflege des Obstgartens dem Temperament der Ich-Erzählerin anpasst, wird an der Sprache deutlich. Beklagt sie sich zum einen darüber, sie könne keine Lexika mehr zur Hilfe nehmen, um Dinge mit ihren rechten Namen zu benennen (W 224), so genügen ihr zum anderen für die Beschreibung der Arbeit im Obstgarten zwei Wörter, „umstechen“ und „düngen“ (W 272). Dagegen wirkt die Wiesenalm auch deswegen betäubend, weil dort unzählige Kräuter und Blumen wachsen: „Almröserl, Katzenpfoten, wilder Thymian“ und eine Menge anderer, deren Namen sie nicht kennt (W 209).

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Massimo Venturi Ferriolo: Eros e Afrodite. Alle origini dell’idea di giardino. In: Ders., Tagliolini (Hg.), Il giardino (Anm. 77), S. 55–75, hier S. 59. Massimo Venturi Ferriolo: Oltre il giardino. Filosofia di paesaggio. Turin 2019, S. 14. Ebd., S. 15. Kecht, Recollections of Crime and Complicity (Anm. 50), S. 96. Zagari, Questo è paesaggio (Anm. 23), S. 50. Venturi Ferriolo, Oltre il giardino (Anm. 80), S. 25. 259

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Im Obstgarten in der dunklen Bergschlucht thematisiert Haushofers IchErzählerin auch das übliche, falsche Verständnis, dass Natur nach einer Überwindung aller Individualisierung strebe. Dem „rasenden Tollen“ der gelangweilten Menschheit steht die „große Stille“ des Waldes entgegen (W 110), über den die Ich-Erzählerin gegen Ende des Romans nachzudenken beginnt. In ihrem Bericht schreibt sie: „Manchmal verwirren sich meine Gedanken, und es ist, als fange der Wald an, in mir Wurzeln zu schlagen und mit meinem Hirn seine alten, ewigen Gedanken zu denken“ (W 185). Verwirrung heißt, so das Wörterbuch der Gebrüder Grimm, in der Fachsprache des Bergbaus ein Ort, wo es ein Gewirr von vielen Gängen und Klüften gibt.85 Die Bedeutung ist dadurch gerechtfertigt, dass sich der Roman in den österreichischen Alpen abspielt: die Verwirrung deutet auf ein Merkmal der Landschaftsszenerie hin. Oft wagt es die Ich-Erzählerin wegen ihres schlechten Orientierungssinns nicht, sich ohne den Hund Luchs vom Jagdhaus zu entfernen. Zum anderen definiert das Verwirrtwerden ihrer Gedanken den Wunsch, sich mit dem Wald zu „vermischen“: Betrachtet sie die Wand als eine Verletzung aller Ordnung, so scheint sie durch die stille Beobachtung des Waldes eine neue Figuration von „Ordnung“ zu entdecken. Was deren Eigenschaft sein soll, lässt sich am klarsten durch den Ritus verstehen. Als solchen definiert Augé nicht, wie es in der Anthropologie sonst üblich ist, magische Praktiken zur gesellschaftlichen Festigung eines Mythos als vielmehr die Imagination der Zukunft. Leide die moderne Gesellschaft unter dem niederschmetternden Gedanken, sie sei ohne Geschichte, so öffnen die Riten dagegen die Möglichkeit eines Anfangs: Anfänge seien das Ziel des Ritus – und zwar die Hoffnung auf neue Wege.86 In einem ähnlichen Sinn schreibt die Ich-Erzählerin in den letzten Zeilen des Berichts, sie „sehe ein kleines Stück weiter“, und dass es „noch nicht das Ende“ sei (W 275). „Alles geht weiter. Seit heute früh bin ich ganz sicher, daß Bella ein Kalb haben wird. Und, wer weiß, vielleicht wird es doch junge Katzen geben […] etwas Neues kommt heran, und ich kann mich ihm nicht entziehen“ (W 275). Und wenn, wie Augé meint, der Ritus den Verzicht auf die Historie als ordentliche und strukturierte Aufeinanderfolge von einzelnen Ereignissen voraussetzte,87 dann sind die letzten Zeilen des Berichts von einem neuen 85 86 87 260

Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. XII, 1. Bearbeitet von E. Wülcker et al. Leipzig 1956, Sp. 2309. Augé, Futuro (Anm. 44), S. 38. Ebd., S. 33.

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Bewusstsein der Zeitlichkeit geprägt, in dem das Wort „Geschichte“ keinen Sinn mehr hat und alles miteinander tief verworren zu sein scheint. Die Ich-Erzählerin stellt sich die Zeit als ein Netz vor, in dessen Fäden unzählige „Kokons“, „eine Eidechse, die in der Sonne liegt, ein brennendes Haus, ein sterbender Soldat, alles Tote und alles Lebende“ eingesponnen sind (W 237). „Es war schön gewesen auf der Alm, schöner als es hier sein könnte“, notiert die Frau nach ihrer Rückkehr ins Tal, „aber zu Hause war ich im Jagdhaus“ (W 216). Es ist ja die Ambivalenz, die das konzeptuelle Paar „Landschaft“ und „Heimat“ ins rechte Licht rückt. Schöbel-Rutschmann behauptet, die Landschaft brauche keinen Gegensatzbegriff, um die eigene Taxonomie darzulegen: Während sich die Heimat der „Fremde“ entgegenstelle, kennzeichne zwar die Landschaft eine Spannung zweier Spiegelbilder, die ihr aber immanent seien.88 So entstehe die Landschaft aus der dialektischen Versöhnung vielfältiger Naturelemente in ein Ganzes. Keine „Abgrenzung nach außen“ erscheine erforderlich, um sie zu definieren.89 Mag die Bemerkung auch ein wesentliches Merkmal der Landschaft treffen, so gilt sie nicht für die Landschaft der Wand. Die Entstehung einer unsichtbaren Mauer führt dort dazu, dass sich zwei Landschaftsfigurationen gegenüberstehen: die der Alm und die Bergtalschlucht. Dem entspricht die Rolle der Grenze im Roman. Anhand dieser semiotischen Raumkonfiguration denkt Haushofer über die kulturelle Bedeutung von Geschlechterstereotype nach, die zur Entfremdung der weiblichen Identität führen können.90 (So mündet Annas Entfremdung in die Unfähigkeit, sich das Schicksal Stellas zu Herzen zu nehmen und führt metaphorisch zum kosmischen „Sterben“ der Natur [St 27].) Die Darstellung von zwei entgegensetzten Landschaftsimaginationen stellt überdies eine mögliche Lösung für ein Dilemma dar, das die Wechselbeziehung von Heimat und Landschaft prägt. Während die Naturschutzgesetze auf den Unterschied zwischen einer sich dynamisch entwickelnden Natur und einer als statisch gedachten Landschaft nicht eingehen,91 begreift die Ich-Erzählerin der Wand nach dem Bewusstwerden ihrer inneren Spaltung, sie habe in der Tat nicht so sehr eine Heimat als vielmehr eine „Welt“ verloren: „Ich bin nur ein einfacher Mensch, der seine Welt verloren hat und auf dem Weg ist, eine

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Schöbel-Rutschmann, Von der Heimat zur Landschaft (Anm. 13), S. 57. Ebd. Vgl. Bunzel, Zivilisationskritik und anthropologischer Diskurs (Anm. 29), S. 114. Hansjörg Küster: Landschaft als Heimat. In: ANLiegen Natur 31 (2007), H. 2, S. 12–18, hier S. 18. 261

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neue Welt zu finden.“ (W 235) Damit sei hier nicht so sehr gemeint, dass Haushofer eine „leidvolle Patriotin der Erdkugel“ gewesen sei.92 Vielmehr trägt das Zitat dazu bei, den Widerspruch zwischen einem ökologischen Denken, das für eine Überwindung nationaler Beschränkungen hin zu einem Heimatland „Erde“ plädiert, und der Definition von Landschaft als einem Territorium und seiner ästhetischen Formgebung zu versöhnen. Den Widerspruch überwindet der Obstgarten. Einerseits wird auch der Garten durch die Semantik der Grenze geprägt, weil er von einem Zaun umgegeben ist (W 47); andererseits lehrt der Garten, die Heimat ökologisch zu verstehen: als ein Netz lebendiger Relationen. „Garten“ könnte daher vielleicht das Wort lauten, das irgendwann einmal, so Haushofer, „große Umwälzungen auslösen“ könnte.93 Der Garten bietet nicht mehr, wie in der Erzählung Wir töten Stella, eine Variation auf den antiken hortus conclusus. Spiegelt Annas „In-den-Garten-Starren“ (St 20) die psychische Unterwerfung des weiblichen Subjekts im sozioökonomischen Kosmos der 1950er Jahre wider, so drückt das Gartenerlebnis der Wand ein Im-Garten-Stehen aus: die Ich-Erzählerin vermeidet die Konflikte nicht, sondern bleibt – um die bekannte Formel von Donna Haraway zu paraphrasieren – „unruhig“ in ihrer neuen Welt-Heimat.

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Tauschinski, Tapetentüren in Marlen Haushofers Prosa (Anm. 74), S. 165. Elisabeth Pablé: Marlen Haushofer oder die sanfte Gewalt. Ein Gespräch. In: Duden (Hg.), Texte zu Marlen Haushofer (Anm. 25), S. 127–133, hier S. 130

Joanna Bednarska-Kociołek

Zu Hause, aber doch fremd Die Identitätsfrage in Stefan Chwins Roman Krótka historia pewnego Z˙ artu1 Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war die Stadt Danzig2 ein Begegnungsort unterschiedlicher Kulturen. Zwar waren die meisten Stadtbewohner deutscher Abstammung, aber Polen, Juden und Kaschuben3 bildeten dort einflussreiche Minderheiten. Die Kultur der Stadt hatte mithin einen heterogenen Charakter. Als gegen Ende des Krieges das Stadtzentrum zu über 90 Prozent durch die Sowjetische Armee zerstört wurde, waren fast alle Deutschen gezwungen, ihre Heimatstadt zu verlassen. Aus dem deutschen Danzig entstand die polnische Stadt Gdan‘sk in Polen, das ein Satellitenstaat der Sowjetunion geworden war. Die historische Kontinuität des Ortes ging somit einerseits durch Aussiedlungen und Vertreibungen ihrer deutschen Bewohner und 1

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Dieser Artikel basiert zum Teil auf dem Kapitel Stefan Chwin – Die Metamorphose der Stadt aus dem Buch: Joanna Bednarska-Kociołek: Danzig/Gdan´sk als Erinnerungsort. Auf der Suche nach der Identität im Werk von Günter Grass, Stefan Chwin und Paweł Huelle. Frankfurt a. M. 2016, S. 145–189. Im Buch wird das literarische Bild der Stadt Danzig/Gdan´sk im Sinne des doppelten Erinnerungsortes bei Günter Grass, Stefan Chwin und Paweł Huelle untersucht. Vergleichend arbeitet das Buch heraus, wie die genannten Schriftsteller die kulturelle Diversität der Stadt vor dem historischen Hintergrund ästhetisch zum Ausdruck bringen und identitätsstiftende Funktion Danzigs/Gdan´sks zeigen. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich nur mit Stefan Chwins Roman Krótka historia pewnego Z˙artu. Er konzentriert sich darauf, wie der Erzähler in den 1950er Jahren im polnischen Gdan´sk nach den Spuren des deutschen Danzigs sucht. Gefragt wird, inwieweit diese Suche die Basis für die Herausbildung einer Identität ist. Übersetzungen aus diesem Werk, soweit nicht anders angegeben: Joanna Bednarska. Vgl. Peter Oliver Loew: Danzig und seine Vergangenheit 1793–1997. Die Geschichtskultur einer Stadt zwischen Deutschland und Polen. Osnabrück 2003; Frank Fischer: Danzig. Die zerbrochene Stadt. Berlin 2006; Bednarska-Kociołek: Danzig/Gdan´sk als Erinnerungsort (Anm. 1), S. 19–32. Die Kaschuben sind ein slawisches Volk, das etwa seit dem 12.  Jahrhundert als Nachfahren der baltischen Slawen in der auch Kaschubei genannten Region südwestlich von Danzig und Gdingen lebt. Sie bilden eine autochthone Gemeinschaft. Die Kaschuben haben ihre eigene Sprache, Literatur und Kultur. Danzig ist das Zentrum der Kaschubei. Vgl.: Cezary Obracht-Prondzyn´ski: Kaschuben heute. Kultur – Sprache  – Identität. Danzig 2007; Józef Borzyszkowski, Katarzyna Kulikowska, Cezary Obracht-Prondzyn´ski: Kaszubi a Gdan´sk, Kaszubi w Gdan´sku. Gdan´sk 2009. 263

Joanna Bednarska-Kociołek

andererseits durch den Zwang der kommunistischen Regierung zu gesellschaftlicher Homogenität verloren, woran die Neubürger einen nicht geringen Anteil hatten. In den Deutschen, deren Häuser sie bewohnten, mussten die dort zwangsweise einquartierten Polen vor allem Feinde sehen, deren Kultur weiter zu pflegen sie ablehnten; Stefan Chwin fasst zusammen: Sagen wir es deutlich: Zur Zeit meiner Kindheit und auch danach hatte kaum jemand Mitleid mit den vertriebenen Deutschen und kaum jemand interessierte sich für ihr Schicksal. Ganz im Gegenteil: Nicht nur die kommunistische Propaganda, sondern auch die durchschnittlichen Menschen behaupteten, dass den Deutschen diese peinigende Erfahrung aufgrund von Auschwitz und Treblinka gebühren würde.4

Das Vergessen und Verdrängen bot den neuen Bewohnern die Möglichkeit, ihr Polentum zu bewahren. Die deutsche Vergangenheit im neuen Gdan‘sk sollte durch ein geschichtsloses Vakuum ersetzt werden. Zwar verlor die Stadt abrupt den größten Teil ihrer Identität, doch blieben die Deutschen mit ihren Lebenspuren dort präsent.5 Sie ließen ihre Häuser, ihre Friedhöfe und mancherlei Gebrauchsgegenstände zurück, die den nach Gdan‘sk umgesiedelten Polen in die Hände fielen.6 Bis heute ist die deutsche Identität in der nun real existierenden polnischen Stadt in Relikten sichtbar. Renate Schmidgall bezeichnete diese Situation als eine „Ironie der Geschichte“.7 In der Literatur ist Danzig/Gdan‘sk zu einem Mythos geworden. Zu den bedeutenden Schöpfern des literarischen Stadtmythos gehören Günter Grass mit seiner Danziger Trilogie (Die Blechtrommel, Katz und Maus, Hundejahre), Paweł Huelle mit seinem Roman Weiser Dawidek und einigen Erzählungen und Stefan Chwin, auf dessen Werk sich der vorliegende Beitrag konzentriert. 4

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Stefan Chwin: Ujrzałem wype˛dzonych na własne oczy. In: Tygodnik powszechny online 10 (2002). In: http://www.tygodnik.com.pl/numer/274810/chwin.html (20.5.2021). (Übersetzung: Joanna Bednarska) Jan Józef Lipski: Depositum. Deutsches kulturelles Erbe in Polen. In: Ders.: Wir müssen uns alles sagen … Essays zur deutsch-polnischen Nachbarschaft / Powiedziec´ sobie wyszystko  … Eseje o sa˛siedztwie polsko-niemieckim Warszawa/Warschau 1996, S. 264–268, hier S. 266. Zum Wiederaufbau der polnischen Wirtschaft und des Landes vgl. Alina Panasiuk (Hg.): Miasto i ludzie. Wspomniena z lat powojennych. Gdan´sk 2000; Karolina Kuszyk: Poniemieckie. Wołowiec 2019. Renate Schmidgall, Die Macht des Genius loci. Danzig in der Prosa von Stefan Chwin und Paweł Huelle. In: Ansichten. Jahrbuch des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt 7 (1995/1996), S. 97–115, hier S. 97.

Zu Hause, aber doch fremd

Alle drei Schriftsteller schaffen ihre eigenen Versionen, greifen auf Geschichten und Legenden der Stadt zurück, spielen auf frühere literarische Texte an und schildern Danzigs Metamorphosen in unterschiedlichen Epochen. Während Grass, 1927 in Danzig geboren und dort aufgewachsen, seine Heimatstadt vor dem Krieg, im Krieg und kurz nach dem Krieg beschrieben hat, setzen sich eine Generation später, seit den 1980er Jahren, die polnischen Autoren Huelle und Chwin, Jahrgang 1957 und 1949, mit der Stadtgeschichte auseinander. In den Veröffentlichungen beider steht die Stadt der Nachkriegszeit im Mittelpunkt, beschrieben nun nicht mehr aus deutscher, sondern aus polnischer Perspektive. Indem die beiden in Gdan‘sk geborenen Polen auf das einstige Danzig zurückblicken, entdecken sie in polnischer Prosa die deutsche Vergangenheit8 oder legen zumindest die deutschen Wurzeln ihrer Heimatsstadt frei.9 Ihr literarisches Danzig/Gdan‘sk verbindet die gegenwärtige reale Stadt mit Erinnerungen und Visionen zu einem mythischen Ort, in dem deutsche und polnische Erinnerungskulturen verschmelzen. Ihre literarischen Texte sind Medien des kulturellen Gedächtnisses, in dem Erinnern und Vergessen sich die Waage halten. Die Quelle der literarischen Stadtbeschreibungen aller drei Autoren ist der Verlust.10 Grass erkannte im Verlust seiner Heimatstadt die Voraussetzung für 8

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Lothar Quinkenstein: Entsiegelte Geschichte. Zur Bildfunktion der Stadt Danzig in der polnischen Gegenwartsliteratur unter Berücksichtigung der Wirkungsgeschichte von Günter Grass. In: Convivium. Germanistisches Jahrbuch Polen. Bonn 1998, S. 209–221. Schmidgall, Die Macht des Genius loci (Anm. 7), S. 97. Hubert Orłowski weist darauf hin, dass in der Literatur die wirkliche Heimat nur eine verlorene ist. Zur Bestätigung seiner These nennt Orłowski literarische Werke von Schriftstellern wie Günter Grass, Joseph Roth, Horst Bienek, Marcel Proust, Czesław Miłosz, Stanisław Vinzenz, Bruno Schulz oder Józef Wittlin, die alle ihre verlorenen Heimatländer beschreiben. Bei allen Unterschieden zwischen der polnischen und deutschen Literatur seien einige verblüffende Strukturverwandtschaften festzustellen: „1. Die Topographie der faktisch verlorengegangenen Provinzen ist (fast) immer mit der der literarisch wiedergewonnenen identisch. 2. Immer liegt der literarischen Artikulation das Einzigartige der Erfahrung und des (Kindheits-) Erlebnisses zugrunde. 3. Die Literatur der verlorenen Heimat entgeht nur dann dem Nostalgischen, wenn sie die Barrieren des geschichtslos Privaten (Jürgen Habermas) zu überwinden vermag.“ Hubert Orłowski: Der Topos der „verlorenen Heimat“. In: Ewa Kobylin´ska, Andreas Lawaty, Stephan Rüdiger (Hg.): Deutsche und Polen. 100 Schlüsselbegriffe. München 1993. S. 187–194; Ders.: Tabuisierte Bereiche im deutsch-polnischen Gedächtnisraum. Zur literarischen Aufarbeitung von Flucht, Zwangsaussiedlung und Vertreibung in der deutschen und polnischen Deprivationsliteratur nach 1945. In: Elke Mehnert (Hg.): Landschaften der Erinnerung. Flucht und Vertreibung aus deutscher, polnischer und tschechischer Sicht. Frankfurt a. M., Berlin u. a. 2001, S. 82–113. 265

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seine Literatur.11 Die zur Umsiedlung nach Gdan‘sk gezwungenen Familien Chwin und Huelle ließen sich infolge des Verlusts ihrer Heimat auf die Beschreibung ihres neuen Wohnorts ein. Die Motive der Trennung von der vertrauten alten und die Aneignung der fremden neuen Heimat sind in der deutschen und polnischen Literatur präsent. Aus Grass’, Chwins und Huelles Kindheitserinnerungen erwächst eine neue imaginäre Welt, die Danzig/Gdan‘sk in Vergangenheit und Gegenwart umfasst. Stefan Chwins literarisches Werk ist geprägt von seinen Erfahrungen mit der neuen Heimatstadt, deren politische und kulturelle Metamorphose den Autor fasziniert hat. Diesem Thema widmen sich seine Romane Krótka historia pewnego Z˙ artu von 1991, Hanemann von 1995, 1997 als Tod in Danzig übersetzt, und die 2003 mit Złoty pelikan, deutsch Der goldene Pelikan 2005, ihre Fortsetzung fanden. Die literarischen Feuilletons Stätten des Erinnerns erschienen 2005 auf deutsch.12 In Tod in Danzig schildert Chwin die Stadt ähnlich wie Grass vor dem Krieg, während des Krieges und nach dem Krieg. Die feuilletonistischen Texte beziehen sich auf Chwins Kindheit in Gdan‘sk der 1950er Jahre. Der vorliegende Beitrag bezieht sich vornehmlich auf den 1991 und bisher nur in Polnisch erschienenen Roman Krótka historia pewnego Z˙ artu, dessen Handlung in Nachkriegspolen der 1940er und 1950er Jahre spielt.13 Ergänzend werden der Roman Tod in Danzig sowie Texte aus Stätten des Erinnerns herangezogen. Der Roman besteht aus kurzen eigenständigen Kapiteln, die sich zu einer Ganzheit zusammenfügen. Der Titel Krótka historia pewnego Z˙ artu  – Kurze Geschichte eines gewissen Scherzes – wiederholt die Überschrift des zentralen Kapitels: Ein Scherz des Schicksals sei es, so der Erzähler, dass sein Vater auf der Flucht aus Vilna im letzten Moment in einen Zug nach Danzig springt. Dort trifft er später seine künftige Ehefrau und Mutter des Erzählers. Wäre er nicht in diesen Zug gestiegen, wäre der Erzähler nicht auf die Welt gekommen. 11

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Günter Grass: Rede vom Verlust. Über den Niedergang der politischen Kultur im geeinten Deutschland In: Ders.: Essays und Reden 1980–1997. Göttingen 1997, S. 360–379, hier S. 373. Stefan Chwin: Stätten des Erinnerns. Gedächtnisbilder aus Mitteleuropa. Dresdner Poetikvorlesungen. Aus dem Polnischen übersetzt von Sylvia Miodona, Alfred Sproede und Bogumiła Partyk-Hirschberger. Mit einer Einleitung von Roland Erb sowie einem Nachwort und einer Bibliographie von Alfred Sproede. Dresden 2005 (Literatur in Mitteleuropa. Dresdner Poetikdozentur 2000). Es verwundert, dass dieser Roman eines Autors, der im deutschsprachigen Raum kein Unbekannter ist, bisher nicht ins Deutsche übersetzt wurde; es verwundert umso mehr, als er sich aufgrund des Themas  – die Verwandlung der deutschen Stadt in eine polnische – der deutschen Leserschaft nachgerade empfiehlt.

Zu Hause, aber doch fremd

Die Geburt der polnischen Stadt Gdan‘sk ist gekoppelt mit der Geburt des Erzählers; die Stadt und der Junge wachsen zusammen auf. Der namenlose Erzähler ähnelt in vielem dem Autor Chwin, teilt mit ihm das Geburtsjahr und die Lebensumstände der Eltern: Der Vater stammt aus Vilna, die Mutter aus Warschau, in Gdan‘sk fühlten sie sich nie daheim. Im Buch benutzt Chwin private Fotos, auch solche, auf denen seine eigene Familie abgebildet ist. Doch nicht als Autobiografie, sondern vielmehr als Biografie der Stadt ist Krótka historia zu verstehen, als ein teils dokumentarischer und teils literarischer Rückblick auf das Danzig der 1950er Jahre. Im Nachwort zum Buch schreibt Chwin, dass seine Rückkehr zur Welt der Kindheit in Krótka historia zugleich eine Untersuchung seiner Erinnerung sei.14 Er erinnert sich, dass damals deutsche Spuren in der Stadt noch sehr sichtbar waren: Unser Unterricht über Mickiewicz, Kos´ciuszko und Gałczyn‘ski fand in neugotischen dunklen Ziegelbauten aus der Wilhelminischen Ära statt – ehemals deutschen Gymnasien. Für den Sonntagsgottesdienst ging es zu den früheren deutschen Garnisonskirchen, in denen 1916 die Husaren des Generals von Treskow vor dem Aufbruch an die russische Front gebetet hatten. Mit der Schulklasse besuchten wir den Film über den sowjetischen Bürgerkriegshelden Tschapajew; die Vorführung fand in einem der evangelischen Gotteshäuser statt, die nach dem Krieg in Kinos umgewandelt worden waren. Eisenbahnreisen begannen für uns in den verglasten Bahnhofshallen aus der Zeit Friedrich Eberts. Unsere Ehen wurden auf ehemals deutschen Standesämtern geschlossen, die noch unter Bismarck eingerichtet worden waren. Die Städte von früher mit ihren fremden Namen gab es nicht mehr; aber es war von ihnen ein Netz aus Straßen, Parks, Kanälen und Trambahnlinien übriggeblieben, die unsere Wege bestimmten.15

Zu den von den Deutschen hinterlassenen und im Buch Krótka historia beschriebenen Spuren zählen u. a. Friedhöfe, Häuser, Kirchen, Schulen, die Frakturschrift oder schließlich Gebrauchsgegenstände wie Handtücher mit eingestickten Monogrammen, Streuer mit den fremd klingenden Aufschriften ‚Salz‘, ‚Pfeffer‘ und ‚Zucker‘. Das Kind in Krótka historia verstand ursprünglich das fremde Erbe, das er antrat, nicht. Die meisten Spuren sterbender oder bereits toter Vergangenheit waren diskret, wie z. B. kleine Einschusslöcher, die man erst dann bemerken konnte, wenn man die Tür oder den Fußboden sehr genau betrachtete. Das Kind verstand, dass es Spuren des Krieges waren, denn es fand u. a. 14 15

Stefan Chwin: Krótka historia pewnego Z˙artu. Gdan´sk 2007, S. 280. Chwin, Stätten des Erinnerns (Anm. 12), S. 15. 267

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die vergrabenen Knochen eines deutschen Soldaten.16 Die Relikte erweckten die Fantasie des neugierigen Kindes: Man kann in den Schutt aus Ziegeln, Holz und Metall immer tiefer eindringen und ältere Schichten der Stadt erreichen. Die Zeit hatte hier die Reihenfolge vergessen, in der die Dinge gewöhnlich vergehen.17

„Die Vertrautheit (oder auch Unvertrautheit) mit den Dingen konstituiert also ein basales Weltbild, das etwas mit unserem Lebensgefühl zu tun hat“, so Ulrich Gebhard in der Einleitung zu Searles’ Welt der Dinge. Denn die Menschen lebten in einer Welt, „in der es weitaus mehr nichtmenschliche ‚Objekte‘ gibt als menschliche“.18 Durch ihre Beziehung zu den Dingen kann die Welt für die Menschen vertraut oder fremd werden. Die Erfahrung, die das Kind mit den primären Objekten macht, bestimme „seine spätere Persönlichkeit, das Lebensgefühl, das Urvertrauen.“19 Demgemäß repräsentierten „seelische Objektrepräsentanzen […] angesichts des Beziehungsaspekts niemals nur die Objekte“, sondern auch „die Interaktionserfahrungen mit diesen Objekten“.20 Er unterstreicht: Indem die Dinge vertraut werden, werden sie als sinnvoll gewissermaßen assimiliert und werden so zu Elementen oder gar zu Merkzeichen eines sinnvoll erlebten bzw. interpretierten Lebens. Damit repräsentieren die Dinge auch psychische Valenzen des Selbst. Die Aneignung der Dinge, verstanden als symbolischer Niederschlag der Beziehung zu ihnen, trägt zusätzlich die Spuren des jeweiligen historisch-kulturellen Kontextes. […] Eine derart verstandene Beziehung zu den Dingen hat also etwas mit unserer Persönlichkeit zu tun und auch, wie wir uns gegenüber den Dingen verhalten.21

Der Erzähler in Krótka historia lernt die Stadt durch die materielle Welt der Dinge und Orte kennen. Sie haben für ihn identitätsbildende Bedeutung, helfen

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Chwin, Krótka historia pewnego Z˙artu (Anm. 14), S. 23. Chwin, Stätten des Erinnerns (Anm. 12), S. 17–18. Ulrich Gebhard: Auf dem Weg zu einem dreidimensionalen Persönlichkeitsmodell. Geleitwort zur deutschen Übersetzung. In: Harold F. Searles: Die Welt der Dinge. Die Bedeutung der nichtmenschlichen Umwelt für die seelische Entwicklung. Hg. und übers. von Jürgen Hardt und Antje Vaihinger. E-Book 2016 (Druck Gießen 2003), S. 12. Ebd., S. 15. Ebd., S. 13. Ebd., S. 16.

Zu Hause, aber doch fremd

ihm die fremde Stadt zu verstehen und zeigen ihm eine Welt, die nicht mehr existiert. Die deutschen Spuren in Gdan‘sk symbolisieren die Vergangenheit und sind eine direkte Verbindung zu den ehemaligen Stadtbewohnern. Der Erzähler wuchs zwischen Trümmern auf und beobachtete, wie eine ganze Stadt starb, um einer anderen Platz zu machen: Ich bin geboren nach dem großen Krieg in einer zerstörten Stadt an der Bucht eines kalten Meeres, auf halbem Wege zwischen Moskau und dem Ärmelkanal, in einem alten Haus mit einem steilen, mit roten Dachziegeln gedeckten Dach, in der mit alten Linden bepflanzten Lutzovstraße, die sich im Januar des Jahres 1945 von einem Tag auf den anderen in die Poznan‘skaStraße verwandelte.22

Es wurden in der Tat kurz nach dem Krieg so schnell wie möglich deutsche Symbole entfernt, um die deutsche Prägung der Straßen und Gebäude aus dem Statdtbild zu tilgen.23 Selbst die Umbennenung der Straßennamen hatte eine symbolische Bedeutung in allen Städten, in denen die Bevölkerung ausgetauscht wurde, und diente der Herausbildung einer neuen Identität. Was gerade in Gdan‘sk, laut Chwin, verwundern könne, sei die Tatsache, dass die frühere deutsche Benennung durch wörtliche Übersetzung in vielen polnischen Namen der Straßen und Plätze erhalten oder erkennbar geblieben ist, „mithin eine ganze symbolische Geographie“.24 So heißt Bischofsberg nach dem Krieg Biskupia Górka, Brösen / Brzez´no, Ahornweg / Klonowa, Breitgasse / ulica Szeroka.25 Das würde heißen, dass man sich, möglicherweise auch dem eigenen Willen entgegen, viel von der deutschen Kultur der Stadt aneignete. Chwin versucht in seiner Prosa dieses Phänomen festzuhalten, indem er genau und konsequent zwischen deutschen Namen in Danzig und polnischen in Gdan‘sk unterscheidet. In Tod in Danzig zeigt Chwin, wie die Straßennamen von einem Tag auf den anderen verändert wurden (z. B. Lessingstraße in die Grottgerastraße, Jäschkentalerweg in die Jas´kowa Dolina, Karenwall in die Okopowa). In Stätten des Erinnerns manifestiert sich das Erinnerungssystem der Stadt folgendermaßen:

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Chwin, Krótka historia pewnego Z˙artu (Anm. 14), S. 11. Vgl. Panasiuk (Hg.), Miasto i ludzie (Anm. 6). Chwin, Stätten des Erinnerns (Anm. 12), S. 28. Zu den Straßennamen vgl. Jerzy Samp: Miasto magicznych przestrzeni. Gdan´sk 2003. 269

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Unter dem Straßenpflaster der wirklichen Stadt eröffnete sich eine andere, die nicht mehr vorhanden war. Das Bild der Stadt als Palimpsest hat auch mein Verständnis von der Sprache der Literatur geprägt. Sehr früh merkte ich, dass das Wort verschiedene Schichten hat – so wie auch mein niedergebranntes Troja des Nordens in verschiedenen Erdschichten erhalten war.26

Chwin denkt darüber nach, welche der vielen Städte, deren Trümmer er als Kind betrachtete, authentisch sei. In einer Stadt, die dem Beobachter so viele Gesichter auf einmal offenbarte, waren zugleich kein Gesicht und alle Gesichter wahr. Nur zusammen konnten sie ein Antlitz ergeben, das sich der Wahrheit näherte. Artur Bagajewski nennt Chwin zurecht einen „Detail-Fanatiker“.27 Der Erzähler in Krótka historia zeigt die Zeitschichten, die das Danziger Palimpsest von der Steinzeit bis zur Gegenwart bildet. Er sah, wie die alte Fassade der Stadt durch eine neue Vorderfront ersetzt wurde, gleich wie auf dem Pergamentschriftstück ein Text den anderen ersetzt. Schrittweise wird er sich bewusst, dass in früheren Epochen hier Vertreter anderer Kulturen wohnten. Die alte Fassade ist schwer zu erkennen und ihr ursprüngliches Aussehen kaum mehr zu rekonstruieren. Die obsessive Suche nach der sterbenden Stadt, die ihre Geschichte erzählt, wird zur Suche eines Sammlers nach dem eigenen Ich. Das Bild der Stadt, das auf sein ganzes Leben Einfluss nahm, beschreibt Chwin eindrücklich: Danzig als ein Palimpsest – dieses Bild hat sich mir seit meiner Kindheit eingeprägt. Noch lange nach Kriegsende kamen unter dem abfallenden Verputz von Mauern die Reste von Schriftzeichen zum Vorschein, und zwar in mindestens drei Sprachschichten. Die oberste Schicht trug die frischesten Aufschriften in Polnisch, darunter kam Russisch, und unter dieser Schicht lag Deutsch in schwarzer gotischer Schicht; dazu kamen die Inschriften in Hebräisch, die man gelegentlich in den Kirchen antreffen konnte. Große Vorkommen gotischer Schrift gab es auf den deutschen Friedhöfen, die sich kilometerlang an der Adolf-Hitler-Straße, später Sieges-Allee erstreckten.28

Die in den 1950er Jahren noch erhaltenen evangelischen und jüdischen Friedhöfe wurden in den 1960er Jahren zerstört. Chwin widmet der Reflexion über 26 27 28 270

Chwin, Stätten des Erinnerns (Anm. 12), S. 33. Arkadiusz Bagłajewski: „Fanatyk“ detalu i miejsca? Kilka uwag interpretacyjnych o prozie Stefana Chwina. In: FA-art 1997, Nr. 4, S. 7–14. Chwin, Stätten des Erinnerns (Anm. 12), S. 33 f.

