Heideggers Zeit des Umbruchs: 90 Jahre Rigaer Vorträge [1 ed.] 3495491066, 9783495491065

Im September 1928 hielt Heidegger in Riga eine Vortragsreihe zu Kants Kritik der reinen Vernunft und der philosophischen

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Heideggers Zeit des Umbruchs: 90 Jahre Rigaer Vorträge [1 ed.]
 3495491066, 9783495491065

Table of contents :
Cover
Einleitung
I Zeit – Freiheit – Transzendenz – Sein
Von Kants Transzendentaler Ästhetik zu Heideggers Analytik des Daseins in seiner Zeitlichkeit
1. Heideggers Gespräch mit Kant
2. Hegels (An-und-)Für-sich-Sein und Husserls Epoché
3. Existenzialien als Momente der Endlichkeit des Daseins
4. Kants Auftakt in der transzendentalen Ästhetik
5. Subjektivistische und objektivistische Vorstellungen von Zeit und Raum
6. Kritik an Vorhandenheitssemantik und Selbstverdinglichung
7. Zur Zeitlichkeit der Sorge
8. Zur Absolutheit des Daseins im Vollzug
9. Ausblick
Metaphysik, Anthropologie oder Existenzial-Ontologie?
Wie Kant Heideggers Frage nach der ursprünglichen zeitlichen Seinsform des Menschen beantwortet
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
Martin Heideggers Freiheitsbegriff in Sein und Zeit und der Vorlesung Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1930)
I. Hinführung zum Problem der menschlichen Freiheit: Der heutige universale Deutungsanspruch der Neurowissenschaften
II. Der methodische Leitfaden und die Aufgabe der Auslegung des Freiheitsbegriffesin Sein und Zeit in der Abgrenzung von anderen Interpretationen
III. Die Frage nach dem Wesen der menschlichen Freiheit in der Vorlesung vom Sommersemester 1930 unter Berücksichtigung des Vortrags »Vom Wesen der Wahrheit«
The Transcendental Framework of Heidegger’s Seinsfrage: Endorsement and Dismissal
1. The Transcendental Horizon of the Question of Being
2. The first transcendence: that of being
3. The second transcendence: that of Dasein
4. The traditional concepts of transcendence
5. Heidegger’s Kantian Kehre
6. What is Transcendental Philosophy?
7. The 1936 Reading of Sein und Zeit
Die Metontologie als mögliche Entwicklung von Heideggers Denken am Ende der zwanziger Jahre
II Vernunft – Sorge – Einbildungskraft – das Offene
Nach ›Sein und Zeit‹. Heideggers Kant. Eine Wegmarke
1. ›Metaphysik der Metaphysik‹ als Lehre von der Zeit
2. Das Kant-Buch als nachgeholte Vorgeschichte und Legitimation von ›Sein und Zeit‹?
3. Vertauschte Fronten noch immer? Das Davoser Höhengespräch: Cassirer und Heidegger
Kritik der Purismen der Vernunft: Noch ein Weg für die Gerechtigkeit?
1. Die Frage nach dem Sinn des Seins als die Frage nach dem Recht
2. Im-Recht-sein: Eine Überlegung im Anschluss an das ius naturale und das ius gentium
3. Die ontologische Synthesis und das Gefühl der Achtung: Heideggers Weg für die Gerechtigkeit
Reaching for the Open: Heidegger, Rilke, and the Gaze of the Living
Heidegger und Rahner: Was rast um den Erdball?
Subjektivität, Einbildungskraft – und das Ereignis. Heidegger liest Kant
1. Die Einbildungskraft im Leitbegriff des animal rationale
2. Die Einbildungskraft als ursprünglich zeitliche Wurzel von Sinnlichkeit und Verstand und Kants Zurückschrecken vor dem Abgrund
3. Wiederholung und Auseinandersetzung jenseits des Kampfs der Positionen
4. Das Ahnen und die Einbildungskraft
III Zeitgeschichtliches
Herderinstitut zu Riga in der Zeit von Heideggers Rigaer Aufenthalt
1. Das Herderinstitut innerhalb der deutschen Minderheit und die Schulautonomie in Lettland
2. Das Herderinstitut und die Universität Lettlands
3. Aufbauhilfe aus der Weimarer Republik: das Herderinstitut als Vehikel zur Förderung der Auslandsdeutschen?
4. Heidegger in Riga
5. Die Akten und die Gäste des Herderinstituts: Anlass für neue Forschungen
6. Aussichten und Perspektiven
Die Autorinnen und Autoren

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Schriftenreihe Martin-Heidegger-Gesellschaft

Raivis Bičevskis | Harald Seubert [Hrsg.]

Heideggers Zeit des Umbruchs 90 Jahre Rigaer Vorträge

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Schriftenreihe Martin-Heidegger-Gesellschaft Herausgegeben von Harald Seubert Klaus Neugebauer Wissenschaftlicher Beirat Damir Barbarić (Zagreb) Thomas Buchheim (München) Michael Großheim (Rostock) John Sallis (Boston) Band 14

Raivis Bičevskis | Harald Seubert [Hrsg.]

Heideggers Zeit des Umbruchs 90 Jahre Rigaer Vorträge

© Titelbild: Schwarzhäupterhaus, Riga, Nationale Bibliothek Lettlands, Digitale Bibliothek Letonica, o.J.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-49106-5 (Print) ISBN 978-3-495-99488-7 (ePDF)

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1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de

Raivis Bičevskis, Klaus Neugebauer

Heideggers Gutachten von Erika Sehls Habilitationsschrift zur Entstehung des Empfindungsproblems

Am 11. Mai 1935 verfasst Martin Heidegger ein Gutachten zu Erika Sehls Habilitationsschrift »Kritische Studien zur Entstehung des Empfindungsproblems«. Das zweite Gutachten dieser Arbeit kommt aus München nach Riga – von Alexander Pfänder. Die Habilitation fand 1935 am Herder-Institut zu Riga statt. Erika Sehl (1902–1989) war eine deutschbaltische Philosophin mit lettischen Wurzeln, die zusammen mit ihrem Mentor am Her­ der-Institut zu Riga Kurt Stavenhagen (1884–1951) und anderen Studenten des Instituts 1928 den ersten Zirkel der Heidegger-Leser in Riga bildete und an Stavenhagens Seminaren zu Heideggers »Sein und Zeit« teilnahm. Sie hat einen sehr intensiven und vieldimensio­ nalen Lern- und Studienweg in St. Petersburg und Riga hinter sich, als sie 1922/23 in Freiburg bei Husserl und Heidegger (aber auch mit Besuch der Vorlesungen von Honecker, Ebbinghaus, O. Becker u.a.), sowie 1923 bei Pfänder (aber auch bei Hildebrandt, Wölfflin u.a.) in München ihre Studien fortsetzt. Sie promovierte (nach weiteren Semestern in Freiburg) 1931 über John Lockes Erkenntnistheorie in Königsberg bei Heinz Heimsoeth (1933), kehrte nach Riga zurück und begann als Assistentin bei Stavenhagen am Herder-Institut zu arbeiten. Ihr weiteres Schicksal ähnelt dem Großteil der Deutschbal­ ten, die 1939 Lettland verließen und nach Deutschland gingen. Sehls Lebensspuren nach dem Zweiten Weltkrieg kann man heute nur anhand ihrer Gedichtsammlungen verfolgen (Berlin, 1964–1982). Nachforschungen zu einer biographisch-doxographischen Geschichte von Erika Sehl – einer der begabtesten Schülerinnen von Stavenhagen und Sprösslingen des Herder-Instituts in Riga im Feld der Philosophie – befindet sich in der Entstehung.

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Raivis Bičevskis, Klaus Neugebauer

Heideggers Rezension ist ein Nachspiel seiner Reise nach Riga im September 1928, einer Reise, die eine intellektuelle Wirkung in Riga hinterlassen hat. Den Habilitationsprozess von Sehl hat Kurt Stavenhagen intensiv organisiert und geleitet. Er war einer der wich­ tigsten Philosophen des Herder-Instituts und der deuschbaltischen intellektuellen Kreise überhaupt. Seine Schriften zum Wesen der Nation, der Heimat, der Person, der Persönlichkeit, auch zu Herder und Kant liest man heute nicht nur als ein Zeichen der damaligen die Extreme liebenden Zeit: eher ist seine Position kulturphänomenolo­ gischer Art. Seine Tätigkeit am Herder-Institut, an den Universitäten in Königsberg, Posen, Hamburg und Göttingen ist weitgehend uner­ forscht geblieben. Die Rezension von Sehls Habilitationsarbeit ist ein Stück von Heideggers Arbeit in der Mitte der dreißiger Jahre. Seine Betonung des Zurückgehens auf griechische Anfänge und hermeneutische Destruktion der neuzeitlichen Sichtweise auf die Griechen zeigt sich deutlich im komprimierten Text des Gutachtens. Die Seinsfrage steht auch da im Zentrum: nur aufgrund der griechischen Seinsfrage kann man die Entstehung des originären griechischen Empfindungspro­ blems beschreiben. Alexander Pfänder als der zweite Gutachter bleibt dagegen eher auf dem Wege der Phänomenologie Husserls, der später – schon modifiziert – zu Maurice Merleau-Ponty führen wird: Pfänder betont Sehls Eingehen auf die sinnliche Wahrnehmung »in ihrem phänomenalen Bestande« und lobt ihre Bemühungen um eine Phänomenologie der sinnlichen Wahrnehmung. Der Habilitationsschrift von Erika Sehl erschien dann 1936 in Riga (Verlag Ernst Plates). Die gedruckte Version von 1936 bewegt sich in gewisser Weise im Spanunngsfeld, das im Zuge der Rezen­ sionen und Ergänzungen der Schrift entstanden ist. Die Arbeit, die Kurt Stavenhagen gewidmet ist, heißt jetzt »Erkenntnisontik in der griechischen Philosophie. Kritische Studien zur Geschichte der Lehre von einer Subjektivität der Sinnesqualitäten«.

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Heideggers Gutachten von Erika Sehls Habilitationsschrift

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Raivis Bičevskis, Klaus Neugebauer

Heideggers Rezension (LNA LVVA F4472 US1 GV13 LP6) befindet sich im Staatsarchiv für Geschichte in Riga – in den Akten des Herder-Instituts zu Riga. Die Akten beinhalten einen Teil des Insti­ tutsarchivs, der leider im Laufe der Geschichte des 20. Jahrhunderts stark dezimiert wurde. Dennoch sind die Akten ein hervorragendes Zeugnis der Arbeit des Herder-Instituts. Es gibt viele Briefe der Gastprofessoren und andere Dokumente zur Geschichte der Bildung und Zeitgeschichte Lettlands, Rigas und der Beziehungen zwischen dem Baltikum und Deutschland. Die Rezension wird mit Genehmigung von Heideggers Nach­ lassverwalter Arnulf Heidegger und des Archivs in Riga publiziert. Dafür herzlichen Dank an Herrn Heidegger und an den Direktor des Archivs Dr. Kārlis Zvirgzdiņs.

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Vorwort

Das Denken eines Philosophen kann als Weg bezeichnet werden. Es kennt Kehren und Biegungen. Es gibt auf dem Wege eines Denkers schicksalhafte Einkehr und verhängnisvolle Entgleisungen. Gerade diese Fragwürdigkeit eines philosophischen Weges ist ein Discrimen des Lebens, die artikulierte Philosophie auf eine besondere und emi­ nent beispielhafte Weise aufzeigt, eben weil sie ein work in progress bleibt: Vollzug und nicht nur Resultat. So hat auch das Denken von Martin Heidegger seine »Wege«: Um- und Abwege. Um das Jahr 1928, nach dem Erscheinen von »Sein und Zeit«, beginnt eine besonders komplexe Wegstrecke in seinem Denken und Leben. Diese Wegstrecke führt auf Aporien und sie ist mit der ›Kehre‹ verbunden. Dies hat triviale, also grundlegende Ursachen: Ein neuer Beginn ist schwer, aber das Weiterführen noch schwerer. Wohin führt dieser Weg? Und – wann beginnt er? Diese prima facie einfachen Fragen sind bei näherer Betrachtung hintergründig und komplex: Es geht um einen Weg des Philosophen, wo es ständig zum Umkehren und zu Wiederholungen, zum Erkämpfen der Möglichkeit des Den­ kens im Mitgehen mit dem Leben kommt. Einst hat Heidegger dies Mitgehen die Hermeneutik der Faktizität genannt. Nach »Sein und Zeit« erkundet er noch andere Mitgehensmöglichkeiten: der Meton­ tologie und der transzendentalen Ausarbeitung der Seinsfrage, die zu einer Metaphysik des Daseins bzw. Endlichkeit führt. Aber nicht nur das: Mag sein, dass manches auf diesen Wegen nicht rein aus innerer Unumgänglichkeit erwachsen ist, sondern aus einer geschichtlich bedingten Auseinandersetzung mit der Philosophie des Zeitalters und mit dem Zeitalter selbst. Für Heidegger aber – im Sinne der damaligen Situierung seiner Denkbewegung – gab es kein legitimes Ausweichen im »Inneren«, »außerhalb« des Geschichtlichen. Was aber bedeutet eine »Inständigkeit in der Geschichte« (wie er nur wenige Jahre später in den dreißiger Jahren fragen wird)? – Diese Frage philosophisch zu stellen, bedeutete wohl einen harten philosophischen Weg gegangen zu sein, erprobend, auch »riskantes Denken« (Gumbrecht) übend, ungewiss, fragwürdig.

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Vorwort

Nach dem Erscheinen von »Sein und Zeit« trat Martin Heidegger in den späten zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts in eine Denk­ phase ein, in der sich verschiedene Möglichkeiten eröffneten, wie das fundamentalontologische Denken fortzuführen, bzw. zu transfor­ mieren sei: Dabei zeigte sich einerseits ein vertiefter Rückgang in die Metaphysik, andererseits und besonders eine Zuwendung zur Tektonik von Kants Kritiken. Im September 1928 hielt Heidegger in Riga eine Vortragsreihe zu Kants »Kritik der reinen Vernunft« und der philosophischen Problemlage der Gegenwart, und ein Jahr später publizierte er das Buch »Kant und das Problem der Metaphysik«. Die Rigaer Vorträge können als eine Art Urzelle des Kant-Buches bezeichnet werden, das seinerseits für die Debatte mit Cassirer 1929 in Davos von größter Bedeutung war. Zugleich blieben diese Vorträge aber schwer greifbar und in eine Art Mysterium gehüllt. Denn ihre Texte schienen bislang nicht überliefert zu sein.1 Damit sind mehrere Themen und Begriffe angesprochen, die Heideggers Umbruchszeit 1928–1932 kennzeichnen. Diesen Wegen, Themen und den Begrifflichkeiten Heideggers gehen mehrere ausge­ wiesene Heidegger-Kenner im hier vorgelegten Band »Heideggers Zeit des Umbruchs« nach: Dieser Tagungsband enthält die Beiträge, die im Rahmen der internationalen Tagung »Martin Heidegger in Riga: Heideggers Umbruchszeit 1928–1932« in Riga (Lettland) vor­ getragen wurden. Diese Tagung galt dem 90-jährigen Jubiläum von Heideggers Aufenthalt in Riga 1928. Sie knüpfte an die große Jah­ restagung der Martin-Heidegger-Gesellschaft anlässlich des 90-jährigen Jubiläums des Erscheinens von »Sein und Zeit« (Meßkirch, Herbst 2017) an und setzte die Erforschung der Zeitfolge von Heideggers Denken fort.2

1 In GA 80,1 sind die Gemengelage und die parallelen Vorträge und Gastvorlesungen Heideggers nun hervorragend dokumentiert. 2 H. Seubert und K. Neugebauer (Hg.), Neunzig Jahre ›Sein und Zeit‹, Frei­ burg/Br. 2018.

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Vorwort

Der Rigaer Aufenthalt Heideggers ist eine Episode am Ende der zwanziger Jahre, die aber gerade als ein Ausgangspunkt der Umbruchszeit, die Konstellation der Heideggerʼschen Bemühungen um Fortsetzung und Wandel des fundamentalontologischen Fra­ gens widerspiegelt. Vom Herder-Institut eingeladen, hat Heidegger im Rahmen eines Hochschulkurses der Herder-Gesellschaft vom 11. bis 14. Sep­ tember 1928 im Rigaer Schwarzhäupterhaus eine Vortragsreihe »Ein­ führung in Kants Kritik der reinen Vernunft mit Rücksicht auf die Problemlage der Gegenwart« gehalten. Die Vorträge riefen ein sehr großes Interesse des Rigaer Publikums hervor: Laut Augenzeugen war der Große Saal des Schwarzhäupterhauses voll und die Vorle­ sungen führten auch dazu, dass im Herder-Institut ein HeideggerSeminar stattfand und dass sich ein Heidegger-Leserzirkel in Riga gründete (Kurt Stavenhagen, Erica Sehl u. a.).3 Heideggers Vorträge standen im Zusammenhang mit dem von Heidegger ein wenig später (1929) veröffentlichten Buch »Kant und das Problem der Metaphy­ sik«. Im Vorwort des Buches bemerkt Heidegger: »Das Wesentliche der folgenden Interpretationen wurde erstmals in einer vierstündigen Vorlesung des W. S. 1927/28 und später mehrfach in Vorträgen und Vortragsreihen (am Herderinstitut zu Riga im September 1928 und bei den Davoser Hochschulkursen im März d. J.) mitgeteilt«.4 Die Vorträge in Riga (die als ein gesondertes Manuskript nicht mehr erhalten sind) und Davos (d. h. Heideggers dort geführte Auseinan­ dersetzung mit Ernst Cassirer über Kants Philosophie und das Erbe des Neukantianismus auf dem Hintergrunde einer Metaphysik der Endlichkeit) können also im Kontext der Vorlesungen »Phänomeno­ logische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft« (GA 25), der Vorträge in der Kantgesellschaft Karlsruhe und in Amsterdam (»Die heutige Problemlage der Philosophie«, 4. Dezember 1929 bzw. 21. März 1930) (GA 80.1) sowie im Kontext des Vortrags in der Kant­ gesellschaft Frankfurt »Philosophische Anthropologie und Metaphy­ Vgl. dazu: R. Bičevskis, „›Wunder von ferne oder traum/Bracht ich an meines landes saum‹. Heideggers Beziehungen zu Riga und seine Herder-Auslegung im Seminar des Sommersemesters 1939 ›Zur Wesung des Wortes‹“, in: P. Emad, Fr.-W. von Herrmann, P.-L. Coriando, F. Schalow, P. David, I. Schüßler, Language and Thinking in a Post-Metaphysical Age: Plato, Aristotle, Husserl, and the Unthought Question of Ethics and Politics / Heidegger Studies-Heidegger Studien-Etudes Heideggeriennes, Vol. 34. Berlin: Duncker & Humblot, 2018, 17–41. 4 GA 3, XVI. 3

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Vorwort

sik des Daseins« (24. Januar 1929) (GA 80.1) gelesen werden. Meh­ rere Vorträge griffen die Hauptthemen (Kants Philosophie, Anthropologie, Varianten der Ontologie der Endlichkeit u. a.) auf. Dazu gesellten sich Vorträge, die sich Heideggers Zeit des Umbruchs aus den verschiedenen Perspektiven der späteren Wege zuwandten. Riga und Basel im Februar 2023

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Raivis Bičevskis und Harald Seubert

Inhaltsverzeichnis

Raivis Bičevskis, Klaus Neugebauer Heideggers Gutachten von Erika Sehls Habilitationsschrift zur Entstehung des Empfindungsproblems . . . . . . . . .

5

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Harald Seubert, Raivis Bičevskis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I

Zeit – Freiheit – Transzendenz – Sein . . . . . . . .

19

Pirmin Stekeler-Weithofer Von Kants Transzendentaler Ästhetik zu Heideggers Analytik des Daseins in seiner Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . .

21

Rainer Enskat Metaphysik, Anthropologie oder Existenzial-Ontologie? Wie Kant Heideggers Frage nach der ursprünglichen zeitlichen Seinsform des Menschen beantwortet . . . . . . . . . . . . . .

53

Günther Neumann Martin Heideggers Freiheitsbegriff in Sein und Zeit und der Vorlesung Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1930) . . .

73

Francois Jaran The Transcendental Framework of Heidegger’s Seinsfrage: Endorsement and Dismissal . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

Matteo Pietropaoli Die Metontologie als mögliche Entwicklung von Heideggers Denken am Ende der zwanziger Jahre . . . . . . . . . . . .

113

13

Inhaltsverzeichnis

II

Vernunft – Sorge – Einbildungskraft – das Offene

131

Harald Seubert Nach ›Sein und Zeit‹. Heideggers Kant. Eine Wegmarke . . .

133

Manuela Massa Kritik der Purismen der Vernunft: Noch ein Weg für die Gerechtigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

155

Hans Ruin Reaching for the Open: Heidegger, Rilke, and the Gaze of the Living . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

175

Rihards Kūlis Heidegger und Rahner: Was rast um den Erdball? . . . . . .

189

Paola L. Coriando Subjektivität, Einbildungskraft – und das Ereignis. Heidegger liest Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

209

III Zeitgeschichtliches . . . . . . . . . . . . . . . . . .

225

Raivis Bičevskis, Bastian Brombach Herderinstitut zu Riga in der Zeit von Heideggers Rigaer Aufenthalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

227

Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . .

253

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Harald Seubert, Raivis Bičevskis

Einleitung

Die Beiträge, die aus Anlass der 90. Wiederkehr von Heideggers Rigaer Vorträgen 1928 entstanden und aus einer Rigaer Tagung hervorgegangen sind, rekonstruieren vielperspektivisch die philosophischen und ideengeschichtlichen Implikationen von Heideggers Umbruchzeit. Der Band ist in drei Hauptteile gegliedert: Der erste Teil geht dem Zusammenhang von Zeit, Freiheit und Transzendenz nach und untersucht Konstellationen der Seinsfrage nach »Sein und Zeit«. Primin Stekeler-Weithofer (Leipzig) verdeutlicht die epistemi­ schen und Schritte, die zwischen der transzendentalen Ästhetik der »Kritik der reinen Vernunft« und Heideggers Analytik des zeitlichen Seins liegen und die ideengeschichtlich und argumentationsanaly­ tisch freigelegt werden können. Deutlich wird damit: Die »Gewalt brauchende Interpretation«, die Heidegger für sich beanspruchte, ist keineswegs willkürlich. Sie überspringt allerdings Zwischenschritte, die sinnvoll rekonstruiert werden können. Stekeler-Weithofer legt erneut ein glänzendes Beispiel seines Ansatzes vor, auch »gnomische« Texte kristallin eindeutig zu interpretieren. Rainer Enskat (Halle) sieht Heideggers Frage nach dem mensch­ lichen Dasein in seiner Zeitlichkeit schon im Spannungsfeld von »Metaphysik der Metaphysik« und Anthropologie im Grundzug beantwortet. Damit wird der Status der Existenzial-Ontologie im Kantischen Problemfeld präzise diskutierbar gehalten. Günther Neumann (München), der sich jüngst durch die muster­ gültige Edition von Heideggers Vorträgen im Rahmen der Gesamt­ ausgabe große Verdienste erwarb, geht dem Freiheitsbegriff im Ver­ gleich zwischen »Sein und Zeit« und der drei Jahre später datierenden, an Schellings Freiheitsschrift anschließenden Vorlesung »Zum Wesen der menschlichen Freiheit« (1930) nach. Daraus ergeben sich sehr erhellende Perspektiven über den Zusammenhang von Freiheitspro­ blematik und Seinsfrage.

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Harald Seubert, Raivis Bičevskis

Françcois Jaran (Valencia) legt eine schmalere, umso präzisere Sonde an: Er fragt nach dem transzendentalphilosophischen Konzept in Heideggers Exposition der Seinsfrage. Er bringt die Zustimmung zu Kant und die kritische Positionierung in eine subtile Korrelation. Matteo Pietropaoli (Rom) expliziert sodann die »Metontologie«, jenes Konzept, das Heidegger am Ende der zwanziger Jahre neu explizierte und das von der Seinsfrage in veränderter Perspektive auf die Einzelwissenschaften zurückgehen sollte. Jene Metontologie verbindet Heideggers Ansatz unter anderem mit Max Scheler. Der zweite Teil des Bandes macht die drei Topoi Vernunft, Sorge, Einbildungskraft und den Phänomenbereich des Offenen fruchtbar. Damit wird die Kant-Beschäftigung Heideggers auf Urteilskraft, Recht und Ästhetik transparent gemacht. Harald Seubert (Basel, München) rekonstruiert die Implikatio­ nen von Heideggers Kant-Deutung, die in dem Kant-Buch von 1929 kulminieren: In der Umbruchzeit, in die der Rigaer Aufenthalt fällt, deuten sich von Kant her vielfache mögliche Wege an, denen Heidegger dann nicht folgte. Diese Potentialitätsgeschichte interes­ siert Seubert, und er fragt, wie unabweisbar der Weg in die ›Kehre‹ zu der Seinsgeschichte war, den Heidegger mit den ›Beiträgen zur Philosophie‹ in der zweiten Hälfte seines Denkens tatsächlich ging Manuela Massa (Halle/Saale derzeit Kyoto) fragt nach Heideggers ethisch-rechtsphilosophischem Denken und rückt den Leittitel ›Kritik der Purismen der Vernunft‹ in den Horizont der Frage nach dem Naturrecht und den Aspekten normativer Gerechtigkeit. Hans Ruin (Stockholm) thematisiert den Ausgang ins Offene, das nicht nur in Heideggers Denken, sondern auch in der Dichtung Rilkes eine prominente Rolle einnahm. Beide Ansätze, jener Heideggers und jener Rilkes, ergeben aber eine ›gegenwendige Fügung‹, sie stehen in Spannung zueinander. Rilke bleibt in Heideggers Sicht dem ersten Anfang verhaftet. Der Schleier des Lebendigen verbindet beide Denkweisen, wie Ruin einfühlsam und eindringlich zeigt. Rihards Kūlis (Riga) wendet sich einer selten thematisierten Konstellation zu: Der Diagnose der globalen Welt bei Heidegger und seinem zeitweiligen Schüler, dem Theologen und Religionsphi­ losophen Karl Rahner (1904–1984): gerade bei der Frage nach der planetarischen Technik zeichnen sich tiefe Affinitäten ab. Paola Ludovika Coriando (Innsbruck) deutet die Kant-Beschäf­ tigung Heideggers während der Umbruchszeit als eine Lektüre, die sich durch Kant leiten ließ, aber ihn auch vor der eigenen Frage

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Einleitung

interpretierte. Die Topoi von Subjektivität und Einbildungskraft spie­ len dabei eine besondere Rolle. Coriando, die die erste große Arbeit über Heideggers »letzten Gott« verfasst hatte, fragt souverän und in großer Intensität, was jene Kantischen Sinnlinien für das EreignisDenken bedeuten. Diese philosophischen Rekonstruktionen, Fortführungen und Erwä­ gungen werden im dritten Teil durch einen grundlegenden, aus Archivmaterialien gearbeiteten zeitgeschichtlichen Überblick zur Geschichte des Herder-Instituts in Riga im zeitlichen Umkreis von Heideggers Rigaer Aufenthalt ergänzt. Dabei wird eindrucksvoll deutlich, welche Schlüsselrolle das Herder-Institut für den IdeenTransfer in Europa in den Ostseeraum hinein spielte. Die Beiträge dieses Bandes erinnern nicht nur an diese große Geschichte, sie nehmen deren Faden auch hier wieder auf. So sind nicht nur namhafte Beiträger aus Lettland und Deutschland, sondern auch aus den für die Heidegger-Interpretation besonders wichtigen romanischen Staaten vertreten. In der Erinnerung an die Bedeutung deutscher Philosophie am Beginn des 20. Jahrhunderts, vor allem an die Phänomenologie und ihre Fortentwicklung durch Heidegger rekonstruiert dieser Band nicht nur jene Linien, er knüpft auch an sie an und schreibt sie fort. Zugleich kann daher die große Bedeutung Heideggers im geistigen Europa des 21. Jahrhunderts dokumentiert werden. Die Martin-Heidegger-Gesellschaft und die Philosophische Fakultät der Universität in Riga manifestieren damit zugleich ihre enge freund­ schaftliche Zusammenarbeit.

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I Zeit – Freiheit – Transzendenz – Sein

Pirmin Stekeler-Weithofer

Von Kants Transzendentaler Ästhetik zu Heideggers Analytik des Daseins in seiner Zeitlichkeit

1. Heideggers Gespräch mit Kant Gerade im Kontext einer Erneuerung des Interesses an den Vorträgen zu Kant in Riga und Davos ist daran zu erinnern, dass Martin Heidegger nicht nur in seinem Kantbuch,1 sondern in seiner Philo­ sophie insgesamt in derselben Sinnrichtung Fragen und Antworten zu einer kritischen Transzendentalphilosophie entwickelt wie der wohl einzige philosophisch ebenbürtige zweite Intensivleser Kants, nämlich Hegel. Heidegger sagt in seinem Vorwort zur 1. Auflage von Kant und das Problem der Metaphysik inhaltlich selbst (vgl. S. XVI), das Buch richte das vorhandene Material des (nie fertiggestellten) zweiten Teils von Sein und Zeit (im Folgenden: S. u. Z.)2 so zu, dass Kants Kritik der reinen Vernunft als eine Metaphysik der Metaphysik lesbar wird. Es geht nun nicht darum, darüber zu spekulieren, was im ersten Abschnitt des zweiten Teils von S. u. Z. gestanden hätte, wenn Heidegger wenigstens das im § 8 von S. u. Z. explizit angekündigte Vorhaben verwirklicht hätte, »Kants Lehre vom Schematismus und der Zeit als Vorstufen einer Problematik der Temporalität« darzustel­ len (S. u. Z., S. 40). Es geht eher darum, S. u. Z. und das gesamte vorliegende Werk Heideggers als durch die Probleme bedingt zu ver­ stehen, die sich aus Kants Trennung von Anschauung und Denken in der Analyse der Transzendentaler Ästhetik und der logischen Refle­ xionen der Transzendentalen Analytik ergeben, wobei insbesondere 1 M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt a. M., Kloster­ mann, 51991. 2 M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen, Niemeyer, 151979.

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Pirmin Stekeler-Weithofer

ihre Wiederzusammenführung in der Synthesis der Aussagen über präsentisch zuhandene und vorhandene Sachen zu beachten ist. »Anschauung« als Titelwort nennt bei Kant das allgemeine Thema der Ästhetik. Unter dem Titel »transzendentale Ästhetik« behandelt Kant die in jedem Akt des Anschauens von Gegenständen a priori vorausgesetzten Formen der Anschauung. Trotz der möglichen Überschätzung des Visuellen, der theoria im Sinne einer bloßen Beobachtung ohne praktische Involviertheit, wie sie Heidegger der gesamten Tradition einer metaphysischen Kommentierung von Wis­ senschaft seit der Antike (möglicherweise einseitig) vorwirft, steht bei genauerem Nachdenken das Wort »Anschauung« metonymisch, also als Synekdoche, insgesamt für unseren präsentischen Umgang mit Din­ gen und Sachen, wie das z. B. auch schon Friedrich Kambartel so sieht.3 Heidegger spricht in eben diesem Sinn von Zuhandenheit, womit die enge Verbindung zwischen Kants Reflexionen auf die Anschauung (qua Praxis im Vollzug und qua Begriff in der Reflexion auf diese Praxis) und Heideggers Daseinsanalyse in Umrissen vorskizziert ist. Von besonderer Wichtigkeit ist hier, die zeitliche Ausdehnung jeder Gegenwart und damit die innere Zeitstruktur der Präsenz zuhandener Sachen in ihren prozessualen Abläufen zu beachten. Denn diese steht der Zeitstruktur der objektiven Vorhandenheit schon dadurch gegenüber, dass letztere mit der schon sprachlich verfassten und mathematisch idealisierten Form einer Folge von Zeitpunkten operiert, so also, als ob die Gegenwart auf den Moment eines Jetzt zusammenschrumpfte, der, als Punkt ohne Ausdehnung vorgestellt, zeitlich natürlich weit kürzer ist als das Sagen das Wortes »Nu«. Schon Tiere leben vermöge ihrer Fernsinne in einer teleologisch auf das jeweilige Ende laufender Prozesse ausgerichteten Gegenwart. Jede Gegenwart dauert so lange, wie wir auf das Ende des die Präsenz definierenden Prozesses zu warten haben, etwa das gegenwärtige Mittagessen oder die gegenwärtige Legislaturperiode. Das ist ein logischer Kommentar zum Reflexionsterminus »Gegenwart« bzw. »Präsenz«. Zugleich ist es ein materialbegrifflicher Truismus, in dem das Hier mit dem Jetzt sozusagen schon längst eng verbunden ist: Tiere leben nur in der Gegenwart hier und jetzt. Der relevante Kontrast zwischen Gegenwart und Zukunft ist daher jeweils nur relativ zu den relevanten präsentischen Verlaufspro­ Vgl. dazu F. Kambartel, »Notwendige Geltung. Zum Verständnis des Begrifflichen« in: P. Janich, (Hg.), Entwicklungen der methodischen Philosophie, Frankfurt a.M. 1992, 34–46.

3

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Von Kants Transzendentaler Ästhetik zu Heideggers Analytik des Daseins

zessen zu verstehen. Tiere könne präsentische Ziele verfolgen, aber keine Zwecke. Denn ein Zweck besteht – so wollen und sollten wir reden – darin, dass man ein verbal artikuliertes Ende tätig anstrebt. Das können nur Personen als sprachfähige Wesen, also wir Menschen nach einer gewissen Bildung. Zwecke im Handeln sind, anders als präsentische Ziele im triebgeleiteten Verhalten, als solche nicht schon in laufenden Prozessen mitgegeben, sondern müssen tätig symbolisch repräsentiert werden. Alva Noë führt zunächst in dem Aufsatz »Seeing as a way of acting. Enactive theory of perception« und dann in dem Buch Action in Perception ganz richtig vor, dass schon animalische Perzeption ›enaktiv‹ in das Tun des Tiers verwoben ist.4 Das Wort »empraktisch«, das auf Karl Bühlers Buch Sprachtheorie5 zurückgeht, drückt aus, dass die Formen des Daseins und, konkreter, die Befolgung von Normen gemeinsamer Praxis nicht nur in jedem Sprachverstehen, sondern sogar schon in jeder bewussten menschlichen Wahrnehmung implizit enthalten sind. Kants These, dass nur Menschen Zwecke verfolgen können, weil nur sie nicht präsentische Ziele sprachlich repräsentieren kön­ nen, bleibt in dieser Analyse richtig. Aber seine Haltung zur Teleo­ logie in der Natur als bloße anthropomorphe Projektion wird als falsch erkannt. Denn Tiere können durchaus schon Ziele tätig verfol­ gen, nämlich solche, welche sie aus den gegenwärtigen Prozessen und Bewegungen der Objekte und ihrer selbst als Subjekte präsen­ tisch erkennen und kennen können, und zwar ohne jede symboli­ sche Repräsentation. Dieser Vorgriff auf das Gesamtergebnis zeigt schon, dass und wie sowohl Kants transzendentale Ästhetik als auch Heideggers Daseinsanalyse als logische Analyse des Begriffs und onto-logische Explikation der Seinsform animalischen und menschli­ chen Lebens in der Zeit zu lesen ist. Um Missverständnisse zu vermeiden, ist aber gleich auch auf die wesentliche Differenz zwischen Kant und Heidegger hinzuweisen. Raum und Zeit sind für Kant transzendental in jedem Weltbezug präsupponierte Formen der Anschauung von Dingen und Sachen (etwa auch Geschehnissen). Als solche werden sie als a priori gegebene Weisen dargestellt, wie Menschen auf das in möglichen Erscheinun­ Alva Noë, Actions in Perception, Cambridge, Mass., MIT Press., 2004. Karl Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, (Fischer) 1934. 4 5

Jena

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gen Vorhandene vermittels ihrer fünf Sinne Bezug nehmen. Das aber heißt, dass Kant das Transzendentale der Formen der Anschauung und dann auch der kategorialen Formen des Denkens doch nur epistemisch im Blick auf unseren besonderen Zugang zu den Sachen in der Welt so betrachtet, als könnte man über sie von der Seite oder von einer Außenperspektive eines Gottes sprechen. Damit schwankt Kant methodisch zwischen einer Reflexionsanalyse von innen und einer Sammlung von thetischen Aussagen über uns und die Formen unserer Anschauung und unseres Denkens bzw. Redens von außen.6 Dasselbe geschieht übrigens, wenn bis heute mit Vorstellungen der folgenden Art hantiert wird: Man stelle sich vor, sagt man, wir wären Flächenwesen, die sich nur auf einer Oberfläche bewegen. Dann hätten wir keine ›Vorstellung‹ von einer dritten Dimension. In analoger Weise sollen wir, so sagt man, als dreidimensionale Körper in einem Bewegungsraum keine anschauliche Vorstellung von einer vierten oder gar fünften bzw. n-ten Dimension haben und noch nicht einmal von der Raum-Zeit, die wir nach Einstein als Riemannsche Mannigfaltigkeit in der Tensoranalysis arithmetisch repräsentieren. Es ist wichtig zu sehen, dass alle derartigen ›Analogien‹ auf allen Beinen hinken. Denn wenn wir hinreichend gebildet sind, wissen wir relativ genau, wie n-dimensionale Zahlenräume und Tensorrechnungen zu verstehen sind. Wir wissen aber nicht, was die angebliche Analogie oder besser allegorische Metapher konkret sagen soll und kann. Es ist übrigens keine Aussage über die moderne Mathematik missverständlicher als die, nach welcher sie unanschaulich sei. Denn entweder gilt sie schon für die antike Mathematik, da deren Pro­ portionenlehre auch schon unanschaulich ist, oder sie besagt nur, dass die Einbettung der Geometrie in die Analysis eine sprachtechni­ sche Erweiterung des Raumbegriffs liefert, wobei ein n-dimensiona­ ler Zahlen-Raum bestenfalls einige relationale Formstrukturen mit einem 3-dimensionalen Volumen gemein hat. Kants Explikations- und Kommentarsprache der Kritik der reinen Vernunft (im Fol­ genden kurz: KrV) ist keineswegs immer zweifelsfrei in einem guten und nachhaltigen Sinn nachvollziehbar. Gerade die Passagen zur Transzendentalen Ästhetik in der KrV gehören sogar zu den obskursten der wahrlich häufig dunklen Texte Kants. Es ist eine Illusion, sie ohne Modifikation alle als ›wahr‹ oder ›verteidigbar‹ rekonstruieren zu können. D. h. es stecken enorm viele Denkfehler in Kants Text, dessen Bedeutsamkeit für alle nachfolgende Philosophie damit aber keineswegs geschmälert wird, wohl aber die naive Vorstellung, Kant sei schon das Ende, nicht bloß erst der Anfang, moderner Philosophie. 6

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Die wahre Anschauung der Mathematik besteht im Operieren mit Symbolen. Der Slogan von Edmund Husserls philosophischer Phänomenologie »Zu den Sachen selbst« kann gerade hier klar verstanden werden als Aufforderung, unseren konkreten und je prä­ sentischen Umgang mit Symbolen in Repräsentationen abstrakter Strukturen in den Blick zu nehmen, was dann etwa auch Ernst Cassirer so sieht. Karl und Charlotte Bühler machen das für ein philosophisch versiertes Wissen über die Sprache bzw. für unser psychologisches Reden über die Seele nutzbar. Husserls Assistent Oskar Becker kehrt zur Philosophie der Mathematik zurück, wobei er sich an Heidegger stark anlehnt. Die Schwierigkeit besteht darin, die reproduzierbaren oder sich reproduzierenden Formen der Sachen selbst explizit zu machen. Dabei verführt die gegenständliche Form der Rede über Formen dazu, im Vergleich des endlichen Erkennens von Menschen mit dem unendli­ chen, ›absoluten‹, Wissen Gottes, über die Formen im Vollzug von der Seite zu sprechen und die immanente Form der Reflexion auf Vollzugsformen logisch völlig zu missachten. Die Zweideutigkeit der Rede über Formen führt nicht nur von Platon zu Aristoteles, sondern auch in die metaphysische Tradition des Neuplatonismus und der Theologie seit der Antike. Gott wird hier als Instanz jenseits aller Erscheinungen (Gregor von Nazianz) vorgestellt – und es wird nur unzulänglich darüber reflektiert, was mit dieser Vorstellung, dieser rein symbolischen Repräsentation im Gebrauch des Wort G-o-t-t, sinnvoll ausgedrückt werden kann, was nicht. Bei Kant soll Gott als vorgestelltes Wesen wie bei Gregor jenseits von Zeit und Raum angesiedelt sein. Ein solcher vorgestellter Gott soll alles Weltgeschehen unmittelbar in ewiger Gegenwart anschauen. Wie ein so bloß erst verbal skizzierter überzeitlicher und translokaler Gott überhaupt kohärent zu denken ist, bleibt aber ganz offen. Den­ noch versucht Kant, unsere endlichen Formen des Wissens in einem Kontrast zum absoluten Wissen eines solchen Gottes zu erläutern und spricht dabei über für uns unerkennbare Dinge an sich, als seien sie unmittelbare Gegenstände eines gedachten göttlichen Erkennens. Es ist, so können wir Kants Grundgedanken positiv zusammen­ fassen, die lokale Perspektivität der Wahrnehmung als Voraussetzung von allem Welt-Wissen und es sind Kategorien und Schematismen als Projektionsformen des sprachgetragenen Denkens auf die sinnlich erfahrbare Welt anzuerkennen. Eben daher verbleibt alles menschli­

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che Erkennen und Wissen über das in der Welt Vorhandene und erst recht die Welt im Ganzen im Rahmen einer bloß praktisch einigermaßen befriedigend erreichbaren Intersubjektivität in unseren Aussagen über Erscheinungen. Heidegger behält Kants fundamentalen Gedanken bei, dass es sich bei der Räumlichkeit und Zeitlichkeit um Bestimmungen unserer Endlichkeit handelt, das aber neben anderen Existenzialien. Diese nennen grundsätzliche Aspekte unserer sowohl ontischen als auch ontologischen Endlichkeit. Als ontische sind es Endlichkeiten des Leiblichen, als ontologische Endlichkeiten des Weltbezugs, damit auch der Gegenstände bzw. Wahrheiten im Erkennen und Wissen. Insgesamt sind es Endlichkeiten des menschlichen Daseins im Seinsoder Lebensvollzug, also auch im Verhalten, Handeln und Leben. Der Fehler des Empirismus ist dabei noch bei Kant, bloß die besonderen Formen der Anschauung bzw. unserer ›Sinnlichkeit‹ zu betrachten und nicht auch schon das Endliche des Denkens und Han­ delns. Das Sein der Tiere ist durch enaktive Perzeptionen gesteuert und als solches Inbegriff der Subjektivität. Diese Form des Seins heißt in ihrem Autismus oder Solipsismus bei Hegel auch Idealität. Als personale Subjekte transzendieren wir sie, zunächst im Perspektiven­ wechsel, der von eigenen Perzeptionen zu einem Wir gemeinsamen Tuns führt und dann, vermittelt über das Sprechen, zu einem gemein­ samen Handeln. Das menschliche Dasein ist dann schon empraktische Anschau­ ung oder, was dasselbe ist, durch Mitdenken bestimmtes Handeln und Sein im Vollzug. Damit ist es durch sprachlich vermittelte Kommuni­ kation und Kooperation geformt und hebt in jedem Einzelleben eine ganze Kulturgeschichte als Seinsgeschichte oder Geschichte der Voll­ zugsformen des Mit-Seins auf, und zwar im bekannten hegelschen Doppelsinn. Dabei dürfen wir die Transzendierung der animalischen Subjektivität in der Personenbildung nicht unterschätzen. Wir werden personale Subjekte in partieller Ersetzung autistischer Reaktionen auf die Umwelt durch ein sprachgestütztes und damit längst schon gemeinsam geformtes Handeln. Es gilt dann aber auch, die weitere Transzendenz durch Orientie­ rung an mythischen Idealen angemessen zu begreifen. So sind die Narrative jeder Theologie von uns selbst produzierte Erzählungen mit bestenfalls allegorischem Gehalt. Das liegt auf der Linie von Kants Kritischer Philosophie, die allerdings zu radikalisieren ist, indem seine Vorstellung von einer absoluten Wahrheit im Jenseits eines

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Dings an sich als holistischer Welt sub specie aeternitatis grundsätz­ lich zu überwinden ist. Auch im § 4 des Kantbuches wird als basale Frage aufgeklärter Metaphysik die Frage nach dem Wesen der Endlichkeit des Daseins gestellt. Das Endliche des Daseins wird regelmäßig vergessen (Kant­ buch, S. 233). Die Daseinsanalyse als Analytik der Subjektivität des Subjektes, genauer, des zur Person gebildeten Menschen, geht eben dieser Frage nach. Raum und Zeit sind nicht als Formen rein subjektiver (also rein animalischer) Perzeption aufzufassen, sondern als Formen des Per­ spektivenwechsels zunächst in gemeinsamer Anschauung präsenti­ scher Dinge und Prozesse. Sprache ist dabei schon vorausgesetzt. Nur in dieser Form sind sie bzw. die Räumlichkeit und Zeitlichkeit perso­ nalen Daseins Existenziale. Das bedeutet gerade, dass sie allgemeinste »Seinscharaktere des Daseins« (S. u. Z., S. 44) sind. Sie sind damit nicht nur in jeder perzeptuellen Weltbezugnahme, sondern auch noch in jedem (alltäglichen oder wissenschaftlichen, allgemeinen oder spe­ ziellen) Wissensanspruch und dem mit ihm einhergehenden lauten Sprechen oder leisen Reden bzw. Vorstellen transzendental voraus­ gesetzt, also schlicht logisch bzw. begrifflich präsupponiert. Existenzialien werden zunächst durch Titel artikuliert und verge­ genwärtigen so appellativ die uns im Lebensvollzug längst schon bekannten basalen Seinsweisen eines personalen Subjekts. Das Dasein ist dabei je mein Sein qua personales Subjekt hier und jetzt, das aber in generischer Weise zum Thema reflexionslogischer bzw. existenzialer Analyse gemacht wird. Ich wage hier offenbar eine Art Rückübersetzung des von Heidegger terminologisch gebrauchten und um das Wort »mensch­ lich« gekürzten Ausdrucks »Dasein« – sozusagen ohne Furcht vor einem ›vulgären‹7 Verständnis der in der Tat vieldeutigen Ausdrücke »Person« und »Subjekt«. Allgemeinster Hintergrund von Heideggers Projekt einer radika­ len Kritik erstens am Vorhandenheitsdenken und zweitens an einem Idealismus der bloß inneren Konstitution des Objekts durch subjek­ tive Formungen von Erscheinungen durch das Subjekt ist nach mei­ nem Interpretationsvorschlag Kants ›Agnostizismus‹. Dieser steht 7 Heidegger möchte mit seiner allzu häufigen und immer etwas polemisch klingenden Anspielung auf das Wort »vulgus« wohl generell eher ein landläufig-unbedachtes und allgemeines Verstehen als ein ›niedriges‹, ›grobes‹ und ›gemeines‹ Fehlverstehen als Folge von Ungebildetheit ausdrücken.

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dem Skeptizismus und instrumentellen Pragmatismus von Humes Empirismus immer noch sehr nahe. Konkret zeigt sich das Problem an Kants Rede von einem per definitionem für uns Menschen unerkenn­ baren Ding an sich und der Aussage, alles, was wir erkennen, seien bloße Erscheinungen. Das Problem besteht darin, dass der Ausdruck »Ding an sich« ebenso wie jede Rede von einer Objektivität, in welcher von jeder Art des Zugangs durch uns Menschen abgesehen werden soll, rein sinnlos ist. Anders gesagt, schon die Ausdrücke »Ding an sich« und »absolute Objektivität« enthalten, wenn man sie ›kantisch‹ versteht, eine Art Krypto-Theologie im Sinn der Unterstellung, es könne eine Betrachtung der Welt durch einen allwissenden Gott geben, der nicht an Raum und Zeit gebunden ist und daher mit seiner intellektuellen Anschauung, wie sie nach Kant einem Gott vorbehalten ist, auf die Welt aus einer nicht endlichen Perspektive von überall und immer herblicken können soll. Die Formen der Anschauung und, wenn wir uns in gegenstands­ förmiger Sprache auf anschaubare Gegenstände (auch Sachverhalte oder Ereignisse) beziehen, die Kategorien des Denkens und die Schematismen der Begriffsanwendung sind zwar im Rahmen unse­ rer Vollzugsformen in unseren Weltbezugnahmen bestimmt. Aber es gibt keine bestimmte Weltbezugnahme, welche diese Formen transzendieren könnte. Jede Transzendenz über sie hinaus ist rein mythisch. Sie steht, heißt das, im Rahmen einer kontrafaktischen Erzählung. Diese wiederum kann bestenfalls als Allegorie einen innerweltlichen Sinn haben. Was das ist oder sein kann, muss allererst noch genauer bestimmt werden. Das gilt für alle religiösen Mythen – etwa auch für die Erhebung von Personen wie Gautama Buddha oder Jesus von Nazareth zu einer Art von Halbgöttern – und dann auch für jede Theologie, die als solche narrativ verfasst ist. Es gilt aber auch für alle philosophische Metaphysik, soweit sie anthropomorphe Allegorien enthält.8 Das Programm der Phänomenologie, zu den Sachen selbst vor­ zudringen, ist gerade in diesem Kontext, erstens als Wendung zu Hegels Verständnis spekulativer Sätze steht gerade wegen der Einsicht in ihre figurative (tropische, metaphorisch-allegorische) Redeform haushoch über allen kon­ kurrierenden Ansätzen. Noch Heidegger liest sie dagegen wie die Kants oder Fichtes so, als ginge es um einen Subjekt-Objekt-Idealismus in einer Bewusstseinsphiloso­ phie, wie dies auch der (Frankfurter) Marxismus meint. Ich halte das für einen (aus der Rezeption des 19. Jahrhunderts her) verständlichen, aber tiefen Fehler. 8

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äußeren Formen wige Worten und Texten zu verstehen, zweitens als Kritik an der Ermäßigung unseres Wissens und Erkennens auf Erscheinungen samt der Unterstellung eines absoluten, theomorphen, Wahrheitsbegriffs. Sowohl Kants Kritizismus als auch jeder bloß instrumentelle Pragmatismus in der Nachfolge Humes führen in ihrem Gefolge einen Skeptizismus bzw. Agnostizismus mit sich, der es offenlässt, ob es ›transzendente‹ Dinge gibt und Aussagen wahr sind, die wir als willkürliche Möglichkeiten erzählend entwerfen und von deren Existenz oder Geltung wir aufgrund unserer innerweltli­ chen Endlichkeit jedenfalls während unseres Daseins angeblich oder wirklich nie etwas wissen können. Kant und weit radikaler Jacobi meinen außerdem, dass wir an diese Möglichkeiten glauben können, dürfen oder sogar im Interesse einer das Einzelleben transzendieren­ den Moral glauben müssen – obwohl sie klarerweise kontrafaktisch und zum Teil sogar logisch in sich selbst inkohärent sind.

2. Hegels (An-und-)Für-sich-Sein und Husserls Epoché Wie soll nun eine phänomenologische Methode zu den Sachen selbst führen? Was überhaupt sind ›die Sachen selbst‹? Fragen dieser Art führen Heidegger, wie im Grunde schon Des­ cartes, zur Frage, wer wir selbst im Vollzug sind. Dabei bezieht sich das »wer« der Frage ebenso wenig wie die triviale Antwort »ich« auf einen Gegenstand, sondern, wie Heidegger als erster klar sieht, auch wenn es Hegel schon erahnt, auf den Vollzug, das Dasein selbst. Dieses Dasein ist, wie es ist, war und sein wird – und das vor aller prädikativen Bestimmung. In diesem Sinn bin ich meine Existenz vor aller verbaler Bestimmung meines Wesens, Charakters, also meiner Essenz im Sinn von wesentlichen Eigenschaften. Es ist wichtig, Heideggers Wort »Dasein« in diesem Kontext als absichtlich gewählte Ausdrucksvariante zu klassischen Reden über »das Ich« zu verstehen. Die Wortwahl verfolgt den Zweck, uns selbst nicht von außen als bloße Vorhandenheiten zu betrachten, sondern auf unser Dasein in seinem realen Für-sich-Sein qua Vollzug phänomenologisch zu reflektieren. Das verlangt eine neue Sprache. Das Sein als Vollzug ist absolut. Es ist sogar das einzig Absolute, was es gibt, wobei das »es gibt« freilich schon notorisch unklar ist, da es den Vollzug im Dasein oder besser das Dasein als Vollzug nicht so gibt wie einen Gegenstand der Rede oder der Anschauung oder

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einen ausgesagten oder als bestehend behaupteten Sachverhalt bzw. ein entsprechendes Geschehen oder Ereignis. Meine Wahl des von Hegel sowohl gebrauchten als auch reflek­ tierten Ausdrucks »für sich« ist in diesem Kontext nicht zufällig. Denn um die Frage nach dem Sein und den Sachen selbst konkreter zu ver­ stehen, ist, wie Hegel sieht, auf die schwierige Logik des »Sich« und »Selbst« zu achten. Außerdem ist der Reflexionsterminus »Für-sichSein« genauer zu verstehen. Er steht schon bei Hegel im Kontext der Abwehr der irreführenden Konzeption eines An-sich-Seins bei Kant. Dieses Für-sich-Sein ist mit Husserls Epoché in eine systematische Verbindung zu bringen. Dabei sind dann auch noch Kants Formen der Anschauung als Phänomene der Phänomenologie (S. u. Z., S. 31) zu behandeln. Ad 1: Bei Kant ist ein oder das Ding an sich ein rein verbal vorgestelltes x ohne jeden Zugang durch eine mögliche Anschauung. Damit ist aber noch nicht einmal ein Variable bestimmbar. Ein Ding an sich ist sozusagen weniger als nichts. Es ist noch nicht einmal ein rein fiktionaler Redegegenstand wie ein Gott des Mythos oder Sherlock Holmes im Roman, die, wie Zahlen und ideale geometrische Formen, nach ihrer verbalen Erfindung ›ewig‹, also abstrakt und zeitallgemein sind. In dieser ihrer Abstraktheit können sie natürlich nicht wahrgenommen bzw. angeschaut werden. In Erinnerung an die Sprachtradition, die von dem bei Platon häufigen Ausdruck »kath’auto« über das lateinische »per se« zur üblichen Verwendung der Floskel »an sich« zur Markierung einer generischen Allgemeinheit führt, erkennt Hegel, anders als Kant, dass ein Satz der Art: »ein Schwein an sich liebt es zu suhlen« einfach das Allgemeinwissen ausdrückt, dass das Suhlen zur Normalform des guten Lebens des Schweins bzw. der Schweine gehört. Das Ansich-Sein verweist also je auf eine generische oder eidetische Artform einer Sache. Die Rede von einem Für-sich-Sein spricht dagegen von einer Relation von etwas zu sich selbst, was genau die Bedeutung der beiden lateinischen Ausdrücke »pro« und »se« ist. Sprechen wir von konkreten empirischen Manifestationen einer Artform (an sich) hier oder dort, jetzt oder damals (usf.), so können wir diese mit Hegel unter den Titel An-und-für-sich-Sein bringen. Aussagen im Modus des An-und-für-sich-Seins stehen so einem Schein gegenüber, oder auch einer Erscheinung bloß bei oder für uns. Die Bedeutung dieser

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Analyse Hegels besteht nicht zuletzt darin, dass sie klarmacht, wie das Objektive nicht bloß als das Intersubjektive zu verstehen ist. Hinreichend objektiv, also gegenstands- und sachbezogen, ist eine Weltbezugnahme (etwa im Nennen und Aussagen), wenn sie von Besonderheiten je meiner Perspektive auf eine gemeinsam nach­ vollziehbare Weise absieht, diese aufhebt, und damit von bloß erst autistischen zu kovarianten Bezugnahmen übergeht. Bei Hegel ist ein Für-sich-Sein eine Beziehung R von etwas auf sich selbst, im idealen Urbild so, dass aus aRb die Gleichheit von a und b, also a=b folgt, so wie aus der Relation m·k=l·n für ganze Zahlen die Gleichung m/n=l/k für rationale Zahlen folgt. Ein Anderssein ist von der Art, dass aus aRb folgt, dass a nicht gleich b ist, also aǂb. Dabei wird offenbar immer eine je konkret zu bestimmende Gleichheit = bzw. Ungleichheit ǂ als bekannt und relevant unterstellt. Aus solchen Relationen lassen sich nun über Parameter oder Quantoren Eigenschaften bilden. Man denke z. B. an die Eigenschaft des Schweins, dass sein Fleisch mir (als Parameter) oder uns allen (als Allquantor) gut schmeckt. Das ist offenbar eine ›Eigenschaft‹ der ›Kategorie‹ des Für-Anderes-Seins. Das Ich und das Wir steht ja gerade im Kontrast zu den Schweinen selbst. Die Eigenschaft, dass sich Schweine gern im Schlamm suhlen, ist dagegen eine Eigenschaft der Kategorie des Fürsichseins: Für sich suhlt das Schwein gern. Für uns steht es im metallenen Stall ohne Suhle. Entsprechend können wir auch, wenigstens versuchsweise und häufig recht erfolgreich, von den Besonderheiten der epistemischen Beziehungen je zu mir und sogar zu uns ›abstrahieren‹ und zum Beispiel sagen, welche Eigenschaften die Sonne oder Sterne oder eine Pflanze oder ein Tier einer bestimmten Art ›für sich‹ und damit ›objektiv‹ haben, also nicht bloß in ihren Erscheinungen für uns. Wir können so in gewisser Weise gewisse Relationen zu uns der Kategorie des Andersseins in Klammern setzen, weglassen, besonders wenn diese von ›zufälligen‹ Besonderheiten unserer Perzeption und subjektiven Beurteilung abhängen. Wir entwickeln sogar, wie nach meiner Deutung Hegel in der Wesenslogik ausführt, Kriterien zur Unterscheidung des Wirklichen an und für sich von den Erscheinun­ gen für uns – z. B. durch ein Wissen über Gleichgültigkeiten, Äqui­ valenzen oder Invarianzen bzw. Kovarianzen verschiedener Zugänge oder (Re-)Präentationen des (im Wesentlichen) Gleichen. Bekannt­ lich sieht das auch Ernst Cassirer so, ohne auf Hegel Bezug zu nehmen.

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Ad 2: Aber auch schon Husserls Epoché ist als Methode des Zugangs zu den Sachen selbst nichts anders als eine solche Einklam­ merung des Wesentlichen unter Ausklammerung von Unwesentli­ chem oder auch Uneigentlichem. Sie ist also im Wesentlichen von der gleichen Form wie Hegels Erläuterung des An-und-für-sich-Seins, nur dass das weder Husserl noch Heidegger wissen – um von den meisten ihrer Leser gar nicht zu reden. Ad 3: Kants Formen der Anschauung als Phänomene der Phäno­ menologie zu behandeln, wie Heidegger fordert, bedeutet nun grob dieses: Wir müssen genau hinsehen, wie denn räumliche Ordnun­ gen von Zuhandenem und zeitliche Ordnungen von Bewegungen und Veränderungen sich in unseren eigenen Bewegungen, unseren Erwartungen, sowie – und das klammert Heidegger leider aus – unseren Sätzen und Aussagen konkret zeigen. Die Dreidimensiona­ lität des Raumes, der Begriff der ebenen Fläche, der geraden Linie und der Winkelsummensatz im Dreieck (also die Grundformen der Geometrie) ergeben sich zum Beispiel aus der Quaderform. Praktisch kennt man deren Bedeutung spätestens seit dem Brennen von Zie­ geln für den Hausbau. Die Gerichtetheit der Zeit ergibt sich aus dem fundamentalen Wissen, dass nichts Vergangene ungeschehen gemacht werden kann, man also auch nie, außer metaphorisch, in die Vergangenheit ›reisen‹ kann. Wenn man die fundamentale Rolle dieser Art von Vorherwis­ sen für jeden sinnvollen Weltbezug ernst genug nimmt, wird klar, dass niemand verstehen kann, was es konkret heißen könnte, einen Gott jenseits aller Erscheinungen ›als möglich‹ anzunehmen, dessen ›Erkennen‹ der jeweils bloß lokalen Gegenstände und Prozesse der Welt nicht abhängig sein soll von Zeit und Raum bzw. der durch sie zum Ausdruck gebrachten subjektiven Perspektivität aller Welterfah­ rung. Es ist daher rein sinnlos, mit Kant die ›menschliche‹ Endlichkeit kontrastiv zu einem solchen göttlichen Wesen erläutern zu wollen. Die Gegenstände des menschlichen Erkennens lassen sich nicht ins­ gesamt als bloße Erscheinungen dem Ding an sich gegenüberstellen. Seine Definition ist schon ebenso inkohärent wie der Begriff Gottes.

3. Existenzialien als Momente der Endlichkeit des Daseins Obwohl Heidegger selbst gerade in der Kontrastierung seiner Exis­ tenzialien zu Kants Kategorien eine implizite Ähnlichkeit betont

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(S. u. Z., S. 44), haben die Existenzialien eine ganz andere Funktion und stehen in einer ganz anderen Ordnung als Kants Kategorien und dann auch als dessen Formen der Anschauung. Die Parallele besteht nur darin, dass auch die Existenzialien transzendentale Präsuppositio­ nen in allem Verstehen, ja sogar in jedem Seinsvollzug selbst nennen. Die Kategorien umreißen je nur die Bedingungen der Möglich­ keit, die erfüllt sein müssen, damit ein Gegenstand der Rede ein mögliches innerweltliches Körperding oder eine mögliche objektive Sache in der Welt ist. Sie beziehen sich auf die Bestimmung der Bereiche von Einzelgegenständen der Rede (Quantität) mit ihren wesensbestimmenden und akzidentellen Eigenschaften (Quantität), samt allen Relationen und Modalitäten. Die Anschauung entscheidet über die präsentische Realität von innerweltlichen Gegenständen (Dingen, Sachen) zunächst in ihrer Zuhandenheit. Die Formen der Anschauung zeigen, wie lokal und begrenzt unser Zugang zum wirklich Vorhandenen sind und dass das Vorhandene als Bereich nicht zuhandener Gegenstände immer auch schon eine modale Struktur hat: Vorhanden ist, was man anschauen könnte. Kant ermäßigt, wie schon Hume, den Begriff des Erkennens auf das Anschaubare und erklärt alle Wissensansprüche, die darüber hinaus gehen, a priori für leer und von vornherein für unausgewiesen. Allerdings eröffnet er, in gewissem Sinne anders als Hume, die Möglichkeit, über transzendentale Voraussetzungen und Grenzen unseres endlichen Wissens reflexionslogisch nachzudenken und, was für Kant noch wichtiger ist, eine glaubende Haltung zu einer in der Welt der Erscheinungen nicht ausweisbaren Freiheit zu entwickeln – und dann auch zum Leben und der Welt im Ganzen, das ja nicht als solches ein Gegenstand des Erkennens und Wissens sein kann. Auch bei Heidegger geht es sozusagen um’s Ganze. Dieses Ganze aber wird jetzt ganz anders angegangen: Seine Existenzialien sollen in titelförmiger Weise gewichtige Momente, allgemeinste Aspekte oder besser ganze Dimensionen des Daseins in seiner Endlichkeit ins Wort rufen. Heidegger selbst spricht von ›(Grund‑)Strukturen‹ des Daseins.9 Das ist leicht irreführend, weil eine Struktur von seinem semantischen Paradigma, dem mathematischen Gebrauch, her ein relationales Gewebe ist. Wie die von Heidegger aufgelisteten SeinsCharaktere ein ganzes Gewebe bzw. ein relationales System bilden sollen, ist keineswegs klar, zumal Heidegger selbst nicht allzu viel 9

S. u. Z., 52, vgl. auch 44.

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zu diesen Relationen, also den Beziehungen zwischen den Existenzia­ lien, sagt. Wir sollten daher diese Reden über Strukturen des Daseins eher als lockere Metaphern nehmen. Existenzialien ergeben sich im Kontext einer erinnernden Nen­ nung von immer schon vorausgesetzten Seins- oder Vollzugsweisen, zusammen mit groben bzw. allgemeinen Kommentaren, deren allge­ meine Ordnung bei Heidegger unter dem Titel einer »Fundamental­ struktur«, nämlich der des In-der-Welt-seins, steht, mit (zunächst) folgenden »konstituierenden Momente(n)«: »die Welt in ihrer Welt­ lichkeit (3. Kapitel), das In-der-Welt-sein als Mit- und Selbstsein (4. Kapitel), das In-Sein als solches (5. Kapitel)« und schließlich »die Sorge (6. Kapitel)« als »existenzialer Sinn« des Daseins (S. u. Z., S. 41). Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit sind Seinsmodi (S. u. Z., S. 42f.), auch das Erkennen (S. u. Z., S. 61). Welt ist »Strukturmo­ ment« des In-der-Welt-seins« (S. u. Z., S. 63), »ein …Charakter des Daseins selbst« (S. u. Z., S. 64). »Weltlichkeit … meint die Struktur eines konstitutiven Moments des In-der Welt-seins« (S. u. Z., S. 64). »Sein … als Existenzial verstanden, bedeutet wohnen bei … vertraut sein mit...« (S. u. Z., S. 54). »Sein-bei« (S. u. Z., S. 55) und In-Sein (S. u. Z., S. 56) sind Existenziale, aber auch Raum (bzw. Einräumen S. u. Z., S. 111), Zeit, Mitsein und eben die Sorge als Grundform des auf seine Zukunft gerichteten Selbstverhältnisses des Daseins, das sich um sein späteres Sein-Können sorgt. Das wiederum heißt, dass es durch sein Tun dafür sorgt – im Sinne des englischen Ausdrucks »see to it« –, dass es das werden kann, was es werden wird. Damit wird die existenziale Zeitlichkeit des Daseins, dem es um sein eigenes Sein und zukünftiges Seinkönnen geht, als in jedem Daseinsvollzug längst vorausgesetzte Grundform, als fundamentale ›Struktur‹ des Daseins klar. Jetzt können wir schon etwas klarer sehen, worin das Vulgäre des von Heidegger so genannten vulgären Zeitbegriffs liegt. Schon Aristoteles fasst die Zeit nicht selbst als Gegenstand oder als Prädikat (Begriff), obwohl Kant sich noch bemüßigt sieht, gegen die in der Tat logisch völlig naive Ansicht zu argumentieren, ein Reflexionsaus­ druck wie »die Zeit« nenne einen Gegenstand oder einen Begriff. Analoges gilt für »der Raum« oder »die Welt«. Die Worte »Raum«, »Welt« und »Zeit« nennen jeweils nur ein Gesamt räumlicher Orientierungen, innerweltlicher Bezugnahmen und zeitlicher Ordnungen. Das Oberflächliche noch in der Betrach­

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tung der Zeit bei Kant liegt darin, dass die Zeitlichkeit des Daseins von der Seite thematisiert und dabei die kosmologische Zeit der Bewegungen der Himmelskörper und anderer vorhandener Dinge nach einem Urknall oder göttlichen Schöpfungsakt schon als bekannt und gegeben vorausgesetzt wird. Nur im ›immanenten‹ Ausgang von dem unmittelbar im Dasein mitgegebenen und immer schon vorausgesetzten Existenzial der Zeitlichkeit des Daseins kann man je die Absolutheit des Daseins bzw. der personalen Subjektivität im Vollzug des eigenen Seins oder Lebens voll und eigentlich begreifen.10 Obwohl die von Heidegger entwickelten Redeformen extrem wichtig sind, würde ich am Ende kritisieren, dass sie in ihrem berech­ tigten Interesse der Vermeidung der schwierigen und in der Tat ambigen, sogar ›vulgo‹ zumeist verdinglicht missverstandenen, Wör­ ter »Subjekt«, »Person« und »Mensch« und in ihrer Hervorhebung der holistischen Vollzugsform im Ausdruck »Dasein« als Ersatz für ein naturalistisch oder erlebensmystisch gedeutetes »Leben« auch sozusagen zu weit gehen.11 Es wird z. B. in der Rede vom Dasein die wichtige Unterscheidung zwischen unserer im weiten Sinne natür­ lichen, also animalischen, Subjektivität und unserer kultürlichen, geistigen, also immer erst auszubildenden, Personalität gewisserma­ ßen nivelliert. Das hat zur Folge, dass manche Leser sich mit Recht fragen, welche Existenzialien denn genuin menschlich sind und ob Dasein am Ende doch nicht bloß auf das Sein des Seienden verweist, das wir als Menschen bzw. personale Subjekte im Lebensvollzug selbst sind. Ironischerweise bleibt damit bei Heidegger selbst die differentielle Anthropologie durchaus unterbelichtet. Es werden die genuin menschlichen, personalen, Existenzialien nicht den animali­ schen gegenübergestellt – wie das die philosophische Anthropologie Schelers, Plessners oder Gehlens versucht, dabei aber wie der Kantia­ nismus zwischen einer immanenten, d. h. reflexionslogischen, tran­ szendentalanalytischen oder phänomenologischen Betrachtung und einem ›naturwissenschaftlichen‹ bzw. metaphysisch-›theologischen‹ Blick von der Seite hin und her schwankt. Man kann Heideggers Projekt daher auch als Säkularisierung der ›Ewigkeit im Jetzt‹ begreifen, wie sie traditionell ausgedrückt wird durch die Formel ›nunc stans‹: Das Ewige im Wissen bezieht sich auf die – der Form nach – zeitallgemeinen begrifflichen Regeln. Überzeitlich ist auch ›die Zeit selbst‹ – als Reflexionsgegenstand. Das Dasein aber und alles Sein von innerweltlich Seiendem ist zentriert im Jetzt. Der letzte Satz wäre dann die Formel der Absolutheit des gegenwärtigen Seins in der Zeit. 11 Vgl. S. u. Z., 46f. 10

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4. Kants Auftakt in der transzendentalen Ästhetik Ein Gegenstand möglicher Erfahrung und ein dann sogar schon wirk­ lich in der Welt als vorhanden ausgesagter Gegenstand ist nach Kant in eine räumliche und zeitliche Ordnung zu einem Hier und Jetzt zu stellen. Eben deswegen ist er ›Erscheinung‹. Wie für Hume gilt dabei auch für Kant, »alles Denken hat lediglich eine Dienststellung zur Anschauung« (Kantbuch, S. 22.). Wir dürfen und sollten das am Ende durchaus als leicht übertriebenen Präsentismus bei Kant deuten, auch wenn diese Kritik hier nicht im Fokus der Betrachtung steht. Nur das zeit- und ortlose göttliche ›Anschauen‹ aller Dinge und Sachen, Fakten und Ereignisse von Überall und Immer her braucht kein Denken (Kantbuch, S. 24). Endliches Erkennen aber braucht schon die Bestimmung des Angeschauten als das und das (Kantbuch, S. 27). »Reine Anschauung« ist bei Kant explizit abkürzendes Titelwort für die »reine Form der Sinnlichkeit« bzw. sinnlicher Anschauungen von dinglichen Gegenständen, vermittelt durch deren wahrnehmbare Eigenschaften oder Qualitäten.12 »§ 1 Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntnis auf Gegenstände beziehen mag, es ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselbe unmittelbar bezieht, und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die Anschauung.«

Der ›phänomenale Realismus‹, den Kant nach meiner Lektüre vertei­ digt und expliziert, besagt, dass unsere Begriffe, wenn wir sie richtig verstehen und richtig gebrauchen, immer nur die empirisch, d. h. je von hier und jetzt her erfahrbare reale Welt gliedern und nicht etwa bloße Denk- oder Vorstellungswelten. Die Welt des wirklich Vorhan­ denen ist dabei von Anfang bis Ende fundiert in dem, was uns in der 12 »Demnach wird die reine Form sinnlicher Anschauungen überhaupt im Gemüte a priori angetroffen werden, worinnen alles Mannigfaltige der Erscheinungen in gewissen Verhältnissen angeschaut wird. Diese reine Form der Sinnlichkeit wird auch selber reine Anschauung heißen. So, wenn ich von der Vorstellung eines Körpers das, was der Verstand davon denkt, als Substanz, Kraft, Teilbarkeit usw., imgleichen, was davon zur Empfindung gehört, als Undurchdringlichkeit, Härte, Farbe usw. absondere, so bleibt mir aus dieser empirischen Anschauung noch etwas übrig, nämlich Ausdeh­ nung und Gestalt. Diese gehören zur reinen Anschauung, die a priori, auch ohne einen wirklichen Gegenstand der Sinne oder Empfindung, als eine bloße Form der Sinnlichkeit im Gemüte stattfindet.« Das Wort »rein« verweist praktisch immer auf formale Gegenstände und Strukturen einer ideativ-abstrakten Formanalyse.

