Hegelsche Dialektik 9783110833522, 9783110018394

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Hegelsche Dialektik
 9783110833522, 9783110018394

Table of contents :
Einleitung
1. Gegenstand
2. Bedeutung
3. Schicksal der Hegelerklärung
3.1 Die dialektischen Materialisten
3.2 Der dialektische Idealismus
3.3 Die Kritik der formalen Logiker
3.4 Die Althegelianer und die späteren Interpreten
4. Einteilung
Kapitel I: Dialektik
§ 1 Reale Dialektik
1.1 Einheit und Hauptthema der Dialektik
1.2 Die negative Dialektik
1.3 Die Voraussetzung der dialektischen Methode: die idealistische Individuation
§ 2 Positive Dialektik
2.1 Die Hegelsche Dialektik und ihre Vorgeschichte
2.2 Vom subjektiven zum objektiven Idealismus
2.3 Die Reflexion-in-sich als das Wesen der Selbstbewegung
§ 3 Der Gegenstand der dialektischen Philosophie
3.1 Der Ausgangspunkt der Philosophie und die Dialektik
3.2 Die „Seele“ der dialektischen Bewegung
3.3 Das Ziel der dialektischen Methode
Kapitel II: Dialektik und Metaphysik
§ 1 Die „Metaphysik“, eine Wissenschaft
1.1 „Metaphysik“
1.2 Die Logik ist eine Metaphysik
1.3 Das ganze Hegelsche System ist eine Metaphysik
§ 2 Die metaphysische Methode im allgemeinen
2.1 Die positiven Elemente der verstandesmetaphysischen Methode
2.2 Die Kritik an der verstandesmetaphysischen Methode
§ 3 Spinoza und die doppelte Negation
3.1 Determinatio est negatio
3.2 Positio est negatio
3.3 Negation als Widerspruch
3.4 Doppelte Negation
3.5 Ambivalenz der Position Spinozas
3.6 Die Substanz und das Denken
Kapitel III: Dialektische Metaphysik
§ 1 Die Unendlichkeit
1.1 Das Endliche und das Unendliche
1.2 Das „schlechte“ Unendliche
1.3 Die wahre Unendlichkeit
§ 2 Die absolute Notwendigkeit
2.1 Zufälligkeit und Notwendigkeit
2.2 Die absolute Wirklichkeit
2.3 Substantialität und Kausalität
§ 3 Sein ist Denken
3.1 Der Inbegriff aller Realitäten
3.2 Die Idee des Lebens
3.3 Teleologie
Zusammenfassung
Nachwort: Hegelsche Dialektik und heutige Problematik
1. Analytik und Dialektik
2. Die Aufhebung der Hegelschen Dialektik
2.1 Erste Umkehrung
2.2 Zweite Umkehrung
2.3 Dritte Umkehrung
2.4 Vierte Umkehrung
Erklärungen zu den Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Personenverzeichnis

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Sarlemijn · Hegeische Dialektik

w DE

G

Andries Sarlemijn

Hegelsche Dialektik

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1971

ISBN 3 11 001839 Χ ©

1971 by Walter de Gruyter & C o . , vormals G . J . Gösdien'sche Verlagshandlung · J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J . Trübner · Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Str. 13 · Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Obersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Drude: Thormann & Goetsch, Berlin 44

Dem Η. Prof. Dr. J. Μ. Bochenski, dessen Methode für historische Untersuchungen ich folgte, den H H . Prof. Dr. L.-B. Geiger, V. Kuiper, N. Luyten, M.-D. Philippe, A.-F. Utz, P. Wyser (f), die mich in die Problematik der Philosophie einführten, sowie Frl. B. Feger, die mir in stilistischen Fragen behilflich war, und denjenigen, die mein Studium finanziell ermöglichten, spreche ich an dieser Stelle meinen aufrichtigen Dank aus.

INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung 1. 2. 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 4.