Zu Hause, aber doch fremd

ihr Schicksal großen Raum und zeigt, dass seine Heimatstadt auf den unsichtbaren Gräbern der ehemaligen Bewohner steht: Es war eigentlich eine Stadt der Friedhöfe, die sich über viele Kilometer lang beiderseits der Siegesallee vom Olivaer Tor bis zur Technischen Hochschule erstreckte. Übrigens war das eine sehr schöne Stadt. Tausende von Kreuzen, Steinplatten, Figuren. Die in schöner Gotik in schwarzen Marmor geschlagenen Aufschriften. Efeu. Hainbuchen. Eiben. Lange Alleen unter Kastanienbäumen. Eine Grabstätte umgeben mit Eisengittern. Dicke Ketten. Gusseisentafeln. Granitkugeln. Obelisken. Alles wurde zerstört. Heutzutage gibt es dort gemähte Wiesen und Parkpfade, über die bei gutem Wetter Jungs in T-Shirts skateboarden. Nicht einmal ein Grab wurde in Ruhe gelassen.29

Wenn jedoch auch in dieser Beschreibung die Landschaft des Todes entscheidend ist, werden doch die Dinge in der Sprache aufgehoben und gerettet. Zwischen der alten deutschen und der neuen polnischen (kommunistischen) Welt erkennt Chwin bedeutsame Unterschiede: Ich sah, wie die Stadt nach dem großen Krieg nachwuchs. Neue, schnell gebaute Häuser aus roten Ziegeln wurden einige Monate nach dem Einzug schwarz – wie ein fauler Zahn im kranken Kiefer. Im Herbstregen erloschen Fassaden, trübe Scheiben, zerbrochene Glühbirnen mit saurem Gestank des Urins. In Fluren erschreckte vergilbtes Papier mit der Aufschrift: Verwaltung an der Wand mit abblätternder Farbe. Es verbreiteten sich der stille Tod der Firnis an den Wandpaneelen, das Sterben der feinen Polituren auf den Tischplatten, der hinterlistige Angriff der Pilze auf den Gipsstuckarbeiten, die unter den Fingern zerbröckelten wie eine trockene Torte mit Zuckerguss. Später, im Meer der Ruinen, erschien eine neue Altstadt und durch die Tore der Läden, Milchbars, Bahnhofskneipen flossen die Flüsse der Aluminiummesser und -gabeln in die Stadt hinein. Die Herrschaft hat das Königreich des billigen Metalls übernommen, das nicht so wie vernickelter GerlachStahl klimperte, wenn er einem dicken Porcelit-Teller begegnete.30

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Stefan Chwin: Uroki wykorzenienia. O narracji reistycznej, grach z losem i kilku innych pokusach ze Stefanem Chwinem rozmawia Wojciech Werochowski. In: Krystyna Chwin (Hg.): Rozmowy Tytułu. Gdan´sk 1996, S. 63 (Übersetzung: Joanna Bednarska). Chwin, Krótka historia pewnego Z˙artu (Anm. 14), S. 81. 271

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Die von Deutschen hinterlassenen Gegenstände waren fast immer ordentlich, massiv, stabil und praktisch, und zugleich sahen sie schön aus. Der Erzähler unterstreicht, dass er sich von dieser Schönheit verzaubert fühlte. Die polnischen Waren dagegen wurden nach dem Kriegsende in größter Eile hergestellt, waren zu dieser Zeit meistens unansehnlich und gingen schnell kaputt – so kurz nach dem Krieg war es aus Mangel an Geld und Materialien nahezu unmöglich, hochwertige Dinge zu produzieren. Gerade aber weil man in Ruinen und grauen Fassaden von Hässlichkeit umgeben war, beeindruckten die soliden deutschen Sachen, die man entweder finden oder den zurückgebliebenen Deutschen abkaufen konnte, umso mehr. In akribischer Forschungsarbeit bewahrt der Erzähler die Dinge vor dem Verfall und verschafft ihnen beschreibend Dauer in einem Buch-Museum. Gegenstände aus der vergangenen Welt, die keinen Gebrauchswert mehr haben, bekommen eine symbolische Bedeutung: Viel wichtiger waren die Unterschiede, die einem nicht gleich ins Auge fielen, kleine und unaufdringliche Details. Es enthüllte sich eine ganze Welt von nebensächlichen Ähnlichkeiten und Abweichungen: in der Welt der Türriegel, der Haken, der Klinken, der Schlußklappen, der Stöpsel, der Beschläge, der Sockel, der Griffe, der Öffner- und Verschlußteile, der Widerlager und Flügelmuttern … Ein ganzes Gewimmel von Kleinteilen, das bisher im Gewohnheitsleben versteckt war, kam plötzlich an die Oberfläche. […] Erst mit dieser Entdeckung eröffnete sich mir wirklich die Welt des alten Oliva.31

Es entsteht ein Erinnerungsalbum, eine Art Buchmuseum, in dem außer den Gebäuden und Gebrauchsgegenständen auch die in deutscher Sprache geschriebenen Buchstaben ihren Platz finden. Diese Buchstaben gehören zu den „Wiedererkenntnismerkmalen“32 und Geheimnissen der deutschen Vergangenheit der Stadt. Der Erzähler als Vertreter einer anderen Kultur und eines anderen Zeichensystems kann dieses System der geheimnisvollen Zeichen nicht so einfach dekodieren. Scheinbar sind die Buchstaben immer die gleichen, unterschieden wird jedoch zwischen ‚bösen‘ und ‚guten‘ Buchstaben.33

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Chwin, Krótka historia pewnego Z˙artu; zit. nach: Stefan: Stätten des Erinnerns (Anm. 12), S. 161–162. (Übersetzung: Alfred Sproede). Daniela Kloock: Oralität und Literalität. In: Dies., Angela Spahr (Hg.): Medientheorien. Eine Einführung. München 1997, S. 237. Schmidgall, Die Macht des Genius loci (Anm. 7), S. 99.

Zu Hause, aber doch fremd

Unzählige Gegenstände werden aufgezählt, auf denen deutsche Schrift zu erkennen ist: Wasserzähler, Hydranten, Ventile: Schwabacher, Fraktur, Gotik hielten sich an den Blechen, Riegeln, Rohren, Deckeln, Brückengeländern, Straßenüberführungen, Schleusen, Schloten fest, sie hingen stur im Bahnland der Schienen, Eisenbahnsignale, Wassertürme und Eisenbahnweichen, gewöhnt an ihre Anwesenheit auf den Eisenrädern der alten Lokomotiven und Wagen. Kleinbuchstaben, verwischt, eingeschmolzen in Ruß und Schmiermittel, (…) taube Spuren der Menschen, die ihr ganzes Leben den schwindelerregenden Geheimnissen der Wasserhähne, Sperrungen, Ventile […] gewidmet haben.34

Günter Grass, mit dem Chwin in seinen Werken wiederholt dialogisiert, assoziiert die Sütterlinschrift „regelmäßig mit dem Ungeist der Hitlerzeit“,35 obwohl die Nationalsozialisten 1941 diese Schreibschrift zugunsten der Antiqua verboten hatten. Die ‚deutschen‘ Buchstaben sind im Gedicht Der Dichter das Symbol des Bösen und der Zerstörung: Böse, wie nur eine Sütterlinschrift böse sein kann, verbreitet er sich auf liniertem Papier. Alle Kinder können ihn lesen und laufen davon und erzählen es den Kaninchen, und die Kaninchen sterben, sterben aus – für wen noch Tinte, wenn es keine Kaninchen mehr gibt!36

Die Fraktur gehört seit dem Beginn des Buchdrucks zum zentralen Gedächtnisspeicher der deutschen Kultur, in Chwins Werk soll sie vor dem Vergessen bewahrt werden. Doch der Ungeist der Hitlerzeit ist in Chwins Prosa präsent. Als der Erzähler der Krótka historia pewnego Z˙ artu ein Kind war, stellte sich plötzlich heraus, dass sich in dem Zimmer, in dem er schlief, unter der Tapete Ausschnitte aus nationalsozialistischen Zeitungen befanden. Die Fotos und Buchstaben, die 34 35 36

Chwin, Krótka historia pewnego Z˙artu (Anm. 14), S. 53–54. Werner Frizen: Günter Grass. Gedichte und Kurzprosa. Kommentar und Materialien. Göttingen 2010, S. 208. Günter Grass: Gedichte und Kurzprosa. München 1999, S. 80. 273

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man sah, nachdem die Tapete abgerissen wurde, waren für den Jungen böse, erzählten vom Unheil, und erweckten trotzdem seine Neugier. Diese Buchstaben und Bilder erzählten ihm von der Stadt seiner Geburt und seiner Kindheit anders als er es bisher erfahren konnte. Die Wände seines Zimmers erzählten von der Geschichte aus einer neuen Perspektive, waren Zeugen der Vergangenheit. Nur mit Mühe erkannte er auf den Fotos von Danziger Vorposten die einzelnen Orte. Die Straßen, durch die er spazierengegangen war, trugen auf den Fotos seltsame Namen: Frauengasse, Hundegasse, Karenwall.37 Er betrachtete die Bilder mit gemischten Gefühlen. Einerseits wollte er, dass die Spuren der Vergangenheit verschwinden, andererseits wollte er sie vor Vergessenheit bewahren: So viele Jahre hatte ich hier also ruhig geschlafen, unter den teerosengelben Tapeten mit den Pekinesen aus Königsberg, […] Gauleiter Forster […], Panzerkreuzer ‚Schleswig Holstein‘ – groß, schwer wie ein stählerner Panzerschrank – […] während die blonden Hitlerjugend-Burschen in glänzenden Schaftstiefeln durch die Hindenburgallee marschierten […]. Großmutter […], schüttelte nur mit dem Kopf. Mutter begann gleich die angeklebten Zeitungen mit der Reisebürste am langen Stiel abzureißen. […] Ich? Was fühlte ich damals? […] Angst, Ekel und Abscheu – oder eher einen merkwürdigen Wunsch, dass diese grässlichen Spuren von etwas, was fremd, schrecklich und feindlich war, trotzdem überleben würden.38

Sein Zuhause als ein Raum ursprünglicher Vertrautheit, als Schutz vor der Unbarmherzigkeit der Elemente und der Unfreundlichkeit der Menschen war dem Kind plötzlich fremd und unheimlich.39 Einerseits sieht das Kind die ‚bösen‘ Buchstaben unter der Tapete, andererseits sieht es die gleichen Buchstaben auf den Hydranten oder Wasserhähnen und – was ihn am meisten verwirrt – im Dom in Oliva. Es ist ihm klar, dass auch die Kirche von Deutschen gebaut wurde. Die Entdeckung der Ambivalenz steigert noch die Faszination des Jungen an der vergangenen Welt und das Bedürfnis nach Dekodierung der geheimnisvollen Zeichen. „Das Heimatland“, so Jan Józef Lipski, „existiert nur dann, wenn es auch ein Fremdland gibt; es gibt keine ‚Eigenen‘, wo es keine ‚Fremden‘ gibt. Vom Verhältnis zu den Fremden hängt die Art des Patriotismus ab. Es ist immer 37 38 39 274

Vgl. Chwin: Krótka historia pewnego Z˙artu (Anm. 14), S. 18. Ebd., S. 19. Józef Tischner: Filozofia dramatu. Kraków 2006, S. 181.

Zu Hause, aber doch fremd

etwas Paradoxes daran, dass die Liebe zum Heimatland und eigenen Volk erst durch das Verhältnis zu anderen Ländern und Völkern bestimmt werden kann.“40 Die Entdeckung der unterschiedlichen Schichten der Stadt und somit ihrer vielschichtigen Identität ist nicht nur für seine private Erinnerung von Bedeutung, sondern auch für das soziale und kulturelle Gedächtnis. Im Roman Krótka historia gehen Fremdheit und Vertrautheit ineinander über. Der Erzähler erlebt seine Kindheit geradezu als eine Privat-Archäologie auf Danziger Dachböden, in Kellern und unterirdischen Gängen. Er schafft seine eigene Version des Stadtmythos, indem er die Stadt selbstständig und auf eine Weise kennenlernt, die ihm in der Schule oder zu Hause vorenthalten wird. Diese Kindheit auf deutschen Spuren ist für ihn und den Romans identitätsstiftend, doch ist die Identidifikation nicht frei von Abscheu. Erst durch die private Stadtarchäologie wird schrittweise das Fremde zum Eigenen.

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Jan Józef Lipski: Dwie ojczyzny, dwa patriotyzmy (uwagi o megalomanii narodowej i ksenofobii Polaków). In: Ders.: Tunika Nessosa. Szkice o literaturze i o nacjonalizmie. Warszawa 1992, S. 139–164, hier S. 139; deutsche Übersetzung zit. nach: Katarzyna Kuczyn´ska: Zwischen den Spiegeln. Polen über Deutsche – Polen über Polen. In: Hans Dieter Zimmermann (Hg.): Mythen und Stereotypen auf beiden Seiten der Oder. Berlin 2000 (Schriftenreihe des Forum Guardini 9), S. 132–149, hier S. 132. 275

Heimkehr

Sikander Singh

„bestürzende Plötzlichkeiten des Glücks im Nullpunkt des Unglücks“ Zu Wolfgang Schwarz’ unveröffentlichtem Fünfakter Der Heimkehrer Cornelius Der Abwesende kann sich beruhigt vergewissern, dass alles so ist, wie es ist und immer war, denn stets ist es der Heimkehrende, der sich am Stillstand der Zeit am meisten erfreut.1 Roy Jacobson

1 In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit jenen Werken der deutschen Literatur, die in unmittelbarer zeitlicher Folge des Zweiten Weltkrieges verfasst wurden, zählt Heinrich Bölls Bekenntnis zur Trümmerliteratur zu den zentralen, wiederholt zitierten poetologischen Betrachtungen. Sein resümierender Blick auf die Dichtung dieser Jahre zwischen Ende und Anfang und den sie bestimmenden Ansatz, die Wirklichkeit und die Erfahrung der Zeit zum Gegenstand zu machen, benennt drei Aspekte, welche das literarische Schreiben nach 1945 wesentlich bestimmten: „Kriegs-, Heimkehrer- und Trümmerliteratur“.2 Die retrospektive Perspektive, die diese Einordnung aus dem Jahr 1952 kennzeichnet, zeigt auf indirekte Weise, dass sich der Fokus des literarischen Diskurses mit den frühen 1950er Jahren von den Themen, Fragen und Problemen der ersten Nachkriegsjahre zu entfernen begonnen hat: Während die ehemaligen Wehrmachtssoldaten, die in den ersten Monaten und Jahren nach dem Ende des Kriegs aus Lazaretten und Gefangenenlagern in den Frieden zurückkehrten, ein zerstörtes Land vorfanden, während sie, wie Böll formuliert, Trümmer sahen und darüber schrieben,3 kamen die Spätheimkehrer der 1950er Jahre in ein Land, das die kriegsbedingten Zerstörungen bereits weitgehend

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Roy Jacobsen: Die Unsichtbaren. Eine Insel-Saga. München 2019, S. 60. Heinrich Böll: Bekenntnis zur Trümmerliteratur. In: Ders.: Werke. Essayistische Schriften und Reden I: 1952–1963. Hg. von Bernd Balzer. Köln 1979, S. 31–34, hier S. 31. Ebd. 279

Sikander Singh

Abb. 1: Wolfgang Schwarz nach der Rückkehr aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft im Oktober 1954 anlässlich seiner Begrüßung im pfälzischen Haßloch. Im Hintergrund ist Stefan Andres zu erkennen, der mit Schwarz befreundet war. 280

„bestürzende Plötzlichkeiten des Glücks im Nullpunkt des Unglücks“

beiseite geräumt hatte. Die „Szenarien von gegenseitiger Fremdheit, von Missverständnissen und übergroßen Erwartungen und Enttäuschungen“, von denen die Heimkehrer der 1940er Jahre berichten, wiederholen sich allerdings und werden aufgrund der Divergenz und Inkommensurabilität der Erfahrungen noch einmal vertieft.4 Der Schriftsteller und Dramaturg Wolfgang Schwarz (1916–2012) gehörte zwar nicht zu den letzten Wehrmachtssoldaten, die Konrad Adenauer im Herbst 1955 aus den sowjetischen Gefangenenlagern nach Deutschland zurückbrachte,5 indem er jedoch nach achteinhalbjähriger Internierung im Oktober 1953 aus Swerdlowsk zurückkehrte, ist er gleichwohl ein später Heimkehrer.6 Er fand zunächst bei seiner Schwester in Haßloch eine vorläufige Bleibe. Von hier begann er Kontakte zu Schriftstellern und Intellektuellen der jungen Bundesrepublik zu knüpfen, um auch beruflich wieder Fuß zu fassen. 1954 wurde er im pfälzischen Landau ansässig, wo er für einige Jahre an der dortigen Staatlichen Katholischen Pädagogischen Akademie als Vakanzvertretung Deutsche Sprache und Deutsche Literatur unterrichtete, bevor er eine Laufbahn als freier Schriftsteller einschlug. In seinem Erinnerungsbuch Die Heimkehr berichtet Schwarz aus der Retrospektive des Jahres 1991 ausführlich von seinen Erfahrungen und Erlebnissen als Spätheimkehrer im Deutschland der Wiederaufbauzeit.7 Während seines ersten Jahres in Landau verfasste Schwarz das Heimkehrerdrama Der Heimkehrer Cornelius. Die Reinschrift des Bühnenmanuskriptes ist nicht erhalten, im Nachlass des Schriftstellers, der im Literaturarchiv Saar-Lor4

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Romana Weiershausen: Vom Krieg in den Frieden: Traum und Trauma in der Heimkehrerliteratur nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Manfred Leber, Sikander Singh (Hg.): Erkundungen zwischen Krieg und Frieden. Saarbrücken 2017, S. 223–242, hier S. 223. Vgl. Ehrhard Schütz: „Spätheimkehrer“. Mediale Reflexe zum Mythos von Adenauers Moskau-Reise. In: Elena Agazzi, Erhard Schütz (Hg.): Heimkehr: Eine zentrale Kategorie der Nachkriegszeit. Geschichte, Literatur und Medien. Berlin 2010 (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient 23), S. 93–115. Im Nachlass des Schriftstellers ist ein Dokument erhalten, das „Lagerauskunft“ überschrieben ist; es stammt offensichtlich von einer der Hilfsorganisationen, die sich um deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion bemühten und ihren Angehörigen in der Heimat Informationen bereitstellten: „Lage des Lagers: Im Raume von Swerdlowsk, mittlerer Ural – Schöne, waldige Berglandschaft, die dem Thüringer Wald ähnelt.“ Über die zu verrichtenden Arbeiten heißt es: „Die meisten arbeiten im Aufbau und Kohlenbergbau, ferner Waldarbeit und Steinbruch. Die Gefangenen verdienen sich damit die Mittel für zusätzlichen Verpflegungseinkauf.“ (Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass, Saarbrücken; Nachlass Wolfgang Schwarz, Signatur: Laslle WS-12-3) Wolfgang Schwarz: Die Heimkehr. Erinnerungen. Landau/Pfalz 1991. 281

Sikander Singh

Lux-Elsass in Saarbrücken verwahrt wird, liegt jedoch ein 76 Seiten umfassender Durchschlag, der eigenhändige Korrekturen und Ergänzungen aufweist.8 Zeugnisse, welche die Entstehungsgeschichte oder Versuche des Autors dokumentieren, das Stück auf die Bühne zu bringen, sind nicht überliefert. Allerdings berichtet Schwarz in seinen Erinnerungen von einem Gespräch mit dem Dramaturgen des Nationaltheaters in Mannheim Claus Helmut Drese im Jahr 1954. Dieser erzählt von der Arbeit an einem Stück, in dem ein „Mensch zwischen die Welten“ kommt. Schwarz kommentiert dies auf den Heimkehrer Cornelius anspielend: „Ich wollte in diesem Augenblick einschalten, daß auch ich an einem ähnlichen Stück arbeite. Da gerate auch ein Mensch zwischen die Welten. Ich hätte von diesem Stück auch den Handlungsaufriß im Kopf, und mehr als eine Szene hätte ich davon auch schon auf’s Papier gebracht.“9 Die aus dieser Aussage abzuleitende Datierung der Entstehung entspricht einer (eigenhändigen) Notiz von Schwarz im Dramatis personae: „geschrieben 1954“.10

2 Das Stück folgt der klassischen Einteilung in fünf Akte, denen allerdings ein Präludium voran- und ein Postludium nachgestellt sind. Wie in Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür erscheint „die gewählte Form problematisch“,11 denn die für das traditionelle Regeldrama zentrale Entwicklung der Figuren im Verlauf einer voranschreitenden Handlung ist nicht zu beobachten. Ein Stationenstück in der Nachfolge der Dramen August Strindbergs und des expressionistischen Theaters ist der Heimkehrer Cornelius jedoch auch nicht. Vielmehr erzeugt Schwarz durch das Nebeneinander von offener und geschlossener Form eine strukturelle Spannung: Weil die Möglichkeiten beider Formen einander begrenzen und aufheben, entsteht auf der Bühne ein Moment des Stillstands, das – analog zu Jürgen Schröders Beobachtung im Hinblick auf das Drama der Nachkriegszeit – „das Existenzgefühl einer ganzen verlorenen, verratenen Generation“, die ambivalenten Erfahrungen im Spannungsfeld von Krieg und Frieden, Gefangenschaft und Freiheit dramatisch zum Ausdruck bringt.12 8 9 10 11 12

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Wolfgang Schwarz: Der Heimkehrer Cornelius. (Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass, Saarbrücken; Nachlass Wolfgang Schwarz, Signatur: Laslle 18-1-2) Schwarz: Die Heimkehr (Anm. 7), S. 40–41. Schwarz: Der Heimkehrer Cornelius (Anm. 8), S. 2. Weiershausen: Vom Krieg in den Frieden (Anm. 4), S. 231. Jürgen Schröder: Das Drama. Der mühsame Anfang. In: Winfried Barner (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. 2., aktualisierte

„bestürzende Plötzlichkeiten des Glücks im Nullpunkt des Unglücks“

Das auf diese Weise in der Form angelegte Thema des Stücks wird bereits im Dialog, den der Ältere Heimkehrende und Cornelius im Präludium führen, explizit benannt: „Drüben sind die Einen, und Hüben sind die Anderen - - - - hier aber ist Niemandsland - - - - - es ist schwer, im Niemandsland zu leben […]“13 Das Stück ist als dramatische Gestaltung dieses „Niemandslandes“ zu lesen, eines transitorischen Raumes zwischen Heimat und Fremde. Das Bühnengeschehen überführt somit die äußere Haltlosigkeit wie die innere Erstarrung der Titelfigur in eine Folge szenischer Bilder. Wie in Borcherts dramatischem Text finden sich im Heimkehrer Cornelius verschiedene Realitätsebenen sowie Momente des Surrealen. So spielen Vorund Nachspiel in dem unbestimmten Raum einer „[b]lau-dämmerig eingehüllte[n] Bühne“, auf der „die Gestalten anmuten, als seien sie in ein Tiefseebassin gesetzt“.14 In die fünf Akte, die Bilder, Eindrücke und Szenen der Rückkunft eines Spätheimkehrers vorstellen und solchermaßen gerahmt werden, sind sowohl Chöre als auch zwei Spiele-im-Spiel integriert, die in Anlage und Durchführung ebenfalls die (textimmanenten) Realitätsebenen verwischen lassen. Diese Selbstreferenzialität des dramatischen Textes verdeutlicht den Anspruch des Stücks, einen Menschen auszuloten, der zwar aus einer vieljährigen Gefangenschaft in die Freiheit entlassen wird, sich aber weiterhin in einem „das Blut verdickenden Treibhaus des Ich“ gefangen findet.15 Der erste Akt thematisiert Cornelius’ Heimkehr: In einem „einfache[n], festlich arrangierte[n] Zimmer“ wird er von dem Bürgermeister begrüßt.16 Auf dessen emphatische Rede vermag der Heimkehrer lediglich mit knappen Worten des Dankes zu reagieren. Das sich anschließende vertrauliche Gespräch mit seiner Ehefrau Claudia zeigt, dass sein Befremden wie sein Schweigen weniger Folge traumatischen Erlebens während des Krieges und der Gefangenschaft sind als Ausdruck einer inneren Haltung: Er bekennt getötet zu haben („Der vor dir steht, ist ein Mörder - -“17) und deutet die Jahre, die er in einem sowjetischen Lager verbracht hat, vor dem Hintergrund seines christlich fundierten Menschenbildes als notwendigen Akt der Sühne. Damit ist Cornelius wie Borcherts Heimkehrer Beckmann durch eine „ambivalente Mischung aus Opferbewusstsein und Selbstanklage“ gekennzeich-

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und erweiterte Auflage. München 2006 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart XII), S. 99–115, hier S. 111. Schwarz: Der Heimkehrer Cornelius (Anm. 8), S. 4. Ebd. Ebd., S. 18. Ebd., S. 7. Ebd., S. 16. 283

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net.18 Während aber Borchert die Vereinsamung und Entwurzelung eines Menschen in einer ihm fremd gewordenen gesellschaftlichen Realität zeigt, ist die Heimkehrerfigur bei Schwarz als ein vom „Schicksal gekelterte[s] Herz[]“19 ein „Außenseiter, ein Repräsentant des Geistes und der Humanität“.20 Diese Perspektive ermöglicht einen kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Entwicklungen der Wiederaufbaujahre. Cornelius hat, wie er bekennt, „keine Illusionen über den Fortgang, an dem [er] nicht teilhatte“.21 Und sein Freund Peter, den er nach 15 Jahren erstmalig wiedersieht, formuliert die Kritik an der Gegenwart ebenfalls explizit, wenn er gegenüber Cornelius einräumt: „Denn wer will denn hier bei uns überhaupt noch etwas aufbauen, von Grund auf. Die meisten wollen nur zusammenstückeln ….“22 Damit erfüllt zwar der erste Akt eine expositorische Funktion, indem die Ausgangssituation, die Grundstimmung und die Konflikte des Stückes ausgebreitet werden. Der zweite Akt ist jedoch nicht im Sinne einer traditionellen Komplikation zu lesen. Er beginnt mit einem Spiel-im-Spiel: Cornelius und sein Freund Peter inszenieren auf der studentischen Bühne einer Akademie ein „Kabarett“.23 In einem sich an das Spiel anschließenden Gespräch zwischen den beiden Freunden sowie den übrigen Mitwirkenden werden die im Spiel angesprochenen gesellschaftspolitischen Fragen der Gegenwart weitergehend erörtert, wobei insbesondere über die Aufhebung sozialer Ordnung und das Fehlen moralischer Orientierung diskutiert wird: „Aber dieser Selbstbetrug, dieser retuschierte Filmstreifen der Vergangenheit ist heute hier bei uns 18

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Ralf Trinks: „wir werden jeden Tag ermordet, und jeden Tag begehen wird einen Mord“. Das Kriegserlebnis im Heimkehrerstück (1945–1949). In: Thomas F. Schneider (Hg.): Kriegserlebnis und Legendenbildung. Das Bild des „modernen“ Krieges in Literatur, Theater, Photographie und Film. Osnabrück 1999 (Krieg und Literatur. Internationales Jahrbuch zur Kriegs- und Antikriegsliteraturforschung III/1997– IV/1998), S. 939–950, hier S. 939. Schwarz: Der Heimkehrer Cornelius (Anm. 8), S. 9. Schröder: Das Drama (Anm. 12), S. 102. Schwarz: Der Heimkehrer Cornelius (Anm. 8), S. 18. Ebd. Ebd., S. 35. In seinen Erinnerungen berichtet Wolfgang Schwarz von einem literarischen Kabarett, das er im Juli 1954 im Rahmen des Sommerfestes der Staatlichen Katholischen Pädagogischen Akademie Landau mit Studierenden zur Aufführung gebracht hat. Der Textabschnitt, den er in diesem Zusammenhang in Die Heimkehr zitiert, ist identisch mit einer Passage aus dem zweiten Akt des Heimkehrers Cornelius; vgl. Schwarz: Die Heimkehr (Anm. 7), S. 190–191. Ob das in Landau aufgeführte Stück den im Entstehen begriffenen Heimkehrerstück folgt oder ob Schwarz den für die studentische Inszenierung verfassten Text in das Drama integriert hat, ist aufgrund fehlender Quellen nicht zu bestimmen.

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Gesetz  – überall  – auf allen Gebieten  – wir leben in der Restauration eines vorgestrigen vordergründigen Idealismus, der in die Klammern des Geldes eingeklammert ist […].“24 In der solchermaßen unternommenen, über das individuelle Schicksal hinausgehenden Bewertung der Zeitsituation folgt das Stück den Heimkehrerdramen der späten 1940er Jahre, die sich ebenfalls in einer radikal veränderten Wirklichkeit gültiger Werte und moralischer Perspektiven zu vergewissern suchten. Im dritten Akt wird Cornelius vom Direktor der Akademie nebst einigen Professoren im Hinblick auf seine Eignung für das angestrebte Lehramt geprüft. Indem die Situation als solche ihn an den Prozess erinnert, der ihm als Kriegsgefangenem vor einem Tribunal im sibirischen Omsk gemacht worden ist, werden die psychischen Folgen der langjährigen Gefangenschaft greifbar. Zugleich werden im Verlauf des Prüfungsgesprächs, das am Beispiel zweier Passagen aus Platons Dialogen Fragen der Kunst verhandelt, die Differenzen zwischen der Weltsicht wie der inneren Haltung des Kandidaten und seiner Prüfer immer deutlicher. Während dieser die pädagogische Arbeit als ein „sich blutig schinden am kranken Menschen“ der Zeit begreift und die „Notwendigkeit eines Anderswerdens“,25 einer grundsätzlichen gesellschaftlichen Neuorientierung fordert, erweisen sich jene als Vertreter eines restaurativen Idealismus. Diese unterschiedlichen Positionen werden im Verlauf der Prüfung nicht nur miteinander kontrastiert, der Schluss des Aktes inszeniert mit dem Abbruch der Prüfung ihre Unvereinbarkeit. In seinen Erinnerungen an die eigene Heimkehr berichtet Schwarz von der „Ersten Prüfung für das Lehramt an Volksschulen“, deren Verlauf er vergleichbar kommentiert: „Eine solche Prüfung hatte ich noch nie erlebt. Es war eine Prüfung auf der schäbigen Ebene der indoktrinierenden Pseudowissenschaft, es war eine Farce. Natürlich vollkommen gleichgültig war mir, ob ich sie bestanden hatte oder nicht.“26 Der vierte Akt führt erneut in das einfache Zimmer, in dem im ersten Akt die Begrüßung des Heimkehrers stattfand. Der Direktor der Akademie erläutert der überraschten und verunsicherten Claudia, aus welchen Gründen Cornelius die Prüfung nicht bestanden hat. Er gesteht ein, dass die Prüfungskommission Angst vor ihm gehabt habe, weil er aufgrund der existenziellen Erfahrungen, die ihn bestimmen, „überlegen war und überlegen ist und immer überlegen sein wird“.27 Indem auch Claudia einräumt, sich vor dem Fremden und Kompro24 25 26 27

Schwarz: Der Heimkehrer Cornelius (Anm. 8), S. 32. Ebd., S. 41. Schwarz: Die Heimkehr (Anm. 7), S. 206. Schwarz: Der Heimkehrer Cornelius (Anm. 8), S. 58–59. 285

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Abb. 2: Der Schluss des ersten Aktes von Wolfgang Schwarz’ Der Heimkehrer Cornelius.