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Anschauung zugänglich ist. Es geht dabei um den Gegenstandsbezug der präsentischen und immer schon empraktischen Zuhandenheit, wie sie jeder Verfassung einer Welt objektiv vorhandener Gegenstände (Dinge) und Sachen wie Sachverhalten, Tatsachen, Geschehnissen, Ereignissen oder Prozessen methodisch (im anschauenden Zugang) und logisch (in sprachlich vermittelter Bezugnahme) längst schon vorausliegt. Es gibt keinen Modus rein ›theoretischer‹, bloß ›beobach­ tender‹, Weltbezugnahme. Die Kernwörter der Passage sind »Art« und »Mittel«, durch welche wir uns erkennend auf Gegenstände beziehen. Schon Hegel wird diese noch allzu sehr der empiristischen Erkenntnistheorie verhaftete Vorstellung Kants mit Recht als hochproblematisch kritisieren. Zwar sind Augen Mittel des Sehens, Ohren des Hörens, aber um eine Phy­ siologie der Perzeption (›Wahrnehmung‹) geht es hier nicht, zumal sich Kant selbst explizit von Lockes ›Physiologie des Verstandes‹ absetzen will. Worum geht es aber dann? Offenbar darum, dass wir uns im präsentischen Weltbezug relativ unmittelbar tätig auf ›Gegen­ stände der Anschauung‹ beziehen, und dass auch »alles Denken als Mittel« den Zweck hat, etwas über (mögliche) Gegenstände einer (möglichen) Anschauung bzw. eines möglichen Tuns zu wissen. »Diese findet aber nur statt, sofern uns der Gegenstand gegeben wird; dieses aber ist wiederum, uns Menschen wenigstens, nur dadurch möglich, dass er das Gemüt auf gewisse Weise affiziere.«

Wieder übernimmt Kant die Vorstellungswelt des Empirismus mit seiner Rede von Eindrücken in modifizierter Form, und spricht (übri­ gens wie John Locke von der Seite, als ob es eine solche Perspektive sideways on gäbe) davon, dass der Gegenstand »das Gemüt auf gewisse Weise affiziere«. Die problematische Reflexionsart sub specie aeternitatis zeigt sich auch in der von Hegel ebenfalls mit vollem Recht als sinnlos kritisierten Einschränkung »uns Menschen wenigstens«, da sie suggeriert, es könne einen anderen Zugang zu den Sachen der Welt geben, zum Beispiel im Erkennen und Wissen eines Gottes. Dabei ergibt sich eine scheinbar schiefe Schlachtordnung daraus, dass Fichte, Schelling und Hegel die Form des cartesischen cogito ergo sum res cogitans (et agens) als die wahre Form der intellektuellen Anschauung erkennen, nämlich eines performativen saying so makes it so: Für geeignete X und Y folgt aus »ich denke gerade X« die Existenz von mir und X und aus »ich tue gerade Y« die Existenz von mir und Y. Auch wenn Kant und seine Anhänger wie z. B. Friedrich Albert

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Lange das nicht einsehen, gilt also: Nicht nur ein Gott muss nur – sozusagen spontan – an X ›denken‹, also z. B. etwas sagen oder auch nur etwas träumen – und es ist garantiert, dass das im Denken, Sagen oder Träumen vorausgesetzte Dasein ›existiert‹, sozusagen in je seiner Weise in der Welt schon ist. Auch wenn z. B. ein Wünschen die gewünschte Sache trivialer­ weise noch nicht herstellt, ist Kants These falsch, nur ein Gott, kein Mensch, habe Fähigkeiten vom Typ der ›intellektuellen Anschauung‹. Das ist insbesondere extrem wichtig für jedes Verständnis der schon von Fichte, nicht erst bei William James, in ihrer Bedeutsamkeit erkannten self-fulfilling prophecies und entsprechender Grundhaltun­ gen zu sich und zur Welt. Ein entsprechend gut verfasstes Wünschen kann am Ende doch, wenn auch nicht genau so wie im Märchen, sehr viel bewirken. »Die Fähigkeit (Rezeptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit. Vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungen; durch den Verstand aber werden sie gedacht, und von ihm entspringen Begriffe. Alles Den­ ken aber muß sich, es sei geradezu (direkte) oder im Umschweife (indirekte), vermittelst gewisser Merkmale, zuletzt auf Anschauun­ gen, mithin, bei uns, auf Sinnlichkeit beziehen, weil uns auf andere Weise kein Gegenstand gegeben werden kann. Die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, sofern wir von demsel­ ben affiziert werden, ist Empfindung. Diejenige Anschauung, welche sich auf den Gegenstand durch Empfindung bezieht, heißt empirisch. Der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung heißt Erscheinung. In der Erscheinung nenne ich das, was der Empfindung korrespondiert, die Materie derselben, dasjenige aber, welches macht, dass das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann, nenne ich die Form der Erscheinung. Da das, worinnen sich die Empfindungen allein ordnen, und in gewisse Form gestellt werden können, nicht selbst wiederum Empfindung sein kann, so ist uns zwar die Materie aller Erscheinung nur a posteriori gegeben, die Form derselben aber muß zu ihnen insgesamt im Gemüte a priori bereitliegen und daher abgesondert von aller Empfindung können betrachtet werden.«

Beobachtungsberichte spielen durchaus eine basale Rolle in der Ord­ nung des Verstehens von Aussagen über in der Welt Vorhandenes. Sie liefern die Grundlagen jeder Rechtfertigung solcher Aussagen. Auf Grund der unmittelbaren, d. h. nicht-inferentiellen Form ihrer

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Bestätigung fungieren sie als basale Belege für empirische Urteile, so dass durch sie, wie es scheint, ein unendlicher Regress oder ein Zirkel in der Begründung solcher Urteile vermieden wird. Allerdings ist der Gehalt von Beobachtungsberichten nie unmittelbar, sondern längst schon inferentiell vermittelt. D. h. um sie zu verstehen, muss man mit den Rollen der Sätze als Prämissen und Konklusionen von Schlüssen vertraut sein. Ihre Geltung zeigt sich oft erst in der Zukunft. Kant versucht das im Schematismuskapitel dadurch zu erläutern, dass er der Einbildungskraft beim Verstehen von Sprache eine Pro­ duktion eines generischen Bildes zuschreibt, das die Wahrheitsbedin­ gungen einer Aussage mit der Anschauung vermitteln soll. Ein Beob­ achtungsbericht über Präsentisches erhält in Kants empiristischem Rationalismus den Status einer berechtigten Behauptung dadurch, dass die Bildschemata der Aussagen (etwa dass das Tier da ein Hund ist) mit den Umständen verglichen und als gegeben bewertet werden. Damit ein Beobachtungsbericht wahr ist, müssen aber in die Zukunft weisende Inferenzen erfüllt sein, die man nicht (immer) unmittelbar in der Gegenwart prüfen kann. Kants Idee der vermittelnden Bildsche­ mata ist dafür zu schwach: Beobachtungsaussagen sind fallibel gerade wegen der implizit in ihnen als verlässlich mitausgesagten Inferenzen. Daher kann ein Tier wie ein Hund aussehen, ohne ein Hund zu sein.13 Heidegger würde offenbar gerne das Schematismuskapitel also KrV B 176 ff14 als »das Kernstück« des ganzen Werkes, wie er im 13 Ich zitiere noch, wie es bei Kant weitergeht, ohne das Zitat weiter im Detail zu kommentieren: »Ich nenne alle Vorstellungen rein (im transzendentalen Verstande), in denen nichts, was zur Empfindung gehört, angetroffen wird. Demnach wird die reine Form sinnlicher Anschauungen überhaupt im Gemüte a priori angetroffen werden, worinnen alles Mannigfaltige der Erscheinungen in gewissen Verhältnissen angeschaut wird. Diese reine Form der Sinnlichkeit wird auch selber reine Anschauung heißen. So, wenn ich von der Vorstellung eines Körpers das, was der Verstand davon denkt, als Substanz, Kraft, Teilbarkeit usw., imgleichen, was davon zur Empfindung gehört, als Undurchdringlichkeit, Härte, Farbe usw. absondere, so bleibt mir aus dieser empirischen Anschauung noch etwas übrig, nämlich Ausdehnung und Gestalt. Diese gehören zur reinen Anschauung, die a priori, auch ohne einen wirklichen Gegenstand der Sinne oder Empfindung, als eine bloße Form der Sinnlichkeit im Gemüte stattfindet. Eine Wissenschaft von allen Prinzipien der Sinnlichkeit a priori nenne ich die transzendentale Ästhetik*. Es muß also eine solche Wissenschaft geben, die den ersten Teil der transzendentalen Elementarlehre ausmacht, im Gegensatz derjenigen, welche die Prinzipien des reinen Denkens enthält, und transzendentale Logik genannt wird.« 14 Vgl. dazu z. B.: »Nun ist klar, dass es ein Drittes geben müsse, was einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß, und die

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Kantbuch, S. 89 ausführt, sinnkritisch rekonstruieren. Zwar werden einige Teile im Kantbuch vorgeführt, wie z. B. im § 20 zu Bild und Schema, § 21 zum Schema-Bild und § 22f. zu Schematismus und Sub­ Anwendung der ersteren auf die letzte möglich macht. Diese vermittelnde Vorstellung muß rein (ohne alles Empirische) und doch einerseits intellektuell, andererseits sinnlich sein. Eine solche ist das transzendentale Schema. Der Verstandesbegriff enthält reine synthetische Einheit des Mannigfaltigen überhaupt. Die Zeit, als die formale Bedingung des Mannigfaltigen des inneren Sinnes, mithin der Verknüpfung aller Vorstellungen, enthält ein Mannigfaltiges a priori in der reinen Anschauung. Nun ist eine transzendentale Zeitbestimmung mit der Kategorie (die die Einheit derselben ausmacht) sofern gleichartig, als sie allgemein ist und auf einer Regel a priori beruht. Sie ist aber andererseits mit der Erscheinung sofern gleichartig, als die Zeit in jeder empirischen Vorstellung des Mannigfaltigen enthalten ist. Daher wird eine Anwendung der Kategorie auf Erscheinungen möglich sein, vermittelst der transzendentalen Zeitbestimmung, welche, als das Schema der Verstandesbegriffe, die Subsumtion der letzteren unter die erste vermittelt. Nach demjenigen, was in der Deduktion der Kategorien gezeigt worden, wird hoffentlich niemand im Zweifel stehen, sich über die Frage zu entschließen: ob diese reinen Verstandesbegriffe von bloß empirischem oder auch von transzendentalem Gebrauche sind, d.i. ob sie lediglich, als Bedingungen einer möglichen Erfahrung, sich a priori auf Erscheinungen beziehen, oder ob sie, als Bedingungen der Möglichkeit der Dinge überhaupt, auf Gegenstände an sich selbst (ohne einige Restriktion auf unsere Sinnlichkeit) erstreckt werden können. Denn da haben wir gesehen, dass Begriffe ganz unmöglich sind, noch irgend einige Bedeutung haben können, wo nicht, entweder ihnen selbst, oder wenigstens den Elementen, daraus sie bestehen, ein Gegenstand gegeben ist, mithin auf Dinge an sich (ohne Rücksicht, ob und wie sie uns gegeben werden mögen) gar nicht gehen können; dass ferner die einzige Art, wie uns Gegenstände gegeben werden, die Modifikation unserer Sinnlichkeit sei; endlich, dass reine Begriffe a priori, außer der Funktion des Verstandes in der Kategorie, noch formale Bedingungen der Sinnlichkeit (namentlich des inneren Sinnes) a priori enthalten müssen, welche die allgemeine Bedingung enthalten, unter der die Kategorie allein auf irgendeinen Gegenstand angewandt werden kann. Wir wollen diese formale und reine Bedingung der Sinnlichkeit, auf welche der Verstandesbegriff in seinem Gebrauch restringiert ist, das Schema dieses Verstandesbegriffs, und das Verfahren des Verstandes mit diesen Schematen den Schematismus des reinen Verstandes nennen. Das Schema ist an sich selbst jederzeit nur ein Produkt der Einbildungskraft; aber indem die Synthesis der letzteren keine einzelne Anschauung, sondern die Einheit in der Bestimmung der Sinnlichkeit allein zur Absicht hat, so ist das Schema doch vom Bilde zu unterscheiden. So, wenn ich fünf Punkte hintereinander setze, (.....) ist dieses ein Bild von der Zahl fünf. Dagegen, wenn ich eine Zahl überhaupt nur denke, die nun fünf oder hundert sein kann, so ist dieses Denken mehr die Vorstellung einer Methode, einem gewissen Begriffe gemäß eine Menge (z.E. tausend) in einem Bilde vorzustellen, als dieses Bild selbst, welches ich im letzteren Falle schwerlich würde übersehen und mit dem Begriff vergleichen können. Diese Vorstellung nun von einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen, nenne ich das Schema zu diesem Begriffe« (KrV B 178f, A 139).

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sumtion. Doch gerade an der Frage, wie die zeitliche Transzendenz begrifflich gefasster Anschauungen oder Wahrnehmungen zu verste­ hen ist, scheint der geplante 2. Teil von S. u. Z. zu scheitern. Wir sollten für Heideggers Scheitern Verständnis haben, zumal das Problem extrem dunkel ist, wie Kant selbst sagt und Heidegger wiederholt (vgl. Kantbuch, S. 88), trotz des Lobes der klaren Gliede­ rung der Analyse selbst (S. 112f.). Das Programm von S. u. Z., so wie es bis zum § 44 als Analyse des Verhaltens des Daseins zum Dasein im Dasein und in den §§ 45–83 als Analyse des Verhaltens des Daseins zum Dasein im Ganzen vorgelegt wurde, würde dadurch auch nicht eigentlich weitergebracht. Vielleicht liegt das Problem einfach daran, dass Kant keine explizite Analyse der Rolle der Sprache, also zunächst der Wörter und Sätze und dann ihrer Gebrauchsformen vorlegt. Schon die sich in ihren Wahrheitswerten ändernden Sätze zeigen ja, dass und wie wir zwischen Satz als Ausdruck und Aussage als Inhalt der Satzäuße­ rung zu unterscheiden haben. Eine bewusste Zeitanalyse entsteht schon dadurch, dass wir das Tempus und die Modalität der Sätze ernster nehmen, als das in einer rein mathematischen und als solcher bloß relationalen, völlig zeitallgemeinen Satzlogik je möglich ist. Bei Heidegger kommt dann noch die Zeitstruktur aller Vollzüge hinzu.

5. Subjektivistische und objektivistische Vorstellungen von Zeit und Raum »Wovor Kant zurückweicht, muss ans Tageslicht gebracht werden«, sagt Heidegger in S. u. Z. auf S. 23 und wiederholt es im Kantbuch § 38, auf S. 214 mit kaum anderen Worten. Dabei gehe es um die Analytik der Subjektivität des Subjekts (S. u. Z., S. 24, Kantbuch, S. 214). Warum aber soll Kant vor der Frage nach der Subjektivität des Subjekts zurückschrecken? Das mag an der Vermeidung der Gefahr des Idealismus liegen, den Kant nur als Form einer transzendentalen Erkenntniskritik im Ausgang vom Subjekt und der Reflexion aus präsupponierten Formen der Anschauung und des Denkens im Erken­ nen anerkennt. Ansonsten aber vertritt Kant eine Position des empi­ rischen Realismus, der im Blick auf die anerkannten Grundprinzipien nicht weit von einem Physikalismus abliegt. Die einzige, aber hoch­ wichtige, Differenz liegt im Glauben Kants, durch die Beschränkung

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der Erklärungsprinzipien der Kausalität bzw. aller Naturgesetze auf die Erscheinungswelt Platz für die Möglichkeit freien Handelns und eines Glaubens an Gott in moralischer Absicht geschaffen zu haben. Trotz Rücknahme der Zeit ins Subjekt ist Kants Zeitbegriff nach Heidegger noch vulgär, d. h. metaphysisch im Sinn eines allgemeinen Vorurteils (S. u. Z., S. 24; der Gedanke steht auch im Kantbuch). Damit kommen wir zurück zur Frage, was für Heidegger ein vulgärer Begriff von der Zeit (und dann auch des Raumes) ist und was ein nicht vulgärer Begriff sein könnte. Vielleicht können wir auf die erste Frage so antworten: Wie Aristoteles und Descartes fragen auch noch Kant und Hegel, so meint Heidegger, nur danach, wie wir uns auf dingliche Gegenstände und deren Bewegungen in Anschauung und im Denken beziehen. Dabei werde unsere eigene Seinsweise in der Welt still­ schweigend und unanalysiert vorausgesetzt. Das Ergebnis ist eine Betrachtung der Welt sideways on, zugleich eine Missachtung der Frage, was Welt ist, wie die Weltlichkeit der Welt bzw. das Sein der Dinge und Sachen in der Welt für sich über unsere Bezugnahme auf sie hinaus zu verstehen ist. Heidegger betont dagegen unter Anderem, dass das »Bin« in einer Aussageform wie »ich bin hier, dort, da« eigentlich ein »Bei« ist. Die Folge ist, dass im Ausdruck »ich bin« selbst schon ein »Hiersein« genannt ist. In manchen Sprachen wird das Personalpronomen »ich« dementsprechend sogar durch das lokale Demonstrativpronomen »hier« ersetzt (S. u. Z., S. 107). In generischer Reflexion wird daraus das Dasein. Wir sprechen hier ja in der grammatikalisch dritten Person ohne Bezug auf mich als Sprecher. In S. u. Z., S. 55 betrachtet Heidegger die Fundierung des Exis­ tenzials des Raumes als Aspektmoment von Welt mit der Räumlich­ keit des Daseins als präsupponierte Ausgangsstruktur und spricht von einem Berühren, Begegnen, Entfernen und eine Entfernung überwin­ den, sie also wieder rückgängig machen. Das alles ist ein Sein bei in der Welt (S. u. Z., S. 57). Dabei ist Heideggers Kritik an Descartes hier erstens relativ klar und zweitens sicher richtig (S. u. Z., S. 91): Ein reiner Ortswechsel einer reinen res extensa ist trivialerweise nicht möglich. Sogar noch sich bewegende Punkte in der Mathematik treten als Funktionen bzw. Wertverläufe, Punktbewegungsbahnen bzw. Trajektorien auf. Gegen Descartes (und durchaus im Kontext einer Kritik an Lockes Erfindung von primären Qualitäten) wird daran erinnert, dass in der normalen Identifikation von Körperdingen der Härte als Widerstand beim

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Berühren zwar eine zentrale Bedeutung zukommt (S. u. Z., 97), dass aber über die taktilen bzw. haptischen Eigenschaften der Körperdinge auch alle anderen Qualitäten zu Raumordnungen führen. Hegels Rede von einer Repulsion und Attraktion der Gegenstände ist metonymi­ sche Verallgemeinerung der Bedeutung der Undurchdringlichkeit für die Unterscheidung von Köperdingen und nimmt die Abstoßung von Billardbällen mit einigem Recht zum Urbild für die materiale Regel, dass sich keine zwei Körperdinge am selben Platz (Ort) befinden kön­ nen – was in allen Ortsangaben von Dingen längst schon unterstellt ist. Im § 22 von S. u. Z. behandelt Heidegger dann explizit die »Räumlichkeit des innerweltlich Zuhandenen« (S. u. Z., S. 102) und dabei auch die Orientierung als den Richtungssinn in Eigenbewegun­ gen und unseren Darstellungen von Relativbewegungen relativ zu einem möglichen Betrachter an oder bei einem Ding. Der § 23 behan­ delt die »Räumlichkeit des In-der-Welt-seins« (S. u. Z., S. 104) und zwar vor allem Messen von Entfernungen und Winkeln (S. u. Z., S. 106), und verweist noch einmal darauf, dass das Dasein ein Hier­ sein ist. Im § 24 ist dann die »Räumlichkeit des Daseins und der Raum« das Thema (S. u. Z., S. 110). Die zentrale These oder Formel ist dabei »Raum kann erst im Rückgang auf die Welt begriffen wer­ den« (S. u. Z., S. 113). Damit wird unser Wohnen, Leben oder Sein bei zuhandenen Sachen im Blick der Sorge um unser Seinkönnen und in der Zentriertheit der Jemeinigkeit hier und jetzt in der Welt sozusagen als Ausgang der Räumlichkeit und Zeitlichkeit des Daseins aner­ kannt. Die Kritik an vulgären Auffassungen vom Raum als einem Behälter der vorhandenen Dinge und der Zeit als Moment der Relativ­ bewegungen der Dinge lassen sich also insgesamt als Kritik an jedem Blick von der Seite, von Überall und Nirgendwo lesen. Thomas Nagel und John McDowell, die Ähnliches vortragen, verdanken daher den Analysen Heideggers weit mehr, als das ihnen wohl bewusst ist. Ana­ loges gilt schon für die linguistic phenomenology J. L. Austins, dessen »How to do things with words« u. a. über G. Ryle, einem der frühen Rezensenten von S. u. Z., das mit Heideggers phänomenologischem Zugang zu den Formen der Rede verbunden ist. Sogar Wittgenstein kennt Heidegger, führt aber keine seiner eigenen späteren Einsichten auf dessen Lektüre zurück, auch wenn beider Kritik am Logizismus (der ›Logistik‹) in die gleiche Richtung weist.

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6. Kritik an Vorhandenheitssemantik und Selbstverdinglichung Was heißt es nun, sich selbst und die Welt ›objektiv‹ zu betrach­ ten, wenn jede Betrachtung als solche im Vollzug subjektiv ist und bleibt? Alles Wissen ist Vollzug mit Rückbezug auf unser Sein. Alle Gegenstände in der Welt setzen, als uns entgegenstehende in ihrem Für-uns-Sein, unser Dasein voraus, freilich nicht in ihrem Für-sich-Sein, sondern als Gegenstände der Anschauung, genauer, als Zuhandenes, und erst recht als Bezugsobjektes des Denkens, also als Satzgegenstände in der Aussage. Vorhanden sind Dinge, von denen wir so sprechen, dass sie selbst oder ihre Folgen irgendwie mit Wahrheiten unserer präsentischen Erfahrung regelgemäß, man sagt dazu auch kausal, zusammenhängen. Heideggers Kritik am vulgären Verständnis des Vorhandenen in der Welt richtet sich gegen falsche Fragen nach dem Sinn des Ganzen, etwa nach dem Sinn des Lebens statt nach dem Sinn im Leben. Sie richtet sich auch gegen eine falsche Vorstellung von der Unendlichkeit der Welt bzw. von Raum und Zeit. Das erste Problem der Selbstverdinglichung ist also in der falschen Frage nach dem Sinn; das zweite in der Diskontierung der Absolutheit des Daseins als Vollzug des Lebens oder qua Sein des personalen Subjekts, das je ich bin, zugunsten eines unmöglichen Blicks auf uns selbst von der Seite, der angeblich allererst objektiv sein soll. Aber nicht nur die Verkürzung des Ich auf meine leibliche Identität und Individualität von der Geburt bis zum Tod, sondern auch die reflexionslogischen Reden über mich und mein Dasein bzw. über das transzendentale Ich als generische Artform personaler Subjektivität steht in der Gefahr der Verdunkelung des Seins des Ich, Wir und des Mitseins. Auch hier kann uns über Heideggers Analysen hinaus Hegels Meta-Konzept des Für-sich-Seins helfen, den Gang der Argumentation – oder besser: der materialen logischen Analyse – etwas durchsichtiger zu machen. Denn die Frage, wer oder was das Ich bzw. je mein Dasein wirklich ist, führt zur Frage nach dessen (An-und-)Für-sich-Sein. Nominal handelt es sich bei dem Ich als Subjekt sozusagen nach wie vor um die res cogitans et agens, die in Verbindung mit der res extensa des Leibes stehen soll. Das Bild (ver)leitet bis heute die unend­ lichen Debatten über das Körper-Geist- oder Leib-Seele-Problem. Die Frage nach dem Status des transzendentalen Ich bei Kant, das in

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Verbindung mit dem empirischen Ich als der Seele einer empirischen Psychologie oder dem Gemüt (mind) einer empirischen Physiologie stehen soll, ist darin schon enthalten. Was also ist das Fürsichsein des Subjekts, von dem u. a. Descartes oder dann auch Kant sprechen? Wenn wir die Frage verstehen und ernst nehmen, sollte erstens auffallen, dass naturwissenschaftlichmedizinische Zugänge zur Physiologie der geistigen Fähigkeiten und den Operationen des Mind nicht anders als behavioral-verhaltenswis­ senschaftliche Zugänge zur Psyche, sozusagen Zugänge von außen sind: Alle so erfassbaren Eigenschaften sind von der Kategorie des Für-Andere-Seins. Sie treffen also gerade nicht das Für-sich-Sein und damit die wahre Realität des leiblich-mentalen Daseins. Dieses wird nicht nur unanalysiert vorausgesetzt, sondern sogar noch auf unange­ messene Weise, sagen wir es ruhig, falsch beschrieben und erklärt. Die Identifikation der Seinsweise des Ich, des personalen Sub­ jekts, des Daseins mit dem, was die Medizin, Hirnphysiologie, Etho­ logie, empirische und spekulativ-theoretische Psychoanalyse usf. wissen oder zu wissen meinen, ist eben wegen des Grundmodus des Für-Andere-Seins dieses (vermeinten oder wirklichen) Wissens in einem tiefen Sinn analog dazu, dass man den Schlachter, Koch und Restaurantgast die wesentlichen Eigenschaften eines guten Schweins bestimmen lässt. Die Epoché in der Erforschung des Fürsichseins verlangt, wie oben gesehen, gerade die Einklammerung bloß ›äußerlicher‹ Eigen­ schaften, die auf Relationen zu Anderem durch implizite Parametri­ sierung oder quantorenlogische Bindung zurückgehen und gerade nicht auf ›innere‹ Beziehungen des An-und-für-sich-Seins. Ironischerweise verkehrt sich die eigentliche Realität und Objek­ tivität, wenn wir das Selbstsein eines personalen Subjekts, also das Dasein, phänomenologisch und damit nicht bloß von außen, im Modus der bloßen Betrachtung des Zuhandenen, also etwa der Patienten in der Klinik, oder des Vorhandenen, etwa der Menschen in einem Land betrachten. Dabei ist der Slogan der Phänomenolo­ gie »Zu den Sachen selbst«, wie gesehen, nicht bloß als frommer Schlachtruf zu lesen. Die Methode der Epoché ist Abstraktionsbemü­ hung, welche nach Möglichkeit bloß relationale Eigenschaften der Kategorie des Für-Anderes-Seins aus der Betrachtung heraushält oder wenigstens zurückdrängt, wozu insbesondere auch die speziellen Themen, Aspekte, Interessen, Sprach- und Erklärungsformen oder auch Messmethoden der arbeitsteilig längst schon ausdifferenzierten

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Wissenschaften zählen. Daher ist, was z. B. für die Physik oder Psychologie Sache ist, noch keineswegs die Sache selbst. Im Fall von Gegenständen der Rede, für welche Zahlen oder geometrische Formen die einfachsten Beispiele sind, verlangt die phä­ nomenologische Epoché die konkrete Angabe der Repräsentationen, etwa der Zahlterme oder Formenbenennungen, zusammen mit der Art der Setzung der Gleichungen und Zahlrelationen. Kant hat in der Verfolgung der Frage nach dem Ding dessen Konstitution als Gegenstand schon gemäß dieser Methode behandelt. Hegel hat in der Phänomenologie des Geistes bereits die Frage nach dem Geist, der Seele und dem Gemüt (Mind) gestellt. Dabei führte der Weg zwar ähnlich wie im empiristischen Behaviorismus von äußeren Erscheinungen (bei Hegel: des Bewusstseins) zur Sache für sich, so aber, dass anders als dort die begrifflichen Inhalts- und Gegenstandsbestimmungen des Vorhandenen nicht naiv und blind vorausgesetzt werden. Das methodische Problem auch noch des Logischen Empirismus der Analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts liegt gerade in der präsupponierten Redeform einer Vorhandenheitssemantik, in der entweder physische bzw. physikalische Dinge oder aber Sinnesdaten oder Qualia als angeblich unmittelbar gegebene Gegenstände und damit als inhaltlich schon bestimmt vorausgesetzt werden. Dem gegenüber hatte schon Kants Analyse der Formen der Anschauung und der Formen gegenständlicher Rede – als Vollzugsformen perso­ nalen Daseins im Denken und Reden – logisch weit tiefer geblickt und war eben daher in ihrer Sinnkritik weit fortschrittlicher gewesen, trotz des noch problematischen Erbes von Empirismus und Rationalismus, nämlich der Dichotomie von Anschauung und Denken. Wie aber ist die Epoché der ›objektivierenden‹ Abstraktion des Für-sich-Seins auf das Ich, das Für-mich-Sein anzuwenden? Die Frage selbst weist in ihrer offenbaren Verkehrung üblichen Meinens im vulgären oder ›gemeinen‹ Denken den Weg. Bei Betrachtung der Subjektivität des Subjekts bzw. des Daseins im Vollzug gibt es nichts Objektiveres als die Subjektivität selbst. Die Daseinsanalytik kann daher nur in der Form von Titeln und allgemeinen Kommentaren an die Existenzialen als immer schon vorausgesetzte Grundformen der Endlichkeiten im Vollzug des Lebens bzw. des Daseins als personales Subjekt appellativ erinnern. Wer hier nicht mitspielt, sondern im Betrachtungs- und Rede-Modus des Für-Anderes-Seins über sich als vorhandenes Leib-Ding spricht, der hat den Grundgedanken phänomenologischer Epoché gerade noch nicht in seiner Bedeutung

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und Bedeutsamkeit begriffen, und zwar in der erst von Heidegger als zentral erkannten Anwendung nicht bloß auf äußere Dinge und Sachen, wie bei Kant und Husserl, sondern auf das Dasein, also das Für-mich-Sein des personalen Subjekts, das je ich bin. Logisch im Mittelpunkt der Frage nach dem Für-sich-Sein des Ich (also je von mir) steht offenbar das »Sich« und »Selbst« bzw. die Grammatik des Selbst-Wissens, der Selbst-Erkenntnis, des Sich-zu sich-Verhaltens. Ein Moment der Reflexion sollte zeigen, dass dieses Ich und Sich keinen dinglichen Gegenstand benennt, sondern auf eine Seinsweise Bezug nimmt, so wie das Leben als Vollzug nicht das Lebendige ist, sondern, umgekehrt, das Leben die Identität des Lebendigen material bestimmt. Daher wählt Heidegger im Ausdruck »Dasein« ein Wort, das gar kein Objekt, sondern ein Sein nennt. Allerdings kommt auch er nicht darum herum, auf das Dasein der sprachlichen Form nach gegenständlich zu reflektieren. Und er spricht über das Seiende, das wir selbst sind und dem es immer schon um sein Sein, zunächst also um unser personales subjektives Leben im Leben geht, dann aber auch um das Leben oder Sein im Ganzen. Selbstverhältnisse im Sich-selbst-Erkennen und im Sich-zusich-Verhalten sind, wie wir inzwischen erarbeitet haben, nicht ›wört­ lich‹ als Relationen R der Kategorie des Für-sich-Seins zu lesen, so also, als gelte hier die Regel: aRb→a=b für mich als einen dinglichen Gegenstand a bzw. b. In Wahrheit beziehen sich solche Selbstverhält­ nisse entweder auf etwas, was je ich früher war, oder auf das, was ich meine, dass ich es jetzt bin, also auf Seinsarten, häufig aber auch auf bloße Möglichkeiten des Seins, etwa auf ein mögliches zukünftiges Sein im Dasein oder dann auch auf das Dasein als Ganzes.

7. Zur Zeitlichkeit der Sorge Heideggers Daseinsanalyse ist Erinnerung an die Endlichkeiten per­ sonaler Subjektivität. Auf S. 17 gibt Heidegger eine Art Versprechen, das zugleich auch als Selbstkommentar zu dem am Ende in S. u. Z. Erreichten zu lesen ist: »Als Sinn des Seins desjenigen Seienden, das wir Dasein nennen, wird die Zeitlichkeit aufgewiesen«. Gemeint ist u. a. die noch etwas genauer zu erläuternde SorgeStruktur der Selbstverhältnisse. Auf S. 23 erklärt S. u. Z., der erste und einzige sei Kant gewesen, der auf die Zeitlichkeit als Form der Anschauung und damit des In-der-Welt-seins des Daseins je hinge­

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wiesen habe und damit als erster die endliche Seinsform, die wir als personale Subjekte manifestieren, in den Blick genommen habe. Unrichtig erscheint mir dabei nur, dass das Wort »einzig« die Leistung Hegels ausklammert. Für Husserl und Heidegger ist die Analyse Franz Brentanos zentral, der als erster gesehen hat, dass intentionale Haltungen immer (auch) propositionale Haltungen (propositional attitudes) sind. Man spricht auch von intensionalen Haltungen. Man kann daher kurz und prägnant sagen: Alle Intentionalität ist intensional. Das, wozu man sich dabei (häufig tätig, nicht nur redend) verhält, sind Möglichkeiten, die im Fall von Selbstverhältnissen die Offenheit (der zukünftigen Möglichkeiten) des eigenen Seins ausmachen. Vieles, was es in der Zukunft geben wird, ist nicht einfach irgendwo in der Welt oder einer möglichen Welt schon irgendwie vorhanden. Das Bild von möglichen Welten, in denen es mögliche Objekte und Sachverhalte gibt, ist durchaus ganz irrführend. Es verhält sich auch nicht etwa mein Leib einfach zu sich selbst, wenn ich mich etwa in tätiger Selbstbestimmung zu mir selbst ver­ halte, sondern ich verhalte mich als Dasein im Vollzug zu einer ggf. bewusst gemachten Möglichkeit, in der Zukunft so oder anders zu sein. Das führt uns zur Sorge als existenzialer Grundform der Zeitlichkeit des Daseins. Jeder Sinn ist zeitlich. Die Sorge ist zeitlich, ja sie ist der zeitliche Sinn des Seins. Aller Sinn im Dasein ist Sorge. Denn »Sinn« bedeutet ja »Richtung«, »Orientierung«. Dennoch geht die Sorge auch über das eigene Sein hinaus, gerade indem das Sein im Ganzen thematisch wird. Damit rückt auch der eigene Tod in den Blick. Hierzu ließe sich vieles Weitere sagen. Für uns reicht es, dass die Sorge bei Personen im guten Fall eine selbstbewusste Haltung erstens zu einem zukünftigen Sein-Können und zweitens zum Sein im Ganzen ist. Die Zukunft muss dabei modal als relativ offener Möglichkeitsraum begriffen werden. Daher und darin unterscheidet sich die Zeitlichkeit des Daseins bzw. die Zeit als Existenzial wesentlich von jeder bloß gemessenen oder numerisch datierten Zeit. Es ist die perspektivi­ sche Sorgestruktur des intentionalen und intensional auf zukünftige Möglichkeiten ausgerichteten Sich-zu-sich-Verhaltens, an welcher sich die vorgängige Zeitlichkeit des Daseins vor jeder Aussage über vorhandene Dinge und vor allen raumzeitlichen Aussagen über sich wiederholende, gerade auch generisch-typische, und dann auch ein­ zelne empirische Bewegungen in der Welt ›als absolut‹ ausweisen

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lässt. Insbesondere setzen alle empirischen Sätze und Aussagen ein Hier und Jetzt eines möglichen Beobachters und Sprechers voraus. Ewige Sätze sind als generische Regeln auf der Ausdrucksebene gerade so wie die mathematischen Wahrheiten zu verstehen. Sie sind in einem Begriffssystem kanonisch gesetzt. Sie gehören sozusa­ gen zu einer Rechentechnik mit Ausdrucksformen. Diese Einsicht Heideggers ist riesig. Sie führt seine Analysen weit über das einfache Denken bloß formalanalytischer Philosophie hinaus. Allerdings sieht Heidegger nicht, dass im Kern schon Heraklit, Parmenides und Platon Wissenschaft als Arbeit am eidetischen Begriffssystem begreifen und Hegel eben dieses Verständnis des platonischen eidos als Begriff und der idea tou agathou als Idee, d. h. als gute Manifestation oder Realisierung (der Bedingungen) des Begriffs rekonstruiert.

8. Zur Absolutheit des Daseins im Vollzug Gilad Nir stellt in einem Aufsatz zur Methode Heideggers die sehr gute Frage, warum für Heidegger Dasein exemplarisch für Sein ist.15 Begeht Heidegger, fragt er, nicht einen analogen Fehler wie die Tradi­ tion? Diese führt von Aristoteles bis Thomas von Aquin oder sogar bis in die vermeintliche Onto-Theo-Logik Hegels. Die allgemeine Frage einer ontologia oder metaphysica generalis nach dem Sein des Seienden und der Konstitution von Wahrheit und Wirklichkeit soll dabei in einer metaphysica specialis, nämlich einer Theologie mit ihrer Betrachtung der Welt aus der Sicht eines Gottes beantwortet werden. Heidegger scheint nun, so das Ausgangsbedenken von Gilad Nir, die Theologie als Fundamentalontologie einfach durch eine Fundamen­ talanthropologie zu ersetzen. Worin aber besteht das Prototypische des menschlichen Daseins für die allgemeine Frage nach dem Sein? Warum beginnen wir z. B. nicht gleich bei den in der Welt vorhandenen Dingen und sagen einfach, diese seien alle endlich und zeitlich? Stolpert Heidegger nicht aus der berechtigten Betonung transzendentaler Vorbedingungen von Erkenntnisansprüchen allzu unmittelbar in ontische und ontologische Behauptungen über Seiendes und Sein? Wie man sich hier auf höchstem Niveau verlaufen kann, zeigt übrigens die Metaphysik der Monaden. Diese sind bei Leibniz als 15

Gilad Nir, Heidegger’s Double Method. Unv. Manuskript.

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perspektivische Punkte konzipiert. Doch gerade als solche werden sie anthropomorph aufgeladen. Die konstruierte Theorie verlässt damit jede phänomenologisch gesicherte Sache selbst. Gilad Nir versucht nun in höchst kluger Weise, neben Heideggers Daseinsanalytik als Paradigma für eine ontologische Ana­ lyse die Destruktion (nämlich der Geschichte der Ontologie) zu setzen, wie sie im nicht fertiggestellten zweiten Teil von S. u. Z. geplant war, so dass Heideggers doppelte Methode in einer Art Verschränkung von transzendentaler Ontologie in der Daseinsanalyse und geschicht­ licher Hermeneutik einer sinnkritischen Seinsgeschichte bestünde. Ich versuche hier, einen etwas anderen Grund für die Prominenz des Daseins zu nennen. Ich erinnere an das Erbe Kants in Heideggers Analysen: Vor jeder ontischen Frage, was es in der Welt gibt, was in ihr vorhanden ist, liegt die (freilich noch allzu sehr dem Paradigma der Erkenntniskritik verhaftete) transzendentalontologische Frage Kants, was es heißt zu sagen, dass etwas vorhanden bzw. für uns (in der Anschauung) zuhanden ist. Das führt dann aber gleich weiter zur Frage Heideggers, was es denn heißt, von uns zu sprechen, also je von mir oder jedem von uns. Das ist sozusagen eine pronominale Rückformulierung von Kants nominaler Rede über ein transzendentales Ich. Wie Hegel schon in der Phänomenologie sieht, ist dieses Ich ein (generisches) Wir – und jeder Appell an ein Wir ist Vollzug eines Ich. In präsuppositionslogischer Reflexion auf die Seinsweise des Ich bzw. Wir muss das Dasein gerade auch in seiner Selbstbezüglichkeit in Abwehr von einem gegenständlich vorgestellten Subjekt als Objekt der Reflexion betrachtet werden. Wir haben nämlich gesehen, dass es sich in der phänomenologischen Analyse immer um das Für-sich-Sein des jeweiligen Seins geht. Das heißt, es geht um die Einklammerung der bloß relationalen Objektivität der Gegenständlichkeit zuhandener und dann auch vorhandener Dinge. Dabei spielt das Dasein deswegen eine besondere Rolle, weil die Subjektivität im Vollzug des Seins unmittelbar und absolut ist. D. h. es ist nicht relational zu einem Erkennen in Anschauung und Denken und damit auch nicht relativ zur Erfüllung entsprechender Bedingungen. Das führt zurück zur oben schon besprochenen ›intellektuellen Anschauung‹ als Form jeder wahren ›Spontaneität‹ und Freiheit. Indem dabei die reflexionslogische Frage nach dem Sein des Ich, Selbst und Mich auftritt und zur Frage nach dem Meinigen wird, wird klar, dass und warum man hier ein holistisches Sein des Da oder Hier

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oder Ich, nicht einen Gegenstand, zu analysieren hat. Das führt weiter zur Frage nach dem Für-mich-Sein und zur Einsicht, dass die Bemü­ hung um ›Objektivität‹ durch die Epoché oder Einklammerung des Für-Anderes-Seins geradewegs zurück zur ›Subjektivität‹ des Daseins in seinen Selbstbezugnahmen und seinem Sich-zu-sich-Verhalten führt. Jeder Weltbezug ist Selbstbezug und umgekehrt. Daher rückt auch die Sorge als intentionale Vollzugsform im Blick auf die Zukunft ins Zentrum der Analyse – samt allen mit ihr vorgegebenen Endlich­ keiten. Deren erster Ausdruck ist das In-der-Welt-Sein mit seinen Momenten der lokalen Räumlichkeit des Hierseins und der präsenti­ schen Zeitlichkeit im Jetzt der Gegenwart zwischen Damals und Dann. Die Überlegungen ab dem § 45 von S. u. Z versuchen dann eine Art Säkularisierung der Betrachtung des Daseins und der Welt im Ganzen unter Verzicht auf jede Gottesperspektive.

9. Ausblick Eine Folge der gesamten Überlegung, die hier freilich nur in ihren wesentlichen Umrissen und Kernpunkten skizziert werden konnte, ist das inzwischen fast allgemein anerkannte so genannten anthropische Prinzip: Jede kosmologische Geschichte der Entstehung des Vorhan­ denen und jedes Inventar der Welt ist gegenwartszentriert. Es muss so erzählt bzw. rekonstruiert werden, dass z. B. die Entstehung von pflanzlichem, animalischem und menschlich-personalem Leben, wie sie längst hinter uns liegt und in allem Wissen vorausgesetzt ist, als Möglichkeit immer schon erhalten ist. Eine Theorie ist a priori falsch, welche diese Entstehung ausschließt oder etwa die Tatsache freien Handelns leugnet, also dessen Kontrastierung zu einem präde­ terminierten Verhalten, wie wir es in manchen Bewegungsabläufen toter Dinge sehen. Analoges gilt auch für jede Seinsgeschichte. Auch sie kann nicht einfach neben eine transzendental gestufte Ontologie des Daseins (der Subjektivität des Subjekts) und dann des Sinns der Rede über in der Welt vorhandene Gegenstände und Sachen platziert werden. Insgesamt artikulieren die Existenzialien sozusagen Große Tat­ sachen im Ausgang von der skizzierten Absolutheit des Daseins bzw. der absoluten Objektivität der perspektivischen Subjektivität des Subjekts. Dabei besteht die Analyse in titelförmigen Nennungen und Kommentierungen von Grundformen des Daseins im Vollzug.

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Erst wenn das Dasein als Ganzes thematisch wird, wird über die immanente Sorge hinaus die Haltung zu den zeitlichen Grenzen des Daseins relevant, nämlich die Geworfenheit in Geburt und Geschichte und das vorausweisende (›vorlaufende‹) Wissen um das eigene Ende im Tod. Der Zusammenhang von Tod und Eigentlichkeit im Dasein besteht nicht einfach im Wissen, dass alles Leben, wie alle Dinge in der Welt, endlich sind, sondern in der vollen personalen Selbstbezug­ nahme auf den eigenen Tod und die Welt nach diesem Tod. Es ist eine Haltung zum Dasein im Ganzen und als solche eine Modifikation des Daseins im Vollzug. Man könnte die Analyse der Existenzialien, z. B. der Geworfen­ heit, des Man und des Mitseins, auch mit einer Säkularisierung tradi­ tionaler religiöser Rede über eine Ursünde oder so genannte Erbsünde in Verbindung bringen. Das interessante Ergebnis wäre dann, dass die Endlichkeit des Daseins, artikuliert in den Existenzialien, nicht etwa göttliche Strafe für eine Ursünde ist, etwa das Wissenwollen Evas und dann auch Adams. Die Nichtanerkennung der absoluten Endlichkeit und Immanenz des Daseins und damit von allem Wissen und Glauben über das wirklich in der Welt Vorhandene ist die Erbsünde selbst.

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Metaphysik, Anthropologie oder ExistenzialOntologie? Wie Kant Heideggers Frage nach der ursprünglichen zeitlichen Seinsform des Menschen beantwortet1

I Heidegger hat seine Vortragsreihe am Herder-Institut in Riga vom 11.-14. September 1928 nicht nur zur Einführung in Kants Kritik der reinen Vernunft gehalten, sondern ausdrücklich auch mit Rück-sicht auf die Problemlage der Gegenwart – also seiner Gegenwart. Wie Herr von Herrmann mich freundlicherweise schon länger unterrichtet hatte, hat Heidegger ihm während seiner Zeit als dessen Privatsekre­ tär erzählt, dass er alle Texte der Kant-Vorträge, die er in den späten zwanziger Jahren gehalten hat, nach der Publikation dieses Buchs vernichtet habe. So bleibt uns als Maßstab für Heideggers damalige Auseinandersetzung mit Kants Erster Kritik nur das Buch von 1929 zugänglich. Doch wie sind Heideggers Überlegungen in diesem Buch mit Rücksicht auf die Problemlage der Kant-Forschung unserer heutigen Gegenwart zu beurteilen? Die in jeder methodischen und sachlichen Hinsicht ernstzunehmenden Beiträge zur Kant-Forschung beginnen bekanntlich erst 1900 mit dem allmählichen Erscheinen von Kant’s gesammelten Schriften in der Akademie-Ausgabe. Wie vor allem Heideggers Marburger Kant-Vorlesungen zeigen können, hat er sich relativ früh mit der ihm eigenen systematischen Energie, aber auch mit respektabler hermeneutischer Eindringlichkeit mit Kants Erster Kritik auseinandergesetzt. Die Forschungen, die die Intentionen, die Zuerst veröffentlicht in: Kantian Journal, 2022, 41(4), 38–59. http://dx.doi.org/1 0.5922/0207-6918-2022-4-2 Die vorliegende Fassung wurde vom Autor leicht korrigiert.

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sachlichen Gehalte und die Lernpotentiale von Kants Erster Kritik mit aller hermeneutischen und sachlichen Sorgfalt um ihrer selbst willen zu erschließen suchen, beginnen allerdings erst in der zwei­ ten Hälfte der dreißiger Jahre mit Herbert James Patons zweibändi­ gen Untersuchungen Kant’s Metaphysics of Experience2 und Henrik de Vleeschauwers dreibändigen Untersuchungen La déduction trans­ cen-dentale.3 Seit damals sind diese Intentionen, Sachgehalte und Lernpotentiale durch immer mikroskopischer gewordene hermeneu­ tische und systematische Untersuchungen schrittweise immer mehr erschlossen worden. Unter diesen Umständen kann man sich mit den Thesen von Heideggers Kant-Buch von 1929 nicht mehr einfach um ihrer selbst willen auseinandersetzen. Heidegger selbst hat, wie der Titel seiner Rigaer Vorträge zeigt, die Problemlage seiner eigenen Gegenwart zu ernst genommen, als dass wir es uns leisten könnten, die Problem­ lage unserer Gegenwart zu ignorieren, wenn wir den methodischen Einstellungen gerecht werden wollen, die Heidegger selbst in Riga geübt hat.

II Mit dem ersten Satz der Einleitung seines Buchs stellt sich Heidegger »die Aufgabe, Kants Kritik der reinen Vernunft als eine Grundlegung der Metaphysik auszulegen, um so das Problem der Metaphysik als das einer Fundamentalontologie vor Augen zu stellen«.4 Es ist also von Anfang an das Ziel von Heideggers Auslegung, die Kritik der reinen Vernunft so auszulegen, dass sichtbar wird, dass das Problem der Metaphysik mit dem Problem einer Fundamentalontologie iden­ tifiziert werden kann, wie Heidegger sie ein Jahr zuvor in seinem Buch Sein und Zeit präsentiert hat. Gegen diese Zielsetzung ist an sich so lange nichts einzuwenden, wie man die Elemente der Kritik der reinen Vernunft noch nicht kennt, die Heidegger für geeignet hält, in diesem Sinne fruchtbar gemacht zu werden. Auch einfache buchtechnische Berufungen auf die klassische Stelle in der Ersten Herbert James Paton, Kant’s Metaphysics of Experience. Hermann de Vleeschauwer, La déduction transcendentale. 4 Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik (11929), Frankfurt/Main 3 1965, 13.

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Kritik, an der Kant selbst sein Unternehmen scharf gegen die ihm vertrauten Gestalten der überlieferten Ontologie abgrenzt, geben gegen Heideggers leitendes Auslegungsziel so lange nichts her, wie man die konkreten Schritte Heideggers nicht geprüft hat, die er in den Dienst dieser Zielsetzung stellt. Zwar kann ein relativ einfacher Blick in Heideggers ein Jahr zuvor publiziertes Werk zeigen, dass die hier präsentierte Fundamentalontologie nicht das geringste mit den Kant vertrauten Gestalten der Ontologie gemein hat. Umso sorgfälti­ ger sollte man prüfen, welche Elemente aus Kants Kritik der reinen Vernunft Heidegger zugunsten einiger Schritte in das thematische Feld der von ihm entworfenen Fundamentalontologie fruchtbar zu machen sucht. Auf seinem Weg in dieses Feld unternimmt Heidegger bekannt­ lich einige wichtige Zwischenschritte auf einem Umweg. Dieser Umweg führt vom »Ergebnis der Kantischen Grundlegung der Meta­ physik«5 zum Versuch einer »Grundlegung in der Anthropologie«6. Zu Recht beruft sich Heidegger auf Kants berühmte Frage „»Was ist der Mensch?«„,7 von der Kant selbst sagt, dass »sich die drei ersten Fragen (also Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?, R. E.) auf die letzte beziehen«.8 Ob Kant damit, wie Heidegger zu bedenken gibt, »[...] selbst das eigentliche Ergebnis seiner Grundlegung der Metaphysik unzweideutig ausgesprochen [hat]«,9 ist jedoch fraglich. Denn die anthropologische Frage bildet ja die Zusammenfassung der Ersten und der Zweiten Kritik: Die Grund­ legung der Metaphysik ist indessen der Ersten Kritik vorbehalten und deren Horizont ist durch die erste der drei Fragen umrissen Was kann ich wissen?. Doch etwas anderes kommt hinzu. In seinem Brief an Marcus Herz vom 11. Mai 1781 charakterisiert Kant die Erste Kritik als »die Metaphysik von der Metaphysik«.10 Nun sind solche reflexiv gestuf­ ten Anwendungen von an sich schon problematischen disziplinären Titeln nicht sonderlich aufschlußreich. Sie bilden – zumindest bei weniger streng denkenden Philosophen als Kant – nicht selten Spie­ S. 185. Ebd. 7 S. 187. 8 S. 188. 9 Ebd. 10 Kant’s Gesammelte Schriften, sog. Akademie-Ausgabe = Ak. Iff., Berlin 1900ff., Ak. X, 269. 5

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lereien einer sich selbst verborgen bleibenden Verlegenheit. Wenn Kant, der zu seiner Zeit radikalste Kritiker der überlieferten Meta­ physik so spricht, ist jedoch Vorsicht geboten, ob hier nicht eine beachtenswerte Überlegung im Spiel ist. Tatsächlich lohnt es sich, diesem vorsichtigen Verdacht nachzu­ gehen. Kant hat gerade dem Doppelsinn der gestuften Verwendung des Metaphysik-Begriffs eine außerordentlich aufschlußreiche Klä­ rung gegeben. In der Architektonik der reinen Vernunft, dem letzten Teil der Methodenlehre der Ersten Kritik, gibt er zunächst ein architek­ tonisches Metaphysik-Kriterium zu bedenken: »... die ganze (wahre sowohl als scheinbare) philosophische Erkenntnis im systematischen Zusammenhange ... heißt Metaphysik«.11 Die so verstandene Meta­ physik plant Kant durch Ausarbeitungen vor allem einer Metaphysik der Natur und einer Metaphysik der Sitten zu vervollständigen. Doch Kant ergänzt dieses architektonische Metaphysik-Kriterium unmit­ telbar durch ein viel zu selten beachtetes methodologisches Metaphy­ sik-Kriterium. Er fährt in demselben Satz mit einer Einschränkung fort: »... wiewohl dieser Name [der Metaphysik] auch [...] der Kritik gegeben werden kann, um [...] die Untersuchung alles dessen, was ... von allem Empirischen ... unterschieden ist, zusammen zu fassen«.12 Die Erste Kritik präsentiert also eine nicht-empirische Untersuchung. In dem Maß, in dem sie zur Beantwortung der anthropologischen Frage beiträgt, trägt sie daher mit nicht-empirischen Mitteln zu ihrer Beantwortung bei. Für Kant ist die anthropologische Frage daher an die methodologische Bedingung gebunden, über den Menschen nur solches ausfindig zu machen, was jemals mit nicht-empirischen Mitteln erkannt werden kann. Heideggers Frage »Was gehört zu einer philosophischen Anthropologie?«13 schießt unter diesen Vor­ aussetzungen mit Blick auf Kant haarscharf am Ziel vorbei. Denn unter diesen Voraussetzungen gehört nach Kants methodologischem Metaphysik-Kriterium zu einer philosophischen Anthropologie das­ selbe, was im Licht dieses Kriteriums zu einer Metaphysik gehört – alles, was über den Menschen jemals mit nicht-empirischen Mitteln ausfindig gemacht werden kann. Unter diesen Voraussetzungen ergeben sich drei Fragen, die in ihrem Zusammenhang erlauben, Kants Erste Kritik und den Ansatz Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (11781, 21787), Hg. R. Schmidt (11926), Philosophische Bibliothek Bd. 37A, Hamburg 1956, A 841, B 869. 12 Ebd. 13 Heidegger, Metaphysik, S. 188. 11

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Heideggers in seinem ersten Kant-Buch erneut in ein Gespräch zu bringen, allerdings in ein Streit-Gespräch. Dieses Streitgespräch sollte offensichtlich von vier zunächst noch ganz offenen Leitfragen bestimmt werden: 1.) Welches sind die spezifisch anthropologischen Elemente in Kants Erster Kritik? 2.) Welche spezifisch anthropologi­ schen Elemente identifiziert Heidegger in Kants Erster Kritik? 3.) Besteht ein irgendwie aufschlußreicher Zusammen-hang zwischen den von Kant selbst präsentierten spezifisch anthropologischen Ele­ menten und den von Heidegger identifizierten spezifisch anthropolo­ gischen Elementen? 4.) Und was hat das alles – wenn überhaupt – mit einer fundamentalontologischen Auslegung von Kants Grundlegung der Metaphysik durch eine Kritik der reinen Vernunft zu tun?

III Um die spezifisch anthropologischen Elemente in Kants Erster Kritik zu identifizieren, macht Heidegger im Sinne einer heuristischen Hypothese ein zentrales Element seiner ein Jahr zuvor publizierten Existenzial-Ontologie fruchtbar: »... die Interpretation des Daseins als Zeitlichkeit [ist] das Ziel der Fundamentalontologie [...]«.14 Mit Blick auf Kants Erste Kritik gibt er daher zu bedenken: »[...] die Zeit [gewinnt] ... die zentrale metaphysische Funktion in der Kritik der reinen Vernunft«.15 Gleichzeitig bemängelt er, dass »Kant keine ausgearbeitete Interpretation des ursprünglichen Wesens der Zeit hatte«.16 Nun ist zwischen Heidegger und Kant gewiß nicht nur strit­ tig, was zu ›einer ausgearbeiteten Interpretation des ursprünglichen Wesens der Zeit‹ gehört. Es ist gewiß ebenso strittig, was unter der ›zentralen metaphysischen Funktion‹ zu verstehen ist, die ›die Zeit in der Kritik der reinen Vernunft gewinnt‹. Hält man sich an Kants methodologisches Kriterium der Metaphysik, dann traut sich Kant zu, u. a. mit seinen Bestimmungen der Zeit etwas ›über den Menschen ausfindig gemacht zu haben, was nur mit nicht-empirischen Mitteln über ihn ausfindig gemacht werden kann‹. Die spezifisch temporale Grundform der Zeit charakterisiert Kant immer wieder von neuem als »Aufeinanderfolgen«, als »nach­ 14 15 16

S. 216. S. 219. S. 182.

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einander«17, als »Sukzession«.18 An diesem Punkt lohnt sich ein klei­ ner Exkurs in die Geschichte der klassischen Zeittheorien. Denn man kann nicht nur leicht zeigen, dass Kants Ansatz bei der Sukzessivität den temporalen Grundbestimmungen dieser Theorien in formaler, also in nicht-empirischer Hinsicht überlegen ist. Ihre formale Überle­ genheit ist nicht nur ein wichtiges Indiz für den formalen Charakter von Kants Konzeption der Zeit, dieser formale Charakter bildet auch ein wichtiges Indiz für ihren nicht-empirischen Charakter. Aristoteles’ Arbeitsdefinition der Zeit im Vierten Buch der Physik legt die Zeit bekanntlich darauf fest, die Anzahl der Bewegungen gemäß dem Früher und dem Später zu sein. Auf den im Kern messtheoretischen Aspekt dieser Arbeitsdefinition kommt es im Rahmen dieses formalen Vergleichs nicht an, sondern lediglich auf den strikt temporalen Aspekt des Früher und des Später. Im Licht von Kants Ansatz beim Nacheinander liegt es sofort auf der Hand, dass der Unterschied des Später vom Früher darin besteht, dass sich das Spätere nach dem Früheren einstellt, aber nicht umgekehrt. Die logische Pointe dieses simplen Vergleichs besteht also darin, dass der Unterschied zwischen den zwei Relationen des Früher-seins und des Später-seins auf die formal einfachere Relation des Nacheinanderseins zurückgeführt werden kann. Das Nacheinander bildet den in logischer Hinsicht einfacheren temporalen Charakter. Den komplizierten Sonderfall der Zeitcharakteristik durch Plotin in der Enneade III,7 lasse ich hier unberücksichtigt. Die Zeitcharakteristik des Augustinus im XI. Buch der Confessio­ nes bildet den zweiten Anwen-dungsfall. Der hier zentrale dreifache Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft19 kann ebenfalls auf den einfachen temporalen Charakter des Nacheinan­ der zurückgeführt werden. Denn die Gegenwart kommt nach der Vergangenheit und die Zukunft nach der Gegenwart. Den dritten KrV, A 30, B 46; vgl. auch B 46; A. 33, B 50; B 67. B 154; vgl. auch A 500, B 528. 19 Vgl. Augustinus, Confessiones, XI. Buch, 20,26. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass nicht die drei Zeitmodi, sondern die drei mit ihnen verbundenen kogniti­ ven Fähigkeiten des Menschen die tragende Rolle spielen: »praesens de praeteritis memoria«, XI, 20, 26 »praesens de praesentibus intuitus«, ib. bzw. »praesens de futuris expectatio«, ib., Hervorhebungen R. E.; vgl. auch vom Verf., Zeit, Bewegung, Handlung und Bewußtsein im XI. Buch der Confessiones des hl. Augustinus, in: E. Rudolph (Hg.), Zeit, Bewegung, Handlung. Studien zur Zeitabhandlung des Aristoteles, Stuttgart 1988, 193–221. 17

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wichtigen Anwendungsfall bildet die Zeitcharakteristik Newtons in der I. Anmerkung der Principia: »Die absolute, wahre und mathema­ tische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig«.20 Das Missliche an dieser Charakteristik besteht zunächst darin, dass Newton die Form der Zeit hier mit Hilfe der Metapher des Verfließens bestimmt. Aufschlussreich ist dieser Rückgriff gerade auf diese Meta­ pher selbstverständlich deswegen, weil die temporale Form des Ver­ fließens gerade vom Nacheinander, von der Sukzessivität gebildet wird. Newton begeht hier also einfach den methodologischen Fehler, die Struktur der Zeit mit Hilfe einer Metapher zu charakterisieren, deren wörtliche Bedeutung bereits die von Kant erörterte Struktur der Zeit voraussetzt. Doch solche simplen Fehler unterlaufen nicht nur naturwissenchaftlichen Koriphäen einer ferneren Vergangenheit. Z. B. das weltberühmte, aber selten gelesene und noch seltener wirk­ lich durchdachte Buch von Stephen Hawking Eine kurze Geschichte der Zeit21 bietet alles andere als die apostrophierte Geschichte der Zeit, sondern, wie es für einen Physiker ja auch am nächsten liegt, eine Geschichte der Zeit-Messung. Es setzt also eine völlig ungeklärt bleibende Struktur der Zeit voraus.

IV Kommen wir zu Kants Theorie der Zeit zurück und zu der Frage, worin in ihrem Licht das ›Dasein als Zeitlichkeit‹ besteht! Als Theorie erschöpft sie sich nicht darin, die temporale Grundform des Nachein­ ander, der Sukzessivität vor anderen möglichen temporalen Formen auszuzeichnen. Sie ist im Licht von Kants Theorie auch dadurch ausgezeichnet, dass sie strikt an eine Bedingung gebunden ist, die zum Kern dessen gehören, was, wie Kant ja formuliert, ›jemals in nicht-empirischer Weise über den Menschen ausfindig gemacht werden kann‹. Im Sinne dieser Bedingung ist die temporale Form des Nacheinander, der Sukzessivität eine Form »unserer (menschlichen) Anschauung«,22 und zwar »des Anschauens unserer selbst und unseres Vgl. Isaac Newton, Mathematische Prinzipien der Naturlehre (lat. 1689). Mit Bemerkungen und Erläuterungen. Herausgegeben von J. Ph. Wolfers (1871), Darm­ stadt 1963, hier: 25. 21 Vgl. Stephen Hawkings, Ein kurze Geschichte der Zeit (engl. 11988), Hamburg 1991. 22 KrV, A35, B 51. 20

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inneren Zustandes«.23 Kants wichtigster spezifisch anthropologischer Satz über die Zeit besagt also, dass die Form des Nacheinander, die Sukzessivität die temporale Form ist, in der jeder Mensch sich selbst und seinen inneren Zustand anschaut. Kant gibt denselben Grundgedanken seiner Zeit-Theorie durch einen negativen Konditio­ nal-Satz zu verstehen: »Wenn wir von unserer Art, uns selbst innerlich anzuschauen, ... abstrahieren, so ist die Zeit nichts«.24 Doch ausschlaggebend für das methodische Format von Kants Theorie der Zeit ist nicht einfach die reflexive Einstellung, in der jeder Mensch sich selbst und seinen inneren Zustand anschaut. Ausschlaggebend ist, dass dieser innere Zustand unter der Form der Sukzessivität angeschaut wird. Der innere Zustand selbst bildet nur die jeweilige empirische Gelegenheit, ihn unter der Form der Sukzessivität anzuschauen. Eine methodologische Analogie kann verdeutlichen, warum die empirische Gelegenheit, diese reflexive Einstellung einzunehmen, nicht den nicht-empirischen Charakter stören muss, die man in diesem Punkt durch diese Einstellung gewinnen kann. Z. B. die Konjunktion und unserer Umgangssprache wird empirisch gebraucht, um zwei oder mehr als zwei Sätze zu einem einzigen logisch zusam­ menhängenden Satz zu verknüpfen. Durch die gezielte Reflexion auf die logische Form dieser Verküpfung kann man die formale, also nicht-empirische Einsicht gewinnen, dass jeder Satz dieser formallogischen Verknüpfung dann und nur dann wahr ist, wenn jeder seiner Teil-Sätze wahr ist, und andernfalls falsch. Die nicht-empirische Formalität dieser Einsicht verdankt sich hier einer spezifischen Inva­ rianz-Bedingung: Die Wahrheitsbedingungen von und-Sätzen sind invariant gegenüber allen möglichen Inhalten – auch den empirischen Inhalten – der verknüpften Sätze. Analog kann man jedem beliebigen empirischen Zustand des eigenen Subjekts seine Aufmerksamkeit schenken – also Gefühlen, Empfindungen, Eindrücken, Vorstellungen, Gedanken u. ä. Durch die gezielte Reflexion auf die temporale Form, in der sie miteinander verbunden sind, kann man indessen die formale, also nicht-empi­ rische Einsicht gewinnen, dass jeder Zustand eines menschlichen Subjekts mit jedem anderen Zustand durch Sukzessivität miteinan­ der verbunden ist. Auch hier verdankt sich die nicht-empirische 23 24

A 33, B 49. A 34, B 51.

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Form dieser Einsicht einer Invarianz-Bedingung: Die Zustände eines menschlichen Subjekts sind invariant gegenüber allen spezifischen Unterschieden zwischen Gefühlen, Empfindungen, Eindrücken, Vor­ stellungen, Gedanken u. ä. durch die Form der Sukzessivität mitein­ ander verknüpft. Doch inwiefern sind Kant und Heidegger in einen Streit über die Frage des ›Daseins als Zeitlichkeit‹ verstrickt? Und inwiefern ist Kant einer konstruktiven Alternative zu Heideggers Auffassung vom ›Dasein als Zeitlichkeit‹ auf der Spur? Kants Theorie ist zu komplex, als dass man diese Fragen mit einigen wenigen Federstri­ chen beantworten könnte. Es kommt daher zunächst darauf an, die wichtigsten Elemente dieser Theorie im Zusammenhang und um ihrer selbst willen zu erörtern. Dazu ist allerdings mehr Geduld für charakteristische Einzelheiten von Kant Theorie nötig als Heidegger sie, ungeachtet seiner energischen hermeneutischen Eindringlichkeit, zu seiner Zeit aufgebracht hat. Doch erst nach einer solchen Gedulds­ probe wird es möglich sein, die Beziehungen zwischen dieser Theorie und Heideggers Ansätzen zu klären.

V Den wichtigsten Knotenpunkt in Kants Erster Kritik bildet in diesem Zusammenhang ein Element, das zwar fast schon zu so etwas wie einem cantus firmus der Kant-Forschung gehört, dessen zugrundelie­ gende Harmonien aber dennoch in wichtigen Einzelheiten im Dun­ keln zu liegen scheinen. Diesen cantus firmus bildet der Mikro-Satz bzw. Pseudo-Satz Ich denke.25 Es lohnt sich, an diesem Punkt vorzu­ greifen und zu berücksichtigen, dass und wie Heidegger selbst das Thema der Zeit in einen unmittelbaren sachlichen Zusammenhang mit diesem Ich denke gebracht hat. In seiner Vorlesung Die Frage nach der Wahrheit vom WS 1925–26, hat er haargenau die Frage gestellt, die Kant schließlich beantwortet hat, »die Frage ... nach dem Zusammenhang von Ich denke und Zeit«.26 Er vermag schließlich zwar nur noch in aporetischer Form zu fragen: »Ist die Zeit ein B 131. Martin Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, Gesamtausgabe Bd. 21, Frankfurt/Main 1976, 344; vgl. auch 309. 25

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Modus des Ich denke oder das Ich denke ein Modus der Zeit?«.27 Dennoch zeigt Heideggers Thematisierung dieses Zusammenhangs alleine schon durch diese Fragen, mit welchem außerordentlichen Gespür für ein nicht auf der Hand liegendes sachliches Spannungsfeld er Kants Erste Kritik studiert hat. Denn diese Fragen Heideggers bilden gleichsam das Vorspiel zu der Antwort, die Kants selbst auf diese Fragen gegeben hat. Den Mikro- oder Pseudo-Satz Ich denke charakterisiert Kant selbst als »formalen Satz«28. Dieser Satz bildet bekanntlich den sprach­ lichen Ausdruck des elementarsten kognitiven Akts, des Akts der so apostrophierten »reine[n] ... oder auch ursprüngliche[n] Apperzep­ tion«.29 Man kann viel darüber rätseln, was es mit diesem Akt des Denkens auf sich hat. Durch das kleine terminologische Wortunge­ heuer der ›reinen oder auch ursprünglichen Apperzeption‹ wird er mehr verrätselt als geklärt. Heidegger thematisiert zwar »Das reine Denken im endlichen Erkennen«.30 Und die Frage, was Denken ist, hat Heidegger bis zuletzt in Atem gehalten und bekanntlich Hilfestellun­ gen bis zurück bei Parmenides suchen lassen. Doch Kant hat selbst auf den für seine Theorie springenden Punkt aufmerksam gemacht, der hier alleine weiterhilft. In den Prolegomena, den methodisch gereiften Retraktationen der Ersten Kritik charakte­ risiert er das Denken so: »Also ist Denken so viel als Urteilen«.31 Gänzlich klar formuliert er den springenden Punkt in einer späten Reflexion: »Wir können nur durch Urteile denken«32. Denken können wir im Licht von Kants Theorie also nur in der logischen Form des Urteilens. Damit ist Kant die unmißverständliche Klärung einer zunächst noch ein wenig undeutlichen Formulierung der Ersten Kritik gelungen. Hier sagt er vom Ich des Denkens, dass es »[...] bloß die logische Funktion [ist]«33. Denn diese logische Funktion des Denkens des Ich besteht im Licht von Kants Erläuterungen offensichtlich darin, zur logischen Form des Urteils beizutragen. An diesem Punkt ist eine Korrektur eines Irrtums zweckmäßig, der seit Johann Georg Hamanns Buch Eine Metakritik der Kritik 27 28 29 30 31 32 33

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Ebenda, 346. KrV, A 354. A 132. Heidegger, Metaphysik, 53. Kant, Ak. IV, 304. Kant, Ak. XVIII, R 5650. KrV, B 428.

Metaphysik, Anthropologie oder Existenzial-Ontologie?

der reinen Vernunft von 1799 innerhalb und außerhalb der Kant-For­ schung hartnäckig am Leben erhalten wird. Gleichsam einen can­ tus firmus des Kant-Studiums bildet seit damals der Irrtum, dass Kants Philosophie gewissermaßen sprachvergessen sei und deswegen insbesondere allen sprachanalytisch orientierten Ansätzen in der Philosophie hoffnungslos unterlegen sei. Zuletzt hat vor allem Ernst Tugendhat in seinem einflussreich gewordenen Buch Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie von 1979 den neuralgischen Punkt markant berührt. Hier hat er der sog. Vorstel­ lungs-Philosophie – vor allem in der Muster-Gestalt von Husserls Philosophie – eine Generalabrechnung präsentiert, also allen philo­ sophischen Entwürfen, in denen Vorstellungen und nicht sprachliche Ausdrücke die minimalen logischen Funktionselemente der Urteilsbzw. Satzbildung sind.34 Doch nichts ist falscher als die Meinung von der Sprachvergessenheit bzw. Vorstellungs-Fixiertheit von Kants philosophischen Untersuchungen. Drei Zitate mögen genügen: »Wir würden gar nicht urteilen, wenn wir keine Worter hätten«,35 und »Wir bedürfen der Wörter, um nicht allein andern, sondern uns selbst verständlich zu werden«;36 und schließlich »Denken ist Reden mit sich selbst«37 – ein Satz, der fast eine Paraphrase der Charakterisierung des Denkens bildet, die Platon seinem Sokrates im Dialog Theaitet in den Mund legt: Denken ist ein Gespräch der Seele mit sich selbst über das, was sie gerade untersucht.38 Was ist passiert, dass Kants philosophische Arbeit in den anscheinend unüberwindlichen Verdacht der Sprachvergessenheit bzw. einer dogmatischen Vorstellungs-Fixiertheit geraten konnte? Die Ant-wort ist denkbar einfach: Für Kant ist die Auffassung, dass jede Vorstellung, die in einem Urteil verwendet werden kann, durch ein Wort oder ein anderes sprachliches Gebilde ausgedrückt werden können muss, so selbstverständlich, dass er für diese Auffassung in seinen zentralen theoretischen Schriften gar kein eigenes Theorem vorgesehen hat. Mit Hilfe eines Terminus des bedeutenden Sprech­ akt-Theoretikers John Searle kann man es auch so formulieren: Kant Vgl. Ernst Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philoso­ phie, Frankfurt/Main 1979, bes. 79–106. 35 Kant, Ak. XXIV.1,1, 588. 36 Ak. XVI, R 3444. 37 Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Ak. VII, 192. 38 Platon, Tht. 189c. 34

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verlässt sich stillschweigend auf das linguistische Expressibilität-Pos­ tulat,39 dass jedes logisch relevante Element eines Urteils durch ein Wort oder durch eine Phrase ausgedrückt werden können muss.40

VI Doch eine letzte Vorverständigung ist nötig, bevor man in das thematische Zentrum gelangt, aus dem wiederum ein Weg in die thematische Nähe von Heideggers zentralen Auffassungen führt. Denn in der wichtigen langen Fußnote der Vorrede der Metaphy­ sischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft formuliert Kant eine Arbeitsdefinition des Urteilsbegriffs. Mit ihr stellt Kant klar, dass er das Urteil als »eine Handlung«41 auffasst.42 Die systematische Tragweite dieser Arbeitsdefinition springt sofort in die Augen, wenn man Kants Reflexion berücksichtigt: »Nun ist in jedem Urteil sub­ jektiv eine Zeitfolge«.43 Damit formuliert Kant, wenn man um der Verdeutlichung willen einmal dramatisch formulieren darf, den Ein­ bruch der Zeit in seine transzendentallogische Analyse. Dieser Ein­ bruch der Zeit betrifft offensichtlich auch den mikroskopischsten und gleichzeitig ›höchsten Punkt‹ in Kants Analysen. Denn er macht auf nicht mehr und nicht weniger aufmerksam als darauf, dass wir auch die mikroskopischsten Urteilsakte nicht anders vollziehen können als dadurch, dass wir eine Vorstellung nach der anderen bzw. ein Wort nach dem anderen gebrauchen, wenn wir ein Urteil mit ihrer Hilfe bilden. Also auch ein so extrem simpler, kategorisch geformter Urteilsakt wie Ich denke ist an diese sukzessive temporale Form gebunden, so dass das Subjekt und das Prädikat nur nacheinander gebraucht werden können. Innerhalb von Kants Urteilstafel bieten alleine schon die hypothetische und die disjunktive Urteilsfunktion Vgl. John Searle, Sprechakte (amerik. 11969), Frankfurt/Main 1973, 34–37. Vgl. zum Themenkomplex Denken, Urteilen und Sprechen Rainer Enskat, Urteil und Erfahrung. Kants Theorie der Erfahrung. Erster Teil, Göttingen 2015, bes. 77–83, 136–38, 153f. 41 IV, 475*. 42 Zu Recht macht daher Wolfgang Wieland, Urteil und Gefühl. Kants Theorie der Urteilskraft, Göttingen 2001, darauf aufmerksam, dass Kant signifikant häufig in der den Vollzugscharakter des Urteils akzentuierenden substantivierten Verbalform vom Urteilen spricht und nicht ausschließlich in der den Resultat- oder Erfolgscharakter des Urteils akzentuierenden Nominalform vom Urteil, vgl. 88 f. 43 Kant, Vorarbeiten und Nachträge, Ak. XX, 369. 39

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Metaphysik, Anthropologie oder Existenzial-Ontologie?

Möglichkeiten einer stufenförmigen Komplexitätssteigerung auch der temporalen Gebrauchsformen von Vorstellungen bzw. von Wor­ ten und Phrasen der Urteilsbildung mit Hilfe dieser Urteilsfunktio­ nen. Kurz: Im Licht von Kants Philosophie zeigt sich die zumindest unscheinbarste Form der Zeitlichkeit des Seins des Menschen in seinen Urteilsakten. Es fragt sich daher, ob dieser zeitlichen Form des Seins des Menschen außer ihrer Unscheinbarkeit möglicherweise auch eine über diese Unscheinbarkeit hinausgehende Bedeutsamkeit zukommt? Zum Zweck einer Antwort ist nur noch zu klären, ob sich unter der Vielzahl von Urteilstypen, deren Formen Kant analysiert hat, so etwas wie ein Paradigma der urteilsförmigen Zeitlichkeit des Seins des Menschen findet. Jedenfalls zeichnet sich hier schon der wichtigste Differenzpunkt im unausgetragenen Streit Heideggers mit Kant über das ›Dasein als Zeitlichkeit‹ ab: Im Licht von Kants Theorie zeigt sich das ›Dasein als Zeitlichkeit‹ in den Urteilsakten der Menschen; im Licht von Heideggers Existential-Ontologie geht es um »die konkrete Aufhel­ lung der Sorge als Zeitlichkeit«,44 weil »die Zeitlichkeit ... der ontolo­ gische Sinn der Sorge«45 ist. Dennoch sollte man diesen Streit nicht voreilig da-durch abzuschließen suchen, dass man Kants Theorie der Zeitlichkeit der Urteilsakte und Heidegger Existenzialontologie der zeitlichen Formen der Sorge des Daseins um sein Sein auf das simple logische Verhältnis eines Widerspruchs zurückführt. Fruchtbarer ist es zu beachten, wie Kant und Heidegger sich in ihren Untersuchungen von unterschiedlichen Aspekten und Kriterien der Ursprünglichkeit des zeitlichen Seins des Menschen leiten lassen.

VII Um diese Frage beantworten zu können, ist eine letzte Vertiefung in Kants Theorie des Urteilsakts nötig. Kant hat selbst erstaunlich früh zu dieser Vertiefung gefunden. Daher setzt diese Vertiefung auch an einem Punkt an, der von Anfang an – also schon in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft – seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Es handelt sich um das schon thematisierte 44 45

Heidegger, Metaphysik, 215. SuZ, 304.

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berühmt-berüchtigte Mikro-Urteil bzw. Pseudo-Urteil Ich denke. Es ist äußerst wichtig zu beachten, dass dieses Gebilde in der ersten Auflage ausschließlich im Paralogismus-Kapitel behandelt wird und hier auch ausschließlich als Conclusio eines Fehlschlusses fungiert. Kant schwankt hier sogar noch, ob dadurch ein »Begriff, oder, wenn man lieber will, das Urteil: Ich denke«46 zur Sprache gebracht wird. Doch erst in den letzten 90er Jahren hat er den fraglichen Punkt zu einer reifen Klärung gebracht: »Der logische Akt Ich denke ... ist ein Urteil (iudicium) [...]. Es ist ein logischer Akt der Form nach ...«,47 also seiner kategorischen Form nach. Nach dieser unmißverständlichen Klärung von Kants analyti­ scher Konzentration auf das Urteils-format und damit auch auf das Handlungs- oder Aktformat des Ich denke und deswegen auch auf die zeitliche Vollzugsform auch dieses Urteils sind nur noch wenige Schritte nötig, um den springenden Punkt zu markieren, an dem das Paradigma der urteilsförmigen Zeitlichkeit des Seins des Menschen ans Licht kommt. Den ersten Schritt tut Kant, indem er den Aktcha­ rakter des Urteils Ich denke mit der Bemerkung erläutert »Ich existiere denkend«.48 Da Kant aber unmißverständlich auch klarstellt »Also ist Denken so viel als Urteilen«49 und »Wir können nur durch Urteile denken«,50 liegt es auf der Hand, dass im Licht von Kants Theorie die ursprüngliche zeitliche Existenzform des Menschen durch Urteilsakte vollzogen wird, und zwar durch Urteilsakte beliebig einfacher und beliebig komplexer logischer Formen. Der Urteilsakt Ich denke hat nicht nur die einfachste logische Form. Er bildet im Licht von Kants Theorie auch das von uns gesuchte Paradigma der durch Urteilsakte vollzogenen ursprünglichen zeitlichen Existenzform des Menschen. Wichtig ist nur noch zu berück-sichtigen, dass Kant diesen Urteilsakt mit dem »Ausspruch des Selbstbewußtseins«51 identifiziert. Denn damit sind alle Elemente versammelt, die erlauben, Kants wichtigsten Beitrag zur Charakterisierung der ursprünglichen zeitli­ chen Existenzform des Menschen zu identifizieren, zu verstehen und sachlich zu würdigen. Er lautet: »... in der ganzen Zeit, darin ich mir 46 47 48 49 50 51

Kant, KrV, A 341, B 399. Op. post., Ak. XXII, 95. KrV, B 420. Kant, Prolegomena, Ak. IV, 304. Ak. XVIII, R 5650. KrV, A 346, B 404.

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Metaphysik, Anthropologie oder Existenzial-Ontologie?

meiner bewußt bin, bin ich mir dieser Zeit, als zur Einheit meines Selbst gehörig, bewußt«.52 Dieses Bewußtsein seiner selbst gehört daher für jedes urteilende Subjekt ebenso zur Einheit seines Selbst wie das Bewusstsein der Zeit, die sein jeweiliger Urteilsakt in Anspruch nimmt. Doch wir können im Licht von Kants Theorie auch nur durch Urteile denken. Das ursprüngliche Bewusstsein, das ein Mensch von sich selbst und der Zeit haben kann, ist im Licht dieser Theorie daher gar kein anderes als das Bewusstsein, das er mit jedem beliebigen seiner (denkenden) Urteilsakte – und nur durch sie – gewinnen kann. Und da im Licht derselben Theorie gilt Ich existiere denkend, bilden die (denkenden) Urteilsakte im Licht dieser Theorie auch die ursprüngliche zeitliche Seins- oder Existenzform des Menschen. Umso mehr fällt jedoch auf, dass Heidegger in seiner schon zitierten Vorlesung Die Frage nach der Wahrheit vom WS 1925–26, haargenau die Frage stellt, die Kant damit beantwortet hat, »die Frage ... nach dem Zusammenhang von Ich denke und Zeit«.53 Jedoch vermag er hier schließlich nur noch in aporetischer Form zu fragen: »Ist die Zeit ein Modus des Ich denke oder das Ich denke ein Modus der Zeit?«.54 Kants Antwort, dass die Zeit ein Modus nicht nur des Urteilsakts Ich denke ist, sondern damit auch der Modus der sublimsten und ursprünglichen Existenzform des Menschen, war Heidegger damals und auch im Kant-Buch von 1929 entgangen. Er hat die an sich fruchtbare Alternativ-Frage, ob die Zeit ein Modus des Ich denke ist oder das Ich denke ein Modus der Zeit, in diesem Buch gleichsam durch einen Kraftakt zum Verschwinden gebracht – durch die These, dass »das »ich denke« und die Zeit ... [...] dasselbe [sind]«.55 Richtig ist es hingegen, dass sich Denken und Zeit im Licht von Kants Theorie stets und nur durch Urteilsakte zeigen – in der elementarsten und ursprünglichen Form durch den Urteilsakt Ich denke.

VIII Damit haben wir den ersten wichtigen Berührungspunkt, aber auch den wichtigsten Differenzpunkt zwischen Kants Theorie und dem 52 53 54 55

A 362. Heidegger, Logik, 344; vgl. auch 309. Ebenda, 346. Heidegger, Metaphysik, S. 174.