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misslosen zu fürchten, das in Cornelius’ Wesen immer deutlicher zutage tritt, kommt der Direktor zu dem Schluss, dass innere Freiheit vor dem Hintergrund von Krieg und Zerstörung nur möglich sei, wenn man seinen Anteil an der Schuld bekenne: „[W]ir werden alle nur frei, indem wir freimütig bekennen: wir sind schuldig - - - er hat es getan - er hat es Ihnen gesagt - - er - ist - frei - - - - - - - und wir? - - wir sind es nicht - - - und doch können wir es werden - - indem wir ebenso freimütig bekennen […].“28 Während der vierte Akt im Dialog zwischen Claudia und dem Direktor der Akademie die Überlegungen über Möglichkeiten und Funktionen der Kunst in der Gegenwart, die im Rahmen des Prüfungsgespräches des dritten Aktes formuliert worden sind, reflexiv vertieft, werden diese im fünften Akt in einer „bunten Studentenbar“ weitergehend entwickelt.29 Einerseits wirft das studentische Spiel, das als Spiel-im-Spiel den Akt eröffnet, die Frage nach den Perspektiven Deutschlands auf, andererseits diskutieren Cornelius und Peter unter anderem mit dem Journalisten Brenning über „Verkrustung, Spiessbürgerlichkeit, Wohlgefallen an eigener Sicherheit“, die in „mangelnde[m] Mut zur inneren Rebellion bei den Einen“ und „falsche[r] Untertanenmeinung“ bei den Anderen ihre Ursache haben.30 In seinen Betrachtungen über Reform und Neuorientierung sucht Cornelius nach einem dritten Weg zwischen der sozialistischen Ordnung, die in der Sowjetunion realisiert worden ist, und der kapitalistischen des Westens. Gleichwohl bleibt das Schlussbild unbestimmt: Auf der in Dunkelheit verdämmernden Bühne fallen Schüsse, Cornelius fordert, „die Freiheit frei von den Mördern der Freiheit“ zu halten, es fallen weitere Schüsse, Cornelius „schreit auf“ und indem der Nebentext eine „[u]nheimliche Stille“ vermerkt, senkt sich der Vorhang.31 Es folgt der Auftritt des Älteren Heimkehrenden im Postludium. Auf der Bühne „zeichnen sich schattenhaft die Gestalten der Mitspielenden ab“, unter denen allerdings Cornelius fehlt.32 Der Ältere Heimkehrende kontrastiert in seinem Monolog die notwendige „Rebellion der Menschen“ in der Gegenwart mit der „Rebellion dessen, der nach Golgatha ging“.33 Auf der Grundlage dieser christlichen Anschauung stellt er über den Mord an Cornelius fest: „- - - Ihr habt

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Ebd., S. 60. Ebd., S. 62. Ebd., S. 70. Ebd., S. 74. Ebd., S. 75. Ebd. 291

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ihn getötet - - - er lebt freilich über Euch - - - aber lasst es Euch sagen, dass Ihr Mörder seid - - Mörder an einem, der, mag er auch noch so viel Schuld auf sich geladen haben, unschuldig ist vor Eurer grössere[n] Schuld.“34 Mit dieser anklagenden Betrachtung über die Frage der Schuld wie der moralischen Verantwortung endet das Stück. Schwarz’ Bühnenwerk thematisiert somit einerseits jene äußeren und inneren Zerstörungen, die darzustellen bereits Böll in seinem Essay als Aufgabe der Literatur in der Nachkriegszeit hervorhebt.35 Andererseits diskutiert der Heimkehrer Cornelius vor dem Hintergrund einer kritischen Bestandsaufnahme der politischen und ökonomischen Entwicklung, die Deutschland im Prozess des Wiederaufbaus genommen hat, Perspektiven einer alternativen gesellschaftlichen Ordnung. Nicht die Orientierungslosigkeit des Heimkehrers, nicht die Umstände seiner Rückkehr oder seine Selbstzweifel sind die zentralen Fragen, die Schwarz’ Stück verhandelt, sondern die Verfasstheit Deutschlands in den frühen 1950er Jahren. Cornelius kehrt lediglich räumlich in ein Land zurück, das einmal seine Heimat war: Da er an den politischen Entwicklungen und gesellschaftlichen Debatten der ersten Nachkriegsjahre keinen Anteil hatte, ist ihm die Heimat fremd geworden. Sein solchermaßen von Nähe und Distanz, von Sehnsucht und Enttäuschung, von Teilhabe und Ablehnung bestimmter Blick lässt ihn auch über die Idee von Heimat als solcher und die Möglichkeit einer Gesellschaft neu nachdenken, welche die kommende Zeit im Bewusstsein der Erinnerung gestaltet. In diesem Sinne wird die Heimkehr aus der Kriegsgefangenschaft zu einem Sinnbild für den moralischen Wiederaufbau: „und es soll dieses Niemandsland einmal Allermannsland sein! Da sollen alle zuhause sein, die von Hüben und die von Drüben - wie wir - -“, fordert Cornelius.36

3 Ralf Trinks hat in einer Studie über Heimkehrerstücke herausgearbeitet, dass das Erleben von Krieg und Kriegsgefangenschaft bei zahlreichen der literarischen Heimkehrerfiguren der 1940er Jahre einen „Desillusionierungsprozeß“ initiiert, in dessen Folge sich das Interesse auf die „Auswirkung des Krieges“

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Ebd., S. 76. Böll: Bekenntnis zur Trümmerliteratur (Anm. 2), S. 34. Schwarz: Der Heimkehrer Cornelius (Anm. 8), S. 5 (Hervorhebung im Original).

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auf das „persönliche Schicksal“ verengt.37 Diese Konzentration auf das Subjektive, das eine „apolitische Kriegsdeutung“ ermöglicht, ist in der Gestalt des Heimkehrers Cornelius zwar ebenfalls zu erkennen, denn auch sein Blick ist nicht auf den Krieg als Folge vorangegangenen politischen Handeln gerichtet.38 Der Mord, den er seiner Frau im ersten Akt bekennt, ist jedoch als das Eingeständnis moralischer Mitverantwortung zu lesen und damit als ein Stück individueller Vergangenheitsbewältigung: „[…] das ist es nämlich, was Liebe einlässt ins Herz und Liebe ausgiesst in Herzen: sich selbst anklagen, ehe man die anderen anklagt, erst Gericht halten über sich selbst, ehe die Richterhand erhoben wird über die anderen.“39 Cornelius rechtfertigt den Akt des Tötens nicht als Notwendigkeit im Ablauf eines Kampfgeschehens, sondern – vor dem Hintergrund christlicher Vorstellungen – als Verstoß gegen das fünfte Gebot des Dekalogs. In der Konsequenz dieses Gedankens deutet er das Verfahren, das ihm vor einem sowjetischen Militärtribunal gemacht worden ist und die Jahre der Kriegsgefangenschaft, zu denen er verurteilt wurde, als Ausgleich seiner Schuld. In diesem Sinne nimmt das Gespräch, das er mit dem Älteren Heimkehrenden im Prolog führt, Bezug auf den Sühnetod Jesu Christi: „[…] es müsste sich nämlich erweitern, das Niemandsland, das heilige - - jener Ort, wo der Dornkranz ist und wo das Auferstehn ist - - Kreis um Kreis müsste er sich auswachsen, und alle Völker müsste er hineinnehmen in seinen Frieden und seine Verwandelung […].“40 Das Karfreitagsgeschehen, das aufgerufen wird, bietet der Erfahrung dieser Heimkehrerfigur somit nicht nur eine erzählerische Folie, die im Spannungsfeld von Schuld und Sühne die Sinnhaftigkeit des erlittenen Leids betont; der Rekurs auf die christliche Tradition erweist sich zugleich als Orientierungshilfe für das Land, in das Cornelius zurückkehrt. Sein distanzierter Blick auf die radikal veränderte Lebenswirklichkeit verhandelt deshalb nicht Probleme sozialer Reintegration (weder in der Beziehung zu seiner Frau Claudia noch zu seinen Freunden zeichnen sich diesbezüglich Konflikte ab); seine gewandelte Perspektive ist das Ergebnis einer Katharsis: Das Erleben von Krieg und Lagerhaft („tiefunten, da wo das Nichts ist“41) und die Erfahrungen von Furcht und Heimatlosigkeit haben ihn zu einem Menschen werden lassen („und es braucht deren, die

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Trinks: „wir werden jeden Tag ermordet, und jeden Tag begehen wird einen Mord“ (Anm. 18), S. 942–943. Ebd., S. 943. Schwarz: Der Heimkehrer Cornelius (Anm. 8), S. 5–6. Ebd., S. 6. Ebd. 293

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voranleiden“42). Seine Anerkenntnis der moralischen Verantwortung ist nicht nur eine individuelle, sie ist zugleich Voraussetzung eines als notwendig erkannten gesellschaftlichen Wandels. Cornelius strebt nicht die Wiedereingliederung in den Diskurs der Heimat auf der Grundlage einer „regressiven Flucht aus der Verantwortung“ an.43 Er stellt vielmehr das Exemplarische seines Schicksals heraus und fordert vor diesem Hintergrund eine neue politische Ordnung aus dem Bewusstsein der begangenen Schuld. Diese Position korrespondiert mit Gedanken, die der Autor in Bezug auf seine eigene Person in seinem Erinnerungsbuch festgehalten hat: „Aber die These: vom Krieg wolle heute keiner mehr etwas wissen, diese These konnte ich nicht akzeptieren. […] Friedenswerk, das heiße für mich, im Gegenteil, sich mit dem Krieg beschäftigen.“44 Indem die Heimat, der Cornelius begegnet, die Vergangenheit nicht bewältigt, sondern verdrängt hat, ist eine Gesellschaft entstanden, die im Prozess des Wiederaufbaus das Moralische durch das Ökonomische substituiert hat. So erinnert der Journalist Brenning in dem bereits erwähnten Gespräch mit Cornelius und Peter an die Warnung eines anderen Kriegsheimkehrers: „[…] wir fürchten uns vor der Sattheit, die hier herrscht, vor der biedermeierlichen Wichtigtuerei, die hier unter der Glasglocke brütet, vor dem Wettrennen um den Mammon, dessen hektische Rücksichtslosigkeit durch die hiesigen Strassen fegt, vor dem Gewinsel um eine misslungene Welt, vor dem brillanten Pessimismus, der Bürokratie, dem Mechanismus, dem verlogenen Mitleid - -“45 Mit seiner Kritik an der gesellschaftlichen Verfasstheit seiner Zeit geht das Stück einen Schritt weiter als die Heimkehrerdramen der späten 1940er, die zwar ebenfalls das gänzlich Veränderte der Nachkriegsjahre im Hinblick auf die Orientierung an ökonomischem und utilitaristischem Denken zur Darstellung bringen. Cornelius skizziert vor diesem Hintergrund allerdings keine realpolitische Alternative, sondern betont, dass der Einzelne unbedingt an sich selbst arbeiten müsse. Denn die Arbeit am Selbst, die Cornelius im Sinne Ludwig Wittgensteins einfordert, ist die Voraussetzung gesellschaftlicher Veränderung: „[…] die Menschen müssen wieder böse werden auf sich selbst, auf das dressierte Haustier, das sie zu werden drohen, sie, deren Heimat die Wildbahn ist  – wo sie nämlich frei sind  – das Bösesein auf sich selbst gibt ihnen die Freiheit zurück – […].“46 42 43 44 45 46 294

Ebd., S. 5 (Hervorhebung im Original). Trinks: „wir werden jeden Tag ermordet, und jeden Tag begehen wird einen Mord“ (Anm. 18), S. 944. Schwarz: Die Heimkehr (Anm. 7), S. 122–123. Schwarz: Der Heimkehrer Cornelius (Anm. 8), S. 30. Ebd., S. 31.

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In der Nachfolge der Gedanken über das animalische Wesen des Menschen, die Hermann Hesse in seinem Roman Der Steppenwolf in das Bild eines Raubtiers gekleidet hat, fragt Cornelius nach Prämissen wie Grundlagen menschlicher Freiheit. Die Unabhängigkeit und Radikalität seines Denkens, mit der er auch die Prüfungskommission erschreckt („wir müssen vorsichtiger sein – er ist freier als wir –“47), erwächst aus der Bereitschaft und dem Willen, die Erfahrungen von Krieg und Gefangenschaft, von Schuld und Sühne nicht zu verdrängen, sondern als wesentliche Aspekte des eigenen Seins anzunehmen. Diese philosophische Haltung wird bereits im Verlauf des Gespräches mit seiner Frau Claudia im ersten Akt deutlich. Im Rekurs auf die Irrfahrt des Odysseus, die in vielen Werken der Literatur der Nachkriegszeit „der Erfahrung der Entwurzelung eine erzählerische Folie bot“,48 deutet er das Leben als eine Odyssee, als ein Schiff, das nicht „für den Hafen gebaut ist“.49 Den Gedanken in seine letzte Konsequenz fortsetzend, versteht er seine Existenz als einen „Einklang in illusionsloser Bereitschaft, einkalkulierend alle Möglichkeiten der Gefahr, des Scheiterns, aber auch der Sonne, des ruhigen Spiegels, der bestürzenden Plötzlichkeiten des Glücks im Nullpunkt des Unglücks“.50 Die Radikalität im Sinne von Unabhängigkeit und Furchtlosigkeit, zu der sein Denken gelangt ist, zeigt sich auch in den differenten Anschauungen über Aufgaben und Möglichkeiten der Kunst in der Gegenwart, die im Verlauf des Prüfungsgesprächs im dritten Akt in den Vordergrund treten. Cornelius ist nicht bereit, einen Satz Platons, den er zunächst übersetzen soll, wie von der Kommission gewünscht, auf affirmative Weise zu deuten. In seiner Lesart zeigt sich in der „willentliche[n] Beschränkung der künstlerischen technischen Mittel“ eine „banausische[] Biedermeierlichkeit“.51 Demgegenüber ist in seinem Verstehen Voraussetzung jeder Kunst, dass der Künstler „auch immer im heissen Prozess seiner Zeit lebt“, sich also vor den Fragen und Problemen, Aufgaben und Krisen seiner Gegenwart nicht verschließt.52 Seine Replik auf die Prüfungsfragen ist das Programm einer littérature engagée und somit auch eine autopoetische Aussage: Kunst sei „kein Behagen, vor allem dann nicht, wenn die Zeit 47 48

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Ebd., S. 42. Weiershausen: Vom Krieg in den Frieden (Anm. 4), S. 227. Vgl. hierzu auch Jessica Resch: Odysseus’ Wandlung im Nachkriegsdeutschland. Die Figur des griechischen Helden in der deutschsprachigen Erzählprosa. Marburg 2012 (Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum Verlag. Reihe Literaturwissenschaft 23). Schwarz: Der Heimkehrer Cornelius (Anm. 8), S. 13. Ebd., S. 13. Ebd., S. 46–47. Ebd., S. 48. 295

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so ganz und gar unbehaglich“ sei; sie sei „vielmehr ein Sturm, ein Aufruf, ein scharfes Heilmittel, ein schmerzendes Messer, das Krankheiten ausschneidet“.53

4 In der Akzentuierung der Nachfolge Christi, die in der Figurenrede wiederkehrend verhandelt wird und die in dem Tod des Heimkehrers in den surreal anmutenden Szenen am Ende des Stücks kulminiert, schließt der Heimkehrer Cornelius an Bilder und Vorstellungen an, die bereits in den dramatischen Dichtungen des Expressionismus Verwendung gefunden haben: Schwarz sucht in seiner ersten literarischen Arbeit nach der späten Rückkehr aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft nach einer ihm, aber auch den Verhältnissen des Landes, in das er zurückgekehrt ist, gemäßen literarischen Ausdrucksform. Indem er sich hierbei, wie viele seiner Zeitgenossen, an Mustern vorangegangener literarischer Strömungen orientiert, findet er in Werken, die in der Folge des Ersten Weltkrieges als Artikulation von Orientierungslosigkeit und Verunsicherung, von Zerrissenheit und Entfremdung entstanden sind, den literarischen Ausdruck eines Erfahrungshorizontes, der mit dem seiner eigenen Zeit nicht nur korrespondiert, sondern zu Teilen parallel verläuft. Er nimmt daher die Bildsprache des messianischen Expressionismus auf und schreibt sie im Hinblick auf das Spezifische seiner Gegenwart fort. Zentral ist hierbei, wie Kirsten Reimers in ihrer Studie über das Theater nach dem Ersten Weltkrieg feststellt, die Übertragung des „Visionären des Expressionismus in die soziale und politische Sphäre“.54 Wie jener verbindet Schwarz „die innere Wandlung mit äußerer Revolte, um einen neuen, brüderlichen Menschen und eine kultische Gemeinschaft der gewandelten Menschen zu erschaffen“:55 Mit dem Heimkehrer Cornelius zeichnet er eine Gestalt, die aufgrund ihrer Erfahrungen geläutert worden ist. Dieser an einer Figur aufgezeigte Prozess innerer Wandlung ist exemplarischer Natur, er verweist auf die Notwendigkeit des gesellschaftlichen Wandels. Wie das „expressionistische Theater“ will Schwarz „nicht in erster Linie ästhetisch

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Ebd. Kirsten Reimers: Das Bewältigen des Wirklichen: Untersuchungen zum dramatischen Schaffen Ernst Tollers zwischen den Weltkriegen. Würzburg 2000 (Schriften der Ernst-Toller-Gesellschaft 2), S. 45. Ebd.

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wirken“, stattdessen sollen seine Ideen „den Zuschauer religiös, ethisch und nicht zuletzt politisch wandeln“.56 Im Gegensatz aber zu expressionistischen Stationendramen wird nicht die innere Entwicklung des Protagonisten im Bühnenspiel zur Darstellung gebracht: Seine Verwandlung hat sich „da drüben“ vollzogen, in den Jahren der Gefangenschaft, sodass er bereits als messianische Figur nach Deutschland zurückkehrt.57 Die Begegnungen und Gespräche in der Heimat, von denen die fünf Akte erzählen, zeigen eine „Erlöserfigur, deren altruistische Opferbereitschaft bessernd auf die Mitmenschen ausstrahlt“.58 Ralf Trinks macht in einer Studie im Hinblick auf Inge Strudthoffs Heimkehrerstück Der Gast eine Beobachtung, die auch auf Schwarz Heimkehrer Cornelius zutrifft: „Die zeittypischen Merkmale dieser Heimkehrerfigur treten ganz hinter ihre Funktion als Heilsbringer in der Nachfolge Christi zurück. In einer düsteren, inhumanen Welt glaubt er als einziger an die Nächstenliebe […].“59 Die symbolische Aufladung der Szenen, das Entindividualisierte der Figuren, aber auch der Zusammenhang der Akte, der einzig durch die Gestalt des Heimkehrers gewährleistet wird, erweisen sich somit als Konsequenzen einer im Expressionismus vorgebildeten, messianischen Erwartung an die Zukunft. In diesem Sinne formuliert der ältere Heimkehrende in seinem Schlussmonolog: „es müsste sich nämlich erweitern, das Niemandsland, das heilige - - jener Ort, wo der Dornkranz ist und wo das Auferstehn ist - - - Kreis um Kreis müsste er sich auswachsen - - und alle Völker müsste er hineinnehmen in seinen Frieden - alle Völker - die ganze Menschheit - augenblicklich - - - - - -“.60 Das Unbestimmte, auf etwas Surreales Deutende der letzten Szene des fünften Aktes mit dem ebenso seltsamen wie dunkel bleibenden Mord an Cornelius kann zwar vor diesem Hintergrund als ein Verweis auf das Motiv des Opfertodes gelesen werden. Als das wahre Opfer des Heimkehrers wird jedoch das Leiden während der Jahre der sowjetischen Lagerhaft herausgestellt. Die Stellvertreterfunktion, welche die Figur damit erlangt, wird in dem das Stück beschließenden Postludium explizit bekannt. Einen Gedanken des (für das Publikum unsichtbar bleibenden) Chores aufnehmend, erläutert der 56 57 58

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Eberhard Lämmert: Das expressionistische Verkündigungsdrama. In: Hans Steffen (Hg.): Der deutsche Expressionismus. Göttingen 1965, S. 138–156, hier S. 156. Schwarz: Der Heimkehrer Cornelius (Anm. 8), S. 19. Ralf Trinks: Zwischen Ende und Anfang. Die Heimkehrerdramatik der ersten Nachkriegsjahre (1945–1949). Würzburg 2002 (Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft 375), S. 151. Ebd. Schwarz: Der Heimkehrer Cornelius (Anm. 8), S. 75. 297

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Ältere Heimkehrende an die Zuschauer gewandt: „und wenn der Herr die Gefangenen wiedergebracht hat - wie die Bäche im Mittaglande, Ihr diese Gefangenen nicht in den Tod jagt - - - - sondern sie aufnehmt, sie, die kommen und kommen werden - aus den unaufhörlichen Tiefen des stellvertretenden Leides - wie Er - - - Er, den Ihr nicht aufnahmt, obwohl er der Würdigste Eures Lebens gewesen wäre - - -“61 Einerseits alludiert der Text mit der Großschreibung des Pronomens die Parallelisierung der Figur mit dem Erlöser Jesus Christus. Indem dieser Aspekt jedoch lediglich in der Schriftform sichtbar ist, setzt andererseits ein Handlungsappell den Schlusspunkt des Bühnenspiels. Aufgrund seiner Erfahrungen in Krieg und Lagerhaft vermag Cornelius sich nicht in die Gesellschaft der Wiederaufbaujahre zu integrieren. Nicht der Friede, in den er zurückkehrt, ist ihm fremd, sondern die Entwicklungen, die seine deutsche Heimat in den Jahren seiner Abwesenheit genommen hat. Sein Tod ist daher symbolisch zu verstehen: In dem Mord an einem Menschen, der keinen Platz in der Gesellschaft findet („Sie morden mit Mammon“62), liegt eine Verpflichtung auf die Zukunft, die das Stück programmatisch an den Zuschauer richtet.

5 Der Heimkehrer Cornelius, der als Werk der mittleren 1950er Jahre aus literaturgeschichtlicher Perspektive erst im Nachgang der Heimkehrerdramatik der Nachkriegszeit entstanden ist, und als spätes Werk des Genres auf die Lebensgeschichte des Verfassers als Spätheimkehrer verweist, kanalisiert wie viele seiner Vorgänger in den 1940er Jahren anti-moderne Sehnsüchte, die bereits der Nationalsozialismus für seine Zwecke instrumentalisiert hatte und die in der Nachkriegszeit unter veränderten Vorzeichen und mit gewandelten Akzentuierungen wieder auf- bzw. fortleben. Cornelius lehnt das rationalistische und utilitaristische Denken, das den sozialen, den ökonomischen wie den politischen Diskurs der Wiederaufbaujahre bestimmt, als unlauter und seelenlos ab. Er fordert „Phantasie des Herzens“ anstelle von „Jahrmarktzauber“, „Eitelkeit“ und „kalter Naseweisheit“.63 Das Entwicklungsziel, das er diesen Tendenzen entgegenstellt, bleibt jedoch – auch hierin korrespondiert das Stück mit vorangegangenen Werken des Genres – im Ungefähren. Vielmehr werden in den 61 62 63 298

Ebd., S. 76. Ebd., S. 35. Ebd., S. 40.

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Dialogen allgemein humanistische Vorstellungen und Werte benannt, die in der Nachfolge der christlichen Tradition der abendländischen Kulturgeschichte stehen. Fragen der Gegenwart sowie Verwerfungen, die aus der Dynamik sich verändernder Werte erwachsen, begegnet das Stück mit einer vagen, utopischen Heilszuversicht. Mit dieser Stilisierung folgt der Heimkehrer Cornelius gedanklichen Mustern, die in der frühen Moderne ausgebildet worden sind: Denn zum Prozess der Moderne gehörte stets die Kritik an der Moderne. Das Bühnenwerk ist auf diese Weise Ausdruck von Inkommensurabilität: Der Erfahrungshorizont des Spätheimkehrers und einer Gesellschaft, die sich nach dem Ende des Krieges bereits neu geordnet hat, divergieren. Er hat sich „zehn Jahre gesammelt und aufgestaut“, hat sich „mit der Sehnsucht herumgepeinigt“, um nach seiner Rückkehr festzustellen, dass die deutsche Heimat ihm fremd geworden ist.64 Die solchermaßen tragische Erfahrung von Heimatlosigkeit wird dadurch kompensiert, dass die Figur sich selbst als einen Ausgestoßenen begreift, als einen Menschen, der durch das durchlittene Leid (Krieg, Gefangenschaft, Verlust der Heimat) und die Einsicht in seine Schuld eine Berufung erfahren hat. Ralf Trinks hat im Zusammenhang seiner Beschäftigung mit literarischen Heimkehrerfiguren herausgestellt, dass die Fokussierung des Heimkehrerdramas auf den Einzelnen, der einen „Weg in die Zukunft zu beschreiben“ versucht, wesentlich vor dem Hintergrund eines „verständlichen Misstrauens gegen große ideologische Entwürfe“ zu verstehen ist.65 Auch Schwarz’ Denken wird von einer solchen Skepsis gegenüber politischen Modellen bestimmt. Er lehnt darüber hinaus philosophische Systembildungen ab, wenn beispielsweise der Existentialismus als „Vernichtungsprozess[] des Vorhandenen zugunsten des heiligen Nichts“ gewertet wird.66 Auf die Frage nach dem Verhältnis von politischem Realismus und revolutionärer Moral gibt das Stück somit keine Antwort. Indem aber Schwarz jene Probleme zur Darstellung bringt, die in den frühen 1950er Jahren die Literatur bestimmten, ist sein Stück nicht nur als Zeugnis eines Schriftstellers zu lesen, der nach der späten Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft wieder zu den Debatten der Wiederaufbaujahre aufzuschließen versucht. Der Heimkehrer Cornelius ist vielmehr ein Werk, das den schwierigen Weg der deutschen Literatur in die Nachkriegsmoderne in seiner Widersprüchlichkeit dokumentiert.

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Ebd., S. 31. Trinks: Zwischen Ende und Anfang (Anm. 58), S. 155. Schwarz: Der Heimkehrer Cornelius (Anm. 8), S. 64. 299

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Nicht zuletzt zeigt sich das Moment des Inkommensurablen auch in der Sprache: Der hohe Ton, den die Figuren des Stücks verwenden, unterscheidet sich zwar nicht von anderen Dichtungen der späten 1940er und frühen 1950er Jahre. Der Autor arbeitet jedoch in seinem Erinnerungsbuch heraus, dass auch das Pathos eine jener Kategorien war, die es im Prozess der Heimkehr zu überwinden galt: Denn das „Verhältnis von uns Kriegsgefangenen zu unserer Sprache war das Verhältnis von Verzweifelten, die sich auf einem reißenden Strom an nichts anderes mehr denn an ein schwaches Bündel Holz klammern können, das den anspruchsvollen Namen eines Floßes kaum noch verdient. Mit dem Wort gingen wir gegen das Übel an.“67 Das Ausweglose der Existenz in einem sowjetischen Lager „verführte“ zu einer „abgehobenen Sprechweise, zu einer Überanstrengung der Sprache – zur Gespreiztheit“, was oftmals auch in „Pathos und Sentimentalität“ überging.68 Als das erste literarische Werk von Wolfgang Schwarz, das nach der Rückkehr in die deutsche Heimat entstanden ist, bezeugt der Heimkehrer Cornelius somit auch sprachlich die verspätete Heimkehr eines Schriftstellers in den gewandelten Diskurs der deutschen Literatur nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

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Schwarz: Die Heimkehr (Anm. 7), S. 125. Ebd.

Sandra Beck

„I never knew Germany was such a lovely country.“ Die Immenhof-Trilogie (1955–1957) und die deutsche Nachkriegsgeschichte Das westdeutsche Nachkriegskino war besser als sein Ruf […]. Es mag sein, daß die Produzenten damals nicht hochambitionierte Absichten verfolgten, wie es bei heutigen Filmemachern oft der Fall ist. Und sicher war ihnen oft nicht bewußt, woran sie mit ihren Spielfilmen rührten – was die Zuschauer packte und faszinierte. […] Das Publikum bestätigte diese Einschätzung – es kam zu Millionen, trotz der manchmal vernichtenden Kritik.1

Die zur Ehrenrettung des Nachkriegskinos formulierte Erinnerung Hansjörg Felmys bilanziert bedenkenswert treffend die Perspektive der Forschung auf eines der zentralen Genres der Zeit, den Heimatfilm der 1950er Jahre. Sofern sich der kritische Blick nicht von diesem als ästhetisch minderwertig deklarierten Genre abwendet, werden mit interessiertem Staunen und misstrauischem Unbehagen wieder und wieder die bloßen Zahlen tradiert. So wissen wir, dass Schwarzwaldmädel (1950, R: Hans Deppe) 16 Millionen,2 Grün ist die Heide (1951, R: Hans Deppe) über 19 Millionen3 und Der Förster vom Silberwald (1954, R: Alfons Stummer) 22 Millionen Zuschauer*innen4 in die Kinos geführt hat. Diese immense Popularität beim zeitgenössischen Publikum bestimmt denn auch die entworfenen genregeschichtlichen Entwicklungslinien. Ausgehend von den Bergfilmen der 1920er Jahre über die nationalsozialistischen Heimatfilm-Produktionen bis hin zur quantitativen Hochzeit des Genres in der

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Hansjörg Felmy: Vorwort. In: Gerhard Bliersbach: So grün war die Heide. Der deutsche Nachkriegsfilm in neuer Sicht. Weinheim, Basel 1985, S. 7 f., hier S. 7. Walter Uka: Modernisierung im Wiederaufbau oder Restauration? Der bundesdeutsche Film der fünfziger Jahre. In: Die Kultur der fünfziger Jahre. Hg. von Werner Faulstich. München 2002, S. 71–89, hier S. 79. Gertrud Koch u. a.: Die fünfziger Jahre: Heide und Silberwald. In: Der deutsche Heimatfilm. Bildwelten und Weltbilder. Bilder, Texte, Analysen zu 70 Jahren deutscher Filmgeschichte. Hg. von Wolfgang Kaschuba Tübingen 1989, S. 69–95, hier S. 88. Gerhard Bliersbach: So grün war die Heide. Der deutsche Nachkriegsfilm in neuer Sicht. Weinheim, Basel 1985, S. 47. 301

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Nachkriegskultur wird in der Forschung ein funktionsgeschichtlich zu verstehendes Genre vorgestellt.5 Gegen diese Phasen schematischer Massenfabrikation, die mit je unterschiedlicher ideologischer Ausgestaltung auf affektive Überwältigung und eskapistische Unterhaltung zugeschnitten sind, wird für die 1960er Jahre im Zeichen des beginnenden Autorenfilms eine scharfe Zäsur gesetzt, die zugleich den Blick auf den Gegenstand verschiebt. Denn diskutiert werden nicht mehr strukturelle Wiederholungen melodramatischer Narrationsmuster mit bekannten Plot- und Figurenkonstellationen sowie präformierten visuellen Strategien, die sich auf Produktionsseite zu einem dichten Netz an biografischen und ästhetischen Kontinuitätsfäden zwischen dem ‚Dritten Reich‘ und der Nachkriegskultur verknüpfen lassen,6 sondern einzigartige Kunstwerke einer künstlerischen Avantgarde, die sich der kritischen Arbeit am im Kitsch verstellten Bildbestand von ‚Heimat‘ und ‚Nation‘ verschrieben hat.7 Im Gegensatz zu der in diesen Zusammenhängen festzustellenden Aufmerksamkeit für den einzelnen Film arbeitet die Forschung zum Heimatfilm mit umfangreichen Korpora, die allerdings vornehmlich die Hochphase von 1951 bis 1958 abdecken und in denen überdies die Publikumslieblinge von damals – Schwarzwaldmädel, Grün ist die Heide und Der Förster vom Silberwald – den Status kanonischer Filme beanspruchen. Diese Verankerung der Kassenschlager als paradigmatischen, die Forschung (mit-)leitenden Ausprägungen des Genres in der Nachkriegskultur zeichnet nach der Kritik Sarah Kordeckis mitverantwortlich dafür, dass diejenigen inhaltlichen Themenfelder und diskursiven Bildstrategien, die in diesem filmischen Dreigestirn nicht belegt, aber gleichwohl für die Formierung des Genres und seine Wirkung in den 1950er Jahren

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Vgl. etwa pointiert Anton Kaes: From Hitler to Heimat. The Return of History as Film. Cambridge/Massachusetts, London 1989, S. 14 f., sowie in kritischer Auseinandersetzung mit diesen Zäsuren Alexandra Ludewig: Screening Nostalgia. 100 Years of German Heimat Film. Bielefeld 2011. Diese Wiedererkennbarkeit lässt sich auch darauf zurückführen, dass die Heimatfilme der 1950er Jahre vielfach Adaptionen alter UFA-Produktionen sind. Wenig überraschend sind denn auch angesichts personeller Kontinuitäten – Bobby E. Lüthge (d.i. Robert Erwin Konrad Lütghe) schrieb beispielsweise sowohl das Drehbuch zu Hitlerjunge Quex (1933) als auch zu Grün ist die Heide (1951) – bildsprachliche Kontinuitäten sowie die Wiederkehr bekannter Plotmuster. „Its cliché-ridden, Agfa-colored images of German forests, landscapes, and customs, of happiness and security, appeared to the young directors to be deceitful movie kitsch.“ Kaes, From Hitler to Heimat (Anm. 5), S. 15.

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bedenkenswert sind, ebenso unbesprochen bleiben wie der erneute Boom des Heimatfilms seit den 1990er Jahren samt seiner neokolonialen Verschattungen.8 Ihre Lektüre der Heimatfilme als „vielschichtiges historisches Palimpsest […], in dem sich widersprüchliche Bilder und Diskurse überlagern“,9 schließt an die bereits 1989 von Georg Seeßlen pointierte unheimliche Doppelbödigkeit der so farbenprächtigen Bilder an: Denken wir an die fünfziger Jahre zurück, wird nichts Ganzes daraus: kein Bild will sich einstellen, zu dem nicht sogleich ein ganz und gar anderes käme, kein Gedanke, dem nicht ein zweiter folgte, der mit dem ersten nicht so recht zusammenpassen will, kein Gefühl, zu dem nicht gleich ein anderes träte. Es war ja Nachkrieg, sagen wir uns, ein böses Reich war da zerschlagen worden, das nicht allein in Trümmern, sondern in nur allzu erkennbaren Einzelteilen noch vorhanden war.10

In der Auseinandersetzung mit den Verschiebungen, symbolischen Verdichtungen und dem in zu farbenfrohen Kulissen Überformten entschlüsselt die Forschung dann sukzessive, wie die Heimatfilme in ihrer spezifischen Genre-

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Die Verlängerung der Genregeschichte kann sich dabei nicht nur auf die rein quantitative Vehemenz berufen, mit der Thema und Genre wiederkehren. Zu bedenken wären vielmehr auch offensichtliche Aktualisierungen wie das Remake von Die Landärztin (1958, R: Paul May) als ARD-Mehrteiler (2005) sowie als neokoloniale Umschreibung vor exotischem Hintergrund in der Trilogie Folge Deinem Herzen, Für immer Afrika und Afrika im Herzen (2007). Vgl. hierzu Evelyn Annuß: Für immer unser Afrika. Zur neokolonialen Modernisierung des deutschen Heimatfilms. In: Maskeraden des (Post-)Kolonialismus. Verschattete Repräsentationen ‚der Anderen‘ in der deutschsprachigen Literatur und im Film. Hg. von Ortrud Gutjahr. Würzburg 2011, S. 323–345. Hinzu kommen u. a. „Ostalgie“ und „Westalgie“ Filme wie Sonnenallee (1999, R: Leander Haußmann) und Good Bye, Lenin! (2003, R: Wolfgang Becker) oder Herr Lehmann (2003, R: Leander Haußmann). Vgl. Ludewig: Screening Nostalgia, S. 311–337. Sarah Kordecki: Und ewig ruft die Heimat … Zeitgenössische Diskurse und Selbstreflexivität in den Heimatfilmwellen der Nachkriegs- und Nachwendezeit. Göttingen 2020, S. 50. Kordecki schließt hier an die These von Moltkes an, Rosen blühen auf dem Heidegrab (1952, R: Hans Heinz König) funktioniere als „historical palimpsest in which voices overlap“. Johannes von Moltke: No Place Like Home. Locations of Heimat in German Cinema. Berkeley 2005, S. 108. Georg Seeßlen: Durch die Heimat und so weiter. Heimatfilme, Schlagerfilme und Ferienfilme der fünfziger Jahre. In: Zwischen Gestern und Morgen. Westdeutscher Nachkriegsfilm 1946–1962. Hg. von Hilmar Hoffmann und Walter Schobert. Frankfurt a. M. 1989, S. 136–161, hier S. 136. 303

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ästhetik zeitgenössische Problemlagen verarbeiten.11 So richtet sich die Aufmerksamkeit auch auf die Frage, was im Abseits der produzierten Bilder, deren maximierter Schauwert den Blick zu bannen scheint, in Verstellung aufgehoben wird. In dieser Perspektive werden nach Kordeckis Lektüre der Heimkehrerzählungen von Mein Bruder Josua (1956, R: Hans Deppe) und Wo der Wildbach rauscht (1956, R: Heinz Paul) durch Assoziationen und Parallelen die gezeigten Bilder durchsichtig für die verstellten Zusammenhänge von Verbrechen und Schuld sowie das Phantasma der (jüdischen) Rache.12 Die Immenhof-Reihe ist in dieser Forschungsdiskussion bisher unbeachtet geblieben. Zwar finden sich vereinzelt kursorische Hinweise, die mitunter mehr über den Sehpunkt des Betrachters als über die Filme verraten,13 aber insgesamt bleiben die spezifische Genremodulation des Heimatfilms ins Ambiente des Ponyhofes und die Erweiterung der „Schauwerte“14 um das Pony doch bezeichnend unbesprochen. Diese Leerstelle ist erstaunlich, da Immenhof nicht nur dank regelmäßiger Wiederholungen im kollektiven Gedächtnis immer noch präsent ist15 und plurimedial im 21. Jahrhundert fortgeschrieben wird,16 11

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Vgl. Sören Philipps: Überformte gesellschaftliche Wirklichkeit im deutschen Heimatfilm der 1950er Jahre: Verlorene Söhne, Wilderer und andere Außenseiter. In: Krisenkino. Filmanalyse als Kulturanalyse: Zur Konstruktion von Normalität und Abweichung im Spielfilm. Hg. von Waltraud Wende und Lars Koch. Bielefeld 2010, S. 127–142. Vgl. Kordecki, Und ewig ruft die Heimat (Anm. 9), S. 78–99. In Seidls populärwissenschaftlicher Studie Der deutsche Film der fünfziger Jahre findet sich ein längerer Abschnitt zur Trilogie der 1950er Jahre, der sich aber in der Rekapitulation der Handlung vor allem voyeuristisch auf die Körper der Schauspielerinnen Heidi Brühl und Angelika Meissner richtet. So wird für Ferien auf Immenhof beispielsweise notiert: „Dick und Dalli haben sich inzwischen zu hübschen jungen Damen gemausert, zeigen auch noch immer gern ihre Reize vor.“ Claudius Seidl: Der deutsche Film der fünfziger Jahre. München 1987, S. 89. Rainer Rother: ‚Kriegserfahrung‘ im Heimatfilm. In: Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 50 (2001), H. 1, S. 321–331, hier S. 322. Zur Immenhof-Reihe gezählt werden Die Mädels vom Immenhof (1955, R: Wolfgang Schleif), Hochzeit auf Immenhof (1956, R: Volker von Collande), Ferien auf Immenhof (1957, R: Hermann Leitner) sowie Die Zwillinge vom Immenhof (1973, R: Wolfgang Schleif) und Frühling auf Immenhof (1974, R: Wolfgang Schleif). Im Folgenden werden Zitate aus den Filmen mit den Siglen ‚MI‘ (Mädels vom Immenhof), ‚HI‘ (Hochzeit auf Immenhof), ‚FI‘ (Ferien auf Immenhof) und ‚ZI‘ (Zwillinge vom Immenhof) unter Angabe des Time Codes nachgewiesen. Dazu gehören neben fan fiction  – etwa Sommernacht auf Immenhof (2002), Abschied vom Immenhof (2007), Rückkehr zum Immenhof (2010) sowie der für den Herbst angekündigte Roman Das Geheimnis vom Immenhof (2021) von Mario

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sondern gerade die ersten drei Filme, die in rascher Taktung 1955, 1956 und 1957 im Kino aufeinanderfolgten, eine fortlaufende Erzählung generieren, die im soziokulturellen Mikrokosmos des Immenhof’schen Familienbetriebes bundesrepublikanische Nachkriegsgeschichte sichtbar werden lässt. Zu diskutieren ist dabei eine Verschiebung der entworfenen Bilder, die sich punktuell verdeutlichen lässt im frappierenden Kontrast zwischen dem zerrissenen, notdürftig an Ruinen befestigten Werbeplakat „Das schöne Deutschland“ in Die Mörder sind unter uns (1946, R: Wolfgang Staudte)17 und dem unwillkürlichen Ausruf der Britin Mrs. Fowler in Die Mädels vom Immenhof (1955): „I never knew Germany was such a lovely country“ (MI 13:44–13:47). Gerade im Vergleich mit der literarischen Vorlage des ersten Filmes wird auffällig, wie nachdrücklich die im Roman erzählte Geschichte männlicher Adoleszenz in der filmischen Adaption erweitert wird um die Verarbeitung weiterer gesellschaftspolitischer Diskurse der Zeit. Als integrales Vehikel fungiert in diesem Zusammenhang die Restitution der familiären Ordnung und die mit ihr ermöglichte Umstellung von Schulden auf Zukunftsinvestitionen. Die literarische Vorlage für Die Mädels vom Immenhof ist Ursula Bruns’ Dick und Dalli und die Ponies mit dem bezeichnenden Untertitel Die Geschichte zweier handfester Mädchen und eines Jungen, aus dem auch noch etwas wurde (1952).18 Die paratextuell angedeutete – und im Wissen um das Genre Pferdebuch überraschende – Schwerpunktsetzung auf männlicher Adoleszenz löst der Text in Handlung und Perspektivstruktur ein. Denn zentrales Thema ist, wie sich Ethelbert, der zur großen Enttäuschung von Dick und Dalli zunächst seinem Namen nicht gerecht wird und „so gar kein Wiking ist“ (DD 31), sondern sich als kränklicher, egoistischer und wehleidiger Träumer erweist (DD 45), zum „richtige[n] Junge[n]“ (DD 174) wandelt.19 Fluchtpunkt dieses Ent-

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Würz, dem Direktor des Immenhof-Museums – auch weitere filmische Texte, etwa die Fernsehserie Immenhof (1993–1995, 2 Staffeln) oder Immenhof – Das Abenteuer eines Sommers (2019, R: Sharon von Wietersheim). Nach Baer signalisiert dieses Plakat „a visual irony […] that points to [a] critical (rather than cynical) evaluation of the postwar situation“. Hester Baer: Dismantling the Dream Factory. Gender, German Cinema, and the Postwar Quest for a New Film Language. New York, Oxford 2009, S. 32. Ursula Bruns: Dick und Dalli und die Ponies. Die Geschichte zweier handfester Mädchen und eines Jungen, aus dem auch noch etwas wurde. Freiburg i. Br. o. J. [1952]. Im Folgenden nach dieser Ausgabe mit der Sigle ‚DD‘ unter Angabe der Seitenzahl in Klammern nachgewiesen. Für eine ausführliche Rekapitulation dieses Prozesses vgl. Danielle Cerorina: Das Glück der Erde lesend erleben. Mädchen-Pferdebuchserien  – eine genderorientierte, strukturelle und inhaltliche Untersuchung. Würzburg 2009, S. 136–149. 305

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wicklungsprozesses ist, dass Ethelbert Beziehungen zu Welt, Mitmenschen und Ponys als Wert an sich erkennt. Statt sich weiterhin in phantasmatischen heroischen Selbstimaginationen aus der Literatur zu verlieren – u. a. als „Polarforscher“ (DD 37), „verwundeter Löwenjäger“ (DD 45), „russischer Großfürst“ (DD 75), „einsamer König auf der Flucht vor Rebellen“ (DD 96) – und sich der Ponys als notwendiger Requisiten zu bedienen, findet Ethelbert zu Tatkraft und Zugewandtheit in der Wirklichkeit. Aus dem Heranwachsenden, den Dick und Dalli bei seiner Ankunft für eine „junge Dame“ (DD 26) gehalten haben, wird ein selbstbewusster Reiter, der am Ende verkündet: „Ein Glück nur, daß Islandponies auch Männerpferde sind!“ (DD 174) Zentral für diesen Entwicklungsprozess, dessen Fortschritte am Verhältnis zu den Ponys vermessen wird, ist ein Erziehungsprogramm der Leibesertüchtigung im Zeichen der Abhärtung (DD 124) getreu der Prämisse: „Aufs Durchhalten kommt’s an […], im Pferde- und im Menschenleben.“ (D 104) Während der Richard Dehmels Anno Domini 1812 zitierende Träumer buchstäblich im Graben landet (D 75 f.), werden körperliche Kraft, Arbeitswille in der Bewältigung des Alltags sowie Mensch und Tier zugewandte Freundlichkeit belohnt. In dieser Absage an die große heroische Tat, die in der lyrischen Erinnerung an Napoleons Russlandfeldzug zugleich verstellt an den Zweiten Weltkrieg zurückgebunden wird, und an eine rein materiell bestimmte Lebensführung, die das Gegenüber nur als zu entlohnenden Funktionsträger anerkennt, verbindet der Text die Absage an nationalsozialistisch geprägte Männlichkeitsideale mit einem Widerstand gegen eine an materialistischen Prämissen ausgerichtete Lebensführung. Gegen Pathos und Snobismus wird als Idealbild ein gesunder, leistungsfähiger Körper präsentiert, der sich in der Gemeinschaft den täglichen Arbeiten stellt und dem Verhaltenskodex verpflichtet, „nicht mehr gekränkt, wehleidig oder rücksichtlos zu sein“ (DD 170). Integrales Element dieser Erziehung zur Wertschätzung ist der angemessene und verantwortungsbewusste Umgang mit Geld in einem Familienbetrieb, der dank der Marktmechanismen von Angebot und Nachfrage als gut situiert vorgestellt wird. Die spezifischen Qualitäten der gezüchteten Ponys bürgen für ein florierendes Geschäft: „Ponies waren stark und willig und geschickt und kosteten soviel weniger Futter als große Pferde – kein Wunder, daß sich alle Welt um sie riß.“ (D 110). Die Filme verschieben derartige Lobgesänge auf das Pony an sich in die wiederkehrenden Lieder des Immenhof-Soundtracks. Vorgestellt wird dann allerdings nicht mehr vornehmlich das kluge, „hart[e] und widerstandsfähig[e]“ (DD 134) Arbeitstier, mit dessen Leistung „ein ganze[r] Knecht […] eingespart“ werden kann (DD 99), sondern das Pony als „Freund“: „Bist du froh auf ihm geritten, / über Wiesen, Flur und Feld, / schenk ihm nur ein Stückchen 306

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Zucker, / denn dein Pony nimmt kein Geld!“ Im Kontrast zu dieser Distanzierung des Kinderchors von materiellen Dingen in der Beziehung der Reiter*innen zu ihren Ponys entwerfen die Filme immer wieder aufs Neue eine ökonomisch prekäre Ausgangskonstellation für den Immenhof: Der Gerichtsvollzieher droht aufgrund ausstehender Zahlungen mit Pfändung (Die Mädels vom Immenhof), die Zwangsversteigerung kann nicht mehr abgewendet werden (Hochzeit auf Immenhof) und im gerade eröffneten Pony-Hotel bleiben die Gäste aus (Ferien auf Immenhof). Bereits die knappe Zusammenfassung der jeweils entworfenen finanziellen Zwangslagen macht deutlich, dass im Erzählen über die Krisen des Immenhofes grundlegende gesamtgesellschaftliche Veränderungen verarbeitet werden. Ein essenzieller Unterschied besteht so im thematischen Zuschnitt der jeweils erzählten finanziellen Krisensituationen, lässt sich doch im Sprechen über finanziellen Mangel eine Umwandlung von Schulden in notwendige Investitionen beobachten. An die Stelle der Tilgung von Altlasten, die als „Zahlungsbefehl“ (MI 16:51 f.) des Finanzamtes erscheinen und innerhalb von „drei Tagen“ (MI 17:08) bzw. „vier Wochen“ (HI 03:26) zu begleichen sind,20 tritt die risikobereite Investition in die Gestaltung und Planung der eigenen Zukunft. Auseinanderzusetzen hat man sich folglich nicht mehr mit der Zahlungsforderung einer anonymen Behörde, sondern es gilt für die zukünftigen Planungen und Projekte finanzkräftige Geldgeber und Kooperationspartner zu gewinnen, die individuell unter Aufbietung von Charme und Gewinnaussichten überzeugt werden wollen. Erzählt wird mithin in der Trilogie der 1950er Jahre von der sukzessiven Modernisierung eines Familienbetriebes, der aufgrund nachlassender Nachfrage nach Ponys als Arbeitstieren in der Landwirtschaft das touristische Vergnügungs- und Erholungspotenzial von Reiterferien in der Heimat zu erschließen sucht. Nicht zufällig setzen die Filme für die Erzählung dieser Geschichten von Schulden und Investitionen in ihren je gegenläufigen Zeitkonfigurationen jeweils andere Verantwortliche im gestifteten Familienverbund fest. Unter Leitung der Matriarchin Henriette Jantzen und ihrem Leitspruch: „Sich regen bringt Segen“ (MI 03:12 f.) wird die Ponyzucht zunächst traditionsbewusst ver20

Nach Seeßlen ist weist diese „geradezu obsessive Wiederkehr des Motivs von Pfändung und Steuerschulden im deutschen Unterhaltungsfilm […] zum einen auf die Gefährdung des Einzelnen in einer boomenden Ökonomie, die ihre Opfer unter denen fordert, welche nicht ‚mit der Zeit’ […] gehen können. Zum anderen aber ist dies auch eine Möglichkeit, ein Unbehagen am neuen, so zivilen Staat zu formulieren, der weniger als Regulator denn als stiller Teilhaber gegenüber dem Wirtschaftswunder wirkte und nicht unbedingt auf der Seite des ‚kleinen Mannes‘ stand.“ Seeßlen, Durch die Heimat und so weiter (Anm. 10), S. 145. 307

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waltet. Seit dem Tod ihres Mannes, über den das Publikum nichts Näheres erfährt, leitet sie das Gestüt – und hält in der Erzählgegenwart so hilflos wie stur am tradierten Geschäftsmodell fest: „Ich weiß nicht. Über hundert Jahre gehört uns das alles hier und immer ist’s gut gegangen. Und jetzt auf einmal … Ich kann doch nicht mehr tun als alles zusammenhalten, Ponys züchten und verkaufen“ (MI 18:58–19:07). Angedeutet wird die Geschichte einer langjährigen prekären Erhaltung des Gutes, die sich in der Erzählgegenwart zur akuten Krise zuspitzt. Konfrontiert mit dem Zahlungsbefehl des Finanzamtes, für den nur ein Aufschub von drei Tagen gewährt wird, droht dem unrentabel gewordenen Familienbetrieb aufgrund fehlender Nachfrage der Bankrott: „Keiner will mehr Ponys kaufen. Arme Oma.“ (MI 58:37–58:42) Denn Ponys werden offenbar nur noch als Aufmerksamkeit erregende Kuriosität zu Werbezwecken gekauft: „Mal wirklich was Neues in der Reklame! Ich wette, da werden sich alle Leute nach umsehen.“ (MI 45:34 45:39) In zwei zentralen Dialogszenen schlüsselt der Film die Gründe für die gegenwärtige Zwangslage auf. Zum einen weigert sich Henriette Jantzen seit Jahrzehnten, Alternativen zu dem ererbten Geschäftsmodell zu entwickeln. So betont Dr. Pudlich, er habe „seit vierzig Jahren“ – wenn auch erfolglos – geraten: „Stellen Sie sich um auf was anderes.“ (MI 25:08–25:13) Neben Stolz und Traditionsbewusstsein in der Pflege des Erbes werden komplementär Vorbehalte gegenüber dem Neuen als Fremdem geltend gemacht. Denn Henriette Jantzens Abwehrhaltung gegenüber neuen Ideen verbindet sich mit grundsätzlichen Vorbehalten gegenüber Jochen von Roth als einem Mann ohne Vergangenheit aus der Fremde: „Man weiß ja nicht einmal, wo er herkommt. Ist nichts und hat nichts, außer seinem Weiberzirkus. […] Reiterferien am Rande der Stadt. So’n Mumpitz!“ (MI 19:32–19:44) Der Film löst diese engagiert und bestimmt vorgetragene Zurückweisung des Fremden und Neuen, die sowohl die Zukunft des Immenhofes als auch das Liebesglück von Angela und Jochen von Roth bedroht, indem Henriette Jantzen von der strengen Matriarchin, die am Schreibtisch die Geschäfte des Ponygestüts führt, zur hilflosen Oma mutiert, die erschöpft auf dem Sofa niedersinkt. In dieser figurativen Gegenüberstellung von weiblicher Ohnmacht und männlicher Tatkraft vollzieht sich neben der Ablösung der Vergangenheit durch die Zukunft zeitgleich die Restauration ‚normaler‘ Verhältnisse in zweierlei Hinsicht: die Rekonfiguration der Geschlechterordnung und die Rückkehr zu ‚normalen‘ Erbfolgen. Henriette Jantzen verkörpert eine mit Schulden beladene Vergangenheit, die sich weder der Lösung der Probleme der Gegenwart noch der glückenden Gestaltung der Zukunft gewachsen zeigt. Der Film versagt sich jedoch eine scharfe Anklage gegen Versäumnisse und Schulden der von ihr repräsentierten 308

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Generation, sondern heftet diese Assoziationszusammenhänge an eine stets respektierte und geliebte Figur, die namentlich in ihrem Verhalten gegenüber dem Gerichtsvollzieher Winkler das Mitleid des Publikums, in der Auseinandersetzung mit dem „Wucherer“ (MI 35:33) Ottokar Windheim Bewunderung erregt. Der gewährte Zahlungsaufschub von drei Tagen eröffnet den notwendigen Erzählraum, um nicht nur die Zuspitzung des Konfliktes zu entfalten, sondern überdies die zeithistorische Verankerung der Figuren erneut aufzurufen und die Zusammenhänge von Schulden und Schuld, Heimat und Vertreibung zu verdichten. So verschränkt der Bericht Angelas die Absage der Banken in der Erzählgegenwart mit dem Figurenschicksal von Flucht und Vertreibung: „Auf allen Banken bin ich gewesen. Nichts! Was ich da alles an Papieren beibringen soll, das haben wir ja nicht mehr!“ (MI 34:57–35:04) Der ausdrücklich thematisierte Verlust nunmehr wichtiger Papiere steht metonymisch ein für weitaus gravierendere Verlusterfahrungen durch Flucht und Vertreibung, die allerdings nicht explizit ausgeführt werden. Die für das Genre des Heimatfilms programmatische Vagheit in der Referenz auf vergangenes Leiden wird in diesem Erzählstrang um eine visuelle Unbestimmtheitsstelle erweitert, die sichtbar, aber verstellt Schulden mit Schuld korreliert.21 Denn als Oma Jantzen entgegen Dr. Pudlichs Warnungen den „Halsabschneider“ (MI 35:33) Windheim aufsucht, um sich Geld zu leihen, ist in seinem Geschäftsraum prominent eine Menora im Hintergrund platziert. Die in ihrem Zeichen geführten Verhandlungen scheitern, ohne dass jenseits eines Nicht-Wollens ein nachvollziehbarer Grund genannt würde. Unterstellen kann das Publikum allenfalls, dass Windheims Vorschlag wohl nicht innerhalb der vom Gerichtsvollzieher gewährten Frist von drei Tagen realisiert werden kann: WINDHEIM : Ponys? Ponys sind doch keine Objekte. Ja, wenn Sie gesagt hätten Kaninchen, die kann man wenigstens schlachten, nicht wahr. JANTZEN : Wie viel Prozent Zins verlangen Sie denn? WINDHEIM : Zinsen? Wo sind erstmal Sicherheiten? JANTZEN : Sicherheiten, äh, die … die Sicherheiten liegen doch in Grund und Boden, in Haus und Mobiliar. WINDHEIM : Kann ich das Zeug verkaufen, ich setze glatt zu. 21

Zu der Vertretung von ‚Schuld‘ durch ‚Schulden‘ im Nachkriegsdiskurs vgl. Sigrid Weigel: Shylocks Wiederkehr. Die Verwandlung von Schuld in Schulden oder: Zum symbolischen Tausch der Wiedergutmachung. In: Fünfzig Jahre danach. Zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus. Hg. von Sigrid Weigel und Birgit R. Erdle. Zürich 1996, S. 165–192. 309

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JANTZEN : Erzählen Sie keine Märchen. Wollen Sie mir Geld leihen oder nicht? WINDHEIM : Aber ich bitte Sie, einer so angesehenen Persönlichkeit immer. Nur müsste ich das Ganze mal zusammenrechnen, ob da vielleicht … JANTZEN [unterbricht ihn]: Also Sie wollen nicht. Aber lassen Sie sich gesagt sein, ich will auch nicht. WINDHEIM : Aber gnädige Frau! Bleiben Sie doch. (MI 41:28–42:05)

Schließt das sichtbare religiöse Symbol des Judentums die in der Figurenrede vorab explizierte Verschränkung von Wucherei und Zinsen entlang des bekannten antisemitischen Stereotyps vom geldgierigen Juden zusammen, so evoziert die Verhandlung weitere diskursive Versatzstücken aus dem Imaginationsfundus des Antisemitismus, ohne Windheim als jüdische Figur anzusprechen. Neben Geldgier, Zinswucher und die Verfügungsgewalt über das Kapital tritt die Gleichgültigkeit gegenüber Grund und Boden als ‚ewigen‘ Werten, die sich als Anspielung auf die antisemitische Vorstellung des Ahasver lesen lässt. Dieser Rekurs auf antisemitische Zuschreibungen und Hetzbilder mag auch die Vehemenz erklären, mit der Henriette Jantzen die Verhandlung rigoros abbricht, ohne die eigene zeitliche Bedrängnis offenzulegen. In der Symbolsprache des Filmes wird im Gegenschnitt zur vorangehenden Szene  – dem ersten Kuss zwischen Jochen und Angela im Stall – überdeutlich formuliert, dass Erhalt und Fortbestand des Immenhofes, kurz: die Zukunft der Familie und Fortsetzung der Genealogie, nicht an einen mit jüdischen Konnotationen versehenen Kredit zu knüpfen ist, sondern an die Erweiterung des Familienverbundes, mit dem die ausgesparte Vätergeneration sukzessive wieder in ihr Recht eingesetzt wird.22 Denn die Lösung der gegenwärtigen angespannten finanziellen Lage obliegt Jochen von Roth, der das bis dato gepachtete Forsthaus kauft, den für angemessen befundenen Preis bar auf den Tisch legt und gleichzeitig den Willen bekundet, Angela zu heiraten (MI 1:15:40–1:16:30).23 22

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Zu bedenken ist hier auch die gewählte Besetzung. Während Paul Klinger, der Jochen von Roth verkörpert, 1907 geboren wurde, ist Christiane König, die Angela spielt, 1932 geboren. Der sichtbare Altersunterschied zwischen beiden verweist indirekt auf die klaffende Leerstelle in der Familienkonfiguration des Immenhofs, die sich in rein weiblicher Genealogie aus Enkel- und Großelterngeneration zusammensetzt. In Die Mädels vom Immenhof ist gegen Ende die Verlobungsfeier der beiden zu sehen. Im darauffolgenden Film Hochzeit auf Immenhof wird von Roth zu Beginn als Witwer vorgestellt: „Ein Pech hat der Roth! Vor ’nem Jahr stirbt ihm die Frau

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Die parallel in Szene gesetzte Verpflichtung auf Grund und Boden sowie die Ankündigung, durch Heirat der Familie beizutreten, weist dem ‚zurückgekehrten Fremden‘ von Roth einen eindeutigen Ort im Mikrokosmos der erzählten Ordnung zu. Denn bemerkenswerterweise verschiebt die filmische Adaption die im Roman entwickelte Biografie von Roths in ihren historiografischen Eckpfeilern auf Angela und ihre Schwestern. Von Roth tritt in der Folge nicht als Vertriebener in Erscheinung, der „in dem schauerlichen Winter damals“ mit seinen Pferden „den Marsch von Ostpreußen nach hier“ (DD 131) bewältigt hat. Die im intimen Gespräch mit Angela erzählte Lebensgeschichte wird vielmehr als Prozess der Selbsterkenntnis gestanden. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie der aus Krieg und Gefangenschaft erschöpft und mutlos ‚zurückkehrende Fremde‘ zu der – auch aus der zeitgenössischen Kriegsliteratur bekannten – Verhaltnsmaxime des Aushaltens und der Handlungsprogrammatik des (Wieder-)Anpackens findet: JOCHEN : Heute vor zwei Jahren bin ich zum ersten Mal nach Immenhof gekommen. […] Kurz geschoren. Mit schiefgetretenen Absätzen. Naja, wie man eben so aussieht, wenn man zurückkommt […] Ich glaube Sie ahnen gar nicht, was ich Ihnen alles zu verdanken habe. […] Ich habe von Ihnen gelernt, dass alles noch einen Sinn hat. Dass man nicht einfach die Flinte ins Korn wirft, sondern dass man anpacken muss. Wie und wo ist ganz egal, nur anpacken muss man. ANGELA : Das wollen Sie von mir gelernt haben? JOCHEN : Mhm. Einfach dadurch, weil ich gesehen habe, Sie tun’s auch. Denn Sie hatten ja schließlich auf Ihre Art genauso viel hinter sich. Die Eltern waren nicht mehr da, dann die Flucht hierher mit den zwei kleinen Schwestern. ANGELA : Naja, ein Vergnügen ist es nicht gewesen, tausend Kilometer zu Fuß, aber deshalb … JOCHEN : Ah, lassen Sie nur. Das war schon was. Und als ich das hörte, hab’ ich mich zum ersten Mal in meinem Leben richtig geschämt. Weil ich eigentlich schon hatte aufgeben wollen. (MI 25:55–26:55)

Die in Schlagworten skizzierte Geschichte der Rückkehr ruft in ihrer metonymischen Verkürzung zeitgenössische Wissensbestände auf, deren konkrete Ausgestaltung der Einbildungskraft des Publikums aufgegeben ist. Tilgt bereits der Nachdruck, mit dem Jochen als Herr von Roth angesprochen wird, jede weg, dann ging die Sache mit der Auswanderung schief, und jetzt hat er die ganze angeheiratete Familie aufm Hals.“ (HI 9:35–9:45) 311

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Vermutung einer jüdischen Herkunft, so kann sich der Film zudem darauf verlassen, dass die zitierten bildlichen Fragmente im zeitgenössischen Diskurs eindeutig als Repräsentationen einer Heimkehr aus den Lagern der Kriegsgefangenschaft wahrgenommen werden.24 Die ikonografischen Bildausschnitte vom kurz geschorenen Haar und den „schiefgetretenen Absätzen“ werden vom Publikum als symbolische Details einer Vergangenheit von Kriegsgefangenschaft, Lager und die mühevolle Rückkehr gemäß des Skriptes So weit die Füße tragen gelesen.25 Infolge der erneut auffälligen Vagheit des Erzählten, in dem Vergangenheit nur im Ausschnitt der erinnerten Leidenssymbole und der Anerkennung für ausgehaltenes Leiden erscheint, bietet der Dialog Anschlussstellen für vielfältige Assoziationen, die sich sowohl auf individuelles Erleben als auch auf vorgängige filmische und literarische Verarbeitungen der angesprochenen historischen Ereignisse stützen können. Nicht zufällig zitiert die Szene eine aus dem Trümmerfilm (Die Mörder sind unter uns, R: Wolfgang Staudte, 1947) und vorgängigen Heimatfilmen (Ännchen von Tharau, R: Wolfgang Schleif, 1954) bekannte Konstellation zwischen den Geschlechtern, in der der demoralisierte, gebrochene Mann durch zwischenmenschliche Anteilnahme und das bewunderte Beispiel der sich tatkräftig dem Alltag stellenden Frau zu sich selbst und neuem Lebensmut findet.26 Diese Zurechtstellung der Vergangenheit gibt als idealtypisches Verlaufsprotokoll eine bezeichnende historische Taktung von Aushalten und Anpacken vor, wobei sowohl das passive Erleiden als auch die aktive Betriebsamkeit zur Erreichung einer neuen Normalität als Leistung anerkannt werden. In dieser Einhegung des Besprechungswürdigen reduziert sich die diskursive Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Vergangenheit somit auf die Idealisierung der Tatkraft, mit der die eigene Opferposition überwunden wurde; das historische Bewusstsein endet bei der undatierten Nachkriegserfahrung.