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geklärt, was Heidegger durch eine »... Interpretation des Daseins als Zeitlichkeit [als] das Ziel der Fundamentalontologie [...]«56 anstrebt. Heidegger fährt fort: Daraus »erwächst ... die Aufgabe, den ... Rück­ gang in die Endlichkeit im Menschen so durchzuführen, dass im Da-sein als solchem die Zeitlichkeit als transzendentale Urstruktur sichtbar wird«. Und schließlich: »Auf dem Wege zu diesem Ziel der Fundamentalontologie, d. h. zugleich im Dienste der Herausarbeitung der Endlichkeit des Menschen, wird die existentiale Interpretation von Gewissen, Schuld und Tod notwendig«.57 Man braucht hier nicht der Tragweite nachgehen, die Heidegger der Herausarbeitung der Endlichkeit des Menschen beigemessen hat. Stattdessen sind die Punkte in seinem Kant-Buch und in Sein und Zeit zu berücksichtigen, in denen er einen der wichtigsten Züge von Kants Theorie der Zeit nicht nur verfehlt, sondern grundsätzlich mißdeutet hat. Allerdings stehen diese Missdeutungen in einem nicht ganz unkomplizierten Zusamenhang mit dem, was Heidegger in Sein und Zeit als das vulgäre Verständnis der Zeit apostrophiert hat. Denn in diesem vulgären Verständnis ist nach seiner Auffassung Kant mit wichtigen Elementen seiner Theorie der Zeit befangen. Im Kant-Buch wird dieses Missvertändnis knapp und unmissver­ ständlich als die Auffassung gekennzeichnet, dass »die Zeit ... als reine Jetztfolge genommen«58 wird. In Sein und Zeit spricht der ehemalige Mathematik-Student Heidegger sogar in der mathematischen Spra­ che der damals noch nicht so prominenten Mengen-Theorie – damals Mannigfaltigkeits-Lehre – davon, dass im Rahmen dieses vulgären Zeitverständnisses »Diese ... Zeit [...] gleichsam wie eine vorhandene Jetzt-mannig-faltigkeit vorgefunden [wird]«.59 Mit den Kategorien der Vorhandenheit und der Vorfindlichkeit gibt Heidegger unmiss­ verständlich zu verstehen, dass dieses Zeitverständnis »der antiken Ontologie« folgt und »die Aristotelische Zeitanalyse«60 fruchtbar zu machen sucht. Denn im Rahmen dieser Zeitanalyse wird das Früher-sein und das Später-sein eines Seienden einer zahlenförmi­ gen Charakterisierung der Differenz zwischen seinem Früher- und seinem Später-sein zugänglich gemacht – also der Messung der 56 57 58 59 60

S. 216. S. 218. S. 182. SuZ, 417. Ebenda, 421, Heideggers Hervorhebung.

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Dauer in Gestalt dieser Differenz. Es zeugt zweifellos von Heideggers hermeneutischem Scharfblick und seinem sachlichen Tiefblick, dass er in der Zahlenförmigkeits-Komponente von Aristoteles’ Zeitcharak­ teristik den konzeptionellen Ursprung sowohl der Datierbarkeit von jeglichem Seienden wie der Uhren-Konstruktion sieht.61 Doch das Früher-sein eines Seienden ist in Heideggers Auslegung dieser Zeit­ charakteristik ebenso an ein Jetzt gebunden wie sein Später-sein an ein anderes Jetzt: »Das Jetzt-sagen ... erweist sich als ausgezeichnetes Gegenwärtigen eines Vorhandenen«.62 Allerdings hat Kant dem Jetzt und seiner Rolle in seinen Schriften zur Theorie der Zeit niemals auch nur die geringste Bedeutsamkeit zugeschrieben. Doch indem Heidegger Kants Theorie der Zeit eine Befangenheit im vulgären Zeitverständnis zuschreibt, schreibt er ihr daher auch eine Befangenheit in der klassischen Ontologie des in zeitlichen Formen Vorhandenen zu. Nun ist im Titel meines Vortrags angedeutet, dass hier die Alternative Metaphysik, Anthropologie oder Existenzial-Ontologie in Frage gestellt wird, die Heidegger 1929 im Ausgang von Kants Erster Kritik erörtert. Es ist selbstverständlich klar, dass Kant selbst alles andere als eine Existential-Ontologie präsentiert. Doch warum ist seine Konzeption des ursprünglichen zeitlichen Selbst- und Existenzbewusstseins des urteilenden Men­ schen keine Ontologie eines Vorhandenen? Um diese Frage angemessen beantworten zu können, muss man vor allem die zentralen §§ 15–16 der zweiten Auflage der Ersten Kritik zu Rate ziehen. Denn in diesem theoretischen Zentrum von Kants Philosophie werden die wichtigsten bisher gesammelten Vorausset­ zungen so erörtert, dass der nicht-ontologische Charakter der Kon­ zeption des ursprünglichen zeitlichen Selbst- und Existenzbewsst­ seins des urteilenden Menschen unmissverständlich klar werden kann. Den Anfang dieser Klärung bildet das Theorem: »... die Ver­ Vgl. SuZ, bes. 407ff., 413ff. bzw. 421ff. S. 416. Die ausschließliche Auslegung der aristotelischen Zeitcharakteristik als einer Ontologie eines temporal Vorhandenen ist zu Recht, wenngleich nur implizit, von Wolfgang Wieland, Die aristotelische Physik, Göttingen 11962, kritisiert worden. Er hat gezeigt, dass und inwiefern das Jetzt in der aristotelischen Theorie jedenfalls auch die Funktion eines und desselben Typs von Grenzziehung hat. Diese Grenzzie­ hung wird durch noetische Operationen der Seele, die von irgendwelchem vorhande­ nen Seienden unabhängig sind, immer wieder von neuem gezogen, um die Kontinuität zu stiften, die jeder wie lange auch immer dauernden seelischen Bewegung eigen ist, vgl. bes. 323–26. 61

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bindung (conjunctio) eines Mannigfaltigen überhaupt ... ist ein Aktus der Spontaneität«.63 Die elementarste Form der Verbindung eines Mannigfaltigen durch einen Aktus der Spontaneität bilden im Licht von Kants Theorie die logischen Verbindungen von Vorstellungen bzw. von Worten zu logisch geformten Urteilsakten. Kant fährt fort: »... die Verbindung ... [kann] nur vom Subjekte selbst verrichtet wer­ den, weil sie ein Aktus seiner Selbsttätigkeit ist«.64 Das Ich denke bildet den elementarsten Akt der spontanen Verbindung von Vorstel­ lungen bzw. Worten zu einem ›Urteil der Form nach‹, wie Kant betont. Akte oder Handlungen der formalen Verbindungen von Vorstellun­ gen oder von Worten zugunsten von Urteilen bilden daher das von keinem vorhandenen Seienden irgendwie abhängige Medium der spezifisch menschlichen Spontaneität. Das ist indessen ohne weiteres verträglich damit, dass vorhandenes Seiendes immer wieder die empi­ rische Gelegenheit bildet, diese spzifisch menschliche Form der Urteilsspontaneität zu üben. Deswegen bildet Kants Theorie keine Ontologie eines wie auch immer Vorhandenen.65 Doch zu was für einem Theorie-Typus gehört sie stattdessen? Für die Beantwortung dieser Frage kommt es noch einmal darauf an, die schon zitierten Vor-aussetzungen zu Rate zu ziehen, mit denen Kant die wichtigsten Elemente des § 15 in anderen Texten prägnant erläutert hat. Zum einen »... ist in jedem Urteil subjektiv eine Zeit­ folge«,66 weil ein Urteil eine an einen wie auch immer minimalen bzw. maximalen Zeitaufwand gebundene Handlung ist. Diese logische und zeitliche Handlungsform des Urteilens hat Kant im Auge, wenn er formuliert »Ich existiere denkend«,67 also ich existiere, indem ich urteils- und zeitförmig handle. Denn im Licht dieser Theorie gilt auch »Wir können nur durch Urteile denken«.68 Doch damit ist auch schon unmissverständlich der Theorie-Typus gekennzeichnet, an dem Kant, ausgehend vom so genannten ›höchsten Punkt‹ der Philosophie, arbeitet. Denn der zur Sprache gebrachte ›formale Satz‹ Ich den-ke ist auch, wie Kant formuliert »der Ausspruch des Selbstbewußtseins«.69 Nimmt man alle diese Voraussetzungen zusammen, dann erhält man 63 64 65 66 67 68 69

KrV, B 129–130. B 130. Vgl. hierzu Enskat, Urteil, bes. 6.-7. Abschnitt. XX, 369. B 420. R 5650. A 346, B 404.

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Metaphysik, Anthropologie oder Existenzial-Ontologie?

Kants Satz über die ursprüngliche zeitliche Seins- bzw. Existenzform des Menschen: »... in der ganzen Zeit, darin ich mir meiner bewußt bin, bin ich mir dieser Zeit, als zur Einheit meines Selbst gehörig, bewußt«.70 Von hier braucht man nur noch einen Schritt, um den Theo­ rie-Typus zu durchschauen, an dem Kant, beginnend am so apostro­ phierten‚höchsten Punkt’ der Philosophie, arbeit. Man braucht nur ein schon zweimal präsentiertes Zitat anders zu betonen als bisher: »Wir können nur durch Urteile denken«.71 Mit diesem Satz über eine exklusive Fähigkeit des Menschen stellt Kant auf dem Reflexi­ ons- und Analyseniveau der Ersten Kritik klar, dass er an einer speziellen Anthropologie arbeitet – an einer formalen und transzen­ dentalen Anthropologie der Urteilsspontaneität des zeitlich existie­ renden Menschen. Doch in einem methodologisch eingeschränkten Sinne handelt es sich bei dieser Anthropologie eben auch um eine nicht-empirisch reflektierende und analysierende Metaphysik.

IX Wie ist unter diesen Voraussetzungen das Verhältnis von Heideggers Existential-Ontologie und Kants Erster Kritik zu charakterisieren? Sie stehen weder in irgendeinem Widerspruch zueinander noch in einem Konkurrenzverhältnis. Sie stehen, wie das so oft mit philoso­ phischen Theorien in der Geschichte der Philosophie war und ist, in einem komplementären Verhältnis. Jede von beiden charakterisiert die ursprüngliche zeitliche Seinsform des Menschen unter Aspekten, wie sie von der jeweils anderen ausgeblendet bleiben. Die Frage, ob eine der beiden der jeweils anderen unter ihren Aspekten überlegen ist oder nicht, kann man vorläufig getrost auf sich beruhen lassen. Vermutlich gilt für diese Frage dieselbe Mahnung, die Platon seinem Sokrates am Ende des Dialogs Theaitet in den Mund legt, um voreili­ gen Antworten auf zentrale philosophische Fragen zuvorzukommen: »Morgen, mein Freund, sprechen wir uns wieder«.

70 71

A 362. R 5650.

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Günther Neumann

Martin Heideggers Freiheitsbegriff in Sein und Zeit und der Vorlesung Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1930)

Mein Aufsatz gliedert sich in drei Schritte: I. II. III.

Hinführung zum Problem der menschlichen Freiheit: Der heu­ tige universale Deutungsanspruch der Neurowissenschaften Der methodische Leitfaden und die Aufgabe der Auslegung des Freiheitsbegriffes in Sein und Zeit in der Abgrenzung von anderen Interpretationen Die Frage nach dem Wesen der menschlichen Freiheit in der Vorlesung vom Sommersemester 1930 unter Berücksichtigung des Vortrags »Vom Wesen der Wahrheit«

I. Hinführung zum Problem der menschlichen Freiheit: Der heutige universale Deutungsanspruch der Neurowissenschaften Die Diskussion über die menschliche Freiheit wird heute vor allem von der Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Neurowissen­ schaften beherrscht. Für Wolf Singer vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main lassen sich im Prinzip alle Ver­ haltensmanifestationen wie Wahrnehmen, Vorstellen, Erinnern, Bewerten, Planen und Entscheiden letztlich aus der Dritte-PersonPerspektive heraus objektivieren und im Sinne kausaler Verursachung auf neuronale Prozesse zurückführen. Ich kann hier nicht auf die Gegenargumente eingehen, die beispielsweise der deutsche Philo­ soph und Logiker Franz von Kutschera am 13. September 2011 in sei­ nem Abendvortrag »Fünf Gründe, kein Materialist zu sein« auf dem XXII. Deutschen Kongress für Philosophie mit dem Thema »Welt der

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Günther Neumann

Gründe« in München dargelegt hat, sondern nenne nur die von ihm gezogenen praktischen Konsequenzen, wenn man sich den Ansichten der meisten Neurowissenschaftler anschließt: »Der Materialismus zeichnet ein völlig falsches Bild der seelisch-geis­ tigen Wirklichkeit. So gibt es zur Freiheit, sich in seinen Ansichten und Handlungen an Gründen zu orientieren, in der physischen Welt keine Parallele. Daher gibt es für Materialisten auch keine Gründe für Überzeugungen oder Handlungen, sondern nur Ursachen. […] Wird der Materialismus ernst genommen, so hat sein falsches Bild des Geistigen gravierende Folgen für unser Selbstverständnis. […] Gibt es keine Freiheit, so auch weder Schuld noch Verantwortung. Es gibt auch keine besondere Würde des Menschen, die sich nach Kant ja aus seiner Freiheit ergibt. Materialisten von Burrhus Skinner bis Peter Singer und Gerhard Roth lassen keinen Zweifel daran, dass die alten Ideale von Würde und Freiheit heute obsolet sind und entsorgt werden müssen.«1

Eine weitere Folgerung, die sich aus einem naturalistischen Reduk­ tionismus ziehen lässt, liegt darin, dass dann auch die Sätze und Begriffe, mit denen die Messergebnisse beschrieben und die Theo­ rien formuliert werden, selbst auf neuronale Prozesse zurückgeführt werden müssten. So schreibt der Philosoph Lutz Wingert: »Die Unvermeidlichkeit des Rückgriffs auf ein lebensweltlich-kognitives Vokabular ist aber nicht bloß der nötige Griff nach einer Leiter, mit deren Hilfe man die neurobiologische Beschreibungsebene erreicht.«2

1 Franz von Kutschera, »Fünf Gründe, kein Materialist zu sein«, in: Welt der Gründe, hrsg. von Julian Nida-Rümelin und Elif Özmen, Hamburg 2012, 1364–1377, hier 1375. 2 Lutz Wingert, »Gründe zählen. Über einige Schwierigkeiten des Bionaturalismus«, in: Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, hrsg. von Christian Geyer, Frankfurt am Main 2004, 194–204, hier 200. Eberhard Schocken­ hoff spricht von einer »Petitio principii«: »Das zu Erklärende (das menschliche Bewußtsein) wird im Vollzug des Erklärens (durch das Aufstellen einer reduktionis­ tischen Theorie) als Bedingung seiner Möglichkeit bereits vorausgesetzt. Das Bewußt­ sein ist der Ausgangspunkt, nicht das Ergebnis des Erklärens; es kann daher auch nicht ›wegerklärt‹ oder auf noch ursprünglichere Phänomene zurückgeführt werden.« (Eberhard Schockenhoff, »Wir Phantomwesen. Über zerebrale Kategorienfehler«, in: Hirnforschung und Willensfreiheit, 166–170, hier 169) Wingerts Rede von einer »Lei­ ter« ist natürlich eine Anspielung auf Ludwig Wittgenstein (Ludwig Wittgenstein, Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-philosophicus, Kritische Edition hrsg. von Brian McGuinness und Joachim Schulte, Frankfurt am Main 1989, Satz Nr. 6.54).

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Martin Heideggers Freiheitsbegriff

Was den geforderten Rückgang auf das menschliche Leben (oder Dasein) und seine Lebenswelt mit der darin gründenden Freiheit betrifft, könnte man beispielsweise auf die Philosophische Anthropo­ logie Helmuth Plessners3 oder Max Schelers4, die Existenzphiloso­ phie Karl Jaspers’5 oder die transzendentale Phänomenologie Edmund Husserls zurückgreifen. Ich möchte aber zeigen, dass sich gerade aus Heideggers Grundwerk Sein und Zeit wesentliche Impulse auch für unsere heutige Erörterung der Freiheitsproblematik gewinnen lassen. In diesem Zusammenhang verweise ich auf die im Jahr 2008 an der Universität Hamburg abgeschlossene juristische Dissertation von Agnes Wulff mit dem Titel Die Existenziale Schuld. Der fundamenta­ lontologische Schuldbegriff Martin Heideggers und seine Bedeutung für das Strafrecht6, in der neben dem Schuld- und Verantwortungsbegriff vor allem Heideggers Freiheitsbegriff in Sein und Zeit für die rechts­ philosophische Fragestellung fruchtbar gemacht wird. Für eine philosophische oder auch rechtsphilosophische Frage­ stellung kommen keine fremdbestimmten Freiheits- und Schuldbe­ griffe oder moralische Prinzipien und Werte mehr in Betracht, die auf theologischen oder anderen vorgegebenen metaphysischen Grundan­ nahmen beruhen, die nicht aus der Sache selbst, der aufzuweisenden Freiheit und Verantwortlichkeit des Menschen, geschöpft sind. Vor­ weg kann auf die Worte verwiesen werden, mit denen Friedrich-Wil­ helm von Herrmann seinen Beitrag »Heidegger: Freiheit und Dasein« für den Sammelband Hat der Mensch einen freien Willen? Die Antwor­ ten der großen Philosophen einleitet: »Das Wesen der Freiheit wird ursprünglicher angesetzt: nicht im menschlichen Willensvermögen, Vgl. Matthias Wunsch, Fragen nach dem Menschen. Philosophische Anthropologie, Daseinsontologie und Kulturphilosophie, Frankfurt am Main 2014. 4 Zu Scheler vgl. nun Martin Heidegger, »Philosophische Anthropologie und Meta­ physik des Daseins« (24. Januar 1929), in: Martin Heidegger, Vorträge, Teil 1: 1915 bis 1932, hrsg. von Günther Neumann (GA 80.1), Frankfurt am Main 2016, 213–251. (Heideggers Schriften werden nach der Martin Heidegger Gesamtausgabe (Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1975 ff.) (GA mit Bandzahl in arabischen Ziffern) zitiert.) Zu Heideggers Vortrag vgl. Enrique V. Muñoz Pérez, Der Mensch im Zentrum, aber nicht als Mensch. Zur Konzeption des Menschen in der ontologischen Perspektive Martin Heideggers, Würzburg 2008, 70–79. 5 Vgl. Martin Heidegger, Nietzsche, Bd. II, hrsg. von Brigitte Schillbach (GA 6.2), Frankfurt am Main 1997, 432–438, bes. 434; Martin Heidegger, Die Metaphysik des deutschen Idealismus, hrsg. von Günter Seubold (GA 49), 2., durchgesehene Auflage, Frankfurt am Main 2006, bes. 18 f., 37 f. 6 Buchausgabe: Berlin 2008. 3

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sondern als Freisein in der Seinsverfassung des Menschen, in der Existenz und deren Bezug zum Wesen des Seins überhaupt, zum Wesen der Wahrheit, zum Wesen der Geschichte.«7

II. Der methodische Leitfaden und die Aufgabe der Auslegung des Freiheitsbegriffes in Sein und Zeit in der Abgrenzung von anderen Interpretationen Da Heidegger, wie sogleich dargelegt werden wird, den Begriff der Freiheit in Sein und Zeit nicht ausdrücklich bestimmt und umgrenzt und in den späteren Texten, die sich ausdrücklich mit der Freiheit befassen, die Besinnungsebene schon in gewisser Weise gewandelt ist, soll sich dem Phänomen der menschlichen Freiheit in aller Vor­ sicht genähert werden. Der Begriff der »Freiheit« (oder das »Freisein« des Daseins) wird in Sein und Zeit als solcher, z. B. in einem eige­ nen Abschnitt oder Absatz, nicht eigens eingeführt und erläutert und tritt in keiner einzigen Überschrift als Terminus auf. Dennoch durchzieht der Begriff vor allem die Analyse der eigentlichen Existen­ zweise (das eigenste Seinkönnen, die vorspringend-befreiende Für­ sorge des eigentlichen Mitseins, das vorlaufende Sein zum Tode, das Gewissen-haben-wollen und das eigenste Schuldigsein, die eigentli­ che Geschichtlichkeit). Heidegger gibt in Sein und Zeit immer wieder Zusammenfas­ sungen seiner vorangehenden Ausführungen, die in ihrer Prägnanz besonders aufschlussreich sein können. In § 74, also gegen Ende (des veröffentlichten Teils) der Abhandlung, heißt es im Zusammenhang der Erörterung der »eigentlichen Geschichtlichkeit« des Daseins: »Nur wenn im Sein eines Seienden Tod, Schuld, Gewissen, Freiheit und Endlichkeit dergestalt gleichursprünglich zusammenwohnen wie in der Sorge, kann es im Modus des Schicksals existieren, das heißt im Grunde seiner Existenz geschichtlich sein.«8 Die existenziale Friedrich-Wilhelm von Herrmann, »Heidegger: Freiheit und Dasein«, in: Hat der Mensch einen freien Willen? Die Antworten der großen Philosophen, hrsg. von Uwe an der Heiden und Helmut Schneider, Stuttgart 2007, 267–280, hier 267. 8 Martin Heidegger, Sein und Zeit, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann (GA 2), Frankfurt am Main 1977, 509 (385). (Die entsprechenden Seiten der Einzelausgabe von Sein und Zeit (Tübingen 151979; unveränderter Nachdruck: Tübingen 192006), die 7

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Martin Heideggers Freiheitsbegriff

Grundstruktur der Sorge mit den beiden fundamentalen Existenzia­ lien der Geworfenheit und des Entwurfs wird mitkonstituiert durch die Freiheit. Die grundsätzliche Erörterung des Wesens der Freiheit zu Beginn der Freiburger Vorlesung Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einlei­ tung in die Philosophie vom Sommersemester 1930 ist auch hilfreich, um einige Hinweise zum Freiheitsbegriff in Sein und Zeit zu geben. Hier heißt es: »Wir haben dabei [d. h. bei der negativen Freiheit] übersehen, daß, sofern wir überhaupt rechtmäßig von einer negativen Freiheit sprechen, auch eine positive gedacht werden kann und muß, daß mithin diese als positive in erster Linie den Bereich des Freiheitsproblems vorzeichnet; daß jedenfalls erst die negative Freiheit in eins mit der positiven Freiheit vorgestellt werden muß, wenn wir im Hinblick auf das Freiheitspro­ blem entscheiden wollen, ob es nur eine Sonderfrage der Philosophie ist unter anderen oder ob am Ende doch das Ganze der Philosophie in ihm begriffen ist.«9

Das Freiheitsproblem kann für Heidegger freilich keine Sonderfrage sein, die in einer philosophischen Teildisziplin, z. B. in der Ethik, abgehandelt wird. Er hält fest: »Das Freiheitsproblem ist keine gebietsmäßig beschränkte Spezialfrage.«10 Wie die zuvor zitierte Textstelle aus § 74 verdeutlicht, trifft die zuletzt genannte Feststellung auch auf Sein und Zeit zu. Die in der Vorlesung weiter erörterte Frage, ob im Wesen der menschlichen Freiheit nicht nur »das Ganze der Philosophie« begriffen, sondern auch zentriert und ontologisch ver­ wurzelt ist, trifft für Sein und Zeit aber noch nicht zu. Wie FriedrichWilhelm von Herrmann zu Heideggers Frage nach dem Wesen der Freiheit ausführt, erreicht »die Betonung der Stellung der Freiheit in der Ausarbeitung der Grundfrage nach dem Sein überhaupt« in der Vor­ lesung Vom Wesen der menschlichen Freiheit ihren »Höhepunkt«.11 Die Durchsicht und Einsichtnahme bisher unveröffentlichter Texte und Aufzeichnungen Heideggers vermag nun auch eine genauere Einsicht als Marginalien auch in die Gesamtausgabe (Bd. 2) aufgenommen sind, werden in Klammern angegeben.). 9 Martin Heidegger, Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philoso­ phie, hrsg. von Hartmut Tietjen (GA 31), 2., durchgesehene Auflage, Frankfurt am Main 1994, § 1, 10. 10 Martin Heidegger, Vom Wesen der menschlichen Freiheit (GA 31), 8. 11 Friedrich-Wilhelm von Herrmann, »Heidegger: Freiheit und Dasein« (wie Anm. 7), 272.

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hinsichtlich des Übergangs zur seinsgeschichtlichen Perspektive oder Ereignis-Denken, der viel berufenen »Kehre«, zu geben. In einem Gespräch mit der italienischen Journalistin Claudia Gualdana gibt von Herrmann die folgende Auskunft im Zusammenhang mit dem nicht mehr aufgefundenen Heft I (1931–32) von Heideggers »Notizbü­ chern« (»Schwarzen Heften«), das dieser wohl »selbst ausgeschieden hat«: »Dahinter steht vermutlich die Entscheidung Heideggers, seine ›Notizbücher‹ nur dem zweiten Ausarbeitungsweg der Seinsfrage, also dem seinsgeschichtlichen Weg, zu widmen. Für das Jahr 1931 plante Heidegger noch eine Umarbeitung von ›Sein und Zeit‹, in der er den Sachverhalt von ›Sein und Zeit‹ zurückgründen wollte in den ursprünglicheren Sachverhalt von ›Sein und Freiheit‹. Dieses Vorhaben könnte von Heidegger in Heft I eingetragen worden sein. Der ursprünglichere Sachverhalt von ›Sein und Freiheit‹ sollte aber den transzendentalen Ansatz von ›Sein und Zeit‹ beibehalten. Doch wenig später, noch im Verlauf desselben Jahres 1931, stößt Heidegger zum seinsgeschichtlichen Ansatz der Seinsfrage vor, mit dem er den vorangegangenen Gedankenschritt von ›Sein und Freiheit‹ und damit die Überarbeitung von ›Sein und Zeit‹ in diesem Sinne für die dritte Auflage aufgegeben hat.«12 Heidegger selbst schreibt im 71. Abschnitt seiner 1936 verfassten »Auseinandersetzung mit ›Sein und Zeit‹«: »Als man anfangen konnte, ›Sein und Zeit‹ zu ›lesen‹, fing ich an, es zu ›verlassen‹ (wesentlicher Schritt: 1930/31).«13 Auch nach Heideggers Brief an Rudolf Bultmann vom 14. November 1931 hat er zu diesem Zeitpunkt die Fortsetzung von Sein und Zeit bereits aufgegeben: »Inzwischen gehe ich unter der Marke dessen, der ›den zweiten Band schreibt‹. Hinter diesem Schild kann ich tun, wozu ich Lust, d. h. innere Not­ wendigkeit habe.«14 12 Friedrich-Wilhelm von Herrmann/Francesco Alfieri, Martin Heidegger. Die Wahr­ heit über die »Schwarzen Hefte«, Berlin 2017, 281–328 (Anhang), hier 286. 13 Martin Heidegger, Zu eigenen Veröffentlichungen, hrsg. von Friedrich-Wilhelm v. Herrmann (GA 82), Frankfurt am Main 2018, 180. 14 Rudolf Bultmann/Martin Heidegger, Briefwechsel 1925–1975, hrsg. von Andreas Großmann und Christof Landmesser, mit einem Geleitwort von Eberhard Jüngel, Frankfurt am Main und Tübingen 2009, 171 f.; vgl. auch Heideggers Brief an Elisabeth Blochmann vom 18. September 1932, in: Martin Heidegger/Elisabeth Blochmann, Briefwechsel 1918–1969, hrsg. von Joachim W. Storck, 2., durchges. Aufl., Marbach am Neckar 1990, 54. Zur Aufgabe des geplanten »zweiten Bandes« von Sein und Zeit vgl.

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An der bereits genannten Textstelle zu Beginn der Vorlesung Vom Wesen der menschlichen Freiheit bemerkt Heidegger ergänzend, »daß jedenfalls erst die negative Freiheit in eins mit der positiven Freiheit vorgestellt werden muß«, um das philosophische Freiheits­ problem entfalten zu können.15 Die wesensmäßige Zusammengehö­ rigkeit von positiver und negativer Freiheit, von Freiheit für … und Freiheit (bzw. Be‑freiung) von …, kommt in Sein und Zeit mehrfach zum Ausdruck, z. B. wenn Heidegger in der »Charakteristik des existenzial entworfenen eigentlichen Seins zum Tode« von der »lei­ denschaftlichen, von den Illusionen des Man gelösten, faktischen, ihrer selbst gewissen und sich ängstenden Freiheit zum Tode« spricht.16 Aber erst die positive Freiheit vermag vor den Blick zu bringen, worin die Befreiung im Sinne der negativen Freiheit besteht und woraufhin sie zielt. Eine bloße Be‑freiung ohne eine positive Vorzeichnung wäre nur eine »libertas indifferentiae«17. Ausdrücklich heißt es an einer anderen Stelle: »Das vorlaufende Freiwerden für den eigenen Tod befreit von der Verlorenheit in die zufällig sich andrängenden Möglichkeiten, so zwar, daß es die faktischen Möglichkeiten, die der unüberholbaren vorgelagert sind, allererst eigentlich verstehen und wählen läßt.«18 Wie Hannah Arendt in aller Klarheit darlegt, ist eine positive Vorzeichnung auch für die politisch zu verwirklichende Freiheit unab­ dingbar, wenn politische Revolutionen zum Erfolg führen sollen. In ihrem erst postum veröffentlichen Essay Die Freiheit, frei zu sein schreibt sie selbst zur Einforderung der Bürgerrechte gegen Ende des 18. Jahrhunderts:

auch Theodore Kisiel, »Das Versagen von Sein und Zeit: 1927–1930«, in: Martin Heidegger: Sein und Zeit, hrsg. von Thomas Rentsch (Klassiker Auslegen, Bd. 25), 3., bearbeitete Auflage, Berlin/München/Boston, 239–262, hier 259 f. (Kisiel zitiert aus Heideggers Brief an Bultmann versehentlich »Maske« statt »Marke«.). 15 Martin Heidegger, Vom Wesen der menschlichen Freiheit (GA 31), 10. 16 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), § 53, 353 (266) (Weglassung der anderen Hervorhebungen G.N.). Heidegger spricht an einer späteren Stelle auch vom »Freisein für den Tod« (ebd., 507 (384)). 17 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 191 (144). 18 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 350 (264). In § 61 spricht Heidegger von der »Befreiung des Daseins für seine äußerste Existenzmöglichkeit« (ebd., 401 (303)). Und in § 68 b) heißt es zur Angst: »Sie befreit von ›nichtigen‹ Möglichkeiten und läßt freiwerden für eigentliche.« (Ebd., 456 (344)).

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»Nicht ›Leben, Freiheit und Eigentum‹ waren revolutionär, sondern die Behauptung, dass es sich dabei um unveräußerliche Rechte aller menschlichen Geschöpfe handele, ganz gleich, wo sie lebten und welche Regierungsform sie hatten. Und selbst in dieser neuen und revolutionären Ausweitung auf die gesamte Menschheit bedeutete Freiheit nicht mehr als die Freiheit von ungerechtfertigten Zwängen, also im Grunde etwas Negatives.«19

Die ursprünglich eher negative Bedeutung von Freiheit im Sinne von Be‑freiung zeigt sich auch etymologisch. Es kann hier nur kurz das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm angeführt werden. Hier heißt es zum Stichwort »Freiheit«: »libertas, ἐλευθερία. der älteste und schönste ausdruck für diesen begrif war der sinnliche freihals, collum liberum, ein hals, der kein joch auf sich trägt, gothisch freihals, althochdeutsch frîhals, friesisch frihals […]«20 Die Freiheit als positive Freiheit gehört zur eigentlichen Existen­ zweise, sie ist jedoch immer auf die uneigentliche Existenzweise bezo­ gen, insofern sie die mögliche Be‑freiung von der Unfreiheit ist und die je gewonnene Freiheit immer wieder in die Unfreiheit zurückfallen kann. In § 63 von Sein und Zeit gibt Heidegger gemäß der Überschrift »Die für eine Interpretation des Seinssinnes der Sorge gewonnene hermeneutische Situation und der methodische Charakter der exis­ tenzialen Analytik überhaupt« eine Rekapitulation des bisher durch­ laufenen Weges der Analytik des Daseins. Hier heißt es nun aus­ drücklich, dass das Dasein, das in seinem Sein »wesenhaft Seinkönnen ist« und damit mögliches »Freisein für seine eigensten Möglichkei­ ten«, als solches »je nur in der Freiheit für sie bzw. in der Unfreiheit

19 Hannah Arendt, Die Freiheit, frei zu sein, aus dem amerikanischen Englisch von Andreas Wirthensohn, mit einem Nachwort von Thomas Meyer, 4. Aufl., München 2018, 15. 20 Jacob Grimm/Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 4 (= Bd. 4, 1. Abt., 1. Hälfte), Leipzig 1878 (Nachdruck: München 1984), Sp. 111–113, hier Sp. 111 (Abkür­ zungen ausgeschrieben); vgl. Stichwort »frei« in: Etymologisches Wörterbuch des Deut­ schen, erarbeitet unter der Leitung von Wolfgang Pfeifer, Lizenzausgabe, Koblenz 2010, 372; vgl. auch unter Stichwort »Freiheit« in: Historisches Wörterbuch der Phi­ losophie, Bd. 2, hrsg. von Joachim Ritter, Darmstadt 1972, Sp. 1064–1098, hier Sp. 1064 f.

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gegen sie existiert«.21 An einer anderen Stelle spricht Heidegger auch von der »vermeintlichen Freiheit des Man-selbst«.22 In der neuesten Abhandlung zu Heideggers Freiheitsbegriff von Stefan W. Schmidt mit dem Titel Grund und Freiheit. Eine phäno­ menologische Untersuchung des Freiheitsbegriffs Heideggers23 werden zwei Aspekte des existenzialen Freiheitsbegriffs als Leitfaden der Untersuchung eingeführt: »1. Selbstbestimmung der Existenz aus Möglichkeit heraus, d. h. Freisein besteht im existierenden Sichbestimmen. 2. Freisein als Möglichkeit im Selbstsein oder Nichtselbstsein dieses Sichbestimmens. Der erste Aspekt bezeichnet also das ›daß‹, der zweite das ›Wie‹ der existenzialen Selbstbestimmung.«24

Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 414 (312). Freiheit und Unfreiheit sind jedoch, wie Günter Figal feststellt, nicht als »strikte Alternativen« zu begreifen: »Bis­ her blieb freilich noch ungeklärt, wieso Heideggers Konzeption des ›Man‹ als die Grundbestimmung von Unfreiheit zu begreifen ist. […] Unterstellt man, daß das ›eigentliche Selbstsein‹ ein ›Freisein‹ ist, so wären, wenn man das ›Man‹ mit ›Unfrei­ heit‹ identifiziert, ›eigentliches Selbstsein‹ und ›Man‹ strikte Alternativen. Daß Heidegger dies nicht behauptet, wird deutlich, wenn er sagt: ›Das eigentliche Selbst­ sein beruht nicht auf einem vom Man abgelösten Ausnahmezustand des Subjekts, sondern ist eine existenzielle Modifikation des Man als eines wesenhaften Existenzi­ als.‹ (SZ, 130 [GA 2, 173]) Auch im eigentlichen Selbstsein ist man demnach durch die Struktur des ›Man‹ bestimmt, und wäre das nicht so, müßte man als ›eigentliches Selbst‹ aufgehört haben, dieser Bestimmte unter Anderen zu sein.« (Günter Figal, Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, Neuausgabe Tübingen 2013, § 5, 129 (152 f. nach der 3. Auflage, Weinheim 2000, die in der Neuausgabe von 2013 in der Marginalienspalte angegeben ist); vgl. auch Günther Neumann, »Sein des Menschen, Ethos und Freiheit in Martin Heideggers ›Brief über den,Humanismus‹‹ und Sein und Zeit«, in: Heidegger und der Humanismus, hrsg. von Alfred Denker und Holger Zabo­ rowski (Heidegger-Jahrbuch 10), Freiburg/München 2017, 102–118, bes. 107 f.). 22 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 367 (276). 23 Buchausgabe: Cham 2015. 24 Stefan W. Schmidt, Grund und Freiheit, Cham 2015, 43; fast wortgleich in: Stefan W. Schmidt, »Das Geschehen der Freiheit: Heideggers ontologischer Freiheitsbegriff«, in: Diego D’Angelo [u. a.] (Hrsg.): Frei sein, frei handeln. Freiheit zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, Freiburg/München 2013, 76–93, hier 79. Aber auch Schmidt bemerkt an einer späteren Stelle: »Wenn Heidegger das Wort ›Freiheit‹ oder ›Freisein‹ in SuZ verwendet, so (fast) ausschließlich im Sinne dieses zweiten Aspektes.« (Stefan W. Schmidt, Grund und Freiheit, 50) Und an einer weiteren Stelle ergänzt er, »dass Heidegger ›Freiheit‹ in SuZ vorrangig im Kontext der Eigentlichkeit diskutiert« (ebd., 57, vgl. auch 48). Diese Einschränkung deutet aber darauf hin, dass die Interpretation und Abgrenzung der existenzial-ontologischen Begriffe »Freisein 21

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Das »Wie« der existenzialen Selbstbestimmung (Freisein) verweist auf die Existenzmodi der Eigentlichkeit und der Uneigentlichkeit. Es stellt sich aber die Frage, ob die existenziale Selbstbestimmung als solche schon mit dem (positiven) Begriff der Freiheit bzw. des Freiseins in Sein und Zeit gleichgesetzt werden darf.25 In seinem Aufsatz »Das Geschehen der Freiheit: Heideggers ontologischer Freiheitsbegriff«, der eine prägnante Zusammenfassung seines Buches Grund und Freiheit darstellt, wiederholt Schmidt seine Erläuterung zu Heideggers Freiheitsbegriff: »Man könnte auch von einem ontologisch verstande­ nen ›Autonomiebegriff‹ sprechen, von einer ›existenzialen Selbstbe­ stimmung‹.«26 Es wird von Schmidt schon vorgegeben, was unter Freisein bzw. Freiheit zu verstehen ist. Ein Grundfehler von Schmidts Ana­ lyse besteht m. E. darin, dass die existenziale Selbstbestimmung als solche schon mit der Freiheit gleichgesetzt wird, wohingegen auch das »Man-Selbst«, das Dasein in der Existenzweise der Unfreiheit,

für« und »Freisein von« bzw. »Freiheit« und »Unfreiheit« von Schmidt noch nicht ursprünglich genug angesetzt ist. 25 Auch das »Man-selbst«, das Dasein im (primären) Modus der Unfreiheit (vgl. dazu oben Anm. 21), darf nach Heideggers daseinsanalytischem Ansatz nicht mit dem Modus der Fremdbestimmtheit gleichgesetzt werden. Daher spricht Heidegger auch mehrfach im Superlativ vom Freisein für das »eigenste« Seinkönnen (Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 191, 254, vgl. u. a. auch 236, 249, 256, 264, 381 f. (144, 191, vgl. 178, 188, 193, 199, 287 f.)), da auch das Man-selbst (als ein Modus der Sorge) noch als ein dem Dasein »eigene[s] Seinkönnen« (Martin Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann (GA 24), 3. Auflage, Frankfurt am Main 1997, 391) zu verstehen ist. Auch das »Selbst im Sinne des Man-selbst« zeigt »noch die Seinsverfassung […], daß es diesem Seienden um sein Sein geht.« (Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), § 41, 257 (193)) In diesem Sinne schreibt Günter Figal: »Aber auch da, wo der philosophische, genauer: daseinsanalytische Anspruch der Erörterung des ›Man‹ ernst genommen wird, ist diese Erörterung häufig mißverstanden worden. Ein solches Mißverständnis besteht darin, das ›Man‹ als den Modus der Fremdbestimmtheit zu interpretieren und ihm den Modus der Selbstbestimmung entgegenzusetzen.« (Günter Figal, Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, Neuausgabe Tübingen 2013, § 5, 127 (151 nach der 3. Auflage)) Die Selbstbestimmung als eine Grundbedingung von Freiheit, die hier nicht grundsätzlich in Abrede gestellt werden soll, gehört für Michael Pauen auf jeden Fall zur »Minimalkonzeption« personaler Freiheit (Michael Pauen, Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung, Frankfurt am Main 2004, 63–65). 26 Stefan W. Schmidt, »Das Geschehen der Freiheit«, 79; vgl. Stefan W. Schmidt, Grund und Freiheit, 44 und 47.

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als ein dem Dasein eigenes Seinkönnen, mithin als ein Modus der Selbstbestimmung verstanden werden muss. In einer gewissen Anlehnung an die Freiburger Dissertation (1996) von Martin Michael Thomé mit dem Titel Existenz und Verant­ wortung. Untersuchungen zur existenzialontologischen Fundierung von Verantwortung auf der Grundlage der Philosophie Martin Heideggers27 wird eine andere Vorgehensweise gewählt. Thomé stellt seinen Ana­ lysen des existenzialen Begriffs der Verantwortung auf der Grundlage von Sein und Zeit den Abschnitt »Die existenziale Lokalisierung der Verantwortung« voran.28 Auszugsweise sollen die folgenden Leitli­ nien auch für die Interpretation des Freiheitsbegriffs herausgestellt werden, wobei die von Thomé noch genannten Kriterien gleichfalls berücksichtigt werden müssen: 1. 2.

In der durchzuführenden Analyse darf die Freiheit nicht in einer »Überschätzung ihrer Bedeutung« als die eigentliche oder übergeordnete Struktur der Existenzialien interpretiert werden. Sie darf aber auch nicht in einer »Unterschätzung ihrer Bedeu­ tung« auf der rein phänomenalen Ebene der Beschreibung der alltäglichen Vollzüge des Daseins angesiedelt werden oder gar kategorial als eine bloße Fähigkeit oder Eigenschaft des Men­ schen als eines vorhandenen Seienden bestimmt werden.

Mit Nachdruck wird auf die folgenden methodischen Anweisungen Thomés verwiesen, die entsprechend auch für den Begriff der Freiheit übernommen werden können: »Die Verantwortung gehört in den Kontext der Auslegung des Seins des Daseins, also dorthin, wo auch die anderen Existenzialien in ihrer jeweiligen Analyse aufgewiesen werden. […] Dabei ist sie jedoch nicht zu den Grundexistenzialien zu zählen, die in ihrer Dreiheit das Gesamt der Sorgestruktur ausmachen, sie ist aber auch nicht ein­ fachhin gleichzusetzen mit einem der genannten Existenzialien, etwa mit dem Mitsein oder der Fürsorge, da sie durch diese phänomenal nicht vollständig gefaßt, existenziell nicht vollständig wie eine dieser

Buchausgabe: Würzburg 1998. Martin Michael Thomé, Existenz und Verantwortung, Würzburg 1998, 69–71. Der Frage, ob der »Leitbegriff der Prekarietät« (ebd., 230, vgl. 16, 46, 74; heute üblicherweise in der Schreibweise »Prekarität«, vgl. französisch précarité) in der theologischen Dissertation Thomés nicht doch zu sehr betont und herausgestellt wird, kann hier nicht nachgegangen werden. 27

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vollzogen und existenzial-ontologisch nicht genau so wie eine dieser ausgelegt werden kann.«29

Beispielsweise steht der Begriff der Freiheit zwar in einem engen Zusammenhang mit dem Existenzial des Möglichseins, darf mit diesem aber nicht identifiziert werden.30 Da die Freilegung der existenzial-ontologischen Strukturmo­ mente des Daseins in Heideggers Grundwerk Sein und Zeit hier auch nicht annähernd nachvollzogen werden kann, wird auf die folgende Zusammenfassung verwiesen. Nach Friedrich-Wilhelm von Herrmann müssen wir Dreierlei unterscheiden: »1. das formal-existenzial-ontologische Strukturgefüge der Existenz als Sorge, deren Strukturmomente sowohl die uneigentliche als [auch] die eigentliche Existenz konstituieren; 2. die existenzial-onto­ logische Struktur der Modifikation der Ganzheitsstruktur der unei­ gentlichen Existenz, das Verfallen, das alle Strukturmomente der Existenz modifiziert; 3. die existenzial-ontologische Struktur der Modifikation der existenzialen Ganzheit der eigentlichen Existenz, die vorlaufende Entschlossenheit, die ebenfalls alle Strukturmomente der Existenz bestimmt.«31

Auf dem Wege der existenzial-ontologischen Analysen der Existenz­ phänomene des Todes, des Gewissens und der Schuld werden im zweiten Abschnitt »Dasein und Zeitlichkeit« die ontologischen Bedin­ gungen der Eigentlichkeit der Existenz aufgesucht. Das Phänomen der Angst (§ 40) kennzeichnet dagegen die Spannung zwischen mögli­ chem Selbstsein und Verfallen. »Auf der einen Seite treibt sie das Dasein in das Verfallen, zugleich aber auch zu sich selbst.«32 Entsprechend der bereits genannten Aussage Heideggers, dass mithin die Freiheit »als positive in erster Linie den Bereich des Freiheitspro­ blems vorzeichnet«33, wird das Freisein bzw. die Freiheit in Sein und Martin Michael Thomé, Existenz und Verantwortung, 71. Dagegen bemerkt Schmidt: »Das heißt, in Sein und Zeit versteht Heidegger Freiheit vornehmlich als Möglichsein des Daseins – Dasein ist Seinkönnen.« (Stefan W. Schmidt, »Das Geschehen der Freiheit«, 78; vgl. auch Stefan W. Schmidt, Grund und Freiheit, 45). 31 F.-W. von Herrmann, Subjekt und Dasein. Grundbegriffe von »Sein und Zeit«, 3., erweiterte Auflage, Frankfurt am Main 2004, 37 f. 32 Stefan W. Schmidt, Grund und Freiheit, 51. 33 Martin Heidegger, Vom Wesen der menschlichen Freiheit (GA 31), 10. 29

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Zeit erst bei der Freilegung der existenzial-ontologischen Strukturen der eigentlichen Existenz grundlegend mit enthüllt. Das Freisein bzw. die Freiheit des Daseins setzt zwar »das formal-existenzial-ontologi­ sche Strukturgefüge der Existenz als Sorge« voraus und ist darin verwurzelt, doch ist es damit noch nicht ursprünglich freigelegt. Es ist aber zu sehen, dass bei der Freilegung des formalen Strukturgefüges der Existenz als Sorge schon in gewisser Weise die Existenzmodi der Eigentlichkeit und der Uneigentlichkeit formal angezeigt oder auch vorgreifend mit erörtert werden, weshalb Schmidt feststellen kann, dass »diese beiden Aspekte von Heidegger selbst nicht so scharf getrennt werden«34. Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit sind immer schon mitthematisch, nur so kann verhindert werden, dass die Daseinsanalyse gleichsam zu kurz greift und hermeneutisch unange­ messen ist. Die positive Freiheit als »Freisein für« wird nicht zufällig erstmals in § 31 von Sein und Zeit mit dem Titel »Das Da‑sein als Verstehen« eingeführt.35 Mit der Aufweisung der »Möglichkeit als Existenzial« ist für Heidegger »die ursprünglichste und letzte positive ontologische Bestimmtheit des Daseins« erreicht.36 Weil der Entwurf als die exis­ tenziale Struktur des Verstehens »immer die volle Erschlossenheit des In-der-Welt-seins« betrifft, kann sich das Verstehen »primär in die Erschlossenheit der Welt legen, das heißt das Dasein kann sich zunächst und zumeist aus seiner Welt her verstehen«, oder aber »das Verstehen wirft sich primär in das Worumwillen, das heißt das Dasein existiert als es selbst«.37 Damit ergibt sich: »Das Verstehen ist ent­ weder eigentliches, aus dem eigenen Selbst als solchem entspringen­ des, oder uneigentliches.«38 Weil sich das Dasein primär aus dem Worumwillen der Existenz verstehen kann, ist das eigentliche Ver­ Stefan W. Schmidt, Grund und Freiheit, 43. Von der vorangehenden, in gewisser Weise vorgreifenden Analyse der »vorsprin­ gend-befreienden« Fürsorge, die dem Anderen dazu verhilft, »in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden« (Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), § 26, 163 (122)), wird hier abgesehen. 36 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 191 (143 f.); vgl. Stefan W. Schmidt, Grund und Freiheit, 43; zu Heideggers Möglichkeitsbegriff(en) in Sein und Zeit vgl. Stichwort »Möglichkeit«, in: Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe, unter Mitarbeit von Klaus Ebner [u. a.] hrsg. von Helmuth Vetter, Hamburg 2004, 362–370, hier 367– 369; ferner Wolfgang Müller-Lauter, Möglichkeit und Wirklichkeit bei Martin Heidegger, Berlin 1960. 37 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 194 (146). 38 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 194 (146). 34 35

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stehen der Grund für das Freisein im positiven Sinne: »Das Dasein ist die Möglichkeit des Freiseins für das eigenste Seinkönnen.«39 Ein sol­ ches eigentliches Verstehen bezeichnet Heidegger in seiner Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie vom Sommersemester 1927 auch als den »ursprünglichen existenzialen Begriff des Verstehens«: »Das eigenste Seinkönnen selbst sein, es übernehmen und sich in der Möglichkeit halten, sich selbst in der faktischen Freiheit seiner selbst verstehen, d. h. das sich selbst Verstehen im Sein des eigensten Sein­ könnens, ist der ursprüngliche existenziale Begriff des Verstehens.«40 Das zuvor angeführte Zitat, dass sich das Dasein auch »aus seiner Welt her verstehen« kann, verdeutlicht unmissverständlich, dass auch das Verfallen, die Unfreiheit, als ein Modus der Selbstbestimmung, wenn auch nicht als der ursprüngliche und eigentliche, aufzufassen ist. Nachdem das Freisein bei der Analyse des Verstehens in § 31 überhaupt erstmals grundlegend in den Blick gebracht wurde, wird es in § 40 hinsichtlich des anderen fundamentalen Existenzials, der Befindlichkeit, und zwar der »Grundbefindlichkeit der Angst«, the­ matisiert. Es ist zu beachten, dass das Phänomen der Freiheit nicht schon bei der Analyse der Befindlichkeit in § 29 angesprochen wird, sondern erst in § 40. In der Angst liegt ein ausgezeichneter Modus des Erschließens: »Die Angst vereinzelt das Dasein auf sein eigenstes Inder-Welt-sein, das als verstehendes wesenhaft auf Möglichkeiten sich entwirft. Mit dem Worum des Sichängstens erschließt daher die Angst das Dasein als Möglichsein und zwar als das, das es einzig von ihm selbst her als vereinzeltes in der Vereinzelung sein kann.«41 In der durchschnittlichen Alltäglichkeit flieht das Dasein »vor dem Unzuhause, das heißt der Unheimlichkeit«, und zwar »in das Zuhause der Öffentlichkeit«.42 »Die alltägliche Art, in der das Dasein die Unheimlichkeit versteht, ist die verfallende, das Un‑zuhause ›abblendende‹ Abkehr.«43 In diesem Zusammenhang heißt es zum Phänomen der Freiheit: »Die Angst offenbart im Dasein das Sein Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 191 (144). Martin Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie (GA 24), § 20 a, 391, vgl. auch 395. 41 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 249 (187 f.); vgl. dazu Joachim Ringleben, »Freiheit und Angst. Heidegger zwischen Schelling und Kierkegaard«, in: Norbert Fischer/Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hrsg.), Heidegger und die christliche Tra­ dition. Annäherungen an ein schwieriges Thema, Hamburg 2007, 219–244. 42 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 251 (189). 43 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 251 f. (189). 39

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zum eigensten Seinkönnen, das heißt das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens. Die Angst bringt das Dasein vor sein Freisein für… (propensio in…) die Eigentlichkeit seines Seins als Möglichkeit, die es immer schon ist.«44 Die Angst erschließt dem Dasein sein Freisein für das eigenste Seinkönnen. An einer späteren Stelle, nämlich in § 41 mit dem Titel »Das Sein des Daseins als Sorge«, kommt Heidegger darauf zurück: »Das Freisein für das eigenste Seinkönnen und damit für die Mög­ lichkeit von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit zeigt sich in einer ursprünglichen, elementaren Konkretion in der Angst.«45 Es kommt hier deutlicher der bereits angesprochen ambivalente Charakter der Angst zum Ausdruck. Die Angst erschließt zwar das Freisein für das eigenste Seinkönnen und damit für die Möglichkeit von Eigentlichkeit, aber die Freiheit kann nur vom Dasein in einem existenziell zu vollziehenden Sich-selbst-wählen ergriffen und über­ nommen werden. Wie es schon vorgreifend in § 9 heißt, kann das Dasein als Möglichsein »sich selbst ›wählen‹, gewinnen, es kann sich verlieren, bzw. nie und nur ›scheinbar‹ gewinnen«.46 Die Angst offen­ bart (öffnet, lichtet) im Dasein erst, wie man nun sagen könnte, das Freisein für die Freiheit des Sich‑selbst‑wählens und -ergreifens oder des Ausweichens und Sich‑verlierens. Zur weiteren Erläuterung wird auf § 54 mit dem Titel »Das Prob­ lem der Bezeugung einer eigentlichen existenziellen Möglichkeit« vorgegriffen, auch wenn sich diese Analyse nicht auf das existenziale Phänomen der Angst, sondern bereits auf das existenziale Phänomen des Gewissens bezieht. Der entscheidende Satz für unsere Interpre­ tation lautet hier: »Das eigentliche Selbstsein bestimmt sich als eine existenzielle Modifikation des Man, die existenzial zu umgrenzen ist.«47 In der Uneigentlichkeit (oder in der modalen Indifferenz), in der das Dasein in seiner faktischen Geworfenheit »zunächst und zumeist« immer schon existiert, hat es sein eigenstes Seinkönnen gerade nicht gewählt. Es hat aber auch nicht das Verfallen als das Ver­ lorensein in die Öffentlichkeit des Man gewählt.48 Dieses »Versäum­ 44 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 249 f., vgl. 173 und 420 (188, vgl. 130 und 317). 45 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 254 (191). 46 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 57 (42). 47 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 355 (267). 48 Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), § 38.

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nis« zeigt sich auch daran, dass Heidegger vom »Nachholen der Wahl« spricht: »Das Sichzurückholen aus dem Man, das heißt die existenzi­ elle Modifikation des Man‑selbst zum eigentlichen Selbstsein muß sich als Nachholen einer Wahl vollziehen. Nachholen der Wahl bedeu­ tet aber Wählen dieser Wahl, Sichentscheiden für ein Seinkönnen aus dem eigenen Selbst. Im Wählen der Wahl ermöglicht sich das Dasein allererst sein eigentliches Seinkönnen.«49 Man kann also sagen, dass das Dasein in seinem Sein als Seinkönnen zwar immer schon ontologisch mögliches Freiwerden ist, dass es aber erst im existenziell zu vollziehenden »Wählen dieser Wahl« die Freiheit als solche ergreift und sich aus dem »Man-selbst« zu seinem »Seinkönnen aus dem eigenen Selbst« befreit. In welchem Sinne hier von einer »Wahl« die Rede ist, sagt eine spätere Stelle: »Das verstehende Sichvorrufenlassen auf diese Möglichkeit [des eigensten Seinkönnens] schließt in sich das Freiwerden des Daseins für den Ruf: die Bereitschaft für das Angerufenwerdenkönnen. Das Dasein ist rufverstehend hörig seiner eigensten Existenzmöglichkeit. Es hat sich selbst gewählt.«50 Unter einer solchen »Wahl des eigenen Selbst« ist hier aber keine gewöhnliche »Wahl zwischen Optionen« zu verstehen.51 Heidegger versteht unter Selbstwahl ein höriges »Ergreifen« seiner eigensten Existenzmöglichkeit. Bereits in § 4 heißt es: »Die Existenz wird in der Weise des Ergreifens oder Versäumens nur vom jeweiligen Dasein selbst entschieden. Die Frage der Existenz ist immer nur durch das Existieren selbst ins Reine zu bringen. Das hierbei führende Verständ­ nis seiner selbst nennen wir das existenzielle.«52 Das Versäumen ist ein Ausweichen vor der ausdrücklichen Wahl. Die Uneigentlichkeit kann als solche nicht gewählt werden, weil sie gerade die vom Man vollzogene »stillschweigende Entlastung von der ausdrücklichen Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 356 (268). Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), § 58, 381 f. (287). Zu Heideggers begriff­ licher Anlehnung an Søren Kierkegaards Begriff der »Selbstwahl« vgl. Günter Figal, Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, Neuausgabe Tübingen 2013, § 8, 217 ff. (251 ff. nach der 3. Auflage). 51 Andreas Luckner, »Wie es ist, selbst zu sein. Zum Begriff der Eigentlichkeit (§§ 54–60)«, in: Martin Heidegger: Sein und Zeit, hrsg. von Thomas Rentsch (Klassiker Auslegen, Bd. 25), 3., bearbeitete Auflage, Berlin/München/Boston 2015, 141–159, hier 149. 52 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 17 (12). 49

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Wahl«53 ist. In der Uneigentlichkeit verbleibt das Dasein in einer gewissen Unentschiedenheit oder Verlorenheit. Von hier aus wird nun eine wichtige Textstelle in § 41 verständlich: »Im Sich-vorweg-sein als Sein zum eigensten Seinkönnen liegt die existenzial‑ontologische Bedingung der Möglichkeit des Freiseins für eigentliche existenzielle Möglichkeiten. Das Seinkönnen ist es, wor­ umwillen das Dasein je ist, wie es faktisch ist. Sofern nun aber dieses Sein zum Seinkönnen selbst durch die Freiheit bestimmt wird, kann sich das Dasein zu seinen Möglichkeiten auch unwillentlich verhalten, es kann uneigentlich sein und ist faktisch zunächst und zumeist in dieser Weise.«54

Das im entwerfenden Sich-vorweg-sein erschlossene »Freisein für eigentliche existenzielle Möglichkeiten« ist das Freisein für gehalt­ liche faktische) Möglichkeiten des In‑der-Welt-seins des Daseins (im Unterschied zum bereits genannten ursprünglicheren »Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens«55), die im Modus der Eigentlichkeit existenziell modifiziert ergriffen werden. Ausdrücklich heißt es hier aber noch, dass das entwerfende »Sein zum Seinkönnen selbst durch die Freiheit bestimmt wird«, insofern das eigenste (eigentliche) Seinkönnen selbst in einem existenziellen Voll­ zug gewählt werden kann, oder aber ein solches Wählen der Wahl in einem unentschiedenen Ausweichen zunächst und zumeist versäumt wird. Freisein und Freiheit sind in sich gestufte existenziale Phäno­ mene, die – wie andere Existenzialien auch – in einem Ursprungsge­ fälle stehen. Die Textstelle verdeutlicht unmissverständlich, dass das existenziale Phänomen der Freiheit zwar auf das Möglichsein bezogen ist, aber mit diesem Existenzial nicht gleichgesetzt werden darf.56 Für die weitere Interpretation kann als Leitfaden festgehalten werden: Freiheit ist die existenzial-ontologische Umgrenzung der existenziellen Modifikation des Man-Selbst zum eigentlichen Selbst­ sein, die im Sich-selbst-wählen ergriffen und vollzogen oder aber nicht ergriffen und versäumt werden kann. Die Freiheit als solche, die existenziell gewählt und ergriffen werden kann, wird allererst im Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 356 (268). Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 256, vgl. 378 (193, vgl. 285). 55 Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 249 f. (188). 56 Dagegen bemerkt Schmidt: »Das heißt, in Sein und Zeit versteht Heidegger Freiheit vornehmlich als Möglichsein des Daseins – Dasein ist Seinkönnen.« (Stefan W. Schmidt, »Das Geschehen der Freiheit« (wie Anm. 24), 78; vgl. auch Stefan W. Schmidt, Grund und Freiheit (wie Anm. 23), 45). 53

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erschließenden Freisein für eröffnet, was zunächst am Phänomen der Angst, dann an den Phänomenen des Gewissens, der Schuld und des Todes freigelegt wird. Wie vor allem die existenziale Analyse des Gewissens zeigt, liegen die ermöglichenden Bedingungen einer solchen Befreiung aber nicht in einer willentlichen Verfügung des Daseins.57 Der existenziale Begriff der Freiheit ist gewissermaßen das Bindeglied zwischen der existenzial-ontologischen Struktur des eigentlichen Seinkönnens und der je nur im existenziellen Vollzug wähl- und ergreifbaren Modifika­ tion des Man-selbst zum eigentlichen Selbstsein. Mit diesen Vorbemerkungen ist nun aber erst der phänomeno­ logisch-hermeneutische Leitfaden gewonnen, dem »in der Existenz verwurzelte[n] Freisein […] nun eigens an den verschiedenen Statio­ nen der Existenzialanalytik« nachzugehen.58

III. Die Frage nach dem Wesen der menschlichen Freiheit in der Vorlesung vom Sommersemester 1930 unter Berücksichtigung des Vortrags »Vom Wesen der Wahrheit« Hartmut Tietjen gibt in seinem Aufsatz »Wahrheit und Freiheit« eine »Zwischenbemerkung zu Wahrheit und Freiheit in ›Sein und Zeit‹« und bemerkt: »In ›Sein und Zeit‹ ist die Freiheitsfrage, die im § 31 ›Das Da‑sein als Verstehen‹ mit erörtert wird, noch nicht ausdrücklich und thematisch in den Fragezusammenhang mit der Wahrheitsfrage gebracht, die im § 44 ›Dasein, Erschlossenheit und Wahrheit‹ thema­

57 Eine besondere Nähe des im Gewissensruf sich zeigenden Wahrheitsgeschehens zum späteren Ereignis-Denken ist oft bemerkt worden (vgl. z. B. Ingeborg Schüßler, »Gewissen und Wahrheit. Heideggers existenziale Analytik des Gewissens (Sein und Zeit §§ 54–62)«, in: Kategorien der Existenz. Festschrift für Wolfgang Janke, hrsg. von Klaus Held und Jochem Hennigfeld, Würzburg 1993, 327–349, bes. 348). In § 58 von Sein und Zeit heißt es zum im »Gewissen-haben-wollen« sich bekundenden »Anruf­ verstehen«, dass damit nicht »eine willentliche Pflege des ›Rufes‹« gemeint ist, »son­ dern einzig Bereitschaft für das Angerufenwerden« (Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 382 (288) (Hervorhebungen G.N.)). 58 Friedrich-Wilhelm von Herrmann, »Heidegger: Freiheit und Dasein« (wie Anm. 7), 268.

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Martin Heideggers Freiheitsbegriff

tisiert wird.«59 Wie Heidegger später einmal sagt, steht die Freiheit »in der nächsten und innigsten Verwandtschaft«60 zum Geschehnis der Wahrheit. Es kann hier jedoch nicht auf die seinsgeschichtliche Perspektive oder Ereignis-Denken eingegangen werden, sondern ent­ sprechend unserem Tagungsthema nur auf die bereits erwähnte Vor­ lesung Vom Wesen der menschlichen Freiheit vom Sommersemester 1930, die der Umbruchszeit zugehört. Auf die geplante, aber nicht mehr zur Ausführung gelangte Umarbeitung von Sein und Zeit habe ich bereits hingewiesen. Heidegger erörtert in dieser Vorlesung von 1930 das Wesen der menschlichen Freiheit im Durchgang durch eine Interpretation von Kants kosmologischem Freiheitsbegriff in der Kri­ tik der reinen Vernunft (theoretischer Freiheitsbegriff) und seinem praktischen Freiheitsbegriff in der Kritik der praktischen Vernunft.61 Ein entscheidender Satz dieser Vorlesung lautet: »Das Wesen der Frei­ heit kommt erst dann eigentlich in den Blick, wenn wir sie als Grund der Möglichkeit des Daseins suchen, als dasjenige, was noch vor Sein und Zeit liegt.«62 Während in der Daseinsanalytik von Sein und Zeit der ermöglichende Grund des Daseins in seiner uneigentlichen oder eigentlichen Erschlossenheit (Freisein) die Einheit der ursprünglichen Zeit ist, gründet jetzt die Zeit in der Freiheit. Wie es am Schluss der Vorlesung heißt, ist die Offenbarkeit des Seienden, ob in theoretischer oder praktischer Erkenntnis, nur möglich, wenn sich das in der ursprünglichen Freiheit gründende Seinsverständnis im vorhinein Verbindlichkeit zugesteht. Zugestehen von Verbindlichkeit aber ist

Hartmut Tietjen, »Wahrheit und Freiheit«, in: Die Frage nach der Wahrheit, hrsg. von Ewald Richter, Frankfurt am Main 1997 (Martin-Heidegger-Gesellschaft, Schrif­ tenreihe Bd. 4), 209–241, hier 218 (Im Text steht versehentlich »§ 33 ›Dasein und Verstehen‹«.); vgl. auch Enrico Berti, »Heideggers Auseinandersetzung mit dem Pla­ tonisch-Aristotelischen Wahrheitsverständnis«, in: Die Frage nach der Wahrheit, 89– 105; Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, Wahrheit – Freiheit – Geschichte. Eine systema­ tische Untersuchung zu Heideggers Schrift »Vom Wesen der Wahrheit«, Frankfurt am Main 2002, bes. §§ 4–16. 60 Martin Heidegger, »Die Frage nach der Technik« (1953), in: Martin Heidegger, Vorträge und Aufsätze, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann (GA 7), Frankfurt am Main 2000, 5–36, hier 26. 61 Zu Heideggers Interpretation der praktischen Vernunft in dieser Vorlesung, die über das »Kantbuch« (1929) hinausgeht, vgl. Frank Schalow, »Toward a Concrete Ontology of Practical Reason in Light of Heidegger’s Lectures on Human Freedom«, in: Journal of the British Society for Phenomenology 17 (1986), 155–165. 62 Martin Heidegger, Vom Wesen der menschlichen Freiheit (GA 31), § 14, 134. 59

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ursprüngliches Sichbinden, kantisch gesprochen, »sich ein Gesetz geben«.63 In der genannten Vorlesung wird auf »das Kernproblem der Mög­ lichkeit der Wahrheit als Entborgenheit«64 nur verwiesen. Der Wesens­ zusammenhang zwischen Wahrheit und Freiheit wird deutlicher in dem etwa gleichzeitig mit der Vorlesung erstmals ausgearbeiteten Vortrag »Vom Wesen der Wahrheit«. Der Vortrag wird in seiner end­ gültig veröffentlichten Fassung von 1943 mit Recht als ein Text betrachtet, in dem (nicht indem) sich die seinsgeschichtliche Erfah­ rung vom Wesen des Seins (Seyns) Bahn zu brechen beginnt. Heidegger hat allerdings den erstmals am 14. Juli 1930 in Karlsruhe gehaltenen Vortrag »Vom Wesen der Wahrheit« mehrfach und teil­ weise umfangreich überarbeitet. Die insgesamt acht Aus- bzw. Umar­ beitungsstufen wurden von mir als Herausgeber rekonstruiert und die verschiedenen Versionen sind nun auf ca. 100 Seiten aufgenommen in den Band 80.1 der Martin Heidegger Gesamtausgabe.65 Bereits zu Beginn der ersten Fassung vom Juli 1930 stellt Heidegger die grund­ sätzliche Aufgabe der Wahrheitsfrage heraus, nämlich die Heraus­ stellung des allgemeinsten Sinnes des Wesens von Wahrheit über­ haupt.66 Die Genese des Textes bis zu der von Heidegger selbst veröffentlichten Endfassung kann hier auch nicht ansatzweise nach­ vollzogen werden.67 Es kann nur auf eine zentrale Textstelle des Wahrheitsvortrages verwiesen werden, die sich in der endgültigen Fassung von 1943 findet und sowohl von Friedrich-Wilhelm von Herrmann als auch von Hartmut Tietjen eingehend erörtert wird. Von Herrmann schreibt: »Dass die daseinsmäßige Freiheit ihr eigenes Wesen aus dem ursprünglicheren Wesen der Wahrheit empfängt, ist ein deutlicher Martin Heidegger, Vom Wesen der menschlichen Freiheit (GA 31), § 30, 302 f. Martin Heidegger, Vom Wesen der menschlichen Freiheit (GA 31), 135. 65 Martin Heidegger, Vorträge, Teil 1: 1915 bis 1932, hrsg. von Günther Neumann (GA 80.1), Frankfurt am Main 2016, 327–428. Erst die umfangreiche vorletzte Umarbeitung an Pfingsten 1940 kann als weitgehend identisch mit dem endgültig veröffentlichten Text von 1943 angesehen werden (vgl. die »Nachweise und Erläu­ terungen« zu diesem Vortrag, in: Martin Heidegger, Vorträge, Teil 1 (GA 80.1), 544–549). 66 Martin Heidegger, Vorträge, Teil 1 (GA 80.1), 329. 67 Einige Gesichtspunkte, aber nicht die wesentlichsten im Hinblick auf das Ereig­ nis-Denken, hat Dirk Cürsgen in seiner Rezension des Vortragsbandes (GA 80.1) herausgestellt (in: Philosophisches Jahrbuch 125 (2018), 111–114, hier 112). 63

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Hinweis auf den zweiten Ausarbeitungsweg der Wahrheitsfrage, auf den seinsgeschichtlichen oder ereignisgeschichtlichen Weg. In dieser gewan­ delten Blickbahn empfängt das daseinsmäßige Freisein sein eigenes Wesen aus dem ereignenden Zuwurf der Wahrheit des Seins, so, daß das Freisein selbst ein aus dem Zuwurf ereignetes ist, ein ereignetes Ent­ werfen der Wahrheit des Seins und ereignetes Offenbarwerdenlassen des Seienden.«68

Da die im Juli, Oktober und Dezember des Jahres 1930 von Heidegger gehaltenen und deutlich voneinander abweichenden drei Versionen des Vortrages »Vom Wesen der Wahrheit« noch in die Umbruchszeit von 1928 bis 1931/32 fallen, ist es nicht überraschend, dass sich die im Hinblick auf das Ereignis-Denken interpretierte Textstelle erstmals in der umfangreichen Umarbeitung von Pfingsten 1940 findet (aufgenommen als »4. Version«) findet: »Der Hinweis auf den Wesenszusammenhang zwischen Richtigkeit [und] Freiheit bringt uns dahin, die Frage nach dem Wesen des Menschen in einer Richtung zu verfolgen, die uns die Erfahrung des verborgenen und einzigen Wesensgrundes des Menschen (des Da‑seins) verbürgt, so zwar, daß sie uns zuvor in den ursprünglich wesenden Bereich der Wahrheit versetzt. Von hier aus zeigt sich aber auch: die Freiheit ist nur deshalb der Grund der inneren Möglichkeit der Richtigkeit, weil sie ihr eigenes Wesen aus dem ursprünglichen Wesen der einzig wesentlichen Wahrheit entnimmt.«69

In der von Heidegger selbst veröffentlichten Endfassung ist das letzte Wort des angeführten Zitates (von geringfügigen anderen sprachlichen Änderungen abgesehen) noch prägnanter formuliert, nämlich »empfängt« statt »entnimmt«.70 Der von Heidegger erst 1964 verfasste Rückblick mit dem Titel »Zum Einblick in die Notwendigkeit der Kehre« bestätigt, dass das angeführte Zitat aus der vorletzten und letzten Fassung des Textes »Vom Wesen der Wahrheit« einen deutlichen Hinweis auf den zweiten Ausarbeitungsweg der Wahr­ heitsfrage darstellt:

Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, Wahrheit – Freiheit – Geschichte (wie Anm. 59), § 15, 108; vgl. auch Hartmut Tietjen, »Wahrheit und Freiheit« (wie Anm. 59), 227. 69 Martin Heidegger, Vorträge, Teil 1 (GA 80.1), 415 f. (Eckige Klammern vom Hrsg.). 70 Martin Heidegger, »Vom Wesen der Wahrheit«, in: Martin Heidegger, Wegmar­ ken, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann (GA 9), 3. Auflage, Frankfurt am Main 2004, 177–202, hier 187 (Hervorhebung G.N.). 68

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»Dabei stellte sich die Frage, ob die Zeit als Horizont des Entwurfs von Anwesenheit sich aus der und durch die Zeitlichkeit des Da-seins bestimme, oder ob diese als Zeit umgekehrt ihre Bestimmung aus ›der Zeit‹ qua Entwurfsbereich von Anwesenheit empfange. Aus dieser beunruhigenden Frage ergab sich eine Situation des Denkens, in der dieses vor einen Sachverhalt sich gestellt sah, der dem Denken die Kehre abverlangte.«71

71 Martin Heidegger, Zu eigenen Veröffentlichungen (GA 82), 402 (Hervorhe­ bung G.N.).

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The Transcendental Framework of Heidegger’s Seinsfrage: Endorsement and Dismissal

Heidegger’s relation to the concept of transcendence and to the idea of transcendental philosophy is almost as complex as his relation to metaphysics in general or to Kant’s philosophy in particular. As the recent talk on the »transcendental Heidegger« surely showed,1 one of the fundamental tasks of Heideggerian studies is to understand his significant endorsement of transcendental philosophy, as well as its later dismissal. In the context of his 1940s attempt to overcome traditional metaphysics, Heidegger often considers transcendence and the trans­ cendental character of philosophical thinking as one of modern metaphysics’ main flaws. Traditionally associated with subjectivity, objectivity, and consciousness,2 Heidegger nonetheless often refers to an originary transcendence that would characterize the relation between beings and being or between Dasein and being. During a certain period, Heidegger did in fact consider the transcendental 1 . See S. G. Crowell, Husserl, Heidegger, and the Space of Meaning. Paths Toward Transcendental Phenomenology. Evanston: Northwestern University Press, 2001; S. G. Crowell and J. Malpas (eds.), Transcendental Heidegger, Stanford: Stanford University Press, 2007; D. O. Dahlstrom, »Heidegger’s Transcendentalism«, Research in Phenomenology, 2005/35, 29–54; D. Moran, »What Does Heidegger Mean by the Transcendence of Dasein?«, International Journal of Philosophical Studies, 2014/4, 491–514; C. Engelland, »Disentangling Heidegger’s Transcendental Questions«, Con­ tinental Philosophy Review, 2012/1, 77–100 and F. Jaran, »La pensée métaphysique de Heidegger. La transcendance du Dasein comme source d’une metaphysica naturalis«, Les Études philosophiques, 2006/1, 47–61. 2 . See, e.g., the criticism in Der Satz vom Grund: »If being is transcendentally determined in Modern Times as objectness (Gegenständlichkeit) and this as the condition of the possibility of objects, being then disappears as it were, in favor of what we call the condition of the possibility and which is of the same kind as rational ground and grounding« (Der Satz vom Grund, GA 10, Frankfurt: Klostermann, 1997, 164). See also Nietzsche II, GA 6.2, Frankfurt: Klostermann, 1997, 343.

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framework as a productive tool on his way to answering the question of being. In the Umbruchszeit (1928–1932) to which this book is dedi­ cated, Heidegger did not hesitate to use the vocabulary of the trans­ cendence and to appeal—as Husserl did before3—to an important soli­ darity between his own understanding of philosophy and Kant’s transcendental idealism. But once Heidegger decided to leap in what he calls the other beginning, Sein und Zeit’s fundamental ontology was criticized precisely for its embracing of the transcendental framework in which it asked the question of being. In this paper, I would like to throw some light on the many uses of the concept of transcendence that we find in Sein und Zeit and in the texts that pertain to the project of a Metaphysics of Dasein, that is, the conferences and lecture courses given between 1927 and 1930. As we will see, these analyses of Heidegger’s use of a transcendental vocabulary are surely significant but they sometimes hide a more important question concerning Heidegger’s philosophical writings of that time. Can we really consider Heidegger as part of what we usually call transcendental philosophy? Is the question of being as it was asked in Sein und Zeit a »transcendental« question? After trying to answer these questions, I will take a closer look at the recently published volume Zu eigenen Veröffentlichungen4 where, in 1936, Heidegger gives a very critical account of Sein und Zeit after reading the book anew for the first time in ten years. As we will see, the attacks towards the book’s transcendental framework are much more detailed than in the text published up to now.

1. The Transcendental Horizon of the Question of Being The use of a transcendental vocabulary is not frequent in Heidegger’s lecture courses before the publication of Sein und Zeit. The adjective »transcendental« is only employed to critically describe Husserl’s new way of doing phenomenology or Rickert’s understanding of Transzen­

. See, e.g., E. Husserl, »Kant und die Idee der Transzendentalphilosophie (1924)«, in: Erste Philosophie (1923/24). Erster Teil, Hua VII, The Hague: Nijhoff, 1956, 230–287. 4 . M. Heidegger, Zu eigenen Veröffentlichungen, GA 82, Frankfurt: Kloster­ mann, 2018. 3

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dentalphilosophie.5 The presentation of fundamental ontology as a new form of transcendental philosophy in 1927 thus came as surpri­ sing for those who were familiar with the first lecture courses. That’s at least what Gadamer recalls from that time when he describes Sein und Zeit as a »transcendental« version of the philosophical thought Heidegger presented in his classes before 1926.6 But what does Gadamer exactly have in mind when he talks of Sein und Zeit as a turning towards transcendental philosophy? As we all know, transcendence is not one of Sein und Zeit’s central concepts, although it appears at crucial moments. The first use of the transcendental vocabulary in Sein und Zeit is to be found in the title of the book’s first part, that is, what comes right after the Introduction and should have gone on until the third section of the book. As we recall, the full title of this first part is: »The Interpretation of Dasein in Terms of Temporality and the Explication of Time as the Transcendental Horizon of the Question of Being«. Although he never clearly explains the meaning of the transcendental character of time, we can imagine that Heidegger indicates that time operates here as the condition of possibility of our posing the question of being. This very timid use of the adjective »transcendental« can be considered—and that’s how Heidegger will sometimes interpret it—as a concession to the contemporary philosophical scene. In Sein und Zeit, Heidegger no longer writes in the intimacy of the classroom but rather addresses Phenomenology, Neo-Kantianism as well as Exis­ tence-philosophy. As we know, all these philosophical movements make some use of the transcendental vocabulary. But Heidegger only uses here the word in this precise meaning. In the rest of the book, he never describes time as the »transcendental horizon« of anything. Whenever the vocabulary of transcendence appears in Sein und Zeit, it is usually to describe Kant’s philosophy or the medieval doctrine of the transcendentals.7 A few exceptions, however, require some further interpretation. 5 . The complete title of Rickert’s Der Gegenstand der Erkenntnis reads: Ein Beitrag zum Problem der philosophischen Transzendenz (1892) or Einführung in die Transzendental­ philosophie (1915). 6 . See H.-G. Gadamer, »Die religiöse Dimension (1981),“ in Neuere Philosophie. Hegel – Husserl – Heidegger, GW 3, Tubingen: Mohr (Siebeck), 1987, 309. 7 . In Being and Time, Heidegger talks of the transcendental character of Kant’s philosophy (Sein und Zeit, Halle and der Saale: Niemeyer, 1927, 11, 24, 31, 215, 319 and 321) and that of Descartes’ philosophy (ibid., 96), of the medieval doctrine of the

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2. The first transcendence: that of being The first exception is to be found at the end of the Introduction to Sein und Zeit. There, Heidegger uses the expression »transcen­ dental« to characterize the way in which being »lies beyond every being« (liegt über jedes Seiende hinaus), calling it the »transcendens schlechthin,« that is, the pure and simple transcendental. In an explicit reference to Aristotle’s thesis according to which being cannot be a »genus of beings« and to the medieval doctrine that emerged from it, Heidegger affirms: »every disclosure of being as the transcendens is transcendental knowledge. Phenomenological truth ([that is,] disclo­ sedness of being) is veritas transcendentalis«.8 This characterization of the disclosure of being (Erschließung vom Sein) as »transcendental knowledge« and as »veritas transcendentalis« is somehow ambiguous insofar as it combines the Kantian (»transcendental knowledge«) and medieval (transcendens) uses of the word transcendental. Also, the reference to Latin expressions and the use of quotation marks seem to indicate an analogical interpretation of Heidegger’s thought more than anything else. Heidegger employed the same strategy earlier in the Introduc­ tion where he presents his own concept of the understanding of being, of Seinsverständnis, as finding its sources in Thomas Aquinas’ discussion of the transcendentia and in his reference to some kind of intellectus entis that would precede any apprehension of beings.9 This anachronistic mention of the transcendental character of ens explains the concept of veritas transcendentalis that Heidegger also uses in the 1926 summer semester lecture course: Being in general lies beyond. This lying beyond of being and of the determinations of the being of beings, over and above beings as such, is transcendere— »to surpass,« transcendence… The science of this being, transcendens, contains propositions about being, not truths about beings, but truths about being, about that which is transcendent, transcendentals (ibid., 14 and 22), of transcendental »universality« (ibid., 199) and of the transcendence of the Weltzeit (ibid., 419). 8 . Ibid., 38. Later in the book (§ 43), he will once again mention this thesis writing that being »is always already the ›transcendental‹ for every being« (ibid., 208). 9 . Ibid., 3. Thomas Aquinas’ quote comes from Summa theologica (I-II, 1. 94, a. 2): »Illud quod primo cadit sub apprehensione est ens, cujus intellectus includitur in omnibus, quaecumque quis apprehendit«.