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Vgl. hierzu Norman Ächtler: Das Lager als Paradigma der Moderne. Der Kriegsgefangenendiskurs in der westdeutschen Nachkriegsliteratur (1946–1966). In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 87 (2013), Nr. 2, S. 264–294. Angesichts der zeitlichen Angabe, von Roth sei „vor zwei Jahren“, d. h. 1953 erstmals auf dem Immenhof eingetroffen, lässt der Film sein Publikum als historische Referenz eine Entlassung aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft vermuten. Josef Martin Bauer: So weit die Füße tragen. München 1955. Vgl. Verena Feistauer: Eine neue Heimat im Kino. Die Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen im Heimatfilm der Nachkriegszeit. Essen 2017, insbesondere S. 189–224 (zu Ännchen von Tharau) und S. 333–340 (zu Die Mädels vom Immenhof). Zu der hier behandelten Szene vgl. ebd., S. 335 f.

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Im Film werden diese beiden vergangenen Phasen versehrter Männlichkeit zwar im Rückblick besprochen, aber nicht gezeigt. Die Diskrepanz zwischen der erinnernden Rede vom lädierten und mutlosen Heimkehrer und der körperbildlichen Inszenierung Jochen von Roths on screen stellt sichtbar das Ergebnis des Wandlungsprozesses vor Augen. Der Film schiebt vor die zitierten, aber nicht gezeigten historischen Bilder von abgezehrten, sich dahinschleppenden Körpern, denen die Zeichen von Niederlage und Schuld eingeschrieben sind, nicht nur das muntere Treiben der anarchischen Kinderbande in der Natur, sondern ebenso die Dressurvorführung der Gegenwart, in der Ross und Reiter ein harmonisches Schauspiel von Kraft, Kontrolle und Disziplin bieten (MI 36:39– 37:25). Der ausgestellte Stolz über das bereits wieder Erreichte begründet einen Verhaltenskodex, der als Lehre aus der Vergangenheit ausgewiesen wird und doppeldeutig beruflichen Erfolg und Glück in der Liebe in eins setzt: JOCHEN : Na ja, dann können wir ja gleich mal darauf anstoßen, was wir uns im Leben so alles vorgenommen haben. Bei mir ist das jedenfalls ’ne ganze Menge. ANGELA : Das meiste kriegt man ja doch nicht. JOCHEN : Doch, das kriegt man schon, wenn man nur richtig will. Das hab’ ich doch von Ihnen gelernt. Wenn man sich Mühe gibt und Ausdauer hat und wenn man vielleicht ein bisschen Gewalt anwendet … [Jochen küsst Angela]. Glaubst Du nicht, dass man damit Erfolg haben könnte? (MI 40:50– 41:26)

Die in diesem Gespräch fortgeführte Chronik selbstreflexiven Verhaltens in der Nachkriegszeit moduliert von Aushalten und Anpacken zum Zupacken und erweitert die ausbuchstabierte Handlungsprogrammatik von Mühe und Ausdauer um das eigene Wollen. Auf die Erinnerung an die Situation der Heimkehr und die Angewiesenheit auf Anteilnahme und Wohlwollen der Anderen für die Bewältigung der Gegenwart folgen die Leitmaximen, mit denen eine glückende Gestaltung der Zukunft möglich scheint. Im impliziten Verweis auf gesamtgesellschaftliche Umbrüche der Nachkriegszeit rückt nun selbstbestimmtes Planen entlang der eigenen Vorstellungen von einem glückenden Leben in den Fokus. In der restituierten Normalität beansprucht mit der Wiederherstellung eines Zukunftshorizontes das Wollen wieder sein Recht. Die um die Nachkriegsgeschichte männlicher Subjektivität zentrierte Gesprächsführung, in der zugleich die Intimität des Paares verhandelt wird, bereitet in der Bild-TextSchere von erinnerter Gebrochenheit und in Szene gesetzter Tatkraft auch die Restitution normalisierter Liebesbeziehungen vor, in der die Ankündigung von 313

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Gewalt  – begleitet von der Abschwächungsfloskel „ein bisschen“  – in der bekannten Maskerade einer romantischen Trope wiederkehrt, die weibliche Passivität und männliche Entschlossenheit zusammendenkt.27 Der Moment züchtiger Hingabe im Stall28 stellt einmal mehr die rekonfigurierte Normalität in den Beziehungen der Geschlechter aus, die sich nach der ‚Unordnung‘ der Nachkriegszeit durchsetzt und nach der Überwindung der Krise nun in der Lage ist, Familie und Zukunft zu gestalten. Der Film gestaltet die im literarischen Text zentral gesetzte Entwicklungsgeschichte Ethelberts als verstellte Wiederholung der skizzierten Lebensgeschichte Jochen von Roths im kleinen, alltäglichen Leben. In dieser Perspektive erklärt sich die thematische Ausgestaltung des ‚Männergespräches‘ zwischen Jochen von Roth und Ethelbert sowie die exaltierte Szene mit Dick am verstopften Wasserlauf. Denn Ethelbert durchläuft in seinen Lehrjahren der Männlichkeit nicht nur den im literarischen Text durchgespielten Entwicklungsprozess. Vielmehr wird dem verwöhnten Angeber aus der Stadt, der mit seiner Herablassung gegenüber dem dörflichen Mikrokosmos und der Beschämung Dicks seine Umgebung brüskiert, der Verhaltenskodex des heimkehrenden Soldaten zur Nachahmung empfohlen: VON ROTH : Na, nun schieß mal los mein Junge. Wir sind ja schließlich hier zwei Männer unter uns. ETHELBERT : Ach, es hat ja doch alles keinen Zweck.

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Irritierenderweise betont Seidl dagegen, Angela sei „schon verhärtet: Als von Roth sie zum ersten Mal küßt, steht sie stocksteif da, so als erfüllt sie nur eine lästige Pflicht.“ Seidl, Der deutsche Film der fünfziger Jahre (Anm. 13), S. 87. Bedenkt man die von Keun persiflierten Skripte der Nachkriegsliteratur, so fällt die Sittsamkeit der beiden Liebespaare im Stall – Angela und Jochen sowie Dick und Ethelbert – umso mehr ins Auge: „Außereheliche Liebesereignisse darf man nur unter bestimmten Voraussetzungen stattfinden lassen. In Verbindung mit Naturereignissen sind erotische Ausschreitungen geduldet. Zum Beispiel: die herb-blonde Erdmute und der seelisch leidende Horst Dieter reiten durch Wald und Feld. Ein Gewitter überrascht sie. Es hagelt, blitzt, schneit. Man muß schreiben: ‚die Elemente waren entfesselt.‘ Erdmute und Horst Dieter flüchten in eine Scheune, die sich zufällig in der Nähe befindet. In der Scheune ist Heu. Dunkel ist es auch. Horst Dieter reißt Erdmute an sich. Alles versinkt um sie. Der Leser verzeiht ihnen, weil Gewitter, Scheune und Heu mildernde Umstände bedeuten.“ Irmgard Keun: Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen. Das Werk. Bd. 3: Texte aus der Nachkriegszeit und der Bundesrepublik 1946–1962. Im Auftrag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Wüstenrot Stiftung hg. von Heinrich Detering und Beate Kennedy. Göttingen 32018, S. 192 f.

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VON ROTH : Keinen Zweck? Das musst du mir mal erklären. Du hast hier lauter reizende Leute um dich, hübsche Mädchen, süße Ponys, eine bezaubernde Großmutter. Was hat denn da keinen Zweck? ETHELBERT : Na, eben alles. Wenn die mich einfach abschieben. […] VON ROTH : Ich mein ja nur, die Anderen sind ja nicht nur für dich da, du bist auch für die Anderen da. ETHELBERT : Die haben mich doch einfach ausgeschlossen. Die wollten mich ja gar nicht. VON ROTH : Ha! Einen richtigen Kerl wollen die immer! Aber das ist nun nicht so, dass du einfach nur anzukommen brauchst, hoppla, guten Tag, hier bin ich, und dann sagen die Anderen herzlich willkommen. Ne, da muss man schon von sich aus was dazugeben. ETHELBERT : Na was denn? VON ROTH : Na sich selber, Menschenskind! ETHELBERT : Na ja, aber wenn doch die Anderen immer … VON ROTH : Ha, die Anderen, die Anderen, immer die Anderen! Auf dich kommt es an, mein Junge! Nicht auf die Anderen. Aber du bist bloß böse, weil nicht alles so glatt geht wie du’s gerne möchtest. Hast du ne Ahnung was alles drin ist in so einem Leben. Hör mal zu, Ethelbert, Mir ist es mal ähnlich gegangen. Ich habe auch geglaubt, was ich wunders für ein Kerl wäre. Und da kam eine Zeit, du, da war ich so klein. Und da hab ich auch gedacht, es hat alles keinen Zweck. Und du, dann gibt’s nur zweierlei: Entweder man ist so blöde und macht Feierabend oder man boxt sich durch. Das war gar nicht einfach, aber ich habe mich durchgeboxt. Und du wirst dich jetzt auch durchboxen, mein Junge, verstanden? ETHELBERT : Ja. Ja aber wie denn? VON ROTH : Na genau wie ich. Wie ich mir einbildete, dass die Anderen nicht wollten, da wollte ich. Mit aller Gewalt. Und nach kurzer Zeit hatte ich lauter gute Freunde. Kannst Du das schon begreifen? […] Du hast es doch ganz einfach, du brauchst dich doch bloß mit ein bisschen guten Willen auf die Anderen einzustellen. Ist das so schwer? (MI 52:57–54:36)

Der Mutlosigkeit und Verzweiflung des Jungen angesichts der erfahrenen Zurückweisung seiner Hilfsangebote begegnet Jochen von Roth mit einem befremdlichen Rückblick auf die eigene Biografie, die kontextlos als Abfolge von Selbstüberschätzung, Enttäuschung des Idealbildes und Weg in die Gemeinschaft gefasst wird. Unentscheidbar bleibt bezeichnenderweise, ob von Roth in dieser Szene seine Kriegserfahrung rekapituliert oder seine Integrationsleistung entlang dieser Koordinatenlinien vermisst. In jedem Fall scheint die zur Entscheidung gestellte Wahl zwischen Resignation und Suizid auf der einen Seite, Durchhalten und sich unbeirrbar in den Verhältnissen bewähren auf 315

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der anderen Seite angesichts der entworfenen Konfliktlage – die Ponybande und namentlich Dick weisen Ethelberts Trost nach dem Verkauf von fünf Ponys, seine Aufforderung zum Tanz und seine Hilfe bei der Heuernte zurück – doch merkwürdig überzogen. Die hyperbolische Kompromisslosigkeit, mit der Jochen von Roth seinen Rat formuliert, verrät mithin mehr über seine eigene Vergangenheit als ‚zurückkehrender Fremder‘: die zumindest angedeutete Diskrepanz zwischen der Vorstellung des heroischen männlichen Ichs im Krieg und der erfahrenen Ohnmacht und Depersonalisierung bzw. das Unvermögen, in der vorgefundenen gesellschaftlichen Ordnung reibungslos zu funktionieren, die Beschämung angesichts weiblicher Tatkraft und die schmerzhafte Erfahrung, überflüssig zu sein. Gegen diese demütigende Erfahrung von Zurückweisung und fehlender Wertschätzung empfiehlt von Roth die Besinnung auf die eigenen männlichen Tugenden und die Behauptung eines Platzes „[m]it aller Gewalt“.29 Entsprechend aufgebracht reagiert Ethelbert, als Dick erneut sein Hilfsangebot ablehnt: ETHELBERT : Wenn einer mal was Falsches getan hat und es einsieht, dass es falsch war, warum straft ihr ihn dann noch, warum lasst ihr ihn nicht mal mit dabei sein? Ich will nicht mehr allein sein. Hier, ich will helfen, da, ich habe keine Angst vor Schmutz. Ich will nicht mehr allein sein! (MI 1:00:09– 1:00:23)

In dieser exaltiert formulierten Anklage vibriert bei aller Verstellung in eine Coming-of-Age-Geschichte das Phantasma des Kollektivschuldvorwurfs und die zeitgenössische Empörung angesichts der justiziellen Aufarbeitung des ‚Dritten Reiches‘ unter alliierter Kontrolle nach.30 Ungeachtet der Floskelhaftigkeit und melodramatischen Zuspitzung wird sprachlich doch sichtbar, dass in dieser Szene mehr auf dem Spiel steht als das Wohlbefinden eines einzelnen Heranwachsenden. Sprachlich wird dies sichtbar gehalten in der Modulation der Anklage zum Geständnis, vom universellen „wenn einer“ zum persönlichen „ich will“ verschaltet der Film in bekannter Vagheit die Rückbesinnung auf 29

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Für eine nähere Auseinandersetzung mit Gewalt und Wiederrichtung einer patriarchalen Ordnung im Heimatfilm der 1950er Jahre als „uneasy transition from sanctioned to unsanctioned violence“ vgl. Jennifer Kapczynski: „Postwar Ghosts“: Heimatfilm and the Specter of Male Violence. Returning to the Scene of the Crime. In: German Studies Review 33 (2010), Nr. 2, S. 305–330. Vgl. hierzu grundlegend Norbert Frei: Von deutscher Erfindungskraft oder: Die Kollektivschuldthese in der Nachkriegszeit. In: Hannah Arendt Revisited. „Eichmann in Jerusalem“ und die Folgen. Hg. von Gary Smith. Frankfurt a. M. 2000, S. 163–176.

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die Vergangenheit mit dem präzise benannten Wunsch für die Zukunft. Dem Gefühlsausbruch Ethelberts gegen das ihm widerfahrene Unrecht, die eigenen Fehler erkannt und dennoch mit Missachtung bestraft zu werden, wird körpersprachlich begleitet von der ostentativen Beschmutzung der eigenen Kleidung. Der so in Wort und Tat bezeugte Wille zum Anpacken, der sich in der Rettung des Ponyfohlens Schneewittchen bewährt, führt nach Feistauer die „Heimatfähigkeit“31 Ethelberts vor Augen. Diese Auslegung ist sicherlich zutreffend, übersieht aber, wie das Beispiel des heranwachsenden Jungen in der erzählten Welt mit gesamtgesellschaftlichen Herausforderungslagen in der Andeutung einer historischen Tiefendimension verschaltet ist. Dieser Durcharbeitung der historisch nur rudimentär kontextualisierten Krisen von Männlichkeit – einmal als Adoleszenzgeschichte, die in der emotionalen Anklage die bundesrepublikanische Vergangenheitspolitik vertritt,32 einmal als Integrationsgeschichte des ‚zurückkehrenden Fremden‘, der sich dem Verhaltenskodex des Wiederaufbaus verschreibt – ist eng verflochten mit der Aufrechterhaltung des Familienbetriebes als ökonomischer und privater Einheit. So bringt am Ende von Die Mädels von Immenhof Jochen von Roths Verzicht auf eine eigene Pferdezucht die finanzielle Rettung, während sein parallel geschalteter Heiratsantrag prospektiv die patriarchale familiäre Ordnung restituiert. Ausgespielt wird in der Gegenüberstellung der Zukunftsmodelle mithin eine jeweils andere genealogische Konfiguration, wobei die Entscheidung nicht für die Neubegründung, sondern den Eintritt in eine hundert Jahre bestehende Erb- und Überlieferungsgeschichte fällt. Demgegenüber befindet sich von Roth in Hochzeit auf Immenhof als Witwer wiederum in der ambivalenten Position, einerseits abermals die Forderungen von Finanzamt und Gläubigern tilgen zu müssen – denn „Oma Jantzen ist mit den schweren Jahren nicht recht fertig geworden. Und als ich kam, war leider nichts mehr zu retten“ (HI 4:05–4:10) –, andererseits aus dem Immenhof etwas zu machen: „Ein Pony-Hotel müsste man aus dem Laden hier machen. […] 50 000 Mark und das Pony-Hotel steht da.“ (HI 34:18–35:20) Die Lösung des Filmes für das genretypische Happy End setzt in der Folge Familie und Betrieb in eins: Der von Ethelbert als Geldgeber aufgetriebene Onkel Pankraz investiert nicht, sondern ersteigert das gepfändete Gut und schenkt es seiner Tochter Margot und Jochen von Roth zur Hochzeit. Damit sind die Altlasten der Vergangenheit endgültig überwunden, die

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Feistauer, Eine neue Heimat im Kino (Anm. 25), S. 334. Vgl. Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit. München 1996. 317

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Erzählungen vom Immenhof können die in Schulden verstellte Schuld hinter sich lassen. In Folge der Ersetzung des Erbfalles durch das Geschenk als Mitgift wird in Ferien auf Immenhof der Neubeginn möglich. Die erzählte Modernisierungsgeschichte, die angesichts der schlichten Tatsache, dass ein „Pony […] eben keine Dreschmaschine“ (HI 9:51–9:53) ist, ein unrentabel gewordenes landwirtschaftliches Geschäftsmodell hinter sich lässt und auf das Angebot touristischen Freizeitvergnügens umsattelt, fügt sich bruchlos in die historiografische Narration vom Wirtschaftswunder. Diese Verschiebungen in der Inszenierung werden im Vergleich wiederkehrender Gestaltungs- und Plotmuster augenfällig: In Mädels vom Immenhof wird das Reiterparadies Roth noch als moralisch zwielichtige Übergangslösung vorgestellt, die vornehmlich flirtbegeisterte Städterinnen und den Spott der Kinderbande anzieht. Statt flatterhafter SingleFrauen, die sich als „Weiberzirkus“ (MI 19:35) mehr für Jochen von Roth als für das Reiten interessieren, bietet Ferien auf Immenhof Ausritte für die gesamte Familie an. Zeigte der erste Film Dick und Dalli bei ihrer Kutschfahrt zum Bahnhof als Teil eines sozialen Mikrokosmos von Schäfer,33 Bauern und Schmied, die ihre Arbeit für einen kurzen Gruß unterbrechen, vermarktet die Kinder-Ponybande bei ihrem Werberitt durch Lübeck gleichsam das filmisch bereits etablierte Bild. Die Werbeaktion trifft auf begeisterte städtische Menschen, die, scheinbar allzeit zur frenetischen Verzückung bereit, am Straßenrand stehen und nur auf das nächste Spektakel gewartet haben (FI 26:11–28:54). Die bekannten historischen Deutschland-Bilder bedrohlich aufmarschierender, soldatisch disziplinierter Körper und jubelnder Massen in einem Setting von monumentalem Pathos überschreibt der Film folglich in demonstrativer apolitischer Unschuld mit der bereits in Hochzeit auf Immenhof vorbereiteten (Zirkus-)Attraktion Pony (HI 17:34–20:00). Die Straße erscheint nicht mehr als Aufmarschgelände einer politisch formierten Menschenmenge, sondern bietet vielmehr den chaotisch durcheinander purzelnden, als Cowboy und Indianer kostümierten Kindern eine Bühne, um im heiteren, begeisterungswilligen Publikum nunmehr ein Begehren nach einem Pony zu wecken und in der Vermarktung von Reiterferien auf Immenhof zugleich seine Befriedigung zu versprechen. Wie in Schwarzwaldmädel werden die farbenfrohen Bilder der Trilogie

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Dieses Detail wird in Zwillinge vom Immenhof erneut aufgegriffen, um die Entfremdung Dallis von ihrer Heimat auszustellen. Statt wie in ihrer Jugend freundliche Grüße mit dem Schäfer auszutauschen, verliert sie angesichts der Schafherde die Kontrolle über ihren Wagen und landet im Straßengraben (ZI 14:28–14:37).

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mithin medial und – in Andeutung – historisch selbstreflexiv,34 denn bezeichnenderweise ist der Pony-Umzug auch der Moment, in dem das Waisenkind Fritzchen die Immenhof-Welt betritt: FRITZCHEN : Tante, darf ich da mal rauf? […] DALLI : Na komm. [hebt Fritzchen auf ein Pony] Na, wie gefällt dir das? FRITZCHEN : Prima! Ich wollte schon immer mal auf ’nem Pony reiten. DALLI : Oh, das kannst du haben. [gibt ihm einen Werbeprospekt] Nimm das, und geh zu deinem Vati, und sag ihm, er soll mit dir mal bei uns vorbeikommen. FRITZCHEN : Aber das geht nicht, ich hab’ keinen Vati mehr. DALLI : Dann gibst du’s der Mutti. FRITZCHEN : Ne Mutti hab’ ich auch nicht mehr. DALLI : Du hast keinen Vati und keine Mutti? FRITZCHEN : Nein, ich bin ein Waisenkind. Hast du denn noch Eltern? DALLI : Eigentlich auch nicht. Aber ich hab’ ’ne Oma. FRITZCHEN : Und ich ’ne Frau Direktor vom Waisenhaus. (FI 31:10–31:44)

Gegen die implizit entworfene Folie erreichter Normalität – der Vater als Versorger der Familie, die Mutter als Ersatzfigur sowie die ökonomische Stabilität, sich das Vergnügen eines Urlaubs leisten zu können  – wird erneut in aller Vagheit der historische Referenzrahmen des Zweiten Weltkrieges aktiviert, um mit der Figur des unschuldigen und adretten Kindes den Immenhof nicht nur als Ziel des innerdeutschen Tourismus zu vermarkten, sondern ebenso nachdrücklich als idyllisches Refugium einer restituierten familiären Ordnung von ehemaligen Soldaten, verwöhnten Stadtjungen, Vertriebenen und Waisenkindern vorzustellen, in der auch ein Wollen glücken kann. Entsprechend wird Fritzchen unmittelbar nach seiner Ankunft von Henriette Jantzen ‚adoptiert‘ (FI 39:15–39:30). Die filmische Inszenierung der Immenhof-Trilogie der 1950er Jahre rekurriert in ihren Identifikationsangeboten und Emotionalisierungsstrategien auf das historische Wissen von Krieg, Flucht und Vertreibung.35 So nachdrücklich 34

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Insbesondere Ferien auf Immenhof arbeitet diese Pluralisierung der Bilder nachdrücklich aus – von den überzeichneten Versprechungen im Werbeprospekt über die Bildproduktion auf dem Reklameumzug bis hin zum Ölgemälde des Immenhofes, das freilich von einem Pony angeknabbert und verschmiert wird. Kommuniziert wird so wieder und wieder der Immenhof als emblematischer Topos von Heimat. Die Zwillinge vom Immenhof sucht diese Zusammenhänge auf bezeichnende Weise zu reaktivieren, indem der biografische Hintergrund von Dalli auf die Pächterfamilie Arkens überschrieben wird. So betont Frau Arkens im Gespräch mit ihrem 319

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die Filme die apokalyptischen Trümmerlandschaften der Nachkriegszeit und die Leiden ihrer versehrten Bewohner*innen beiseiteschieben und in „hyperreale[r] Farbigkeit“36 einen sich den Herausforderungen der Moderne stellenden anständigen Familienbetrieb imaginieren, der samt Hufe gebender Ponys wesentlich von der Tatkraft, Frische und Natürlichkeit der Enkelgeneration lebt, so deutlich sind sie auf die visuell ins Abseits gedrängten Erfahrungen des zeitgenössischen Publikums und die nicht-gezeigten historischen Bildbestände bezogen. Programmatisch für diese Enkodierung von (Zeit-)Geschichte in farbsatten Bildern und der in der Figurenrede diffus aufgehobenen verschatteten Vergangenheit ist die Verschiebung der Figur Jochen von Roth, mit der sich  – bei aller vordergründiger Aufmerksamkeit für die Kinderbande im Galopp, adoleszente Paarbeziehungen und den für komische Effekte eingesetzten Nebenfiguren des tüdeligen Tierarztes, schnapselnden Knechts und der versponnenen Malerin – als Fluchtpunkt des Erzählens ein Umbruch in der Zeitkonfiguration kristallisiert: Eingeführt als ‚zurückgekehrter Fremder‘ und moralisch verdächtiger Pächter avanciert von Roth zum männlichen Familienoberhaupt und Besitzer des Immenhofes, der Film um Film in der Erhaltung des exemplarischen Heimat-Ortes Immenhof „the yearnings for new beginnings“37 einlöst. Entsprechend trifft Seeßlens These zum Nachkriegsfilm auch die Immenhof-Trilogie: So kommt es, daß nahezu jeder deutsche Unterhaltungsfilm dieser Jahre zwei Diskurse zugleich führt: den Diskurs zur Aufhebung des Alten (eine Strategie, die Verdrängung, Umwertung, Verwandlung von Schuldgefühlen in Selbstmitleid ebenso umfaßte wie auch die in ökonomischem Sinne notwendige heimliche Integration oder die Dramaturgie des „Schlußstrichs“) und den Diskurs der Beseelung des Neuen.38

Verhandelt wird diese figurativ verdichtete Abblendung der Vergangenheit nicht nur in der qua wechselnden Besitzverhältnissen vollzogenen Umstellung

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Sohn Alexander: „Ich geh von hier nicht weg. Ich bin schon einmal von allem weg gegangen. Hier geh ich nicht mehr weg.“ Alexander entgegnet nüchtern: „Man wird uns nicht fragen. Wie damals.“ (ZI 9:50–10:04), und fährt dann fort: „Sie hat sich nicht um den Hof gekümmert. Obwohl sie hier geboren ist. […] Was muss das für ein Mensch sein, der ein Gut wie Immenhof einfach im Stich lässt. Nein, mit dieser Brigitte Voss möchte ich lieber nicht reden.“ (ZI 12:07–13:20). Feistauer, Eine neue Heimat im Kino (Anm. 25), S. 19. Ludewig, Screening Nostalgia (Anm. 5), S. 9. Seeßlen, Durch die Heimat und so weiter (Anm. 10), S. 137 f.

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von Schulden auf Investitionen, sondern zudem am Bildobjekt Pony: Bedauern in Die Mädels vom Immenhof noch Tierarzt Dr. Pudlich und „Wucherer“ Windheim, dass Ponys nicht – wie Kaninchen und Schweine – geschlachtet und gegessen werden, stellen die Filme selbst konstant aus, was für ein Vergnügen ein Pony bereitet. Auch der Soundtrack dieser Welt – „So ein Pony musst Du haben, / Denn dann hast Du einen Freund! / Wirft es Dich auch mal herunter, / War‘s bestimmt nicht bös’ gemeint!“39 – gibt zugleich die historische Distanz zu den unmittelbaren Nachkriegsjahren vor. Im Zentrum des Erzählens steht nicht mehr die Sicherung des (Über-)Lebens, sondern ein heiteres Anpacken. Wieder und wieder gewinnen die Filme – im vagen Rückbezug auf Vertreibung und Verfolgung – aus dem erlittenen Leid die Legitimation für nunmehr zustehendes Vergnügen, das aber in seiner akustischen und visuellen Medialität stets im Dienste des einen Ziels steht: der Rettung und Erhaltung des Immenhofes.

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Zu diesem „singenden Weltbezug“ vgl. Michael Lück, Moritz Schumm: Unter Singvögeln. Kinematografische Klangwelten der Nachkriegszeit. In: Reflexionen des beschädigten Lebens? Nachkriegskino in Deutschland zwischen 1945 und 1962. Hg. von Bastian Blachut, Imme Klages und Sebastian Kuhn. München 2015, S. 249–267. 321

Christiane Raabe

Schreiben für die Niemandskinder Heimat und Heimatlosigkeit in der Kinder- und Jugendliteratur der Nachkriegszeit „Sie waren ganz auf sich selbst gestellt.“ Im Herbst 1945 fuhr die gerade aus dem Londoner Exil zurückgekehrte deutschjüdische Journalistin Jella Lepman durch das zerstörte Nachkriegsdeutschland. In ihren Erinnerungen Die Kinderbuchbrücke beschrieb sie die Eindrücke, die sie auf der Fahrt sammelte. Immer mehr richtete sich mein Blick auf die Kinder […] Ihre mageren, verwilderten Gesichter zeigten einen hungrigen Ausdruck. Alles, was man ihnen gab, rissen sie an sich. […] Ich sprach mit ihnen, fragte nach ihren Vätern und Müttern, nach ihrem Zuhause. Hundertmal bekam ich dieselbe Erwiderung: „Kein Zuhause, weiß nicht, wo Vater und Mutter und die Geschwister sind. Unterwegs, irgendwo unterwegs. Oder tot. Tot.“ Die Geschichten, die sie erzählten, sachlich und unbewegt, die Erlebnisse, von denen sie berichteten: Erhängen, Erschießen, Mord, Raub, Verbrechen der niedrigsten Art, nichts war ihnen verborgen geblieben […]. Viele von ihnen lebten in Banden in zerstörten Häusern, Unterständen, unter Treppen, sogar in Höhlen im Wald. Sie waren ganz auf sich selbst gestellt.1

Diese Kinder waren ihrer Kindheit beraubt, heimat- und oft elternlos. Es waren Trümmerkinder, darunter viele Flüchtlingskinder. Wie reagierten Kinder- und Jugendbuchautorinnen und -autoren unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs auf diese verheerenden Zustände? Wie stellten sie sich in ihren kinderliterarischen Fiktionen der Realität von Flucht, Heimatlosigkeit und Fremdheit, die viele junge Flüchtlinge in einer oft brutalen, abweisenden Trümmerwirklichkeit erlebten? Welche Antworten gaben und Perspektiven entwickelten sie für die betroffene Generation? Lassen sich Erzählmuster und pädagogische Strategien erkennen? Diesen Fragen gehe ich im 1

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Jella Lepman: Die Kinderbuchbrücke. Hg. von der Internationalen Jugendbibliothek. München 2020, S. 45. (Erstausgabe 1964)

Schreiben für die Niemandskinder

Folgenden anhand ausgewählter deutschsprachiger Kinder- und Jugendbücher nach, die Ende der 1940er Jahre in Westdeutschland erschienen. Der Fokus liegt auf Geschichten, die das Leben von jungen Flüchtlingen nachzeichnen. Die Kinderliteratur der SBZ/DDR, die unter sowjetischem Einfluss eine eigenständige Entwicklung nahm, bleibt dabei unberücksichtigt.

Ein Kinderbett im Schrank Die Problematik von Flucht und Heimatverlust wurde in der Nachkriegszeit vor dem Hintergrund von 12 bis 14 Millionen Flüchtlingen, die 1944/45 aus den Ostgebieten nach Westen geflohen und dort oft mit Ablehnung und Anfeindungen konfrontiert waren, jugendliterarisch vergleichsweise häufig bearbeitet. Das Bilder- und Kinderbuch sparte die Flüchtlingsthematik dagegen weitgehend aus und gab sich zunächst mit der Wiederauflage bewährter Titel der Vorkriegszeit, harmloser Alltagsgeschichten und Märchen zufrieden.2 Eine Ausnahme macht Paul Alverdes (1897–1979). Sein Bilderbuch Stiefelmanns Kinder erzählt vor dem Zeithorizont des harten Winters 1945/46 die Geschichte von vier Flüchtlingskindern.3 Auf der Flucht aus dem Osten von der Mutter getrennt – der Vater ist in Kriegsgefangenschaft –, stranden die Geschwister in einer zerstörten Stadt. Sie richten sich notdürftig ein provisorisches Heim her, das „aus alten Türen und Brettern und Blech [bestand], und oben darauf lagen ein paar Wackersteine, damit der Wind es nicht mitnehmen konnte“.4 Sie leben im Dunkeln, hungern, ein Schrank dient ihnen als Bett, ein Ofen schützt sie vor dem Erfrierungstod, und nachts träumen sie von Zuhause. Während die Älteste sich um das Baby kümmert, verdienen die beiden Mittleren etwas Geld mit Singen. Aus dieser ausweglosen Situation führt der Autor die Geschwister durch eine märchenhafte Wendung: Die Kinder zieht es Weihnachten in einen Wald, wo sie auf die Heiligen Drei Könige treffen, die ihnen zu essen geben,

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Barbara Asper: Heimat ohne Vergangenheit. Kinder- und Jugendliteratur der unmittelbaren Nachkriegszeit In: Gordon Burgess, Hans-Gerd Winter (Hg.): „Generation ohne Abschied“. Heimat und Heimkehr in der ‚jungen Generation’ der Nachkriegsliteratur. Dresden 2008, S .147–159, S. 149. – Einen detaillierten Überblick über die Nachkriegsliteratur gibt Winfried Kaminski: Kinder- und Jugendliteratur in der Zeit von 1945 bis 1960. In: Klaus Doderer (Hg.): Jugendliteratur zwischen Trümmern und Wohlstand 1945–1960. Weinheim, Basel 1993, S. 17–207. Paul Alverdes: Stiefelmanns Kinder. Illustriert von Beatrice Braun-Fock. Konstanz 1949. Ebd. S. 6. 323

Christiane Raabe

sie beschenken und nach Hause schicken. Dort haben sie es nun warm, ein Licht erhellt die Dunkelheit. Die kindliche Frömmigkeit rettet sie aus der Not und nährt die Hoffnung, dass die Eltern sie schon noch finden. In keinem Bilderbuch der Nachkriegszeit wird das Elend von Waisenkindern unmittelbar nach Kriegsende so schonungslos geschildert wie in Paul Alverdes Stiefelmanns Kinder.5 Das christliche Gnadenmotiv entbindet die jungen Leserinnen und Leser zwar am Ende von der harten Realität, es relativiert aber nicht die exponierte Einsamkeit der Kinder, die als Opfer des Kriegs schutzlos den katastrophalen Verhältnissen ausgesetzt sind. Für sie wird der Glaube zum Versprechen auf eine neue Heimat, die sie in einer versagenden Erwachsenenwelt nicht finden können.