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transcendens. This truth (veritas) is transcendental. Philosophical truth is veritas transcendentalis, transcendental not in the Kantian sense, although Kant is indeed oriented toward this concept, even if he distorts is.10

Transcendentalis here refers to Thomas Aquinas’ doctrine of the trans­ cendentals which presents being (ens) as surpassing every category of beings. Being is not a γένος,11 but something that surpasses all categories and all genders insofar as it is said of every being. According to Thomas Aquinas, transcendentals (transcendentia) are primary concepts that needn’t and can’t be reduced to other concepts and are no longer understandable from something else.12 Although being, according to Heidegger, is in fact understandable from the horizon of time, he nonetheless draws a parallel between Thomas Aquinas’ notion of the transcendens and his own notion of being based on the fact that in both cases, ens/being is not given in experience but rather »always implicitly co-understood (mitverstanden)«13 in every encounter with beings.

3. The second transcendence: that of Dasein In the first pages of Sein und Zeit, Heidegger already makes two dif­ ferent uses of the transcendental vocabulary: first, in a Kantian sense, to describe time as a transzendental horizon and second, in a medieval sense, to describe being as a transcendens. These may be Sein und Zeit’s most striking uses of the transcendental vocabulary, but they’re not the only ones. Much later in the book, in the very complex § 69, Heidegger presents the forerunner of what will soon become the »transcendence of Dasein,« a key-concept, as we know, during the years 1927–1930. . Die Grundbegriffe der antiken Philosophie, GA 22, Frankfurt: Klostermann, 1993, 10. 11 . Aristotle, Metaphysics, 998 b 22 sq. (see also 1059 b 30 and Topics, 144 a 31, b 11). On this issue, see L. M. de Rijk, »The Aristotelian Background of Medieval transcen­ dentia: A Semantic Approach,“ in Martin Pickavé (ed.), Die Logik des Transzendentalen. Festschrift für Jan A. Aertsen, Berlin: Walter de Gruyter, 2003, 4. 12 . J. A. Aertsen, Medieval Philosophy and the Transcendentals. The Case of Thomas Aquinas, Leiden: Brill, 1996, 78. 13 . GA 22, 9; see also 106, 234, and 239. 10

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In the course of a discussion of the transcendental character of the world,14 Heidegger asks the following question: »what makes it ontologically possible for beings to be encountered within the world and objectified as encountered beings?«15 According to what Heidegger writes, the possibility of an encounter with both vorhanden and zuhanden beings is based on the »transcendence of Dasein«.16 As Heidegger then explains, if objectifying presupposes a transcendence of Dasein and if we understand the objectifying of vorhanden beings as a modification (Umschlag) of the concern that discovers zuhanden beings, »then a transcendence of Dasein must already underlie ›prac­ tical‹ being by zuhanden beings«.17 This concept of the transcendence of Dasein that will become the central characterization of Dasein between 1927 and 1930 thus alre­ ady appeared in Sein und Zeit. In this context, however, transcendence is only considered the condition of possibility of the encounter and objectification of zuhanden and vorhanden beings. The importance of that concept will grow in the following years so to become the origin not only of this Thematisierung, but also of constitutive phenomena such as understanding of being, being-in-the-world, thrownness, truth, ontological difference and so on.18 Starting with the 1927 Basic Problems of Phenomenology, Heidegger will characterize as transcendental any type of ontological comportment towards beings, that is, any type of comportment that requires surpassing beings toward their own being.19 This »originary transcendence« (Urtranszendenz)20 is not a mere intentional comportment towards beings (»ontical transcendence«), but rather a surpassing of beings toward their own being. This surpassing is not a »character« of Dasein, but rather its »originary

. On that issue, see Ingtraud Görland, Transzendenz und Selbst. Eine Phase in Heideggers Denken, Frankfurt: Klostermann, 1981, 40 and 92. 15 . Sein und Zeit, 366. 16 . Ibid., 363. 17 . Ibid., 363–364. 18 . See Einleitung in die Philosophie, GA 27, Frankfurt: Klostermann, 1996, 209–210 and 307. 19 . On this concept, see my La métaphysique du Dasein. Heidegger et la possibilité de la métaphysique (1927–1930), Bucarest: Zeta Books, 2010, 214–236. 20 . Metaphysische Anfängsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, Frank­ furt: Klostermann, 1978, 170 and 194. 14

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act,« the Urhandlung des Daseins.21 Transcendence is no longer the quality of some superior being (as transcendent) or the character of the object (as opposed to the subject’s immanence), but rather some sort of continuous activity that is to be found at the ground of any relation to beings. If this phenomenon acquires such importance at that time, it is because Heidegger considers it the fundamental constitution of any possible comportment of Dasein22. In Vom Wesen des Grundes, Heidegger highlights the importance of the concept as follows: Transcendence … means something that properly pertains to human Dasein, and does so not merely as one kind of comportment among other possible kinds that are undertaken from time to time. Rather, it belongs to human Dasein as the fundamental constitution of this being, one that occurs prior to all comportments.23

4. The traditional concepts of transcendence The centrality of the concept of the transcendence of Dasein between 1927 and 1930 could lead us to characterize Heidegger’s philosophical thought as a form of transcendental philosophy. But what does it mean exactly to be part of »transcendental philosophy«? Didn’t Heidegger insist on defining his own concept of transcendence in opposition to all traditional concepts of transcendence, as a Urtranszendenz? And didn’t Heidegger consider this transcendence to be the basis on which every transcendental philosophy wrongly elaborated its own concept of transcendence? That is surely so. In his 1928 lecture course on Leibniz—just a few weeks before the conferences in Riga—, Heidegger dedicated important pages to an explanation of this issue. In this lecture course, Heidegger explores the many meanings of the philosophical terms »transcendence« and »transcendent«. . GA 27, 214. On this »originary act«, see J. Greisch, »Der philosophische Umbruch in den Jahren 1928–32. Von der Fundamentalontologie zur Metaphysik des Da-seins«, in Dieter Thomä (ed.), Heidegger Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler, 2003, 117. 22 . »Transcendence is not just one possible comportment (among others) of Dasein toward other beings, but it is the basic constitution of its being, on the basis of which Dasein can at all relate to beings in the first place« (GA 26, 211). However, this is not limited to theoretical relations with beings: »Transcendence precedes every possible mode of activity in general, prior to νόησις, but also prior to ὄρεξις« (ibid., 236). 23 Wegmarken, GA 9, Frankfurt: Klostermann, 1976, 137. 21

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Heidegger writes that this adjective can be understood in two different manners: whether as the opposite of »immanent« or as the opposite of »contingent,« corresponding in each case to a different philosophi­ cal problem. In the first case, immanent refers to what remains inside con­ sciousness, inside the subject, as opposed to what is outside of it. This concept of transcendence comes from the modern conception of the subject, represented as a capsule, an idea that probably appeared with Descartes and occupied philosophy from Locke to Husserl. According to this idea, there would be a frontier between what is inside of our consciousness and what lies outside of it. The transcending movement is here to be understood as the crossing of the barrier that separates the inside from the outside. This first philosophical problem depends on this conception of human existence or subject based on the »representation of a capsule«24 that Heidegger rejected as the unacceptable modern philosophical point of departure, presenting Dasein as an adequate substitute to it. As Heidegger writes in Vom Wesen des Grundes, Certainly a characterization of transcendence as the fundamental struc­ ture of »subjectivity« initially accomplishes little with respect to our penetrating into this constitution of Dasein. On the contrary, because we have now specifically warded off in general any explicit, or usually inexplicit, approach via the concept of a subject, transcendence may also no longer be determined as a »subject-object relation.« In that case, transcendent Dasein (already a tautological expression) surpasses neither a »boundary« placed before the subject, forcing it in advance to remain inside (immanence), nor a »gap« separating it from the object.25

In the second case, transcendent is defined as the opposite of con­ tingent. Transcendence would characterize that which lies beyond beings and constitutes the condition of possibility of finite beings. The transcendental relation established here is not the one between the subject and its objects as in the first case, but rather the one between conditioned and unconditioned beings: Being-beyond (Hinausliegen), in this case, expresses at the same time a difference in the degree of being, or better, the infinite difference of the

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. GA 26, 205. . GA 9, 138.

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created from the creator, were we to substitute God, as understood by Christians, for the transcendent, which we need not do.26

Instead of an epistemological conception of transcendence, we should here talk of a theological conception of it. Heidegger’s usual criticism of this second type of transcendence is based on the fact that it explains the being of beings in reference to another being that would lie beyond them. Heidegger’s concept of the transcendence of Dasein is presented as the original understanding of transcendence and as a criticism of both traditional concepts. But one may argue that Heidegger leaves aside the real concept of transcendence that we have in mind when thinking about transcendental philosophy, namely, the one that appears in Kant’s Critique of Pure Reason. In this lecture course on Leibniz, however, Heidegger does mention Kant but only to defend the thesis according to which Kant’s conception of transcendence basi­ cally connects both the epistemological and the theological concepts, an effort that, Heidegger writes, »succeeded only in part and did not make the transcendence problem central to him.«27 In order to present Kant’s concept of the transcendental in this 1928 lecture course, Heidegger does not refer to the canonical definition given by Kant in the Introduction to the Kritik der reinen Vernunft, but to the first edition’s commentary on the »Paralogismus der reinen Vernunft« (A 373) where Kant refers to a specific concept of transcendence. In this text, Kant defines the meaning of the expression »outside us« (außer uns). First, »outside us« means belonging to the phenomenon (Erscheinung) -as opposed to the understanding; next, it can also mean belonging to the thing in itself (Ding an sich) as opposed to the phenomenon. In the first case, we would deal with the epistemological problem—that of the possibility of knowing what’s outside consciousness—while in the second, we would deal with the theological problem insofar as it considers what’s outside the conditioned realm of beings. Kant will use the word »empirical« to characterize the way in which phenomena are »outside us« and »transcendental«28 the way in which the thing in itself is »outside us« —that is, outside our possibility of experience. Heidegger concludes . GA 26, 206–7. . Ibid., 208. 28 . This misuse of the adjective »transcendental« for »transcendent« is quite typical in both editions of the Kritik der reinen Vernunft.

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from this that transcendence »in the Kantian sense«29 is a concept that is oriented towards the two traditional conceptions of transcendence, both the epistemological and the theological. Although it is not impossible to understand the whole of Kant’s Critique of Pure Reason as a »circling around the problem of transcen­ dence« and to defend that Kant hasn’t »secured up this transcendence phenomenon radically from the ground up,«30 it can surely be argued that Heidegger’s interpretation of Kant’s concept of transcendence leaves what’s most important aside. In fact, Kant’s main use of the concept of transcendence has little to do with the epistemological and the theological meanings and it could be shown that this precise use of the word »transcendental« to describe how the thing in itself lies beyond the possibility of experience is far from being Kant’s normal use of the word. If Kant is to be considered the begetter of »transcendental philosophy,« it is not because he retrieved a medieval conception of transcendence, but mainly because he invented a new way of understanding philosophy’s task, giving the adjective »trans­ cendental« a completely new meaning that Heidegger knows very well but curiously avoids mentioning here, leaving his discussion of the concept of transcendence incomplete and surely unsatisfying.

5. Heidegger’s Kantian Kehre This refusal to recognize the value of Kant’s account of transcendence is surely hard to explain insofar as Heidegger is then at the peak of his »love story«31 with Kant. One semester before, he presented his Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft (1927/28) in which he established clear parallels between Kant’s transcendental idealism and his own fundamental ontology. During the Fall of 1928, Heidegger travels to Riga to give his talks on Kant which would become the Davos lectures and the Kantbuch in the Spring of 1929. In all these texts and conferences, Heidegger presents his metaphysical interpretation of Kant’s Kritik der reinen Vernunft . GA 26, 208. . Ibid., 210. 31 . See the letters to Karl Jaspers from December 10th 1925 and December 26th 1926 (M. Heidegger and K. Jaspers, Briefwechsel. 1920–1963, Frankfurt a. M., Kloster­ mann, 1990). 29

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as a way into Sein und Zeit’s question of being and never hesitate to consider his own philosophical endeavor as a »transcendental science of being« that would retrieve Kant’s »concept of the transcendental«.32 In his phenomenological interpretation of Kant’s Kritik der reinen Vernunft, Heidegger draws clear parallels between his philosophical project and Kant’s. According to Heidegger, both Kant and him are asking the same question about the possibility of metaphysics, alt­ hough the question »how are synthetic a priori judgments possible?« has to be transformed in this new one: »how is the pre-ontological understanding of the being of beings possible?«33 Heidegger also recognizes that their answers are the same: it is time that makes possible both our a priori knowledge and our pre-ontological under­ standing of being. Heidegger also insists on the fact that what Kant understood as transcendental questioning has to be translated into his own philosophical system as »ontological questioning.«

6. What is Transcendental Philosophy? In this Umbruchszeit of the Metaphysics of Dasein, Heidegger thus recognizes the importance of Kant’s transcendental orientation for his own philosophical project. But once again, we have to ask the question whether Heidegger has to be considered part of what is then called »transcendental philosophy«. If we wanted to quickly characterize »transcendental philosophy,« we would have to define it as a sort of philosophy that is concerned with the conditions of possibility of knowledge. According to the »canonical« definition in the Kritik der reinen Vernunft, Kant calls »transcendental knowledge« that type of »knowledge that is occupied not so much with objects but rather with our mode of cognition of objects insofar as this is to be possible a priori« (B 25). If we stay too close to the letter of the first Critique, we might not understand why Heidegger could be interested in transcendental knowledge, which is something that should fall under Heidegger’s criticism of Kant’s orientation towards the knowledge of beings and not towards our concern for them. But Heidegger thinks he can somehow translate Kant’s thesis in his own ontological vocabulary. In the Kantbuch, he writes: . Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, Frankfurt: Klostermann, 1975, 23. . Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, GA 25, Frankfurt: Klostermann, 1977, 51.

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Transcendental knowledge does not investigate the being itself (das Seiende selbst), but rather the possibility of the preliminary understan­ ding of being, that is, at the same time, the ontological constitution of beings… To make the possibility of ontology into a problem means: to inquire as to the possibility or the essence of this transcendence of the understanding of being, [it means] to philosophize transcendentally.34

According to this, Kant’s transcendental philosophy could be under­ stood as a way into the ontological difference. If Heidegger has to be considered a transcendental philosopher, it is not for the use of the concept of »transcendence,« but rather because he is interested in a knowledge that is occupied not so much with beings but rather with the ontological condition of possibility of our encounter with beings. And here we have to agree with Gadamer: Sein und Zeit is a transcendental transfiguration of what Heidegger presented in his lecture courses of the 1920s. If we can talk of a pre-transcendental phase in Heidegger’s work, this means that the Hermeneutics of Facticity is—as was phenome­ nology considered as a descriptive science—not yet concerned with the conditions of possibility of the phenomena it deals with. If we take the 1923 summer semester lecture course as an example, this would mean that Heidegger is not so much concerned with what makes its main phenomena—Dasein, Bedeutsamkeit, Faktizität, and so on—possible, but rather with some descriptive knowledge of them. Although this thesis would require much discussion and although I am not sure it is possible to justify it, we have to highlight the fact that Heidegger never employs in this 1923 lecture course the concepts of possibility and condition in the sense of a »possibilitation« (Ermöglichung), something that is very usual in Sein und Zeit where, as one example among many, Zeitlichkeit is considered the condition of possibility of Geschichtlichkeit, and Geschichtlichkeit that of Historie and so on. Insofar as ontological structures make possible the ontical phenomena, Sein und Zeit has to be considered a transcendental . Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, Frankfurt: Klostermann, 1991, 16. See earlier in the summer semester 1927: »Transcendental knowledge relates not to objects, not to beings, but rather to the concepts that determine the being of beings… Transcendental philosophy means nothing but ontology« (GA 24, 180); and during the winter semester 1927/28: »Transcendental knowledge is a knowledge which investigates the possibility of a [pre-ontological] understanding of being…; and such an investigation is the task of ontology. Transcendental knowledge is ontological knowledge« (GA 25, 186).

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philosophical treatise in a sense that has no counterpart in the earlier years. In Sein und Zeit, the understanding of being is considered the factum upon which it becomes possible to inquire into the ontological conditions of possibility of the ontical encounter with beings.

7. The 1936 Reading of Sein und Zeit To close this short paper, I would like to take a brief look at Heidegger’s reading of Sein und Zeit and Vom Wesen des Grundes that took place in 1936, ten years after the writing of his Hauptwerk. In the last years, Klostermann has published two volumes with important comments that Heidegger made on his own writings35. What is at stake with this criticism of Sein und Zeit is not the use of a transcendental vocabulary—which could be more or less original and authentic— but something much more important: the fact that the framework in which Heidegger posed the question of being at the end of the 1920’s is a transcendental one. According to Heidegger in 1936, Sein und Zeit was not just the translation of the question of being into a transcendental context, but the question of being itself was a transcendental one. The philosophical attempt to disclose the conditions of possibility of our encounter with beings is precisely what Heidegger no longer accepts in 1936. And that’s why the criticism of Sein und Zeit’s trans­ cendental framework that Heidegger will expose in his 1936 reading of the book is much more decisive than later criticisms such as the one found in the Brief über den »Humanismus« where Heidegger considers Sein und Zeit’s failure as linked to its use of a certain vocabulary, namely, that of the »language of metaphysics«36. As Heidegger also writes in the same text, In order to make the attempt at thinking recognizable and at the same time understandable for existing philosophy, it could at first be

35 . In volume 73.2, Zum Ereignis-Denken (Frankfurt: Klostermann, 2013), we find the 1936 Anmerkungen zu Vom Wesen des Grundes and in volume 82, Zu eigenen Veröffent­ lichungen (Frankfurt: Klostermann, 2018), we find the 1936 Laufende Anmerkungen zu »Sein und Zeit« and Eine Auseinandersetzung mit »Sein und Zeit«. 36 . GA 9, 328.

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expressed only within the horizon of philosophy and the use of its current terms.37

Heidegger surely has in mind his attempt to pose the question of being within a context that is altogether phenomenological, hermeneutical, existential, ontological and, last but not least, transcendental.38 Accor­ ding to the Brief über den »Humanismus,« the question of being should and could have been expressed in the adequate language, but it was preferable at the time to try this translation in traditional language. Apart from the Brief über den »Humanismus,« we now have access to many self-interpretations of Sein und Zeit in which Heidegger considers that his use of traditional philosophical termino­ logy was a concession he had to make in 1927 in order to be understood by his contemporaries (e.g. Black Notebooks). As he will later write in his 1941 lecture course on German Idealism, it was against his own will that he »had to speak the language of his time and adopt its ways of thinking«.39 This interpretation is at least partially true and we have seen that some uses of the transcendental vocabulary in Sein und Zeit probably responds to that need. But this interpretation always supposes that behind these terminological appearances, Heidegger was already thinking otherwise, namely, no longer in the transcenden­ tal fashion and already leaped in the Ereignis-Denken. The criticism of 1936, at the moment when he starts the writing of the Beiträge zur Philosophie, is more radical than that of the 1940s as it considers that Sein und Zeit’s error has little to do with the vocabulary used to express the thinking and much with the modus operandi adopted in the work. According to Heidegger in 1936, in Sein und Zeit and in Vom Wesen des Grundes »everything still remains on the level of the questioning on the conditions of possibility of the manifestation of beings (Möglichkeitsbedingungen für die Offenbarkeit des Seienden)«.40 Even though Heidegger considers—as he often does41—that the third section of Vom Wesen des Grundes has to be con­ sidered the first step towards what Heidegger then calls the »second«

. Ibid., 357. . See GA 82, 11. 39 . Die Metaphysik des deutschen Idealismus, GA 49, Frankfurt: Klostermann, 1991, 28. 40 . GA 73.2, 1079. 41 . See Jaran, 2010.

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beginning,42 it is nonetheless still hindered by »the orientation on [1] the transcendence and on [2] the question of possibility and on [3] the understanding of being«.43 This criticism doesn’t insist on the use of a transcendental voca­ bulary but on something much more relevant: the transcendental will behind the 1927 formulation of the question of being as a question concerned with the understanding of being. This is linked to what Heidegger identifies as Sein und Zeit’s obsession with the modus operandi—that is, the Verfahren or the Vorgehen—, what he also calls the Frage-bau or the Gerüst, a scaffold or a framework that Sein und Zeit methodically follows instead of carrying through the leap that would lead thinking into the Ereignis-Denken. Heidegger describes this modus operandi as follows: Sein und Zeit asks the question of being in such a way that the disclosure of the conditions of possibility of our understanding of being counts as the answer to the question of being. What Sein und Zeit calls the Seinsfrage is in reality only the Seinsverständnisfrage. This procedure limits being to what a Dasein can understand of it, to what penetrates its understandability.44 The concept of the understanding of being had the intention of going further than the phenomenological, the neo-Kantian, and the existential philosophical endeavors, but ended up falling prey to transcendental philosophy. Its orientation on the meaning of being is just another consequence of this hermeneutical fascination for understanding. Sein und Zeit’s dependence on trans­ cendental philosophy would be responsible, according to Heidegger, for this transformation of the Seinsfrage into a Seinsverständnisfrage and the transformation of the latter in a Möglichkeitsfrage.45 In the end, Sein und Zeit is a philosophical treatise that deals with the question of the conditions of possibility of our understanding of being and not with being itself. Heidegger also considers that Dasein itself is understood in Sein und Zeit taking this Seinsverständnisfrage as a point of depar­ ture. To understand Dasein out of being is not a mistake in itself, writes Heidegger, but it is one when you limit being to Dasein’s understanding of being. Dasein is surely what relates to being—but 42 43 44 45

. In the years 1936–1937, Heidegger doesn’t yet talk about the »other« beginning. . GA 73.2, 1081. . GA 82, 13. . Ibid., 28.

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not what seizes being thanks to its understanding. Understanding of being would be, in the end, only a by-product of the consciousness perspective and of transcendental philosophy.46 Instead of this questioning concerned with the conditions of possibility of the manifestation of beings, Heidegger then proposes a »projecting leap in the ground of Menschsein [considered here] the preserver of the truth of beyng.«47 Instead of approaching being taking understanding as a point of departure, philosophy has to think being as a happening. That’s the leap that goes from Sein und Zeit to the Beiträge, from Seinsverständnis to Seinsgeschehnis. In this new perspective, Dasein no longer is something we ought to describe, but something we ought to become. Dasein is not something given (nichts Gegebenes) or something to be found (vorzufinden), but something that must be accomplished or created (vollzogen, geschaffen). According to Heidegger, the analytic of Dasein is thus a dead-end.48 Following these commentaries, Sein und Zeit ends up being a mere improvement of traditional philosophy, a better transcendental effort,49 a more adequate description of the subject-object relation,50 instead of being a leap out of traditional philosophy. Sein und Zeit only was a Kritik der reinen Vernunft that no longer limited itself to scientific knowledge.51 But Heidegger now thinks that while it tries to improve what was already done in past, Sein und Zeit is only delaying the real beginning of philosophy.52 However, this path has at least succeeded in preparing the expe­ rience of the Fragwürdigkeit of the question of being. Thanks to Sein und Zeit, it became clear, Heidegger writes, that the other beginning requires the rejection of anything like »investigation«, ontology, understanding of being and »possibilitations« (Ermöglichungen).53 This overcoming of the Seinverständnisfrage opens up the possibility

. Ibid., 34. . Ibid., 21. 48 . Ibid., 39. We don’t need to describe Dasein, but rather to bring the Da into effect (erwirkt) (ibid., 45). 49 . Ibid., 29. 50 . Ibid., 57. 51 . Ibid., 27. 52 . Ibid., 58. 53 . Ibid., 135. 46

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of an authentic Meta-physik des Daseins, one that, to be sure, should not be confused with the one presented in the Kantbuch.54 *** Although Heidegger then considers the fundamental ontology as a failed approach to the problem of being, we know very well that he will never deny the importance of this first ontological break-through. As Heidegger already confessed in the first volume of the Black Notebooks dated from 1931: »there is no option but to write this book and only this book again and again. [Even] at the risk of remaining a homo unius libri«, that is, the man of only one book.55 What’s interesting with the criticism we find in 1936 is the attack on the concept of the understanding of being, which serves as the foundation of the fundamental ontology. In comparison, later interpretations of Sein und Zeit—such as the one we find in the 1941 lecture course on German Idealism—will even try to save this concept from its transcendental interpretation, defending that this understanding of being doesn’t imply that being only is accessible through human projection of its meaning, but rather that Dasein is determined and adjusted by what is then projected.56 In 1936, at the beginning of the writing of the Beiträge, Heidegger is much more critical than he will later be. The criticism goes even further in 1936 if we take into account the unfavorable interpretation that Heidegger does of Sein und Zeit’s basic concepts such as being-in-the-world, Dasein or truth. All these central concepts are criticized for being too determined by the traditional con­ cepts they are supposed to replace. Being-in-the-world and Dasein, for example, were elaborated as counterattacks to the concept of subject and to the subject-object relation. The pre-predicative truth, according to the same idea, is completely determined by the conception of truth as predicative truth. Heidegger thus applies to his own treatise the same criticism he will address Nietzsche in the 1940s and that can be summarized with this important sentence taken from the Brief über den »Humanismus« according to which »the reversal of a metaphysical . Ibid., 131. . Überlegungen II–VI (Schwarze Hefte 1931–1938), GA 94, Frankfurt: Klostermann, 2014, 22. 56 . GA 49, 68. 54 55

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statement remains a metaphysical statement«.57 In order to think correctly the relation between Dasein and its world, the method used in Sein und Zeit—which consist in taking Descartes and its fascination for the knowledge as a counterexample—is a false path. If Heidegger highlights the fact that Nietzsche’s attempt to destroy metaphysics only helped him build an »inverted Platonism,« he now addresses the same criticism to Sein und Zeit, calling it »a simply more original Platonism« or »a modified Platonism«.58 These criticisms surely seem unfair. For anyone who read Sein und Zeit with attention and was drawn by this radical renewal of transcendental philosophy, this attempt to reduce Sein und Zeit’s modus operandi to a poor inversion of modern philosophy doesn’t do justice to it. This interpretation is nonetheless a good justification for the need of a new philosophical beginning that would establish a much more radical rupture with traditional philosophy such as the one attempted in the Beiträge. But as we are celebrating here Heidegger’s Umbruchszeit and not the Ereignis-Denken, I think I can confess—without having fingers pointed at me—that Sein und Zeit and the texts from the years 1928– 1932 with their all too transcendental approach to the question of being are still more appealing than the later attempt to radically overcome traditional philosophy.59

. GA 9, 328. . GA 82, 16 and 28. Further, Heidegger speaks of Sein und Zeit as »a refined positivism« (GA 82, 58). 59 . Support for this research was provided by the Spanish Ministry of Science, Innovation and Universities (Plan Nacional I+D, FFI 2015–6394-P). 57

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Die Metontologie als mögliche Entwicklung von Heideggers Denken am Ende der zwanziger Jahre

Die Absicht der vorliegenden Arbeit ist es, eine mögliche Entwicklung von Heideggers Denken aufzuzeigen, die nicht durch den Abschluss seines philosophischen Weges bestimmt ist, sondern durch den Moment, in dem es in seinem zentralen Charakter erschien, ohne dass seine endgültige Richtung noch klar war. Das ist in der Passage zwischen den Jahren 20 und 30 des zwanzigsten Jahrhunderts. Diese Entwicklung, die den Heideggerʼschen Gedanken von dem, was vor allem nach dem Krieg war, irgendwie entlauben will, geht in dieser Weise mit der Absicht voran, neues Leben zu geben und den von dieser Philosophie eingeleiteten Weg zu ihrem pars construens in seiner streng ethischen Art zu führen, welches in diesen Jahren oft im Hintergrund erschien und später aufgegeben oder missverstan­ den wurde. Ohne zu vertiefen, wodurch das geschehen ist, geht es hier viel­ mehr darum, zu verstehen, wo dieser positive Aspekt von Heideggers Denken in noch lebenswichtiger Weise wieder aufgenommen werden kann und vor allem, wie er in einer eigentlichen Revolution des Menschen entwickelt werden kann, zumindest in seinen Prodromen. Es wurde gesagt, dass der Übergang zwischen den Jahren 20 und 30 ein ausgezeichneter Moment für diesen positiven Charakter ist, nicht nur weil die Fundamentalontologie hauptsächlich in diesen Jahren ausgeführt wird, sondern weil ab dem Jahr ’28 die Marburger Vorlesung Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz für dieses Argument von zentraler Bedeutung ist. Diese Vorlesung, die sich auf das Verhältnis zu Leibniz konzentriert, enthält nicht nur in mancher Hinsicht die wesentlichen Entwicklungen von Heideggers Gesamtgedanken, sondern stellt ausdrücklich ein Wort

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vor, um den positiven Aspekt seines Denkens zu definieren: dieses Wort ist Metontologie. Was ist Metontologie? Heidegger nennt sie hier in einigen grundlegenden Passagen und definiert sie unter anderem als das wesentliche Gegenstück der Fundamentalontologie, das reale Feld der Ethik und die Konkretion der ontologischen Differenz. Das Wort »Metontologie« ist daher keine zufällig entstandene Prägung in einem sprachlichen Zugeständnis an einen vagen und sekundären Begriff, sondern weist auf einen Grundcharakter von Heideggers Denken hin, nämlich den Ankunftspunkt, die wesentliche Entwicklung und in sich die notwendige Umkehrung der Fundamentalontologie, sobald diese für ihre Radikalisierung erreicht wurde. Um dies zu verdeutlichen, gehen wir von dem folgenden Abschnitt der ersten Stelle aus, dessen Grundbedeutung, obwohl sie in dieser Prägung außerhalb des Ver­ laufs nicht mehr wieder aufgegriffen wird, zeigt sich in den Verweisen auf das, was Heidegger in diesen Jahren Metaphysik der Existenz nennt, die Existenz durch das Dasein ersetzend.1 Ich zitiere Heidegger: 1 Das Wort »Metaontologie« wird in anderen heideggerischen Texten, weder in den Vorlesungen noch in den zur Veröffentlichung verfassten Texten, wieder vorkommen. Die grundlegende Frage, die dieses Wort bezeichnet, nämlich der Versuch, an das wesentliche Gegenstück zur fundamentalen Ontologie zu denken, dominiert jedoch weiterhin Heideggers Reflexion in den folgenden Jahren, hauptsächlich durch den neu formulierten Ausdruck Metaphysik des Daseins. Tatsächlich wird dieser Ausdruck ab Ende der 1920er Jahre die metaontologische Instanz der metaphysischen und positi­ ven Entwicklung der Seinsfrage zur Frage über die Beziehung zwischen Mensch, Welt und Gott, obwohl er nicht mehr so klar herausgestellt wird wie während ›28. Die engsten Hinweise auf diese terminologische Änderung bei der Aufrechterhaltung des zurückgerufenen Problems sind M. Heidegger, Einleitung in die Philosophie (Freibur­ ger Vorlesung WS 1928/29), in Gesamtausgabe, Band 27, hrsg. von O. Saame und I. Saame-Speidel, Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 1996, §§ 19 und 30; Id., Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie (Freiburger Vorlesung SS 1930), in Gesamtausgabe, Band 31, hrsg. von H. Tietjen, Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 1982, § 21 b, und Id., Kant und das Problem der Metaphysik (Verlag Friedrich Cohen, Bonn 1929), in Gesamtausgabe, Band 3, hrsg. von F.-W. von Herr­ mann, Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 1991, 231 und ff. Über eine Passage davon wird hier berichtet: «Keine Anthropologie, die ihr eigenes Fragen und dessen Voraus­ setzungen noch versteht, kann beanspruchen, auch nur das Problem einer Grundle­ gung der Metaphysik zu entwickeln, geschweige denn, sie durchzuführen. Die für eine Grundlegung der Metaphysik notwendige Frage, was der Mensch sei, übernimmt die Metaphysik des Daseins. Der Ausdruck ist in einem positiven Sinne zweideutig. Die Metaphysik des Daseins ist nicht nur Metaphysik über das Dasein, sondern es ist die als Dasein notwendig geschehende Metaphysik.» Zu diesen Themen siehe F. Cassi­ nari, Mondo, esistenza, verità. Ontologia fondamentale e cosmologia fenomenologica

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Die Metontologie als mögliche Entwicklung von Heideggers Denken

Die Möglichkeit, daß es Sein im Verstehen gibt, hat zur Voraussetzung die faktische Existenz des Daseins, und diese wiederum das faktische Vorhandensein der Natur. Gerade im Horizont des radikal gestellten Seinsproblems zeigt sich, daß all das nur sichtbar ist und als Sein verstanden werden kann, wenn eine mögliche Totalität von Seiendem schon da ist. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit einer eigentümlichen Proble­ matik, die nun das Seiende im Ganzen zum Thema hat. Diese neue Fragestellung liegt im Wesen der Ontologie selbst und ergibt sich aus ihrem Umschlag, ihrer μεταβολή. Diese Problematik bezeichne ich als Metontologie. Und hier im Bezirk des metontologisch-existenziellen Fragens ist auch der Bezirk der Metaphysik der Existenz (hier erst läßt sich die Frage der Ethik stellen).2

Hier erinnert sich Heidegger daran, dass, um das Sein zu verstehen, d.h. ein Seinsverständnis gegeben sein kann, es notwendig ist, dass es ein Dasein gibt. Nichts Neues in dem Heidegger’schen Denken: das Dasein, als Ort der Seinsoffenheit, gibt sich das Seiende immer und nur in dem Verständnis, das es hat. Aber dazu kommt noch etwas anderes, das weniger offensichtlich ist: die faktische Existenz des Daseins erfordert die faktische Vorhandenheit der Natur. Das Vor­ handensein der Natur ist die Art der Seienden, sich im Horizont der Manifestation, der sein kann, als etwas Fremdes zu zeigen, das da ist, scheinbar in sich selbst. Die Radikalisierung des Seinsproblems führt daher zu folgendem: damit das Sein im Verstehen gegeben werden kann und es den Seienden erlaubt, sich als etwas zu zeigen, muß nicht nur ein Dasein, sondern auch eine Totalität der Seienden sein, in der das Dasein schon immer enthalten ist. In dieser Radikalisierung des Seinsproblems wird daher ein Diskurs notwendig, der vom Sein auf die Totalität der Seienden, bzw. auf das Ganze der Seienden, sich bewegt. Bevor wir weitergehen und den zweiten Teil des Zitats anspre­ chen, ist es wichtig zu verstehen, was Heidegger hier mit dem Ganzen nella riflessione di Martin Heidegger (1927–30), La Città del Sole, Napoli 2001; A. Schnell, De l’existence ouverte au monde fini. Heidegger 1925–1930, Vrin, Paris 2005; F. Jaran, La métaphysique du Dasein. Heidegger et la possibilité de la métaphysique (1927–1930), Zeta Books, Bucarest 2010 und besonders L. Tengelyi, L’idée de méton­ tologie et la vision du monde selon Heidegger, in «Heidegger Studien» 27, Zürich 2011. 2 M. Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik. Im Ausgang von Leibniz (Marburger Vorlesung SS 1928), in Gesamtausgabe, Band 26, hrsg. von K. Held, Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 1990 (I ed. 1978), 199.

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der Seienden meint. Um dies zu tun, wird die Vorlesung aus den 30er Jahren in Erinnerung gerufen, Vom Wesen der menschlichen Freiheit, wo das Ganze des Seienden als «Welt und Gott»3 definiert wird, und Gott wiederum als Fundament der Welt. Diese Vorlesung wird nicht nur deshalb in Erinnerung gerufen, weil sie nur zwei Jahre nach der von 1928 abgehalten wird, sondern weil diese Definition diejenige ist, die uns am besten und im einfachsten Sinne den Punkt verstehen läßt, auch nach dem, was später gesagt wird. Das Ganze des Seienden ist diese Totalität, nicht durch die Summe der Elemente erhalten, konstituiert sowohl von der Welt, die »Natur und Geschichte« ist, als auch von dem Grund der Welt. Die Totalität des Seienden ist daher jene Totalität, die zugleich durch die Idee der Welt vorgestellt ist und mit einem Grund ausgestattet ist. Diese Totalität als eine gegründete Welt wird nun, in der Radikalisierung des Seinsproblems, zum Thema. Das ist daher das eigentliche Thema der Metontologie: die Welt als Totalität in Bezug auf ihren Grund. Lassen wir für den Augenblick den Bezug auf die Metaphysik der Existenz und auf die ethische Frage beiseite. Vielmehr konzentrieren wir uns darauf, zu verstehen, weil diese neue Befragung, die, wie Heidegger sagt, im Wesen der Ontologie liegt, sich als Umkehrung der Ontologie äußert. Mit Ontologie meint Heidegger hier seine Fundamentalontologie und erinnert sich so an die zweite Passage der Vorlesung von 1928, um die Bedeutung der Metontologie als eine positive Entwicklung von Heideggers Denken zu verstehen. Ich zitiere: Fundamentalontologie und Metontologie in ihrer Einheit bilden den Begriff der Metaphysik. Aber darin kommt nur zum Ausdruck die Verwandlung des einen Grundproblems der Philosophie selbst, das schon oben und in der Einleitung berührt wurde mit dem Doppelbegriff von Philosophie als πρώτη φιλοσοφία und ϑεολογία. Und dies ist nur die jeweilige Konkretion der ontologischen Differenz, d. h. die Konkretion des Vollzuges des Seinsverständnisses. Mit anderen Worten: Philoso­ phie ist die zentrale und totale Konkretion des metaphysischen Wesens der Existenz.4

Das Ganze von Fundamentalontologie und Metontologie konstitu­ iert den authentischen Begriff der Metaphysik. Diese Bestätigung

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M. Heidegger, Vom Wesen der menschlichen Freiheit, zit., 5. M. Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, zit., 202.

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Die Metontologie als mögliche Entwicklung von Heideggers Denken

der wesentlichen Duplizität der Metaphysik wird von Heidegger unmittelbar bekräftigt im Bezug auf die aristotelische Unterscheidung zwischen πρώτη φιλοσοφία und θεολογία, erste Philosophie und Theologie, die von Suarez wieder aufgenommen wird, und durch Wolff zu Kant als Unterscheidung zwischen metaphysica generalis und metaphysica specialis erreicht. Das bedeutet, dass auch für Heidegger die Metaphysik strukturell zweigeteilt ist, wie von einem Großteil der philosophischen Tradition berichtet, aber nicht nur. Diese Dupli­ zität ist Ausdruck eines einzigen Grundproblems, das einerseits als Seinsfrage und andererseits als Frage über das Fundament der Welt bestimmt ist, oder besser nach der späteren metaphysica specialis wie einer Frage nach der Totalität des Seienden als Frage von Seele, Welt und Gott. Also, auf der einen Seite das Sein und auf der anderen das Ganze des Seienden, in den drei genannten Aspekten, wo die Seele die Rolle des Daseins hat, wie in der Vorlesung vom Wintersemester 1931–32, Vom Wesen der Wahrheit, gezeigt wird.5 Zwischen dem Sein und dem Ganzen des Seienden, in der Vereinigung der beiden, stellt Heidegger das fundamentale Problem der Metaphysik, nämlich gerade die ontologische Differenz.6 Dieses Problem stellt sich jedoch nicht als abstrakte Konzeption oder dogmatische Theorie heraus, sondern manifestiert sich immer als eine »Konkretion« derselben, d.h. als Umsetzung des Seinsverständnisses. Was bedeutet gründlich: als Existenz. Um dies zu verdeutlichen, gehen wir ein paar Schritte zurück. In dem ungewöhnlichen Wort »Konkretion« wird die Aggregation und damit die Neuzusammensetzung der ontologischen Differenz verstanden. Diese Neuzusammensetzung ist jedoch kein dialektischer oder logischer Prozess, sondern Konkretion im trivialen Sinn der Konkretisierung dieser Duplizität. Die wesentliche Duplizität der Metaphysik, die durch ihr grundsätzliches Problem als ontologische Differenz gegeben ist, setzt sich bereits in der Umsetzung des Seins­ 5 Siehe M. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet (Freiburger Vorlesung SS 1931/32), in Gesamtausgabe, Band 34, hrsg. von H. Mörchen, Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 1988. 6 Zur Frage der ontologischen Differenz bei Heidegger und seiner Entwicklung siehe insbesondere A. Ardovino (hrsg. von), Sentieri della differenza. Per un’introduzione a Heidegger, Nuova Editrice Universitaria, Roma 2008. Für eine ausführlichere Lektüre des Themas der Differenz in Heideggers Denken im Allgemeinen wird unter anderem erwähnt M. Marassi, Ermeneutica della differenza. Saggio su Heidegger, Vita e Pensiero, Milano 1990.

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verständnisses wieder zusammen. Aber was ist notwendig, um zu einem Verständnis des Seins zu gelangen? Wie wir oben gesehen haben: die Existenz des Daseins und die Vorhandenheit der Natur. Das Wesen der Metaphysik liegt in der Existenz des Daseins innerhalb des Ganzen des Seienden. Hier wird das grundlegende Problem durch die Spaltung neu zusammengesetzt und umgesetzt. Was bedeutet: Das grundlegende Problem der Metaphysik ist die Existenz selbst, und die Existenz, als Umsetzung dieses Problems, ist im Wesentli­ chen metaphysisch. Philosophieren also ist es, das metaphysische Wesen der Existenz zu manifestieren, das Ganze zu transzendieren, aufbrechend das, was in ihm schon immer und unausdrücklich als Seinsverständnis umgesetzt ist, nämlich die ontologische Differenz, die Unterscheidung von Sein und Seiendem. Dazu müssen einige Dinge hinzugefügt werden, aber angesichts des begrenzten Umfangs dieser Arbeit werden wir versuchen, sie kurz mit dem bisher Gesagten zu verknüpfen, um die Linie, die wir im Prinzip gezogen haben, fortzusetzen. Wir haben gerade gesagt, dass die Existenz im Wesentlichen metaphysisch ist und dass das Grundproblem der Metaphysik die Existenz ist. Dies liegt daran, dass die Duplizität der Metaphysik jene Trennung widerspiegelt, die, auch wenn sie größtenteils vergessen ist, zwischen Sein und Seiendem liegt, und dass sie aus der Existenz des Daseins besteht, nämlich aus der Tatsache, dass es ein da gibt in Bezug darauf, dass ein Sein sich gibt. Dieser letzte Satz bedeutet: Um etwas sein zu können und sich zeigen zu können, empfangen zu werden, etwas zu sein, muss es zuerst ein Seiendes sein, in einem Horizont des Seins liegen, für denjenigen, der es betrachtet, der es empfängt, der es als etwas versteht. Etwas ist da und es ist da, weil es sich zeigt, das heißt es erscheint in einem Manifestationshorizont. Dies ist der grundlegende Punkt, auf dem diese Reflexion beruht. Die Rückkehr zu den Sachen selbst ist hier der Nullpunkt der Argumentation, von der wir aber nur sagen können, dass sie sind und sind in ihrem Sichzeigen. Was sie sind, wie sie sich zeigen und an wem sie sich zeigen, ist das, was entschieden werden muss, aber die Tatsache, dass etwas ist und ist, weil es sich zeigt, ist für solche Reflexion unzweifelhaft. Dies ist grob gesagt das Grundproblem der Fundamentalonto­ logie. Das wesentliche Gegenstück, das die Frage beantwortet, was die Dinge sind, wie sie sich zeigen und an wem sie sich zeigen, ist die Metontologie, und als ein wesentliches Gegenstück, das heißt, nach dem doppelten Aspekt der Metaphysik, ist diese Antwort nicht

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zweitrangig oder abgeleitet, im Gegenteil, es wird besser gesehen, dass es die erste und letzte Frage ist. Schließlich kann diese Antwort, und hier der von Heidegger ausgehende revolutionäre Aspekt der positiven Entwicklung, nicht als konzeptuelle Deduktion oder theore­ tische Schlussfolgerung gegeben werden, sondern wird nur als eine praktische Annahme gelöst, die Annahme dessen, was als das Ganze des Seienden antizipiert wurde. Wie wir sehen werden, wird diese Antwort gegeben als ein Übereinstimmen mit der offenen Welt auf dem Grund derselben. Weit davon entfernt, das ganze Problem der fundamentalen Ontologie in ihren Aspekten der Analytik des Daseins und der Zeit­ lichkeit des Seins wieder aufzunehmen, was wir hier ausführen wollen ist nur dieser zweite Aspekt. Zu diesem Zweck werden wir vorsichtig vorgehen und noch einmal auf die Frage »Was ist Metontologie?« zurückkommen. Jetzt abzulehnen: Was bedeutet Metontologie? Im Begriff der Metontologie, deren allgemeinstes Problem das ist, was Heidegger selbst als Metaphysik der Existenz bezeichnet, ist der Ruf nach Überwindung, nach Transzendenz zentral. In der Vorlesung von 1929, Einführung in die Philosophie, bekräftigt er ganz klar folgen­ des: «Philosophieren ist transzendieren».7 Schon im Sein und Zeit und in der ihm vorausgehenden Vorlesungen ist der Ruf zur Transzendenz so fundamental, dass er die Hauptdiskriminierung zwischen seinem Denken und dem von Husserl darstellt. Für Heidegger ist nämlich die Intentionalität, das Eigene des Husserlschen Bewusstseins, grund­ sätzlich nicht in der Lage zu transzendieren, d.h. aus sich selbst heraus zu gehen, wo doch die Transzendenz des Daseins, sein wesentlicher Charakter als Existenz, gerade immer draußen sein soll von sich selbst, kein gegebenes Wesen zu haben und daher nie ein bloßes Bewusstsein zu sein.8 Das Vorrecht, das Heidegger der Möglichkeit M. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, zit., 330. Siehe insbesondere M. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie (Mar­ burger Vorlesung SS 1927), in Gesamtausgabe, Band 24, hrsg. von F.-W. von Herr­ mann, Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 1975, 77 ff. Zum Vergleich zwischen Husserls und Heideggers Gedanken im Allgemeinen siehe G. Scrimieri, Fenomeno­ logia ed ermeneutica tra E. Husserl e M. Heidegger, Levante, Bari 1983, J. Stapleton, Husserl and Heidegger. The Question of a Phenomenological Beginning, State Univ. of New York Pr., Albany 1983 und R. Cristin, Fenomenologia. Edmund Husserl, Martin Heidegger, Unicopli, Milano 1999. In Bezug auf das spezifische Thema der Intentio­ nalität sollte darauf hingewiesen werden B. C. Hopkins, Intentionality in Husserl and Heidegger. The Problem of Original Method and Phenomenon of Phenomenology, Klu­ wer, Dordrecht-Boston-London 1993. 7

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zuweist, beruht gerade auf dem Primat des Sein-Könnens, das die Existenz charakterisiert.9 So der Heideggersche Versuch die klassische Ontologie, beja­ hend einer absoluten Wahrheit, durch eine fundamentale Ontologie zu überwinden, Träger statt einer veritas transcendentalis, bedarf einer Infragestellung jedes gegebenen Wesens. Dieser Versuch der Überwindung ist also transzendent in einem primären Sinn, bevor jedem Fixpunkt. Philosophieren ist transzendieren, jenseits gehen, draußen bleiben. Deshalb stellt sich die Fundamentalontologie als »existentiale Analytik des Daseins« dar, denn die Existenz, verstanden als Dasein, ist das eigentliche Aus-stehen, die eigentliche Transzen­ denz. Dies bedeutet nach dem hier vorgestellten Argument: Die Fundamentalontologie ist schon für Heidegger Transzendenz, Über­ windung, so dass von Meta-Ontologie sprechen, bedeutet sich über die Überwindung von Überwindung, über Transzendenz von Transzen­ denz, befragen. Die Bedeutung selbst hat den Ausdruck »Metaphysik der Existenz«, da die Existenz für Heidegger genau das ist, das ek-sistere, das außerhalb stehen von sich selbst, welches das Wesen des Daseins ist. Aber was bedeutet Transzendenz der Transzendenz, wenn diese Formel nicht bloßer flatus vocis ist? Einfach, dass die wesentliche Bedingung des Aus-stehen bereits immer darin überwunden wird, dass man sich im Inneren befindet, dass die transzendentale Wahrheit des Seins bereits immer als die begründete Wahrheit des Seienden oder vielmehr des Ganzen des Seienden neu zusammengesetzt wird. Diese Passage ist zentral und sollte daher besser erklärt werden. Was als Metontologie geschieht, also die notwendige Umkehrung der radikalisierten Fundamentalontologie, ist, dass die ontologische Differenz im Licht als Differenz schwindet, die mühsam gewonnene Erinnerung des Seins wieder vergessen wird und damit die Wahrheit, verloren als absolute Wahrheit, zurückerobert wird. Bei der Meinung von etwas ähnlichem, das scheint ein Rück­ schritt in der Fundamentalontologie zu sein, verstehen verschiedene Heidegger-Interpreten die Metontologie als bloße »regionale Onto­ logie«. Tatsächlich sehen sie in der Metontologie eine Drift der Fundamentalontologie, im maritimen Sinne des Driftens, und so 9 Für eine umfassende Analyse des Primats des Seins und der Möglichkeit in Heidegger sind sie unter anderem erwähnenswert C. Esposito, Heidegger. Storia e fenomenologia del possibile, Levante, Bari 1992 und U. Ugazio, Il ritorno del possibile. Studi su Heidegger e la storia della metafisica, Zamorani, Torino 1999.

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scheinen sie folgendes zu sagen: Jede Fundamentalontologie läuft immer Gefahr, in einer regionalen Ontologie auszulaufen, d.h. ein positum als gegebenen Inhalt des Seienden zu bejahen, die stattdessen von einem Charakter erkannt wurde, das ursprünglich transzendental war. Diese Lektüre stimmt sowohl mit Heideggers Analyse der Wis­ senschaften überein, als positive Wissenschaften, die als regionale Ontologien definiert sind, da sie sich nur mit einer Region des Seien­ den und nicht mit dem Sein des Seienden befassen, als auch mit der gemeinsamen Rezeption des Heideggers Denkens, in vielen Passagen aus dem Brief bevorzugt, als eine tiefe und originelle Frage, aber ohne eine Antwort. Beider diesen Auffassungen müssen wesentliche Einwände entgegengesetzt werden. Auf der einen Seite kann die Metontologie tatsächlich nicht mit einer Wissenschaft verglichen werden und dann als regionale Ontologie aufgelöst werden, gerade weil ihre »Region« das Ganze des Seienden ist, das All von dem, was ist, das nicht auf einem besonderen Bereich des Seienden reduzierbar ist. Auf der anderen Seite die Tatsache, dass Heidegger an vielen Stellen den spezifischen Charakter seines Denkens und das Fehlen einer Antwort auf der theoretischen Ebene bekräftigt, nicht, bedeutet dass seine Philosophie die einfache Frage ohne Antwort, die abstrakte begriffliche Befragung stört, bringt vor. Die Antwort, die der Gedanke bei Heidegger nur geben kann, ist nicht eine einfache Antwort des Denkens, sondern eine ursprünglich praktische Annahme, und deshalb manifestiert sie sich immer im Verhalten des Individuums, das ihm allein vorbehalten ist, ohne als objektive und universelle Wahrheit oder Norm geliefert zu werden. Wenn Heidegger diese Antwort dann nicht ausgearbeitet hat, ist dies nur ein weiterer Grund, nach einer eigentlichen positiven und praktischen Philosophie zu suchen, das heißt, sie hört nicht bei der einfachen Beobachtung einer Frage auf. Die Metontologie wird daher hier als notwendige Umkehrung der Fundamentalontologie in einem nicht negativen, aber positiven Sinne verstanden, d.h. als pars construens und Entwicklung von Heideggers Denken. Pars construens, dass er selbst einmal als Hauptweg seines Denkens angedeutet und beiseite gelassen hat, obwohl er es an vielen Stellen implizit wieder­ gibt, oft unter der Definition von Metaphysik der Existenz oder im

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Ruf zum Göttlichen,10 aber nie wieder in solch expliziten Worten oben ausgesetzt. Kommen wir nun zu dem Hauptargument zurück, wobei wir uns vor Augen halten, was gerade angesichts dieser positiven Entwick­ lung, konstruktiv und praktisch, als eine Revolution des Menschen, die zu Beginn besprochen wurde, gesagt wurde. Metontologie, ebenso wie Metaphysik der Existenz, bedeutet Transzendenz zu transzendie­ ren, das Aus-Stehen zu überwinden und sich in einem In-Stehen zu finden, offensichtlich wiederum erweitert. Das Gebiet der Meton­ tologie, die Region, wenn man es so nennen will, ist das Ganze des Seienden, die Vereinigung von Welt und Grund der Welt, und somit das, was in positiven Worten, und nicht negativen wie das Sein, umfasst all das ist und seine Unterteilungen in ontischen Regionen. Wo das Sein tatsächlich alles ist, was es ist, weil es jede Beschränkung von Wesen transzendiert, insofern es keines Seiend ist, ist das Ganze des Seienden alles, was es ist, als es zugleich alles begründete Seiend ist. In der Metontologie wird die ontologische Differenz neu zusam­ mengesetzt und der Primat geht zurück auf das Seiend, verstanden als das Ganze des Seienden, d.h. als eine begründete Welt. Aber wenn die ontologische Differenz nicht mehr offen ist, dann wird nicht einmal das Seiend einfacher als Seiendes verstanden, sondern bereits als etwas und als etwas innerhalb einer begründeten Welt, einer mit Sinn ausgestatteten Totalität. Wir kehren also zu einer nichtphilosophischen Bedingung der Existenz, vor-philosophischen, zurück, wo Dinge einfach Dinge in ihrer alltäglichen Bedeutung sind und der Sinn des Alles gegeben scheint, d.h. die Welt in sich selbst begründet? In gewissem Sinne ja, aber mit einem wesentlichen Unterschied, der nun geklärt werden soll: Es handelt sich hier nicht um eine vorphilosophische, sondern um eine postphilosophische Bedingung, bei der der Grund und damit der Sinn nicht gegeben, sondern gestellt wird. Die Metontologie, in der Tat, als Transzendenz der Transzendenz, ist die Umkehrung eines Weges und nicht ein Ausgangspunkt. Erst in der Radikalisierung der Fundamentalontologie, und daher bereits in der Philosophie als Transzendenz, man kann die notwendige Kehre in der Metontologie erreichen. Notwendige nicht, weil sie das unvermeidliche Ergebnis oder der stetige Rückgang ist, sondern weil, Zum Thema des Göttlichen in Kontinuität mit der Frage der Metaontologie vergleiche M. Pietropaoli, Uomini e dèi. Saggi su Heidegger, Edizioni Ets, Pisa 2016.

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wenn man an der Metontologie nicht kommen, den gleichen Weg der Fundamentalontologie stoppt und zerfällt, man dispergiert bleibt in dem, was Nietzsche die Wüste des Nihilismus genannt und so umfasst man ein bloßer Relativismus des täglichen Lebens. Dies liegt daran, die Fundamentalontologie für Heidegger ist bereits einen ängstlicher Prozess von Entziehung der Bedeutung der Dinge, um auf das ent­ scheidende aber trockenes Gelände der transzendentalen Wahrheit zu bekommen, wo ja liegt «die Moglichkeit und die Notwendigkeit der radikalsten Individuation»11, aber wo das Individuum das als Dasein wurde erkannt kann nicht leben, oder besser gesagt: wo, um existieren, er muss schon immer aus dieser Schwebe herauskommen und in einer Welt zurückkehren. Dies bedeutet, dass die »philosophische« Bedingung, eigenes des Weges der Fundamentalontologie aber nach Heidegger zum Wesen der Metaphysik gehörend, an sich nicht stabil ist und immer entweder eine Rückkehr zur vorphilosophischen Bedingung mit sich bringt, aber gemindert durch Bedeutungsverlust beim Aufgeben einer abso­ luten Wahrheit oder einer Überwindung in der postphilosophischen Bedingung, eine neue Wahrheit der Welt aufzustellen. Die Duplizität der Metaphysik wie πρώτη φιλοσοφία und θεολογία, oder als metaphy­ sica generalis und metaphysica specialis, zeigt gerade dies an, nämlich die Anerkennung der philosophischen Tradition, dass, was ist, nicht einfach in seinen allgemeineren Charakteren analysiert werden kann, sondern als Totalität in der Beziehung zu ihrem Grund verstanden werden muss, das heißt als eine sinnvolle Welt. Die Passage geht hier noch weiter: Nicht nur der Grund und damit der Sinn, den die Welt von ihr erhält, muss verstanden werden, sondern gerade in der Radikalisierung des Weges der fundamentalen Ontologie als existentieller Analytiker des Seins kann sie erstellt werden. Das Heideggersche Dasein ist also genau jenes ausgezeichnete Seiende, das die Möglichkeit hat, von dem in ihm herrschenden Charakter der Freiheit diktiert,12 den Grund der Welt ursprünglich zu M. Heidegger, Sein und Zeit, (in Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Band VIII, hrsg. von E. Husserl, Halle 1927), Max Niemeyer, Tübingen 1993, 38. In Bezug auf die Frage des Individuums und die Individuation in Heidegger sollte darauf hingewiesen werden E. Överenget, Seeing the Self: Heidegger on Subjec­ tivity, Kluwer, Dordrecht-Boston-London 1998. 12 Vgl. M. Heidegger, Vom Wesen der menschlichen Freiheit, zit., 300. Für ausführliche Interpretationen von Heideggers Thema der Freiheit siehe insbesondere G. Figal, Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, Athenäum, Frankfurt a. M., 1988; J.-L. 11

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stellen und folglich den Sinn der Welt und die Bedeutung der Dinge in etwas Fremdes zu sich selbst zu setzen, als ein höchstes Seiendes, oder in sich selbst, als ein existierendes Seiendes, in der Anerkennung seines Wesens, das bereits aus sich selbst als Setzung der Welt herausgebracht wurde. Bei der Entscheidung über den Grund hat jedoch das Dasein gleichzeitig entscheiden über sich als Individuum, d. h., als auch es als ein Seiendes im Ganzen des Seienden, das, was es als einen Sinn für die Öffnung des Seins vorwegnimmt, mit Einfluss auf es und alles um es herum, so wie das Dasein es versteht und sich auf es bezieht, einschließlich sich selbst. Um zu verstehen, wie dies möglich ist, im Bezug auf das Verhalten des Menschen, und in welchem Sinne die Öffnung des authentischen ethischen Feldes gehandelt wird, kehren wir auf das Hauptthema dieser Argumentation zurück, nämlich die Metontologie und ihre Darstellung als notwendige Umkehrung der Fundamenta­ lontologie. In der Tat, es wurde gesagt, dass diese Umkehrung ein­ tritt, sobald die fundamentale Ontologie selbst ihre Radikalisierung erreicht hat; aber was ist damit gemeint? Die Bedeutung dieser Radikalisierung wird von Heidegger aus den ersten Schritten der existentiellen Analyse des Daseins, wie sie im Sein und Zeit dargestellt werden, d.h. in dem, was in dieser Analyse eigentlich gesucht wird: nämlich der Sinn von Sein.13 In der gleichen Einleitung des Werkes präzisiert Heidegger, dass zwar in der existentiellen Analytik, als einem Verfahren der Fundamentalontologie, das Befragte immer das Dasein ist und das Gefragte immer das Sein ist, was gründlich in dieser Frage gesucht wird, ist der Sinn des gleichen Seins. Hier ist also der zweite Grundbegriff, der sich dem genannten Grund nähert und dessen Forschung gerade die Notwendigkeit einer Radikalisierung der Fundamentalontologie aufzeigt. Was dann in dieser vorbereitenden und entscheidenden Befra­ gung Heidegger vorzuschlagen schien, und dies wird manchmal ver­ gessen, war nicht nur, das Sein als Manifestationshorizont zu denken Nancy, L’éthique originaire de Heidegger, in La pensée dérobée, Galilée, Paris 2001, und L. Pareyson, Heidegger. La libertà e il nulla, Ed. Scientifiche, Napoli, 1990. In Bezug auf eine Lesung, die auf den Verlauf von 1930 beschränkt ist, vergleiche F. Chiereghin, Il problema della libertà. Note in margine a: Vom Wesen der menschlichen Freiheit di M. Heidegger, Nuova Vita, Padova 1983 und M. Pietropaoli, L’uomo in quanto una possibilità della libertà. Sul corso di Heidegger »Dell’essenza della libertà umana« (1930), in «Rivista di Filosofia Neo-Scolastica» 3/2016, Milano. 13 Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, zit., insbesondere § 2.

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und die des Seienden eigene veritas transcendentalis hervorzuheben, sondern gleichzeitig darüber hinauszugehen und die transzendentale Bestätigung und den Sinn des Seins zu erreichen. Der Sinn des Seins, und das spiegelt sich in der Heidegger’schen Lehre, ist die Zeit.14 Damit meinen wir aber einen eigentümlichen Charakter derselben, jetzt kurz gesagt: Das Sein, das in der philosophischen Tradition explizit und in der vorphilosophischen Auffassung implizit, immer als Praesenz, als Wahrheit an sich, verstanden wurde, muss jetzt als Erweiterung, als Existenz, als Zeit, verstanden werden. Die Erfor­ schung über den Sinn des Seins, die Heidegger in dieser Arbeit nicht vollendet hat, führt also nicht nur vom Sein zur Zeit, sondern tut das als eine existentielle Analyse des Daseins, d.h. im Verstehen des Seins nicht mehr als Präsenz, als Wahrheit an sich, aber als Existenz, als existentielle Wahrheit, und zwar als endliche, für sich.15 So zeigt sich der Sinn des Seins, in diesem ersten Nachdenken Heideggers, als die Existenz selbst, im Sinne aber der zeitlichen Erweiterung, d.h. des Rufes an den Horizont des Seins und der Zeit als eigentlicher Öffnung des Daseins. Nur wenn wir jetzt die Zeit als eine Erweiterung, als eine Öffnung, verstehen, und diese Erweiterung als Existenz, als Offen­ heit außerhalb ihrer selbst verstehen, begreifen wir wirklich das Primat, das Heidegger der Zukunft, der Möglichkeit und dem Tod, zugewiesen hat. Der zeitliche Charakter, der den Seinssinn ausmacht, also zugleich die Zeitlichkeit, die dem Dasein eigen ist, ist nicht die Zukunft im Sinne eines der drei Momente der gewöhnlichen Zeit, sondern das im Hinblick auf, der bestimmenden Grund, die finale Ursache, die die Öffnung des Seins ausrichtet. Der Sinn des Seins ist die Zeit, heißt grob gesagt: Das Wesen des Seins ist etwas Zeitliches, Eine ausführliche Lektüre von Heideggers Zeitthema finden Sie unter anderem D. F. Krell, Intimations of Mortality. Time, Truth and Finitude in Heidegger’s Thinking of Being, Pennsylvania State, University Park 1986; F. Dastur, Heidegger et la question du temps, PUF, Paris 1990 und W. D. Blattner, Heidegger’s Temporal Idealism, Cambridge Univ. Press, Cambridge 1999. 15 Einige Aspekte dieser Reflexion wurden bereits von Sartre erfasst, wenn auch in unterschiedlichen und spezifischen Begriffen seines Denkens, und enthüllt in J.-P. Sartre, L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Gallimard, Paris 1943. Zur Beziehung zwischen Heideggers Gedanken und dem von Sartre siehe J. P. Fell, Heidegger and Sartre. An Essay on Being and Place, Columbia Univ. Pr., New York 1979; M. Barale, Ermeneutica e morale, Edizioni Ets, Pisa 1988 und E. Birkenstock, Heißt philosophieren sterben lernen? Antworten der Existenzphilosophie: Kierkegaard, Heidegger, Sartre, Rosenzweig, Alber, Freiburg i. B.-München 1997. 14

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bestimmt durch die Erweiterung im Hinblick auf eigens des Daseins in seiner Existenz, d.h. immer noch innerhalb der Erweiterung. Letztlich heißt das: Der Seinssinn liegt in der Vorwegnahme bei dem Dasein des »Da«, der Öffnung des »Seins«, d.h. des Grundes der Welt, in der er selbst gefasst ist. Hier findet die Radikalisierung der Fundamentalontologie statt und zugleich ihre Umkehrung in die Metontologie. Und hier, auf dem metontologischen Weg, muss eine grundlegende Frage beantwortet werden: Wie kann das Dasein den Grund der Welt, in dem es schon immer umgefasst ist, antizipieren? Wie kann es, indem es die Existen­ zweise eigens der Philosophie verfolgt, sich als Grund aufstellen und die Welt, so gestellt, als für sich wahr und begründet, anerkennen? Zu diesen Fragen wurde versucht, an anderen Stellen eine eingehende Antwort zu geben, um die Entstehung eines neuen Gedankens zu fördern. Aber auch hier ist es notwendig zu erklären und zu antworten, damit dieses Argument den positiven Charakter und das praktische Potential dieses Gedankens so deutlich wie möglich zeigt. Um dies zu tun, müssen wir jetzt auf die bisher nur genannte Frage der Ethik eingehen. Was ist dann die Ethik, in Bezug auf das Thema der Metontologie? Heidegger hat im Laufe der zuvor erwähnten Vorlesung von 1928 gesagt, dass nur im Rahmen der metontologisch-existentiellen Befragung die Frage der Ethik gestellt werden kann. Dieses »meton­ tologisch-existentielle« Fragen sollte jetzt nicht verwundern, da der gemeinsame Charakter der Metontologie und der Metaphysik der Existenz bereits gezeigt wurde, so sehr, dass Heidegger beide hier zum selben Bezugsrahmen brachte. Was für einer? Wie wir gesehen haben: das Ganze des Seienden, die ganze Welt als Erweiterung und Gott als Grund der Welt, schließlich die Totalität in den Aspekten von Seele, Welt und Gott. Dann diese heideggersche metaphysica specialis: Dasein, Erweiterung und Grund. Oder noch wesentlicher: Dasein, Sein und Da. Was bedeutet das? Dass das Ganze des Daseins, traditio­ nell verstanden und oft missverstanden als Seele, die Verwirklichung der Konkretion der ontologischen Differenz ist, die im Philosophieren das Sein, die Welt und den Grund spaltet, die im Gegenteil in der Existenz immer in eins enthalten sind. Niemand kann im reinen Horizont des Seins existieren, so wie niemand im ständigen Zerreißen der Differenz leben kann. Jedes Individuum existiert in einer Welt und nicht im Sein, und es existiert faktisch als Individuum und nicht als Dasein.

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Das ist die Bedeutung des konstanten und unvermeidlichen Wechsels von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit für Heidegger.16 Denn niemand kann nur philosophisch existieren. Aber das bedeutet nichts als eine Vulgata, die zu schnell versucht, ihre Gemeinheit einer berüchtigten menschlichen Natur zuzuschreiben, dass selbst das Individuum als Dasein notwendigerweise ins öffentliche Leben zurückkehren muss, sondern es nur als philosophische Existenz nicht genug ist. Dies bedeutet, dass das Dasein sich nicht selbst stützt, es beruht nicht auf irgendetwas und baut daher nichts, es ist immer noch das negative Moment des Denkens. Auch es muß deshalb, als trans­ zendentale und daher abstrakte Existenz, angesichts der Stellung des Selbst als Grund einer Welt, überwunden werden. Wie geschieht das? Durch das praktische Verhalten, in dem mit der eigenen Person der Sinn einer erweiterten Welt als Existenz bezeugt und bewahrt wird. Dies ist die hier »postphilosophisch« definierte Existenzweise, also der Zielpunkt des metontologisch-existentiellen Weges. In dieser Möglichkeit des Daseins erkennt das Individuum sich nicht nur selbst als Dasein und das Sein als Manifestationshorizont, sondern es fasst die daraus resultierende Übermacht, das heißt die Tatsache, dass es selbst den Sinn einer Welt zu bezeugen und zu bewahren hat, indem es den Grund voraussieht, der ihn orientiert und bestimmt.17 Wenn es also in der Lage ist, sich selbst als Grund zu stellen, dann wäre seine Erweiterung als Existenz ja ein Wegstehen, außerhalb von sich selbst, aber auch ein Innestehen, in sich selbst zu sein, das heißt zugrunde in seiner Welt und als seine Welt zu existieren. Die Existenz des Daseins ist nicht auf sich selbst als Individuum in einer Welt beschränkt, sondern schließt zugleich die Welt selbst mit ein, sie ist bereits draußen, wo aber, wie wir eben gesagt haben, ihr Wegstehen ein Sich-einschließen innerhalb ist, es ist in seiner Totalität hervortretend und nicht in einem fremden und gegebenen All. Dieser Prozess der Aneignung der Welt ist nicht etwas Konzep­ tuelles, Theoretisches, sondern ist bereits eine Existenz und eine 16 Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, zit., insbesondere §§ 9, 12, 27, 38, 54 und 60. Zur Frage der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit bei Heidegger siehe J. D. Bailiff, Coming to Be. An Interpretation to the Self in the Thought of M. Heidegger, Pennsylvania Univ. Diss. (1966), Ann Arbor, Michigan, UMI 1984; M. Zimmermann, Eclipse of the Self. The Development of Heideggers Concept of Autenticity, Ohio Univ. Pr., Athens 1986 und J. J. Puthenpurackal, Heidegger. Through Autentic Totality to Total Autenticity. A Unitary Approach to His Thought in Its Two Phases, Louvain Univ. Pr., Leuven, 1987. 17 Zur Übermacht des Daseins siehe auch M. Heidegger, Sein und Zeit, zit., 384.

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postphilosophische, so dass er nur im praktischen Verhalten sich vollzieht, in dem das Individuum den Sinn seiner Welt bezeugt und bewahrt. Was bedeutet das? Dass die Bestimmung der Bedeutungen der Dinge, des Schönen und des Hässlichen sowie von Gut und Böse, von Recht und Unrecht, von Freiheit und Unfreiheit, wenn es nicht etwas ist, das in einer öffentlichen Dimension gegeben ist, sondern etwas Gestelltes, muss es verwirklichen werden, faktisch gewahrt, in dem Verhalten des Individuums. Nur der Streit, schon für Heidegger, der an Heraklit erinnert, manifestiert jene Gunst, jene Vorliebe, die den Sinn der Welt bestimmt.18 Und der Streit ist Kampf gegen das, was für die Bestätigung des Guten als Böses sich zeugt, gegen die Ungerechten für die Gerechten, gegen die Unfreiheit, für die Freiheit. Dafür ist die gleiche Ebene der Verneinung, des existentiellen »Nein«, für Heidegger verneinend in einem ursprünglichen Sinne, da sie es dem Individuum erlaubt, sich in den Streit zu stellen und somit dem Dasein eine Vorliebe zu manifestieren, die seine tiefsten Wurzeln in dem Sinn der Welt hat.19 Dies bedeutet, im Sinne des hier vorgestellten Arguments, dass wenn in transzendentalen Begriffen nichts in sich selbst gegeben ist, so dies nicht nur mit sich bringt, sondern auch dass alles gestellt ist und heideggerisch gestellt nach der Orientierung, die der Manifes­ tationshorizont, das »Sein«, erhält von seinem Grund, von seinem »Da«. Das Dasein ist immer der Ort der Offenheit des Seins, und das bedeutet nicht nur, dass es in dieser Offenheit enthalten ist, sondern auch, dass es seinen Sinn orientiert, indem es unbewusst den Grund der Welt einem Seienden zuweist, das sich selbst gegenüber fremd ist, daher in der öffentlichen Dimension versunken, oder indem es sich selbst als Grund bestätigt und damit die Welt als seine Welt und den Sinn derselben, so entschlossen von dem Grund aus als sein Schicksal anerkennt.20 Vgl. insbesondere M. Heidegger, Heraklit (Freiburger Vorlesungen SS 1943 und SS 1944), in Gesamtausgabe, Band 55, hrsg. von M. S. Frings, Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M 1979, 110. 19 Zum Thema von »Nein«, »Nientifizieren« und »Nichts« in Heidegger siehe R. Regvald, Heidegger et le problème du neant, Nijhoff, Dordrecht-Boston-London 1987 und F. Peng, Das Nichten des Nichts: zur Kernfrage des Denkwegs Martin Heideggers, P. Lang, Frankfurt a. M.-Bern-New York 1998. 20 Vgl. auch M. Heidegger, Vom Wesen des Grundes (1929), in Wegmarken, zit., S. 174. Für eine ausführliche Lektüre des Schicksals in Heidegger siehe unter anderem M. Zarader, Heidegger et les paroles de l’origine, Vrin, Paris 1986 und V. Tercic, La 18

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Die Metontologie als mögliche Entwicklung von Heideggers Denken

Dieses Schicksal, es ist wichtig zu wiederholen, ist nicht etwas, das sich in einer begrifflichen Formulierung vollzieht, sondern gerade im Leben des Individuums, in seinem Verhalten, in dem es sich zum Seienden in einer Art und Weise verhält, solches zu zeugen, zu wahren und zu bewahren in dem ihm zugewiesenen Sinn. Zeugen, Wahren und Bewahren nicht so sehr gegenüber den anderen, die als solche auch in ihrer Bedeutung nach dem Horizont des offenen Sinnes empfangen werden, sondern zunächst in Bezug auf sich selbst, indem es das Leben ins Spiel bringt, da nur im Beharren in einem solchen Verhalten, kann es immer eine solche Welt als gegründet erkennen, eben indem es seine Grundlegung durch seine eigene Existenz verrichtet. Indem wir in gewisser Weise leben, zeugen wir nicht nur von einem bestimmten Menschen, sondern zugleich von einer bestimm­ ten sinnvollen Welt, und indem wir diese Art von Existenz ausüben, bestätigen wir uns diesen Sinn nicht nur als gestellt, sondern zugleich als Wahrheit, gegründet auf die Tatsache, dass ihr das Leben zugewei­ sen wurde. Das Umwillen des Todes, das in der postphilosophischen Existenz das Individuum in der Vorwegnahme seiner Welt führt, ist seine authentische Grundlegung der Wahrheit, wobei das Verhalten das einzige notwendige Zeugnis ist, solange dieses Zeugnis mit Gewalt und Kohärenz als Existenz genommen wird. Je mehr das Individuum als Dasein in der Lage sein wird, an sein Verhalten im Horizont der vorweggenommenen Bedeutung zu glauben und es bis zum Äußersten zu verfolgen, desto wahrer wird seine Welt und damit es selbst im Charakter vom Grund dieser Welt. Dies ist also der metontologische Weg, kurz zusammengefasst: von der gegebenen und in sich selbst gegründeten Welt, durch den philosophischen Verlust der Welt, bis zur gestellten Welt, die jedoch durch das eigene Verhalten des Individuums ständig begründet und bewahrt werden muss, in allen seinen Handlungen und Gedanken.

dimensione dell’»es gibt« nell’ontologia di Martin Heidegger, Ediz. Pontificia Univ. Gre­ goriana, Roma 2006.

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II Vernunft – Sorge – Einbildungskraft – das Offene

Harald Seubert

Nach ›Sein und Zeit‹. Heideggers Kant. Eine Wegmarke1

Die legendären Vorlesungen, die Heidegger 1928 in Riga hielt, stehen im Kontext seiner Selbstverständigung über den projektierten zwei­ ten Teil von ›Sein und Zeit‹ und damit über die Temporalität der Seinsfrage. Zugleich aber deutete sich damit auch der Versuch an, von der Fundamentaltheologie auf die Berechtigung metaphysischen, aber auch epistemischen und epistemologischen Fragens verändert zurück­ zukommen. Letzteres kulminierte im Begriff der »Metontologie«, deren Spuren er in der großen Vorlesung aus dem Wintersemester 1929/30: ›Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt-Endlichkeit-Ein­ samkeit‹ (GA 29/30) nachging. Dass und weshalb beide Wegstrecken preisgegeben wurden, kann sich nur im Rahmen einer umfassenden Rekonstruktion von Heideggers Denken erschließen.2 Dass beide mit Kants Namen und Heideggers Rekonstruktion von dessen Denkweg verbunden sind, ist alles andere als zufällig. Dieser Spur wird im Folgenden nachgegan­ gen werden.

1. ›Metaphysik der Metaphysik‹ als Lehre von der Zeit Auf keinen Denker ist Heidegger, in der Phase seiner Auseinander­ setzung mit der neuzeitlichen Metaphysik, in solcher exegetischen Prägnanz und so häufig zurückgekommen wie auf Kant. Sein KantBuch aus dem Jahr 1929 ist in vielfacher Hinsicht ein Neueinsatz 1 Dieser Aufsatz ist in veränderter Form in mein Buch Heidegger – Ende der Philoso­ phie und Sache des Denkens (2019) eingegangen. 2 Hierzu verweise ich auf meine Heidegger-Monographie und nach wie vor auf die magistrale Innenansicht in O. Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, Pfullin­ gen 11963.

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nach ›Sein und Zeit‹, der aber den Weg von ›Sein und Zeit‹ weder für aporetisch erklärt noch ihn preisgibt.3 In der differenzierten KantAneignung sieht Heidegger vielmehr den aussichtsreichen Ansatz zu einer geklärten Explikation des ausstehenden zweiten Teils von ›Sein und Zeit‹, der Explikation der Temporalität des Seins. Heideggers Ausgangspunkt gegen gängige Formen des Neukantianismus ist dabei, dass die ›Kritik der reinen Vernunft‹ als »Traktat von der Methode« nach der Möglichkeit von Metaphysik fragt und darin einen Grundriss von Ontologie entwickelt.4 Zugleich ist es ein Kunstgriff, dass Heidegger bei jener Philosophie einsetzt, die eine Art lingua franca des philosophischen Denkens der Neuzeit bezeichnete: Das gilt für die Zeit des Neukantianismus, es gilt aber auch noch für die Gegenwart.5 Offensichtlich lässt sich seitens einer gelehrten, die ›subtili­ tas legendi‹ betonenden Kant-Interpretation Grundlegendes gegen Heideggers Annäherung einwenden und ist in der Wirkungsge­ schichte des Kant-Buchs auch immer wieder eingewandt worden.6 Heidegger entwickelt in jedem Fall eine phänomenologische, also an die Explikation der Sache heranführende Interpretation, die vor allem das Motiv von Kants berühmtem Brief an Marcus Herz aufnimmt, eine »Metaphysik der Metaphysik« zu entwickeln und eben nicht eine bloß genetisch rekonstruierende Physik der Metaphysik.7 Die Nähe zu Kant ist durch eine Affinität bedingt, die deutlich wird, wenn man Heideggers Frühphilosophie hinreichend würdigt. Beide, Heidegger und Kant, nähern sich als Logiker den Fragen der Ontologie. Husserls Kantaneignung war vordergründig geblieben, er soll die ›Kritik der reinen Vernunft‹ mehr oder minder nur angeblättert haben – auf

Vgl. F. Schalow, The Renewal of the Heidegger-Kant-Dialogue. Action, Thought, and Responsibility, Albany 1992. 4 In Ansätzen schon erfasst bei E. Cassirer, »Kant und das Problem der Metaphysik. Bemerkungen zu Martin Heideggers Kant-Interpretation«, in: Kantstudien 36 (1931), 1 ff., sowie H. Declève, Heidegger et Kant, La Haye 1970. 5 Vgl. R. Enskat, Kants Theorie der Erfahrung. Erster Teil, Göttingen 2015, 23 ff., und W. Wieland, Urteil und Gefühl. Kants Theorie der Urteilskraft, Göttingen 2001, ins­ besondere 130 ff. 6 Vgl. besonders bedeutsam D. Henrich, »Über die Einheit der Subjektivität«, in: Philosophische Rundschau 5 (1955), 28 ff. mit einer schon seinerzeit subtil ausgear­ beiteten, argumentationsanalytischen Sicht auf Legitimität und Nicht-Legitimität des Heideggerʼschen Kant-Buches. 7 Brief an Marcus Herz, 11. 5. 1781, AA X, 251 ff. 3

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der Suche nach einer Bestätigung. Schon durch die Intensität seiner Rekonstruktion weicht Heidegger davon grundsätzlich ab. In dem besagten Brief an Marcus Herz aus dem Jahr 1781 (Heidegger, 41) betonte Heidegger den labyrinthischen Charakter und die Schwierigkeit des Vorhabens. »Schwer wird diese Art Nach­ forschung immer bleiben«.8 Die Kantische Frage versteht er als Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Ontologie und er rekon­ struiert sie als ›Ursprungsenthüllung‹, die ihrerseits gänzlich durch Vernunft hervorzubringen sei. Die Intention der transzendentalen Methode versteht er dabei in einer gewissen Verwandtschaft zum Gestus der ›Destruktion‹ in ›Sein und Zeit‹, es sei ein »auflockerndes Freilegen der Keime der Ontologie« (41). Leitfaden ist es, die verschiedenen Stufen dieser Grundlegung zunächst zu isolieren: eine weitgehend immanente Rekonstruktion, die das »Ursprungsfeld« in seiner Gliederung offenlegen soll, wobei Heidegger schon im Vorgriff festhält, dass das Erkenntnissubjekt in der Kantischen Kritik als endlich vorausgesetzt wird. Der Wesenszug der Endlichkeit wird durch die Zweiheit der Stämme der Erkenntnisse, Sinnlichkeit und Verstand, operationalisiert, da nur in ihrer Vereini­ gung und in der Begrenzung auf diese beiden Stämme Erkenntnis möglich ist. Heidegger geht, was hier nicht zu referieren ist, in einer idealtpyischen Isolierung die fünf Stadien der Kantischen Grundle­ gung der Ontologie durch: – Zunächst werden die Wesenselemente der reinen, doch endlichen Erkenntnis isoliert: Raum und Zeit als Anschauungsformen. Die Transzendentale Ästhetik wird dabei als Exposition jener ontologischen Wahrnehmungslehre (Ästhetik) ent­ wickelt, die es ermögliche, »das Sein des Seienden« a priori zu ent­ decken. Auch das reine Denken ist im endlichen Denken verankert: Reine Versndesbegriffe sind Notionen, die eine Vielheit von Fällen auf eine übergreifende Einheit transparent machen. Die Notionen firmie­ ren dann als ontologische Prädikate (55 f.). Da reine Anschauung (Synopsis) und die kategoriale Synthesis schon in sich Einheits- und Einigungsformen sind, sucht Kant, Heidegger zufolge, nach einer Einheit dieser Einheitsformen, um eine »ontologische Synthesis« zu gewinnen. Heidegger macht es sich dabei schwerer als in seinen spä­ teren Nennungen, in denen er den Denkansatz der Kantischen Trans­ zendentalphilosophie mitunter als eine Form von Subjektivitätsden­ ken abwertet und die Kantischen Abstraktionen der ›logischen‹ 8

Ibid., 250 f.

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›transzendentalen‹ Denkformen kritisiert. Maßstab seiner Interpre­ tation ist vielmehr hier, dass die Ontologie »durch die Architektonik der äußeren Problemfolge und -prägung« hindurch sichtbar gemacht werden muss (68).9 Dies bedeutet u.a., dass die transzendentale Deduktion, deren Schwierigkeit Kant selbst nachhaltig betont, nicht als eine »quaestio iuris« rekonstruiert werden kann. Die juridische Metaphorik sei vielmehr umgekehrt auf die genuine Fragestellung zurückzuführen. Diese besteht, vereinfacht gesagt für Heidegger im Horizont der transzendentalen Deduktion, also darin, wie der Sach­ gehalt der reinen Begriffe die realen Gegenstände in ihrer Objektivität angemessen erfassen kann. Der Sachgehalt der Kategorien muss so bestimmt werden können, dass sie tatsächlich die Gegenständlichkeit der Gegenstände adäquat bezeichnen. Die Einheit der ontologischen Erkenntnis muss insofern, phänomenologisch gesprochen, die »Offenbarkeit des Seins des Seienden« (87) anzeigen und beglaubi­ gen. Auffälligerweise lässt Heidegger die geforderte Begleitung aller Vorstellungen durch das ›Ich denke‹ zunächst in den Hintergrund tre­ ten. Als Kernstück der Grundlegung ontologischer Erkenntnis fasst er die Schematismuskapitel der ›Kritik der reinen Vernunft‹ auf. Denn erst das reine Ins-Bild-Bringen kann die Gegenständlichkeit der Gegenstände in ihrer Reinheit sichtbar machen. Die Kantische Schematismuslehre bildet gleichsam den phä­ nomenologischen Kern Kantischer Transzendentalphilosophie: Das ›Schema‹-Bild ist nicht einfach ein Imago, das Denkbare muss dar­ stellbar werden können, denn der logische Begriff »bezieht sich jeder­ zeit unmittelbar auf das Schema« (98).10 Damit hat das Schemabild die Aufgabe, die »Regel in die Sphäre der möglichen Anschaulich­ keit« einzuführen (99). Die eigentliche Zuspitzung von Heideggers Deutung ist aber, dass das reine Bild der Schematisierungen die Zeit ist: »Das reine Bild […] aller Gegenstände der Sinne aber überhaupt ist die Zeit« (A 142.B 182) (Heidegger, Kant 103). Zeit ist eo ipso Vorstellung eines einzigen, einigen Gegenstandes in seinen Variierungen, so dass die Schematisierung immer auf diese in sich 9 Vgl. dazu auch M. Riedel, Urteilskraft und Vernunft. Kants ursprüngliche Fragestel­ lung, Frankfurt/Main 1989, 23 ff. 10 Heidegger verweist hier auf den schon in der nachkantischen und frühromanti­ schen Philosophie sehr prominenten und wiederholt im Blick auf die Gewinnung einer Einheit und Ganzheit der Philosophie herangezogenen § 59 der K.U. Vgl. dazu u.a. M. Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik, a.a.O., 234 ff.

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artikulierte Einheit der Zeit bezogen ist. Heideggers Kant-Deutung bewegt sich mithin in einer gänzlich anderen Richtung wie die vieldis­ kutierte, von Klaus Reich etwa zeitparallel aufgewiesene Frage nach der Vollständigkeit der Kantischen Urteilstafel.11 Das Ungenügen an der Extrapolation der Kategorien aus der Logik war es bekanntlich, das im Briefwechsel von Hegel und Schelling in ihrer Frühzeit zu der Aussage führte, Kant habe nur die Resultate geliefert, es komme darauf an, dazu die Prinzipien zu finden.12 Und die avanciertesten Ansätze des Neukantianismus, wie Hermann Cohens ›Logik der reinen Erkenntnis‹, setzen an diesem selben Punkt an. Heidegger kritisiert an der Kantischen Darlegung, dass sie den Schematismus nicht weiter in seinem temporalen Charakter aufkläre. Zeit ist, so verknüpft Heidegger implizit den Kantischen Zeitbegriff mit Husserls Lehre vom Bewusstseinsstrom: »in jedem Jetzt fließend, ein Jetzt [] und je auch ein anderes Jetzt. Als Anblick des Bleibens bietet sie zugleich das Bild des reinen Wechsels im Bleiben« (107). Im Horizont jener Dauer im Wechsel vollzieht sich erst die Transformation der Kategorien der »Metaphysica Generalis«: wie sich insbesondere am Substanzbegriff zeigt. Substanz ist als Kate­ gorie Relation zwischen Subsistenz und Inhärenz; sie ist auf das Anschauungsbild der Zeit bezogen Bleibendes im Fluss der stets sich in eine sich wandelnde Gegenwart hinein fortsetzende Zeit. Zeit ist das reine Schematisierungsbild von Substanz dadurch, »dass sie in jedem Jetzt fließend, ein Jetzt ist, je auch ein anderes Jetzt. Als Anblick des Bleibens bietet sie zugleich das Bild des reinen Wechsels im Bleiben« (107), wie Heidegger formuliert und damit im transzendentalen Schematismus den inneren Möglichkeitsgrund von Substanzialität namhaft macht. Anders gesagt, geht es dabei um die Realität von allgemeinen, gültigen Begriffen für eine vortheoretische temporale Lebenssphäre. Das Schematismuskapitel steht Heidegger zufolge daher im Zen­ trum der Kantischen Transzendentalphilosophie: bereits in dem KantBuch sieht er im »obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile« (A158, B 197f.) die abschließende Formulierung der Transzendental­ philosophie. Es ist jener Satz, den er auch in seiner Vorlesung über die Frage nach dem Ding 1935/36 wieder besonders hervorheben wird: K. Reich, »Die Vollständigkeit der Kantischen Urteilstafel«, in: Ders., Gesammelte Schriften, Hamburg 2001, 3–113. 12 So Schellings Brief an Hegel vom 6. 1. 1795, in: Briefe von und an Hegel, Band 1, 13 ff. 11

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»Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfah­ rung« (ibid.). Die Akzentuierung dieser Aussage und zugleich die Art, wie sie interpretiert wird, erhärten den phänomenologischen Ansatz exemplarisch. Kaum irgendwo ist die Nähe der Heideggerʼschen Fra­ gestellung zu dem Kant bekanntlich nur vordergründig rezipierenden Husserl so unmittelbar erkennbar wie eben hier: Erfahrung bedeutet einen Gegenstand »unmittelbar in der Anschauung darstellen« (A 156, B 195); es ist eine noetisch-noematische Korrelation des endli­ chen Bewusstseins, oder in der philosophischen Sprache der Zeit, die »Transzendenz« von der Subjektivität zum gegebenen Wirklichen. Die Möglichkeit von Erfahrung impliziert demnach zugleich die Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung, in einem jeweiligen Horizont, den das endliche Bewusstsein sich bilden kann. Heidegger begründet auf diese Weise mit einem Husserlʼschen Impuls, doch unter der genuinen Anleitung von Kant, die Gegenstandsangemes­ senheit des Phänomens, in einer Weise, die die egologisch-trans­ zendentale Konzeption Husserls umgeht und auf den Ansatz eines jeweiligen in-der-Welt-seins abzielt. Seine Rekonstruktion der Kon­ stituierung der Gegenständlichkeit der Gegenstände kann also als eine nachträgliche Kantische Begründung des Ansatzpunktes von ›Sein und Zeit‹ beim in-der-Welt-sein verstanden werden. Damit kommt jedoch ein Gedanke ins Spiel, der in ›Sein und Zeit‹ noch keine Rolle gespielt hatte. Denn hier konstituiert sich der »transzendentale Gegenstand«, oder Gegenständlichkeit über­ haupt, in der nach Kant zugleich die transzendentale Wahrheit, als Fundierung jeder nur möglichen empirischen Wahrheit, grundgelegt ist. Die transzendentale Deduktion, auf die sich das Zentrum der Kantforschung verlagerte,13 tritt demgegenüber zurück. Nicht wegen des ›Ich denke‹, das alle Vorstellungen muss begleiten können und das Heidegger aufgrund seiner Kritik an der Husserlʼschen Egologie zurückweist, sondern weil auch im ›Ich denke‹ die Wirkung der Einbil­ dungskraft bereits vorausgesetzt sei (127). Es ist die Einbildungskraft, die die Gegenwart eines Gegenstandes überhaupt erst sichert. Im Licht dieser Gewichtung des Schematismus-Kapitels ent­ wickelt er seine Interpretation der ›transzendentalen Einbildungs­ kraft‹ als der gemeinsamen, bildenden Mitte und als dritte Wurzel der 13 Vgl. wiederum Reich, »Die Vollständigkeit der Kantischen Urteilstafel«, siehe auch D. Henrich, Identität und Objektivität, Heidelberg 1976.

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Erkenntnis neben Einbildungskraft und Verstand (137). Heidegger spricht dies freilich nicht thetisch aus. Er formuliert diese entschei­ dende These ausschließlich als Frage. Reine Anschauung vollzieht sich als »ursprüngliche« exhibitio originaris, in der Anschauung und Angeschautes konvergieren: Deshalb ist sie nicht auf die »Synthesis des Verstandes« zurückzuführen (142). In ihr zeigt sich eben eine Ganzheit des Angeschauten als grundlegende Voraussetzung des Schematismus. Sie ist gerade nicht intentional auf einzelnes Seiendes bezogen, sondern richtet sich anschauend auf das »ens imaginarium«, wie Heidegger betont: die Gegenständlichkeit des Gegenstandes, die selbst aber nicht die Form eines Gegenstandes hat. Grundlegend für die Möglichkeit von wahrheitsfähiger Ontolo­ gie ist also ein reiner, ungegenständlicher Anblick der Gegenständ­ lichkeit. Raum und Zeit können nicht aus der Empirie konstituiert werden. Sie bleiben absolute Bedingung aller empirischen Anschau­ ung. Diesen Charakter einer Synopsis kontrastiert Heidegger mit der Deutung von Raum und Zeit als ›Kategorien‹ im Marburger Neukantianismus.14 Heideggers Kant-Deutung geht es darum, die Eigenständigkeit der transzendentalen Einbildungskraft zu zeigen, was nicht weniger bedeutet, als dass Denken nicht in erster Linie als »Urteilen« charakterisiert ist (149), sondern als Anzeige der reinen Apperzeption. Denken ist, so Heidegger, damit »reines Einbilden« (151). Gegenüber dem Neukantianismus pointiert Heidegger gera­ dezu eine »Revolution des Denkens«, insofern es freies Entwerfen des sich ihm gebenden Gegenstandes oder »reines Einbilden« bedeutet (151). Der Entwurfs-Gedanke von ›Sein und Zeit‹ wird damit in einen Kantischen Rahmen einbezogen. Es sei angemerkt, dass Rudolph Berlinger in seinem eindrucks­ vollen, viel zu wenig rezipierten Konzept einer morphopoietischen Metaphysik, die das menschliche Individuum als Dreh- und Angel­ punkt annimmt, implizit die Linie des Heideggerʼschen Kant-Buches aufnimmt und fortschreibt, so wie Heidegger dies selbst nicht mehr tat:15 Berlinger richtet sich in seinem Grundgedanken auf den Men­ schen als endliches Wesen, das Welt entwirft.

Dies ist natürlich eine Simplifikation, die auf Cohen und Natorp nicht zutrifft. Vgl. dazu die treffende Übersicht H. Holzhey, Cohen und Natorp, 2 Bände, Basel 1986. 15 R. Berlinger, Die Weltnatur des Menschen. Morphopoietische Metaphysik. Grund­ legungsfragen. Amsterdam 1988, 390 ff. Siehe dazu auch H. Seubert, »Sein und Frei­ 14

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Doch Berlinger greift gerade nicht auf Kant zurück, und er macht das Erbe der Husserlʼschen Phänomenologie viel unkenntlicher, als Heidegger in der Zeit seines Kant-Buches dies tat. Die Problematik einer Begründung von Metaphysik in der Individualgestalt des Men­ schen erweist sich indes als eine mögliche Option, der Heidegger nicht folgen wollte oder konnte. Darauf wird zurückzukommen sein.16 Schon früh und von namhaften Kantforschern wie Dieter Hen­ rich sind grundlegende Fragen an die Stringenz der Heideggerʼschen Kant-Deutung gerichtet und eine transzendental- und subjektivitäts­ philosophische Lesart dagegen positioniert worden.17 Dies ist durch­ aus berechtigt; und es ist zuzugeben, dass die Heideggerʼ+sche KantInterpretation selbst in hohem Grad »Gewalt« braucht. Die Kritik an Heideggers Kant-Deutung kann in einer Heidegger-Monographie nicht in die nötigen Verästelungen verfolgt werden. In ihr geht es viel­ mehr darum, zu zeigen, in wie hohem Maß ein – transponierter – Kant Heideggers eine bestimmte Epoche von Heideggers eigenem Denken anleitet.18 Die teils systematischen, teils vom Kant-Text ausgehenden Begründungen, die Heidegger anführt, werden nicht in jedem Fall und nicht in gleichem Maß einleuchten. Sie machen aber plausibel, dass Kants Deduktion einer Methodologie folgt, die eindeutig über die Logik hinausgeht, etwa in der Anmerkung: »Und so ist die syn­ thetische Einheit der Apperzeption der höchste Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik, und, nach ihr, die Transzendental-Philosophie heften muss, ja dieses Vermögen ist der Verstand selbst« (KrV B 133). Einleuchtend und nicht länger befremd­ lich, so ein weiteres Argument, sei der Anschauungscharakter der rei­ nen Anschauungsformen, obwohl sie selbst nicht »anschaulich« und nicht durch Sinnesorgane wahrnehmbar sind (155). Die systematische und philologische Evidenz der Heideggerʼschen Kant-Archäologie wird strittig bleiben. Sie sollte indes in der Kant-Rekonstruktion eine ernsthafte Rolle spielen und nicht deshalb zurückgewiesen werden, weil sie von Heidegger stammt. heit am Weltbeispiel Mensch: Die Aktualität Rudolph Berlingers aus Anlass seines 20. Todestages«, in: Perspektiven der Philosophie 44 (2018), 3 ff. 16 Vgl. Seubert, Heidegger – Ende der Philolsophie oder Anfang des Denkens, Sechster Teil. Kapitel 35. 17 D. Henrich, Über die Einheit der Subjektivität, a.a.O. 18 Abgesehen von gewissen Unebenheiten, die sich nach Maßstäben der Kant-Philo­ logie einstellen mögen, bleibt Heideggers Deutung auch im Blick auf eine Entwicklung der ontologischen Fragestellung, ausgehend von Kant, relevant, die eine andere Rich­ tung nimmt als jene, die sich in der klassischen deutschen Philosophie abzeichnete.

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Eine bemerkenswerte Pointierung der Kantischen Lesart der Einheit stiftenden Wirkung der reinen Einbildungskraft ist, dass in ihr Rezeptivität und Spontaneität geeint sind. Diese Linie führt Heidegger auf wenigen, aber tief dringenden Seiten in den Umkreis der Praktischen Philosophie weiter. Dass er »keine Ethik« gehabt habe, erweist sich nicht zuletzt von hier her als ein vordergründiger Topos. Heidegger formuliert eine ethische Pointierung in der Wirkung der transzendentalen Einbildungskraft, die die Synthesis des Sollens und des Handelns im Sittengesetz darstellt, aus der ein sittlich han­ delndes Selbst hervorgehen kann. 2. Zwischen der ersten und der zweiten Auflage der K.r.V ver­ schieben sich die Akzente so, dass die transzendentale Einbildungs­ kraft in den Hintergrund tritt. Dies thematisiert Heidegger ausdrück­ lich. Er konstatiert, dass sich Kant in der Umarbeitung einem »Unbekannten« konfrontiert gesehen habe, der »unbekannten Wur­ zel«, vor der er zurückgewichen sei (161 f). Mit der Depotenzierung der transzendentalen Einbildungskraft veränderte sich die transzen­ dentale Deduktion auf den Fokus des ›Ich denke‹. Kant habe sich durch diese Akzentuierung die Möglichkeit einer tieferen Grundlegung ver­ sperrt (166 f). Vor dem Hintergrund der Umarbeitung gewinnt die zentrale These, dass die transzendentale Einbildungskraft die Wurzel ist, die Anschauung und Begriff, Sinnlichkeit und Verstand, ihrerseits zugrunde liegt, weiter an Profil. Erst von dieser Grundlegung aus werde die transzendentale Deduktion durchsichtig (140), weshalb sich Heidegger auf die Ausarbeitung der A-Auflage konzentriert. Auch die Subjektivitätsproblematik gehe aus der transzendentalen Einbildungskraft hervor. Denn grundlegend ist die Einsicht, dass »das Einigende seinem Wesen nach das zu Einigende entspringen lässt« (140), was im Sinn einer Wechselbegrifflichkeit nur dadurch möglich ist, dass sich der Gegenstand in seiner Gegenständlichkeit zeigt. Gründe und Ursachen für die »Abdrängung« der Einbildungskraft in der B-Auflage erkennt Heidegger in der Forderung, dass die Kantische Vernunft in »Reinheit« konstituiert werden sollte und dass die sinn­ liche Dimension, die in der klassischen Metaphysik bekanntlich als »cognitio inferior« bestimmt worden war, bei der Anmutung jener Reinheit störte. Das Konzept einer ›reinen Einbildungskraft‹ wird dann delegitimiert. Konrad Cramer arbeitete später die Struktur

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unreiner synthetischer Urteile a priori heraus;19 wie so vieles in der Philosophie der Nachkriegsjahrzehnte auch lesbar als eine implizite und uneingestandene Referenz gegenüber der Heideggerʼschen Rekonstruktion der fundamentalen Bedeutung der Sinnlichkeit.20 Von größter Bedeutung in Heideggers Konzeption ist dabei die metaphysische, nicht etwa nur anthropologische Problematik der Endlichkeit menschlicher Subjektivität, die nicht zum Sonderfall eines »endlichen Vernunftwesens überhaupt« stilisiert werden kann. Wesentlich an diesem spezifischen Humanum ist gerade, dass die Sinnlichkeit bis in die Konstitution von Metaphysik eine fundierende Rolle spielt. Zugleich ist diesem Wesen seine Zeitlichkeit unhinter­ gehbar, da die transzendentale Einbildungskraft als aus der Zeit figuriert wird (175). Dass und wie Zeit prägend ist, verdeutlicht schließlich Heidegger im Durchgang durch die drei Formen von Synthesis, die Kant in der A-Auflage der K.r.V. expliziert Die Synthesis der Apprehension in der Anschauung ist nur möglich, insofern ein Kontinuum von Zeit dadurch gebildet wird, dass die Folge der Raum greifenden Eindrücke unterschieden werden kann (179). Die Synthesis als reine Reproduktion dagegen erfordert auch eine Unterscheidung der Zeit: Das Behalten des Vergangenen, die Bewahrung von »Früher« und »Damals« muss in den Zeitmodi von Gegenwart und Zukunft aufweisbar sein. Die reine Synthesis erschließt überhaupt erst die Möglichkeit des Gewesenen. Kant gibt ihr den Titel der »reinen Rekognition«, die scheinbar dem Zeitcha­ rakter weder unterworfen noch affiziert ist. Sie ist der vorgängige Ausgangspunkt und Grund der beiden anderen Synthesen. In ihr ist die Möglichkeit für alles Identifizieren angelegt (186). Der vorläufige Haltepunkt der Rekonstruktion zeigt, dass Zeit reine, nicht etwa nur abgeleitete oder wirkende Selbstaffektion ist (190), die das Selbst insgesamt und seine Vernunfttätigkeit bestimmt. Sie ist »Grund der Möglichkeit der Selbstheit« (191), die Kant nicht essentiell vom ›Ich‹ unterscheidet. Von Zeit und Ich werden, wie Heidegger beobachtet, in der A-Auflage dieselben Wesensprädikate ausgesagt: Sie bleiben, verlaufen sich und wechseln nicht (192). Zeit ist demnach gerade nicht einfache Aufeinanderfolge. Um ihr vollständiges Wesen zu 19 K. Cramer, Nicht-reine synthetische Urteile a priori. Ein Problem der Transzendental­ philosophie Immanuel Kants, Heidelberg 1985. 20 W. Wieland, Urteil und Gefühl, a.a.O., 220 ff.

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bestimmen, sei der Bereich der bloßen Innerzeitigkeit zu verlassen. Die ekstatische Explikation der Zeitlichkeit des Seins in ›Sein und Zeit‹ wird so eingeholt. Heidegger versteht Kants Denken einer »Grundlegung der Metaphysik« als Ontologie, wobei die »innere Möglichkeit der Onto­ logie« in der temporal zu verstehenden Subjektivität des menschlichen Subjekts grundgelegt ist (205). Dass Heidegger im Kant-Buch diese Fragestellung auf anthropologische Überlegungen zurückspielt, hängt unverkennbar mit den philosophischen Debatten der Zeit zusam­ men, insbesondere der Auseinandersetzung mit der Philosophischen Anthropologie Max Schelers.21 Tatsächlich geht es ihm um den Kern des Selbst-seins und sich-Selbst-Wissens des Menschen, die Wesens­ bestimmung seiner als eines »endlichen, zeitlichen Weltwesens« (205). Auf diesen Kern einer philosophischen Anthropologie weist Heidegger prägnant hin; sie ist von den biologisch-anthropologischen Tendenzen der zwanziger Jahre gerade darin deutlich zu unterschei­ den, dass sie implizit auf menschliche Individualität zielt und damit die Rede vom Dasein konkretisiert. Die Frage muss erlaubt sein, wie sich Heideggers Denken ent­ wickelt hätte, wenn er dieser Spur weiter gefolgt wäre.

2. Das Kant-Buch als nachgeholte Vorgeschichte und Legitimation von ›Sein und Zeit‹? Die Struktur der Kantischen Fragestellung rückt damit in eine legiti­ mierende Nähe zu ›Sein und Zeit‹, ausgehend von der abschließen­ den und übergreifenden Frage nach der Gegebenheit des Seins von Welt. »Von wo aus ist dergleichen wie Sein, und zwar mit dem gan­ zen Reichtum der in ihm beschlossenen Gliederungen und Bezüge, überhaupt zu begreifen?« (224). Es entwickelt sich eine tektonische Struktur, die von der Gegebenheitsfrage ausgeht, sich damit auf das unthematische Sein, das allem Seienden zugrunde liegt, richtet und die zeitliche Endlichkeit des (genuin) menschlichen Daseins als diesen Ursprungspunkt identifiziert (229). Von einem anderen Anfang, einer Verwindung oder gar Überwindung der Metaphysik 21 Vgl. vor dem anthropologischen Hintergrund: H. Schmitz, Husserl und Heidegger, Bonn 1996, siehe auch M. Großheim, Von Georg Simmel zu Martin Heidegger. Philosophie zwischen Leben und Existenz, Bonn 1991.

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ist in diesem Zusammenhang noch überhaupt nicht die Rede. War der Fortgang, den Heidegger tatsächlich wählte, unerlässlich oder zwingend? Heidegger weist am Ende seines Kant-Buches darauf hin, dass »ursprünglicher als der Mensch […] die Endlichkeit des Daseins in ihm sei« (229), womit Dasein als Modus des Seinsverstehens sehr nahe an die Kantische reine Einbildungskraft herangeführt wird. Im Kant-Buch wird eine Metaphysik des Daseins entwickelt, die weniger Destruktion von Metaphysik, sondern vielmehr deren fundamentale Grundlegung ist, eine Metaphysik der Metaphysik im Sinn von Kants programmatischem Brief an Marcus Herz.22 Bemer­ kenswert und von Heidegger später nur noch ex negativo im Blick auf die Seinsvergessenheit weiterverfolgt, ist die Einsicht, dass Meta­ physik nicht nur Produkt des Menschen sei, sie sei vielmehr mit dem menschlichen Sein und seinem Einbruch in die Mitte des Seins schon gegeben. Auf der mit Kant entwickelten Linie, der Unhintergehbarkeit einer kritischen zeithaften Metaphysik, hätte sich Heideggers Denken ab 1929 weiter entfalten können: in einer Tiefe, die zugleich am Gegenüber transzendentaler Rationalität und ihrer Maßstäbe gemes­ sen worden wäre. Dies hätte vermutlich eine deutlich andere Tekto­ nik gegenüber den klassischen Grundstellungen ›der Metaphysik‹ bedeuten können. Heidegger hatte einerseits gute Gründe, die sich in seiner Selbstauseinandersetzung mit dem fundamentalontologischen transzendentalphilosophischen Ansatz spiegeln, die Untersuchungen von ›Sein und Zeit‹ zu transformieren. Der Ansatz des Kant-Buches ist dennoch nicht überholt. Denn er setzt eben hier an: Er evoziert nach der Destruktion eine »Wiederholung der Grundfrage der Meta­ physik« (241), die auf das »innerste Geschehen im Seinsverständnis« antiker und späterer metaphysischer Ausprägungen verweist. Hier zeigt sich eine von Heidegger später in dieser Form philosophisch nicht mehr geäußerte tief humane Grundhaltung, wenn er mit dem Ausblick auf eine »philia« schließt, in der »allein die Zuwendung zum Seienden als solchem sich vollzieht, aus der die Frage nach dem Begriff des Seins (sophia) – die Grundfrage der Philosophie erwächst« (246). In einer der Aufzeichnungen zum Kant-Buch bemerkt Heidegger: Es sei »ein Versuch, dem Ungesagten nachzudenken, statt 22 Vgl. AA X, 251 ff. Von Bedeutung ist, dass sich Kant in der argumentativen Ver­ flechtung dieses Briefes und eben weil der Mensch in seiner Endlichkeit eine »Natur­ anlage zur Metaphysik« aufweist, eine philosophische, metaphysische Freilegung des metaphysischen Ansatzpunktes fordert, und eben nicht eine nur physisch-physiolo­ gische, wie sie etwa von David Hume zu gewinnen ist.

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Kant auf sein Gesagtes festzuschreiben. Das Gesagte ist das Dürftige, das Ungesagte erfüllt mit Reichtum« (GA 3. 246). Worin dieses Ungesagte besteht, wird wiederum in einer Randbemerkung zum Kant-Buch, vor allem zu K.r.V. B 322 ff deutlich: Zentraler Ansatz­ punkt sei das »Problem der Transzendenz«, eben die Frage, die er selbst als Gegenständlichkeit des Gegenstandes freilegt. Sie ist Vor­ aussetzung der Explikation des Daseins als in-der-Welt-seins und der Herauslösung aus den Isolierungen des »ego cogito«. Spezifisch an Heideggers Kant-Buch ist, dass es nicht Auseinandersetzungen oder gar Polemik unternimmt, sondern sich auf der Ebene einer imma­ nenten Interpretation zu halten versucht. Damit fundiert Heidegger den eigenen transzendental-ontologischen Ansatz von ›Sein und Zeit‹ in dem Horizont, den er als Kants ursprüngliche Fragestellung ver­ steht. Heidegger wies selbst Insinuationen zurück, das Kant-Buch sei eine Art »geschichtlicher Einleitung« zu ›Sein und Zeit‹; er sah es vielmehr als Gespräch mit Kant über die Seinsfrage. In genealogischer Rekonstruktion zeigt sich auch, dass Heidegger mit dem transzen­ dentalphilosophischen Ansatz in ›Sein und Zeit‹ so weit zu gehen versuchte, wie es nur möglich war. Umso mehr Aufmerksamkeit ver­ langt dann die Abkehr von diesem Weg. Für die Komplementarität des Gesagten und Ungesagten auf­ schlussreich ist Heideggers weitere Bemerkung, dass das Kant-Buch den Versuch formuliere, »dem Ungesagten nachzudenken, statt Kant auf sein Gesagtes festzuschreiben« (249). Damit, und mit der Aus­ sage, dass das Gesagte das Dürftige sei, das Ungesagte aber erst »den Reichtum« entwickle, eröffnet Heidegger eine Linie seiner Auseinandersetzung mit vergangenem Denken, die auch auf dem seinsgeschichtlichen Weg erhalten bleiben wird; die aber in seinen Logik-Ausarbeitungen mitdenkt, das nahezu mystische Paradoxon mitschwingen lässt, dass Dürftigkeit und Reichtum letztlich eins und dasselbe seien. Auch wenn Heidegger die Distanz durch den Topos der ›Auseinandersetzung‹ klar markiert, nähert sich seine Rekonstruk­ tion in einem Maß an Kant an, wie es methodisch in nachkantianischer Zeit und im Neukantianismus vorgezeichnet ist: Beide versuchen die ungehobenen, aber naheliegenden Implikationen aus dem Kantischen impliziten Text freizulegen und daraus die systematische Konsequenz zu ziehen. In jedem Fall zieht sich eine durchgehende Linie von dem KantBuch und der Vorlesung aus dem Jahr 1935 bis zu den Beschwörungen der Dingheit des Dings in Heideggers späten Denkansätzen. Der

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Kantische Ausgangspunkt ist dort nicht mehr erkennbar; er bleibt aber in einer eigenständig, eher meditativ entwickelten Gedanken­ struktur, dem Ansatz eines »tautologischen Denkens« so präsent, dass man sich fragen kann, ob der gedankliche Weg hier nicht auf eine Position zurückführt, die im Verlauf der Seinsgeschichte in Vergessenheit geriet. In der Vorlesung aus dem Wintersemester 1935/36 wendet sich Heidegger erneut Kant zu. Der Fokus gilt dabei noch einmal und direkt der Frage nach der Gegenständlichkeit des Gegenstandes und nach dem Ding. Der eigentliche Impuls, weshalb nach der Gegenständ­ lichkeit des Gegenstandes gefragt wird, das Entgegenstehen-Lassen dessen, das sich gibt, ist in jenem Kolleg zurückgenommen. Er ist am Zielpunkt noch erkennbar, wenn Heidegger die Lehre von den Grund­ sätzen als »diese Mitte der ›Kritik der reinen Vernunft‹ identifiziert. Der fundamentale Rang der transzendentalen, reinen Einbildungs­ kraft tritt jedoch zurück in die allgemeinere Formulierung, dass die Frage nach dem Ding zugleich die Frage nach dem Menschen sei; sie reiche damit »über die Dinge hinaus- und hinter den Menschen zurück« (GA 41, 246). Beibehalten bleibt die Konzentration auf die Kantische Untersuchung der Möglichkeit von Erfahrung und die Schematisierung der Verstandesbegriffe. Heidegger arbeitet in der Struktur der obersten Grundsätze eine Zirkularität heraus. Die Grundsätze sind durch das Wesen von Erfahrung möglich, das sie selbst ermöglichen (244); konstituiert ist diese Möglichkeit »auf Grund der Einheit und Einigung der reinen Verstandesbegriffe mit den Formen des Anschauens, mit Raum und Zeit« (ibid.). Wenn man diese zyklische Struktur berücksichtigt, nähert man sich einer ›tautologischen‹ Verfassung des Denkens, wie sie Heidegger erst in seiner spätesten Philosophie thematisierte. Weitgehend hält sich Heidegger in der Ding-Vorlesung an die Kantische Urteilsstruktur, auch wenn er deren Formalisierung widerspricht. Dass die Urteilslogik grundsätzlich durch die reine, transzendentale Einbildungskraft aufgebrochen werde, thematisiert er allenfalls am Rand. Als Zielpunkt der Kantischen Systematik der Grundsätze des reinen Verstandes erkennt Heidegger die Formulierung des höchsten Grundsatzes, der konstatiert, dass die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung zugleich Bedingung der Möglichkeit der Gegenstände

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der Erfahrung ist (245).23 Dies verweise methodisch auf eine Mitte, ein Denken des Zwischen von Mensch und Ding, das sich erst im Vollzug des menschlichen Weltbezugs ausbildet und orientiert. In einer Begriffssprache, die schon auf die Seinserfahrung selbst bezogen ist, bemerkt Heidegger weiter, dass »dieses Zwischen als Vorgriff über das Ding hinausgreift und ebenso hinter uns zurück. Vor-griff ist Rück-wurf« (245).

3. Vertauschte Fronten noch immer? Das Davoser Höhengespräch: Cassirer und Heidegger Die Begegnung zwischen Heidegger und Cassirer auf den Höhen von Davos bleibt ein magisches Datum des 20. Jahrhunderts. Längst hat der Mythos, auch bedingt durch die weitere Geschichte des 20. Jahr­ hunderts, die die Kontrahenten auseinandertrieb, die argumentativen Grundlinien überlagert. Dabei verselbständigte sich die zum Symbol erhobene Rolle der Gesprächspartner, hier der spätere NS-Rektor der Freiburger Universität, dort der Emigrant, der aus der Kulturnation, die er durch seine Deutungen wie kaum ein anderer prägte, schändlich vertrieben worden war. Hier der Denker der Konfrontation und des Aufbruchs, dort der Kulturphilosoph eines Ethos von Aufklärung und Zivilisiertheit, und wie die Etiketten weiter zu ergänzen sind. Die Linien der Disputation selbst haben indes aufs engste mit den Einsichten des Kant-Buchs zu tun. In seiner eingehenden Rezension des ersten Bandes von Cassirers ›Philosophie der symbolischen For­ men‹ verwies Heidegger darauf, dass dessen Interpretation des mythi­ schen Daseins einen wesentlichen Aspekt verkenne, nämlich dass der Mythos wie jede andere Verhaltensweise auf eine »radikale Ontologie des Daseins« (265) bezogen sein müsse. Unbestimmt genug spreche Cassirer wechselnd von »Bewusstsein«, »Leben«, »Geist«, er gewinne aber keinen Begriff der Transzendenz des Daseins aus Seiendem, von Dasein und Welt. Kontingent bleibe daher auch die »Grundregel« der symbolischen Formen, »die alle Entwicklung des Geistes beherrscht: dass der Geist erst in seiner Äußerung zu seiner wahrhaften und vollkommenen Innerlichkeit gelangt« (nach Heidegger ibid., 269). Offen lässt Heidegger, ob die Systematik der ›Symbolischen Formen‹ 23 Siehe H. Hoppe, »Wandlungen in der Kant-Auffassung Heideggers«, in: Durch­ blicke. Martin Heidegger zum 80. Geburtstag, Frankfurt/Main 1970, 284 ff.

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zureichend sein kann, wobei in Kenntnis des Kant-Buches deutlich ist, dass er daran schon seinerzeit Zweifel äußerte, eben weil Cassi­ rers Ausgangspunkt vom mythischen Denken eine standardisierte Kant-Interpretation spiegelt, die von der ungeordneten »Rhapsodie des Mannigfaltigen« zu der begrifflich-kategorialen Erkenntnis führt, nicht aber das Problem des Grundverhältnisses von Mensch und Welt in den Blick nimmt. Die Position des gerade erschienenen Kant-Buches lag nach den Aufzeichnungen und Protokollen Heideggers Äußerungen in Davos zugrunde. Die thesenhafte Form bedingt Zuspitzungen, die für das Verständnis des Kant-Buches durchaus aufschlussreich sind, so insbesondere in der Aussage, dass Kants kritische Philosophie in keiner Weise angemessen als »Erkenntnistheorie« verstanden werden kann. Sie löst vielmehr das Programm einer »Metaphysik der Metaphysik« ein und ist damit der erste, ausdrückliche Ansatz einer »Grundlegung der Metaphysik« (271). Mit diesem Anspruch widerspricht Heidegger wenig differenziert dem erkenntnislogischen Ansatz des Neukantianismus und rückt jene Frage ins Zentrum, die die Neukantianer ausschlossen. »Der Ansatz in der Vernunft ist so gesprengt worden« (273), denn Kant habe sich »durch seinen Radikalismus vor eine Position gebracht, vor der er zurückschrecken musste« (273). Dass bis in die Parodie hinein24 Cassirers Gestus die Haltung eines versöhnlichen, auf der Ausgewogenheit beruhenden Klassizis­ mus war und dass er in diesem Sinn wahrgenommen wurde, kann man unschwer auch den knappen Nachschriften der Disputation entneh­ men. Heidegger verabschiedet den Ansatz des Neukantianismus von vorneherein, während sich Cassirer auf dessen Position einlässt. Dass es bei der Beurteilung der transzendentalen Einbildungskraft keinen wirklichen Dissens gebe, ist eine Behauptung Cassirers, die letztlich argumentativ nicht plausibel gemacht wird. Heidegger formuliert in seinem Eingangsvotum noch prägnanter als in der Monographie, dass die Transzendentale Dialektik Kants als Lehre vom Schein Teil der Ontologie sei, womit die Verdeckung von Wahrheit als unerlässlich 24 Die Anekdote will es, dass Emmanuel Lévinas mit gepuderter Haartolle im Satyr­ spiel auf dem Zauberberg den versöhnlich gestimmten Cassirer, Otto Friedrich Boll­ now den neueinsetzenden Heidegger gab. Vgl. D. Kaegi und E. Rudolph (Hg.), Cassirer – Heidegger. 70 Jahre Davoser Disputation, Hamburg 2002, 12 ff., sowie R. Klibansky, Erinnerungen an ein Jahrhundert. Gespräche mit G. Leroux, Frankfurt/Main, Leipzig 2001.

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für Wahrheit sich erweist, »wie zur Natur des Menschen notwendig der Schein gehört« (275). Cassirers Auskunft, dass er mit dem Phantasiebegriff der ›Philo­ sophie der symbolischen Formen‹ den Impetus der Transzendentalen Einbidlungskraft aufnehme, bleibt blass und systematisch unterbe­ stimmt. Cassirer nimmt die Einwände aus Heideggers Rezension aus dem Jahr 1925, jedenfalls nach den publizierten Protokollen, nicht auf. Stattdessen greift er in der Form einer kantiansich-klassisch geprägten Kulturphilosophie auf die Ethik des Kategorischen Imperativs zurück und wirft die Frage nach einer Bindung des endlichen Ich an ewige, nicht-endliche Werte grundsätzlich auf. Und er beschwört, ganz im Sinn seiner eigenen Kant-Darstellung, die gesamte Tektonik des Kantischen Werkes, von dem durchaus unentschieden ist, ob und inwieweit es auf einen einzigen Grund zurückgeführt werden kann vor dem Fokus eines absoluten, zeit-übergreifenden Anspruchs.25 Cassirers Kant-Lesart ist durchaus metaphysisch, aber in einem unbe­ fragten Sinn. Heidegger dagegen fragt radikal nach den Möglichkeits­ bedingungen der Metaphysik. Seine eigentliche Frage fasst Cassirer in die Form: »Will Heidegger auf diese ganze Objektivität, auf diese Form der Absolutheit, die Kant im Ethischen, Theoretischen und in der Kritik der Urteilskraft vertreten hat, verzichten?« (278). Heidegger insistiert demgegenüber auf dem Ansatzpunkt der transzendentalen Einbildungskraft, der exhibitio originaria, die vom endlichen Men­ schen ausgeht, dem eine gewisse Form von Unendlichkeit eröffnet ist, die sich in den Horizont des Verstehens eines Sinnes von Sein einstellt. Von kreatorischer Unendlichkeit oder dem absoluten Intel­ lectus archetypus wird diese Haltung strictu sensu unterschieden. Auch die praktische Vernunft halte sich insofern im »Dazwischen« auf, als verabsolutierter Imperativ, der sich aber an der Kontingenz der seienden Dinge ausweisen muss. In diesem Sinn formuliert Heidegger seine Antwort auf Cassirers Bestehen auf ›ewigen Wahrheiten‹. Wahrheit sei nicht in einem ontischen Sinn endlich-relativ. Sie wird also gerade nicht in einen historistischen Relativismus reduziert Doch sie kann überhaupt nur existieren, weil sie auf das endliche Dasein, die je-weilige Subjektivi­ tät bezogen ist. Damit wirft Heidegger im Rekurs auf das Wesen der 25 Vgl. die Analyse P. Aubenque, »Le débat de 1929 entre Cassirer et Heidegger«, in: J. Seidengart (Hg.), Ernst Cassirer. De Marbourg à New York, Paris 1990, 81 ff., sowie die anekdotische Verdichtung H. Blumenberg, »Affinitäten und Dominanzen«, in: Ders., Ein mögliches Selbstverständnis, Stuttgart 1997, 161 ff.

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Zeit die weitergehende Frage auf, wie die Anmutung von Ewigkeit und einer durchgehenden Substanzialität selbst in der Zeit grundgelegt ist. Die ekstatische Binnenverfassung von Zeit, wie Heidegger sie in ›Sein und Zeit‹ niederlegte, gewinnt nun exemplarisch Profil aufgrund ihres »in sich horizontalen Charakter[s]«, »dass ich im zukünftigen, erinnernden Verhalten immer zugleich einen Horizont von Gegenwart, Künftigkeit und Gewesenheit überhaupt habe« (282). Die eigene Todes- und Angstanalytik habe ihren Sinn, so führt Heidegger diesen Gedanken weiter, in keiner anderen Zielsetzung als darin, die Endlichkeit des Daseins zu exponieren. Heidegger beharrt auf seiner einen, maßgeblichen und im Hori­ zont der Moderne höchst explosiven Frage: Der Frage nach der Möglichkeit der Metaphysik selbst. Allgemeines kulturtheoretisches Raisonnement erscheint ihm demgegenüber als Ausweichen, das der systematischen Ursprünglichkeit nicht gerecht werde. Man kann sich daran stoßen, dass damit die Eigenständigkeit der ethischen Frage und der Normativität in Zweifel gezogen wird. Heidegger scheint an diesem Punkt Cassirer sogar auszuweichen – und bestätigt dabei das gängige Vorurteil der fehlenden Ethik. Freiheit versteht Heidegger nicht normativ. Sie muss, so Heideggers Diktum, »in der Befreiung des Daseins im Menschen« (285) begrün­ det sein, was aufs engste mit der identifizierten Grundfrage in Verbin­ dung steht. Beide Philosophen registrieren, in unterschiedlicher Intensität, ein Ungenügen am Ansatz des anderen, an dem der Bruch sichtbar wird. Cassirer vermerkt, dass Heidegger mit der transzendentalen Einbildungskraft einen »terminus a quo« gewinne, aber nicht zu einem »terminus ad quem« finde. Heidegger dagegen verortet Cas­ sirer im Kontext einer Kulturphilosophie, die ihre »metaphysische Funktion« erst in ihrer inneren Dynamik und ihrer »Verwurzelung« freilegen müsse (285). Die Analyse der Gesprächsverläufe, diesseits von mythischsymbolischer Überhöhung, ergibt ein vielleicht überraschendes Bild: Cassirer antwortet auf Heideggers Fragen weniger einlässlich und eher en passant: Der ›Weg‹ des Menschen zur Unendlichkeit sei, so hält er fest, in der Form zu finden. Sie führe aus der Unmittelbarkeit zur eidetischen Gestaltgebung, wobei Cassirer die Schiller-Verse »Aus dem Kelche dieses Geisterreiches strömt ihm die Unendlich­ keit« zitiert (286). Ein freies Zitat jener Verse steht bekanntlich am Ende von Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹, eine Intertextuali­

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tät, auf die Heidegger nicht anspielt. Heideggers zweite, vor dem Hintergrund seiner Daseinsanalyse scharf geschnittene Frage, ob das Unendliche nur eine Privation des Endlichen sei oder ein eigener Bereich, beantwortet Cassirer wiederum mit einem Goethe-Zitat; in der Sache hebt er, wohl an der Infinitesimalrechnung, hervor, das Unendliche sei ein eigener Bereich des Seienden, wobei die Endlichkeit selbst ins Unendliche gehe, eine »vollkommene Auffül­ lung der Endlichkeit selbst« sei (286). Die Bestimmung der Freiheit, die Cassirer in wenigen Sätzen gibt, ist ein explizites Bekenntnis zum »Idealismus«, und zu der geschichtsphilosophischen Idee eines »fortschreitenden Freiwerdens« der Menschheit (287). Doch gerade an diesem Punkt, der strittigen Freiheitsfrage, die vor dem politischen Hintergrund des Jahres 1929 und von Jaspersʼ späteren Einwänden besonders markant ist und noch immer Sympathie verdient, meldet Heidegger Widerspruch an. »Die Freiheit habe ich mir nicht selbst gegeben« – hält er fest, sie liege letztlich im Dasein begründet und sei damit in einer ontologischen Struktur begründet. Auf die dokumentierte Frage des Diskussionsteilnehmers Pos, ob eine Übersetzbarkeit der Heideggerʼschen in die Cassirerʼsche Begrifflichkeit möglich sei (287), antwortet Heidegger mit großer Zurückhaltung gegenüber einer eventuellen Nivellierung der Stand­ punkte. Ziemlich unverhohlen lässt er sich aber auf die Begrifflichkeit Cassirers ein. So notiert er, dass bei Cassirer der »terminus a quo« ungeklärt bleibe, während der ›terminus ad quem‹, die Kulturphilo­ sophie leitend sei. In seinem eigenen ›Terminus ad quem‹, den Cas­ sirer moniert hatte, gehe es stattdessen um die Grundlegung einer Metaphysik aus der Endlichkeit. Die Einteilungen der Philosophie in Einzeldisziplinen seien vor dem Gewicht der Grundlegungsfrage preiszugeben. Angestoßen durch die Cassirerʼsche Fassung von Frei­ heit gibt aber Heidegger eine harsche und abweisende Selbstdeutung zu erkennen: Dasein als Bewusstsein zu reformulieren (was seither viele Interpreten versuchten, etwa Ernst Tugendhat26), führe in die Irre (289 f), denn eine bewusstseinsphilosophische Annäherung solle gerade zurückgewiesen werden. Damit ist auch die Differenz zur Hus­ serlʼschen Phänomenologie wieder klar beleuchtet. Cassirers Versöhnlichkeit wird in seinem abschließenden Votum explizit. Um nicht in einer historistischen Relativität zu verharren, 26 E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpre­ tationen, Frankfurt/Main 1979, 164 ff.

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komme es darauf an, nach dem »gemeinsamen Zentrum in unserem Gegensatz« (292) zu fragen. Cassirer zielt von hier her auf Sprache, die er ein »Urphänomen« nennt, das eine Sphäre objektiven Geistes konstituiert, und in der die Verschiedenheit der Sprachansichten auf Welt verbunden sei. Der spätere Ansatzpunkt der Gadamerʼschen Hermeneutik mit der Implikation: »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache«,27 liegt, so kann man den Eindruck haben, näher an Cassirers als an Heideggers Denkansatz. Cassirer bleibt jedenfalls im Rekurs auf Spra­ che als symbolische Form an einer transzendentalen Denkarchitektur orientiert. Mit Cohen rekonstruiert er den Typus transzendentaler Argumentation als Ausgangspunkt von einem Faktum der Vernunft, das dann auf seine Möglichkeit hin untersucht werden soll (295). Die Frage nach dem Sinn von Sein sieht Cassirer damit von vorneherein im Licht der transzendentalphilosophischen Transfiguration. Dage­ gen ist es Heideggers starke Konzentration auf diese eine zentrale Frage nach dem Sein, die programmatisch und inszeniert gegenüber dem Cassirerʼschen sinnenden, assoziativen und ästhetischen Dis­ kurs ins Feld geführt wird. Heidegger rekurriert seinerzeit nicht explizit auf die vorplatonische Philosophie. Ausdrücklich verweist er aber darauf, dass es Platon und dessen metaphysische Grundfrage, was das Seiende ist, selbst zu wiederholen gelte. Nicht Standpunkte und Positionen machen die eigentliche Dif­ ferenz aus, so Heidegger; vielmehr sei der Streit zwischen den Posi­ tionen der eigentliche Ansatzpunkt der Philosophie (349 f.). In einer vielleicht tieferen Weise, als es 1929 sich abzeichnete, und zudem über vielfache Engpässe und Schwierigkeiten, trifft Cassi­ rer den springenden Punkt, wenn er die Sprache als den gemeinsamen Grund in der Debatte benennt: Zwischen ihrer Funktion in der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ und in Heideggers späten Anbahnungen von ›Unterwegs zur Sprache‹ liegen weitreichende Differenzen. Doch Heidegger gibt Cassirer insofern recht, als auch das Seinsdenken auf das Problem der Sprache führt. Wäre im Sprachden­ ken doch das Ungesagte in beider Gespräch zu finden? In die Strittigkeit der Davoser Disputation geht durchaus zen­ tral Heideggers Auseinandersetzung mit Cassirers Rezension seines

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H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Gesammelte Werke, Band 1, 478.

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Kant-Buches ein.28 Die methodische Differenz wird hier besonders klar benennbar. Cassirer verkenne, dass es Heidegger »um die Herausarbeitung eines Problems« geht (301) und nicht um die »richtige Interpretation« eines »Kant an sich«. Die neukantianische Fixierung auf die reinen Verstandesbegriffe stellt Heidegger im Licht der vielberufenen Formulierung von der ›Metaphysik der Metaphy­ sik‹ in Kants Brief an Marcus Herz seinerseits in Frage: mit einem philologisch bemerkenswerten Argument, dass Kant gemeint habe, er werde »binnen 3 Monathen« fertig sein, tatsächlich aber zehn Jahre zum Abschluss seines Hauptwerks benötigt habe. Allein diese Divergenz verweise auf die Komplexität der Problemstelllungen, die Cassirer ignoriere. Bemerkenswert ist auch, dass Heidegger in der Annotation Cas­ sirer »ohne weiteres« zugibt, »dass meine Interpretation gewaltsam und übersteigernd« ist (302), und dass er seinerseits die Absicht unterstreicht, einen gemeinsamen Boden zu gewinnen. In Frage stehe aber, ob das Problem der Metaphysik anders entfaltet werden könne und ob sich Kant nicht tatsächlich und de facto auf dem Boden bewegen müsse, den Heideggers Interpretation freilegt. Eine Interpretation des Davoser Höhengesprächs liegt mithin nahe, die nicht nur die Gegensätzlichkeit betont, die unübersehbar angelegt ist, sondern auch die Möglichkeit einer Sachdiskussion und Verständigung auf gemeinsamen Grund ins Auge fasst. Die Einsicht in die Sprachlichkeit des Denkens hätte zumindest eine Kontinuierung des Gesprächs erlaubt. Davos ist damit auch Indiz dessen, was im Jahr 1929 noch möglich gewesen wäre und was dann unwiederholbar zerbrach. Die Gründe liegen unübersehbar in den Brüchen der Zeit. Sie liegen aber auch in der weiteren Genese Heideggerʼschen Denkens, das seit den frühen dreißiger Jahren in eine andere Richtung abbog. Es ist keineswegs nur eine Frage des Timbres und der Stimmungen, dass Heideggers Voten in Davos mehr faszinierten, dass bei ihm die philosophische Sprache einer neuen Generation sichtbar wurde, auch und gerade, wenn die politischen und ethischen Sympathien bei Cassirer lagen. Es ist schlicht die philosophische Konsequenz und Kompromisslosigkeit, die Fähigkeit eine Frage radikal zu expo­ E. Cassirer, »Kant und das Problem der Metaphysik. Bemerkungen zu Martin Heideggers Kant-Interpretation«, in: Kantstudien 36 (1931), 1 ff.

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nieren und zu Ende zu denken, gegenüber einem lose geknüpften, systematisch nur bedingt sich einlassenden Diskurs, die beide trennt. Cassirer bleibt in der Regel bei Voraussetzungen und vorgeprägten Begriffen, während Heidegger den Fragen auf den Grund zu gehen versucht und die Begriffsstrukturen aufbricht. Vor dieser argumen­ tationsanalytischen Differenz ist es also durchaus nachvollziehbar, dass Franz Rosenzweig von »vertauschten Fronten« sprach;29 einer philosophischen Annäherung in der Tiefe, die er, der jüdische Denker, gegenüber Heidegger empfand, auch wenn er politisch, kulturell und ethisch zu Cassirer neigen musste.30 Auch wenn Toni Cassirer in ihren Memoiren Heidegger als protototalitären und barbarischen Antipoden gezeichnet hat,31 und auch wenn die Authentizität einer solchen Schilderung schon mangels Quellenfunden vom Nachlebenden unwidersprochen bleiben muss, sollte die Davoser Debattenlage keinesfalls von Anfang an auf den symbolischen Horizont reduziert werden, so als sei die Behauptung Rortys doch noch zu bewahrheiten, Philosophie müsse in ihren harten Wahrheitsimplikationen gegenüber den Ansprüchen der Demokra­ tie abdanken.32 Gerade in seiner inspirierenden Zwiesprache mit Kant stellte Heidegger eine philosophische Rationalität unter Beweis, die ihn lebenslang zu Selbstrevisionen und -überprüfungen führte. Diese kritisch-philosophische Linie in Heideggers Denken sollte nicht übersehen werden. Sie führt dazu, dass nicht nur die eigene Frage in die Kantische Vorlage eingetragen wird, sondern dass auch umge­ kehrt Heideggers Frage nach Weltlichkeit und Gegenständlichkeit sich von Kant leiten lässt. Man mag deshalb bedauern, dass die Kantianische Selbstverständigung Heideggers Ende der zwanziger Jahre jäh abbrach. Als Grundhaltung ist sie auf Heideggers Denkweg neu zu entdecken.

29 Siehe die Analyse Chr. von Wolzogen, »Vertauschte Fronten: Heidegger und Rosenzweig«, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 46, No. 2 (1994), 109 ff. 30 Erstpublikation des Rosenzweig-Textes in: Der Morgen, April 1930, 85 ff. 31 T. Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, Darmstadt 2003, 250 ff. Cassirers Schilderungen sind menschlich sehr verständlich, v.a. angesichts der späteren Erfah­ rungen in der Emigration. Sie bilden allerdings nicht unbedingt in jeder Hinsicht ver­ lässlich Heideggers zeitgenössische Wirkung ab. 32 So die Tendenz bei R. Rorty, »Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie«, in: Ders., Solidarität oder Objektivität. Drei philosophische Essays, Stuttgart 2013.

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Kritik der Purismen der Vernunft: Noch ein Weg für die Gerechtigkeit?

Das Problem der Kritik am Purismus der Vernunft wurde von Martin Heidegger in seiner Kantanalyse ausführlich behandelt. Diese Aussage, die Heideggers Kritik am Purismus der Vernunft berück­ sichtigt, bedarf mindestens zweier Klarstellungen: erstens die der zugrundeliegenden Bedeutung des Ausdrucks Kritik der Purismen der Vernunft, und zweitens die, wie sie sich im Denken Heideggers findet. Deshalb muss man sich zunächst fragen, was es bedeutet, den Purismen der Vernunft kritisch gegenüberzustehen. Bekannterweise ist die Kritik am Purismus der Vernunft bei Johann Georg Hamann zu finden, der den genetisch-symbolischen Charakter des Denkens mit einer »Meta-kritik« verbindet. Hamanns kritische Einstellung, die aber keineswegs als Kritik an Kant verstanden werden soll, schließt nicht Kants Versuch, die Vernunft von der Erfahrung abzukoppeln, aus, sondern fokussiert sich auf die Verbindung zwischen Denken und Realität. Eben dieser Zusammenhang zwischen Denken und Realität garantiert den Menschen die Freiheit, insofern der Mensch imstande ist, einen konkreten Blick auf den jeweiligen historischen, sprachlichen und leiblichen Kontext zu gewinnen. Das geschieht, weil nach Hamanns Analyse die Erde die paradigmatische Metapher für das Gebundensein des Menschen an das Konkrete darlegt.1 Aber was lässt sich als Kernidee von Hamanns opusculum postumum identifizieren? Die Philosophie zu reinigen. Angesprochen werden hier drei Reinigungen, von denen die erste die »Überlieferung« und »die Tradition«, die zweite »die Erfahrung« und die dritte »die Sprache« betrifft.2 Hamann macht darauf aufmerksam, dass die reine Stünkel, K. M. (2007), »Ästhetische Geologie. Die Frage nach der Wahrheit bei Johann Georg Hamann«, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie, 49(2), 156–182. 2 Wohlfart, G. (1984), »Hamanns Kantkritik«, in: Kant-Studien 75, 406. 1

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Vernunft aus der Rezeptivität der Sprache und der Spontaneität der Begriffe alle Elemente ihres Rechthabens sowie ihrer Zweifel schöpft.3 Daher kann man innerhalb seiner Analyse zwei Stufen dieses Reini­ gungsprozesses unterscheiden: Die erste Stufe betrifft Descartesʼ und Humes Denken, während die zweite Stufe durch Hamanns kritische Auseinandersetzung mit Kant beschrieben wird. Diesbezüglich zeigt Wohlfart in seinem Artikel Hamanns Kantkritik die Unmöglichkeit auf, diese drei Reinigungen gleichzeitig zu verwirklichen. Der Grund dafür liegt in der Verkoppelung zwischen »Vernunft« und »Überliefe­ rung«, da beide Elemente das Proprium der Vernunft kennzeichnen. Aus diesem Grund ist es sehr schwierig, wenn nicht unmöglich, die Vernunft von der Sprache und der Erfahrung zu trennen, da sie durch sie ihre Prägung erhält. Diese kritische Position Hamanns kann, programmatisch betrachtet, auch bei Heideggers Kant-Interpretation aufgefunden werden, weil auch bei ihm »in einem gewissen Sinn« eine Reinigung gefunden werden kann. Damit komme ich zum zweiten darzulegenden Punkt meines Beitrags, der eine Kritik an den Puris­ men der Vernunft im Denken Heideggers aufzeigen will. Schon am Anfang seines Textes Kant und das Problem der Meta­ physik übernimmt Heidegger eine bestimmte Aufgabe: Die folgende Untersuchung stellt sich die Aufgabe, Kants »Kritik der reinen Vernunft« als eine Grundlegung der Metaphysik auszulegen, um so das Problem der Metaphysik als das einer Fundamentalontologie vor Augen zu stellen.4

Diese Worte machen Heideggers Ziel deutlich: Es zeigt sich, dass Kant in seiner »Kritik der reinen Vernunft« das Problem der Funda­ mentalontologie problematisiert. Doch Heidegger will noch etwas Wichtigeres ansprechen: Im Mittelpunkt von Kants Problem steht die Natur des Menschen selbst. Aus diesem Grund kann man davon ausgehen, dass Heideggers Problem über den Sinn des Menschen durch die Konfrontation mit Kant verändert wird. Natürlich ist ein solches Thema, das die Fundamentalontologie zu einem Problem macht, in Heideggers Analyse nicht neu: Bereits in Sein und Zeit lässt sich dies im Zusammenhang mit der Frage nach dem Sinn des Seins als zentrales Thema von Heideggers Forschung erkennen. Trotzdem 3 Hamann, J. G. (1951), »Metakritik über den Purismus der Vernunft«, in: Sämtliche Werke, 3, 2. 4 Heidegger, Martin, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, 1.

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Kritik der Purismen der Vernunft: Noch ein Weg für die Gerechtigkeit?

kritisiert Heidegger wie Hamann bei Kant den Purismus der Vernunft, und zwar durch eine Neubesinnung auf das Thema des Rechts und der Achtung der Gesetze, die von Kant als moralische Gefühle verstanden werden. Und das macht Heidegger durch eine Herausarbeitung der kantischen Kritik der Erkenntnis im ontologischen Sinn. Die Kritik der reinen Vernunft ist jedoch nicht auf der ontischen Ebene im Sinne eines ontischen Erkennens zu verstehen, sondern eher auf der ontolo­ gischen.5 Wie Dieter Misgeld in seiner Doktorarbeit über Schuld und Moralität zu Recht feststellt, unterstellt Kant für die ganze Kritik der praktischen Vernunft einen synthetischen Gebrauch der reinen prak­ tischen Vernuft.6 Folgende Worte Kants belegen diese Anmerkung: Der schlechterdings gute Willen, dessen Prinzip ein kategorischer Imperativ sein muß, wird also in Ansehung aller Objekte bestimmt, die bloß die Form des Wollens überhaupt erhalten, und zwar als Autono­ mie.7

Der Wille für Kant wird, wie Heidegger erklärt, durch das Sittengesetz bestimmt. Die Wirkung des Moralgesetzes als treibende Kraft des Handelns ist jedoch nur negativ charakterisiert, weshalb das Gesetz auf Sensibilität reduziert wird. Dieses Gefühl der Achtung vor dem Gesetz definiert Kants »moralisches Empfinden«, wobei das Gefühl von der Vernunft bestimmt wird. Die Bewertung von Handlungen stellt das objektive Moralgesetz als treibende Kraft auf, um es nach der Kant'schen Maxime zu definieren. Doch unter welchem Begriff bittet Heidegger seine Leser, dieses Gefühl zu definieren, das mit keiner Pathologie verbunden ist? Die Antwort auf diese Frage findet sich in Heideggers akuter Analyse des Empfindens von Aufmerksamkeit. Diese bezieht sich auf Kants rein praktische Argumentation und berührt etwas Bestimmtes: Der Respekt vor dem Gesetz als bestim­ mender Faktor moralischen Handelns, den Heidegger spezifiziert, wird durch das positive Recht bestimmt und hat im Gegensatz zu dem, was Kant aufstellt, keine empirische Bedeutung. Diesen Charakter des Respekts vor dem Gesetz in Kants Analyse zu leugnen, verändert die Bedeutung der Achtung selbst.8 Deshalb kann man davon ausgehen, Ebd. GA 3, 17. Vgl. Misgeld, D. (1966), Schuld und Moralität: Gewissen, Schuld und Ganzsein des Daseins nach Heideggers »Sein und Zeit« im Verhaeltnis zu Kants Grundlegung der Ethik. Dissertation zur Erlangung des Doktorgrads, Heidelberg, 86. 7 Kant, Immanuel, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, AA. 04, 28–37. 8 Ebd., 190. 5

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dass Heidegger in Kant selbst »Fehler« und »Entdeckungen« erkennt: Heideggers Interpretation der reinen praktischen Vernuft ist nicht rein phänomenologisch, sondern auch hermeneutisch; die Prinzipien der Transzendentalphilosophie sollen für Heidegger übernommen werden. Zentral bleibt für ihn aber die Bedeutung des Seins, insofern die Transzendentale Erkenntnis nicht das Seiende selbst untersucht, sondern die Möglichkeit des vorgängigen Seinsverständnisses, d. h. zugleich: die Seinsverfassung des Seienden. Sie betrifft das Überschrei­ ten (Transzendenz) der reinen Vernunft zum Seienden, so daß sich diesem jetzt allererst als möglichem Gegenstand Erfahrung anmes­ sen kann.9

Durch diesen Worte Heideggers begreift man, dass sein Dialog mit Kant das Ziel hat, die Fäden über die Zukunft der Metaphysik zu ziehen, die das Verstehen des Daseinsbegriffs im Zentrum haben. Wie soll aber der Ausdruck »Dasein« verstanden werden? Heidegger deu­ tet schon in Sein und Zeit an, dass sein Daseinsbegriff eine Kritik an den subjektivistischen Theorien der Philosophie beinhaltet. Parallel dazu hat das Dasein aber auch einen transzendentalen Ansatz, durch den die Prinzipien der modernen Subjektivität destruiert werden (vgl. Thiago 2006, 8). Heidegger erzielt durch diese Ausdrucksform »Dasein« die Überwindung der Metaphysik: diese Aufgabe kann er aber nur bewältigen, wenn die Anthropologie beseitigt wird. Diese kleinen, von mir genannten Bemerkungen zeigen den Punkt, den ich in meinem Beitrag betrachten möchte: Heidegger versucht mit seiner Kant-Interpretation die Ursprünglichkeit des Philosophierens zu zeigen. Fern davon, einen technischen erkenntnis­ theoretischen Ansatz zu bieten, erzielt Heideggers Recherche das τί το ὂν des Seienden des Menschen. Diese Fragestellung Heideggers steht mit der komplexen und bisher unerforschten Auffassung seiner Rechtstheorie in Verbindung: Menschsein bedeutet nach Heideggers Ansicht nicht nur das Recht zu wahren, sondern es auch als Weg zur Gerechtigkeit zu erklären. Und dieser Weg kann nur beschritten werden, wenn man die reine Vernunft dafür kritisiert, wie Kant sie sieht, indem man sie von empirischen Begriffsengpässen löst. Um dieses Ziel zu erreichen, sollte man sich fragen, warum überhaupt bei Heidegger ein Rechtsbegriff vorhanden ist. Der nächste Abschnitt die­ ses Beitrags ist diesem zentralen Problem seines Denkens gewidmet: dem Rechtsbegriff innerhalb der Heidegger’schen Ontologie. 9

Vgl. Heidegger, Martin, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, 16.

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Kritik der Purismen der Vernunft: Noch ein Weg für die Gerechtigkeit?

1. Die Frage nach dem Sinn des Seins als die Frage nach dem Recht Es ist bekannt, dass Heidegger niemals ein Werk mit dem Begriff des Rechts betitelt hat. Dies ist der Grund, weshalb heutzutage seine Rechtstheorie unbekannt ist. Auch muss man seine Werke zwischen den Zeilen lesen können, um die Frage nach dem Recht bei Heidegger zu finden. Nichtsdestotrotz hat sich Heidegger schon in den frühen Jahren seiner philosophischen Produktion intensiv mit juristischen und politischen Problemen beschäftigt und gefragt, ob »das Recht zu erkennen« und »jemanden zu seinem Recht [zu] verhelfen« für das Dasein eine Modalität sein könnte, um die Freiheit des Menschen zu gewähren. Fern davon, diese Fragestellung in einer empirischen oder logischen Weise anzugehen, lokalisiert Heidegger das Rechtsproblem in der ontologischen Struktur der Sozietät. Dies fordert als Konsequenz, dass das Dasein seine Freiheit nicht in einer solipsistischen Weise, sondern in einer gesellschaftlichen Sphäre verwirklichen muss.10 Zu zeigen ist Folgendes: Die »Frage nach dem Sinn des Seins« kann sich als »Frage nach dem Sinn des Rechts«11 konfigurieren. Um dies zu belegen, muss man in Sein und Zeit mindestens zwei »Kategorien« systematisch herausarbeiten: a) Das Seinkönnen des Daseins und b) sein In-der-Welt-sein. Somit beinhal­ tet der entscheidende Schritt erst einmal, das a) Seinkönnen des Daseins näher zu untersuchen. So wie Heidegger in Sein und Zeit schreibt: »Das Dasein kann sich als verstehendes aus der ›Welt‹ und der anderen her verstehen oder aus seinem eigenen Seinkönnen« ergeben12. Das besagt aber nichts anderes, als dass sich das Dasein selbst zur Wahrheit der Existenz hin erschließt. Im Blick darauf verhält sich das Dasein in seiner Erschlossenheit nach seinen eigenen Möglichkeiten. Nunmehr stellt es die »Aufgabe« der Erschlossenheit dar, die Weltlichkeit zu besagen, damit sich das Dasein im Anderen 10 Vgl. Georg Weber (1989), Tod, Modernität und Gesellschaft: Entwurf einer Theorie der Todesverdrängung, Opladen, Westdeutscher Verlag, 32; Helmuth Vetter (1991), »Anmerkungen zum Begriff des Volkes bei Heidegger«, in: Reinhard Margreiter/Karl Leidmair (Hg.), Technik – Ethik – Politik, Würzburg, 244. 11 Andrea Bixio fügt noch zwei Kategorien hinzu: die Existenz und die ontologische Differenz. Vgl. Andrea Bixio (1973), Esistenza, colpa e dike (M. Heidegger e la filosofia del diritto), in Rivista internazionale di filosofia del diritto, Milano, Giuffré Editore, 382; Heidegger, Sein und Zeit, GA2, 283. 12 Ebd.

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und in sich selbst vorfinden kann. Das In-der-Welt-sein, bei dem ebenso ursprünglich das Sein des Zuhandenen über das Mitsein mit Anderen verfügt, geschieht aber je um seiner selbst willen,13 wobei es das Selbst ist, das das uneigentliche Man-selbst vorlegt. Damit wird deutlich, dass das In-der-Welt-sein schon verfallen ist. In diesem Rahmen ist außerdem Folgendes zu beachten: Die durchschnittliche Alltäglichkeit des Daseins kann demnach bestimmt werden als das verfallende erschlossene, geworfene-entwer­ fende In-der-Welt-sein, dem es in seinem Sein bei der ›Welt‹ und im Mitsein mit anderen um das eigenste Seinkönnen selbst geht.14

So liegt die Alltäglichkeit im Mittelpunkt des Seinkönnens des Daseins: Die existentiale Analytik deutet keinen »externen« Halte­ punkt oder »Standpunkt«, sondern die Immanenz des Selbstbezüg­ lichen, das sich im sorgenden »faktischen« Leben ausdrückt.15 Um den Rechtsbegriff bezüglich des Seinkönnens zu erläutern, ist es notwendig, den Bezug des Daseins zur Außenwelt zu untersuchen, da dieser umgehend die Beziehung des juristischen Subjekts zum Sein zu erklären vermag. Durch diese Herausarbeitung ist die »Kategorie« der Außenwelt im Zusammenhang mit einem Objekt aufzuheben, um die Transzendenz des Daseins zu thematisieren, welche zur Welt gehört.16 Der Mensch erzielt ein Verstehen des Seienden im Ganzen, damit er sein Selbst und sein mögliches Sollen setzen kann.17 Das kann aber nur im b) In-der-Welt-sein geschehen, weil die Frage nach dem Sinn des Rechts ein konstitutives Moment des weltlichen Daseins ist, das heißt, das Recht umschreibt eine »Regel, die dem Zusammensein Halt« gibt.18 Dieser Bezug des Daseins auf die Welt impliziert aber auch etwas anderes: die Erschlossenheit – wobei sich das Dasein im Anderen und in sich selbst vorfindet. Heideggers 13 Ebd, 236; Rentsch, T. (2013), »Sein und Zeit. Fundamentalontologie als Herme­ neutik der Endlichkeit«, in: Heidegger Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Dieter Thomä, Florian Grosser (Hrsg), Metzler: Stuttgart, 51–80. 14 Martin Heidegger, GA 2, 182. 15 A.a.O; Rentsch (2013) 64. 16 Vgl. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 217. 17 Sitter, Beat (1989), Dasein und Ethik, Alber Verlag: Freiburg i. Breisgau: 88; Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 53: »Eine Norm ist ein Seinsollendes, ein Wert […]. Die Norm ist als solche ›Norm für‹; der Normcharakter weist hin, in sich selbst von sich weg auf etwas, das sie erfüllen soll.« 18 Villani, A. (1958), Heidegger e il problema del diritto, in »Annali dell’Università di Macerata«, Macerata, 259; Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 259.