Das namenlose Kind Anders als bei Alverdes, der seinen kindlichen Figuren Namen gegeben hat, bleibt die Waise in dem Bilderbuch Das Haus an der Stadtmauer lange namenlos.6 Vordergründig in der Realität des Flüchtlingselends ihrer Zeit verhaftet, schildert die Autorin Sofie Schieker-Ebe (1892–1970) in kurzen Episoden eine kleinstädtische Idylle, die mit der harten Wirklichkeit nach 1945 wenig zu tun hat. In einem alten Haus am Stadtrand lebt die fünfköpfige Familie Blank und nimmt eines von hundert fremden Kindern auf, die gerade in die Stadt gekommen sind, im Krieg „Eltern, Geschwister und Heimat“ verloren haben und oft nicht wissen „wie sie heißen und woher sie kommen“.7 Das fremde Mädchen, das bei den Blanks unterkommt, spricht nicht, lacht nicht, reagiert nicht, was weder die Eltern noch die Kinder kümmert. Stattdessen schleppen sie das Kind wie eine Puppe überall mit hin, zur strickenden Großmutter, zur Tante, zur Nachbarin, wo es freundlich aufgenommen wird. Wenn die Geschwister in der Schule sind, bleibt das Mädchen an der Seite der Hausherrin. „Wie ein Hündchen so treu trottet das Kind neben der Mutter einher.“8 Es lernt die Bedeutung von Kehrwochen, Wasch- und Bügeltagen kennen.

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Barbara Murken: Stiefelmanns Kinder. Die Kinderbücher von Paul Alverdes. In: Aus dem Antiquariat 3 (1989), A83-A89. A88. Sofie Schieker-Ebe: Das Haus an der Stadtmauer. Wie Beata eine Heimat fand. Mit farbigen Bildern von Brunhilde Trautwein. Stuttgart 1949 („Blick in die Welt“. Gunderts Anschauungsreihe für die Jugend. Kinderland). Ebd., S. 9. Ebd., S. 29.

Schreiben für die Niemandskinder

Man weiß nicht so recht, ob es der Autorin um die Beschreibung kleinbürgerlicher Häuslichkeit oder um die Integration des fremden Kindes geht. Eltern und Geschwister reden nur von „dem Kind“, das einem Objekt gleich in das Familiengefüge eingepasst wird, mitläuft und mitlaufen muss. Mit naiven Bildern illustriert, wird eine heile Kinderwelt mit Versatzstücken aus der Realität inszeniert. Verwüstung, Kriegselend, Hunger und Armut sind in dieser Bilderbuchwelt nicht existent. Die psychischen Spuren, die das Erlebte in dem Kind angerichtet haben, werden zwar erwähnt – das Mädchen ist stumm und gleichsam erstarrt –, aber sie werden nicht problematisiert, sondern überwunden, indem das Kind häusliche Harmonie, Ordnung und Zuwendung erfährt. Heimat, so die Botschaft der Autorin, ist überall dort, wo Kinder unbehelligt von der Wirklichkeit in intakten, geschützten Räumen leben. Heimat kennt hier keine Zeit und keinen Ort, sondern ist ein Zustand der Geborgenheit, für die ein geordneter, familiärer Rahmen sorgt.

Niemandskinder Ähnlich wie im Bilderbuch wird die Flüchtlingsthematik in der Kinderliteratur der späten 1940er Jahre selten aufgegriffen. Zu den wenigen Ausnahmen zählt der 1947 erschienene Roman Das Niemandskind von Käthe von Roeder-Gnadeberg (1912–2011).9 Titelgebend sind die zahllosen Niemandskinder, „die oft nicht ihre Namen wußten, […] die ihren Vater nie gesehen hatten, weil er gefallen war […], die auf der Flucht von den Eltern gerissen worden waren und nun dastanden, allein und heimatlos.“10 Ein solches Niemandskind ist die sechsjährige Ela, die von ihrer Großmutter auf der Flucht getrennt wird. Der junger Arzt Dr. Felten kümmert sich um das verlorengegangene Kind und bringt es bei einer Bäckerin unter. Die schikaniert das Mädchen, das daraufhin ausreißt und sich mit Hilfe von Rotkreuzschwestern, Offizieren und einem Bahnhofsvorsteher bis nach Heidelberg durchschlägt, wo es nach einer weiteren monatelangen Odyssee seine Tante findet. Ela trifft viele Freunde wieder, die sie auf der Flucht kennengelernt hatte, am Ende kommt es sogar zur Wiedervereinigung mit der Großmutter. Ein Kinderdorf wird erbaut und zur neuen Heimat für die Niemandskinder.

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Käthe Roeder-Gnadeberg: Das Niemandskind. Ein Roman für Kinder. Heidelberg 1947. Ebd., S. 133. 325

Christiane Raabe

Trotz vieler Realitätsbezüge, beispielsweise einer knappen Schilderung der Bombardierung Dresdens im Februar 1945,11 trägt die Geschichte märchenhafte Züge, die Flucht wird zur Bewährungsprobe. Ela ist ein Glückskind, das in die Fremde ausgestoßen wird, dank ihrer Naivität, ihrer Befähigung zum Beglücken anderer und etlicher Helfer viele Prüfungen meistert und am Ende in den Kreis ihrer Familie zurückfindet. In einem zentralen Kapitel erzählt eine Krankenschwester Ela das „Märchen von den goldensten Sternen“, eine Adaption des Sterntaler-Märchens. Es war einmal ein großer Krieg über die Welt dahingezogen, und alles lag in Trümmern. Eines Tages kam ein Mädchen über die Trümmer gegangen. […] Es hatte alles verloren, was andere Kinder besaßen: Eltern, Geschwister, Spielsachen und Kleider. Es trug ein warmes Tuch um die schmalen Schultern. Aber als es ein frierendes Kind sah, schenkte es auch das Tuch weg.12

Das selbstlose Kind widersteht den Verführungen von Reichtum und Macht und wird am Ende von „dem großen Meister“ im Himmel für seine Tugendhaftigkeit mit goldenen Sternen belohnt. Nicht nur hier, sondern auch an anderer Stelle zieht die Autorin Analogien zu bekannten Märchen13 und vermittelt – wie Paul Alverdes – für die von der Welt verlassenen Waisen die Hoffnung auf Trost und Rettung in einer naiven Frömmigkeit. Gott wird schon richten, wozu die Menschen nicht fähig sind, wenn man nur fest an ihn glaubt. Obwohl ein christlich-erbauungsliterarischer Impetus in den Roman eingeschrieben ist, eröffnet die Autorin am Ende eine überraschend konkrete Perspektive auf eine neue Heimat für die Waisen. Jugendliche aus einem Kinderheim bauen ein Kinderdorf auf, das ihnen ein neues Zuhause werden soll. Die Initiative dazu hat Dr. Felten, der von Kinderdörfern träumt, „in denen nur Kinder leben, blinde, hungerkranke, verwahrloste, unterernährte, elternlose Kinder […]. Dörfer, die all diesen Kriegskindern Heimat werden und sie in Sonne, Licht und liebevoller Pflege die Schrecken der Vergangenheit vergessen machen. Sonnige, heitere Dörfer, in denen diese Niemandskinder das Frohsein und Lachen wieder lernen können.“14

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Ebd., S. 142 f. Ebd., S. 116. Sie spielt beispielsweise auch auf Aschenputtel an. Vgl. Kaminski, Kinder- und Jugendliteratur (Anm. 2), S. 95. Roeder-Gnadeberg, Das Niemandskind (Anm. 9), S. 134.

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„nicht ständig jammern und klagen“ Die Vergangenheit vergessen und wieder glücklich, wieder Kind werden: Diesem Credo folgen fast alle Kinderbuchautorinnen und -autoren, die unter dem Eindruck des Kriegsendes und der physischen und seelischen Verwüstungen der ersten Jahre danach schreiben. Es ist auch der Grundton in dem Kinderbuch In der neuen Heimat. Erlebnisse der Reinhardkinder von Christel Kirchner (1907–?),15 in dem sich eine Flüchtlingsfamilie in eine neue Umgebung einleben muss. Erzählt wird die Geschichte der sechsköpfigen Familie Reinhard, die nach der Flucht aus Schlesien und einem Aufenthalt im Lager Friedland auf einem niedersächsischen Bauernhof unterkommt. Freundlich von der Bäuerin und der Dorfgemeinschaft aufgenommen, finden sich die Kinder der Familie in ihrem neuen Umfeld schnell zurecht. In der Tradition religiös-moralischer Belehrungsgeschichten des 19. Jahrhunderts wird der Alltag zwar hart und entbehrungsreich beschrieben, aber die Familie findet inneren Halt in einem volkstümlichen Glauben und in einer Schicksalsergebenheit, die Zweifel, Fragen oder gar Auflehnung nicht zulassen. Der Vater, dem Krieg und Kriegsgefangenschaft weder seelisch noch körperlich zugesetzt haben, ist Inbegriff des guten Hausvaters und mahnt seine Familie, man müsse das Schicksal dankbar annehmen. Der Vater lachte gemütlich: […] Jetzt seid ihr wieder richtig zu Hause, hier in Eicherode, und wir wollen ganz froh sein, wenn wir die nächsten vier, fünf Jahre hier in Ruhe unser Leben fristen dürfen. […] Jeden Tag wollen wir mit dankbaren und frohen Gefühlen beginnen und nicht ständig jammern und klagen, wodurch so viele ihr Flüchtlingsleben ja nur noch vergrößern.16

Es werden Tugenden wie Fleiß, Ehrlichkeit, Bescheidenheit und Dankbarkeit gepredigt und den Kindern eine tiefe Autoritätsgläubigkeit vermittelt. Als das jüngste Reinhardkind in die Schule kommt, fürchtet er sich nicht, denn „soweit reichte seine Erfahrung schon aus, daß Lehrer nur böse sind, wenn die Kinder Schlimmes getan haben“.17 15 16 17

Christel Kirchner: In der neuen Heimat. Erlebnisse der Reinhardkinder. Göttingen 1949. Ebd., S. 10. Kirchner, In der neuen Heimat (Anm. 15), S. 22. 327

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Der rührselige Ton der Erzählung, die Schicksalsergebenheit, die an Fatalismus grenzt, und das harmonische Miteinander von Fremden und Einheimischen sind charakteristisch für eine verharmlosende Kinderliteratur, die nach 1945 einen „Neubeginn im Vorgestern“18 machte und nach einer „neuen Innerlichkeit, nach Familie und Anlehnung an Autoritäten, die für Ordnung und Recht sorgen“,19 suchte. Heimat ist hier kein Ort, den man verloren hat und dem man nachtrauert. Die Heimatlosigkeit wird akzeptiert, nicht aus Einsicht in geschichtliche Zusammenhänge von Schuld und Mitverantwortung, sondern als Schicksal, das man mit einem starken Glauben und in familiärer Geborgenheit erträgt. Christel Kirchner thematisiert keine Erfahrungen von Fremdheit und Ausgrenzung und lässt Fragen an oder gar Widerstand gegen die neuen Lebensumstände nicht zu. Stattdessen sind Passivität und Anpassung die Überlebensstrategien, die sie ihren jungen Leserinnen und Lesern in belehrendem Ton vermittelt.

„hier war Frieden, war Ruhe und Geborgenheit“ Vergleichbare religiös-moralische, sentimentale Töne finden sich in zahlreichen Mädchenbüchern aus der Zeit, die an die Backfischliteratur des 19. Jahrhunderts anknüpfen und die Flüchtlingsthematik mit moralischer Belehrung sowie Aufopferungs-und Anpassungserwartungen an die Protagonistinnen verbinden. Auf die Flucht, die die jungen Heldinnen meistens alleine antreten und bestehen, folgt das mehr oder weniger schnelle Einleben in das neue soziale und ersatzfamiliäre Umfeld, die Übernahme häuslicher oder karitativer Aufgaben und am Ende die Perspektive auf eine gute Partie. 1948 erscheint das Mädchenbuch Der Ruhlandskinder neue Heimat von Fanny Herchenbach (1889–?).20 Der Roman zeichnet die Entwicklung der 17-jährigen Irmgard nach, die, dem Kindesalter entwachsen, das elterliche Gut in Ostpreußen nach dem Tod der Eltern selbstständig bewirtschaftet – der Bruder befindet sich in Kriegsgefangenschaft –, den Ort ihrer Kindheit beim Anrücken der Roten Armee verlässt, sich in Flüchtlingstrecks nach Deutschland

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Rüdiger Steinlein: Neubeginn, Restauration, antiautoritäre Wende. In: Reiner Wild (Hg.): Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. Stuttgart 2008, S. 312– 342, hier S. 312. Kaminski, Kinder- und Jugendliteratur (Anm. 2), S. 65. Fanny Herchenbach: Der Ruhlandskinder neue Heimat. Eine Erzählung aus unseren Tagen für junge Mädchen. Kempen am Niederrhein 1948.

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durchschlägt und schließlich zu Fuß von Thüringen an den Niederrhein wandert, um fortan in einem Dorf bei ihrer Tante, einer Professorenwitwe, zu leben. Klaglos richtet sich Irmgard in ihrem neuen Leben ein, setzt fort, was sie auf dem Gutshof gelernt hat, züchtet Bienen, pflegt hingebungsvoll den Garten, arbeitet als Grundschullehrerin und wird zum geliebten „Frollein“ der Schüler, darunter etliche Flüchtlingskinder. Sie verliebt sich in den Sohn der Tante, der ebenso wie ihr Bruder seelisch unversehrt aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrt, verzichtet auf ein Studium und wird am Ende heiraten. Das Gut in Ostpreußen, „die vertraute Erde“, mit der Irmgard sich anfangs „gleich den Vorfahren […] verschwistert“ fühlt,21 ist vergessen, die Erinnerung an die Liebe der verstorbenen Eltern „schenkte ihr eine stille Heiterkeit der Seele, die ihr die Kraft gab, alles Leid zu überwinden“.22 Ohne innere oder äußere Konflikte lebt sich Irmgard in ihr neues Zuhause ein. Mit dem blühenden Garten, den Obstbäumen und Bienenkörben erscheint das Haus der Tante gleichsam als paradiesisches Gegenstück zum ostpreußischen Gut. Die Gegenwart ist ausgesperrt, „die politischen Erregungen, der Vergeltungswille und die Verzweiflung, die immer noch die müde, kranke Welt in Atem hielten, klangen nur wie ferne Brandungen aufgepeitschter Wellen zu ihnen herüber“,23 „[…] hier war Frieden, war Ruhe und Geborgenheit, aber die Welt draußen wußte noch nichts von Frieden, wußte noch nichts von Vergeben und Vergessen.“24 Die Erzählerin von Irmgards Geschichte ist weiter als ihre Zeitgenossen und selbstgewiss, dass eine Erneuerung der „müden alten Welt“ nur dank der heilenden Kraft und durch das Ausblenden der Vergangenheit und beschädigten Gegenwart möglich sei.25 „Heimat ist überall da, wo unsere Seele Wurzeln schlägt und das Herz Erfüllung findet!“,26 sagt Irmgard in einem Gespräch, in dem die Frage aufgeworfen wird, ob die „Fremde zur Heimat werden“ kann. In dieser Passage werden verschiedene Vorstellungen von Heimat formuliert. Während die männliche Perspektive von einem aktiven Gestaltungswillen geprägt ist – „Heimat

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Ebd., S. 10. Ebd., S. 37. Ebd., S. 40. Ebd., S. 67. Das Dorf als heiler und heilender Ort, an dem man das materielle Elend und die Trümmer, die sichtbaren Spuren des Kriegs, ausblenden kann, ist ein wiederkehrendes Motiv in der Kinder- und Jugendliteratur der frühen Nachkriegszeit. Vgl. Emma Müllenhoff: Silkes zweite Heimat. Das Haus in der Heide. Stuttgart 1949 (Sonne und Regen im Kinderland, Bd. 47). Herchenbach, Ruhlandskinder (Anm. 20), S. 192. 329

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ist überall da, wo der Mann in rastloser Berufsarbeit seine höchste Befriedigung findet!“27  –, ist die weibliche Perspektive auf einen vagen Gemütszustand innerer Zufriedenheit gerichtet. In diesem Mädchenroman herrscht ein vormodernes Programm: Haus und Garten werden gleichsam als natürlicher Lebensraum der jungen Frau beschrieben, in dem sie ihre Bestimmung findet, womit sich die Frage nach Heimatlosigkeit, Entfremdung oder Entwurzelung gar nicht erst stellt. Denn Häuser und Gärten gibt es überall.

„Die Neue war ihnen fremder als die Neger …“ Natur- und Tierliebe gleichsam als Kompensation von Einsamkeits- und Verlassenheitsgefühlen sind wiederkehrende Motive in der Flüchtlingsliteratur für Jugendliche, vor allem für junge Frauen. Eine Autorin, die später mit ihrer Immenhof-Saga einen Besteller schrieb, war Ursula Bruns (1922–2016). Wie Fanny Herchenbach macht sie in ihrem Mädchenbuch Wohin mit Fritzi? Anleihen an die triviale Mädchenliteratur des 19.  Jahrhunderts.28 Im Mittelpunkt steht die junge Trixi, die nach einer überstürzten Flucht aus dem Mecklenburgischen bei Verwandten in einer niederrheinischen Kleinstadt unterkommt. Anders als Irmgard wird Trixi von ihrem neuen Umfeld abgelehnt, weil sie nicht spricht, sondern „blicklos in die Ecke starrt“.29 Lehrer, Mitschüler und die Verwandten „wollten diesen borstigen Eindringling nicht. […] Die Neue war ihnen fremder als die Neger, die nach dem Krieg hier gewesen waren.“30 Ursula Bruns schlägt einen forschen, fast burschikosen Ton an und schafft nach dem Erfolgsmodell der Trotzkopfgeschichten mit Trixi einen eigensinnigen und narzisstischen Charakter, der sich aber als „lieber Kerl“ entpuppt. Schnell bricht das Eis, und Trixis Integration ins kleinbürgerliche Leben gelingt, woran die „deutsche Dogge Fritzi“ einen entscheidenden Anteil hat. Fritzi ist der emotionale Anker des Mädchens in der Fremde und ihre Verbindung zum väterlichen Gutshof, den sie nach einem traumatischen Erlebnis verlassen musste. Nach dem Krieg hatte sie alleine in einer friedlichen Hausgemeinschaft mit einquartierten Russen gelebt, bis eines Tages ein betrunkener Russe alle Doggen auf dem Gut erschoss. Nur Fritzi überlebte. Ein russischer Offizier brachte

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Ebd. Ursula Bruns: Wohin mit Fritzi? Eine Geschichte von Mädchen, Hunden, Berlinern und einem Terrarium. Freiburg 1951. Ebd., S. 5. Ebd., S. 7 f.

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Trixi und den Hund an die Grenze der Besatzungszone, von wo aus das Mädchen an den Niederrhein reiste. Schwer traumatisiert erreicht sie ihre Verwandten im Westen. Die naive, die Realität verharmlosende Darstellung der russischen Besatzung ist ebenso befremdlich wie die Auflösung des traumatischen Ereignisses, das nicht durch eigene Gewalterfahrung, sondern durch den Tod der Hunde ausgelöst wird. Man erinnert sich an Paul Celans Befremden bei seinem ersten Besuch Deutschlands nach Ende des Kriegs, als er sah, wie eine Gruppe Menschen einen verunglückten Hund beklagte. „Bei einem Hund jammern sie!“31 Die glühende Liebe Trixis zu ihrem Hund ist dann auch der Grund dafür, dass die Mitschülerinnen ihre ablehnende Haltung aufgeben. Das Mitleiden mit dem Hund, nicht mit dem elternlosen Mädchen, führt zu einer Annäherung. Die Tierliebe steht in auffälligem Widerspruch zur fehlenden Empathie der kleinstädtischen, nach wie vor rassistisch und autoritär geprägten Gesellschaft, in der die Handlung angesiedelt ist. Die Klassenlehrerin findet es unerträglich, dass ihre neue Schülerin nur vor sich hinstarrt. „Andere Leute hatten schließlich auch den Krieg hinter sich und stellten sich nicht so an!“32 Die Direktorin erkennt in Trixi ein Potenzial: „Gute Rasse, dieses Mädchen, dachte sie jetzt, müsste mich sehr täuschen, wenn es nicht so ist.“33 Die Einheimischen schauen mit Herablassung auf einen Flüchtlingsjungen: „Der kecke kleine Berliner, der schon vor der Schule auf der Groschenjagd war, imponierte ihnen. […] Ja, wenn alle Flüchtlinge so wären! […] Patenter Bursche.“34 Ursula Bruns hat ein rührseliges Mädchenbuch geschrieben, in dem die Anpassung einer aus privilegierten Verhältnissen stammenden jungen Frau nach anfänglichen Schwierigkeiten bruchlos gelingt, da das neue Umfeld ihr weder materielle Entbehrungen noch soziale Einschränkungen abverlangt. Die temporeiche Sprache kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Autorin regressive gesellschaftliche Verhältnisse zementiert und geschichtsvergessen die Flüchtlingsproblematik als Folie für eine triviale Mädchen- und Hundegeschichte nutzt. Bemerkenswert ist, dass Wohin mit Fritzi? bis 1999 immer wieder neu aufgelegt wurde.

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Zitiert nach John Felstiner, Holger Fliessbach (Übers.): Paul Celan. Eine Biografie. München 1997. S. 98. Bruns, Wohin mit Fritzi? (Anm. 28), S. 5. Ebd., S. 12. Ebd., S. 2. 331

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Gestrandet auf der Arche Noah Wesentlich differenzierter setzt sich die Autorin Margot Benary-Isbert (1889– 1979) in ihrem erfolgreichen Roman Die Arche Noah mit Heimatverlust und Einsamkeit junger Flüchtlinge auseinander.35 Im Zentrum der Erzählung steht die Familie Lechow, die nach der Flucht aus Pommern in einer deutschen Kleinstadt zugewiesene Zimmer im Haus einer wohlhabenden Witwe bezieht. Armut, Hunger und Entbehrungen bestimmen den Alltag der fünfköpfigen Familie. Während der Vater in Kriegsgefangenschaft ist, übernimmt der 16-jährige Sohn Matthias die Rolle des Familienoberhaupts, macht Behördengänge, besorgt Bezugsscheine und arbeitet auf dem Bau. Seinen Kindheitstraum von einer Zukunft als Astronom muss er ebenso über Bord werfen wie die Aussicht auf ein geisteswissenschaftliches Studium. Matthias freundet sich mit Dieter, einem jungen Musiker, an, der seine Familie verloren hat und wie Matthias die Wut einer um ihre Jugend betrogenen Generation in sich trägt. Wenn ich denk, wie sie uns geschunden haben, könnte ich noch heut alles zusammenschlagen! Bloß daß vom Zusammenschlagen noch nie was besser geworden ist. – Mit Sechzehn zum Schippen an den Westwall. Unten Dreck und oben Feindflieger. […] Das Abitur schmissen sie uns nach, und nun gilt es nichts, wie alles nichts gilt, womit sie uns unsere Jugend abgeschwindelt haben.36

Die zweitälteste der Lechowkinder, die 15-jährige Margret, leidet unter dem Tod ihres Zwillingsbruders, der von russischen Soldaten bei der Einnahme des Elternhauses erschossen worden war. Trauer, Perspektivlosigkeit und Heimweh stürzen Margret in eine Depression. „‚Ich werde nie mehr irgendwo daheim sein‘, dachte Margret.“37 Manchmal war sie „ganz verändert, daß man sie gar nicht mehr verstand und beinahe ein bißchen Angst vor ihr bekam. Es war dann, als wäre sie nicht mehr richtig da, sondern weit fort, irgendwo, wo Dinge geschahen, die Kinderaugen nie und nimmer hätten sehen dürfen.“38 Sie denkt viel darüber nach, „was denn dies schrecklich Endgültige sei, das man Tod

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Margot Benary-Isbert: Die Arche Noah. München 1948. Der Roman wurde bis 1986 immer wieder neu aufgelegt und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Ebd., S. 98 f. Ebd., S. 18. Ebd., S. 39.

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nennt“,39 weil sie sich „zurückgeblieben [fühlt] wie etwas Halbes“.40 Sie empfindet den Krieg und das daraus resultierende Leiden als Prüfung Gottes. „[…] weißt du, ich glaube, diesmal hat Gott die Menschen so übergekriegt, daß er sie alle umkommen läßt. Oder vielleicht ist er auch weggegangen in seinen Himmel und kümmert sich um gar nichts mehr.“41 In ihrer Einsamkeit und Trauer wendet sie sich von den Menschen ab und findet in der Nähe von Hunden und Pferden Trost, kann ihr Unglück vergessen. Wie ihr Bruder Matthias ist Margret der Weg für einen Schulabschluss oder ein Studium versperrt. Stattdessen hilft sie der Mutter im Haushalt. Die beiden jüngeren Geschwister passen sich hingegen problemlos an die neue Lebenswirklichkeit an. Der achtjährige Jochen wird eingeschult, wehrt sich mit Fäusten gegen Beschimpfungen als Flüchtlingspack und findet einen Freund. Hans-Ulrich, ein Waisenjunge, von dem niemand weiß, wo er eigentlich wohnt, klaut fürs eigene Überleben Holz, Kartoffeln und Kohlen auf dem Güterbahnhof, „was gar nicht so einfach war, denn sie passten da mächtig auf, und wenn man geschnappt wurde, dann gute Nacht!“42 Andrea, die zweitjüngste, ist der Sonnenschein der Familie. „Was war das für ein glückliches Wesen, diese Andrea, die wie eine Schnecke ihr Haus überall bei sich trug, überall gleich daheim war!“43 Als Matthias die Gutsbesitzerin Frau Almut kennenlernt, eröffnet sich eine neue Perspektive. Sie betreibt den Ebereschenhof und nimmt erst Matthias, dann Margret als Hilfskraft auf. Die Geschwister richten sich in einem ausrangierten D-Zug ein und arbeiten von morgens bis abends auf dem Hof, melken Kühe, kümmern sich um die Schafe, Hühner und Hunde. Das Leben auf dem Land in Eintracht mit der Natur und den Tieren, die Trümmer und das Nachkriegselend fern, haben therapeutische Wirkung auf beide Heranwachsende. Matthias kommt zu Kräften, die Unzufriedenheit, die er in der Stadt empfand, verliert sich. Margret überwindet ihre Depression und schließt Frieden mit dem toten Bruder. „[…] hier draußen war doch alles schon anders geworden, stiller und gelöster, und wenn sie nun an Christian dachte, so konnte es geschehen, daß es nicht mehr der Tote war, dessen verändertes Gesicht sie in schrecklicher Fremdheit anblickte, sondern daß unversehens der frohe, lebendige Bruder neben ihr ging […].“44 39 40 41 42 43 44

Ebd., S. 63. Ebd., S. 62. Ebd., S. 39 f. Ebd., S. 45. Ebd., S. 18. Ebd., S. 181. 333

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Dass die dörfliche Idylle nicht ungetrübt ist, Misstrauen und Ablehnung den Fremden entgegenschlägt, erfahren die Geschwister, wenn ihnen im Dorf Blicke „wie spitze Nadelstiche“ zugeworfen werden. „‚Das Bettelvolk!‘, sagten die Bauern und bedachten nicht, dass die Vertriebenen auch einmal Haus und Hof, Werkstatt und Laden besessen hatten, von denen man sie weggejagt hatte, ohne zu fragen, ob sie eine Schuld traf.“45 Die Erzählung endet mit dem Einzug der restlichen Familie auf dem Ebereschenhof und der Rückkehr des Vaters aus der Kriegsgefangenschaft. Wie in Fanny Herchenbachs Der Ruhlandskinder neue Heimat wird die Flucht in die Natur zur Rettung für die Heranwachsenden, die unter den traumatischen Ereignissen des Kriegs, dem Verlust ihres Elternhauses und der Zerstörung ihrer Kindheitsträume zu leiden haben. Margot Benary-Isbert erzählt jedoch dichter an der Flüchtlingsrealität ihrer Zeit. Mittels personalen Erzählens schafft sie für ihre junge Leserschaft Nähe zu den beiden Hauptfiguren Matthias und Margret und beschreibt deren Ängste und Zweifel. Sie zeigt einen inneren Entwicklungsprozess, der nach der Ankunft in der Fremde beginnt und mit der allmählichen Auflösung der depressiven Erstarrung und inneren Unruhe endet. Die Autorin gestalte Heimweh, meinte Winfried Kaminski, doch verleugne die Trauer.46 Letzteres tut sie keineswegs, denn Margret ist durch ihre Trauer gefangen in einer emotionalen Unbehaustheit. „Es kam ihr manchmal vor, als sei das ganze Leben mit Mauern umstellt.“47 Erst durch den Umzug aufs Land gelingt es ihr, die Fremde als neue Heimat anzunehmen und sich dem Schatten des erschossenen Bruders, ihrem großen Kriegstrauma, zu stellen. Margot Benary-Isbert arbeitet mit zahlreichen Analogien und Anspielungen. Ein stillgelegter Bahnwaggon wird zum neuen Zuhause der Lechowkinder und erhält den Namen Arche Noah. Er wird zur schützenden Haut für die jungen Flüchtlinge und ist gleichzeitig ein Bild für die Gestrandeten, die hier „Halt für neue Wurzeln, gleichsam ein Stückchen Erde mitten in der harten Felswüste der Fremde“ finden.48 Der Roman endet an Weihnachten 1947, an dem die Familie das erst Mal seit vielen Jahren wieder glücklich vereint ist.49 45 46 47 48 49

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Ebd., S. 158. Kaminski, Kinder- und Jugendliteratur (Anm. 2), S. 76. Benary-Isbert, Die Arche Noah (Anm. 35), S. 48. Ebd., S. 59. Weihnachten, das als gnadenbringende Zeit gestaltet wird, kommen in fast allen Flüchtlingsgeschichten für Kinder und Jugendliche vor. Das eigene Leiden wird dagegen nie in Passionsszenen widergespiegelt. Vgl. auch Kaminski, Kinder- und Jugendliteratur (Anm. 2), S. 31. Gelegentlich wird die Odyssee als Analogie für die

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Während am Anfang des Romans die Verzweiflung in dem Bild von Gott, der die Welt verlassen hat, gespiegelt wird, steht am Ende ein Versprechen auf glücklichere Zeiten. Fragen nach größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen oder Gedanken über die Zukunft stellen sich die jungen Flüchtlinge nicht. Zu sehr mit der eigenen materiellen und seelischen Not und dem Überleben beschäftigt, gelingt die Suche nach einem erträglichen Leben in der Fremde nur in ländlicher Ruhe außerhalb der Trümmerwirklichkeit, wie sie die Familie in der Stadt erlebte.