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zumindest angedeutete Konzeption der Gesellschaft enthält somit den durch das Verstehen gegebenen Horizont des Mit-seins und zeigt sich als ein In-der-Welt-sein fundierender Modus des Daseins – nicht im subjektiven Sinne, sondern in der Weltlichkeitsform, die die Begegnung zwischen dem Dasein und dem Anderen umfasst.19 Die Welt begegnet sich jedoch immer in einer bestimmten Weise des Angesprochenseins:20 Deswegen denkt Heidegger schon in Grund­ begriffe der aristotelischen Philosophie λόγος und νóμος zusammen: Dieses eigentümliche Gebiet, die Alltäglichkeit des Daseins, wird durch die richtige Interpretation der Rhetorik durchsichtig und dient dazu, die Politik selbst festzulegen.21 Demzufolge ist der λόγος als Grundphänomen des Daseins nach der GA Band 18 folgendermaßen zu beschreiben: »dass durch ihn selbst hindurch eine noch ursprüng­ lichere Art des Lebens des Menschen sichtbar wird«22. Zudem wird die Welt durch ihn ergreifbar, sodass die Weltlichkeit der Welt des Daseins auf das Recht des Menschen verweist. Systematisch durchzusetzen ist dies in der Form der Gesetze, die der Mensch übernimmt, womit seine objektive Wirklichkeit ein besitzendes Sein im Gesetz vorlegt, also etwa einerseits die objektive Bestimmtheit des Menschen zeigt, anderseits sich als die schon determinierte enthüllt, was vermag, die Gesetze dem Subjekt zur Verfügung zu stellen: So erscheint das »Sollen« im Außenbereich als etwas, das eine Objektivität zu sein vorschreibt, der der Mensch unterworfen ist.23 Diese Überlegung rückt die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Selbstseinkönnen und Recht in den Fokus; explizit schreibt Heidegger in Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie: »Das Dasein bedarf der Bezeugung eines Selbstseinkönnens, da es die Möglichkeit nach je schon ist.«24 Vom Standpunkt dieser Betrachtung aus kann das Dasein selbst Entscheidungen treffen. Die Wahl zu treffen heißt, dass wir uns selbst dazu entscheiden, nicht manipuliert zu sein: Wir begreifen darin unsere Lebensmöglichkeiten. Das besagt aber, dass wir frei sind. Vgl. Sitter, B. (1989), 87. Vgl. Heidegger, NB, 22. 21 Vgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 135. 22 Heidegger erklärt im Anschluss seine Interpretation der Nikomachischen Ethik. Vgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 117. 23 Andrea Bixio fügt noch zwei weitere Kategorien hinzu: die Existenz und die ontologische Differenz. Vgl. Esistenza, colpa e dike (M. Heidegger e la filosofia del diritto), 397. 24 Heidegger, GA 2, 356. 19

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Folglich übernimmt das Dasein die Faktizität der Überantwortung, was bedeutet, dass es seine eigene Möglichkeit wählt. So ist durch diesen Punkt die Verbindung zwischen Recht und Freiheit offengelegt: Das Grundverhältnis des Daseins zum Frei-sein ist von Heidegger in der ganzen sozialen Ordnung gedacht – der gesellschaftlichen Vielfalt wohnt dadurch eine rechtliche Rolle inne, die nicht nur die Bedeutung dieser Formen und Gestalten des Miteinanderseins beinhaltet, son­ dern auch die Struktur des Daseins in der Welt.25 Diese Untersuchung wird von Heidegger weiterhin in seiner Interpretation von Kant erklärt, die in Verbindung mit dem ius naturale als auch mit dem ius gentium stehen. Auf dieses Problem werde ich mich in der nächsten Sektion meines Beitrags fokussieren.

2. Im-Recht-sein: Eine Überlegung im Anschluss an das ius naturale und das ius gentium Schon die römischen Juristen haben ein juristisches System entwor­ fen, das auf der Idee einer hierarchischen Differenzierung der Rechte basiert. Ihre Normen wurden nicht von einem Grundprinzip abgelei­ tet, das als Ursprung aller Rechtserscheinungen fungierte, sondern vielmehr aus dem »ius naturale« der verschiedenen Rechtsbereiche. Deswegen kommt dem Naturrecht kein hierarchischer Vorrang über das Völkerrecht (ius gentium) und Zivilrecht (ius civile) zu, die die Grundsätze von der Gesetzgebung oder Rechtspraxis verwirklicht.26 Stattdessen ergibt sich die Unterordnung oder die Überordnung zwischen den Menschen, wenn sich das Naturrecht über ein breiteres Gebiet als das Zivilrecht erstreckt. Deswegen kann in dem Corpus iuris civilis eine Reihe von Rechtsnormen gefunden werden, die die Gruppierung der menschlichen Natur betreffen. Dementsprechend stellt sich das Naturrecht als eine Summe von Rechtsgebilden dar, die in der politischen oder juristischen Praxis wirken, insofern sie zum Menschen selbst gehören oder in seinem Herzen zu finden sind. Jedenfalls ist das ius gentium nicht als Vereinbarung zwischen Men­ schen zu verstehen, sondern als etwas, das die Menschen anerkennen Hermann Krings (1973) Hans Michael Baumgartner und Christoph Wild (Hg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, München, Kösel Verlag, 1973, 1188. 26 Scattola, M. (2012), Das Naturrecht vor dem Naturrecht: Zur Geschichte des ›ius naturae‹ im 16. Jahrhundert (Vol. 52). Walter de Gruyter, Berlin, 110. 25

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müssen. So vertreten die römischen Rechtsgelehrten die Position, dass diejenigen Rechtsgebilde, die bei allen Völkern vorhanden sind, aus der natürlichen Vernunft entstehen und dem Naturrecht zuge­ schrieben sind.27 Dieser Problembereich, der auf der Differenzierung zwischen Naturrecht und bürgerlichen Recht basiert, hat die philoso­ phische Reflexion bis heute beschäftigt. Nach den vielen Philosophen, die sich schon in römischer und mittelalterlicher Zeit diese Frage gestellt haben, bemühte sich Immanuel Kant in seinen politischen Reflexionen darum, die Funktion dieses Rechts zu klären. In seiner Rechtslehre kann der prinzipielle Unterschied durch die Bezugnahme auf die Legalität eruiert werden: Einerseits betrifft er die Differenz zwischen Recht und Moralität. Anderseits zieht Kant eine deutliche Trennung zwischen der Metaphysik der Moral und der Metaphysik der Natur. Hierbei legt das Recht die Frage nach dem quid iuris fest, während die Natur das quid facto bestimmt. Folgende Worte Kants, die aus der »Grundlegung der Metaphysik der Sitten« stammen, helfen dabei, sich seiner Rechtstheorie zu nähern: »handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.«28 In dieser Formulierung kommt es nicht nur auf die Allgemeinheit an, die durch den Zusatz »Gesetz« zur strengsten Allgemeinheit wird. Entscheidend ist auch, von welchem Gegenstand die Allgemeinheit gefordert wird. Im Zentrum dieses Problems steht der Wille des Menschen: Von ihm hängt nicht nur die Grundstruktur des Rechts ab, sondern auch die Fähigkeit zu bestimmen, wie die Grenzen zwischen Gut und Böse verlaufen. Dementsprechend bleibt die Frage nach dem Willen an die Ethik gebunden. So postuliert die ganze Kritik der praktischen Vernunft die Potenzialität eines synthetischen Gebrauchs der reinen praktischen Vernunft. »Der gute Wille« nimmt der Form folgend einen Imperativ, so wie Kant weiterhin erklärt: »Der schlechterdings gute Wille, dessen Prinzip ein kategorischer Imperativ sein muß, wird also, in Ansehung aller Objekte unbestimmt, bloß die Form des Wollens überhaupt enthalten«.29 Der kategorische Imperativ untersucht nun, ob der in eine Maxime gesetzte subjektive Lebenshorizont auch als objektiver Lebenshorizont, ob er als vernünftige Einheit einer Gemeinschaft von Personen gedacht und gewollt werden kann. Deswegen liegt der Wille 27 28 29

Ebd. 154. Kant, Immanuel, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, 421. Ebd. 104.

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im Zentrum von Kants Argumentation: Dieser lässt sich in seiner reinen Form durch die bloße Form des Gesetzes als ein bestimmtes Gedachtes charakterisieren.30 Dann wird diese Determinierung als die oberste Bedingung aller Maxime angesehen.31 Im Begriff des Bewusstseins des Gesetzes als Faktums der Vernunft ist also das Bewusstsein der Faktizität des reinen Willens eingeschlossen; dieser bedeutet »Autonomie in dem Grundsatze der Sittlichkeit«.32 Dass Kant dem Willen eine Autonomie zuspricht, schließt nicht aus, dass die Gesetze ihn bestimmen können. Stattdessen gehört der Wille in einen Naturzustand, dem eine Allgemeinheit, aber noch keine Realität zukommt, die noch realisiert werden soll. Im bürgerlichen Zustand, im Staat kann der Wille »wahr« gemacht werden. Dieser soll aber auf dem einem allgemeinen Willen entsprechenden Kontrakt gedacht werden.33 Dieser Standpunkt, der in der thomistischen und spät­ scholastischen Reflexion dargelegt wird, nämlich dem Unterschied zwischen ius naturale und ius gentium und dessen Prinzipien Kants politische Reflexionen im Anschluss an die Funktion des Willens beeinflusst haben, wird auch bei Heidegger betrachtet. Entscheidend ist dabei, was Heidegger im Anschluss an Schelling äußert, nämlich was das Volk bedingt: Es gibt eine Objektivität, die das Schicksal des Volkes bestimmt. Diese ist im Mythos zu erkennen. Demnach kann sich das Volk seinem Schicksal nicht entziehen. Diesem objektiven Prozess bleibt, wie Heidegger beschreibt, das Dasein unterworfen. Nichtsdestotrotz schließt Heidegger die Freiheit für das Volk nicht aus, auch wenn diese immer vom Schicksal bedingt bleibt.34 Die Objektivität, die Heidegger erwähnt, die in der Objektivität des Mythos liegt, ist in einer recht verstandenen »Subjektivität« zu finden.35 Den Mythos erkennt man dem zufolge als ein einziges, geistiges, »schaffendes Prinzip der Weltgestaltung«. Diese rechtver­ standene Subjektivität, die das Recht-sein des Daseins prägt, muss imstande sein, die vom Staat vorgegebenen Regeln zu respektieren: Wie Heidegger selbst in der Einführung in die Metaphysik behauptet, kann man, wenn das Sein des Staates hinterfragt wird, nicht an seinem Höffe, O., 1996: Immanuel Kant (Reihe Denker) 4. Auflage. München, 98ff. Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, 55. 32 Ebd. 72. 33 Baumann, L. (1994), »Kant. Prolegomena«, ed. R. Malter. In: Kant-Studien, 85(1), 153. 34 Heidegger, Martin, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, 255. 35 Ebd, 256. 30 31

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Existenzzustand zweifeln, weil, so wie Heidegger zu bedenken gibt: »der Staat ist«. Seine Pflichten werden nicht durch seine Funktion hervorgerufen: Weder ein Staatspolizist, der einen Verdächtigen ver­ haftet, noch ein Reichsministerium, das auf der Schreibmaschine klappert, kann das Wesen des Staates determinieren.36 Eher bezeich­ net der Staat eine Stätte der Geschichte. Dies wird deutlich, wenn man Heideggers Aufmerksamkeit für die griechische Tradition der πóλις betrachtet. Dies wird in folgendem Zitat aus der GA Band 40 deutlich: »die Stätte, das Da, worin und als welches Da-sein als geschichtliches ist«.37 Hier kann sich die Geschichte des Daseins verankern: so werden Dasein und Volk geschichtlich. Innerhalb der Geschichte gewinnt der Staat eine Objektivität, da das Geschichtlichsein für das Dasein bedeutet, das Recht zu respektieren. Dies ist aber nur möglich, wenn es seine Funktion erkannt hat. Diesbezüglich kann das Dasein als Teil des Volkes seine Handlungen an der Welt orientieren. Nicht zuletzt kann sich damit »das vergangene in seiner verpflichtenden Kraft befreien«.38 Deswegen ist die Allgemeingültigkeit des Rechts (ius naturale), die sich im Wissen des Staates für das Volk (ius gentium) darstellt, an den Staat selbst gebunden. Den Staat definiert Heidegger als »das erweckende und bindende Gefüge«, in dem das Volk allen großen Mächten des menschlichen Seins ausgesetzt wird.39 Dadurch kann man erneut eine Parallele zu Kants juristischer Reflexion ziehen: bei Kant verweisen die Rechts­ gründe auf das Gebiet der Metaphysik, in der das moralische Gesetz an Bedeutung gewinnt. Heidegger stellt sich dasselbe Problem. Kant aber erklärt die Bedeutung der Moralität durch das Gewissen. Die Bestimmung Heideggers fängt schon in Sein und Zeit an, wo er die Werte durch eine ontische Konstitution erklärt. Als Prädikate von vorhandenem Ding40 werden sie auf die Vorhandenheit zurückgeführt. Wenn Werten und Vorhandenheit derselbe Stellenwert zugemessen wird, dann etabliert sich damit die Ontologie des Daseins als Voraus­ setzung jeder formalen und materialen Wertlehre; nicht zuletzt haben »Werte am Ende ihren ontologischen Ursprung«.41 Davon ausgehend, Heidegger, Martin, Einführung in die Metaphysik, GA 40, 38. Ebd., 117. 38 Heidegger, Martin, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, GA 16, 228. 39 Ebd. 40 Vgl. Frings, Manfred S. (1969), Person und Dasein: Zur Frage der Ontologie des Wertseins, Phaenomenologica 32. Nijhoff, Den Haag, 2. 41 Vgl. Heidegger, Martin, Sein und Zeit, GA 2, 294. 36

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dass das Gewissen zum ethischen Denken führt, kann es nur im Gefühl des Wertbewusstseins liegen.42 Damit ist die Verbindung zwischen der Welt der Werte und der realen Welt erkennbar. Als Folge kann man noch hinzufügen, dass die sittlichen Werte für Heidegger das Gewissen kennzeichnen, da sie dem Menschen eine besondere Sicht auf die Welt ermöglichen, nämlich als Verantwortung der einzel­ nen Person, ihre Geschichte zu tragen. Damit werden die Prinzipien gedeutet, nach denen das Leben des Menschen abläuft, nämlich die ethischen Werte. Im Grunde entsprechen diese eher einer materialen als einer formalen Konstitution,43 weil Heidegger die Priorität auf ihre praktischen Anweisungen legt. Die Grundstruktur des Daseins wird als faktisch bezeichnet; im Grunde vollzieht der Ruf des Gewissens das Handeln des Menschen und ich zitiere wieder aus Sein und Zeit: »Rufverstehend läßt das Dasein das eigenste Selbst aus seinem gewählten Seinkönnen in sich handeln. Nur so kann es verantwortlich sein.«44 Jedes Handeln des Menschen ist faktisch notwendigerweise gewissenlos, sowohl »weil es faktische moralische Verschuldung nicht vermeidet«, als auch, »weil es auf dem nichtigen Grunde seines nichtigen Entwerfens je schon im Mitsein mit Anderen an ihnen schuldig geworden ist.«45 Das positive Rufen ist die Möglichkeit, nach der die Menschen zu handeln haben, was bedeutet, den Ruf zu hören, »sich in das faktische Han­ deln [zu] bringen.«46. Heideggers Argumentationszusammenhang beweist, dass wenn man den Ruf versteht, dieser als Gewissen-habenwollen charakterisiert werden kann. Im Grunde situiert sich an dieser Stelle das »In-sich-handeln-lassen,“ welches das Selbst aus »sich selbst« charakterisieren könnte. Die Wertprädikate und ihr Verhältnis zueinander sind somit im Rahmen des existentiellen Verhaltens in Richtung einer existenzialen Interpretation der Grundstruktur des Daseins in-der-Welt entsprechend der Frage, die sich hinsichtlich einer Wertung stellt, zu entwickeln. Sie macht daher ersichtlich, dass das Einheitliche des Entwurfs zu seiner Seins-Verfassung gehört,47 die nicht die Freilegung des Seins zum Anspruch haben soll. Was 42 Kuhn, Ann. (1968), Das Wertproblem in den Frühwerken Martin Heideggers und Sein und Zeit, Inaugural Dissertation, München, 124. 43 Vgl. Heidegger, Martin, Sein und Zeit, GA 2,294. 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Ebd. 294. 47 Vgl. Kuhn 1968, 110.

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von Heidegger gesucht wird, bleibt die Wahrheit der Existenz, die sich fundamentalontologisch im Dasein entdeckt: diese erreicht man in ihrer Ursprünglichkeit nicht durch Worte, sondern eben mit dem Schweigen, nämlich der Todesgewissheit.48 Zur Erhellung die­ ses Wahrheitsbegriffs und der inneren Wertproblematik begründet Heidegger deshalb prioritär ein ontologisches Fundament, weil damit die Übereinstimmung von Wahrheit und Urteil sichtbar wird: der »Ort« der Wahrheit ist die Aussage (das Urteil).49 Hiermit kann das aussagende Sein mit dem Seienden als Prinzip dessen, was das Aufzeigen des Seienden ist, zu dem es sich selbst »entdeckt,“ selbst erklären, was eine wahre Aussage besagt.50 Diese Beziehung vermag, wobei sie die ontologische Eigenschaft des Beziehungsganzen des Wahrheitsbegriffes ist, das entdeckte Sein zum realen Seienden selbst zu führen.51 Daran ist das Problem der Synthesis gebunden, welches erneut Heidegger und Kant in Verbindung stellt. Wie oben dargestellt hat Kant die Frage durch den Primat der praktischen Vernunft, durch die Behauptung der Freiheit, durch den Anspruch der konstitutiven Bedeutung eines Grundsatzes gelöst und die absolute Objektivität im Moralgesetz verankert.52 Heidegger verschiebt diese Annahme Kants in die Ontologie, deren Möglichkeit in der reinen oder transzenden­ talen Einbildungskraft liegt. Fraglich ist, ob beide Philosophen den gleichen Standpunkt vertreten, nämlich ob die kantische transzenden­ tale Welt mit den Bedingungen und Gesetzen, die dem Bereich des Erkenntnisprozesses innewohnen, mit dem ontologischen Verständ­ nis von Heideggers Welt verglichen werden können. Jetzt werde ich in meiner letzten Sektion die Aufmerksamkeit auf das Problem der Synthesis legen. Ich werde zeigen, wie Heidegger dadurch die ethische Entwicklung der Vernunft hervorhebt. Ebendeshalb wird das Gefühl der Achtung in die Möglichkeit der Gerechtigkeit einbezogen.

Vgl. Stahhlut 1986, 183. Vgl. Heidegger, Martin, Sein und Zeit, GA2, 214. 50 A.a.O, 218. 51 Ebenda. 52 Eberhard Grisebach (1930), »Interpretation oder Destruktion? Zum kritischen Verständnis von Heideggers ›Kant und das Problem der Metaphysik‹“, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg. 8, 210. 48

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3. Die ontologische Synthesis und das Gefühl der Achtung: Heideggers Weg für die Gerechtigkeit Kant erzielt in der »Kritik der reinen Vernunft« eine Explikation der reinen oder theoretischen Vernunft im Hinblick auf die Begrün­ dung der Metaphysik, durch die darin erhaltenen synthetischen Sätze a-priori.53 Den »Ausdruck« Metaphysik gebraucht Kant in einem doppelten Sinn: einerseits bezeichnet er eine Wissenschaft, der die drei Ideen »Gott, Freiheit und Unsterblichkeit« innewohnen.54 Anderseits sind nach seiner Analyse diese drei erwähnten Begriffe transzendent und nicht empirisch. Deswegen stellen sie einen Teil der menschlichen Vernunft dar, der von einem empirischen Standpunkt aus »transzendent«, »dialektisch« oder »illusorisch« ist. Heidegger schließt sich dieser Überlegung Kants an und zeigt, dass der Sinn der Metaphysik eine »metaphysica specialis« ist, insoweit die Ontologie »primär überhaupt nicht auf die Grundlegung der positiven Wis­ senschaft bezogen ist«.55 Deswegen fährt Heidegger fort, dass ihre Notwendigkeit und ihre Rolle in einem höheren Interesse begrün­ det ist. Dieses Interesse erklärt er als eine Verbindung zwischen »Metaphysica generalis« und »metaphysica specialis«, in der die Metaphysica generalis die notwendige »Zurüstung« für die metaphy­ sica specialis gibt. So problematisiert Heidegger die Bedeutung des Transzendentalen: wenn Kant schreibt: »ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, insofern diese apriori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt«, dann bemerkt Heidegger daran, dass sich die transzendentale Erkenntnis nicht auf Gegen­ stände bezieht, sondern auf das Sein des Seienden. So determiniert Heidegger: »Transzendental-Philosophie besagt nichts anderes als Ontologie.«56 Dementsprechend muss sich jene Wesensbestimmung in jedem Fundament umändern, um die Grundlegung der Metaphysik und die Enthüllung der inneren Möglichkeiten der Ontologie anzu­ kündigen. Die Metaphysik ist nach Heidegger keine Erkenntnistheo­ 53 Gupta, R. K. (1962), »Eine Schwierigkeit in Kants ›Kritik der reinen Vernunft‹ und Heideggers Kant-Interpretation«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, (H. 3), 429–450. 54 Ebd. 55 Heidegger, Martin, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, 12. 56 Heidegger, Martin, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 180.

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rie, sondern die ontologische Erkenntnis qua synthetischem Urteil a priori. Heidegger untersucht die Basis der ontologischen Synthesis, die auch die apriorische Synthesis bezeichnet, die dem Seienden seine Seinsverfassung garantiert und ermöglicht, dass irgendein Seiendes als Seiendes erkannt werden kann.57 Wenn aber ontologische Syn­ these und ontologische Erkenntnis in Verbindung stehen, weil und ich zitiere aus der GA 3: »die Möglichkeit der ontologischen Erkenntnis in der reinen Synthesis gründet«58, dann wird infrage gestellt, wie die reine Synthesis verstanden werden muss. Bekanntlich schließt Kant die Möglichkeit der Gegenstandserfahrung ohne das Zusammenwir­ ken von Anschauung und Begriffen aus. Im Anschluss daran erklärt Heidegger, dass sich »in der reinen Synthesis« reine Anschauung und reines Denkens a priori treffen können. Daher handelt es sich um die Möglichkeit der Beziehung zwischen Denken und Sein, zwischen Subjekt und Objekt, die den Sprung von der theoretischen zur prak­ tischen Vernunft etablieren kann. Wenn aber Kant das Ich als »die ursprüngliche synthetische Einheit der Apperzeption interpretiert«, weil ich mir »einer notwendigen Synthesis derselben apriori bewusst bin,“59 dann soll untersucht werden, wie etwas vorgestellt wird und wie gedacht werden muss. Heidegger erklärt, und ich zitiere aus der GA 24, dass »das Verbinden der Mannigfaltigkeit der Vorstellung und des in ihnen Vorgestellten immer mitgedacht werden muß.«60 Die Apperzeption des Ichs bezeichnet die ursprüngliche synthetische Einheit der ontologischen Charakteristik des Subjekts selbst. Diese findet sich aber, wenn man Kants Lösung betrachtet, wie Grisebach zu bedenken gibt, durch die Auflösung der Welt des Objekts in die formale Subjektivität, durch die Darstellung der Gesetzmäßigkeit (Regeln, Grundsätze, Ideen) der reinen Vernunft, durch Aufweisen des rein logischen Vermögens der Spontaneität, durch Ausführung der logischen Ausgestaltung des Systems, wie sie sich im transzen­ dentalen Schema der Möglichkeit eines geordneten Nacheinander bewegt.61 Dementsprechend verwundert es nicht, dass Heidegger Transzendental-Philosophie und Ontologie als gleichbedeutend dar­ stellt. Diese hat nach Kant mit der Erkenntnis der Gegenstände zu tun, 57 58 59 60 61

Heidegger, Martin, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, 38. Ebd. 71. Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, 180. Heidegger, Martin, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 180. Grisebach 1930, 212.

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sofern dasselbe Subjekt als Ich-denke und Ich-verbinde mitgedacht wird. So stellt das Ich die ontologische Grundbedingung und zwar das Transzendentale dar, die allem Besonderen zugrunde liegt. Deswegen nehmen die Kategorien als mögliche Formen der Einheit die Form der möglichen Denkweisen des Ich an. Unter diesen Umständen enthält aber das Ich selbst einige der Probleme, die wie folgt dargelegt werden können: wenn das Ich als Ich-denke verstanden wird, dann beinhaltet es – wie Heidegger selbst behauptet – die formale Struktur der Per­ sonalität als personalitas transcendentalis. Dabei schließt Heidegger aus, dass es in der personalitas transcendentalis im »ich denke« das faktische Vermögen gibt, mit dem man sich über Vorkommnisse bewusst werden kann. Daher entsteht eine Spaltung zwischen dem Ich als »personalitas transcendentalis«, als Ich-Subjekt und dem Ich als »personalitas psychologica«, als vorgefundenes Objekt, nämlich ein Vorhandenes, bei dem Kant zwischen dem »Ich der Apperzeption« und dem »Ich des logischen Ichs« unterscheidet. Bei diesem erkennt Heidegger die Funktion des Logos, des Denkens, und zwar ein Ich, das imstande ist, die Dinge zu verbinden, dem aber das Denken selbst zugrunde liegt. Im Anschluss daran schließt Heidegger darauf, dass das Ich der transzendentalen Apperzeption »ein logisches ist«, nämlich: »dass das Subjekt das Ich verbinde, besagt weder daß es gegenüber dem vorhanden wirklichen psychischen Ich ein anderes Ich sei, noch daß es überhaupt nichts Seiendes ist«.62 Durch diese Annahme problematisiert Heidegger den Existenzzustand des Ichs und seine Verbindung mit der Psychologie, da damit die personalitas moralis infrage gestellt wird. Hiermit soll der Standpunkt Kants hervorgehoben werden, der etabliert und ich zitiere aus der »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«, dass »[d]ie Moral, sofern sie auf dem Begriffe des Menschen, als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens, gegründet ist, […] weder der Idee eines andern Wesens über ihm [bedarf], um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten«. Kant unterscheidet zwischen drei Klassen, die wie folgt formuliert werden können: die Tierheit, die Menschheit und die Persönlichkeit. Während die Tierheit unter dem allgemeinen Titel des bloß Physischen und der menschlichen Selbstliebe zu erkennen ist und somit nicht die Vernunft zu ihrer Funktion benötigt, bleibt die zweite Bestimmung 62

Heidegger, Martin, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 185.

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des Menschen als vernünftiges Lebewesen übrig. Ich möchte aber die Aufmerksamkeit auf die dritte Bestimmung lenken, und zwar auf die Persönlichkeit, in der Kant den folgenden Punkt betont, und ich zitiere wieder aus der »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«: »Die Anlage für die Persönlichkeit ist die Empfänglichkeit der Achtung für das moralische Gesetz, als einer für sich hinreichen­ den Triebfeder der Willkür. Die Empfänglichkeit der bloßen Achtung für das moralische Gesetz in uns wäre das moralische Gefühl, welches für sich noch nicht einen Zweck der Naturanlage ausmacht, sondern nur, sofern es Triebfeder der Willkür ist«. Im Anschluss daran erklärt Heidegger, dass in der Persönlichkeit eine doppelte Nuancierung gesehen werden kann: einmal der formale Begriff der Ichheit als Selbstbewusstsein im Sinn eines Ich-denke. Andererseits kann die Bedeutung des Ich-Objekts isoliert werden. Daher macht Heidegger darauf aufmerksam, dass es innerhalb der personalitas moralia eine Modifikation des Selbstbewusstseins gibt. Diese vermag, ein Merk­ mal der Person für das, »was sie ist«, zu geben. Daher kommt infrage, wie sich dieses Selbstbewusstsein erklärt, wenn es keine Form des empirischen Kennens besitzt, sondern die Natur des Menschen. In Anbetracht dessen dreht sich die Frage um das moralische Selbstbe­ wusstsein, dem das Gefühl der Achtung vor dem Moralgesetz als Moment des Offenbarwerdens des praktischen Selbst für sich selbst eignet. Innerhalb des Gefühls ist das sich-selbst-Haben phänome­ nologisch betrachtet hervorzuheben. Deswegen schließt Heidegger aus, dass »das moralische Selbstbewusstsein ein Gefühl sein muss, wenn es sich vom theoretischen Wissen im Sinne des theoretischen »Ich denke nicht« unterscheiden soll.«63 Demensprechend bezeichnet das moralische Gefühl Kants keine empirische Erfahrung, sondern das Offenbarmachen des Ich durch die Handlung selbst. Fraglich ist an dieser Stelle, was ein moralisches Gefühl bezeichnen kann. Heidegger macht seine Leser darauf aufmerksam, dass das moralische Gefühl für Kant die Achtung ist. Beide Termini sind untrennbar. Dass Heidegger sich darauf fokussiert, weist weiterhin auf die Struktur der transzendentalen Einbildungskraft hin: »Diese Wesensstruktur der Achtung (läßt) in sich die ursprüngliche Verfassung der trans­ zendentalen Einbildungskraft hervortreten. Die sich unterwerfende unmittelbare Hingabe an… ist die reine Rezeptivität, das freie Sichvorgeben des Gesetzes aber ist die reine Spontaneität; beide sind 63

Heidegger, Martin, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 188.

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in sich ursprünglich einig«.64 Diese Worte Heideggers erinnern an »Kants Kritik der praktischen Vernunft«, und ich zitiere: »Also ist Achtung fürs moralische Gesetz ein Gefühl, welches durch einen intellektuellen Grund gewirkt wird, und dieses Gefühl ist das einzige, welches wir völlig a priori erkennen, und dessen Notwendigkeit wir einsehen können« (Kant 2011 194). Heidegger erweitert Kants Überlegung und merkt ausschließlich an, dass wenn die Achtung für das Wesen der Person das Moralische selbst konstituiert, dann soll das Gesagte als Weise des Selbstbewusstseins dargestellt werden. Diese Zweideutigkeit löst sich durch die Annahme, dass die Achtung für das moralische Gesetz, das durch einen intellektuellen Grund erwirkt wird, auf die Vernunft zu beziehen ist. Auch wenn damit keine Handlungen beurteilt werden, ist die Achtung für das Gesetz die Bestimmung des sittlichen Handelns. Nichtsdestotrotz fokussiert sich Heidegger auf die Bedeutung der Empfänglichkeit eines Gesetzes, weil, wie er selber merkt, die endliche Vernunft rezeptiv ist, wenn das »Ermöglichende eines Empfangenen dieses Gesetzes als eines moralischen« liegt.65 Diesbezüglich erklärt aber Kant, und ich zitiere aus der »Kritik der praktischen Vernunft«, dass »das moralische Gesetz also, so wie es formaler Bestimmungsgrund der Handlung ist, durch praktische reine Vernunft, so wie es zwar auch materialer, aber nur objektiver Bestimmungsgrund der Gegenstände der Handlung, unter dem Namen des Guten und Bösen, ist, so ist es auch subjektiver Bestimmungsgrund, d.i. Triebfeder, zu dieser Handlung, indem es auf die Sittlichkeit des Subjekts Einfluß hat, und ein Gefühl bewirkt, welches dem Einflusse des Gesetzes auf den Willen beförderlich ist.« Heidegger stellt sich aber an dieser Stelle Kant entgegen, weil das Gefühl der Achtung der Gesetze nicht zur Formulierung der Gesetze dient, sondern der Besitz eines Gefühls der Achtung für das Gesetz und damit diese bestimmte Art des offenbaren Gesetzes die Weise ist, »in der mir das moralische Gesetz als solches überhaupt entgegen kommen kann«66. Daher kann man eine weitere Implikation für die Bestimmung der Rechtstheorie Heideggers einbeziehen, die erklärt, wie die Menschen sich innerhalb der Gesellschaft verhalten sollen. Die Achtung vor den Gesetzen und sie zu respektieren, wird von Heidegger als Bestimmungsgrund des Handelns verstanden, insofern 64 65 66

Heidegger, Martin, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, 159. Ebd. 157. Heidegger, Martin, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 191.

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es, und ich zitiere wieder aus der GA 24, ein »Offenbarmachen meiner selbst als des Handelnden wird«. Daher kann die Existenz des Menschen nicht als bloße Erkenntnis offenbar werden, sondern vielmehr ist es so, dass in der Achtung die Bestimmung des Menschen liegt. Wenn aber »das moralische Gefühl als Achtung vor dem Gesetz nicht anders als das Verantwortlichsein des Selbst sich gegenüber und für sich selbst ist«67 (Heidegger GA 24, 194), dann ist dies dieselbe Achtung, die die Würde des Menschen offenbart, vor der der Mensch sich selbst verantwortlich weiß. Heidegger drückt diese Überlegung mit folgenden Worten aus: »In der Verantwortlichkeit enthüllt sich erst das Selbst, und zwar das Selbst nicht allgemein als Erkenntnis des Ichs überhaupt, sondern das Selbst als je meines, das Ich als jeweils faktisches Ich«. An dieser Stelle macht Dieter Misgeld in seinem Buch »Schuld und Moralität« seinen Leser darauf aufmerksam, dass Kant keine Rezeptivität als Ermöglichung der Empfänglichkeit für das moralische Gesetz kennt, obwohl er erkennt, und ich zitiere aus der »Kritik der reinen Vernunft«, dass »das sinnliche Gefühl, das allen unseren Neigungen zum Grunde liegt, zwar die Bedingung derjenigen Emp­ findung ist, die wir Achtung nennen.« Diese Annahme wird weiterhin in der »Einleitung zur Tugendlehre« wie folgt gedeutet: »Achtung selber sei keine Pflicht, sondern Grund gewisser Pflichten«. Dement­ sprechend stellt sich die Achtung als nötig dar, um sich nur eine Pflicht denken zu können. So zeigt sich die Achtung wie eine natürli­ che Gemütsanlage »durch Pflichtbegriffe affiziert zu werden«, auch wenn das Bewusstsein dieser Anlage nicht als empirischer Ursprung und Wirkung des moralischen Gesetzes interpretiert werden kann. Heidegger schließt sich diesem Gedankengang Kants an und legt den sittlich Handelnden innerhalb eines Commerziums von Personen dar. Die Maxime Kants verdeutlicht weiterhin das, was von beiden Philo­ sophen gemeint ist »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals als bloßes Mittel brauchst«. Die Menschheit bestimmt unter diesem Grundprinzip das Seinsollen des Menschen. Er ist nicht als einsames Wesen zu erkennen, sondern als Miteinan­ dersein in der Welt, das Heidegger als »Reich der Zwecke« erkennt. Bei diesem Reich stellt der Zweck die extendierende Person dar, während »Reich« als das Miteinandersein der extendierenden Person 67

Ebd. 194.

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Manuela Massa

in der Welt identifiziert wird. Diese Stellungnahme Heideggers, und damit komme ich zum Schluss meines Vortrags, wurde zu späteren Zeitpunkten von Heidegger selbst immer wieder interpretiert. Im Anschluss an seine Nietzsche-Lektüre erklärte Heidegger darüber hinaus, dass die Menschen doch durch ihren Willen bedingt sind, von dem die Erhaltung der Gerechtigkeit abhängt. Dieser ist fern davon, sich auf Recht oder Unrecht zu beziehen, aktiv und betont den Unter­ schied zwischen Recht und Unrecht. So entscheidet die Subjektivität des Willens schließlich über die Gerechtigkeit, die sie repräsentiert.

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Hans Ruin

Reaching for the Open: Heidegger, Rilke, and the Gaze of the Living

Ich möchte aus meinem Herzen hinaus Unter den großen Himmel treten R. M. Rilke, »Klage«, Das Buch der Bilder (1906)

The eighth Duino Elegy begins with the words: »Mit allen Augen sieht die Kreatur das Offene« – with all its eyes the creature beholds the open.1 It continues in the following way (in Leishman’s & Spender’s translation): »But our eyes, as though reversed, encircle it on every side, like traps / set round its unobstructed path to freedom / What is outside we know from the brute’s face / alone: for while a child’s quite small we take it / and turn it round and force it to look backwards / at conformation, not that openness / so deep within the brute’s face / Free from death / We only see death; the free animal / has its decease perpetually behind it / and God in front, and when it moves, it moves / into eternity, like running springs / We’ve never, no, not for a single day / pure space before us, such as that which flowers / endlessly open into: always world / and never nowhere without no, that pure / that superintended element that one breaths / endlessly knows, and never craves, a child…« […] Always facing Creation, we perceive there only a mirroring of the free and the open«… The Open – das Offene – is the opening word in this elegy, and even though it is only repeated one more time in this particular elegy (on line eight), it was often recognized as not only a central topic of the Eighth Elegy, but also as a key theme in Rilke’s poetic imagination. The term itself – the noun das Offene, the open – is somewhat enigmatic. In English it is a well-established noun, that signifies a specific opening, or more generally what is public. But as far as I have seen, it was never taken up in any of the main German dictionaries. It is as if 1 Translation by Leishmann & Spender, slightly modified (they have »creatureworld«), in their Rilke, The Duino elegies (London: Chatto & Windus, 1975).

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the word itself, which to many people gathers the poetic mission of perhaps the greatest modern German poet, does not even exist as a term. And yet it appears twice already in Hölderlin, in the third stanza of Brod und Wein (…So komm! Daß wir das Offene schauen…) and in the unfinished poem, the fragmentary elegy »Der Gang aufs Land«, that opens with the words: »Komm! ins Offne, Freund!«. Whether Hölderlin’s poem is a direct background to Rilke’s adoption of the term I do not know, and I have not seen anyone in the literature who has tried to sort it out. The Eighth Elegy was dedicated to the Austrian cultural philoso­ pher and writer Rudolf Kaßner, with whom Rilke had long been in contact, which is why some readers have sought to trace his influence on the ideas that are expressed in it. Another source of the idea of the Open and its surrounding thematic that is sometimes mentioned in the literature on Rilke, is the – even more philosophically suspect – Alfred Schuler, with whom Rilke was also in contact and whose work he admired. This is stressed by Volker Durr in his book Rainer Maria Rilke. The Poet’s Trajectory from 2006 (New York. Peter Lang, 2006), where he also describes Rilke as aspiring to the role of a »cosmic poet« who points beyond earthly time, towards an eternity where the distinction between the living and the dead is cancelled.2 For Durr, just as for most theoretically oriented readers of Rilke who have tried from early on to explore and explicate the meaning and significance of the Open in his thinking and writing, a key text was always the letter that he sent to his Polish translator Witold von Hulewicz in November 1925, a year before his death, in response to a request to help him understand the Elegies that he was then in the process of translating.3 To this request Rilke first responds that he does not have an explanation, since the poems themselves reach far beyond himself. But when pressed to summarize their underlying idea he points to a joint affirmation of life and death – Lebens- und Todesbejahung – and of how we must strive for the most encompassing consciousness that can be at home in both domains. Because it is in this larger »open« world – in jener größesten ’offenen’

Volker Durr, Rainer Maria Rilke. The Poet’s Trajectory from 2006 (New York. Peter Lang, 2006), espec. 122 passim. 3 RM Rilke Briefe aus Muzot 1921–1926 utg. R. Sieber-Rilke u C Sieber (Leipzig: Insel, 1935), 330–338. 2

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Welt – that they are joined in »a deep being«, ein tiefes Sein.4 He then stresses that his vision is not Christian, but earthly, irdish, and that it does not aspire to a world beyond this world. But as we turn to this world here and now we must nevertheless pay attention to »the unseen« in the seen, to das Unsichtbare. In a beautiful and often quoted passage from the letter, he compares the poet to honey-gathering bees who harvest the unseen in the seen, so that the essence of things can reappear again in us unseen. »Wir sind die Bienen des Unsichtbaren. Nous butinons éperdument le miel du visible, pour l’accumuler dans la grande ruche d’or de l’Invisible«.5 He describes how things for earlier humanity had a different sense, and how modern factory-produced artifacts, from America leave us with empty and indifferent things – with schein-dinge, lebens-attrappen – and how our own destiny too becomes more invisible, thing-like, vorhandener und unsichtbar. With his Elegies he wants to establish and protect a consciousness that is said to be about to disappear, as revealed by an inability to interpret things in the light of that which brings together the dead and the living. In sum, what we can note is that das Offene is an unusual term, that is not even fully recognized as a German word, and that it achieves its modern poetic-philosophical significance primarily through Rilke’s use of it in the Eigth Elegy, and in his subsequent comments. Two years after this letter, and one year after Rilke’s early death, Heidegger publishes Sein und Zeit in 1927 in Husserl’s Phenomeno­ logical Yearbook. At the center of this masterpiece of 20th century philosophy is the description and analysis of human existence and consciousness as Dasein, defined as being-»in-the-world«, In-derWelt-Sein. Positioning himself against the idealisms of the past and the present, Heidegger stresses that we will not understand the being of human existence, nor of existence as such, if we remain within a conventional subject-object dichotomy. To be conscious is not to be the recipient of a world outside consciousness. Instead it is to be posi­ ted already outside of oneself, exposed to a world and to its relations. Inversely, we will not understand the nature of the world if we see it as simply independent of the perceiving and acting human subject, since the world is given for a being that is itself already involved in 4 5

Ibid., 334. Ibid., 335.

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it. Against all objectivisms and subjectivisms, for which the problem of the knowledge of the world will inevitably lead to aporetic and insoluble questions of how the world comes into the subject and how the subject reaches out to the world, the existential analytic instead develops a mode of thinking according to which human existence from the outset constitutes a »disclosedness«, an Erschlossenheit. Or as he writes in the chapter devoted to exploring this phenomenon: »Dasein ist seine Erschlossenheit«.6 The existential structure of this disclosedness is in turn explored along three principal avenues, as understanding, language, and attunement or mood (Befindlichkeit or Stimmung). In the section that describes how Dasein in its engagement with and perception of the world around it is always attuned, Heidegger adds the formulation: »The moodedness of attunement constitutes existentially the openness to world of Dasein«: »Die Gestimmt­ heit der Befintlichkeit konstitutiert existenzial die Weltoffenheit des Daseins«.7 Dasein is its openness. But this openness is not something that it normally »sees«. Instead, its natural tendency is to shy away from it. Only when awakened to its own mortality, finitude, and tem­ poral being is it jostled into an awareness of this original predicament, from which Being first appears, emerging from the forgetfulness and concealment in which it normally dwells. As has already been carefully debated in the vast secondary literature on Heidegger and Sein und Zeit, there are many sources that come together in this remarkable book: the existential philoso­ phy of Nietzsche and Kierkegaard, the theological thinking of Paul, Augustine, and Luther, Dilthey’s hermeneutics, Aristotle’s Ethics, Kantian transcendental philosophy, all brought together with the help of Husserlian phenomenology. But in this plethora of suggested and documented influences, Rilke was never seen as having in any signi­ ficant way inspired this book.8 And when Heidegger somewhat later 6 The analysis is developed in Chapter 5, first part, 130–180 (original pagination). For the English translation, see Being and Time, trans. Joan Stambaugh (Binghamton: SUNY Press, 2010). 7 Ibid., 137. 8 The most ambitious attempt to trace the genesis of SZ is Theodore Kisiel’s The Genesis of ›Being and Time‹ (Berkeley: University of California Press, 1993). Kisiel does not mention any inspiration from Rilke, however, he does mention a curious detail, that the conversation between Heidegger and Jaspers around the New Year 1926, that led to the fateful withdrawal of the third section of the first part of the book,

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enters into a deep and life-long dialogue with poetic writing, it is not to Rilke but to Hölderlin that he turns, devoting several key lecture series to his poems, notably to his so-called River poetry, Stromdichtung. There is however, one significant exception to this silence, and that is a remark in the Grundprobleme der Phänomenologie, the lecture series that he gives immediately after the publication of SZ in the summer semester of 1927. In a section that explains the idea of being-in-the-world, and what it means to have a world, understood on the basis of authenticity or inauthenticity, Heidegger suddenly turns to a reflection on literature and poetry, in a way that is not immediately anticipated in SZ. He writes: »Die Dichtung ist nicht anderes, als das elementare Zum-Wort-kommen, d.h Entdecktwerden der Existenz als des In-der-Welt-seins. Mit dem Ausgesprochenen wird für die Anderen, die vordem blind sind, die Welt erst sichtbar.«9 As a »proof« (Beleg) for this remark he then recalls R. M. Rilke, quoting him not from the Elegies, but from his expressionist novel The Notes of Malte Laurids Brigge from 1910. The long quoted passage, over two pages, is then commented on in the following way: »Der Dicther vermag diese ursprüngliche, obzwar unbedachte und gar nicht theoretische erfundene Welt nicht nur zu sehen, sondern Rilke versteht auch das philosophische des Lebensbegriffes, den Dilthey schon ahnte und den wir mit dem Begriff der Existenz als In-der-Welt-sein faßten« (Ibid., 247). So at least at this point in his life, he recognizes Rilke not only as poet but also as a philosopher-in-spe with the ability to bring to expression the fundamental human predicament of being-in-theworld. But when he begins, from the early 1930s onward, to more sys­ tematically engage himself in philosophical conversation with poetry, it is not to Rilke that he turns, but to Hölderlin. It is Hölderlin who is henceforth consistently recognized as the one who has poeticized the basic condition of modern human existence in these times. He is the poet of our age, who is still unsurpassed, almost as if he were coming not from the past but from a future still in the making. He is, as Heidegger writes – in a formulation that uses Hölderlin’s own was later described by Heidegger (in GA 49) as having led to a decision on the same day as they received the news of Rilke’s death. Why he connects these two events, he does not say. But it suggests at least that by this time they were both intellectually and personally involved in Rilke and his poetry. 9 (GA 24, 244–47).

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expression from the poem »Brot und Wein« – the poet of »destitute times«, in dürftiger Zeit, a time characterized by the flight of the Gods. In his 1935 essay Der Ursprung des Kunstwerkes Heidegger defends a conception of art in general, not as an artifact for aesthetic pleasure, but as a way of making true and of disclosing a world. As he here seeks to define the essence of the highest possibility of an artwork he defines it as a »giving free of the open«, freigeben das Freie des Offenen.10 Because, as he adds: das Werk hält das Offenen der Welt offen (The work holds the open of the world open…). The formulation almost verbatim echoes the words in Rilke’s Eight Elegy, but again Rilke is not mentioned, only Hölderlin. The notable absence of Rilke in Heidegger’s early and middle writings changes with the publication in the collection Holzwege in 1950. It includes a text that had first been prepared and presented in a closed circle in 1946, on the twentieth anniversary of Rilke’s death. The title of the text – Wozu Dichter? (»What are poets for?«), is taken from the same poem »Brod und Wein« by Hölderlin, who is thus literally called in to frame the discussion of Rilke. Here Heidegger addresses Rilke’s work in a direct exposition and dialogue, and especially the Elegies, and notable among them the eighth elegy. But he does not do it in order to provide a belated recognition of Rilke’s work and a clarification of his own indebtedness to its topics and its basic conceptual framework. Instead he criticizes Rilke for not having properly grasped the sense precisely of the open, which in his poetry is said to issue from a representational and metaphysical conception of reality: »What Rilke designates by this term [open] is not in any way defined by openness as unconcealment…«11 After having thus kept his silence on Rilke throughout these years, while developing his own understanding of openness, the open, and the free, in the context of a radical ontological critique of representational thinking, Heidegger appears to discard him as ultimately complicit in the ontological disfiguration of this very thought. In other words, his verdict would seem to imply that Rilke was guilty of having misrepresented the very concept which he himself had originally coined and placed at the center of his own poetical thinking.12 Holzwege, 30. Holzwege, 280 / engl 104. 12 To some extent it provides a parallel to the way in which he had recently ended his extensive philosophical confrontation with Nietzsche, who is also first praised for 10 11

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In the literature on Rilke the Holzwege essay has for these reasons generated some confusion over the years. What is really the core of Heidegger’s criticism, and how severe is it? Is it legitimate, and is it built on a genuine reading of Rilke’s work, or is Rilke here rather used for another philosophical purpose? While the main part of the essay contains both a sharp and sweeping critique, the later part neverthel­ ess seems to hold out the promise of a more reconciliatory assessment. In an essay on Rilke and his philosophical readers and critics, Anthony Phelan points to its ambiguous message and also to its philosophical difficulty, recalling its harsh criticism and its tentative opening toward a different reading.13 When Käte Homburger composed her formative study on Rilke and phenomenology in the 1971 collection Rilke in neuer Sicht, she simply bypassed it, focusing instead on what she argued to be the profound similarities between Rilke and Husserl. The choice to leave Heidegger out of the picture was probably partly motivated by political reasons. The genuine proximity between Rilke and Heidegger has been stressed more recently by Nathalie Knapp in a book from 2001.14 But even the more sympathetic readings of Heidegger’s approach to Rilke usually fails to notice the peculiar philosophical rivalry that is enacted in Heidegger’s Holzwege essay, the way in which he almost in one and the same gesture distances himself from Rilke while also inviting him into his own orbit. Giorgio Agamben, in his somewhat rhapsodic essay L´Aperto (from 2002) [The Open (2004)] is the only reader who appears to have paid attention to some of the curious reversals that are staged in Heidegger’s response to Rilke, especially what concerns their different interpretations of what unites man and animal in their different openness and concealment. Agamben recalls two volumes of Heidegger’s lectures that when read together provide at least a partial explanation to what is actually going on in Heidegger’s critical appropriation of and response to Rilke: GA29/30 (1929) on Basic concepts of metaphysics, and GA 54 (1942/43), that treats Parmenides. having raised the most radical questions of today, only to finally be relegated to the position of being contained by the legacy of the past. 13 Anthony Phelan, »Rilke and his philosophical critics«, in Leeder, Karen & Vilain, Robert, The Cambridge Companion to Rilke (Cambridge: Cambr UP, 2010), 174–188. 14 Herz-Raum-Geschehen im Augenblick: Erfahrungen mit dem Wesen des Menschen in der Begegnung von Dichten und Denken (Heidegger – Derrida – Rilke), Frankfurt am Main : Verl. Neue Wiss., 2001.

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Picking up the thread from Agamben, I will here, in the remaining part of my presentation, develop in somewhat larger format and scope what I see as the chiastic structure of Heidegger’s appropriation of Rilke and his expression of the Open, and how we should understand the philosophical stakes that generate it. A central topic in Heidegger’s critical confrontation with Rilke over and around the Eighth Elegy concerns the latter’s reference to the ani­ mal, or the creaturely. We saw how Rilke described the animal or the beast as more exposed to the open than man, who was said to live mostly turned away from it. Only in the innocent and undisciplined gaze of the child and in the immediate confrontation with death does the human being come close to this gaze. In Heidegger’s 1929/30 lecture series »The fundamental concepts of metaphysics«, he too approaches the question of the animal, in a detailed dialogue with contemporary biology, notably Jakob von Üxküll. The context is his search for a definition of the elementary human way of inhabiting its being-in-the world. The open is here deployed as limit concept between the animal and human Dasein. Unlike inanimate objects like a stone, the animal lives in relation to a world. But when compared to human existence, its mode of being is described as »poor in world« (see § 45 onward). The animal no doubt inhabits a world, but not as world. Its world is instead the extension of its behavior, through which it is riveted to it or captivated (Befangen) by it. Human beings, on the contrary are said to live toward the world as »comportment« (Sich­ verhalten), whereas for the animal, beings are not disclosed to it…«. The German reads: »nicht offenbar, nicht aufgeschlossen«. And fur­ ther on he will speak of this also as lacking in Offenbarkeit and Offen­ heit. In other words, in this lecture series, given only seven years after the publication of the Elegies, and a year after the generous reference to Rilke in Grundprobleme, Heidegger has developed an ontological argument with the help of the same conceptual configuration through which Rilke had described the elementary situation of the living vis-à-vis its world – i.e., an Open in relation to which man is said to live mostly unaware, but which the animal is somehow more immediately exposed to. And whereas Rilke hade described the animal facing death as an example of this immediate exposure to the Open, Heidegger analyzes the way in which animals die as not exposing it to the genuine being-toward death. Instead he depicts the dying animal as

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merely perishing, or coming to an end (Verenden, 267). The animal is not without the open, it is just that it can only be partially exposed to it. Heidegger writes: »The animal possesses this being-open«, but »Being open in captivation is the essential possession of the animal« (269). In this way, it is just »exposed to something other than itself« and does experience »essential disruption«. Without ever mentioning Rilke and the Elegies in these lectures, it is as if he were here nevertheless debating with its imagery, questioning its premise and conclusions, building up a strong case against the idea that the animal should have a closer proximity to the open and a more immediately exposure to mortality. In the contemporary debate in philosophical animal studies, this issue has become topical. One of the critical points developed by Derrida in his influential The animal that therefore I am (from 2006/2008, but dating back to a large symposium in 1997 on the topic of animality, five years before Agamben’s book) concerns precisely Heidegger’s attempt to draw the line between the animal and human beings in terms of how they relate to death. In Agamben’s case the verdict is even more definitive, that Heidegger is guilty of a anthropocentric mode of thinking that seeks to contain and ultimately sacrifice the animal. But how should we philosophically understand Heidegger’s rea­ son for stressing the presumably uniqueness of human openness and finitude? What is at stake in these lectures, that digs so deeply into the ontology of animal and human life is not in the end animality itself, but rather the attempt to articulate what it means to have and inhabit a world. Heidegger has seen how the convenient naturalism of our scientific-historical paradigm seduces to a neglect of this elementary condition. According to this mode of thinking, human beings simply belong to the earth alongside other living creatures, as just different species in one great biological system. For him, it is only by raising the full question of the meaning of world, and of the meaning of belonging to it – as also an exposure to it – that we can even begin to access the question and problem of being, instead of turning away from the open, to put in Rilke’s words. But contrary to Rilke of the Elegies, Heidegger sees no way of capturing or articulating this more elementary condition of being by appealing to an animal existence. On the contrary, the animal, or the presumed animality of human existence, is precisely what for him stands in its way. By equating human life with animal

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life according to a standard scientific-biological model, we bypass precisely that domain of openness, or to the open, through which world and world-relation is made possible and available in the first place. Thus for Heidegger, – and even though his ultimate goal may be close to what Rilke had sought to poetize – the animal is what human Dasein must distance itself from, if it is to have philosophical access to the world as world, and to the full sense of the Open as its true privilege. In the Eighth elegy Rilke is also seeking to tear human beings away from their habitual seeing, and to expose them to the pure that of existence. He recognizes how this heightened seeing is something rare in humans trained in conceptual habituality, and that is glanced perhaps only in the eye of the animal or the child, or in the close proximity of death and the strangeness into which it draws the living precisely when it is about to disappear. Unlike Heidegger, who explicitly refuses the animal access to this experience, Rilke permits the creature and its gaze to become the organ of this amazement, its seeing heart as it were. Also in love, we can sense, momentarily, this strangeness, this overwhelming affect, while also being tempted to be encapsulated by the object of our desire. We live turned toward the world, toward creation, but only as the mirroring of the free, das Frein, as Rilke also writes in the eighth elegy, and also in this respect anticipating Heidegger. Thirteen years later, in the winter semester of 1942–43 Heidegger gives a lecture course that is supposed to deal with Parmen­ ides. But the main topic throughout the course is truth, as designated by the Greek aletheia. According to Heidegger, modernity is unable to understand what the Greeks meant by gaze and seeing, since we only think of it as an ability to hold and represent the world. In connection with this exposition, he points again to the animal as a limit creature. And as in the 1929 lecture course, he argues that the animal is unable to see in this way, since it is cannot gaze (blicken). In modernity, man has obtained the gaze of a predatory animal, a way of looking at things that simply spies on and seeks control over them (as a gegnerische Gegenstand der Eroberung, 160). This transformation he here connects to Spengler and Nietzsche and to what he sees as a »bestialization« in the current discourse. It is as a critical response to precisely such a biological understanding of the human, that we need to think the open in its connection with the truth as aletheia. It is the self-luminous light, that he here explicitly says that we also know as »the free« (das

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Freie). Only then will we ultimately see how the open and the free is Being itself, das Sein selbst (224). Here he is literaly mobilizing Rilke’s two key concept in a struggle against the current biologization of the human being, in a philosophical-poetic countermove to the closing off of the open in which we stand. But up until this point in the lectures, there is no word or mention of Rilke himself. But then he suddenly appears, and for the first time in Heidegger’s published works, after the brief laudatory note in 1927 fifteen years earlier. It is only after having established his own critical position in response to the current biologization of man, and literally with the two key concepts from the Eighth elegy, – das Offene and das Freie – that Heidegger turns explicitly to the poet. But when he does so, it is not to recognize Rilke’s attempt to name poetically the same experience. Instead he devotes a fifteen-page essentially critical commentary to precisely the Eighth elegy. The long digression is introduced almost in passing. In order to really understand what is meant by the open, he says, we can contrast it to an understanding of the open as just an open geographical space, as the open sea, or such as we see it articulated, »for example by Rilke, in his eighth elegy, and through which we are said to never reach the open in the sense of the das Freie des Seins.« So while literally reusing the key concepts from this very text, Heidegger turns them against their original author. It is almost as if they by this time had become his own philosophical concepts, and on which he can therefore correct the poet on how the latter has misunderstood them. But behind this blatant example of intellectual dishonesty, we can detect the same underlying philosophical agenda as in the 1929 lectures. Unlike the animal-creature, that is unable to fully see, the human being is something else. But, Heidegger continues, in our time, we can see an animalization of man, a biologism, through which the differences are eradicated, and thus also the crucial sense of the open. Since Rilke is said not to have grasped the meaning of aletheia, he too can be blamed for having contributed to this animalization and the ensuing forgetfulness of being. Quoting again from the elegy, Heidegger disparages the idea that the animal should have a more immediate relationship to death, as an example of a »biological popular-metaphysics« (235). Science cannot understand the riddle of life, since it has already sacrificed the secret of the living (239). Nor is Rilke said to have reach a position that can found an alternative. His ordinary readers understand nothing of his concepts, of inside and

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outside, the open and the closed, etc, which are things that are only accessible through a knowledge of Being as it presents itself in the lightening of Being, and its openness. But whereas the Rilke of the interpretation is someone who Heidegger at this point is compelled to distance himself so sharply from, it is a Rilke that had touched him twenty years earlier that continues to speak through his thinking. Against background, we can now, in the final and concluding section, turn to the essay on Rilke that was composed four years later, after the end of the war. Whereas the war is over, and the nazi dictatorship is defeated. But in Heidegger’s view there is no saving us in this historical situation, as we move into a Godless night. It is the task of the poets to give a new sense to the holy, by raising the question of what it means to speak and sing poetically, and to learn to confront the loss as such. Here Rilke is depicted alongside Nietzsche, as someone who has grasped the deeper crisis of modernity and the culmination of Western metaphysics. But, has he reached all the way to the point of Hölderlin in giving voice to the present, so as to open a future? This is the guiding question for the whole text. Through a reading not of the Elegies, but of a late unpublished poem, that speaks of our „ (Schutlossein) unshilededness«, he comments on how Rilke locates man among the other animals and plants in the womb of nature, as the unprotected one. But in doing so, he adds, Rilke nevertheless thinks in the wake of Leibniz and modern metaphysics, where nature is represented as characterized deep down by a will and a striving. This sudden turn toward a critical assessment is then followed by a remark on how Rilke »uses« the open, and in doing so how he misunderstands and misrepresents it. Again, it is the proximity and overlapping of animal and man, and the upgrading of the animal gaze that Heidegger simply cannot accept. Through this manoeuvre, the open that Rilke had sensed becomes instead a closure. To prove his point he cites a letter from Rilke to a reader, from the last year 1926, that speaks explicitly of how he understands the open and where he stresses again that man is bent on closure, as opposed to the uncultivated animal that sees the world with more open eyes. Heidegger too, considers human consciousness to be mostly closed off from the world, captivated in itself and its representations. He too wants to save the openness of the open from what he takes to be the risk when it is framed within a nature entrapped in a representational thinking, guided by a will to power and technological

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Reaching for the Open: Heidegger, Rilke, and the Gaze of the Living

mastery of the earth. One way to understand his ostentatiously critical exposition of Rilke, is that he somehow wants to save not Rilke from himself, but what Rilke’s has sensed from what Rilke himself has articulated, or perhaps what his conventional readers have taken him to mean. It is as if he wanted to be more Rilkean than Rilke himself was ever able to be, since Rilke was trapped by the philosophical weight of a metaphysical tradition that spoke through him, even in his use of his most visionary conceptual experiments, and despite the fact that in 1927 he had recognized him as philosophically comparable to Dilthey. Heidegger the philosopher, here wants to be more poet than the poet himself was ultimately able to be, by saying what he could not say poetically, but now through philosophy. Throughout the second part of this dense essay he vacillates in his understanding and judgment on how far Rilke has really reached. He recognizes that his conception of unshieldedness is connected to the experience of death, and of death in life. He traces the emergence of an inner space, the interiority of the mind, from Pascal onward, as a space that also permits us to experience the past and the future, a sphere of subjectivity, which is both a source of the metaphysics of presence and its possible overcoming. And here he, too, cites the remarkable lines from the Hulewicz letter, of how we are like bees that gather the nectar of the seen in order to create a beehive of the invisible. But even though Rilke is thus credited with having at least named the source of a possible resistance to the destitute times he is nevertheless ultimately inscribed in the modern subjectivist metaphysics of presence. It is only in the very last passages that Heidegger appears to shift perspective again. There he declares that humans only exist to a full extent when they are able to sing, since song is existence, as Rilke has also declared in the Sonnets to Orpheus. However, this singing must be of such a kind that it does not hold on to what it praises. Instead it should shatter in its very singing – das sich im Klang schon zerschlug…(313). The daring poets are the ones who are able to turn our unprotected being in towards the open. And this Rilke has at least formulated, as his question and his challenge. Thus, at the very end Heidegger does indeed hold out the promise of a way of speaking that can address our present condition. In the final words of the essay he brings together both Hölderlin and Rilke, leaving it undecided if our fate is such that Rilke will indeed turn out to have spoken words of and for a future.

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Hans Ruin

In the end I think it becomes clear why Heidegger struggles so hard, and why he vacillates in such confusing ways when approaching Rilke. It is after all Rilke – and in particularly in the Eighth Elegy – who has spoken most deeply, not just to the present condition of huma­ nity and its metaphysical-historical position, but to him personally. Through his writing he has moved Heidegger to confront the open as the unshieldedness and exposure of existence. He had provided him with words by means of which he could address and articulate this experience, of standing in the space of truth and disclosure as in the open and the free, while the reception of him and his work had been drawn into a discourse dominated by naturalization and bestialization of man. For this reason, Rilke had to be torn out of Rilke, and the genuine open had to be retrieved from that common open, into which it constantly threatens to disappear.

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Rihards Kūlis

Heidegger und Rahner: Was rast um den Erdball?

In seinen Überlegungen von 1939–1941 (Schwarze Hefte) schreibt Martin Heidegger: »Etwas rast um den Erdball, was Nirgendwer nirgendwo mehr in der Hand hat, gesetzt, daß überhaupt je einer Etwas lenkte, der zu lenken meinte«.1 Und noch einmal: »Rings um den Erdball rast Etwas in sein äußerstes Unwesen«.2 Doch was ist das, was um den Erdball rast? Martin Heidegger versucht eine Antwort auf diese Frage zu finden. Der Philosoph bietet einen eindrucksvollen Themen- und Begriffskreis an, dessen Erläute­ rung fundamentale und geschichtliche Vorgänge (wenn überhaupt möglich) aufklären sollte, die sich unverkennbar und beängstigend im 20. Jahrhundert ankünden. Hier wären wohl die in der Philoso­ phie Heideggers dominierenden Themen wie »Seinsvergessenheit«, Technizismus und Metaphysik zu nennen, ebenso die Situation und das Seinsgeschick charakterisierende Bezeichnungen wie Seinsver­ lassenheit, bodenlos gewordene Zeit, Nihilismus, Machenschaft, Vermassung, das Riesige, das rechnende Denken, Entwurzelung, Amerikanismus u. a. m. Zweifelsohne kündigt Heidegger einen für die ganze gegenwär­ tige Welt wichtigen Themenkomplex an. Dennoch liefert er während seiner philosophischen Tätigkeit keine eindeutige und endgültige Antwort auf die Frage: was ist dieses Etwas, das beängstigend »um den Erdball rast«? Vermutlich könnte man in der Ansicht des Philosophen mit einem ganzen, im Rahmen der westlichen Zivilisation schicksal­ haft gereiften und auf »Seinsvergessen« beruhenden Komplex von Erscheinungen und Prozessen zu tun haben. Zu verstehen wäre auch, dass die Weltsicht Heideggers, wenn sie ihre Darstellung in Aussagen Martin Heidegger, Gesamtausgabe. Bd. 96, S. 267; Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main. 2 Ebd. 268.

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der »Schwarzen Hefte« findet, vom Zweiten Weltkrieg wesentlich beeinflusst wird. Allerdings muss man hinzufügen, dass Heidegger auch in seiner weiteren philosophischen Tätigkeit nach dem Krieg die vorher geäußerten Wertungen der abendländischen Seinsgeschichte – der Geschichte, die zum Geschick des ganzen Planeten geworden ist – prinzipiell nicht ändert. Zweifelsohne haben sich viele Vorgänge, die der Philosoph in den frühen vierziger Jahren in den »Schwarzen Heften« skizziert und später ihre Analyse in seinen Abhandlungen der Nachkriegszeit (Holzwege, Vorträge und Aufsätze u. a.) entfaltet, in mehr zugespitzter Form in der gegenwärtigen Welt aktualisiert (zum Beispiel Globalisierung, Gefahr der Gleichmachung und des Schwundes von nationalen Kulturen, Entfremdung und Sinnverlust u. dgl.). »Gott ist tot« – konstatiert Nietzsche im Jahre 1882. »Nur noch ein Gott kann uns retten« – erwidert ihm Heidegger im Jahre 1976 in einem Interview für die Zeitschrift »Der Spiegel«.3 Es hat sich ein eigenartiger existentieller Raum gebildet, dessen Grenzen von beiden Äußerungen umrissen werden. Das ist unser existenzieller Raum, in dem wir, dem Ruf Heideggers folgend und uns dem Seinsgeschick fügend, das Herkom­ men eines uns rettenden Gottes erwarten oder – bestenfalls – einen gebührenden Platz für sein Herkommen bereiten können. Nach der Überzeugung des Philosophen ist Christus – also Christentum – nicht derjenige, der zu uns wiederkehren könnte. Dennoch, trotz der ziemlich kategorischen Behauptungen vom Tod des Gottes und der Götter, also auch vom unausbleiblichen Untergang der westlichen Zivilisation, möchte man fragen, ob diese (eindeutig begründeten) Prophezeiungen nicht zumindest – aber in manchen Aspekten gar wesentlich – übertrieben sind. Vielleicht steckt neben dem vom Tod der Götter bereits markierten Raum oder sogar darin ein Hoffnungsfeld, wo die ungenutzten Chancen der westlichen Kultur und Rationalität wurzeln und, wenn auch in neuer Gestalt, zu neuem Leben erstehen könnten. Zu erinnern wäre, dass auch der eindrucksvolle gegenwärtige Philosoph J. Habermas von den Entwicklungsmöglichkeiten der Vernunft und dem »unvollendeten Projekt« einer westlichen Rationalität spricht.4

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M. Heidegger, »Nur noch ein Gott kann uns retten«. Der Spiegel 23/1976. S. 193. Vgl. J. Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, Reclam, Leipzig, 1994.

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Heidegger und Rahner: Was rast um den Erdball?

Meines Erachtens bietet Karl Rahner, ein Student und Zeitge­ nosse von Heidegger, einen derartigen Hoffnungsraum an. Deshalb werde ich neben M. Heidegger auch Karl Rahner als einen Dialogpart­ ner in meine Überlegungen zur Spezifik unseres Zeitalters einschal­ ten. Gewiss, für Rahner ist der Gott nicht tot, dabei wird er unwan­ delbar mit Christus identifiziert. Doch lebt auch Rahner in der realen Welt, wo an der Stelle der christlichen Solidarität, der Verantwortlich­ keit, des »Wir« Individualismus, Egoismus, ein »Ich« als Mitte der Welt, dessen Sinn der Genuss ist, angeboten wird. Auch wir wissen, dass in der modernen Welt leider zu viele Men­ schen diese Versuchungen des Individualismus und des Genusses annehmen. Ihnen fällt es heute schwer, gegen die neue Religion des Habens und des Genusses einzutreten. Gleichzeitig versuchen viele Menschen, denen diese Massenkultur unannehmbar ist und die sich aus verschiedenen Gründen von den traditionellen Religionen ent­ fernt haben, ihre existentiellen Probleme in Sekten und esoterischen Bewegungen zu lösen und damit das ungelöste metaphysiche Problem in der Sprache ihrer Alltagsprobleme im Horizonte der Massenkultur anzusprechen und zu verstehen. Wie Novalis sagt: »Wo keine Götter sind, walten Gespenster«.5 Der Mensch in der veränderlichen, von Illusionen, tragischen Kollisionen, der Gewalttätigkeit und dem Unglauben durchströmten Welt – gerade so eröffnet sich für unseren Blick das 20. Jahrhundert – ist in seinen Beziehungen zum Absoluten stets im Interessenkreis von Rahner gewesen. Heideggers Einfluss auf Rahner ist allgemein bekannt und viel beschrieben worden.6 Man hat die Begriffe in den Werken des Phi­ losophen Heidegger und des philosophierenden Theologen Rahner verglichen, wobei der Analyse von Begriffen wie »Transzendenz«, »a priori«, Horizont, »Verstehen« als Existenzial bei Heidegger und 5 Novalis, Werke, 513, Hrsg. und komm. von Gerhard Schulz. 4. Aufl., C. H. Beck, München, 2001. 6 Vgl. z. B. Paul Eppe, Karl Rahner zwischen Philosophie und Theologie. LIT, Bd. 42; Karl Lehmann, »Philosophisches Denken im Werk Karl Rahners«, in: Karl Rahner in Erinnerung, Freiburg/Br.; Max Müller schreibt: »Rahners Theologie war zutiefst von der Begegnung mit der Philosophie Martin Heideggers, den er während seines Philosophiestudiums in Freiburg im Breisgau 1934 bis 1936 kennengelernt hatte, beeinflußt«. »Zum Tod von Karl Rahner«, in: Osservatore Romano [dt. Ausgabe] 14 [6. 4. 1984] 12.

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»Vorgriff« in der Theologie Rahners besondere Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Der Einfluss der sprachlichen Suche Heideggers auf die Form des Wortgebrauchs in der Theologie Rahners ist offen­ sichtlich. Die Ähnlichkeit ist aber nicht nur formaler Natur. Beide Denker rücken näher aneinander durch beider Versuch, das Ursprüng­ liche und das Wesentliche sprachlich adäquat zu äußern, die Sprache selbst zu lassen. Aber in dieser Schrift halte ich es nicht für meine Aufgabe, die methodologischen Prinzipien und Begriffe Heideggers und Rahners zu vergleichen. Heidegger und Rahner sind zweifellos ziemlich unterschiedliche Denker, aber gerade daher könnte ihr Vergleich im Kontext des angekündigten Themas (Was rast um den Erdball?) besonders interes­ sant sein. Das Gemeinsame im Unterschiedlichen könnte besondere Bedeutsamkeit bestätigen, vielleicht würde es sogar ermöglichen, in den Vorgängen und Kataklysmen unseres Zeitalters das Universale zu fixieren, einer Antwort auf die Frage »Was rast um den Erdball?« näher zu kommen. Daher wollen wir einige der meines Erachtens wesentlichsten Motive bei den Reflexionen der beiden Philosophen zur Geschichte der westlichen Zivilisation und zu unserem Zeitalter vergleichen. Zunächst die Seinsgeschichte als Entfaltung und Herrschaft des Subjektivismus. Nach der Überzeugung Heideggers ist die ganze Geschichte der westlichen Zivilisation eine permanente Entfaltung des Subjektivis­ mus, in deren Verlauf der Mensch sich selbst, seine Weltanschauung prinzipiell subjektiviert, wodurch die Welt zu einem Objekt, die Sachen – zu einer Gestell-Sammlung – gemacht werden. Dieser Subjektivierungsprozess findet in der westlichen rechnend-rationalis­ tischen Denkweise und im Technizismus seine vollkommene Durch­ setzung. Als Endergebnis wird dieser Technizismus in Verbindung mit ungezügeltem Willen (noch eine Äußerung des Subjektivismus), die natürlichen Weltprozesse zu verwalten – eigentlich ihr Subjekt zu werden –, zu einer Bedrohung für die Existenz nicht nur des Menschen, sogar der ganzen Welt. Heidegger schreibt: »Nicht die vielberedete Atombombe ist als diese besondere Tötungsmaschine das Tödliche. Was den Menschen längst schon mit dem Tod und zwar mit demjenigen seines Wesens bedroht, ist das Unbedingte des bloßen Wollens im Sinne des vor­ sätzlichen Sichdurchsetzens in allem. Was den Menschen in seinem Wesen bedroht, ist die Willensmeinung, durch eine friedliche Entbin­

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Heidegger und Rahner: Was rast um den Erdball?

dung, Umformung, Speicherung und Lenkung der Naturenergien könnte der Mensch das Menschsein für alle erträglich und im ganzen glücklich machen. Aber der Friede dieses Friedlichen ist lediglich die ungestört währende Unrast der Raserei des vorsätzlich nur auf sich gestellten Sichdurchsetzens«.7 Auch für Rahner ist ungezügelter, von jeglichen regulativen Grundprinzipien gelöster, sogar gewalttätiger Subjektivismus, der im 20. Jahrhundert immer bedrohlichere Umrisse erhält, nicht akzepta­ bel. Vom Blickpunkt Rahners verwirklicht sich dieser Subjektivismus vor allem als ein Selbstzweck – ein im tiefsten Wesen irrationales und sogar gefährliches Experiment des Menschen mit sich selbst. Rahner hat für dieses Experiment die Bezeichnung »Selbstmanipula­ tion« gefunden. In seinem Beitrag »Experiment Mensch« im Buch »Die Frage nach dem Menschen« (1966) schreibt Karl Rahner wie folgt: »Diese Möglichkeiten und Pläne sind hier nicht im einzelnen darzu­ stellen: Sterilisationsgesetze aus eugenischen Gründen zur Verhütung einer negativen Erbauslese; Steuerung der Geburtenhäufigkeit und Verhütung weiterer Bevölkerungsexplosion durch chemo-biologische Mittel, Steigerung der Intelligenzquoten und Züchtung von Superin­ telligenzen auf biologischer Basis, Ermöglichung der geplanten Züch­ tung des künftigen Menschen durch bis ins Innerste der Erbmasse eindringende Erkenntnisse über die DNS (Desoxyribonukleinsäure), Verlebungskodes, Gründung von Spermabanken für erwünschtes Erb­ gut. Da ist die Werkhalle der Medizin, der Pharmakologie und vor allem der Psychopharmakologie. Hier kann der von der Natur nur stümperhaft zusammengeflickte Mensch in einer Prothesenkultur ver­ bessert und an die Maschinen, die er selbst gebaut hat, angepaßt werden … Hier sollen dem Menschen die seelischen und sittlichen Probleme nicht durch den Appell an sein sittliches Freiheitswesen erträglich und sinnhaft gemacht werden, sondern ihm durch Drogen im voraus die sittlichen Anstrengungen abgenommen, die Moral ganz oder weitgehend durch die besser funktionierende psycho-medi­ zinische und psycho-pharmakologische Manipulation ersetzt werden, sofern dies bei einem genetisch schon geschickt manipulierten Men­ schen noch nötig sein sollte«.8

M. Heidegger, Holzwege; GA 5, 272. Karl Rahner, »Experiment Mensch«, in: Die Frage nach dem Menschen, 50; Karl Alber, Freiburg/München. 7

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Subjektivismus und Selbstmanipulation, wenn sie zu einer radikalen Machenschaft werden, können sich in unabwendbare Endgültigkeit (Heidegger) verwandeln, die den Menschen der Wesenheit seines menschlichen Seins berauben würde. »Die Macht der Machenschaft – die Vernichtung sogar der Gottlosigkeit, die Vermenschung des Menschen in das Tier, die Ver­ nutzung der Erde, die Verrechnung der Welt – ist in den Zustand der Endgültigkeit übergegangen; Unterschiede der Völker, Staaten, Kulturen sind noch in der Fassade«, so Heidegger.9 Rahner äußert sich in ähnlicher Weise: »Es könnte sein, daß die Menschheit sich tatsächlich einmal biologisch zurückkreuzt auf die Stufe einer technisch intelligenten und selbstdominizierten Aus­ tralopithekusherde oder eines Insektenstaates ohne den Schmerz der Transzendenz, Geschichte und den Dialog mit Gott, also sich selbst durch kollektiven Selbstmord auslöst, auch wenn sie biologisch noch weiterbestünde«.10 Zum Problem des ungezügelten Subjektivismus und seines zer­ störenden Einflusses auf den Entwicklungsgang der westlichen Zivili­ sation äußern Heidegger und Rahner anscheinend durchaus ähnliche Ansichten. Daher wäre es umso interessanter, die Unterschiede im Standpunkt beider Denker interpretierend anzuschauen. Zunächst – welche Wege wären einzuschlagen, um eine Diktatur des Subjektivismus und des radikalisierten Willens abzuwenden oder zumindest zu bändigen (wenn überhaupt möglich)? Heidegger äußert im Zusammenhang mit der Expansion des Subjektivismus die Überzeugung, die Entfaltung der Subjektivität sei eine Äußerung des Vorganges von Seinsgeschichte selbst und vom Geschehen des Seinsgeschicks. Wie zuvor gesagt wurde: »Nur noch ein Gott kann uns retten«. Gewiss, wir können versuchen, dem zu erwartenden Gott entgegenzukommen, den Platz für ihn zu bereiten, der von Göttern und durch Poeten gesandten Botschaft zuzuhören. Aber die Bestrebungen, sich aktiv in die die Welt degradierenden Prozesse einzumischen (indem man im Ablaufsfeld des Geschehens des Seinsgeschicks verbleibt), würden lediglich die Macht der walten­ den Subjektivität bezeugen. Nach der Meinung des Philosophen ist zu einer Zeit, wenn die Weltnacht extrem dunkel wird, ein Neube­ ginn notwendig. 9 10

Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 96, S. 52. Karl Rahner: »Experiment Mensch«, in: Die Frage nach dem Menschen, 67.

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Heidegger und Rahner: Was rast um den Erdball?