„Es war nicht seine Vaterstadt, die dort in Trümmern lag. Aber es war eine Stadt seines Vaterlandes, das wieder aufzubauen er nun anfangen wollte.“ In vielen Geschichten für Kinder und Jugendliche der Nachkriegszeit wird Heimweh in einem christlichen Versöhnungsgedanken aufgehoben, und die Figuren schließen inneren Frieden mit dem eigenen Schicksal. Diesen finden sie in einer unbeschädigten Umgebung auf dem Dorf oder auf einem Gehöft, wo Krieg und Zerstörung, aber auch Industrialisierung und Moderne keine Spuren hinterlassen haben und sich der Alltag seit Jahrhunderten im Einklang mit der Natur organisiert. Die Gegenwart und unmittelbare Vergangenheit werden höchstens zum Hintergrundrauschen für eine emotionale Selbstverankerung der Protagonisten in immaterieller Bescheidenheit. Der Jugendroman Der neue Tag von Sofie Schieker-Ebe unterscheidet sich von den bisherigen Beispielen,50 weil er ausnahmsweise um die Frage kreist, wie ein gesellschaftlicher Neuanfang nach dem Krieg möglich sei. Zwei junge Menschen begegnen sich auf einer nächtlichen Zugfahrt und fühlen sich zueinander hingezogen. Anne Komerell, 17 Jahre alt, hat ihre Eltern im Krieg verloren und ist unterwegs zu den einzigen Verwandten, die ihr geblieben sind. Thomas Pleuer, gerade aus der russischen Kriegsgefangenschaft entlassen, kehrt in sein Elternhaus zurück. Nach der Ankunft des Zugs verlieren sich beide aus den Augen, werden sich am Ende aber wiederfinden. Anne trifft bei ihren Verwandten nur eine Untermieterin an, da ihre Tante und ihr Onkel nach einem Selbstmordversuch in einem Krankenhaus liegen. Von dem windigen Sohn der

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Leiderfahrung der Soldaten herangezogen; vgl. Benary-Isbert, Die Arche Noah (Anm. 35), S. 218. Sofie Schieker-Ebe: Der neue Tag. Stuttgart 1949. 335

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Untermieterin Frohwalt Habermaas bedrängt, irrt sie stundenlang ziellos durch die verwüstete Stadt, macht zufällige Bekanntschaften und fragt sich, wie sie das Alleinsein aushalten soll. […] ich weiß [nicht], wie wir weiterleben wollen, wenn wir alle nur immer hinter uns schauen. Zu unseren Toten und unseren Trümmerhaufen. Eben zu all dem, was wir verloren haben. Nein, wahrhaftig, ich weiß es nicht, wie es weitergehen soll. […] Das Alleinsein will mich zuweilen so sehr bedrängen, und ich kann nur mit all meiner Kraft darüber Herr werden.51

Thomas Pleuer macht sich auf die Suche nach der jungen Frau und findet das Haus der Verwandten, wo er den Sohn der Untermieterin antrifft. Frohwalt Habermaas, „mit seinen jetzt zwanzig Jahren gerade noch ein bißchen am Rand des Krieges entlanggestreift, ohne den geringsten Schaden an seinem Leib genommen zu haben“,52 ist ein Beschaffungskrimineller und wird zu Thomas’ Antipoden. Er ist für den Kriegsheimkehrer die Verkörperung moralischer Verkommenheit, weit ins Innere hinein „verfault“,53 und nutzt das politische Vakuum für den eigenen Gewinn, während Thomas, der leiderprobte Soldat und Patriot, um eine bessere Zukunft ringt. Seine alte Heimat kommt ihm vor wie ein sinkendes Schiff: „Vielleicht ist unser Kompaß noch in Ordnung. Ich kann es nicht sagen, ich bin erst seit vier Tagen auf dem Schiff.“54 In jedem Fall ist er davon überzeugt, dass Menschen wie Frohwalt Habermaas das Schiff endgültig zum Sinken bringen werden. „‚Ihr aber, Freund Habermaas, ihr tragt Eisen in die Nähe des Kompasses.‘“55 Auch sonst hat er seine Zweifel an der richtigen Einstellung seiner Landsleute. „[…] mir schwant so etwas, als gäbe es in der teuren Heimat etliche Leute, denen ihre Karnickelzucht wichtiger ist als unsere ganze Heimkehr.“ Thomas Pleuer kommt in eine zerstörte Stadt. „Es war nicht seine Vaterstadt, die dort in Trümmern lag. Aber es war eine Stadt seines Vaterlandes, das wieder aufzubauen er nun anfangen wollte.“56 Er fühlt sich dem Ort seiner Kindheit entfremdet, doch ist diese kaputte Stadt in etwas Größerem, dem Vaterland, verwurzelt. Dieses Vaterland ist äußerlich durch Krieg und Bomben beschädigt, Thomas zweifelt jedoch nicht daran, dass das moralische Funda51 52 53 54 55 56 336

Ebd., S. 21 f. Ebd., S. 69. Ebd., S. 164. Ebd., S. 98. Ebd. Ebd., S. 62.

Schreiben für die Niemandskinder

ment intakt ist und somit wieder freigelegt werden kann. Er betrauert seine Kameraden, die gefallen sind. Fragen an die Unrechtmäßigkeit des Kriegs oder gar eine kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus lässt er nicht zu. „Wir haben unseren Bedarf an Toten und Trümmern vorerst einmal gedeckt“,57 sinniert er in einem Gespräch mit Anne Komerell. Der Blick nach vorn sei das Vermächtnis der Gefallenen, man dürfe nicht zurückschauen. „Keiner von uns darf es. Denn ein jeder führt einen oder ein paar Tote an der Hand mit sich. Tote, für die wir mitleben müssen.“58 Vorwärts, und dabei vergessen, ist seine Devise. Die lähmenden Bilder von Tod und Zerstörung sollen verdrängt werden. „Denn man kann auch seinen Schmerz lieben, sogar mit einer Art Eitelkeit.“59 Darüber vergäße man das Mitleiden mit den Lebenden und verharre in Passivität. Man solle „die Toten von den Toten begraben lassen“.60 Sofie Schieker-Ebe appelliert in ihrem Jugendbuch an Selbstdisziplin und einen Patriotismus, dem das Leiden und Sterben im Namen des Vaterlands nichts anhaben konnte. Mit einem ideologisch belasteten Vokabular wird in unverbesserlicher Weise von der Zukunft eines Vaterlands gesprochen, das sich gegen die Bedrängnisse der „Verfaulten“ (wohlbemerkt sind damit nicht die Nationalsozialisten gemeint) behaupten und auf Rettung durch die aufgrund ihrer Kriegserfahrungen moralisch Überlegenen hoffen muss. Man ist äußerlich besiegt aber innerlich ungebrochen. Der Aufbau des Vaterlands, von dem in Der neue Tag die Rede ist, bleibt nebulös und wird nicht ausformuliert, konkrete Überlegungen zu einem politischen Neuanfang werden nicht thematisiert.

„Heute […] habe ich wieder ein Vaterland, aber ich bin auch in ihm fremd.“ Viele Jugendbuchautorinnen und -autoren vermieden es konsequent, ihre junge Leserschaft mit den Verbrechen des Nationalsozialismus zu konfrontieren, sei es, weil sie sich selbst noch nicht von der nationalsozialistischen Ideologie distanziert hatten,61 sei es, weil sie Verfechter einer Schonraumpädagogik waren. Sie verengten die Problematik von Heimatverlust und Entwurzelung auf

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Ebd., S. 18. Ebd., S. 24. Ebd., S. 127. Ebd., S. 126. Die gilt insbesondere auch für Hans Steguweit. Ausführlich weiter unten. 337

Christiane Raabe

deutsche Befindlichkeiten und die Leiderfahrung der Ostflüchtlinge. Es ist auffällig, dass in den meisten Romanen, die in der Nachkriegszeit spielen, die Siegermächte unsichtbar bleiben. Die Handlungen drehen sich um Kriegsheimkehrer, Flüchtlinge aus dem Osten und die alteingesessene Bevölkerung. Wenn überhaupt, treten die Sieger, meistens sind es Amerikaner, nur in Nebenepisoden auf: lässig, kaugummikauend und mit einem Hang zur Arroganz.62 Verfolgung und Exil und damit einhergehende Verlusterfahrung haben in diesem deutschzentrierten Denken keinen Platz. Es ist deswegen nicht verwunderlich, dass die einzige Autorin, die sich ausführlich mit Fragen von Fremde und Heimat, Schuld, Verantwortung und Neuanfang beschäftigt, eine deutsche Exilantin ist. Lisa Tetzner (1894–1963) lebte seit 1933 im Exil in der Schweiz und verfasste zwischen 1932 und 1946 das neunbändige Werk Die Kinder aus Nr. 67,63 in dem sie die Schicksale ihrer Figuren Paul Richter, Erwin Brackmann und Mirjam Sabrowsky im Nationalsozialismus und nach Ende des Weltkriegs nachzeichnet. Die beiden letzten Bände dieser „in der Kinder- und Jugendliteratur beispiellosen Chronik der Epoche des Nationalsozialismus in Deutschland“64 spielen in der Umbruchzeit zwischen 1944 und 1946. Für die Frage nach Heimat und Heimatlosigkeit ist vor allem die Figur Erwin Brackmanns aufschlussreich. Als 12-jähriger mit seinem von den Nazis verfolgten Vater nach Schweden geflohen, schließt er sich als junger Mann den norwegischen Partisanen und später der britischen Armee an und kämpft als Soldat gegen Nazi-Deutschland. Er gerät in Gefangenschaft, kann fliehen und erlebt den Ausgang des Kriegs im deutschen Untergrund. Am Ende des achten Bands erreicht der Ich-Erzähler Erwin Berlin und gelangt zu der Mietskaserne, in der er aufwuchs. Dort trifft er auf eine Gruppe junger Männer, darunter einstige Freunde, und lässt „das Verbrüderungsverbot und alle militärischen Vorsichten, die man uns eingeschärft hatte, außer acht.“ Er fühlt sich nur noch als „‚der Erwin‘, der zu seinen Freunden heimkehrte“,65

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Vgl. beispielsweise Benary-Isbert, Die Arche Noah (Anm. 35): „Da brausten sie hin. Honney hatte er gesagt. Eine Unverschämtheit, aber so waren sie nun mal, die Amerikaner.“ S. 145. Lisa Tetzner: Erlebnisse und Abenteuer der Kinder aus der Nr. 67. (9 Bände) Aaarau 1943–1949. Im Folgenden zitiert nach der dtv-Gesamtausgabe von 1990. Die erste westdeutsche Ausgabe in der Nachkriegszeit erschien im Stuffer Verlag ab 1948. In der SBZ gab der Sachsenverlag die ersten vier Bände 1948 heraus. Weitere Bände erschienen dort nicht. Gina Weinkauff: Lisa Tetzner, Eine realistische Geschichten-Erzählerin. In: Kinderund Jugendliteraturforschung 1994/95, S. 46–54, hier S. 46. Tetzner, Die Kinder aus Nr. 67 (Anm. 63) Bd. 8, S. 336.

Schreiben für die Niemandskinder

und erfährt, wie recht sein Vater mit der Mahnung hatte: „Du wirst gegen deine Landsleute kämpfen müssen, und ein Bruderkrieg ist der traurigste von allen Kriegen.“66 Die alten Freunde attackieren ihn wütend und werfen ihm vor, er habe sie im Stich gelassen. Er verteidigt sich: „Ich habe auf Seiten der Engländer für die Befreiung gekämpft“. „Und dabei das Reich kaputtgemacht“, schrie wieder einer. „Es war besser, das Reich ging unter, als in Schande weiterzuleben und Terror, Gewalt und Versklavung, Verbrechen, Mord und Gift über die ganz Welt zu bringen“, rief ich erregt. Ein großes Geschrei erhob sich […] „Und das nennt dann so einer Befreiung.“67

Nur mit Glück entkommt Erwin einem Lynchmord und erkennt, wie sehr zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft das Land und die Menschen verändert haben. Im letzten Band des in der Forschung auch Kinderodyssee genannten Werks treffen die Kinderfreunde Erwin, Paul und Mirjam im Sommer 1945 am Genfer See mit Widerstandskämpfern aus Italien, Frankreich und Russland und jungen amerikanischen Soldaten zusammen, um einen Bund für ein friedliches Zusammenleben der Völker zu begründen. In mehreren Gesprächen geht es um den Verlust der Heimat und die zukünftige Rolle Deutschlands nach dem Zusammenbruch. Erwin, der deutsche Exilant, der als Soldat gegen den Nationalsozialismus kämpfte, und Paul, der Mitläufer, der sich irgendwann von der NS-Ideologie abwandte, spiegeln exemplarisch zwei Auffassungen von Deutschland nach Kriegsende wider. Erwin fühlt sich trotz zehnjährigem Exil hingezogen zu seiner alten Heimat. Er kann sich nicht vorstellen, woanders zu leben. Vor allem die Muttersprache bindet ihn an sein Herkunftsland. Er akzeptiert deswegen nur schwer, dass Mirjam, die Freundin aus Kindertagen, lieber Englisch als Deutsch spricht und sich überall dort heimisch fühlt, wo sie Freunde findet und Zuwendung erfährt. Sie hat, wie viele verfolgte Juden, ihre deutsche Identität im Exil abgelegt. Für Erwin steht hingegen außer Frage, dass er nach der Befreiung Deutschlands vom menschenverachtenden System des Nationalsozialismus ein Vaterland wiedergewonnen hat. Das Vaterland, das Erwin liebt, unterscheidet sich vom Vaterlandbild Thomas Pleuers grundlegend. Es ist nicht intakt, sondern beschädigt und „gleicht

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Christiane Raabe

einem Dschungel der Hoffnungslosigkeit und der Verwirrung, des Elends und der Zerstörung“.68 Zwölf Jahre nationalsozialistische Gewaltherrschaft haben das Land und seine Menschen ideologisch vergiftet. „Was wir brauchen, sind Zeit und Ruhe. Es ist jene Ruhe, die man einem Kranken läßt, damit er wieder genesen kann. Gebt sie uns“,69 bittet Erwin seine ausländischen Freunde. Obwohl er seit seiner Jugend im Exil lebte und sich am Kampf der Briten gegen die Wehrmacht beteiligte, identifiziert er sich mit Deutschland. Er fühlt sich sogar verpflichtet, sich der Schuld zu stellen, die die Deutschen auf sich geladen haben. Deswegen verlassen Paul und er die Freunde, bevor der Bund besiegelt und der Vertrag mit einem Fest gefeiert wird, „Ich möchte noch keine Feste mit den Siegern feiern, sondern erst aufbauen. Und das können wir beide am besten in unserem eigenen Land. Nur dort können wir beweisen, was wir sind“,70 schreibt er in einem Abschiedsbrief an den Bund. „Wir wollen unsere Kraft dafür einsetzen, aus ganz Europa eine große, gemeinsame und brüderliche Völkerfamilie zu machen!“71 Paul fühlt sich hingegen als Deutscher erniedrigt. Er hält es kaum aus, mit den Siegern an einem Tisch zu sitzen. Er möchte lieber vergessen. „Sind wir nicht schon genug gestraft? Wir haben uns ja unsere Wunden selber zugeführt. Warum sollen wir uns vor aller Welt an die Brust schlagen und das herausschreien?“72 Mit dieser Haltung vertritt er die deutsche Mehrheitsmeinung, die das Vergessen und Verdrängen als Voraussetzung für den Wideraufbau erachtet und die sich vielfach in der Jugendliteratur der Nachkriegsjahre niedergeschlagen hat. Erwin, der das „andere Deutschland“ vertritt, hält Paul entgegen: „[…] wenn wir das alles zu rasch wieder vergäßen oder so täten, als ob es nicht gewesen sei, würde bei uns alles viel zu schnell wieder wie früher werden.“73 Lisa Tetzners Romanzyklus blieb in der deutschen Nachkriegsliteratur für junge Menschen ohne Nachfolge. Der pazifistische Ton, die schonungslose Darstellung der nationalsozialistischen Verbrechen und die hellsichtig formulierten Zukunftsvisionen waren für die Nachkriegsgesellschaft so provozierend, dass der Schweizer Verlag Sauerländer den letzten Band nur zeitlich verzögert veröffentlichte. Auch die ersten deutschen Ausgaben bei Stuffer und im Dresd-

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Tetzner, Erlebnisse und Abenteuer (Anm. 63), Bd. 9, S. 33 f. Ebd., S. 240. Ebd., S. 229. Ebd., S. 247. Ebd., S. 143. Ebd.

Schreiben für die Niemandskinder

ner Sachsenverlag blieben entweder ohne Resonanz oder wurden nach den ersten Bänden eingestellt und von der Literaturkritik ignoriert.74 Die Kinder aus Nr. 67 wurden erst in den 1970er Jahren entdeckt.

Befreier? Was für Befreier? Allein der Begriff Befreiung stieß in einem Land, das ein kollektives Opfernarrativ verinnerlicht hatte und das Kriegsende als Demütigung und Niederlage empfand, auf heftigen Widerstand. In fast allen Jugendbüchern, die sich Ende der 1940er Jahre mit dem Flüchtlingselend beschäftigen, ist diese Haltung eingeschrieben. Hans Steguweit (1897–1964), ein Nationalsozialist der ersten Stunde und bis Kriegsende Leiter der Reichsschrifttumskammer Köln-Aachen, zieht in seinem Roman Der Clown und das Mädchen die Bezeichnung Befreiung geradezu Lächerliche.75 Jürgen Kranewitter, Sohn einer Schneiderin aus einem Weinort im Rheingau, hat sich in den Kopf gesetzt, die aus Pommern unter dramatischen Umständen geflohene 15-jährige Gisela aufzunehmen, über deren Schicksal in den Zeitungen berichtet wird. „Müssen wir nicht auch etwas für die Betrogenen des Ostens tun? Haben wir nicht die Aufgabe, hilfreich zu sein, auch wenn das Wort vom Opfer in Verruf gekommen ist?“76 Mit diesen Worten, aus denen bereits eine gewisse Widerständigkeit gegen die geänderten Machtverhältnisse spricht, überzeugt er seine Mutter, die junge Frau aus einem Flüchtlingslager im Harz an den Niederrhein zu holen. Der Lagerleiter stimmt dem Wunsch zu, da es der einzige Antrag aus Deutschland gewesen sei. Alle anderen Anträge zerreißt er, denn sie „stammten aus dem Ausland und schienen verdächtig“.77 Die Ressentiments gegen Ausländer häufen sich im weiteren Verlauf. Als Jürgen auf dem Mainzer Bahnhof die Nacht über auf die sich verspätende Gisela wartet, macht er sich Gedanken:

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Zur Rezeptionsgeschichte Susanne Koppe: Nachwort zu Band 9 der dtv Gesamtausgabe (1990). Weinkauff: Lisa Tetzner (Anm. 64), S. 46 f. Barbara Murken: Herbert Stuffer Verlag. In: Kurt Franz, Franz-Josef Payrhuber (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon. 57. Erg.-Lfg. (2016), S. 1–36, hier S. 21. Hans Steguweit: Der Clown und das Mädchen. Göttingen [1950]. Ebd., S. 19. Ebd., S. 36. 341

Christiane Raabe

Man bekam die Niederlage auf Schritt und Tritt zu spüren. Und niemand murrte nach außen. Doch alle quälten sich insgeheim. […] Die Menschen buckelten mit Kartoffelsäcken und Netzen voll Rüben vorbei, und wo ein fester, rüstiger Schritt durch die Dunkelheit scholl, dort konnte er nur von einem ausländischen Soldaten sein, dessen Zigarette wesentlich besser roch als das Heu in der Pfeife eines Deutschen.78

„Jürgen Kranewitter aus Röseling war noch jung, war eben zwanzig Jahre alt, dennoch spürte er schon viel Widersinn in dem, was angeblich einen Sinn haben sollte.“79 Anlass für diesen Widersinn gibt der Amtsschreiber Klapphorn, der, von den Alliierten eingesetzt, die Bürger mit „Spitzfindigkeiten“ peinigt und Frau Kranewitter die Aufnahme von Gisela verweigert, weil die Schneiderin vor 1945 „nach jedem Luftangriff in erster Reihe die Butterbrote für die Ausgebombten geschmiert“ habe.80 Sie beschwert sich beim Bürgermeister, der bedauert, dass die Besatzungsbehörde Herrn Klapphorn, der früher ein obdachloser Asozialer und nie im Krieg gewesen sei, als Amtsschreiber eingesetzt habe. Das also seien die Befreier, meint Frau Kranewitter verächtlich und beschließt, man müsse Herr Klapphorn „umerziehen“.81 Herr Klapphorn wird durch und durch zur lächerlichen Figur, die man am Ende aus dem Amt jagen wird, um die Heimat, die durch die Sieger zur Fremde geworden ist, wieder zurückzugewinnen. Die Protagonisten dieses ersten Jugendromans von Hans Steguweit sind innerlich oft bewegt und gerührt.82 Mit einer sentimental aufgeladenen Sprache beschreibt der Autor die Heimatlosigkeit seiner jungen Protagonisten als Verlust der jüngst zusammengebrochenen Ordnung, in der diese Generation sozialisiert und ideologisiert wurde. Dem Gefühl der Ohnmacht und dem Zweifel, ob „die Welt der Mündigen noch in Ordnung [sei] oder nicht [,… ob] sie überhaupt nach einer Ordnung strebte, wo so viel Vernunftloses geschah, dessen Verwirrung man künstlich schürte“, setzt er einen inneren Widerstand den gesellschaftlichen Veränderungen gegenüber und die Sehnsucht nach autoritärer Ordnung entgegen. 78 79 80 81 82

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Ebd., S. 44 f. Ebd. Ebd., S. 52. Ebd. Gisela hört dem Lied eines Geigers zu: „Mit Inbrunst strich er sein Instrument, und auch für Gisela schien die Welt, diese immer wieder rätselhafte, bald erbarmungslose und dann wieder beglückend scherzende Welt, ringsum zu versinken.“ Ebd., S. 66.

Schreiben für die Niemandskinder

„Bücher [sollen] die ersten Boten des Friedens sein“ Kehren wir an dieser Stelle noch einmal an den Anfang zu Jella Lepman zurück. Nach ihren Eindrücken von der Fahrt durch das zerstörte Deutschland kam sie zu der Überzeugung: Lassen Sie uns bei den Kindern anfangen, um diese gänzlich verwirrte Welt langsam wieder ins Lot zu bringen. […] Die deutschen Kinder haben so gut wie keine Bücher mehr, nachdem die Kinder- und Jugendliteratur der Hitlerzeit ausgeschaltet wurde. Auch die Pädagogen und Verleger brauchen zu ihrer Orientierung Bücher aus der freien Welt. Die Kinder tragen keine Schuld an diesem Krieg, deshalb sollen ihre Bücher die ersten Boten des Friedens sein!83

Wie die vorangegangenen Beispiele zeigen, hoffte Jella Lepman vergeblich auf einen kinderliterarischen Aufbruch. Die Autorinnen und Autoren, von denen einige schon im ‚Dritten Reich’ publiziert hatten,84 setzten auf vormoderne, oft religiöse und moralische Schreibkonzepte. Einige führten die seit Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgreiche Mädchenliteratur fort und reicherten das Erzählmuster durch einen Flüchtlingshintergrund ihrer Protagonistinnen an.85 Eine wie auch immer geartete Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, dem Krieg und den traumatischen Erfahrungen junger Menschen, wie man sie am ehesten in der Flüchtlingsliteratur erwarten würde, wird konsequent verweigert. Der Heimatverlust wird fraglos hingenommen und als gottgegebenes Schicksal akzeptiert. Über persönlich erfahrenes Leid, die Konfrontation mit den Bombardements und Kriegsverbrechen, mit Angst und Sterben herrscht weitgehend Schweigen. In oft rührseligem Ton beschreiben die Autorinnen und Autoren Flucht und Heimatlosigkeit als Folge eines „schrecklichen Kriegs“, den man vergessen muss. Das geschieht am ehesten auf dem Land im Kreis der Familie oder Ersatzfamilie, wo man die Verheerungen des Kriegs und die materielle Not nicht vor Augen hat. Die Blindheit gegenüber den Herausforderungen einer neuen Zeit, die man auch als fehlende Verantwortung gegenüber der jun-

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Lepman, Kinderbuchbrücke (Anm. 1), S. 50 und 54. Das gilt für Paul Alverdes, Sofie Schieker-Ebe und Hans Steguweit. Fanny Herchenbach, Hans Steguweit, Ursula Bruns. 343

Christiane Raabe

gen Generation auslegen kann, ist Ausdruck eines zumindest autoritären Weltbilds.86 Lisa Tetzner ist die Einzige, die sich intensiv mit Fragen von Schuld und Verantwortung auseinandersetzte. Allerdings wurde ihr Werk nicht wahrgenommen. Gegenpositionen finden sich bei Hans Steguweit und Sofie SchiekerEbe, die auf der Sprach- und Handlungsebene ihrer Flüchtlingsromane noch tief in der nationalsozialistischen Ideologie verwurzelt sind. Auch bei Ursula Bruns, die 1947 mit Mitte zwanzig debütiert, schlägt sich die nationalsozialistische Sozialisation in der rassistischen Sprache, im Fortschreiben autoritärer Strukturen und in einer Geschichtsvergessenheit nieder. Die Autorinnen und Autoren sind nicht Anwälte ihrer jugendlichen Protaginsten, sie solidarisieren sich nicht mit deren Ängsten, Sorgen und Zweifeln, sondern verstehen sich als Erzieher, die in belehrendem, manchmal betulichem Ton Anpassung, Unterordnung und andere Sekundärtugenden anmahnen und dabei Passivität und Unmündigkeit fördern. Die Niemandskinder der Nachkriegsliteratur für Kinder und Jugendliche sind nicht nur heimat- und elternlos, sondern im buchstäblichen Sinne niemand. Entsprechend einsam bleiben die meisten, Freundschaften kommen in den Romanen nicht vor. Wenn überhaupt, sind es junge Männer  – Thomas Pleuer, Jochen Kranewitter und Erwin Brackmann  –, die sich Gedanken über die Zukunft machen. Von der Jugendliteratur zu unterscheiden, sind Bilder- und Kinderbücher, in denen Heimatverlust und Fremde seltener thematisiert und oft als Märchen erzählt werden. Aber auch in diesen Büchern sind die Kinder Opfer der verheerenden Umstände. Um so überraschender ist es, dass ausgerechnet ein elternloses Kind 1949 die Bühne der Kinderliteratur betritt und frei, autonom und frech der autoritären Erwachsenenwelt trotzte. Es brauchte eine Pippi Langstrumpf, es brauchte den Anstoß von außen, um einen Aufbruch der Kinderliteratur in Deutschland, wie ihn Jella Lepman vorschwebte, zu bewegen. In der Tat trat kurz darauf in den 1950er Jahren eine junge Autorengeneration an, die die befreiende Fantasietätigkeit der Kinder in ihren sozialkritisch-fantastischen Büchern wie Jim Knopf oder Die glücklichen Inseln hinter dem Winde feierte.

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„Aus den Trümmern ist keine Trümmerliteratur für junge Leser hervorgegangen, es entstand nicht einmal ein Trümmerbewußtsein“. Kaminski, Kinder- und Jugendliteratur (Anm. 2), S. 30.

Die Beiträgerinnen und Beiträger Sandra Beck, Dr. phil., geb. 1982; Studium der Germanistik und Neuere Geschichte an der Universität Mannheim. Promotion, gefördert durch ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes, über das Thema Narratologische Ermittlungen. Muster detektorischen Erzählens in der deutschsprachigen Literatur (Heidelberg 2017). Forschungsschwerpunkte: Literaturgeschichte, Genregeschichte und -theorie, Kriminalliteratur, Literatur und Terrorismus, Interkulturalität. Ausgewählte Publikationen: Hg. (mit Katrin Schneider-Özbek) Gewissheit und Zweifel. Interkulturelle Studien zum kriminalliterarischen Erzählen. Bielefeld 2015; Reden an die Lebenden und an die Toten. Erinnerungen an die Rote Armee Fraktion in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. St. Ingbert 2008. Aufsätze und Vorträge u. a. zu Joseph von Eichendorff, Hans Fallada, Erich Fried und Wolfgang Herrndorf. Joanna Bednarska-Kociołek hat in Łódz´, Passau und Berlin Germanistik studiert. Seit 2011 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Łódz´. Ihre Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Literatur, Geschichte des 20. Jahrhunderts und Erinnerungskultur. 2016 wurde ihr Buch Danzig/Gdan‘sk als Erinnerungsort im Werk von Günter Grass, Stefan Chwin und Paweł Huelle veröffentlicht. 2021 erschien das Buch Lagerliteratur: Schreibweisen – Zeugnisse – Didaktik, das sie zusammen mit Saskia Fischer und Mareike Gronich herausgab. Sven Behnke studierte nach der Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann Wirtschaftswissenschaften an der FH Wilhelmshaven, danach Geschichte und Germanistik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Forschung und Publikationen zu Arno Schmidt und Kurt Heynicke. Zurzeit ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsprojekt „Georg Friedrich Brandes als Sammler von Drucken der Offizin des Venezianers Aldus Manutius“ an der Landesbibliothek Oldenburg und arbeitet als selbstständiger freiberuflicher Lektor. Gabriele Ewenz, Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Theaterwissenschaft, Skandinavistik und Kunstgeschichte in Bonn und Berlin, Promotion über Felix Hartlaub; ehem. Leitung des Theodor W. Adorno und Walter Benjamin Archivs in Frankfurt a. M., seit 2009 Leiterin des HeinrichBöll-Archivs und des Literatur-in-Köln-Archivs (LiK) in Köln; Ausstellungskuratorin; Forschungsschwerpunkte und wissenschaftliche Publikationen über die 345

Die Beiträgerinnen und Beiträger

Literatur des 19. und 20.  Jahrhunderts, Archivtheorie und Sammlungsgeschichte, Schreibprozesse und zum Verhältnis von Literatur und Bildender Kunst. Emanuela Ferragamo ist eine italienische Germanistin. Sie doktorierte mit einer Dissertation über die parodistische Poetik Christian Morgensterns im Rahmen eines Cotutelle-Vertrags zwischen den Universitäten Turin, Genua und Basel (Paradies Parodie. Christian Morgensterns parodistische Poetik, 2021). Sie ist nun als Post-Doc-Studentin der Universität Turin in der ökokritischen Forschung der literarischen Darstellung utopischer Landschaft tätig. Detlef Haberland, Prof. Dr. phil., lehrte in Köln und Oldenburg Neue deutsche Literatur und arbeitete im Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa. Er ist Präsident des Mitteleuropäischen Germanisten-Verbandes. Publikationen zu Reisegeschichte und -literatur, Literatur des Barock, des östlichen Europas, Buchdruck und -geschichte sowie des 19. und 20. Jahrhunderts, hier besonders die Literatur zwischen 1945 und 1960. Seine besondere Aufmerksamkeit gilt den Werken der Reisenden Engelbert Kaempfer und Ulrich Jasper Seetzen. Günter Häntzschel, Prof. Dr. em. für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forschungsschwerpunkte Literatur- und Kulturgeschichte vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bücher über Annette von Droste-Hülshoff, die Homer-Übersetzung von Johann Heinrich Voß, Gottfried August Bürger, Sozialgeschichte der Lyrik des 19. Jahrhunderts, Bildung und Kultur bürgerlicher Frauen 1850–1918, Literarisches Sammeln im 19.  Jahrhundert, Buchkultur der 1950er Jahre. Aufsätze u. a. über Goethe, Jean Paul, die Heidelberger Romantik, Heinrich Heine, Friedrich Hebbel, Theodor Fontane, Siegried Kracauer, Bertolt Brecht, Kurt Tucholsky, Oskar Maria Graf, Brigitte Kronauer. Herausgeber u. a. der Werke von Gottfried August Bürger und – mit Hiltrud Häntzschel – der Werke von Annette Kolb. Walter Hettche, Dr. phil., geb. 1957 in Offenbach am Main, Studium der Germanistik und Anglistik in München. 1986 Promotion mit einer Arbeit über Heinrich von Kleists Lyrik; von 1992 bis 1997 Redaktor der Historisch-Kritischen Gesamtausgabe der Werke und Briefe Adalbert Stifters an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; seit 1997 Akademischer Oberrat am Institut für Deutsche Philologie der Universität München. Publikationen und Editionen zur Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts (u. a. Gleim, Hölty, Goethe, Stifter, Storm, Fontane, Heyse, Raabe, Liliencron, Bierbaum, Eich, Huchel und Jan Wagner). 346

Die Beiträgerinnen und Beiträger

Christine Ivanovic, PD Dr. phil., 2003–2011 Professorin an der Universität Tokyo, 2015–2018 Berta-Karlik-Professorin an der Universität Wien, weitere Gastprofessuren in Japan, den USA, Italien. Forschungsschwerpunkte: deutschsprachige Literaturen des 20. und 21.  Jahrhunderts, translationale Literatur, transeuropäischer Kulturtransfer. Zu Ilse Aichinger: Ilse Aichinger in Ulm (2011); Absprung zur Weiterbesinnung. Geschichte und Medien bei Ilse Aichinger (hg. mit Sugi Shindo, 2011); Wort-Anker Werfen. Aichinger und England (hg. mit Rüdiger Görner und Sugi Shindo, 2011). Bodo Plachta, geb. 1956, Professor für Neuere deutsche Literatur und Editionswissenschaft, zuletzt in Amsterdam. Arbeitsschwerpunkte: Literatur und Kultur des 18. und 19. Jahrhunderts, Zensur, Exil, Oper und Operntext, Literaturbetrieb, Literatur und bildende Kunst, Theorie und Praxis der germanistischen Edition. Er edierte Werke von Lessing, Schiller, Goethe, Droste-Hülshoff, Klaus Mann und ist Mitherausgeber des internationalen Jahrbuchs editio. In seinen Büchern und Aufsätzen geht er immer wieder der Frage nach, wie und wo Literatur entsteht, welche räumlichen Umgebungen auf die Entstehung von Kunstwerken einwirken und inwieweit solche Phänomene Eingang in unseren Erinnerungsdiskurs gefunden haben. Gemeinsam mit dem Fotografen Achim Bednorz veröffentlichte er zwischen 2014 und 2018 drei Text-/Bildbände zu Künstler-, Dichter- und Komponistenhäusern. Christiane Raabe, 1962 in Ludwigsburg geboren, studierte Bildende Kunst, Geschichte und Philosophie in Braunschweig und promovierte in Mittelalterlicher Geschichte an der FU Berlin. Nach Tätigkeiten als wissenschaftliche Assistentin an der FU Berlin und als Lektorin und Redaktionsleiterin im K. G. Saur Verlag wechselte sie 2007 an die Stiftung Internationale Jugendbibliothek München, die sie seither als Direktorin leitet. Sie ist Mitglied in verschiedenen Beiräten und Vorsitzende der Gesellschaft der Freunde der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Nils Rottschäfer, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Universität Bielefeld, studierte Germanistik, Literaturwissenschaft und Soziologie in Bielefeld. Anschließend Wissenschaftliches Volontariat bei der LWL-Literaturkommission für Westfalen in Münster und Lehrtätigkeit an der Universität zu Köln. Seine Dissertationsschrift untersucht das Verhältnis von ‚Heimat‘ und ‚Religiosität‘ im Werk Arnold Stadlers. Forschungsschwerpunkte: Literatur um 1900, Literatur und Religion, Gegenwartslyrik, deutschsprachige Literatur nach 1945. Veröffentlichungen 347

Die Beiträgerinnen und Beiträger

u. a. zu Arnold Stadler, Peter Hille, Else Lasker-Schüler, Walter Kempowski, Karl-Heinz Ott und Hendrik Rost. Sikander Singh, Dr. phil., geb. 1971, Studium der Germanistik, Anglistik, Amerikanistik und Kanadistik in Montréal, Zürich und Düsseldorf, 2001 Promotion und 2009 Habilitation ebd., seit 2011 Leiter des Literaturarchivs Saar-Lor-LuxElsass und Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität des Saarlandes. Veröffentlichungen zur Literatur der Aufklärung, des Vormärz und der Moderne. Publikationen zuletzt: Studien zu Leben und Werk von Gustav Regler (Tübingen 2018); (Hg.) 1968. Literatur und Revolution (Hannover 2019); (Hg.) Narren, Clowns, Spaßmacher. Studien zu einer Sozialfigur zwischen Mittelalter und Gegenwart (Hannover 2020); (Hg.) Das geistige Straßburg im 18. und 19. Jahrhundert (Tübingen 2020). Eugen Wenzel, Dr. phil., geb. 1984, Studium der Germanistik, Philosophie und Lateinischen Philologie an der Georg-August-Universität Göttingen, Promotion an der Universität Paderborn mit der Arbeit Ein neues Lied? Ein besseres Lied? Die neuen „Evangelien“ nach Heine, Wagner und Nietzsche (Würzburg 2014). Während dieser Jahre u. a. Tätigkeiten als VHS-Dozent, Wissenschaftliche Hilfskraft, Lehrbeauftragter und Veranstalter von Symposien. Seit 2016 Studienassessor an Berliner Gymnasien, seit 2020 Studienrat und Fachbereichsleiter Deutsch an den Berufsbildenden Schulen in Halberstadt. Vortrags- und Forschungstätigkeiten im kulturwissenschaftlichen Bereich; aktueller Forschungsschwerpunkt: die Darstellung der Schlacht um Stalingrad in der deutschen, russischen und in weiteren Literaturen.

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Adressen der Beiträgerinnen und Beiträger Dr. Sandra Beck Universität Mannheim Seminar für deutsche Philologie Schloß, Ehrenhof West D – 68131 Mannheim [email protected] Joanna Bednarska-Kociołek Instytut Filologii German‘skiej Uniwersytet Łódzki ul. Pomorska 171/173 PL – 90-236 Łódz´ [email protected] Sven Behnke M. A. Joseph-Bernhard-Winck-Straße 1 D – 26133 Oldenburg [email protected] Dr. Gabriele Ewenz Heinrich-Böll-Archiv Literatur-in-Köln-Archiv (LiK) Josef-Haubrich-Hof 1 D – 50676 Köln [email protected] Dr. Emanuela Ferragamo 53 Corso Dante I – 12100 Cuneo [email protected] Prof. Dr. Detlef Haberland Loestr. 33 D – 53113 Bonn [email protected]

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Adressen der Beiträgerinnen und Beiträger

Prof. Dr. Günter Häntzschel Von-Erckert-Straße 40 D – 81827 München [email protected] Dr. Walter Hettche Universität München Institut für Deutsche Philologie Schellingstraße 3 D – 80799 München [email protected] PD Dr. Christine Ivanovic Universität Wien Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft Sensengasse 3A A – 1090 Wien [email protected] Prof. Dr. Bodo Plachta Niesertstraße 34 D – 48145 Münster [email protected] Dr. Christiane Raabe Stiftung Internationale Jugendbibliothek Schloss Blutenburg D – 81247 München [email protected] Dr. Nils Rottschäfer Universität Bielefeld Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft Universitätsstraße 25 D – 33615 Bielefeld [email protected] Prof. Dr. Sikander Singh Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass 350

Adressen der Beiträgerinnen und Beiträger

Universität des Saarlandes Campus Saarbrücken D – 66123 Saarbrücken [email protected] Dr. Eugen Wenzel Krausenstraße 37 D – 10117 Berlin Plantage 14 D – 38820 Halberstadt [email protected]

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Personenregister Achleitner, Friedrich 108 Ächtler, Norman 312 Adenauer, Konrad 54, 281 Adorno, Theodor W. 23 Agazzi, Elena 281 Aicher, Otl 98, 99 Aichinger, Helga, verh. Michie 105, 118 Aichinger, Ilse 8, 9, 20, 97-123 Alexander der Große 128 Alverdes, Paul 323, 324, 326, 343 Améry, Jean 19 Anderegg, Emil 203 Andersch, Alfred 57, 58, 59, 179, 185, 235 Andreas-Salomé, Lou 201 Andres, Stefan 280 Angstl (Metzger) 126, 141 Annuß, Evelyn 303 Arendt, Hannah 8, 18, 21, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 113, 316 Arlaud, Sylvie 253 Arnold-de-Simine, Silke 130, 148 Asper, Barbara 323 Assmann, Jan 36 Assunto, Rosario 257, 258 Attia, Sandie 126 Aue, Maximilian 186 Auerbach, Erich 23 Augé, Marc 249, 253, 260 Bachelard, Gaston 244 Bachmann, Ingeborg 153 Bachtin, Michail 68, 77, 78, 91 Bäcker, Heimrad 111 Badiou, Bertrand 22 Baer, Hester 305 Bagajewski, Artur 270 Bannasch, Bettina 30 Barner, Wilfried 21, 282 Barthes, Roland 158 Bauer, Josef Martin 312 Baum, Vicki 179 Baumgarten, Alexander G. 243

352

Baur, Uwe 110 Beck, Sandra 12, 301-321 Becker, Jürgen 54, 56, 57, 112 Becker, Wolfgang 303 Bednarska-Kociolek, Johanna 11, 263-275 Behan, Brendan 53 Behnke, Sven 11, 217-241 Behrmann, Alfred 129 Bellow, Saul 53 Benary-Isbert, Margot 332, 334, 335, 338 Bender, Hans 43, 56, 58 Benjamin, Walter 160 Benn, Gottfried 43, 157 Berbig, Roland 124, 129, 131, 133, 148, 149 Bernhard, Thomas 111, 158 Betz, Thomas 127, 137 Bialek, Edward 100 Bienek, Horst 265 Billinger, Richard 111 Binder, Helmut 24 Bismarck, Otto von 267 Bitomsky, Hartmut 103 Blaas, Erna 111 Blachut, Bastian 321 Blamberger, Günter 40 Blei, Franz 43 Bliersbach, Gerhard 301 Bloch, Ernst 78, 90, 91, 137, 144 Blumenberg, Hans 8, 17-46 Bobby E. Lüthge (d.i. Lüthge, Robert Erwin Konrad) 302 Bobrowski, Johannes 43 Bock, Hans-Michael 241 Böcklin, Arnold 102 Böhn, Andreas 130 Bohn, Jörg 179 Böll, Alois 49 Böll, Annemarie 49, 50, 51, 53, 59 Böll, Heinrich 8, 20, 47-67, 69, 99, 118, 157, 158, 179, 279, 292

Personenregister Böll, Viktor 69 Borbély, Szilárd 17, 18 Borchert, Wolfgang 11, 21, 84, 282, 283, 284 Born, Nicolas 55 Borzyszkowski, Józef 263 Bosse, Anke 242, 243, 246, 248, 251 Böttiger, Helmut 54 Braese, Stephan 18, 40 Brandstetter, Alois 101, 108, 111, 112, 113, 117 Braun-Fock, Beatrice 323 Brecht, Bertolt 21, 176, 177 Breicha, Otto 99, 100 Brentano, Clemens 146 Briegleb, Klaus 99, 127 Brinkmann, Rolf Dieter 55 Broch, Hermann 30 Brod, Max 19, 24 Bruckner, Anton 109 Brühl, Heidi 304 Bruns, Ursula 305, 330, 331, 343, 344 Büchner, Georg 140 Bullivant, Keith 56 Bunzel, Wolfgang 246, 261 Burck, Christina 194 Burdorf, Dieter 132 Burgess, Gordon 323 Burgmüller, Herbert 57 Burke, Edmund 258 Busch, Bernd 54 Busse, Karl Heiner 69 Butler, Judith 19 Butzer, Günter 129 Cacciari, Maurizio 245 Campe, Rüdiger 159 Canetti, Elias 20 Carossa, Hans 202 Cassirer, Eva 201 Celan-Lestrange, Gisèle 22 Celan, Paul 8, 17-46, 111, 118, 331 Cerorina, Danielle 305 Chaplin, Charlie 27 Chargesheimer (d.i Carl-Heinz Hargesheimer) 65 Chotjewitz, Peter O. 112

Chwin, Stefan 11, 263-275 Collande, Volker von 304 Collot, Michel 245 Combrinck, Thomas 54 Conrad, Josef 113 Cuniberto, Flavio 254, 255 Cuomo, Glenn R. 132 Czeslaw, Milosz 265 Darchinger, Josef Heinrich 178 Dehmel, Richard 306 Delp, Ellen 201, 202, 205 Deppe, Hans 301, 304 Detering, Heinrich 314 Dirks, Walter 47, 52 Distenfeld, Simon 133 Dittrich, Andreas 99, 108 Döblin, Alfred 53 Doderer, Klaus 323 Doderer, Heimito von 180 Domin, Hilde 9 Dorn, Hanns 201 Dostojewskij, Fjodor 88 Drese, Claus Helmut 282 Drewitz, Ingeborg 107 Drews, Jörg 126, 239 Droste-Hülshoff, Annette von 157 Dubbini, Renzo 246 Duden, Anne 245 Dunkl, Dora 245 Dünne, Jörg 245 Dürrenmatt, Friedrich 37 Durzak, Manfred 56 Ebermann, Thomas 7 Ebert, Friedrich 267 Eich, Günter 8, 9, 98, 99, 106, 107, 124-151 Eich, Mirjam 133 Eichendorff, Joseph von 127, 142, 150, 180 Eichholz, Armin 58 Eichmann, Adolf 109 Elliot, Robert C. 257 Emmerich, Wolfgang 43 Ende, Michael 12 Engel, Manfred 4

353

Personenregister Engelhardt, Arnd 29 Erdle, Birgit R. 31, 309 Ette, Ottmar 158 Ettighofer, Paul Coelestin 179 Ewenz, Gabriele 8, 47-67 Eyring, Georg 228 Fabri, Albrecht 53 Faesi, Robert 203 Faulstich, Werner 301 Feistauer, Verena 312, 317, 320 Felmy, Hansjörg 301 Felstiner, John 44, 331 Ferragamo, Emanuela 11, 242-262 Fetting, Hugo 169 Figl, Leopold 116 Fink, Gerhard 92 Fischer, Frank 263 Fischer, Susanne 218, 221, 224, 226, 229 Flemming, Heike 17 Fliessbach, Holger 331 Földes, Csaba 26 Fontane, Theodor 180 Foucault, Michel 159 Fowler (Mrs.) 305 Frank, Gustav 127 Frank, Horst Joachim 144, 146, 150 Frank, Manfred 25 Frank, Michael C. 69 Frank, Rudolf 75 Franke, Manfred 56 Franz, Kurt 341 Frei, Norbert 316, 317 Friedrich, Hugo 43 Frischmuth, Barbara 112 Fritsch, Gerhard 99, 100 Frizen, Werner 273 Fromm, Christoph 70, 71, 74, 76, 77, 84, 85, 87 Fühmann, Franz 76, 77, 78, 90, 91, 92 Fusillo, Massimo 255, 256 Fussenegger, Gertrud 111 Gabbani, Carlo 252 Gaiser, Gerd 179 Gansel, Carsten 68, 70 Gausterer, Tanja 109, 111

354

Gebhard, Gunther 7, 21 Gebhard, Ulrich 268 Geisler, Oliver 7 Gerlach, Heinrich 68, 70, 72, 73, 74, 78, 79, 80, 83, 84, 88, 93 Gfrereis, Heike 44, 154 Gide, André 163 Giordano, Ralph 56 Giudici, Nicolas 249 Gleim, Johann, Wilhelm Ludwig 147 Goethe, Johann Wolfgang von 137, 146, 152, 157, 160, 252 Goldsmith, Oliver 137 Göring, Hermann 75, 76 Gradwohl-Schlacher, Karin 110 Graf, Arturo 257 Graf, Johannes 185, 186 Graf, Oskar Maria 158 Grass, Günter 11, 263, 264, 265, 273 Grimm, Jacob und Wilhelm 120, 131, 181, 243, 260 Gross, Otto 201 Guthjahr, Ortrud 303 Haberland, Detlef 10, 26, 126, 178-197 Habermas, Jürgen 265 Hadot, Pierre 251, 252 Haefs, Wilhelm 133 Hager, Joseph 126 Hahn, Barbara 28 Hallet, Wolfgang 180 Hamacher, Werner 44 Hamm-Brücher, Hildegard 178 Handke, Peter 20, 112 Häntzschel, Günter 10, 197, 201-216 Harig, Ludwig 112 Hartlaub, Geno 8, 10, 178-197 Hatvany, Lajos 161 Haushofer, Marlen 11, 111, 242-262 Haußmann, Leander 303 Hawlitschek, Bettina 181 Hebel, Johann Peter 133 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 90 Heine, Heinrich 27, 68, 88, 90, 127, 174, 176 Heinzle, Joachim 75 Helms, Hans G. 56

Personenregister Helwig, Werner 179 Hendrix, Harald 157 Hennetmair, Karl Ignaz 158 Henry, O. (d.i. William Sydney Porter) 53 Herchenbach, Fanny 328, 329, 330, 334, 343 Hermes, Roger 24 Hermes, Stefan 219 Hermsdorf, Klaus 169 Hesse, Hermann 158, 202, 205, 295 Hettche, Walter 9, 124-151 Heuer, Wolfgang 28 Hilbig, Wolfgang 20 Hildebrand, Olaf 130 Hildesheimer, Wolfgang 8, 17-46 Hirschfeld, Magnus 155 Hirt, Günter 159 Hitler, Adolf 72, 75, 91, 93, 109, 116, 177 Hocke, Gustav René 179, 185 Hoffmann, Hilmar 303 Hoffmann, Stephanie 194 Hofmann, Michael 248, 253, 254 Hoge, Boris 71 Hölderlin, Friedrich 42, 43, 44, 45 Holl, Hans Günter 18 Hollander, Gertrud von 75 Höllerer, Walter 135 Holzner, Hans 161 Homer 61, 92 Hönscheid, Johannes M. 57 Horaz 4 Horbrügger, Anja 195 Horkheimer, Max 23 Horster, Hans Ulrich (d.i. Eduard Rhein) 179 Hoven, Herbert 49 Hübener, Andrea 129 Huchel, Peter 133, 134, 136, 139, 140, 141, 148, 149 Huelle, Pawel 263, 264, 265, 266 Hühnerfeld, Paul 60 Humm, Moritz 321 Illner, Eberhard 63 Ivanovíc, Christine 9, 22, 28, 97-123

Jacobson, Roy 279 Jahraus, Oliver 24 Jakob, Joachim 129 Janosch (d.i. Horst Eckert) 7 Jany, Chriwtian 31 Jaspers, Karl 27, 29 Jean Paul (d.i. Paul Friedrich Richter) Jehle, Volker 35 Jelinek, Elfriede 108, 155 Jens, Inge 173, 175 Jens, Walter 20 Jirku, E. Brigitte 197 Johnson, Uwe 160 Jonke, Gert 97, 108, 112, 117 Jung, Jochen 108

157

Kaes, Anton 302 Kafka, Franz 8, 17-46, 113, 156 Kaiser, Gerhard 42, 129, 130 Kaminski, Winfried 323, 326, 328, 334, 344 Kant, Immanuel 38, 254 Kapcynski, Jennifer 316 Kargl, Elisabeth 252, 253 Kargl, Kristine 203 Kasack, Hermann 20, 124, 133, 147 Kaschuba, Wolfgang 301 Kassner, Rudolf 201 Kauder, Anthony 24 Kemp, Friedhelm 202, 205, 215 Kennedy, Beate 314 Kerr, Judith 53 Keun, Irmgard 56, 314 Kiaulehn, Walter 234 Kirchmeier, Hein 158 Kirchner, Christel 327, 328 Kirchner, Jo 57 Kittstein, Ulrich 130 Klages, Imme 321 Klee, Paul 118, 119, 120 Kleinschmidt, Karl 110 Klinger, Paul 310 Klipstein, Editha 179 Kloock, Daniele 272 Klopstock, Friedrich Gottlob 146 Kluge, Alexander 82, 84, 85, 86 Knecht, Maria-Regina 250, 251, 259

355

Personenregister Knoch, Habbo 18 Knott, Marie Luise 28 Kos´ciuszko, Tadeusz 267 Kobyli`nska, Ewa 265 Koch, Gertrud 301 Koch, Lars 304 Koch, Werner 56, 65, 66 Koelbl, Herlinde 155, 159 Koeppen, Wolfgang 158, 197 Kogon, Eugen 52 Köhler, Lotte 29 König, Christiane 310 König, Hans Heinz 303 Konsalik, Heinz G. 83, 88, 89 Koppe, Susanne 341 Kordecki, Sarah 302, 303, 304 Koref, Ernst 110 Körner, Christian Gottfried 152, 153 Kornitzer, Lacy 17 Krajewski, Markus 153 Kraus, Karl 172 Krauss, Werner 27 Krechel, Ursula 156 Kriegleder, Wynfrid 112 Kroll, Fredric 165 Kroll, Joe Paul 31 Krüger, Peter 75 Krüss, James 12 Kuhn, Sebastian 321 Kulikowska, Katarzyna 263 Kunz, Ernst-Adolf 49, 53, 58 Küpper, Achim 26 Küster, Hansjörg 261 Lacheny, Marc 253 Lajarrige, Jacques 253 Lämmert, Eberhard 297 Lampart, Fabian 125 Lamping, Dieter 44 Lange, Horst 134 Lassel, Dora 134 Latour, Bruno 208 Laumont, Christof 243 Lawaty, Andreas 265 Lazare, Bernard 27 Le Née, Aurélie 253 Leber, Manfred 281

Leitgeb, Christof 116 Leitner, Hermann 304 Lenz, Siegfried 179 Leone, Massimo 247 Leonhardt, Rudolf Walter 154 Lepmann, Jella 322, 343 Lernet-Holenia, Alexander 111, 179 Leroy, Éric 253 Lessing, Gotthold Ephraim 147 Lettau, Reinhard 197 Licciardi, Lorenzo 37 Liebau, Antje 134 Limberg, Margarete 52 Linsmayer, Charles 203, 206 Lipski, Jan Józef 264, 274, 275 Liska, Vivian 44 Loew, Peter Oliver 263 Lorenzen, Thomas 242 Lotman, Juri M. 247 Lück, Michael 321 Ludewig, Alexandra 302, 320 Ludwig, Gerhard 62 Ludz, Ursula 28, 113 Lühe, Irmela von der 28 Lukács, Georg 23 Luschnat, Willi 171 Lützeler, Michael 30 Maas, Edgar 179 Macek, Ilse 203 MacFarlane, Robert 249 Magris, Claudio 250 Mahler, Andreas 245 Mahlke, Kirsten 69 Mann, Erika 162, 170, 172, 173 Mann, Golo 173 Mann, Heinrich 163 Mann, Katja 161 Mann, Klaus 8, 10 Mann, Thomas 25, 162, 169, 171, 173, 174, 175, 189, 203 Manukowa, Christina 134 Marc Aurel, Kaiser 251 Markus, Hannah 119, 133 Marquard, Martin 152 Martens, Gunther 116 Marti, Madeleine 196

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Personenregister Martynkewicz, Wolfgang 219, 221, 222, 224, 226, 228, 229, 230, 231, 234, 235, 240 Marx, Karl 78, 90, 255 May, Paul 303 Mayer, Peter 20 Mehnert, Elke 265 Meissner, Angelika 304 Mell, Max 203 Menke, Timm 219 Meschiari, Matteo 244, 245 Meyer-Lenz, Johanna 194 Meyer, Conrad Ferdinand 146 Meyer, Thomas 29 Michel, Wilhelm 235 Michie, Helga, geb. Aichinger 118 Mickiewiz, Adam 267 Milch, Werner 185 Miliani, Raffele 246 Miller, Lee 47 Moltke, Johannes von 303 Morikawa, Takemitsu 194 Mörike, Eduard 159 Morley, Davis 251 Moser, Christian 28 Moser, Eva 98 Muhic´, Amir 219 Mühl, Otto 60 Müllenhoff, Emma 329 Müller-Hanpft, Susanne 130 Müller, Heiner 42 Müller, Karl 99, 100 Murken, Barbara 324, 341 Muschg, Adolf 112 Musil, Robert 155 Nadolny, Sten 159 Napoleon Bonaparte 306 Nauer, Heinz 203 Nebel, Gerhard 179 Neumann, Birgit 180 Neumann, Peter Horst 39 Neven Du Mont, Reinhold 57 Nibbrig, Lucas Hart 35 Niedecken, Wolfgang 47 Nietzsche, Friedrich 21 Nolte, Ernst 71

Nono, Luigi 174 Nora, Pierre 121 Nordmann, Ingeborg 113 Nossak, Hans Erich 20 Novalis (d.i. Georg Philipp Friedrich von Hardenberg) 22 Nünning, Ansgar 180 O’Brien, Flann 53 Oeser, Adam Friedrich 157 Obracht-Prondzyn´ski, Cezary Olschner, Leonard 22 Orlowski, Hubert 265 Ort, Varun F. 30 Osmund, Emanuel 157

263

Pablé, Elisabeth 262 Palfreyman, Rachel 127 Panasiuk, Alina 264, 269 Parry, Christoph 185 Paul, Heinz 304 Payrhuber, Franz-Josef 341 Pelka, Artur 36 Perrig, Severin 156 Petrarca, Francesco 251 Pflaumbaum, Christoph 36, 40 Philipps, Sören 304 Picard, Max 203 Plachta, Bodo 10, 52-177 Plato 285, 295 Plessner, Helmuth 23 Plievier, Theodor 75, 79, 80, 85, 93 Plöschberger, Doris 239 Pötzch, Arno 89 Predoiu, Grazziella 242 Proust, Marcel 31, 146, 256 Quinkenstein, Lothar 265 Raabe, Christiane 12, 322-344 Raabe, Wilhelm 159 Rabenstein-Michel, Ingeborg 119 Raschke, Martin 133, 136 Rasmus-Braune, Joachim 179 Rathjen, Friedhelm 239 Rauschenbach, Bernd 219, 235, 238, 240

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Personenregister Reemtsma, Jan Philipp 219, 228, 240 Reich-Ranicki, Marcel 197 Reichensperger, Richard 98, 107, 108, 114 Reid, Hamish 51 Reiling, Isidor 176 Reimers, Kirsten 296 Remarque, Erich Maria 158 Rerrich, Maria S. 194 Resch, Jessica 295 Retif, Françoise 119 Reuber, Kurt 89 Reulecke, Anne-Katrin 154, 173, 177 Richter, Hans Werner 59, 60, 99, 142, 185 Ries, Julien 249 Riess, Curt 171 Rilke, Rainer Maria 201, 202, 205, 206 Ritter, Joachim 244 Rix, Hugh 118 Rix, Ruth 118 Roeder-Gnadeberg, Käthe von 325, 326 Roentgen, David 152 Rohner, Ernst Theo 197 Rosa, Hartmut 23 Rosei, Peter 112 Roth, Joseph 265 Rother, Rainer 304 Rottschäfer, Nils 8, 17-46 Rüdiger, Elise 157 Rüdiger, Stefan 265 Rupp, Michael 30 Rürup, Miriam 29 Ruthner, Clemens 242, 248, 251 Sachs, Nelly 35, 158 Salchow, Jutta 125 Saner, Hans 29 Schaefer, Oda 134, 146 Schaenzler, Nicole 162, 165 Schäfer, Sabine 13 Schafroth, Heinz F. 125, 126, 144 Schallück, Paul 58, 62, 63 Schardt, Michael Matthias 219 Scharnowski, Susanne 20 Schauer, Georg Kurt 125

Scherer, Stefan 127 Scheuer, Jürgen 129 Schieker-Ebe, Sofie 324, 335, 337, 343, 344 Schiller, Friedrich 77, 90, 152, 153, 155 Schleif, Wolfgang 304, 312 Schlenstedt, Silvia 169 Schmid (Spenglermeister) 124 Schmid, Bruno 255 Schmid, Johannes 68 Schmid, Oskar 126, 137, 147 Schmidgall, Renate 264, 265, 272 Schmidjell, Christine 242 Schmidt, Alice 218, 219, 221, 226 Schmidt, Arno 8, 11, 158, 196, 217-241 Schmidt, Aurel 249 Schmidt, Heiner 180 Schmitz, Alexander 32 Schmitz, Walter 133 Schnabel, Ernst 104 Schneider, Thomas F. 284 Schnurre, Wolfdietrich 55, 60 Schöbel-Rutschmann, Sören 244, 261 Schobert, Walter 303 Scholl, Hans 98 Scholl, Inge 97, 98, 99 Scholl, Sophie 98 Scholz, Sylke 194 Schönberg, Arnold 174 Schröder, Jürgen 41, 282, 284 Schröter, Steffen 7, 21 Schubert, Jochen 48 Schulz, Bruno 265 Schulz, Georg-Michael 22 Schulz, Kristin 42 Schulz, Marion 197 Schulze-Wilde, Harry 177 Schutting, Jutta 112 Schütz, Ehrhard 281 Schwarz, Ute 195 Schwarz, Wolfgang 11, 12, 279-300 Schwering, Ernst 63 Schwier, Heinrich 239 Schwind, Martin 246 Searles, Harold F. 268 Sebald, Winfried Georg 20 Seeßlen, Georg 303, 307, 320

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Personenregister Seghers, Anna 20, 176 Seidl, Claudius 304, 314 Selbmann, Rolf 130 Seltsam, Nadin 134 Selzer, Sabine E. 112 Sepp, Arvi 116 Seuren, Günter 55 Shaw, George Bernard 53 Siegmund, Andrea 244 Sill, Oliver 20, 21 Simmel, Georg 248 Simonis, Linda 28 Singh, Sikander 11, 279-300 Smith, Gary 316 Solschenizyn, Alexander 159 Sonnleitner, Johann 119 Spahr, Angela 272 Sparr, Thomas 25, 44 Spender, Stephen 59 Spiel, Hilde 8, 178-197 Spitz, René 98 Sprecher, Thomas 174 Stalin, Josef 177 Staudte, Wolfgang 305, 312 Steffen, Hans 297 Steguweit, Hans 337, 341, 342, 343, 344 Stein, Charlotte von 152 Steinberg, Rainer 56 Steinecke, Hartmut 137 Steinlein, Rüdiger 328 Stepanova, Elena 71 Stern, Carola 56 Sternberger, Dolf 27 Sternheim, Carl 43 Stiegler, Bernd 32 Stifter, Adalbert 113, 157 Stingelin, Martin 157 Stomps, Victor Otto 63 Storm, Theodor 128 Strich, Fritz 203 Strigl, Daniela 242, 251, 253 Strindberg, August 282 Strudthoff, Inge 297 Stummer, Alfons 301 Sturma, Leopold 109 Suvin, Darko 243, 247, 248, 251, 256

Szmorhun, Arletta 85 Szondi, Peter 42 Täubert, Klaus 165 Tauschinski, Oskar Jan 256, 262 Tetzner, Lisa 12, 338, 340, 341, 344 Tgahrt, Reinhard 125 Thiess, Frank 179 Thorwarth, Katja 7 Tigges, Stefan 36 Tischner, Józef 274 Tismar, Jens 237 Trautwein, Brunhilde 324 Treskow, Henning von 267 Trinks, Ralf 284, 292, 293, 294, 297, 299 Tschapajew, Wassili 267 Tumler, Franz 111 Tunner, Erika 119 Tworek, Elisabeth 158 Uka, Walter 301 Ullmann, Camilla 201, 202 Ullmann, Gerda 201 Ullmann, Regina 8, 10, 201-216 Urbich, Jan 21 Varnhagen, Rahel von 113 Vedder, Ulrike 40, 129 Venturi Ferrilo, Massimo 257 Vergil 92 Vesper, Guntram 112 Vieregg, Axel 125, 126, 132, 135, 137, 139, 141, 146 Villinger, Rahel 31 Villwock, Peter 23 Vinzenz, Stanislaw 265 Vogl, Joseph 26 Vollmer, Hartmut 218, 219 Vondung, Klaus 74 Vormweg, Heinrich 56 Wagner, Hans-Ulrich 118, 124, 134 Waldmüller, Monika 27 Waldschmid, Anneliese 75 Walser, Martin 20, 112, 113, 154 Wang Wei 143 Watson, Francis 153

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Personenregister Weber, Alfred 27 Weber, Werner 203 Wehler, Hans-Ulrich 220, 221 Weiershausen, Romana 281, 282, 295 Weigel, Hans 97, 99, 100, 253 Weigel, Sigrid 309 Weiner, Richard 130 Weinheber, Josef 111 Weinkauff, Gina 338, 341 Weinzierl, Erika 184 Weiß, Christoph 130 Weiss, Peter 35 Weller, Christiane 129 Wellershoff, Dieter 55, 56 Welling, Florian 42, 43, 45 Wende, Waltraud 304 Wenzel, Eugen 9, 68-93 Weyrauch, Wolfgang 178 White, Patrick 53 Wiedemann, Barbara 22 Wieland, Martin 152 Wiesinger-Stock, Sandra 184 Wietersheim, Sharon von 305 Wild, Reiner 328 Winkler, Eugen Gottlob 113

Winter, Hans-Gerd 323 Wintzen, René 48 Wissing-Frank, Gertrud 171 Wißkirchen, Hans 156 Wittgenstein, Ludwig 294 Wittlin, Józef 265 Wolfe, Thomas 164, 165 Wolfskehl, Karl 202 Wollschläger, Hans 218 Wonders, Sascha 159 Woolf, Virginia 156 Wöss, Fritz 77, 81, 82, 83, 84, 93 Würz, Mario 305 Wychgram, Johannes 77 Young-Bruehl, Elisabeth

18

Zagari, Franco 245, 259 Zeemann, Dorothea 246 Zehetmaier, Winfried 193 Zill, Rüdiger 33, 34 Zimmer, Heidi 184 Zimmermann, Hans Dieter 275 Zimmermann, Michael 56 Z˙ylin‘ski, Leszek 100

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treibhaus. Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre 1 (2005) Wolfgang Koeppen & Alfred Döblin. Topographien der literarischen Moderne 2 (2006) Wolfgang Koeppen 1906 – 1996 3 (2007) Der Zweite Weltkrieg in erzählenden Texten zwischen 1945 und 1965 4 (2008) Die Anfänge der DDR-Literatur 5 (2009) Das Jahr 1959 in der deutschsprachigen Literatur 6 (2010) Zur Präsenz deutschsprachiger Autorinnen 7 (2011) Zur deutschsprachigen Literatur in der Schweiz 8 (2012) Komik, Satire, Groteske 9 (2013) Die fünfziger Jahre im autobiographischen Rückblick 10 (2014) Österreich 11 (2015) Die große Schuld

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12 (2016) Wolfgang Hildesheimer 13 (2017) Lyrik 14/15 (2019) Das Theater der fünfziger Jahre 16 (2020) Wolfdietrich Schnurre 17 (2021) Heimat und Fremde

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