Rahner schaut die Prozesse der Subjektivierung und Selbstma­ nipulation anders an. Nach seiner Überzeugung wird »die Welt von morgen (…) anders als die von heute« sein.11 Auch der Mensch ist ein »radikal offenes, unfertiges Wesen«12. Dieses Wesen – der Mensch – setzt sich im Ablaufprozess der Freiheit durch, wobei auch Selbstmanipulation als ein menschliches Experiment zulässig ist. In diesem Zusammenhang sind wir an die entscheidende Frage gelangt: falls die Selbstmanipulation akzeptabel ist, welche könnten die zulässigen Grenzen dieser Selbstmanipulation im Rahnerʼschen Sinne sein, während die Möglichkeit besteht, dass (laut Rahner) die Menschheit infolge radikaler Selbstmanipulation »sich selbst durch kollektiven Selbstmord auslöscht?«13. Nach der Meinung Rahners sind die Grenzen der Selbstma­ nipulation nur dann nicht überschritten, wenn wir beim Durchset­ zen unserer Freiheit in untrennbaren dialogischen Beziehungen zur Transzendenz verbleiben. Dabei »muß der Christ, muß die Kirche den Mut haben, mit äußerster Entschlossenheit sich gegen solche Selbstmanipulationen zu wenden, die neueste Formen der Barbarei, der Sklaverei, der totalitären Vernutzung der Persönlichkeit, Bildung einer vermaßten Gesellschaft wären«14. Gewiss, man kann diese Beziehungen verschiedenartig verste­ hen. Auch Heidegger hat sie erwähnt, wenn er von der Herrschaft des Herstellens spricht: »Was den Menschen in seinem Wesen bedroht, ist die Meinung, dieses Durchsetzen des Herstellens lasse sich ohne Gefahr wagen, wenn nur daneben noch andere Interessen, vielleicht solche eines Glaubens, in Geltung bleiben«15. Die Worte Heideggers könnte man auf Rahner beziehen, falls Rahner das Durchsetzen der menschlichen Freiheit (auch in der Form von Experiment und Selbstmanipulation) als »Daneben« des Glaubens begreifen würde. Dennoch meint es Rahner, wie bereits erwähnt, als etwas, welches tief und prinzipiell mit dem Durchset­ zen der Sakralgeschichte verbunden ist. Heidegger spricht von der Seinsgeschichte. Es bleibt festzustellen, dass Rahner beim Ablauf der Sakralgeschichte dem Menschen eine größere Rolle einräumt als Heidegger dem Durchsetzen der Seinsgeschichte als Seinsgeschick. 11 12 13 14 15

Ebd. 53. Ebd. 55. Ebd. 67. Ebd. 52. M. Heidegger, Holzwege, GA 5, 273.

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In der philosophischen Literatur kann man regelmäßig Versu­ che finden, Heideggers Kritik des Technizismus und der rechnendrationalistischen Denkweise auf eine von Romantik durchströmte – im Wesentlichen konservativ bäuerliche – Weltsicht zu reduzieren. Selbstverständlich lehnt Heidegger derartige Interpretationen seiner Philosophie ab. Auch Rahner lehnt die Idee kategorisch ab, seine Kri­ tik der Massengesellschaft, Selbstmanipulation und des technischen Rationalismus könnte »nur ein Zeichen eines feig bürgerlichen Kon­ servatismus [sein], der sich hinter falsch verstandenen christlichen Idealen und Maximen versteckt«.16 Wenn die Rede von der Welt ist, in der wir wohnen, dann will der christliche Denker Rahner nichts darin – sogar nicht die christliche Botschaft – in unwandelbarer Form »ein­ legen«. Auch für diese Botschaft sollen zeit- und geschichtsmäßige, gar neue sprachliche Mittel und Auffassungsarten gesucht werden. Wie bereits erwähnt sind sich Heidegger und Rahner in der Kritik der technisierten, rechnerischen Rationalität – auch diese ist ein Gespenst, was um den Erdball rast – einig. Heidegger sucht nach einem Ersatz für diese Rationalität, nach solchen Denkformen, die adäquate Beziehungen zwischen dem Menschen und dem Sein bezeu­ gen, den Menschen mit dem Ursprung von neuem vereinigen würden. Die Einstellung Rahners zur Rationalität als Eckstein und zugleich Erbe der westlichen Zivilisation ist bedeutend nachgiebiger. Auch die weitbekannte Idee Rahners »Der Fromme von morgen wird ein ›Mystiker‹ sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein«17, bedeutet keine Negation der Rationalität. Es ist einzusehen, dass sogar Rahnerʼscher Mystizismus (ebenso wie, aufs Ganze gesehen, sämtlicher westlicher Mystizismus) spezifisch rationalistisch organisiert ist. Nicht weniger bekannt als die bereits zitierte Aussage ist die Rahnerʼsche Frage an Urs von Balthasar hinsichtlich seiner religiösen Visionen: »Woher weiß der denn das?« Meines Erachtens steht Rahner beim Verständnis der westlichen Rationalität und dem Gebrauch der Instrumente dieser Rationalität, ungeachtet der Kritik am technischen Rationalismus, viel näher bei Kant als bei Heidegger. Was bedeutet in solchem Fall die Rahnerʼsche Berufung auf die Mystik? Zunächst erscheint sie als eine Aufforderung, sich in tiefster Ehrfurcht und Bewunderung vor das Absolute, das absolute 16 17

Karl Rahner, »Experiment Mensch«, 53. Karl Rahner, Schriften, VII, Einsiedeln, Zürich, 22.

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Geheimnis zu stellen, sich seiner Macht zu fügen, gleichwohl aber das von ihm geschenkte Verständnis beibehaltend und davon Gebrauch machend. Die Berufung auf die Mystik heißt die Frage des menschli­ chen Wesens im Horizonte des Geheimnisses zu lösen, ohne dabei in übertriebenen, spekulativen Rationalismus oder Visionarismus zu versinken. Überraschenderweise ist derartige Mystik auch Kant nicht fremd, einem Philosophen, der die Grenzen der wissenschaftlichen Erkennt­ nis strikt abzustecken versuchte. Es wird aber ziemlich oft verges­ sen, dass die Versuche, diese Grenzen abzustecken, die Spezifik der menschlichen Erkenntnis zu ergründen, für Kant kein Selbstziel bedeuteten. Der wirkliche Antrieb seiner Tätigkeit ist die Neigung zum Unbestimmten. Der Sternenhimmel erregt im Philosophen tiefe Ehrfurcht und Bewunderung, das Moralgesetz aber lebt in seiner Seele. Aber mit gleicher Ehrfurcht und Bewunderung trägt Kant tief in seinem Herzen die Idee Gottes und kann sich unmöglich vorstellen, dass er sie einbüßen könnte. Kant sucht eine Möglichkeit, wie man ohne Widersprüche das Absolute denken und daran glauben könnte. Das Absolute ist stets entfernt, es ruft in die Unendlichkeit und lässt keinen Augenblick steckenbleiben. Für Kant ist der mystische Ruf der Unendlichkeit zugleich auch eine Aufforderung dazu, sich in eine unerschöpfliche Endlichkeit der Menge von Dingen zu vertie­ fen. Dabei ist es wichtig, die Grenzen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis festzulegen, um den rechten Platz für den Glauben zu finden. »Ich musste also das Wissen aufheben, um für den Glauben Platz zu bekommen«, behauptet Kant.18 Kant möchte einen ehrenvol­ len Platz für den Glauben finden, indem er zugleich die Wissenschaft erhebt und ihr unverletzbare Grenzen (unter dem Aspekt der natur­ wissenschaftlichen Forschung) zuweist. Somit gewinnt eigentlich auch die Religion eine ihr eigene Dignität, wobei man unzerstörbare Grundlagen für sie in der Vernunft findet und sie von seichtem Visionarismus und Aberglauben trennt. Auf die Vernunftrolle in der Sphäre der Religion haben im Laufe von Jahrhunderten auch Vertreter der katholischen Philosophie hingewiesen, auch darauf weist Rahner unablässig in seinen Werken hin. Bei der Rede von den Problemen der Rationalität ist es interes­ sant anzumerken, dass vom Gesichtpunkt Heideggers Entwurzelung und Machenschaft die Grundinteressen und Aktionsformen der Wis­ 18

Kant, Kritik der reinen Vernunft B XXX.

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senschaft des 20. Jahrhunderts wesentlich geändert haben. Dadurch hat der Mensch die Gesamtansicht der Welt eingebüßt, die Wissen­ schaft fragt nicht nach der Wahrheit, auch die Wissenschaft ist vom Seinsvergessen betroffen. Eigentlich fixiert Heidegger eine Tendenz, die ihre markante Entfaltung in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts und zu Beginn des 21. Jahrhunderts erfährt: die Wissenschaft wird zu wissenschaftlicher Tätigkeit, sie erhält einen Betriebscharakter, verzweigt immer mehr in einzelne und gegenseitig nicht verbundene Disziplinen und wissenschaftliche Veranstaltungen. Die zuweilen sogar phantastischen Erfolge der modernen Wissenschaft sind nicht zu bezweifeln, dennoch ist es besorgniserregend, dass die Fragen nach dem Sinn und den Werten in eine weite Peripherie gerückt sind, was die Möglichkeit zu immer neuen und des Öfteren gefährlichen Experimenten mit dem Menschen und der Menschheit eröffnet. Das beängstigende »Etwas, was um den Erdball rast« kündigt sich auf aggressive Weise in den vielfältigen Formen der Popkultur an, die sich zur Lebenszeit Heideggers erst herauszubilden beginnen, während sie später einen planetarischen Maßstab in ihrer Realisie­ rung erhalten. In diesem Zusammenhang ironisiert Heidegger, dass eine »neue Art von Glück« über den Planeten kommt.19 Das »Glück« sei in einem Unterhaltungsfilme anbietenden Lichtspieltheater, auf einer Popkultur-Veranstaltung zu finden, aber Heidegger bemerkt auch eine Sphäre, die in seiner Zeit zunächst nur hervortritt, während sie die Maßstäbe des Riesigen erst heutzutage erhält. Es geht um den Massentourismus. Man könnte fragen: was für Einwände gibt es gegen den Tourismus? Gewiss, keine Einwände, wenn man mit dem Wunsch, eine »andere Welt« zu erkennen und zu verstehen, dabei sich auch zu erholen, zu tun hat. Leider ist der Tourismus zu einem Massenprozess in »dürftiger Zeit« (Heidegger), zur Flucht von einer prinzipiell langweiligen Realität in eine andere – eine erträumte, bessere Welt – geworden. Heidegger beschreibt »das Man« als eine Form der menschlichen Existenz; darin ließe sich vielleicht auch »auf-der-Suche-nach-einer-besseren-Stelle-sein« als eines von dessen Grundcharakteristika einfügen. Riesige Menschenmassen »rasen um den Erdball«. Sie werden von irrationaler Unzufriedenheit mit ihrer vorhandenen Stelle und Lage, auch von geistigem Unbehagen, getrieben. Daher vorwärts, immer weiter und weiter. Die gesuchte Stelle ist stets von uns entfernt 19

Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 96, 270.

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und unerreichbar, sie verlockt zu immer neuen Abenteuern und neuer Suche, verlockt dazu, immer wieder etwas Neues wahrzunehmen und zu genießen, was vielleicht endlich die Chance bieten würde, eine »Welt« als sich eigen zu erblicken, die ja stets aus den Händen gleitet und dadurch den Menschen immer weiter rasen lässt. Das Rennen nach dem Neuen erhält im Wesentlichen die Züge einer existentiellen Wahrheit und der Rechtfertigung des Lebens. Gewiss, zielloser Massentourismus ist lediglich eine peripheri­ sche (wenn auch charakteristische) Erscheinung in der universalen, scheinbaren Vorwärtsbewegung der gesamten europäischen Mensch­ heit – einem allumfassenden Fortgang, der absolut alle Sphären des menschlichen Seins betrifft und für Fortschritt erachtet wird, den man mit dem Liberalismus zu verbinden pflegt, einem Liberalismus, der doch etwas mehr ist als nur Liberalismus. »Der Fortschritt ist nur scheinbar ein Prinzip des sogenannten ›Liberalismus‹. In Wahrheit gehört er zum Wesen eines Zeitalters, das als Neuzeit das stets Neue für das eigentlich Wahre und Wirkliche hält«, schreibt Heidegger.20 Das nächste Thema, dem man Aufmerksamkeit widmen sollte, ist eine Ganzheit von gegenseitig verbundenen Erscheinungen: Globalisierung, postnationaler Konzernimperialismus, Multikultu­ ralismus und Bodenlosigkeit. Um jegliche Missverständnisse schon anfänglich zu vermeiden, möchte ich hinzufügen, dass ich mich selbst keinesfalls für einen Anti-Globalisten halte. Mir persönlich erscheint die Globalisierung akzeptabel, falls sie als ein natürlicher Prozess ver­ läuft. Aber man muss doch nicht unbeachtet lassen, dass sie in unse­ rem Zeitalter zu einem beängstigend gewalttätigen Unternehmen geworden ist, charakterisiert durch Bestrebungen, die Nationalstaaten aufzulösen, die Nationalkulturen maximal zu löschen, wobei an ihrer Stelle der Multikulturalismus eingeführt werden sollte, wodurch die Bodenlosigkeit zu rauer Realität wird. Besondere Befürchtung wird dadurch erregt, dass internationale Konzerne unverkennbar zu durchsetzenden Instanzen dieser Prozesse werden, indem sie einen spezifischen »postnationalen Konzernimperialismus« verwirklichen. Die erwähnten Prozesse haben eine weite Widerspiegelung und unterschiedliche Wertungen auch in der intellektuellen Literatur gefunden, zuweilen die Züge einer utopischen Weltsicht erhaltend. »Die postnationale Konstellation« von Jürgen Habermas ist erkenn­ bar eine bereits zustande gekommene Realität, es verbleibe nur 20

Ebd. 271.

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darüber nachzudenken, wie man die Idee der »Weltregierung« am effektivsten durchsetzen könnte.21 In der Sicht Heideggers sind die hier betrachteten Ideen und Realitäten Ergebnisse des »neuzeitlichen Rationalismus«, der nach den Worten von Silvio Vietta eine »Herrschaftspolitik über jene Völker und Kulturen [durchsetzt], die nicht auf dem Machtstandard des Rationalismus sind«.22 Rahner betrachtet die globalisierte Welt und die »Weltregierung« mit Besorgnis und zugleich etwas ironisch: »Und endlich das innerste der Fabrik des neuen Menschen: die politische Werkhalle: hier sitzt die Weltregierung, getragen von den herangezüchteten Superintelligenzen, hier werden die Arbeiten der verschiedenen Werkhallen koordiniert, die letzten Ziele entworfen und festgelegt, auf die sich alle Arbeit am Menschen hinbewegen soll. Diese Fabrik des neuen Menschen steht noch nicht. Aber es ist, wie wenn auf verschiedenen Teilen eines großen Areals gleichzeitig gebaut wird und man den Eindruck hat, daß diese Einzelbauten einmal zu einem einzigen Bau zusammenwachsen werden, eben zur hominisierten Welt, als einer einzigen großen Fabrik, in der der operable Mensch haust, um sich selbst zu erfinden«.23 Der befürchtende Sturm, der »um den Erdball rast«, hat viele Ausdrucksformen, er lässt sich mehr oder weniger in allen Sphären des menschlichen Seins spüren. Man könnte eine Aufzählung und Analyse dieser Sphären fortsetzen, viele und verschiedene Beispiele nennen. Es ist aber klar, dass sich dieser Sturm weder auf ein einzelnes Beispiel (mag es auch noch so markant und charakteristisch sein) noch auf eine Summe von Erscheinungen und Beispielen reduzieren lässt. Man muss nach den tieferen und universalen Gründen der zu betrachtenden Erscheinungen fragen. Heidegger versucht, den Leser (und Zuhörer) davon zu überzeu­ gen, die heutige »dürftige Zeit« sei das natürliche Ergebnis eines anhaltenden und universalen Prozesses, der als eine allmähliche Subjektivierung des Menschen, der Welt und letztendlich sogar des Gottes abläuft; alles wird zum Betrachtungsobjekt einer rational rech­ nenden Vernunft – zum Gestell. Nach der Meinung Heideggers ist es wichtig einzusehen, dass dieser Prozess als Seinsgeschick verläuft, das in seinem Laufe in der heutigen Welt zur »Seinsvergessenheit« 21 Vgl. J. Habermas, »Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokra­ tie«, in: Die postnationale Konstellation: Politische Essays, Suhrkamp, 1998, 91–169. 22 Silvio Vietta, »Etwas rast um den Erdball ...«, Verlag Wilhelm Fink, 2015, 165. 23 Karl Rahner, »Experiment Mensch«, 50–51.

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gelangt ist. Gegen eine derartige Interpretation des Seinsgeschicks haben auch die Forscher des philosophischen Erbes von Heidegger keine Einwände, indem sie die eventuelle Verwurzelung der »dürfti­ gen Zeit« und der Weltnacht gerade im abendländischen subjektivie­ renden Rationalismus und in der »Seinsvergessenheit« erblicken. Einer derartigen Interpretation des Seinsgeschicks im Ganzen zustimmend, möchte der Verfasser dieser Abhandlung dazu mahnen, etliche leitenden Grundworte in der Philosophie Heideggers und Rahners zu vergleichen, in der Hoffnung, dass dieser Vergleich noch irgendeine Seite in ihrer Weltsicht aufdecken lassen könnte, eine Seite, die auch dem heutigen Menschen nicht unwichtig wäre, insbe­ sondere bei der Frage, »was um den Erdball rast«. Die Grundworte sind selbstverständlich Sein und Gott. In der frühen Periode seiner philosophischen Tätigkeit behauptet Heidegger: »Ich bin ein christlicher Theologe« (nach dem Zeugnis von Karl Löwith).24 Den Entwicklungsweg des Lebens und der philo­ sophischen Idee Heideggers auf Ganze gesehen, könnte man diese Behauptung zumindest teilweise auf Treu und Glauben nehmen. Zugleich könnte man auch der Äußerung von Silvio Vietta zustim­ men, »Sein und Zeit aber … hatte selbst eine radikal antitheologische Wendung des Denkens angenommen, insofern hier alle transzenden­ ten Bestimmungen des menschlichen Daseins in dessen Immanenz zurückgenommen sind«.25 Eine derartige antitheologische Wende ist natürlich und verständlich, wenigstens vom Blickpunkt der Grundein­ stellung Heideggers betrachtet: Im schicksalhaften Subjektivierungs­ prozess der abendländischen Weltsicht ist auch die Theologie in die Gefangenschaft der rechnenden Rationalität geraten, selbst der Gott ist zum Objekt des rechnenden Bewusstseins gemacht worden. Solch eine Situation ist für Heidegger nicht akzeptabel. Daher ist sein reserviertes Verhalten zur offiziellen katholischen Theologie und zu den »kirchlichen Kreisen« verständlich. Gleichzeitig muss man die von Sartre geäußerte Meinung über Heidegger als Vertreter des atheistischen Existentialismus keinesfalls teilen. Vieles spricht dagegen. Rüdiger Safranski schreibt dazu folgen­ des: »Max Müller erzählt, wie Heidegger auf Wanderungen, wenn man zu Kirchen und Kapellen kam, stets Weihwasser nahm und eine 24 Zitiert nach Hans-Georg Gadamer, Heideggers Wege, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1983, 142. 25 Silvio Vietta, »Etwas rast um den Erdball ...«, 31.

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Kniebeuge machte. Einmal habe er ihn gefragt, ob das nicht eine Inkonsequenz sei, da er doch von den Dogmen der Kirche Abstand genommen habe. Darauf habe Heidegger geantwortet: ›Geschichtlich muss man denken. Und wo soviel gebetet worden ist, da ist das Göttliche in einer ganz besonderen Weise nahe‹.«26 Wollen wir uns abermals der bereits erwähnten Aussage entsin­ nen: »Nur noch ein Gott kann uns retten«. Selbst wenn wir annehmen, die Aussage sei eine bloße Metapher, so verbleibt die Frage danach, was diese Metapher uns ankündigt. Jedenfalls ist klar, dass sie keine Aufforderung bedeutet, zur offiziellen Theologie und zum traditionel­ len Gottesverständnis zurückzukehren. Meines Erachtens wäre es nicht adäquat, in dieser Abhandlung abermals zu fragen, ob der Gott in der Philosophie Heideggers nicht in das »Sein« verwandelt wäre. Die Antwort ist allgemein bekannt – nein! Das hat auch Heidegger immer ziemlich kategorisch behauptet. »Das ›Sein‹ – das ist nicht Gott und nicht ein Weltgrund. ... Das Sein … ist dem Meschen näher als jedes Seiende, sei dies ein Fels, ein Tier, ein Kunstwerk, eine Maschine, sei es ein Engel oder Gott«, so der Philosoph.27 Das »Sein« ist kein Gott. Aber was ist dieses »Sein«? Im ganzen Verlauf der Entfaltung der Geschichte der Philosophie – auch im Rah­ men der sogenannten Metaphysik Heideggers – hat niemand bisher diese Frage beantwortet. Auch Heidegger hat sie nicht beantwortet. Auch wir werden keine Antwort bieten. Stattdessen wäre es vielleicht produktiv, einigen von Heidegger selbst gebotenen Charakteristiken des »Seins« unsere Aufmerksamkeit zu widmen, die – insbesondere wenn wir das »Sein« bei Heidegger mit dem Begriff »Gott« bei Rahner vergleichen – eine wesentliche Dimension im Verständnis der Seinsgeschichte und der »dürftigen Zeit« eröffnen und zugleich auch helfen würden, dasjenige zu verstehen, was »um den Erdball rast«. Dann müsste man nicht danach fragen, was das »Sein« ist, sondern nach seiner funktionellen Ausrichtung. In seinem Werk »Sein und Zeit« versucht Heidegger, eine Ant­ wort auf die Frage zu finden, was das Sein des menschlichen Daseins ist. Die allumfassende und brillant durchgeführte Analyse von Dasein als Existenz vermag dennoch keine Antwort auf die folgende Frage 26 Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, Frankfurt a. M., 1997, 477. 27 M. Heidegger, Brief über den Humanismus. GA 9, 331.

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zu bieten: »Was heißt überhaupt Sein?«. Nach der Meinung des Philosophen muss eine Antwort auf diese Frage zwar gesucht werden, jedoch, und dies ist viel wichtiger, ist es notwendig, ein neues adäqua­ tes Verhältnis zum »Sein« zu finden. Es ist eine Wende unter dem Menschen und dem »Sein« notwendig. »Und die Wende in dieses Verhältnis denkend vorzubereiten (nicht das Verhältnis zu verkünden im Sinne eines Propheten), das ist der unausgesprochene Sinn meines ganzen Denkens«, sagt Heidegger.28 Diese Wende (»Kehre«) geht als eine ausführliche Botschaft über die Geschichte der abendländischen Zivilisation als Seinsgeschichte und Seinsgeschick in Erfüllung. Vom Analytiker des »Daseins« und des menschlichen »Seins« ist Heidegger zum Seins-Übersetzer und Boten geworden. Bei diesem Unternehmen benötigt er ja Medien, zu welchen namhafte Künstler und Dichter wie Vincent van Gogh, Rainer Maria Rilke, Stefan George, Georg Trakl und insbesondere Friedrich Hölderlin, werden. Der Philosoph fordert dazu auf, der Botschaft des Daseins zuzuhören. Auch dies bietet keine Klarheit darüber, was »überhaupt Sein« bedeuten sollte. Wird jemand beim Fragen allzu aufdringlich, so erwidert Heidegger: »Das Sein ist es selbst!« Jedoch erfahren wir vom Philosophen, dass das Seinsgeschick – zugleich das Schicksal eines abendländischen Menschen – durch Bodenlosigkeit, Planetarismus, Seinsvergessen, Seinsverlassenheit, Entwurzelung und viele weitere sonstige gar nicht positiv zu schät­ zende Züge charakterisiert wird. Man könnte Heidegger leichterhand das Mythologisieren von »Sein« zuschreiben; dennoch scheint es aber, dass dies nicht adäquat wäre – zumindest daher, dass die Botschaften des Philosophen die Vorgänge in der heutigen Welt in vielen Fällen ziemlich treffend charakterisieren; vieles in dem von Heidegger Gesagten ist eine schmerzliche, dennoch unleugbare Wirklichkeit: Bodenlosigkeit, Ent­ fremdung. Wichtiger als eventuelle Elemente des Mythologisierens bzw. Anthropologisierens sind die spannenden Versuche Heideggers, nach dem Seinsgeschick, dem auch wir zur Verfügung stehen, zu fragen. Es ist wichtig, die Frage selbst aufrechtzuhalten, anstatt sich nichtfragender sinnloser Existenz zu fügen. »Sein« ist ein Geheimnis für Heidegger. Es ist ein Geheimnis auch für Rahner. Rahner mahnt ebenfalls zu hören: Zwar nicht die Botschaft des »Seins«, sondern diejenige des göttlichen Geheimnis­ 28

M. Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 15, 429.

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ses. Nicht umsonst lautet der Titel eines der Hauptwerke Rahners »Hörer des Wortes«. In diesem Kontext wäre wohl ein (der Unter­ schied ist keineswegs winzig, er ist entscheidend!) Unterschied zu bemerken: Rahner mahnt, die Selbstbotschaft, die Offenbarung des unsagbaren Geheimnisses, das von den Aposteln und Kirchenvätern Gesagte, zu hören, Heidegger dagegen macht die Poeten zu eigenar­ tigen Aposteln des »Seins«. »Jede ausdrückliche Gotteserkenntnis in Religion und Metaphy­ sik ist so in dem, was sie meint, darum auch immer nur verständlich und echt vollziehbar, wenn alle Worte, die wir dabei machen, Ver­ weise auf die unthematische Erfahrung unserer Verwiesenheit in das unsagbare Geheimnis hinein sind. Und wie das Wesen des transzen­ dierenden Geistes in seiner gegenständlich welthaften Verfaßtheit neben dieser Gegenständlichkeit immer die Möglichkeit bietet – und zwar theoretisch und praktisch –, eben dieser eigenen, sich selbst in Freiheit überantworteten Subjektivität zu entlaufen, so kann der Mensch auch seine transcendentale Verwiesenheit auf das absolute Geheimnis – »Gott« genannt – sich selbst verbergen und so seine eigentlichste Wahrheit niederhalten, wie die Schrift (vgl. Röm. 1, 18) sagt«, schreibt Rahner.29 Das »Sein« bei Heidegger ist nicht in rationalistischen Formeln zu fassen, es ist ein Geheimnis, das sich zuweilen als Wahrheit des Daseins ereignet; das Gleiche mag auch für das Gottesverständnis bei Rahner gelten. Der Gott ist lebendiges Geheimnis, das sich uns zuzeiten offenbart, zuzeiten aber verborgen bleibt. Ebenso wie im Verständnis Heideggers: »empfängt das daseinsmäßige Freisein sein eigenes Wesen aus dem ereignenden Zuwurf der Wahrheit des Seins, so, daß das Freisein selbst ein aus dem Zuwurf ereignetes ist, ein ereignetes Entwerfen der Wahrheit des Seins und ereignetes Offenbarwerdenlassen des Seienden«,30 auch im Verständnis Rah­ ners: der Mensch findet die Freiheit, indem er sich dem göttlichen Geheimnis freisetzt. Und noch ein Zitat von Rahner: »Der Begriff ›Gott‹ ist nicht ein Ergreifen Gottes, durch das der Mensch sich des Geheimnisses bemächtigt, sondern ein Sich-ergreifen-lassen von einem anwesen­ den und sich immer entziehenden Geheimnis. Dieses Geheimnis Karl Rahner, Grundkurs des Glaubens, Herder. Basel, Wien, 63. Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, Wahrheit – Freiheit – Geschichte, Vittorio Kloster­ mann, Frankfurt/M., 108.

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bleibt Geheimnis, auch wenn es sich dem Menschen eröffnet und so gerade allererst den Menschen als Subjekt dauernd begründet«.31 In diesem Zitat ließe sich wohl das Wort »Gott« durch das Wort »Sein« austauschen und es weiter als eine Botschaft Heideggers anbieten. Mit dem Gesagten möchte ich keinesfalls den Begriff »Sein« bei Heidegger mit dem Begriff »Gott« bei Rahner identifizieren. In dieser Abhandlung gäbe es wohl auch keinen Grund dazu, die inhaltlichen Unterschiede der beiden Termini eigens zu erörtern. Daher möchte ich die Aufmerksamkeit darauf lenken, was diese Termini überhaupt vergleichbar macht. Wie bereits erwähnt ist der Begriff »Gott« bei Rahner in seinem Wesen von jeglicher Gegenständlichkeit befreit, er ist ein Geheimnis, das den Menschen zur Existenz schickt. Der Gott ist nicht derart zu erkunden, wie wir die Gegenstände erkennen, vom Gott kann besten­ falls nur in Analogien die Rede sein. Dabei beschränkt uns auch in solchem Gespräch die historische Bedingtheit der Sprache. »Denn den Gott gibt es wirklich nicht, der als ein einzelnes Seiendes neben ande­ rem Seiendem sich auswirkt und waltet und so gewissermaßen selber noch einmal in dem größeren Haus der Gesamtwirklichkeit anwe­ send wäre«, schreibt Rahner.32 Aber am wichtigsten im Verständnis des Gottes, der Verhältnisse zwischen Gott und Mensch, ist die Dimension der Geschichtlichkeit zum Vorschein gekommen, dabei hat sie auch die Transzendenz wesentlich getroffen. »Wir gehen also davon aus, daß die Transzendenz selbst eine Geschichte hat und die Geschichte immer selber das Ereignis dieser Transzendenz ist«, betont Rahner.33 Man könnte vermuten, gerade die »Geschichtlichkeit« in ihren allerartigen Begriffs- und Gebrauchsformen sei dasjenige Element, das ungeachtet aller Unterschiede die Interpretation von »Sein« bei Heidegger und von »Gott« bei Rahner verbindet. Im einen wie im anderen Fall geschieht das Ereignis der lebendigen Wahrheit. Aber welchen Zusammenhang hat alles bisher Gesagte mit dem, was »um den Erdball rast«? Wie von mir bereits erwähnt, sollte dieses planetarisch Rasende nicht auf eine einzelne Sphäre der menschlichen Existenz oder auf ein Ereignis reduziert werden. Es geschieht das »Sein«, es geschieht der Gott. Die Rede ist von einem globalen, allumfassenden Prozess, in dessen Verlauf beliebiger existentieller 31 32 33

Karl Rahner, Grundkurs des Glaubens, 63. Ebd. 72. Ebd. 145.

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Sinn verlorengegangen ist, den man nicht einfach durch das Haben, das Jagen nach immer neuen Eindrücken und Gefühlen oder nach dem Genuss, aufwiegen kann. Bei einem bedeutenden Teil der Gesellschaft ist die Sinnlosigkeit zu einem bedrückenden, sogar tödlichen Problem geworden. Dasjenige, was »um den Erdball rast«, ist bedrückende Sinn­ losigkeit, die sowohl in gewalttätiger Globalisierung, rechnerischer Rationalität, dem Militarismus, sinnentfernter Wissenschaft als auch in aggressivem Gebrauch der Ressourcen dieser Welt präsent ist. Gerade wegen dieser Sinnlosigkeit sind viele dazu bereit, aber­ mals nach dem Geheimnis, dem Umgreifenden, Gott oder »Sein« zu fragen. Vielleicht könnte man die Rede über »Sein« und »Gott« auch als Gegenspiel gegen das, was, »um den Erdball rast«, interpre­ tieren. »Sein« bei Heidegger und »Gott« bei Rahner heben funktio­ nell ein existentiell sammelndes Zentrum hervor, worum sich die Lebensverläufe verbinden könnten, was aber im modernen Zeitalter entschwindet oder in Vergessenheit gerät. Man könnte vermuten, hier kündige sich der »Zeitgeist« (eine alte, aber in diesem Fall adäquate Kategorie) an, ein Zeitgeist, der sich ähnlich und auch unterschiedlich in den Anschauungen Heideggers und Rahners äußert, indem er seine Verfolger in der heutigen Welt findet. Und noch – dasjenige, was »rast um den Erdball«, zersplittert, zerstreut und entfremdet alles extrem, es beraubt die Welt, die Erkenntnis und die menschliche Existenz des Sinnes und eines Zusammenhangs. Im Gegensatz dazu, sammelt, trägt der »Gott« oder das »Sein« alles zusammen und verleiht den Sinn. Vielleicht sucht der moderne Mensch am meisten gerade danach? Mag ein solcher Sinn kommen? Im Gegensatz zu der Geschichte der »abendländischen Macht­ expansion«, der Entfaltung des Riesigen und den Bestrebungen zu einer gewalttätigen Globalisierung möchte man vielleicht mehr posi­ tive Möglichkeiten der Entfaltung aus den Grundprozessen unseres Zeitalters durchdenken. Die Einfügung in die Weltprozesse (Wis­ senschaft, Produktion, soziale und kulturelle Aktualitäten u. dgl.) produziert anscheinend unvermeidlich »den Weltbürger« – den Kos­ mopoliten. Das stimmt ja, und dem ist nicht auszuweichen. Jedoch kann man den Kosmopolitismus auch von einem anderen Blickpunkt betrachten – die zukünftige »Cosmo-Polis« könnte als ein Ort vorge­ stellt werden, wo sich nicht etwa ihre nationale Eigenart aufgebende »bodenlose« Landstreicher, sondern nationale und regionale Kulturen als »kollektive Persönlichkeiten« und Individuen, als Vertreter dieser Kulturen in einem dialogischen Prozess treffen.

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Vielleicht könnte man in diesem kosmopolitisch, aber zugleich auch dialogisch orientierten Prozess etwas lenken, das zur Zeit Heideggers und Rahners raste und auch heute um den Erdball rast. Vielleicht hat auch Europa das Potential seiner Humanität noch nicht ausgeschöpft. Die von Karl Rahner und seinem Zeitgenossen Franz Kardi­ nal König geäußerte Überzeugung teilend, kann man hoffen, dass »Europa immer noch in allen Dimensionen der menschlichen »Kul­ tur« Fähigkeiten und Möglichkeiten besitzt, die, noch unverbraucht, der Verwirklichung harren. Europa mag »alt« sein. Aber das heißt noch lange nicht notwendig: veraltet und ohne Zukunft«.34

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Europa. Horizonte der Hoffnung, Verlag Styria, Graz / Wien / Köln 1983, 9.

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Die Jahre zwischen 1928 und 1932 sind für das Denken Heideggers Jahre der Festigung und zugleich der Vorbereitung wesentlicher Ent­ scheidungen. Wenn diese »Umbruchszeit« einerseits die philosophi­ sche Revolution von »Sein und Zeit« konsolidiert, so bereitet sie im Verborgenen auch den Übergang von der fundamental-ontologi­ schen in die seinsgeschichtliche Blickbahn, in welcher nur wenige Jahre später die Grundgedanken seines Denkens eine wesentliche Verwandlung erfahren werden. Heideggers Lektüre des Begriffs der Einbildungskraft in »Kant und das Problem der Metaphysik«1, der sich diese Überlegungen zuwenden werden, ist ein Thema, das seine eigene Relevanz inner­ halb der Fundamentalontologie hat, und zwar als ein Beispiel der »Destruktion« der Geschichte der Philosophie auf dem Wege der Überwindung der Subjektivität. Dementsprechend werden folgende Ausführungen zunächst diese zentrale Problematik immanent skiz­ zieren, so wie sie von Heidegger im Gespräch mit Kant entwickelt wurde. Sie werden anschließend, in einer freieren und vielleicht etwas gewagten Interpretation, versuchen, die Einbildungskraft aus dem ereignisgeschichtlichen Gefüge des seinsgeschichtlichen Denkens zu verorten, indem sie am Leitfaden des Begriffs der »Ahnung« und der »zarten aber hellen Differenz« zwischen Bild und Begriff fragen, ob es vielleicht denkbar sein könnte, auch Denken und Dichten aus einer »ursprünglichen, aber uns unbekannten Wurzel« zu fassen. Um den ersten Schritt vorzubereiten, soll aber zunächst kurz auf den Begriff der Einbildungskraft innerhalb der Selbstauslegung des Menschen als animal rationale eingegangen werden. Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik. Gesamtausgabe Band 3. Hrsg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Klostermann, Frankfurt a. M. 1991. Im Text zitiert als: GA 3.

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1. Die Einbildungskraft im Leitbegriff des animal rationale Der Begriff der Einbildungskraft hat eine lange Vorgeschichte. Mit diesem Terminus (phantasía, imaginatio) wird ein weites Feld an Phänomenen erfasst, die alle um die Frage der Verbindung von Sinnlichkeit und Verstand kreisen und damit ins Herz (alternativ: in den Kern) der Selbstbestimmung des Menschen als animal rationale führen. Die Einbildungskraft hat die Aufgabe, sinnliche Eindrücke »in uns vorzustellen«, sie »bewusst« zu machen – aber auch, sie zu reproduzieren und neu zu konfigurieren, assoziieren. Sie hat damit sowohl mit unserem Bezug zur konkreten Wirklichkeit zu tun – mit der jetztbezogenen Vorstellung sinnlicher Eindrücke – wie auch mit ihrer begleitenden Vergegenwärtigung in Gegenwart, Vergangen­ heit und Zukunft. Aber die Einbildungskraft ist, als Phantasie im engeren Sinne, auch das Vermögen, das neue Wirklichkeiten in der freien Erfindung und im künstlerischen Schaffen bildet. Am Ursprung unseres menschlichen Bezugs zu uns selbst und der Welt wirkt und waltet diese rätselhafte Fähigkeit: noch so »sinnlich«, dass ein Teil von ihr eindeutig der »Animalität« zugeschrieben werden muss, ist die Einbildungskraft dennoch auch sehend, unabhängig, im gewissen Grade »spontan«, die Welt neu ordnend, obwohl sie nicht die »stär­ kere« Unabhängigkeit und Abstraktionsfähigkeit der ratio besitzt. Die Einbildungskraft setzt zusammen, erfindet, erdichtet, bleibt aber immer rückbezogen auf ein notwendiges Substrat vorhandener sinn­ licher Erfahrungen. Das hier beschriebene Modell h+at neben der Selbstauslegung des Menschen als animal rationale eine weitere, damit verbundene Voraussetzung: nämlich, dass wir einerseits eine unmittelbar vor uns liegende Wirklichkeit haben, die uns durch die Sinne zugänglich ist, und andererseits die Bilder (imagines, phantasmata), die wir uns »von ihr machen«. Diese Bilder wiederum können entweder 1. gegenwärtige Vorstellungen der sinnlichen Eindrücke sein (die bewusst erlebte Vorstellung, dass diese Wand weiß ist), 2. mehr oder weniger getreue Vorstellungen dessen, was hier und jetzt nicht da ist (Gegenwartsvergegenwärtigung, Erinnerung, Vordenken in die Zukunft) und schließlich 3. freie Zusammensetzungen in der Phanta­ sie. Einbildungskraft ist also allgemein gefasst – und vor allem mit Bezug auf die neuzeitliche Philosophie – das Vermögen, sinnliche Daten, die an sich »blind« wären, mit dem Vorstellen (repraesentatio)

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zu verbinden, sie bewusst zu machen und ins Gedächtnis zu rufen, aber auch sie beliebig zu verändern und neu zu konstruieren. Die Einbildungskraft lebt von dem Verhältnis zwischen Nähe und Ferne. Wir sind sinnliche Wesen, die an das Hier und Jetzt gebun­ den sind, wir sind aber auch dazu in der Lage, uns von Hier und Jetzt zu entfernen, und zwar nicht nur und nicht erst in der intellektuellen Abstraktion der logischen Zusammenhänge. Wir können vor- und zurückdenken, uns Dinge und Relationen vorstellen, die nicht anwe­ send sind, sei es, weil sie vergangen oder noch nicht eingetreten sind, sei es, weil sie überhaupt nicht existieren. Die Einbildungskraft als Basis für Kunst, Dichtung, Literatur, gründet in der ständigen Oszilla­ tion zwischen zeit-räumlicher Nähe und zeit-räumlicher Ferne, einer Oszillation, die uns kontinuierlich und wesensmäßig begleitet und die zum ausdrücklichen Erfinden von künstlichen oder künstlerischen Kombinationen ausgebildet werden kann. Es ist allerdings nicht diese letztgenannte Art die Einbildungs­ kraft – die Kant »reproduktiv« nennen wird –, die zu einem zentralen Problem für die »Kritik der reinen Vernunft« werden wird. Die eigent­ liche Crux im kantischen System ist die produktive Einbildungskraft, jenes Vermögen, das am Werk ist, wenn wir sinnliche Eindrücke unter einer Kategorie des Verstandes subsumieren und Urteile bilden. Die Aussage »dieses Blatt ist weiß«, ist nach Kant das Produkt der Verbindung eines sinnlichen, hier eines visuellen, Eindrucks, mit der Kategorie der Qualität, und funktioniert aufgrund der rätselhaften Vereinigung sinnlicher Daten mit der entsprechenden Kategorie des Verstandes. Wie ist es möglich, dass an und für sich »blinde« Daten, die uns die Sinnlichkeit liefert, mit an und für sich »leeren« Kategorien des Verstandes verbunden werden? Welche ist die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt? Die Bedeutung, die Kant in der »Kritik der reinen Vernunft« der Einbildungskraft und ihrer Vermittlungsfunktion zwischen Sinnlich­ keit und Verstand zuschreibt, wird an ihren erkenntnistheoretischen, anthropologischen und metaphysischen Implikationen ersichtlich. Denn in der Vermittlung zwischen Sinnlichkeit und Verstand ent­ scheiden sich unter anderem der Status der synthetischen Urteile a priori, das Verständnis von Sein als Gegenständlichkeit überhaupt und damit – vor allem – das Selbstverständnis des Menschen als Subjekt. Die zentrale Valenz der Einbildungskraft im System der ers­ ten Kritik zeigt sich auch an der wesentlichen Umarbeitung, die Kant zwischen der Ausgabe A und der Ausgabe B vorgenommen hat. Was

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passiert in den Jahren zwischen den beiden Ausgaben? Warum wird die Bedeutung der Einbildungskraft zurückgenommen, so dass sie in der zweiten Ausgabe ihre Eigenständigkeit als Vermögen verliert und zu einer »bloßen Funktion des Verstandes« uminterpretiert wird? Heideggers Antwort auf diese Frage ist bekannt: Kant sei »vor einem Abgrund« zurückgeschreckt und habe deshalb in der zweiten Ausgabe der »Kritik« die Rolle der Einbildungskraft zugunsten des Verstandes abgeschwächt. Das sei geschehen, um die gefährliche Hypothese vom Denkhorizont zu entfernen, nichts anderes als eben die Einbildungskraft sei die gemeinsame, unbekannte Wurzel von Sinnlichkeit und Verstand, und zwar die Einbildungskraft als die »ursprüngliche Zeit« selbst.

2. Die Einbildungskraft als ursprünglich zeitliche Wurzel von Sinnlichkeit und Verstand und Kants Zurückschrecken vor dem Abgrund Die transzendentale Einbildungskraft, dieses – so Heidegger – »hei­ matlose« Zwischenwesen (GA 3, 136), wird von Kant zunächst in der »Deduktion der reinen Verstandesbegriffe« und dann im Sche­ matismus-Kapitel abgehandelt. Obwohl sie als eine »unentbehrliche Funktion der Seele« definiert wird, »ohne die wir überall gar keine Erkenntnis haben würden« (A 78, B 103f.)2, findet sie im Gesamtent­ wurf der »Kritik« – und zwar bereits in der ersten Ausgabe – keinen festen und eindeutigen Platz. In der Einleitung (A 15, B 29) spricht Kant von »zwei Stämme[n] der menschlichen Erkenntnis«, Sinnlichkeit und Verstand, »durch deren ersteren uns Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden«. Zwar betont er, dass Sinnlichkeit und Verstand »vielleicht aus einer »gemeinschaftlichen (…) Wurzel entspringen« könnten, aber diese gemeinsame Wurzel, die unsere kognitiven Fähig­ keiten fundamentieren würde, sei »uns unbekannt« (ebd.). Bezüglich der Zweiteilung des Erkenntnisvermögens in Sinn­ lichkeit und Verstand ist die »Kritik der reinen Vernunft«, hier der Tradition folgend, meistens eindeutig: »Unsere Erkenntnis entspringt 2 Kant, Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. v. Jens Timmermann. Philosophische Biblio­ thek Bd. 505. Felix Meiner Verlag, Hamburg 2010. Im Text wird nach A (erste Ausgabe) und B (zweite Ausgabe) zitiert.

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aus zwei Grundquellen des Gemütes, deren die erste ist, die Vorstel­ lungen zu empfangen (die Rezeptivität der Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe)« (A 50, B 74). Kant betont sogar, dass wir »außer diesen beiden Erkenntnisquellen« keine anderen haben (A 294, B 350), und dass »nur daraus, dass sie sich vereinigen, Erkennt­ nis entspringen« kann (A 51, B 75 f.). Trotz der neuen Akzente bleibt Kant der Überlieferung treu: er hält durchwegs an den »zwei Stäm­ men« konsequent fest, eine Zweiteilung, der auch die Gliederung der Kritik in transzendentale Ästhetik und transzendentale Logik ent­ spricht. Desungeachtet finden sich in der »Kritik der reinen Vernunft« auch Stellen, an denen Kant von drei Elementen der Erkenntnis spricht: 1. die reine Anschauung (Zeit), 2. die reine Synthesis durch die Einbildungskraft und 3. die reinen Begriffe der reinen Apperzep­ tion (A 78 f., B 104). Am befremdlichsten spricht vielleicht eine Stelle in A 94: »Es sind aber drei ursprüngliche Quellen (Fähigkeiten oder Vermögen der Seele), die die Bedingung der Möglichkeit aller Erfah­ rung enthalten, und selbst aus keinem anderen Vermögen des Gemüts abgeleitet werden können, nämlich Sinn, Einbildungskraft und Apperzeption« (vgl. auch ähnlich in A 115). Nahezu all die Stellen, die der Einbildungskraft eine »eigen­ ständige« Zwischenfunktion zwischen Sinnlichkeit und Verstand zuschreiben, werden allerdings in der zweiten Ausgabe gestrichen oder wesentlich umgearbeitet, so die transzendentale Deduktion, die in der Ausgabe B in einer völlig neuen Fassung vorliegt. Die Einbildungskraft wird nunmehr als eine »Funktion des Verstandes« und nicht mehr »der Seele« definiert und als eine solche – als eine besondere Leistung des Verstandes – dargestellt. Heideggers Antwort auf die Frage, warum diese Umdeutung für Kant notwendig wurde, ist bereits eine seinsgeschichtliche Antwort – freilich eine seinsgeschichtliche Antwort ante litteram. Kant sei vor der Eigenständigkeit der (ursprünglich zeitlichen) Einbildungskraft und der (impliziten oder expliziten) Interpretation dieser als der »unbe­ kannten Wurzel« von Sinnlichkeit und Verstand zurückgewichen, weil die Vernunft das Denken noch einmal in ihren Bann zog und ihre tradierten Rechte beanspruchte – vielleicht zum letzten Mal. Für den Gedanken, das Wesen des Menschen bestehe in der Einbildungskraft und damit – in Heideggers Interpretation – in der ursprünglichen Endlichkeit der Zeit –, war die Zeit noch nicht reif.

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In der zweiten Auflage der »Kritik der reinen Vernunft«, so Heidegger, »wird die transzendentale Einbildungskraft, so wie sie im leidenschaftlichen Zuge des ersten Entwurfes ans Licht kam, abge­ drängt und umgedeutet – zugunsten des Verstandes« (GA 3 161). Die Unterscheidung von Sinnlichkeit und Verstand wird in der Ausgabe B eindeutiger und schärfer (GA 3 162, Fußnote c), so, dass die Einbil­ dungskraft »zu einem Actus der Spontaneität der Vorstellungskraft« umgedeutet wird, welche »zum Unterschiede von der Sinnlichkeit, Verstand« genannt werden muss (B 130; GA 3 163). Die Einbildungs­ kraft verliert ihre Eigenständigkeit als Vermögen und ist »nur noch dem Namen nach da«: sie erhält die Bezeichnung synthesis speciosa (figürliche Synthesis), weil sich der Verstand als Einbildungskraft auf die Sinnlichkeit bezieht, wohingegen, ohne diesen Bezug, der Verstand synthesis intellectualis genannt werden muss. Zwar sind beide Synthesen nicht gleichzusetzen, doch der Unterscheid beider wird zu einem solchen im Verstand selbst – er wird zu einem inner­ intellektuellen Unterschied, der nur davon zeugt, dass der Verstand verschiedene Funktionen und »Gebrauchsmöglichkeiten« aufweist. Kants Ungedachtes – die Einbildungskraft als ursprünglicher Grund von Sinnlichkeit und Verstand – drang, so Heidegger These, nur vorläufig und unvollständig (in der Ausgabe A) zur Ausdrück­ lichkeit des systematischen Entwurfes und entzog sich dann wieder in den Hintergrund. Kants Ungedachtes (oder kaum Gedachtes) blieb ungedacht und wurde zurückgezogen, weil es nicht gedacht werden konnte, und es konnte nicht gedacht werden, weil dieser Gedanke zu einer weit radikaleren Umwälzung aller überlieferten Vorstellungen geführt hätte, als es innerhalb des kantischen Entwurfs und seiner Neugrundlegung der Metaphysik möglich gewesen wäre. Die Einbildungskraft als unbekannte Wurzel von Sinnlichkeit und Verstand war der »Abgrund«, der sich Kants Reflexion öffnete und wieder verschließen musste: »Die transzendentale Einbildungskraft muß selbst die Veranlassung geben, daß sich Kant von ihr als einem eigenen transzendentalen Grundvermögen abkehrt« (GA 3 167). Doch warum hätte in der Ansetzung der Einbildungskraft als eigenständiges und ursprüngliches Grundvermögen, und vielleicht als Fundament von Sinnlichkeit und Verstand, eine derartige Gefahr gelegen? Welcher war der »Abgrund«, der sich in diesem Gedan­ ken öffnete? Eine erste Antwort auf diese Frage liegt nahe. Die Einbildungs­ kraft wurde in der Tradition immer psychologisch und anthropolo­

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gisch aufgefasst, und zwar als ein niederes Vermögen, das innerhalb der Sinnlichkeit angesiedelt ist. Wenn unsere Erkenntnis, damit aber auch unser Wesen, auf die Einbildungskraft zurückzuführen ist, dann droht das Primat der ratio zu entschwinden, dann ist die Möglichkeit nicht nur der Metaphysica specialis, sondern auch der Metaphysica generalis und nicht zuletzt der praktischen Philosophie mit ihren Postulaten in gefährlicher Weise in Frage gestellt. Was soll »mit der ehrwürdigen Tradition geschehen, nach der die Ratio und der Logos in der Geschichte der Metaphysik die zentrale Funktion beanspruchen«? (GA 3 167) »Kant brachte die ›Möglichkeit‹ der Metaphysik im Radi­ kalismus seines Fragens vor diesen Abgrund. Er sah das Unbekannte. Er mußte zurückweichen. Denn das allein war es nicht, daß ihn die transzendentale Einbildungskraft schreckte, sondern daß inzwischen die reine Vernunft als Vernunft ihn noch stärker in ihren Bann gezogen hatte.« (GA 3 168) Der Bann, der Kant an sich bindet und ihn daran hindert, die letzten Konsequenzen aus seiner Grundstellung zu ziehen, ist das Ereignis, dass die ratio noch einmal, vor dem endgültigen Absturz, ihr Recht absichern musste, und faktisch, wenn auch für kurze Zeit, absicherte. Wenige Jahrzehnte – kurz darauf – brach Nietzsches Philosophie ein – und dennoch, ereignisgeschichtlich gesprochen, eine ganze Epoche des Seins. Die stärkere Betonung der Einbildungskraft hätte Kant, so könnte eine erste Antwort auf die leitende Frage lauten, in eine gefährliche Nähe zum Empirismus gebracht. Denn wenn unsere Erkenntnis im Grunde auf die Einwirkung eines Vermögens zurückzuführen ist, das eng mit der Sinnlichkeit verbunden ist, folgt daraus, dass »synthetische Urteile a priori« nicht mehr möglich sind oder, wenn doch, auf einem sehr unsicheren Grund basieren, denn Apriorität und Absolutheit des Urteils setzen die Unabhängigkeit von der Sinnlich­ keit und der Erfahrung voraus. Die Einbildungskraft als ursprüngliche Wurzel der Erkenntnis hätte schließlich zu Quasi-Allgemeinheit der Empiristen zurückgeführt. Heideggers Antwort ist aber radikaler. Indem er den zeitlichen Charakter der Einbildungskraft herausstreicht, wird die anvisierte Gefahr tiefgründiger; sie liegt nicht mehr nur in der gefährlichen Nähe zur Animalitas, sondern in der Zeitlichkeit des Da-seins, in der nicht nur der Rationalismus, sondern die Subjektivität überhaupt verab­ schiedet werden müsste. Wenn »Die transzendentale Einbildungs­ kraft […] die Zeit als Jetzfolge entspringen« lässt und damit »die

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ursprüngliche Zeit« selbst ist (GA 3 175 f), dann gründet auch der Verstand in der Zeitigung der Zeitlichkeit und muss also selbst als ein zuinnerst endliches Vermögen aufgefasst werden. Als Wurzel und vermittelnde Mitte (GA 3, 177) von Sinnlichkeit und Verstand wäre die Einbildungskraft die ursprünglich zeitliche Synthesis für beide und damit das Fundament – das Wesen – nicht nur der Erkenntnis, son­ dern des Menschseins überhaupt. Kant unterscheidet drei Arten bzw. drei Modi der Synthesis: 1. Die Synthesis der Apprehension in der Anschauung, 2. Die Synthe­ sis der Reproduktion in der Einbildung und 3. Die Synthesis der Rekognition im Begriff. Gegen die naheliegende Interpretation, die Einbildungskraft sei nur in der zweiten Synthesis am Werk (Repro­ duktion in der Einbildung), legt Heidegger die Einbildungskraft als die ursprüngliche Zeit so aus, dass diese in sich die drei Modi der Apprehension (als Gegenwart), der Reproduktion (als Gewesenheit) und der Rekognition (als Zukunft) entspringen lässt und schreibt der dritten Systhesis, der Synthesis der Rekognition, den leitenden Charakter zu. Die Rekognition sei die »zukunftsbezogene« Synthesis, die im voraus »erkundet« und „›hindurchspähend‹„ ist auf das, was im vorhinein als das Selbige vorgehalten sein muss« (GA 3 186). Die Einbildungskraft erweist sich so in Heideggers Lektüre als die ursprüngliche Zeitlichkeit des Daseins, die sich in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ausstreckt, wobei so wie in »Sein und Zeit« die Zukunft – der Entwurf –, so bei Kant die zukunftsbezogene Synthesis der Rekognition den leitenden Charakter übernimmt. Die Gefahr in Kants Ungedachtem liegt damit für Heidegger nicht bloß in der Umkehrung der Rangordnung zwischen Sinnlichkeit und Verstand, sondern wird sichtbar und wirksam in der Fundierung beider Vermögen in einem Grund, der selbst Ab-grund ist und gebietet, die Endlichkeit des Menschen viel radikaler zu denken als die Tradition es vermochte. Der Abgrund der Einbildungskraft öffnet in sich die Notwendigkeit, die Subjektivität zu überwinden und den Menschen als ursprünglich zeitigende Existenz, als Da-sein, zu denken: nicht als ein endliches Wesen, das endlich ist aufgrund seiner Unvollkommen­ heit, sondern als die Endlichkeit selbst. Eine Frage muss nun gestellt werden: worum »ging es« Heidegger bei dieser gewagten Freilegung von Kants Ungedachtem? Hier sei ein kleiner Exkurs erlaubt, der zugleich zum letzten Punkt dieser Ausführungen hinleiten wird.

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3. Wiederholung und Auseinandersetzung jenseits des Kampfs der Positionen Nicht nur zwischen konkurrierenden Systemen, sondern auch unter verschiedenen Interpretationen spielte sich in der Geschichte der Philosophie (und spielt sich zum Teil auch heute noch) zumeist ein argumentativer Kampf ab, der nicht nur die Metaphysik, son­ dern die Philosophie überhaupt als einen (nach dem berühmten Wort Kants) »Wirrwarr« sich widersprechender Meinungen und Posi­ tionen erscheinen lässt. Wir täten dennoch Heidegger mit Sicherheit Unrecht, wollten wir behaupten, ihm sei es in seinem kritischen Rückbezug auf Kant darum gegangen, die Richtigkeit seiner KantInterpretation gegenüber anderen Kant-Interpretationen, etwa der neukantianischen, zu beweisen. Nicht weniger irreführend wäre der Gedanke, er hätte nach einer autoritativen Bestätigung, nach einer verborgenen und unwillkürlichen Vorläuferschaft für seine herme­ neutische Phänomenologie des Daseins gesucht. Vielmehr ist in die­ sem kritischen Gespräch jene Grundfigur des Denkens am Werk, die in der Fundamentalontologie Wiederholung der Metaphysik und im seinsgeschichtlichen Denken Auseinandersetzung des ersten mit dem anderen Anfang genannt wird. Beide sind von einem ähnlichen Geist – oder von einem ähnlichen Gestus – getragen. Gemeinsam ist beiden Blickbahnen, der fundamentalontologischen und der seinsgeschicht­ lichen, der Gedanke, dass Philosophien nicht richtig oder falsche Beschreibungen bzw. Erkenntnisse der vorhandenen Wirklichkeit sind, sondern Wahrheiten im Sinne der Unverborgenheit: Weisen, wie der Sinn, oder das Sein, uns zugänglich wird und sich wieder entzieht. Wahrheit ist gleichursprünglich ein Sichverbergen, in der jeweiligen Unverborgenheit waltet die wesenhafte Oszillation von Sichgeben und Ansichhalten, so dass philosophische Entwürfe niemals objekti­ viert und in die eine Seite der Oszillation gedrängt werden können; geschieht dies, so entschwindet die »Wahrheit« wieder und wird zu einer These, zu einem Positum, zu einer Position. Positionen aber, wie die Extreme, sind niemals wahr, es sei denn, sie vermögen die uns abgekehrte Seite, das Verborgene im Unverborgenen, in sich sehen und mitschwingen zu lassen. Freilegen des Ungedachten kann daher nicht bedeuten, das Gedachte zu korrigieren, mit dem Ziel, einen Fortschritt der Erkennt­ nis zu bewirken. Denn Fortschritt existiert nur in den Wissenschaften, nicht aber in der Philosophie. Freilegen kann nur heißen, die Oszilla­

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tion anders zu vollziehen, sie radikaler und breiter, und damit freier, »wirken« zu lassen; tiefer in das Verborgene zurückzugehen, als es jeweils in einer geschichtlichen Epoche möglich war. Dieses Verständnis der Auseinandersetzung, oder des Gesprächs, zwischen philosophischen Positionen gewinnt mit der seinsgeschichtlichen Blickbahn seinen genuinen Sinn. Die Aus-ein­ ander-setzung der Anfänge ist Freilegung dessen, was verborgen und verdeckt bleiben musste, weil das Sein selbst sich als Entzug gibt und niemals als totale Unverborgenheit. Doch der Entzug ist – seinsgeschichtlich gedacht – nicht nur wesentlicher Entzug als Sichverbergen, sondern zugleich Sichverstel­ len, Sichkehren ins Unwesen; es ist der Abschied vom »Ursprung«, der in die Seinsverlassenheit und in die Seinsvergessenheit führt, welche die Epoche der Machenschaft und des Ge-stells einleiten und tragen. Liegt im Gedanken der Freilegung des Ungedachten damit letztlich doch die Idee einer Rückkehr zum Wesen, also einer (anders gearteten) »Korrektur« der Denkgeschichte? Konkret, und mit Blick auf unsere Frage: ist Heideggers Sicht, in ihrem Selbstverständnis, nur eine andere als die Kants, oder eine im »absoluten« Sinne »ursprüng­ lichere«? Ohne hier auf diese Frage einzugehen zu können, müssen wir nur anmerken, dass das seinsgeschichtliche Denken, entschiedener noch als die Fundamentalontologie, den Gedanken der philosophischen Auseinandersetzung von der Beliebigkeit des »Standpunktes« befreit, und zwar deshalb, weil das seinsgeschichtliche Denken jede große Philosophie als eine geschichtlich bestimmte Antwort auf den »Zuruf des Seins« interpretiert – obwohl zugleich in diesen (metaphysischen) Antworten ein progressives Sichentfernen von der ursprünglichen Offenheit sichtbar gemacht wird. Auseinandersetzung mit der Meta­ physik bedeutet also zwar »ursprünglichere« Wiederholung, doch die Bedeutung und der Richtungssinn der anvisierten Ursprünglichkeit bestimmen sich nicht aus einer »vorhandenen« ewigen Wirklichkeit, die es denkerisch zu erreichen und zu begreifen gilt, sondern aus dem Ereignis und seiner Unverfügbarkeit. Mit diesen Überlegungen entfernen wir uns von der immanenten Verfolgung der Auseinandersetzung Heideggers mit Kant und fragen nach einer Möglichkeit, die sich im seinsgeschichtlichen Denken zeigt. Die folgenden Hinweise verstehen sich als eine Arbeitshypo­ these ohne Anspruch auf Systematik; sie zeigen nur einen Weg, der vielleicht weitergedacht werden könnte.

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Subjektivität, Einbildungskraft – und das Ereignis. Heidegger liest Kant

4. Das Ahnen und die Einbildungskraft Die hier versuchte Arbeitshypothese fragt danach, ob im seinsge­ schichtlichen Denken sich Spuren einer möglichen Fortführung der Gedanken finden lassen, die sich in Heideggers Lektüre der Einbil­ dungskraft kristallisierten. Die Frage lautet genauer: ist es möglich, im Gefüge des seinsgeschichtlichen Denkens, das die ursprüngliche Zeit im »Zeit-Spiel-Raum« des Ereignisses weiter entfaltet, ähnliche Phänomene oder gar eine ähnliche »Kraft« zu verorten, die den Grund des Denkens (und vielleicht anderer wesentlicher »Bahnen der Bergung«) durchwaltet? Die sechs Fügungen des Ereignisses, so wie Heidegger sie in den »Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis)«3 entfaltet, denken den Zeit-Spiel-Raum des Zwischen als den Übergang vom »ersten«, metaphysischen, in den »anderen Anfang« des Denkens. Die Fügun­ gen »Der Anklang«, »Das Zuspiel«, »Der Sprung«, »Die Gründung«, »Die Zukünftigen«, »Der letzte Gott« eröffnen jeweils aus einem bestimmten »Wesungsort« den Ab-grund (das Wegbleiben und das mögliche Sichzukehren des Grundes), und diesen Ab-grund als die ursprüngliche Dimensionalität, die die Erfahrung der Seinsverlassen­ heit als einer solchen ermöglicht. Wenn die »Not« unserer Zeit erfahren (und gedacht) wird, eröffnet sich eine »Augenblicks-Stätte«, die das Ende der Metaphysik (Seinsverlassenheit) in eine mögliche erfüllte Zuwendung des Seins hineinhält. Wir sind das Zwischen – nicht nur zwischen Geburt und Tod, sondern zwischen Wesen und Unwesen des Seins. Das Denken, das diese Erfahrung zu Wort kommen lässt, versteht sich selbst als die ursprüngliche Erstreckung in Gewesenheit und Zukunft. Dieses Erstrecktsein vollzieht sich als ein gestimmtes Eröffnen des bisherigen und der zukünftigen Geschichte des Seins. Heidegger nennt in den »Beiträgen« drei Grundstimmungen die ausgezeichneten, weil sie ursprünglich eröffnenden Charakter haben: Erschrecken, Verhaltenheit und Scheu. In ihnen zeigt sich die Dimensionalität des Übergangs, denn sie haben jeweils einen Bezug zu Gewesenheit (Erschrecken), Gegenwart (Verhaltenheit) und Zukunft (Scheu). Erschrecken, Ver­ Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Gesamtausgabe Band 65. Hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Klostermann, Frankfurt a. M. 1989. Im Text zitiert als: GA 65. Vgl. dazu Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Wege ins Ereignis. Zu Heideggers »Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)«. Klostermann, Frankfurt a. M. 1994. 3

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haltenheit und Scheu werden an einigen Stellen als Weisen des »Ahnens« oder »Erahnens« gedacht: »Das Ahnen eröffnet die Weite der Verbergung des Zugewiesenen und vielleicht Verweigerten. Die Ahnung – grundstimmungsmäßig gemeint – geht gar nicht nur wie die gewöhnlich rechnerisch gedachte Ahnung auf die künftige und nur bevorstehende, sie durchmißt und er-mißt die ganze Zeitlichkeit: den Zeit-Spiel-Raum des Da. […] Die Ahnung legt die anfängliche In-ständigkeit in das Da.« (GA 65, 22) Die Ahnung hält den ZeitSpiel-Raum des geschichtlichen Da-seins offen, lässt die Erfahrung des Zwischen zu, räumt sie stimmungsmäßig ein. Die Ahnung, das Ahnen oder Er-ahnen, werden von Heidegger nicht nur in den »Beiträgen«, sondern vor allem auch in den »Erläute­ rungen zu Hölderlins Dichtung«4 thematisiert. Das Ahnen wird dort als jene Weise des Denkens bestimmt, »die vor in die Ferne denkt, das sich nicht entfernt, sondern im Kommen ist« (GA 4 55). Die Ahnung ist jenes Sicherstrecken des gestimmten Da-seins (kantisch gesprochen: der Seele), das zeitlichkeitsbildend ist – nicht mehr transzendental-horizontal, sondern aus dem Er-eignis her gedacht: die Ahnung »bildet« die Zeitlichkeit und die Räumlichkeit nicht nur der jemeinigen Existenz, sondern sie »bildet« den Zeit-Spiel-Raum des Ereignisses. Die Ahnung erfährt und »erdenkt« die geschichtliche Zeit und den geschichtlichen Raum, in die wir hineinstehen, den Raum und die Zeit, die »uns« bestimmen bzw. die »Wenigen und Seltenen« stimmen und bestimmen, die sich ver-rücken lassen in die »Anerkenntnis der Not«: die »Gezeichneten«, welche die Leere des Ab-grundes erfahren und in diesem Ab-grund, dem Wegbleiben jeglichen Grundes, den Ab-grund als das mögliche Sichzeigen eines anderen Grundes »vor-ahnen«. Hat nun diese zeiträumlich erstreckte Ahnung, das »Wissen« der Wenigen und Seltenen, vielleicht etwas mit der Einbildungskraft zu tun, so wie Heidegger sie im Gespräch mit Kant interpretiert? Und falls ja, in welchem Sinne? Kann die seinsgeschichtlich umgedachte Einbildungskraft vielleicht als jenes »gestimmte Sehen« gedacht wer­ den, das Denken und Dichten (und vielleicht andere wesentliche Bahnen der Bergung) verbindet und fundamentiert?

4 Martin Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Gesamtausgabe Band 4. Hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Klostermann, Frankfurt a.M. Zitiert als: GA 4.

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Subjektivität, Einbildungskraft – und das Ereignis. Heidegger liest Kant

Unabhängig davon, ob diese gewagte These philologisch korrekt ist, spricht vieles dafür, dass die seinsgeschichtlich gedachten Denken und Dichten, die für Heidegger von einer »zarten, aber hellen Diffe­ renz«5 getrennt sind, mit einer »ursprünglichen Synthesis« zu tun haben, denn sie sind es vor allem, die den geschichtlichen Zeit-SpielRaum unserer gegenwärtigen Epoche »zusammensetzen« und den Ab-grund vor-entwerfen in Richtung einer möglichen Überwindung der Seinsverlassenheit. Zwar leben wir alle in dieser Epoche und halten damit den Zeit-Spiel-Raum ständig und unwillkürlich offen (hier läge eine Parallele zur »produktiven« Einbildungskraft). Doch nur Wenige sind dazu bestimmt, diese immer schon vollzogene, aber meistens stillgelegte, niedergehaltene »Ahnung« ausdrücklich zu vollziehen, sie als eine solche zu erfahren, sie zu einer bestimmten »Bahn« der Bergung auszubilden (»reproduktive« Einbildungskraft in den ausdrücklichen Entwürfen des Denkens, der Dichtung, der Kunst). In allen wesentlichen Bahnen der Bergung, aber besonders in der Dichtung und im Denken, ist das ursprüngliche Ahnen nicht nur »unthematisch« vollzogen, sondern eigens und ausdrücklich am Werk, denn Denken und Dichten gründen in einem bestimmten, ausgezeichneten »Ein-bilden« der Welt, in einer Ein-bildung im Sinne der Eröffnung einer Möglichkeit des Sagens, das entweder das Bild (im engeren Sinne) des Dichtens oder den Begriff des Denkens in sich ausbildet und zu einer Notwendigkeit werden lässt. Dichten und Denken wären dann in ihrem Unterschied zusammengehalten von jenem »gemeinsamen Stamm«, dem Ahnen, das uns die Weite des Zeit-Spiel-Raumes »wittern« lässt (vgl. GA 8 210)6, des Zeit-SpielRaumes, in dem »Wesenhaftes uns ankommt und sich uns so in die Acht gibt, damit wir es darin behalten«. (GA 8 210) Ahnen, »jene erregend-verhaltene Stimmung, in der sich das Geheimnis als solches eröffnet« (GA 39 257)7, hätte also vielleicht ursprünglich mit einem Bild zu tun, dem Denker und Dichter nach­ denkend und nachdichtend nachgehen – einem »Bild«, das ganz 5 Vgl. dazu Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Die zarte aber helle Differenz. Heidegger und Stefan George. Klostermann, Frankfurt a. M. 1999. 6 Martin Heidegger, Vorträge und Aufsätze (1936–1953). Gesamtausgabe Band 8. Hrsg. Von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Klostermann, Frankfurt a. M. 2000. Zitiert als: GA 8. 7 Martin Heidegger, »Hölderlins Hymnen ›Germanien‹ und ›der Rhein«. Gesamtaus­ gabe Band 39. Hrsg. Von Susanne Ziegler. Klostermann, Frankfurt a. M. 1999. Zitiert als: GA 39.

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anders zu denken wäre als der neuzeitliche, am Leitfaden der Vorge­ stelltheit gedachte Begriff des Bildes. »Bild« würde in dieser Lektüre die Art nennen, wie Sein sich für uns ereignet – sei es im Alltag, sei es in den ausgezeichneten Bahnen der Bergung wie Denken und Dichten: Bild als das Zusammengehören von Zuwurf und Entwurf in jeweils einer »Zusammensetzung« unserer jemeinigen und geschicht­ lichen Zeit-räumlichkeit. Auch das Denken, das tendenziell bild-los ist, würde in einem ursprünglichen »Einbilden« gründen, in einem »Einbilden«, das wesenhaft als dynamisches gedacht werden müsste, und zwar dynamisch in einer doppelten Bedeutung: 1. dynamisch, weil es die Dimension der Erfahrung durchmisst, in der Weite der Ahnung oszilliert, ohne sich punktuell festzulegen, ohne Grenzen zu ziehen oder sie zu benennen; und 2. dynamisch, weil es als solches niemals wirklich wird, sondern sich nur in einer jeweiligen Bahn der Bergung »verwirklicht«. Wir können das ursprüngliche Bild nur über-setzen in Denken, Dichten, in die Kunst, in jede wesentliche Weise, wie es uns gegeben ist, das, was ist, zu sagen oder zu leben. Wir sind unterwegs zu einem Bild, das sich uns entzieht und nach Umschreibung, Beschreibungen, Gedanken und Geschichten verlangt; wir sind ursprünglich Ahnen – »Einbildungskraft« –, ständig und implizit (»produktiv«) oder in ausgezeichneten Fällen ausdrücklich (»reproduktiv«). (Spuren dieses ursprünglich gedachten »Bildes« finden sich in Hölderlins spätesten Gedichten, in denen Hölderlin das »Bild« als offenen Bereich dichtet, in dem das Erscheinen der Natur und das Gemüt im Einklang stehen.8 Das ursprüngliche Bild – vielleicht das Ereignis selbst, das sich uns entzieht und in den Bann zieht und als solches unsagbar bleiben muss? Ist das ursprüngliche Bild wortlos, still, eine Ahnung, dessen Erinnerung wir »nur« jeweils übersetzen können in die Worte des Denkens und des Dichtens? Ist die ursprüngliche »Einbildungskraft« als das Ahnen das stille Zusammengehören von Sein und Da-sein im jeweiligen Zeit-Spiel-Raum, dessen Spur wir immer nachgehen, ohne sie als solche sagen zu können? In diesen Fragen, die hier nur angedeutet werden konnten, zeigt sich die Weite der Phänomene, die Kant und Heidegger bei ihren

Vgl. darüber v. d. Verf., Affektenlehre und Phänomenologie der Stimmungen. Wege einer Ontologie und Ethik des Emotionalen. Klostermann, Frankfurt a. M. 2001, S. 187 ff.

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jeweiligen denkerischen Entwürfen sichtbar werden ließen. Sie führen in das Herz der Grundfrage aller Philosophie: was sind wir?

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III Zeitgeschichtliches

Raivis Bičevskis, Bastian Brombach

Herderinstitut zu Riga in der Zeit von Heideggers Rigaer Aufenthalt

Heideggers Aufenthalt in Riga im Herbst des Jahres 1928 geschah dank aktivem Einsatz von Seiten der Mitarbeiter des Herder-Insti­ tuts zu Riga. Dieses Institut als Bildungsinstitution und Hochschule in Lettland hat ein Schicksal, das im Rahmen einer weitgehend noch unerforschten ideengeschichtlichen, wissenschaftsgeschichtli­ chen und politischen Konstellation verlaufen ist. Um Heideggers Reise nach Riga im geschichtlichen Kontext besser zu profilieren, kann man einen Blick in die Geschichte dieser Einrichtung werfen. Mehr noch: dieser Blick gewährt nicht nur einen historisch relevan­ ten Einblick, es handelt sich um eine Konstellation des Denkens und geschichtlicher Möglichkeiten, die damals auf dem Spiel gestan­ den haben.1 Studien zur lettischen Hochschulgeschichte konzentrieren sich in der Regel auf die 1919 staatlich gegründete Universität Lettlands in Riga.2 Das ab 1927 per Spezialgesetz zur Hochschule aufgestiegene Herderinstitut zu Riga3 dagegen geriet bisher kaum in das Blickfeld der Historikerinnen und Historiker. Auf der Suche nach wissen­

1 Dieser Beitrag ist eine veränderte, ggf. ergänzte Version des Aufsatzes, der in der Zeitschrift »Forschungen zur Baltischen Geschichte« erschienen ist. Siehe: Raivis Bičevskis / Bastian Brombach, »Kulturpolitik und Wissenstransfer am Herderinstitut in Riga? Ein Beitrag zur intellektuellen Geschichte des Baltikums in den 1920er und 1930er Jahren«, in: Forschungen zur baltischen Geschichte 14 (2019), 136–156. 2 Siehe z.B. Per Bolin, Between National and Academic Agendas. Ethnic Policies and »National Disciplines« at the University of Latvia, 1919–1940, Huddinge 2012 (Södertörn studies in history, 13); Vita Zelče et al., Latvijas Universitāte 90 gados [90 Jahre Universität Lettlands], Riga 2009. 3 Sowohl im internen Schriftverkehr als auch in den Publikationen der Institution selbst sowie in der Forschungsliteratur variiert die Schreibweise gelegentlich, die hier gewählte Variante »Herderinstitut« taucht als Selbstbezeichnung in den Quellen am häufigsten auf.

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schaftlichen Beiträgen stößt man zunächst auf eine Publikation von Wolfgang Wachtsmuth, dem Chef der Verwaltung für das deutsche Bildungswesen, das dem lettischen Bildungsministerium unterstellt war (1929–1934).4 Diese Darstellung hat ihren Zugang vorrangig über die eigenen Erlebnisse und Aufzeichnungen beteiligter Akteure. Jürgen von Hehn wagte in seinem Aufsatz von 1981 die bisher einzige umfassendere Beschreibung der Institutsgeschichte.5 Da die Akten des Herderinstituts in Riga damals für Wissenschaftlerinnen und

4 Wolfgang Wachtsmuth, Von deutscher Arbeit in Lettland 1918–1934, Bd. 2: Die auto­ nome deutsche Schule, Köln 1952. Bereits der Titel deutet an, dass die kulturellen Leis­ tungen der deutschen Minderheit im selbständigen Staat Lettland im Zentrum stehen. Der Autor stützt sich teilweise auf Selbstzeugnisse des langjährigen Rektors des Her­ derinstituts, Wilhelm Klumbergs, ein nicht überliefertes Manuskript Kurt Stavenha­ gens, Dozent und Professor am Herderinstitut, sowie weitere Drucksachen, sämtlich aus deutschbaltischer Sicht. Wachtsmuths dreibändiges Werk selbst könnte mittler­ weile gut als Quelle für die eigene Historisierung der Deutschbalten gelten. Die Grün­ dung des Herderinstituts wird hier fast wie eine geheimdienstliche Operation darge­ stellt: »Von lettischer Seite wurde die Eröffnung der neuen Hochschule kaum beachtet. Die Letten waren noch zu sehr mit sich selbst beschäftigt und die Tarnung war so gut gelungen, daß der Neugründung lettischerseits kaum Bedeutung zugemessen wurde.« Ebenda, S. 412. Siehe auch Ders., »Zur Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Verwaltung des deutschen Bildungswesens Lettlands (Fortsetzung)«, in: Nation und Staat 5 (1932), Nr. 4, 237–253, hier 242f.; zur Person Wachtsmuth, Wolfgang Fried­ rich Justus, in: Baltisches Biographisches Lexikon digital, URL: https://bbld.de/000 0000109543325 (letzter Zugriff 15.1.2019). 5 Jürgen von Hehn, »Das Herder-Institut zu Riga 1921–1939«, in: Zeitschrift für Ostforschung 30 (1981), 494–526. Eine kürzere Version des Aufsatzes erschien ein Jahr später als Ders., »Das Herderinstitut. Die Universität für die deutschen Volks­ gruppen«, in: Jahrbuch des baltischen Deutschtums 29 (1981 [1982]), 119–124. Eine weitere Publikation, die aber keine neuen Quellen benutzte und posthum erschien: Ders., »Deutsche Hochschulaktivitäten in Riga und Dorpat zwischen den beiden Weltkriegen«, in: Die Universitäten Dorpat/Tartu, Riga und Wilna/Vilnius 1579–1979. Beiträge zu ihrer Geschichte und ihrer Wirkung im Grenzbereich zwischen West und Ost = The Universities in Dorpat/Tartu, Riga and Wilna/Vilnius, 1579–1979. Papers on their History and Impact on the Borderland between West and East, hrsg. von Gert von Pistohlkors, Toivo U. Raun und Paul Kaegbein, Köln u.a. 1987 (Quellen und Studien zur baltischen Geschichte, 9), 263–276. Zwar sind diese Darstellungen etwas ausgeglichener als die Wachtsmuths; das von Hehn einige Positionen aus dessen Werk übernimmt – das Ziel des Instituts sei die Notwendigkeit der Bewahrung des Deutschtums –, mag daran liegen, dass der Autor selbst am Herderinstitut tätig und nach der Umsiedlung 1939 aktiv an der NS-Kulturpolitik beteiligt war. Siehe Roland Gehrke, »Deutschbalten an der Reichsuniversität Posen«, in: Deutschbalten, Weimarer Republik und Drittes Reich, Bd. 1, hrsg. von Michael Garleff, Köln, Weimar und Wien 2 2008 (Das Baltikum in Geschichte und Gegenwart, 1,1), 389–426, hier 411.

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Wissenschaftler aus der alten Bundesrepublik verschlossen waren, stützte sich von Hehn vorwiegend auf Akten des Auswärtigen Amtes. Nach dem Fall des Eisernen Vorhanges blitzte die Geschichte der Hochschule bisher nur noch zwei weitere Male in der Forschung auf. Raimonds Cerūzisʼ kurzer Beitrag zum Herderinstitut in einem Sammelband über die Person Johann Gottfried Herders in Riga nutzte zwar Quellen des Historischen Staatsarchivs Lettlands (LVVA), doch beschränkte er sich auf solche Dokumente, welche die lettische Angst vor geheimdienstlichen Aktivitäten durch das Lehrpersonal doku­ mentieren.6 Die letzte Beschäftigung mit dem Herderinstitut ist eine knapp gehaltene, aber sehr dankenswerte Übersicht zum Forschungsstand von Peter Wörster,7 in welcher betont wird, dass eine Beschäftigung mit dieser eigenartigen Einrichtung sowohl aus universitätsgeschicht­ licher als auch baltischer Perspektive lohnenswert erscheint.8 Viel­ leicht ist es gerade diese Mittellage, die dazu geführt hat, dass die Akten, die mittlerweile im LVVA zugänglich sind, bisher wenig Beachtung erfahren haben, galten diese doch bei von Hehn noch als in Königsberg verloren.9 Neben Rechnungsbüchern und Protokollen sind vor allem der Schriftverkehr innerhalb des Instituts bzw. der Herder-Gesellschaft sowie die Korrespondenz überliefert. Der Großteil der Dokumente ist in deutscher Sprache verfasst, Briefe meist in Maschinenschrift, selten handschriftlich.10 Für ein schnelleres Durcharbeiten des Materials 6 Raimonds Cerūzis, „Deutschbalten und das Herderinstitut in Riga“, in: Herders Rīgā = Herder in Riga, hrsg. von Ilze Ščegoļihina, Riga 2005, 68-81. Vgl. auch Ders., »Latvijas vācu privātā augstskola ›Herder institūts‹ (1921–1939): izglītība, zinātne, tradīcija un ideoloģija« [»Die private deutsche Hochschule ›Herderinstitut‹ in Lettland (1921–1939): Bildung, Wissenschaft, Tradition und Ideologie«], in: Heideggera Rīgas rudens, hrsg. von Raivis Bičevskis, Riga 2011, 269–283. 7 Peter Wörster, »Institutum Herderianum Rigense. Zur Geschichte des HerderInstituts Riga«, in: Baltica. Die Vierteljahreszeitschrift für baltische Kultur 2006, Nr. 4, 3–21. 8 Vgl. den URL: https://www.herder-institut.de/servicebereiche/dokument esammlung/archivale-des-monats/2014/mai.html (letzter Zugriff 26.7.2018). Dort wird betont, dass zwischen dem heutigen Herder-Institut in Marburg und der ehemaligen privaten Hochschule in Riga kein institutioneller Zusammenhang bestand. Das scheint für die Aufarbeitung der Geschichte des Rigaer Namensvetters für die eigene Institution nicht relevant zu sein. 9 Hehn, »Das Herder-Institut zu Riga« (wie Anm. 3), 494. 10 Seit Dezember 2020 ist ein Forschungsprojekt »Herder Institute in Riga as a Science Network in the European Science Network« (HeInRi) gestartet (s. Homepage:

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existiert ein Findmittel in russischer Sprache. Im Folgenden soll zuerst kurz aufgezeigt werden, unter welchen Fragestellungen diese Mate­ rialien des LVVA genutzt werden können, um unterschiedliche his­ torische Phänomene zu erörtern.

1. Das Herderinstitut innerhalb der deutschen Minderheit und die Schulautonomie in Lettland In der Republik Lettland wurde den nationalen Minderheiten per Gesetz bereits 1921 eine Schulautonomie für die Grundschulen zuge­ billigt, die durch ein eigenes Organ, im Falle der Deutschbalten die »Verwaltung des deutschen Bildungswesens«, organisiert wurde. Diese halb staatliche, halb auf der Selbstverwaltung der deutschen Minderheit aufbauende Behörde unterstand direkt dem Bildungs­ minister. Der Chef dieser Behörde spielte eine dementsprechend herausgehobene Rolle für die Gestaltung des deutschen Bildungsund Kulturlebens. Das Gesetz zum Herderinstitut schrieb vor, bei der Kommunikation mit dem Minister den Umweg über den Chef des Bildungswesens zu gehen, sodass dieser zwar nicht die Funktion eines Vorgesetzten für den Rektor des Herderinstitutes hatte, aber wenigstens immer mitbeteiligt werden musste. Zudem gab es einen demokratisch legitimierten »Volksbeauf­ tragten« des Parlaments, der aus der Fraktion der Parteien der deut­ schen Minderheit gewählt wurde. Während dieser über größeres politisches Gewicht verfügte, besaß der Chef des Bildungswesens die Verfügungsgewalt über die Mittel für die deutschen Schulen, das deutsche Theater und das Provinzialmuseum in Jelgava.11 Die Stellung der privaten deutschen Hochschule zu diesen mehr oder weniger staatlichen Stellen war bis zum Gesetz von 1927 ungeregelt, und auch die diffuse »Vermittlerrolle«, die dem Chef des Bildungswesens zukam, kann als Indiz gedeutet werden, dass selbst innerhalb der deutschen Minderheit nicht jedem bewusst war, welche Rolle einer heinri.lv), das eine aktuelle Sicht der Archivmaterialien anbieten wird und neue Perspektiven der Forschung einleiten soll. 11 Wachtsmuth, »Zur Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte«, 238f. Der Autor war zum Zeitpunkt des Erscheinens des Artikels selbst Leiter des deutschen Bildungs­ wesens in Lettland.

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eigenen privaten Hochschule zukommen sollte.12 Einmal abgesehen von dem Bestreben, das ›baltische Deutschtum‹ zu bewahren und zu fördern, konnte es sogar abträglich sein, wenn junge Menschen, die ihre Heimat und Zukunft im lettischen Staat sahen, einzig und allein dort studierten. Rechtlich war die Situation seit 1927 eindeutig zugunsten der Universität Lettlands geregelt.13 Akademische Grade durften nicht verliehen werden und die Abschlüsse wurden als Qua­ lifikation für spätere Posten im Staatsdienst nicht anerkannt. Eine Ausnahme davon bildete nur die Ausbildung der Theologen für deutschsprachige Gemeinden und Pädagogen unter dem Dach der Verwaltung des deutschen Bildungswesens, dessen Veranstaltungen am Herderinstitut stattfanden. Diese Beschränkungen dürften dafür ausschlaggebend gewesen sein, dass die Zahl der Deutschstämmigen, die an der Universität Lettlands studierten, stets größer war als die Zahl der ordentlichen Hörer des Herderinstituts.14 Anders hingegen verhielt es sich mit Hochschulen im Freistaat Preußen, wo der Besuch des Herderinstituts im Einzelfall seit 1923 auf die ersten Semester angerechnet werden konnte.15 Dies führte zu der Situation, dass Stu­ dierende zwangsläufig an ausländische Universitäten gehen mussten, um einen anerkannten Abschluss zu erlangen. Zwar hätte auch dies nicht den Weg zu öffentlichen Ämtern in Lettland geebnet, aber selbst im Ausland dürfte ein Abschluss am Herderinstitut nur von geringem Wert gewesen sein. Vertraute man nicht wirklich auf die Qualität der Universität Lettlands, führte der Besuch am Herderinstitut fast zwangsläufig ins Ausland. Erich Mündel, der in den Jahren 1935 bis 1938 Präsident der Deutsch-baltischen Volksgemeinschaft war, bezeichnete diese peregrinatio der Studenten in die Weimarer Republik als besonders schädlich: »Im schwersten, opferreichen Ringen hatten wir Balten uns unser Lebensrecht und Arbeitsrecht in und an unserer Heimat neu erkämpft. Und nun erlebten wir es, daß die geistige Elite unse­ rer Jugend, daß große Teile der künftigen Führerschicht unserer Volksgruppe außer Landes gingen und – wie die Erfahrung zeigte – Ebenda, 244f. Die Beziehung seines Amtes als Leiter des Bildungswesens zum Herderinstitut vergleicht der Autor mit dem des Bildungsministers für die Universität Lettlands; schon aus dieser Spitze gegen Rektor Wilhelm Klumberg wird die zeitwei­ lige Missgunst zwischen den einzelnen Akteuren deutlich. 13 Cerūzis, »Deutschbalten und das Herderinstitut in Riga«, 70. 14 Hehn, »Das Herder-Institut zu Riga«, 498. 15 Wachtsmuth, Von deutscher Arbeit in Lettland, 413. 12

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vielfach außer Landes blieben. (…) Und die Parole: Studium in der Heimat, Studium an unserer staatlichen lettländischen Universität und gleichzeitig an unserer Privaten Deutschen Hochschule wurde die Parole unserer Deutschtumsführung.«16 Durch die Gründung des Herderinstituts sei ein wichtiger Schritt getan worden, um die jungen Deutschbalten im Lande zu halten. Auf die Idee, dass die Universität Lettlands allein in der Lage gewesen wäre, selbst adäquat auszubilden und diese Studierenden in Lettland zu halten, was auch als eine Bejahung der neuen politischen Verhält­ nisse hätte verstanden werden können, ging Mündel nicht ein. Der Widerspruch, dass der Besuch des Herderinstituts vielleicht gerade dazu animieren konnte, in Deutschland weiter zu studieren, da sich nur dort die Leistungen für den eigenen Abschluss anrechnen ließen, wurde nicht benannt, wohl aber bedauert, dass das Studium in der Ferne schädlich sei. Etwas anders verhielt es sich mit den sogenannten »Ferienkur­ sen«. Diese Kurse, die außerhalb des normalen Vorlesungszeitraumes stattfanden, waren für die interessierte Öffentlichkeit gedacht. Nach Ansicht Wilhelm Klumbergs, des langjährigen Leiters und von 1927 bis 1939 auch Rektors des Herderinstituts, entwickelte sich dieses Veranstaltungsformat zu einem außerordentlichen Erfolg, der die Sichtbarkeit der Institution um ein Vielfaches mehr erhöhte, als es der regelmäßige Lehrbetrieb hätte tun können.17 Wenn im Mai 1937 Max Planck (in Begleitung vom Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts v. Cranach) das Herder-Institut besuchte18 und einen Vortrag über »Naturwissenschaft und Religion« hielt, konnten die Hörer auf eine sehr intensive Arbeitsphase zurückbli­ cken: von 1921 bis 1927 war die Besucherzahl von 400 bis 1114 gestiegen.19 Auch das Themenspektrum war beeindruckend und die Vortragenden mussten sich keineswegs besonders vorstellen – sie bil­ deten gerade die Elite ihrer Wissenschafts- und Forschungsbereiche. Man braucht nur einige Beispiele zu nennen, um sich darüber im Klaren zu sein: im September 1928 las J. J. v. Uexküll über theoretische Ebenda, 427. Ebenda, 412, vgl. »Kurzer Bericht über die Ferienhochschulkurse am Herder-Insti­ tut zu Riga vom 29. August bis zum 15. September 1922«, o. D., in: Lettisches Natio­ nalarchiv, Lettisches Historisches Staatsarchiv (Latvijas Nacionālais arhīvs, Latvijas Valsts vēstures arhīvs, künftig LVVA), Bestand 4772, Findbuch 1, Akte 11, Bl. 14–15. 18 LVVA, 4772, 1, 11., 27., 28., 82., 261.-262., 296. l. 19 LVVA, 4772, 1, 44. l. 16

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Biologie,20 der Psychologe K. Koffka über die moderne Psychologie,21 1927 Moriz Geiger über die Hauptrichtungen der Gegenwartsphilo­ sophie, der Geologe und Polarforscher Alfred Wegener über Konti­ nentalverschiebung,22 vorher Rudolf Eucken über das geistige Leben der Gegenwart (1922), Friedrich Meinecke über Deutschland und Per­ spektiven der Weltpolitik (1922), Jan de Vries über Altnordische Poe­ sie (1936), Hermann Oncken über die deutsche Kultur und Staat (1922), Max Scheler über Philosophie und Entwicklung des Seelen­ lebens (1922). Im Laufe der 20er Jahren dozierten in den Ferienkursen etwa 60 Dozierende aus Deutschland, Österreich, Estland, Finnland, Schweden, den Niederlanden, USA (ein wenig spater auch aus Däne­ mark, Frankreich, Italien, Ungarn, Großbritannien).

2. Das Herderinstitut und die Universität Lettlands Die Unterstützung des Herderinstituts durch Gastdozenten für die Ferienkurse korrespondiert mit der Selbstwahrnehmung der Einrich­ tung als Hort deutscher Gelehrsamkeit. Die meisten dieser Dozenten waren an einer Hochschule oder Universität in Deutschland tätig und nahmen während der vorlesungsfreien Zeit die lange Fahrt nach Riga auf sich, ohne dass sich die lange Reise finanziell besonders gelohnt haben dürfte.23 Es war das selbst gesteckte Ziel, den deutschstämmi­ gen Staatsbürgern Lettlands ein Bildungsprogramm zu bieten, das ihren Bedürfnissen gerecht würde und das nicht durch einheimische, d.h. auch lettische Wissenschaftler abgedeckt werden könnte. Die vier Punkte, die Wachtsmuth in seinem Buch als ausschlaggebend für die Gründung des Herderinstituts nennt, streifen allesamt das Motiv einer geistigen Andersartigkeit, einer wie auch immer gearteten »deutschen« Bildung, womit sowohl Lerninhalte als auch Lehrme­ thoden gemeint sind. Für die Pflege von Sprache, Rechtsgeschichte, LVVA, 4772, 2, 13, 162. l. LVVA, 4772, 1, 13, 36. l. 22 LVVA, 4772, 1, 11, 57. l. 23 Ebenda, Bl. 15. Unter den Einnahmen und Ausgaben sind keine Honorare für die Dozenten, wohl aber Tagegelder aufgeführt. Mit 78 400 lettischen Rubel für die Reisekosten der Vortragenden nahm dieser Posten mit Abstand am meisten Geld in Anspruch. Die Tagegelder in Höhe von 20 500 lettischen Rubel fielen dagegen eher gering aus. Die Übernahme der Reisekosten durch das Herderinstitut dürfte für die Dozenten also der größte finanzielle Nutzen gewesen sein. 20

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Provinzialrecht und vielem mehr sei die Universität Lettlands nicht der richtige Ort, diese solle ja schließlich das lettische Kulturleben tragen.24 In dieser noch recht neutralen Umschreibung schwingt bereits mit, dass der lettische Staat mit seiner einzigen Volluniversität offenbar nicht in der Lage sei, ein umfassendes Bildungsprogramm für alle Bevölkerungsteile zu organisieren. Die Akten des Herderinstituts zeigen deutlich, mit welcher Herablassung einige Lehrende, aber auch deutsche Gelehrte auf die Universität Lettlands herabsahen; die deutsche Bildungseinrichtung wurde auf diese Weise als posi­ tives Gegenbild gesehen. In einem Brief des Leipziger Theologen Alfred Jeremias, dessen Neffe Joachim in Riga lehrte, wird nicht mit Herabsetzungen gespart: »Die lettische Universität mit ihren 18 Fakultäten und 2 Prorektoren hat etwas von einem Ochsenfrosch. 9000 S[t]udenten müssen zwangsläufig ein akademisches Prekariat schaffen, das eine neue Revolution schaffen müsste. (…) Aber darin sind wir wohl alle einig, dass es nicht nötig ist, die offenkundig wichtige und unentbehrliche Universitätsarbeit damit zu begründen, dass man die Minderwertigkeit der anderen Seite hervorhebt. Sie kann ja gar nicht geleugnet werden.«25 Der Grund für die Überheblichkeit mag auch darin gelegen haben, dass es sich bei den Lehrkräften meist selbst um akademische »Aufsteiger« handelte, die außer ihrer Dissertation keine wegwei­ senden wissenschaftlichen Leistungen vorzuweisen hatten.26 Dies galt auch für den Rektor des Herderinstituts, den Gymnasiallehrer und kurzzeitigen Dozenten am Rigaer Polytechnikum Klumberg.27 Trotzdem oder gerade deshalb wurde am Herderinstitut Wert darauf gelegt, mit dem Titel eines Professors angesprochen zu werden. In einem Brief an den eben erwähnten Alfred Jeremias, in dem es um 24 Wachtsmuth, Von deutscher Arbeit in Lettland, 410. Als weitere Gründe für die Not­ wendigkeit des Herderinstituts werden neben der fehlenden Traditionswahrung und Fokussierung auf ein lettisches Kulturleben noch eine »russische Hochschultradition« der Universität Lettlands und die »Russifizierung« der Universität Tartu genannt. 25 Brief von A[lfred] Jeremias an Joachim Jeremias, Leipzig, 9.1.1927, in: LVVA, 4772/1/31, Bl. 251–254, hier 253f. 26 Hehn, »Das Herder-Institut zu Riga« (wie Anm. 3), 502. 27 Ebenda, 496f. Gleichzeitig wird Klumberg an selber Stelle aufgrund seines Eltern­ hauses, das weder adelig noch universitär gebildet schien, als Person mit eher ausglei­ chenden Wesenszügen charakterisiert, die nicht an dem Ballast eines überkommenen aristokratischen Überlegenheitsgefühls zu schleppen hatte. Vgl. Klumberg, Wilhelm, in: Baltisches Biographisches Lexikon digital, URL: https://bbld.de/000000001025 5657/ (letzter Zugriff 15.3.2019).

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Behauptungen des an der Universität Lettlands lehrenden Theologen Immanuel Benzinger geht, beschwert sich der Vorsitzende der Her­ dergesellschaft Karl Reinhold Kupffer (1926–1928), der gleichzeitig am Herderinstitut lehrte: »Herr Prof. Dr. Benzinger vermeidet es in seinem Schreiben durchweg, mich Professor zu nennen, obwohl ihm – mindestens aus meiner ihm am 1.XI.1926 übermittelten Besuchskarte – nicht unbekannt sein kann, dass ich diesen Titel führe (…).«28 Die Vorbehalte des Leiters Wilhelm Klumberg gegenüber der Universität Lettlands äußerten sich z. B. im Fall des Historikers Leo­ nid Arbusow jun., der neben seiner Lehrtätigkeit am Herderinstitut von 1922 bis 1935 ordentlicher Professor für Geschichte an der Universität Lettlands war.29 Arbusow hat wohl am Herderinstitut bereits seit 1922 Lehrveranstaltungen gegeben und sollte 1925 in ein anderes Dienstverhältnis, vielleicht eine Professur, berufen werden. Bei der Entscheidung darüber scheint Klumberg überstimmt worden zu sein und sah sich veranlasst, seine abweichende Meinung in einem Separatvotum festzuhalten. Neben der geringen Hörerzahl in Geschichte sprächen die Konkurrenz mit der Universität Lettlands und Arbusows Offenheit für Themen der Geschichte der Letten und Esten gegen ihn.30 Dieses Separatvotum spiegelt einerseits wider, dass auch innerhalb des Lehrkörpers unterschiedliche Meinungen zum Umgang mit der Universität Lettlands und den dort lehrenden Wissenschaftlern herrschten. Andererseits mag es ein Indiz dafür sein, dass Abrusow von Seiten der Leitung des Herderinstituts nicht ausschließlich mit offenen Armen empfangen wurde. Doch auch an der Universität Lettlands gereichte dem seiner­ zeit renommiertesten Historiker der mittelalterlichen Geschichte Liv­ Brief (Entwurf) von Karl Reinhold Kupffer an Alfred Jeremias, Riga, 4.1.1927, in: LVVA, 4772/1/31, Bl. 257–260, hier Bl. 259r. 29 Ilgvars Misāns, »Leonid Arbusow und die lettische Geschichtsschreibung«, in: Leonid Arbusow (1882–1951) und die Erforschung des mittelalterlichen Livland, hrsg. von dems. und Klaus Neitmann, Köln u.a. 2014 (Quellen und Studien zur baltischen Geschichte, 24), 79–108, hier 84f. Misāns legt nahe, dass die veränderte, politiknahe Ausrichtung der lettischen Geschichtswissenschaft nach dem Staatsstreich durch Kārlis Ulmanis 1934 maßgeblich dazu beigetragen habe, dass Arbusow mehr oder weniger unfreiwillig seinen Rücktritt im Dezember 1935 einreichte. Die Tatsache, dass er sowohl am Herderinstitut als auch an der Universität Lettlands nicht mit offenen Armen empfangen wurde, ist umso erstaunlicher, da er als einer der profundesten baltischen Historiker seiner Zeit gelten kann. 30 Entwurf eines Separatvotums Wilhelm Klumbergs zur Frage der Berufung von Dr. Arbusow, Riga, 20.12.1925, in: LVVA, 4772/1/31, Bl. 649. 28

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lands seine gleichzeitige Tätigkeit an der staatlichen lettischen und der privaten deutschen Hochschule eher zum Nachteil.31 Ohne eine gefestigte Position in beiden Institutionen konnte Arbusow kaum eine Vermittlerrolle spielen, zumal er seit Mitte der 1920er Jahre u.a. wegen seiner strengen Rezensionen mit lettischen Historikern in Konflikt geriet.32 Der womöglich vor allem vom Ehrgeiz ihres Rektors angetrie­ bene Versuch zur Umwandlung des Herderinstituts in eine vollwer­ tige Universität, die indes ohne Unterstützung durch die Weimarer Republik nicht möglich gewesen wäre, erfuhr schnell eine Absage aus Berlin. Das Reichsaußenministerium erkannte, dass die Förderung einer »Paralleluniversität« diplomatisch höchst ungeschickt wäre, und beschränkte sich bei der Förderung des Herderinstituts auf Geldsum­ men, die offenbar nicht für dessen strategischen Ausbau gedacht waren oder ausreichend gewesen wären.33 Hehn zufolge stellte sich auch innerhalb der deutschbaltischen Bevölkerung keine ungehemmte Liebe zur privaten deutschen Hoch­ schule ein.34 Schwer wogen z. B. Streitigkeiten mit der Deutsch-balti­ schen Volksgemeinschaft über die Inbetriebnahme des Mustergutes Meijas muiža (Mayhof) bei Jelgava. Die Volksgemeinschaft sah eine Kompetenzüberschreitung darin, dass auf dem Gut nicht nur aka­ demisch ausgebildet werden sollte.35 Eine weitere Forschungsstätte außerhalb des Gebäudekomplexes in der Elizabetes Straße 29 in Riga war eine biologische Forschungsstation am Kaņiera See unweit von Ķemeri.36 Von den Forschungsergebnissen der Abteilungen des Herder­ instituts sind einige überliefert, da seit 1925 ein eigenes Publikati­ onsorgan, die »Abhandlungen des Herderinstituts und der Herder­ gesellschaft« herausgegeben wurde.37 Den in heutiger Zeit wohl Bolin, Between National and Academic Agendas, 233. Misāns, »Leonid Arbusow und die lettische Geschichtsschreibung«, 91–93. Vgl. zur Vermittlerrolle Klaus Neitmann, »Das wissenschaftliche Lebenswerk Leonid Arbusows Neitmann«, in: Leonid Arbusow, 19–77, hier 35. 33 Hehn, »Das Herder-Institut zu Riga«, 505f. 34 Ebenda, 504. 35 Gesellschaft zur Förderung des Herderinstituts in Riga zu Lübeck: Deutsche Herder­ hochschule zu Riga / Institutum Herderianum Rigense. Private deutsche Hochschule, Leipzig [1939], 41–48; Hehn, »Das Herder-Institut zu Riga«, 518f. 36 Gesellschaft (wie Anm. 22), 41–48 und Hehn, »Das Herder-Institut zu Riga«, 519. 37 Wachtsmuth, Von deutscher Arbeit in Lettland, 413. 31

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wertvollsten Forschungsbeitrag dürfte die volkskundliche Abteilung geliefert haben, deren Feldforschung teilweise bis heute überliefert ist und durch das Lettische Folklorearchiv zugänglich gemacht wurde.38

3. Aufbauhilfe aus der Weimarer Republik: das Herderinstitut als Vehikel zur Förderung der Auslandsdeutschen? Besonders hervorstechend im Archivmaterial ist die Korrespondenz mit namhaften Wissenschaftlern Europas, die für Vorlesungen der Ferienkurse gewonnen werden sollten. Es ist erstaunlich, wie gut das Institut vernetzt war. Zu den Personen, die angefragt wurden, gehörten u.a. der Historiker Percy Ernst Schramm,39 die Naturwissen­ schaftler Max Planck40 und Walter Nernst41 oder der Geologe Alfred Wegener.42 Selbst wenn Wissenschaftler ihre Teilnahme absagten, wie Wegener oder Planck, taten sie dies meist mit einem persönlichen Brief, in dem sie ihr Bedauern ausdrückten. Die Materialien bieten somit eine hervorragende Grundlage, um Gelehrtennetzwerke zwi­ schen einem Teil der Deutschbalten und der Welt deutschsprachiger Gelehrter näher zu analysieren. Die Bereitschaft der Gastdozenten nach Riga zu reisen, kann zumindest als Beleg dafür gelesen werden, dass sie den Belangen der »Auslandsdeutschen« gegenüber durchaus positiv eingestellt waren. Das Lettische Folklorearchiv ist auf die Sammlung lettischer und nicht-deutscher Volkslieder konzentriert, sodass aus dem überlieferten Material Schlüsse über Tradi­ tionen und Liedgut gezogen werden können. Ebenso wie die Akten des Herderinstituts warten diese Bestände darauf, für aktuelle Forschungsfragen genutzt zu werden. Siehe unter dem URL: http://www.garamantas.lv/lv/collection/885763/Rigas-Herdera-i nstituta-folkloras-vakums (letzter Zugriff 15.1.2019). 39 Brief von Wilhelm Klumberg an Percy Ernst Schramm, Riga, 9.8.1937, in: LVVA, 4772/1/35, Bl. 344. Schramm war sogar besonders beflissen, seine Vorlesungen anzupassen, nachdem er von Klumberg dazu aufgefordert worden war, statt über »Das mittelalterliche Königtum« zur »Kunst der alten Germanen in Lichtbildern« oder etwas Vergleichbarem zu referieren. 40 Brief von Max Planck an Wilhelm Klumberg, Berlin, 4.3.1927, in: LVVA, 4772/1/186s, Bl. 34. 41 Programm der Ferienvorlesungen an der Herder Gesellschaft zwischen dem 7. und 16. September, in: LVVA, 4772/1/184s, Bl. 136. 42 Brief von Alfred Wegener an Wilhelm Klumberg, Graz, 30.5.1929, in: LVVA, 4772/1/186s, Bl. 59. 38

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Von Beginn an war die Finanzierung des Herderinstituts eine private Angelegenheit der Herder-Gesellschaft, die als Trägerverein der Hochschule im Jahre 1921 eigens gegründet worden war. Wil­ helm Klumberg versuchte, nicht nur in Lettland finanzielle und personelle Ressourcen zu finden, sondern auch in der Weimarer Republik. Neben den Mitteln aus dem Auswärtigen Amt, die aber, wie gesehen, geringer ausfielen als erhofft, wurden Ausstellungen durch das Deutsche Hygienemuseum realisiert oder die Ausrüstung eines Labors zum großen Teil durch die Carl-Zeiss-Stiftung getragen.43 Durch die Abordnung von Dozenten aus der Weimarer Republik, die den regulären Lehrbetrieb unterstützten, und die Anerkennung von Studiensemestern an deutschen Hochschulen zeigt sich deutlich, dass es gelang, das Institut auch in Deutschland zu »vermarkten«.44 Versucht man nun die Einzelpersonen, die das Herderinstitut unter­ stützten, politisch einzuordnen, so lässt sich erkennen, dass sie einem national-konservativen Spektrum angehörten, was offenbar in Riga auch gewünscht war. Eigeninitiativen von Personen wie Ernst Fraenkel45 oder einem Mitarbeiter von Johannes Lepsius’ »Deutscher Orientmission«,46 die als gemäßigt und weniger national ausgerichtet gelten können und sich um eine Tätigkeit am Herderinstitut bemüh­ ten, wurden nicht in Anspruch genommen. Eine kurze Randnotiz auf einem Schreiben an einen Gewährsmann in Berlin zeigt auf, dass die Verbindung zu nationalkonservativen Kreisen gesucht und Vertreter liberalerer Positionen eher unerwünscht waren. In dieser Notiz, die sich offenbar an einen ehemaligen Studenten des Herder­ instituts richtete, heißt es, man wolle im Sommer 1924 u. a. Oswald Spengler einladen. Bezüglich einer angedachten Einladung an Albert Einstein bittet der Autor der Notiz, vermutlich der Vorsitzende der Herdergesellschaft und Philosophie-Dozent am Herderinstitut, Kurt Stavenhagen (1884–1951), allerdings darum,

Brief des Vorsitzenden der Herder-Gesellschaft [Karl Reinhold Kupffer] an die Carl-Zeiss-Stiftung, 1.10.1927, in: LVVA, 4772/1/31, Bl. 635. Von 1 819,60 Goldmark übernahm die Carl-Zeiss-Stiftung 1 500. Die Bewilligung des Antrages war vor allem der Beharrlichkeit der Lehrkräfte des Herderinstituts geschuldet. 44 Wachtsmuth, Von deutscher Arbeit in Lettland (wie Anm. 2), 415. 45 Brief des Geschäftsführers der Herder-Gesellschaft [Paul von Sokolowski] an Ernst Fraenkel, 9.11.1923, in: LVVA, 4772/1/188s, Bl. 17. 46 Brief von Melkon Kirschetzelian (?) an Wilhelm Klumberg, Potsdam, 1.9.1927, in: LVVA, 4772/2/13, Bl. 44. 43

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»bei Professor Petersen47 in Berlin vertraulich Erkundigungen einzu­ ziehen, ob Einstein die Persönlichkeit ist, welche die für uns notwen­ dige politische Qualification besitzt. Ich stelle diese Anfrage aus dem Grunde, weil wir qua HG [Herder-Gesellschaft; B.B./R.B.] in unse­ rer Aufbauarbeit nicht geschädigt werden dürfen, und über Einstein, wie über bekannte Persönlichkeiten, verschiedene Gerüchte, seine politische Überzeugung betreffend, kursieren. Indem ich Sie bitte, die eben angeführte Frage als eine streng vertrauliche zu behandeln, bin ich in Erwartung eines [!] baldigen Schreibens, mit herzlichen Grüßen (…)«.48

Es bleibt unausgesprochen, was an Einsteins politischer Einstellung für die Herder-Gesellschaft schädlich gewesen sein könnte; zu ver­ muten ist allerdings, dass hier eine fehlende nationale Gesinnung gemeint ist. Es dürfte dabei kaum darum gegangen sein, Konflikte mit der lettischen Regierung zu vermeiden. Die Einladung Einsteins nach Riga blieb in der Folge offensichtlich unausgesprochen. Die Nähe zu nationalkonservativen Intellektuellen und ideel­ len Wegbereitern der sogenannten Konservativen Revolution wird u.a. durch den Kontakt zu Spengler deutlich.49 Auch der Besuch Heideggers ist ein eindrücklicher Beleg für die Wechselwirkung zwi­ schen Geistesgrößen der Weimarer Republik und dem Lehrbetrieb des Herderinstituts. Heidegger hielt nicht nur Vorträge in Riga; sein 1927 erschienenes Werk »Sein und Zeit« las Stavenhagen bereits 1928 am Herderinstitut gemeinsam mit seinen Studenten. In einem Brief, abgeschickt kurz nach Heideggers Besuch in Riga, schreibt Stavenha­ gen: »In den U[e]bungen für Vorgeschrittene kämpfen wir um das Verständ­ nis Ihres Buches [wahrscheinlich »Sein und Zeit«; B.B./R.B.], und nicht ohne Erfolg. Ich habe sehr viel Freude daran. Denn es geht

47 Vermutlich der Bakteriologe Arthur Korff-Petersen, der vor seiner Zeit in Berlin in Tartu (1918–1924) gewirkt hatte. Siehe 125 Jahre Hygiene-Institute an Berliner Universitäten: eine Festschrift, hrsg. von Judith Hahn u.a., Berlin 2010, 22. 48 Kurt Stavenhagen (?) an K. Hentrich (?), [o.D.], in: LVVA, 4772/1/188s, Bl. 55r/v. 49 Brief des Vorsitzenden der Herder-Gesellschaft [Paul von Sokolowski] an Oswald Spengler, Riga, 6.2.1925, in: LVVA, 4772/1/30, Bl. 44; Brief von Paul Schiemann an Woldemar Wulffius, Riga, 28.1.1525, in: LVVA, 4772/1/30, Bl. 45. In diesem Brief entschuldigt sich der liberale Politiker Paul Schiemann dafür, dass er die Aussagen Oswald Spenglers bei einem Bierabend im »Romkeller« in Riga verdreht und weiter kolportiert habe. Im Namen der Herder-Gesellschaft wurde dieser Brief an Spengler nachgesandt (obwohl Schiemann schreibt, dies bereits selbst getan zu haben).

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sehr lebhaft dabei her. Auch ich lebe mich in das Buch jetzt ernstlich hinein. Freilich kennen zwei sehr begabte Schu[e]lerinnen von mir es bisher besser als ich. Dazu kom[m]en Fr[äu]l[ein] Sehl50 und ein Schu[e]ler (…).«51

Der erste Heidegger-Zirkel in Lettland war im Herderinstitut gegrün­ det.

4. Heidegger in Riga Der Aufenthalt Heideggers in Riga ist sehr bezeichnend; anhand dieses Beispiels lassen sich Fragestellungen formulieren, die zugleich die ganze Konstellation um das Herderinstitut beleuchten können. Im September 1928 traf Heidegger in Riga ein. In Deutschland war im Jahr zuvor sein Traktat »Sein und Zeit« veröffentlicht worden, der – wenn auch unvollendet – seinen Autor schon nach kurzer Zeit zum sichtbarsten Denker der zeitgenössischen Philosophie in Europa machte. Die Aufforderung, in Riga im Rahmen von Hochschulkursen der Herder-Gesellschaft einen Vorlesungszyklus abzuhalten, kam 1927 vom Herderinstitut.52 Vom 11. bis zum 14. September 1928 weilte Heidegger in der lettischen Hauptstadt und hielt im Saal des Schwarzhäupterhauses Vorträge zum Thema »Einführung in Kants Kritik der reinen Vernunft mit Rücksicht auf die Problemlage der Gegenwart«. Die Vorlesungen standen in direktem Zusammenhang mit seinem Werk »Kant und das Problem der Metaphysik«, das 1929 veröffentlicht werden sollte. Im Vorwort dieses Buches erläuterte Heidegger, dass das »Wesentliche der folgenden Interpretationen« in einer vierstündigen Vorlesung im Wintersemester 1927/28 und »spä­ ter mehrfach in Vorträgen und Vortragsreihen (am Herderinstitut zu Erica Sehl hatte ihr Studium am Herderinstitut bereits 1921 begonnen, studierte ab 1923 in Deutschland und kam später als Assistentin Stavenhagens zurück nach Riga. Zweitgutachter ihrer Habilitationsschrift war Martin Heidegger. Vgl. Erica Sehl, Kritische Studien zu Locke’s Erkenntnistheorie, Riga 1933. Raivis Bičevskis, Erica Sehl: A Brief Biography from 1902–1934, einsehbar unter dem URL: http://rustik.ophen.org (letzter Zugriff 15.1.2019. 51 Brief von Kurt Stavenhagen an Martin Heidegger, Riga 26.10.1928, in: Deutsches Literaturarchiv Marbach 75.6900 (für die Erlaubnis, dieses Fragment zu veröffentli­ chen, danken die Autoren Herrn Arnulf Heidegger recht herzlich). 52 Martin Heidegger/Hannah Arendt, Briefe 1925–1975 und andere Zeugnisse, hrsg. von Ursula Ludz, Frankfurt am Main 32002, 63. 50

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Riga im September 1928 und bei den Davoser Hochschulkursen im März d.J.) mitgeteilt« worden sei.53 Die Rigaer Vorträge, deren Manu­ skript leider nicht mehr erhalten ist,54 und die Kontroversen mit dem Kulturphilosophen und Fortsetzer der neukantianischen Schule Ernst Cassirer in Davos über das philosophische Erbe Kants und dessen Deutung im Neukantianismus passen durchaus in eine weitere Ent­ wicklungsphase von Heideggers Ansichten, die im Kontext anderer Vorträge zu interpretieren sind. Hierzu gehören etwa die Vorlesungen zum Thema »Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft« an der Universität Marburg,55 die Vorträge über »Die heutige Problemlage der Philosophie« im Kant-Verein in Karls­ ruhe am 4. Dezember 1929 und in Amsterdam am 21. März 193056 sowie der Vortrag »Philosophische Anthropologie und Metaphysik des Daseins« am 24. Januar 1929 im Kant-Verein in Frankfurt.57 All diese Vorlesungen und Vorträge deuten darauf hin, dass Heidegger in Riga die fundamentalontologische Idee in »Sein und Zeit« weiterent­ wickeln wollte, zu welcher etwa auch die Dekonstruktion europäischer ontologischer Tradition gehörte58 und die dem kritischen Abbau der Annahmen vom »Sein« in der etablierten europäischen Philosophie dienen sollte. Ein Element dieses Konzepts ist die Analyse von Text und Intention in Kants »Kritik der reinen Vernunft« (1781), mit der sich Heidegger sowohl in seinen Rigaer Vorlesungen als auch in »Kant und das Problem der Metaphysik« intensiv beschäftigt. Dass das Angebot aus dem weit entfernt gelegenen Riga Heideggers Zustimmung fand, ist überraschend, da der Philosoph weite Reisen scheute und kein Freund intensiver Mobilität war. Für Heideggers Bereitschaft, trotzdem die Reise nach Riga auf sich zu nehmen, gab es eventuell mehrere Gründe, die mit dem in Heideggers 53 Martin Heidegger, Gesamtausgabe (künftig GA), Bd. 3, hrsg. von Friedrich-Wil­ helm von Herrmann, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 2010, XVI. 54 Friedrich Wilhelm von Hermann teilte in einem persönlichen Gespräch mit, dass Heidegger das Manuskript der Rigaer Vorlesungen inhaltlich fast vollständig ins Buch »Kant und das Problem der Metaphysik« aufgenommen, das Manuskript von 1928 aber vernichtet habe. 55 Heidegger, GA, Bd. 25, hrsg. von Ingetraud Görland, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1995, 1–431. 56 Heidegger, GA, Bd. 80,1, hrsg. von Günther Neumann, Frankfurt a.M. 2016, 211–251. 57 Ebenda, 253–279. 58 Heidegger, GA, Bd. 2, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M. 1977, 40.

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Leben besonderen Jahr 1928 zusammenhängen. Für uns ist von Bedeutung, dass nicht die direkten Lebensumstände, sondern eher eine bestimmte ideengeschichtliche Konstellation ihn dazu bewegt haben könnte, Riga zu besuchen. Zunächst seien die Lebensumstände kurz skizziert: 1928 starb Max Scheler, den Heidegger für den schärfsten philosophischen Kopf »im heutigen Europa und sogar in der gegenwärtigen Philosophie überhaupt« hielt. 59 So trat er gewissermaßen als Anwärter auf diese freie Stelle des Philosophie-Königs auf.60 Im selben Jahr bereitete ihm sein Lehrer Edmund Husserl den Weg von Marburg nach Freiburg. Gleich nach seiner Rückkehr aus Riga ging Heidegger zusammen mit Husserl unverzüglich daran, den Artikel zur Phänomenologie für die »Encyclopaedia Britannica« zu verfassen. Schließlich veröffentlichte er in einer Einzelausgabe Husserls »Vorlesungen zum inneren Zeitbe­ wusstsein«. Obendrein bezog die Familie Heidegger ein neues Haus in Freiburg-Zähringen. Vor dem Hintergrund dieser Ereignisse in Heideggers Leben ist die Reise nach Riga nur eine kleine Episode.61 Ganz anders verhält es sich, wenn man diese Reise im Rahmen der ideengeschichtlichen Konstellation des Philosophen betrachtet. Standen doch das Baltikum und Riga in Heideggers Sicht nicht nur für eine Landschaft an der Ostsee und einen Teil der nordeuropäischen Kultur. Für ihn war das auch ein Land bestimmter politischer Mythen: Hier stoßen wir auf die wichtigen ideengeschichtlichen Konstellatio­ Heidegger, GA, Bd. 28, hrsg. von Claudius Strube, Frankfurt a.M. 1997, 62. Hannah Arendt bemerkte, dass bereits die frühen Freiburger Vorlesungen, noch bevor »Sein und Zeit« veröffentlicht worden war, sie zu dem Gefühl verleitet hätten, dass Heidegger ein »heimlicher König der deutschen Philosophie« gewesen sei. Hannah Arendt: »Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt«, in: Merkur 23 (1969), H. 258, 893–902, hier 893. 61 Ganz unbekannt war Heidegger die Region nicht, in die er 1928 aufbrach. Während seiner späten Studienjahre 1912/16 las der noch streng katholische Heidegger die erkenntnisphilosophischen Abhandlungen von Oswald Külpe (1862–1915). Dass dieser im kurländischen Kandau geboren worden war, könnte Heidegger möglicher­ weise gewusst haben. Wir wissen nicht, ob dieser Umstand Heidegger 1928 noch bewusst war, doch gehörten damals einige Personen baltischer Herkunft aus dem akademischen Milieu der Universität Marburg zu seinem Bekanntenkreis, so z.B. der in Riga geborene Philosoph Nicolai Hartmann (1882–1950) und der aus Libau stammende Philosoph und Mathematiker Jakob Klein (1899–1978). Hinzu kam der bereits erwähnte Kurt Stavenhagen aus Tuckum in Kurland, der sich maßgeblich für die Vorbereitung der Reise Heideggers nach Riga eingesetzt hatte. Über das Leben an der Ostsee klärte ihn Hannah Arendt in ihren Briefen auf, die in Königsberg aufgewachsen war und mit ihm seit 1924 in Briefwechsel stand. 59

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nen, die als Hauptgrund für Heideggers Reise nach Riga gelten dürfen. Bekanntlich hielt er wenige Jahre später als Rektor der Universität Freiburg am 26. Mai 1933 seine Rede »Gedenkworte zu Schlage­ ter«.62 Hierin schilderte er das Baltikum als einen Ort des Kampfes, wo Schlagater in den Reihen der Freikorps 1919 gekämpft habe.63 Hiermit berührte Heidegger etwas, worüber er bereits Ende der 1920er Jahre informiert war, denn er hatte sich intensiv mit den Texten von Ernst Jünger beschäftigt. Dieser hatte in seiner Textsammlung »Kampf um das Reich«,64 in der er die innere Labilität Deutschlands und dessen ambivalente Stellung in Europa thematisierte, auch die Ereignisse im Baltikum 1918/19 geschildert. Im »Vorwort«65 betonte Jünger, dass der politische und geistige Kampf um Deutschland noch nicht beendet sei und die deutsche Revolution endlich vollzogen wer­ den müsse.66 Diese Revolution aber ist nicht die Revolution der Nationalsozialisten, sondern eine Vollendung der »deutschen Revo­ lution«, in deren Verlauf, der unter Umständen auch gewalttätig sein kann, ein neues, geistiges Deutschland entstehen werde.67 Dieses »Projekt« Jüngers trägt ähnliche Züge des Projekts des »neuen Rei­ ches« von Stefan George. Heidegger war Ende der 1920er Jahre ähn­

Heidegger, GA, Bd. 16, hrsg. von Hermann Heidegger, Frankfurt a.M. 2000, 780. Dieter Thomä interpretiert diese Stelle der Rede, in der es hieß, Schlageter »musste ins Baltikum«, als Anzeichen für die Befehlssüchtigkeit des Heideggerʼschen Denkens: »Nicht nur etwas zu tun, sondern etwas tun zu müssen – das zeichnet Schlageter aus. Entsprechend fasst Heidegger das neue deutsche Leben in Sätzen, die als direkte Befehle oder im Muss-Modus funktionieren«. Dieter Thomä, »Heidegger als Philosoph des Ausrufezeichens«, in: Heideggers Weg in die Moderne. Eine Verortung der »Schwarzen Hefte«, hrsg. von Hans-Helmuth Gander und Magnus Striet, Frankfurt a.M. 2017, 259. Wir möchten aber den Blick auf den Stellenwert des »Baltikums« im Rahmen der unsicheren geistigen und politischen Perspektiven Deutschlands der 1920er Jahren lenken und so Heidegger mit dem Ideenkreis der »Konservativen Revo­ lution« zusammensehen, der für ihn gewiss auch willentliche, autoritäre, hierarchische u.a. Züge hatte und dennoch keineswegs allein auf diese zu reduzieren ist. 64 Der Kampf um das Reich, hrsg. von Ernst Jünger, Essen 1929. 65 Erneut publiziert: Ernst Jünger, »Vorwort«, in: Ders., Politische Publizistik 1919– 1933, hrsg., komm. und mit einem Nachwort von Sven Olaf Berggötz, Stuttgart 2001, 527–536. 66 Vgl. dazu Helmut Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie, München 2007, 371. 67 Reinhard Mehring, Martin Heidegger und die »konservative Revolution«, Freiburg und München 2018. 62

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licher Meinung. Jüngers Roman »Auf den Marmorklippen«68 galt später als Versuch, die Idee dieser »geistigen Revolution« auch dann noch aufrechtzuerhalten, als das Projekt des so genannten »Neuen Deutschland« bereits durch die nationalsozialistische Revolution rea­ lisiert wurde – auch mit anderen Mitteln, als sich Jünger, George oder Heidegger das vorgestellt hatten. Daher ist Heideggers 1933 vorge­ tragener Verweis auf das Baltikum als Aufforderung zu einem »Schritt zurück« zu deuten,69 zurück zu dem Deutschland als einem »Reich« der vielen, noch nicht entschiedenen Möglichkeiten, die er schon in Riga im September 1928 suchen wollte. Zum Verlauf seines Aufenthaltes in Riga schrieb Heidegger am 24. September 1928 an seinen Freund und philosophischen Gesin­ nungsgenossen Karl Jaspers: »Seit gestern bin ich von unserer Reise nach Riga zurück. (...) In Riga war es ziemlich anstrengend; die Seefahrt von Stettin nach Riga ganz herrlich – die See ein Spiegel – so dass ich von der Größe des Meeres wenig spürte«.70

Jaspers antwortete am 2. Oktober: »Das Meer war Ihnen unfreund­ lich. Spiegelglatt darf es nur sein, wenn die Ruhe eine Artikulation in seinem Leben ist«.71 Jaspers berichtete von seiner Reise in die Alpen, während der er von einem Gefühl überfallen worden sei, »als ob der Leichnam des Alls vor einem liege«.72 Wahrscheinlich wollte der Sohn der Nordsee Jaspers mit diesem Bild der Berglandschaft die Aus­ drucksweise des an die Hochebene des Schwarzwaldes gewöhnten Heidegger, der es an Empfindsamkeit mangelte, erwidern: Heidegger hatte von der Ostsee geschrieben, dass sie ihm keinewegs als ein­ drucksvoll, sondern eher als langweilig erschienen war, »aber das ist eben eine ›einseitige‹ Empfänglichkeit des Gebirglers«, wie er selbst zugab.73 Heidegger erwähnte, dass er vor der Reise nach Riga krank

68 Ernst Jünger, Auf den Marmorklippen, Hamburg 1939. Dieses Buch wurde als Wehrmachtsausgabe 1942 auch in Paris und Riga veröffentlicht. Vgl. Kiesel, Ernst Jünger, 473. 69 Vgl. dazu Reinhard Mehring, Martin Heidegger und die »konservative Revolution«, Freiburg/München 2018. 70 Martin Heidegger, Karl Jaspers, Briefwechsel 1920–1963, hrsg. von Walter Biemel und Hans Saner, Frankfurt a.M. 1990, 103. 71 Ebenda, 105. 72 Ebenda. 73 Ebenda, 103.

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gewesen sei und seine Augen schonen müsse; das Semester an der Universität sei sehr anstrengend gewesen. Über seine Arbeit an »Sein und Zeit« schrieb er resigniert: »Ich denke schon gar nicht mehr daran, dass ich vor kurzem ein sogenanntes Buch publiziert habe (…). Für wen schreiben wir eigentlich?«, fragte er, »erlangt jemand vom Geschriebenen den entscheidenden Wink für das Leben?«74 In seinen Briefen an die Erziehungswissenschaftlerin Elisabeth Blochmann, einer Freundin seiner Ehefrau Elfride, schildert Heidegger seine Reise nach Riga ausführlicher. Hinsichtlich des gan­ zen Jahres 1928 habe er ein neues Verständnis vom Leben und den Aufgaben, die dieses einem stelle, empfunden: »[A]lles ist jetzt neu – ein tieferes Verständnis von Aufgaben und ein vorsichtiges Wagnis dazu, was bisher unzugänglich gewesen ist«.75 Am 17. Oktober schrieb er aus Todtnauberg, dass Elfride nach der nächtlichen Zugfahrt von Riga nach Königsberg erkrankt sei. Von der Seefahrt nach Riga erzählt er: »Die Seereise war herrlich, wir haben die Fahrt sehr genossen. Den stärksten Eindruck hatte ich eigentlich am letzten Morgen in der Früh gegen 4 Uhr; der Dampfer fuhr schon im Rigaischen Meerbusen nach Süden, ohne dass schon Land in Sicht war – da kam im Osten langsam der Morgen u[nd] legte sich über das nun etwas bewegtere Meer – die Natur offenbarte sich für Augenblicke.«76

Dieses Naturerlebnis leitete Heideggers Rigaer Tage ein. Sie seien »ziemlich anstrengend« gewesen, doch waren die Menschen »außer­ ordentlich dankbar und aufmerksam«. Über die Stadt schrieb er, sie habe »die Jahre des Krieges und der Bolschewistenherrschaft noch nicht verwunden«.77 Weiter betonte er: »Die Schicksale der Balten sind erschütternd – im Stillen sehnte ich mich nach dem Schwarzwald und war froh, als ich nach der langen Reise südlich von Heidelberg war – und die Heimat zeigte sich wieder neu«.78 Die Offenbarung der Natur im Rigaer Meerbusen lässt ihn auch seine eigene Heimat und die Arbeit am Traktat »Vom Wesen des Grundes«, die er wieder aufnahm, plötzlich mit anderen Augen erblicken: »Merkwürdig, wenn Ebenda, 103f. Martin Heidegger, Elisabeth Blochmann, Briefwechsel, 1918–1969, hrsg. von Joa­ chim W. Storck, Marbach 1999, 25. 76 Ebenda, 27. 77 Ebenda. 78 Ebenda. 74

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man hier oben in einer stürmischen Nacht von der plötzlichen Stille erwacht – jene Stille, in der sich die Landschaft und das Wohnen in ihr zum Winter wandelt«.79 Er fügte hinzu, dass der Schnee »auf den Feldern des Gebirges ganz anders« sei als in der Stadt.80 Die meisten Zuhörer von Heideggers Vorträgen in Riga 1928 waren Deutschbalten. Auch wenn Heideggers Besuch in jener Zeit stattfand, die man als Höhepunkt der diplomatischen Beziehungen zwischen der Weimarer Republik und Lettland bezeichnen kann,81 begegneten sich deutschbaltische und lettische Intellektuelle nicht gerade mit besonderem gegenseitigen Vertrauen; die vom Herderin­ stitut initiierten Veranstaltungen erzeugten keine große Resonanz beim lettischen Publikum.82 Die Archivmaterialien zeigen aber, dass einige Vertreter des lettischen akademischen Milieus zu diesen Ver­ anstaltungen eingeladen wurden.83 Auch finden sich in den Rigaer Medien Hinweise auf Heideggers Besuch.84 Die meisten Informatio­ nen zu diesem Ereignis bot aber die deutschsprachige »Rigasche Rundschau«. Dabei handelte es sich zunächst nur um eine Nachricht; aber die Zeitung bemühte sich auch um eine enzyklopädische Skizze der damaligen philosophischen Position Heideggers, die wahrschein­

Ebenda, S. 28. Ebenda. In einem Brief an seine Gattin Elfride schrieb Heidegger am 27.9.1928, dass die gemeinsam verbrachte Zeit in Riga auch gut für die Verbesserung ihrer beid­ seitigen Beziehung und für ein tieferes Verständnis seiner eigenen philosophischen Bestimmung gewesen sei: »Unsere Reise beginnt jetzt erst, was ich auch wusste, in mir zu wirken – in der Richtung, dass ich plötzlich eine freiere und objektivere Stellung zu meiner Arbeit bekomme.« Mein liebes Seelchen! Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride, 1915–1970. Ausgewählt und kommentiert von Gertrud Heidegger, München 2005, 157. 81 Raimonds Cerūzis, Vācu faktors Latvijā (1918–1939). Politiskie un starpnacionālie aspekti [Der deutsche Faktor in Lettland (1918–1939). Die politischen und nationalen Aspekte], Riga 2004, 124f. 82 Arnolds Spekke, Atmiņu brīži. Ainas – Epizodes – Silueti [Augenblicke der Erinne­ rung. Szenen – Episoden – Silhouetten], [Stockholm] 1967, 177. 83 Vgl. den Brief von Wilhelm Klumberg an Aleksandrs Dauge, Riga, 24.9.1928, in: LVVA, 4772/2/3, Bl. 100. 84 Einen Überblick liefert Māris Vecvagars: »Heidegera vārds Latvijas Valsts vēstures arhīvā« [»Der Name Heideggers im Historischen Staatsarchiv Lettlands«], in: Ders.: Kādreiz Hellādā. Nekurliekami raksti, Riga 2004, 39–50. Vgl. auch Rigasche Rund­ schau 25.8.1928, Nr. 191, S. 14; 27.8.1928, Nr. 192, S. 14; 10.9.1928, Nr. 204, 12; Riga am Sonntag 26.8.1928, Nr. 37, 4; 9.9.1928, Nr. 39, 4; Jaunākās Ziņas, Nr. 192 (1928); Brīvā Zeme, Nr. 192 (1928), 3; Pēdējā Brīdī, 26.8.1928, Nr. 192, 9; Segodnja, Nr. 230 (1928), 12. 79

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lich von Kurt Stavenhagen stammte.85 Heideggers Rezeption unter den lettischen Philosophen erfolgte indirekt und fand ihren Ausdruck nicht in der Entlehnung seiner Ansichten über Metaphysik und Onto­ logie, wenn auch der lettische Husserl-Schüler Teodors Celms ihm kritisch in dieser Richtung folgte. Der Bezug zu Heideggers Philoso­ phie wurde in lettischsprachigen Beiträgen eher durch den Diskurs in der Kulturkritik (Pauls Jurevics, Voldemars Maldonis, Zenta Maurina u.a.) hergestellt.86

5. Die Akten und die Gäste des Herderinstituts: Anlass für neue Forschungen Die stichprobenartigen Funde im Aktenmaterial wie auch der Besuch Heideggers in Riga, betrachtet als Auftritt eines prominenten deut­ schen Philosophen im Kontext der damaligen Ideen- und Institutio­ nenkonstellation, geben viele Ideen für weitere Untersuchungen. Welche Rolle spielte das Herderinstitut als intellektuelles Zentrum für die Deutschbalten und welche Personen gehörten zur eigentlichen Zielgruppe?87 Wie und woran ist der Einfluss des Herderinstituts und seiner Lehrkräfte auf die Formung der Intellektuellen und ihrer Stellung als aktive gesellschaftliche Individuen in Lettland zu mes­ sen?88 Welche Rolle spielte die private deutsche Hochschule in der Außenpolitik des Deutschen Reiches? Es bestand nicht nur ein enger Gastdozenten der Herder-Gesellschaft, in: Beilage zur Rigaschen Rundschau Nr. 202 (1928), 10. Näher dazu: Raivis Bičevskis, „›Wunder von ferne oder traum / Bracht ich an meines landes sau‹. Heideggers Beziehungen zu Riga und seine HerderAuslegung im Seminar des Sommersemesters 1939 ›Zur Wesung des Wortes‹“, in: Heidegger-Studies 34 (2018), 17–41, bes. 24 ff. 86 Vgl. die Beiträge in Heidegera Rīgas rudens (wie Anm 6). 87 Vgl. Bolin, Between National and Academic Agendas (wie Anm. 1), 109. Die Tat­ sache, dass die Zahl der deutschstämmigen Studierenden immer kleiner als an der Universität Lettlands war, kann auch als Ausweis der Anpassung und Integration die­ ser Studenten gesehen werden. 88 Vgl. Per Bolin, Christina Douglas, “,National Indifference‘ in the Baltic Territories? A Critical Assessment«, in: Journal of Baltic Studies 48 (2017), 13–22, hier 19f. Verglei­ chende biografische Studien zu den Absolventinnen und Absolventen des Herderin­ stituts, der Universität Lettlands und von Studierenden, die an beiden Einrichtungen gelernt haben, könnten dabei helfen, den häufig monolithisch dargestellten Block der »Deutschbalten« in Lettland in bildungsgeschichtlicher Perspektive differenzierter zu betrachten und andere Konfliktlinien als die der »Nation« zu betonen. 85

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Kontakt zu Förderern in Deutschland, sondern es gab auch den Versuch, dezidiert eine Universität für Auslandsdeutsche aus z.B. Ungarn, Rumänien oder der Tschechoslowakei zu werden.89 Verglei­ chend könnte ebenso die Arbeit der volkskundlichen Abteilung des Lettischen Folklorearchivs sein, um zu klären, inwiefern Herders Kulturphilosophie tatsächlich am Institut übernommen wurde und wofür Herders Name bzw. Ideen vereinnahmt wurden.90 Wenn man das geistige Klima des Herderinstituts um 1928 kom­ primiert charakterisieren will, dann muss man unweigerlich von einer Inkubationszeit der Ideen einer »Konservativen Revolution« bzw. eines »Neuen Nationalismus« und/oder deutschnationalen Gesin­ nung sprechen, die einige Dozenten und Studierende des Instituts teilten (und die sich im Laufe der Jahre radikalisieren konnten). Die Briefwechsel und andere Dokumente lassen etwas von der ideenge­ schichtlichen Dynamik des Zeitalters ahnen, deren Aspekte bis heute noch bei weitem nicht ausgeleuchtet sind. So waren etwa Oswald Spenglers Vorträge am Herderinstitut und dessen darauf folgende Auseinandersetzung mit Paul Schiemann, deren Echo bis in die höheren politischen Kreise der Weimarer Republik drang,91 auch ein Beleg für das polemische geistige und politische Klima in Riga.92 Darüber hinaus waren sie – wie auch der ideenpolitische Hintergrund von Heideggers Aufenthalt in Riga – ein Indiz für die Versuche in den ausgehenden 1920er Jahren, eine Zukunft zu konzipieren, die einen konkreten Ort haben sollte: das »Baltikum« im Kraftfeld eines möglichen kulturellen Deutschlands. Im Briefwechsel des Herderinstituts treten diesbezügliche Uto­ pien ebenfalls hervor, insbesondere, wenn wir ihn zusammen mit Wachtsmuth, Von deutscher Arbeit in Lettland, 416. Bis die lettische Regierung 1937 den Besuch von Studenten, die keine lettischen Staatsangehörigen waren, verbot, sei das Herderinstitut auf dem Weg zu einer »Volksdeutsche[n] Universität« gewesen, die vor allem auf Hilfe aus Deutschland und private Spenden angewiesen war. 90 Vgl. z.B. Kurt Stavenhagen, »Herder in Riga. Rede, gehalten zum Festaktus des Herder-Institutes am 4. September 1922«, in: Abhandlungen des Herder-Instituts, Bd. 1, hrsg. von der Herder-Gesellschaft zu Riga, Riga 1925, 1–22. 91 Vgl. den Brief von Paul von Sokolowski an Spengler, in: Oswald Spengler, Briefe 1913–1936, in Zusammenarbeit mit Manfred Schöter hrsg. von Anton M. Koktanek, München 1963, 543–545, und Koktaneks Kommentar, ebenda, 788. Paul von Soko­ lowski (1860–1934) war Vorsitzender der Herder-Gesellschaft in Riga. 92 Brief von Paul Schiemann an Woldemar Wulffius, Riga, 28.1.1925, in: LVVA, 4772/1/30, Bl. 45. Schiemann kolportierte seine Version der Auseinandersetzung mit Spengler an den Gesandten und ehemaligen Außenminister Adolf Köster. 89

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bereits publizierten Briefen und anderen Texten lesen. Wir stoßen auf ein Spektrum von deutschnationalen, völkisch eingestellten, diverse Ursprungs- und Ursprünglichkeitsmythologien bedienenden Ent­ würfen: Im »Baltikum«, das für einen neo-romantisch eingefärbten Gegenstoß gegen Aufklärung oder Liberalismus, aber auch für eine transformierte Weiterproduktion von bestimmten Aufklärungsideen steht, kartieren Mitarbeiter des Herderinstituts und seine Gäste diese Utopien. So ist z. B. Heideggers Verweis auf das Baltikum im Kontext des noch fortzuführenden Kampfes um die Zukunft zu lesen: Als Schritt zurück ins Ungewisse der geschichtlichen Möglichkeiten gedeutet, die auch die Vertreter der »Konservativen Revolution« parallel zum und gegen den Nationalsozialismus beschworen haben. So erscheint das Baltikum als geschichtlicher Raum des Möglichen.

6. Aussichten und Perspektiven Briefe und andere Dokumente als Beispiele des akademischen, poli­ tischen und gesellschaftlichen Lebens können auf die einstigen Netz­ werke verweisen und die Personen des Instituts mit ihren Ideen und Träumen deutlicher hervortreten lassen. Die bisherige Forschung zum Herderinstitut betrachtete es entweder im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus oder allgemeiner im Kontext der Geschichte der Deutsch-baltischen Volksgemeinschaft in Lettland. Problematisch wäre eine Sichtweise, die sich darauf beschränkte, das Herderinstitut als deutschnationale Einrichtung zu sehen, deren Dozenten und Studenten sowie deren Umkreis mit dem Nationalsozialismus sym­ pathisierten. Andere philosophische und politische Ideen waren am Herderinstitut ebenso und wahrscheinlich sogar stärker verbreitet, als es sich anhand der Besuche Spenglers und Heideggers vermuten lässt. Nun kommt es darauf an (und das ist eines der Anliegen des vorliegenden Beitrags), das Personal bzw. den Personenkreis, der mit dem Herderinstitut verbunden war, differenzierter zu betrach­ ten. So können deutschnationale, nationalistische, liberale (sowie gewiss auch nationalsozialistische) Gesinnungen durch die Perspek­ tive der Erforschung der »Konservativen Revolution« bzw. des »neuen

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Nationalismus« ideengeschichtlich präziser gefasst werden.93 Das Herderinstitut zu Riga war ein Medium und ein Richtungsgeber: In ihm waren verschiedene Vermittler von gesellschaftlichen Ideen vereint, deren Handlungsrahmen durch die Gesetze des lettischen Staates – vor allem dem Gesetz für das Herderinstitut – ebenso beeinflusst wurde wie durch die finanzielle und personelle Hilfe der Deutsch-baltischen Volksgemeinschaft und aus Deutschland. Auch der Transfer von Ideen und Erfahrungswissen könnte im Einzelfall genauer untersucht werden, weil die Träger dieses Gedan­ kenguts aufgrund ihrer Präsenz in Riga – so etwa im Fall Spengler – die Interpretationsmuster selbst mitlieferten und klarstellen konnten, wie ihre Aussagen zu verstehen seien. Auch Vermittler wie Kurt Stavenhagen waren, mit durchaus unterschiedlichen Präferenzen z. B. für Martin Heidegger, in diesem Sinne aktiv. So haben wir ein Spektrum der deutschbaltischen intellektuellen Elite und ihrer Ideen, deren Freilegung und Analyse einen Beitrag sowohl zur Ideen- und Institutionengeschichte als auch zur Intellectual History liefern kann. Diese Forschungen sind auch hochaktuell, zieht man die neues­ ten Publikationen zur politischen Debatte um Europa in Betracht: In ihr tauchen die alten Argumente, alten Kämpfe, alten Konstellationen wieder auf, indem konservative, rechtsradikale, aber auch liberale und linke Publizisten die Argumente von gestern reproduzieren. Unsere Untersuchungen gelten diesen Ideen und Gedanken, die, wenn wir sie heute in den Debatten antreffen, ihre Geschichte haben. So wollen wir hinsichtlich des Rigaer Herderinstituts auch eine höchst aktuelle Bestandsaufnahme des Denkens betreiben. Die Akten dieser Rigaer Bildungseinrichtung der Zwischenkriegszeit laden geradezu zu trans­ nationalen Forschungen im Bereich der Ideengeschichte und Kultur­ Stefan Breuer schreibt, dass der Auflösungsprozess des »alten Nationalismus« der Kaiserzeit schon um die Jahrhundertwende begonnen und es eine scharfe »Selbstkritik des deutschen Rechtsnationalismus« gegeben habe, was gut an den Beispielen von Arthur Moeller van den Bruck oder Ernst Jünger zu zeigen ist. Der neue Nationalismus habe moderne Themen aufgegriffen (Technik, Ausweitung des politischen Raumes, mobile Nation usw.). Siehe dazu Stefan Breuer, Die radikale Rechte in Deutschland 1871–1945. Eine politische Ideengeschichte, Stuttgart 2010, 176. Die Mitarbeiter des Herderinstituts waren in diese Debatten verwickelt, zum Teil auch mit Texten und akademischen Beziehungen mithandelnd; die Dokumente des Instituts zeigen ein Spektrum der »alten« und »neuen« nationalen Gesinnungen, die differenziert nachzuzeichnen eine Aufgabe wäre, um einen Beitrag zur Erforschung des neuen Nationalismus bzw. der »Konservativen Revolution« im Spiegel der politischen- und Ideengeschichte des Baltikums zu liefern. 93

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politik ein. Noch mehr laden sie zu einer Besinnung auf geschichtliche Möglichkeiten und die gegenwärtige Situation in Europa ein.

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Die Autorinnen und Autoren

Raivis Bičevskis, Prof. Dr. phil. geboren 1973, lehrt seit 2021 als Ordentlicher Professor für Philosophische Anthropologie in Riga. Veröffentlichungen zur Philosophie des 18., 19. und 20. Jahrhunderts und deutsch-baltischen Kulturbeziehungen. Bastian Brombach MA, studierte Geschichte, Politik und Verwal­ tungswissenschaften in Hannover und Potsdam, arbeitet zurzeit an einem Dissertationsprojekt zu baltischen Bildungsnetzwerken, war ein Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für allgemeine Geschichte der Frü­ hen Neuzeit an der Universität Potsdam. 2019 erhielt er den ersten Platz des Dietrich-A.-Löber-Preises der Deutsch-Baltischen Gesell­ schaft, arbeitete im Projekt „Corpus Inscriptorum Vitebergense“, die akademischen Interessen betreffen, über die Geschichte des Ostsee­ raums, insb. über baltische Geschichte, Allgemeine Geschichte der Frühen Neuzeit und Bildungs- und Universitätsgeschichte. Publika­ tionen: Peregrinatio academica livoniensis: Zur Mobilität und sozia­ len Herkunft livländischer Studenten 1500-1560, in: Deutsch-Balti­ sches Jahrbuch, 67 (2019), S. 18-34; gemeinsam mit Raivis Bičevskis: „Kulturpolitik und Wissenstransfer am Herderinstitut zu Riga? Ein Beitrag zur intellektuellen Geschichte des Baltikums in den 1920er und 1930er Jahren“, in: Forschungen zur baltischen Geschichte 14 (2019), S. 136-156. Paola L. Coriando, geb. 1969 in Genua, hat Philosophie und Ger­ manistik in Genua und Freiburg i. Br. studiert, wo sie 1997 bei Friedrich-Wilhelm v. Herrmann promovierte und sich 2001 habili­ tierte. Sie beschäftigt sich mit Themen der klassischen Metaphysik und Ontologie (besonders Aristoteles, Descartes, Leibniz), der Phä­ nomenologie und Hermeneutik (Husserl, Heidegger) sowie mit dem Verhältnis von Philosophie und Literatur. Seit 2009 ist sie an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck tätig.

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Professor Dr. Rainer Enskat. Studium an den Universitäten Hamburg, Marburg und Göttingen; Promotion an der Universität Göttingen; Habilitation an der Universität Freiburg i. Br.; seit 1984 Professor an der Universität Heidelberg; seit 1992 Professor an der Universität Halle; seit 2008 entpflichtet. Schwerpunkte seiner Arbeit bilden Erkenntnistheorie, Philosophie der Aufklärung, Praktische Philoso­ phie, Philosophie der Neuzeit, insbesondere Kants Philosophie. Zu seinen wichtigsten Publikationen gehören zahlreiche Artikel und Abhandlungen zu diesen Themen sowie die Monographien: Kants Theorie des geometrischen Gegenstandes (1976); Wahrheit und Ent­ deckung. Logische und erkenntnistheoretische Untersuchungen über Aussagen und Aussagenkontexte (1986); Die Hegelsche Theorie des praktischen Bewußtseins (1986); Authentisches Wissen. Prolegomena zur Erkenntnistheorie in praktischer Hinsicht (2005); Bedingungen der Aufklärung. Philosophische Untersuchungen zu einer Aufgabe der Urteilskraft (2008); Urteil und Erfahrung. Kants Theorie der Erfahrung. Erster Teil (2015). François Jaran (Montréal, 1976) studierte Philosophie in Montreal. 2006 erfolgte die Promotion (zum Entwurf einer Metaphysik des Daseins bei Heidegger). Zwischen 2006 und 2011 forschte er zur Phi­ losophie, und zwar in Paris (SSHRC) und München (A.-v.-HumboldtStiftung). Zwischen 2011 und 2019 lehrte er in Valencia (Spanien) und seit 2019 lehrt er an der Universidad Complutense de Madrid. Bücher: El animal artificial (2021), La huella del pasado. Hacia una ontología de la realidad histórica (2019), The Heidegger Concordance (mit C. Perrin, 2013), Phénoménologies de l’histoire (2013), Heidegger inédit 1929-1930 (2012), La métaphysique du Dasein 1927-1930 (2010); El proyecto de una antropología fenomenológica (Hsg., 2021), De la metafísica a la antropología. Reinterpretando el dualismo de Descartes (Hsg., 2014). Richard Kūlis, Dr., Prof. em. Seit 1994. Von 1999 bis 2015 Profes­ sor für Geschichte der Philosophie an der Universität Lettlands in Riga und Leiter der Abteilung für Philosophie an der Universität Lett­ lands, Übersetzer der Werke von Immanuel Kant (3 Kritiken u. a.), Ludwig Feuerbach, Edmund Husserl, Jürgen Habermas, Karl Rahner, Max Weber, Wilhelm Dilthey und Martin Heidegger (“Holzwege” 1998) ins Lettische. 2000 war er Gastforscher am Institut für Wis­ senschaften vom Menschen in Wien. Forschungsfelder sind Kultur­

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Die Autorinnen und Autoren

theorien und Kulturgeschichtsschreibung, Phänomenologie, Herme­ neutik, die Beziehungen zwischen Philosophie und Theologie, Sozialen Philosophie. Hat unter anderem publiziert: Reflections on the Everlasting and the Transient or the Road to the Freed of Light. In: Analecta Husserliana, vol. 67, Kluwer Academic Publishers, Dor­ drecht, Boston, London, 2000, pp. 243–257; Kant und Rahner. Karl Rahners und Immanuel Kants geteiltes Schicksal der westlichen Rationalität. In: Die Grenze des Menschen ist göttlich. Parerga Verlag, Berlin, 2007, S. 283-301. Manuela Massa geboren 1986 in Neapel studierte Philosophie und Geschichte der Philosophie in Rom und Halle (Saale). 2018 wurde sie an der Martin-Luther-Universität in Halle (Saale) mit einer Arbeit über Sprache, Ethik und Leben bei Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein promoviert. Sie arbeitete zunächst als wissenschaftliche Hilfskraft an der Universität Halle und dann als DOC-Stipendiatin der Landesgraduiertenförderung Sachsen-Anhalt. 2017 war sie im Rahmen ihrer Dissertation und ihres DAAD-Stipendiums vom Hus­ serl-Archiv in Leuven zu einem Forschungsaufenthalt eingeladen. 2018 erhielt sie ein Abschlussstipendium bei der FAZIT Stiftung. Derzeit ist sie wissenschaftliches Mitglied der Martin-HeideggerGesellschaft, Dozentin am Seminar für Philosophie der Universität Leuphana, und Humboldt/ JSPS Stipendiatin an der Universität Oka­ yama. Dr. Klaus Neugebauer studierte Philosophie und Germanistik in Köln, Freiburg im Breisgau und Münster. Seine wichtigsten philoso­ phischen Lehrer waren (in zeitlicher Reihenfolge) Ingeborg Schüßler, Karl-Heinz Volkmann-Schluck, Fr.-W. von Herrmann und überhaupt die Freiburger Phänomenologie. Nach der Promotion über Adalbert Stifter 30 Jahre Tätigkeit in der eigenen Agentur für Öffentlichkeits­ arbeit. Danach Bücher über den Wahrheitsbegriff bei Heidegger und Husserl, über Pablo Picasso, über die Medialität der Medien. Mitglied in der Martin-Heidegger-Gesellschaft seit 1992, seit 2015 deren 2. Vorsitzender. Lehrbeauftragter an den Universitäten Dresden, Köln, Stuttgart und Ludwigsburg. Am vorliegenden Band durch Korrektur­ arbeiten beteiligt.

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Günther Neumann, Prof. phil. h.c., studierte zunächst Physik an der Universität Erlangen-Nürnberg (Diss. in Mathematik 1986), später Philosophie, Germanistik, Soziologie und Theologie an der Universität Freiburg i. Br. (Diss. über Husserl und Heidegger 1998). Er war Stipendiat in Mathematik am Massachusetts Institute of Tech­ nology (USA), arbeitete mehrere Jahre als Physiker bei der Fraunho­ fer-Gesellschaft und war Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie der TU Dresden. Er ist Mitherausgeber der »Heidegger Studies« und ist im Wissenschaftlichen Beirat des »Heidegger-Jahrbuchs«. Ein Schwerpunkt seiner Tätigkeit ist die Mitarbeit an der Herausgabe des Heidegger-Nachlasses (u. a. der umfangreichen Bände 62, 80 und 84 der Martin Heidegger Gesamtausgabe). Zahlreiche Buch- und Aufsatz­ veröffentlichungen erfolgten auf den Gebieten der Phänomenologie (u. a. Husserl, Heidegger, Merleau-Ponty), der Naturphilosophie (Natur-, Raum- und Zeitbegriff; Begriff des Lebendigen), der antiken und neuzeitlichen Philosophie (insbes. Leibniz), der Metaphysik und Ethik, aber auch auf einem weiten Feld der Physik, Technologie und Mathematik. Matteo Pietropaoli (Rom 1985), Doktor der Philosophie an der Uni­ versität Rom „Sapienza“. Im Jahr 2018 erlangte er die staatliche wissenschaftliche Qualifikation zum außerordentlichen Professor für Theoretische Philosophie. Während seiner Forschungstätigkeit ver­ brachte er Stationen an der Sorbonne Université de Paris, der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg und der Ruprecht-Karls-Uni­ versität Heidelberg. Autor zahlreicher Aufsätze in wissenschaftlichen Zeitschriften, sowie von Büchern und Übersetzungen, arbeitete er von 2018 bis 2021 als gesetzgeberischer politischer Berater für das Ministerium für Bildung, Universität und Forschung (Prof. Lorenzo Fioramonti als Minister) und die Abgeordnetenkammer. Derzeit lehrt er Politische Soziologie an der Link Campus Universität Rom. Seine neuesten Werke sind Nietzsche e Heidegger come educatori. Al di là del mondo vero e di quello parvente (Morcelliana 2023) und Individualism and the Rise of Egosystems. The Extinction Society (Palgrave Macmil­ lan 2023).

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Die Autorinnen und Autoren

Hans Ruin, Professor für Philosophie, Universität Södertörn (Stock­ holm). Mitglied des Vorstands von Studia Heideggeriana, Bulletin Heideggerien, Danish Journal for Philosophy, Sats, Jahrbuch für Hermeneutische Philosophie und Mitherausgeber von Södertörn Philosophical Studies und Die gesammelten Werke Nietzsche in schwedischer Sprache. Ausgewählte veröffentlichte Bücher: Enigma­ tic Origins. Tracing the Theme of historicity through Heidegger’s works (1994), Freiheit, Endlichkeit, Geschichtlichkeit. Essays zu Heideggers Philosophie (auf Schwedisch, 2013), Being with the Dead. Burial, Ancestral Politics and the Roots of Historical Conscious­ ness (Stanford UP, 2019), Reduktion und Reflexion. Einführung in Husserls Phänomenologie (auf Schwedisch, 2020), Im Schatten der Vernunft. Essays zur Philosophie Nietzsches (auf Schwedisch, 2021). Harald Seubert, Prof. Dr. phil. habil., geboren 1967, lehrt nach Statio­ nen u.a. in Halle/Saale, München, Bamberg und Poznan seit 2012 als Ordentlicher Professor für Philosophie und Religionswissenschaften in Basel. Seit 2016 ist er Vorsitzender des Vorstands der Internatio­ nalen Martin-Heidegger-Gesellschaft, zahlreiche Buch- und Aufsatz­ veröffentlichungen. Stekeler-Weithofer, Pirmin, *1952, Gründungsprofessor für Theore­ tische Philosophie an der Universität Leipzig seit 1992, 2008-2015 Präsident der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leip­ zig, dort seit 2016 Sprecher der Kommission für Wissenschaftsge­ schichte. Arbeitsschwerpunkte: Logik und Philosophie der Sprache und der mathematischen Wissenschaften, systematische Wissensphi­ losophie bei Heraklit, Platon, Leibniz, Kant, Hegel, Wittgenstein und Heidegger. [email protected]

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