Gegenstand Bedeutung Schicksal der Hegelerklärung Die dialektischen Materialisten Der dialektische Idealismus Die Kritik der formalen Logiker Die Althegelianer und die späteren Interpreten Einteilung

1 2 3 4 6 6 7 14

Kapitel I: Dialektik §1 1.1 1.2 1.3 §2 2.1 2.11 2.111 2.112 2.113 2.12 2.13 2.131 2.132 2.133 2.14 2.2 2.21 2.22 2.221

Reale Dialektik Einheit und Hauptthema der Dialektik Die negative Dialektik Die Voraussetzung der dialektischen Methode: die idealistische Individuation

16 16 19 25

Positive Dialektik Die Hegelsdie Dialektik und ihre Vorgesdiidite „Dialektik", „Dialektiker" Herakleitos und die Eleaten Piaton und die Sophisten Von Aristoteles zu Kant Kritik, Sophistik, Dialektik Der Seinskreis, die abstrakteste Form der Dialektik Technische Beschreibung Die Voraussetzungen Die Deutung Die idealistische „Auslegung" des Absoluten Vom subjektiven zum objektiven Idealismus Subjekt-K-F-H Die Auseinandersetzung mit Kant Der „Anstoß von außen" und die Immanenz

31 31 31 32 34 39 41 49 49 50 52 55 58 58 60 60

VIII

Inhaltsverzeichnis

2.222 Die Methode, das Unbedingte zu erkennen 2.2221 Kants Kritik an der Metaphysik 2.2222 Dialektischer Schein 2.2223 Bedeutung der kritischen Philosophie 2.23 Die Auseinandersetzung mit Fichte 2.231 Die Identität in der Wissenschaftslehre 2.232 Identität und Trennung in der Hegeischen Dialektik . . . . 2.2321 Identität und Trennung in der Subjektseite-H 2.2322 Identität und Trennung in der Objektseite-H 2.3 Die Reflexion-in-sich als das Wesen der Selbstbewegung . 2.31 Die Ausdrücke „Selbstbewegung" und „Reflexion-in-sich" 2.32 Die Reflexionsbestimmungen 2.33 Die Reflexion-in-sich als die Natur des absoluten Wesens und als Wesen der dialektischen Methode §3 Der Gegenstand der dialektischen Philosophie 3.1 Der Ausgangspunkt der Philosophie und die Dialektik . . 3.2 Die „Seele" der dialektischen Bewegung 3.21 Die Möglichkeit einer dialektischen Logik Erste Deutung: Die Hegeischen Widersprüche sind objektiv Zweite Deutung: Veränderung der Forderung der Widerspruchsfreiheit Dritte Deutung: Keine Einschränkung der Widerspruchsfreiheit 3.22 Die Hegeische Widerspruchstheorie 3.221 Das daseiende KpNp 3.222 Die Aufhebung 3.2221 Die logische Aufhebung 3.2222 Räumlidie und zeitliche Aufhebung 3.2223 Das widerspruchslos Ganze 3.223 Die widerspruchsfreie Verstandeserkenntnis 3.2231 Menschlicher und absoluter Verstand 3.2232 Dialektik und Tatsachenerkenntnis 3.2233 Dialektik und Naturwissenschaft 3.2234 Dialektik und formale Logik: Wahrheit und Richtigkeit 3.2235 Die Dialektik und ihre Begründung 3.2236 Ex falso sequitur quodlibet 3.3 Das Ziel der dialektischen Methode 3.31 Das System 3.32 Die Entwicklung des Absoluten und die Entwicklung des Systems

62 62 64 66 69 69 70 71 72 72 72 73 78 80 80 81 81 82 88 89 95 95 98 98 100 102 103 103 106 106 107 111 112 113 113 115

Inhaltsverzeichnis Kapitel II: Dialektik und Metaphysik §1 Die „Metaphysik", eine Wissenschaft 1.1 „Metaphysik" 1.2 Die Logik ist eine Metaphysik 1.21 Der metaphysische Inhalt der Logik 1.22 Warum nennt Hegel seine Metaphysik eine Logik? 1.221 Der Einfluß von Kant 1.222 „Logik" — „Logos" 1.223 Das Metaphysische ist logisch 1.224 Die „Aufhebung" der Seinsmetaphysik in die Logik . . . . 1.225 Entmythologisierung der Metaphysik 1.23 Tritt die dialektische Metaphysik an die Stelle der formalen Logik? 1.231 „Gewöhnliche Logik" 1.232 „Formale Logik" 1.233 Die Hegeische Logik ist eine Seinsmetaphysik und eine auf ihr beruhende Erkenntnismetaphysik 1.3 Das ganze Hegeische System ist eine Metaphysik §2 Die metaphysische Methode im allgemeinen 2.1 Die positiven Elemente der verstandesmetaphysischen Methode 2.11 Die „Verstandes-Ansicht" 2.12 Der gnoseologische Realismus 2.13 Die an-und-für-sich-seiende Idee 2.2 Die Kritik an der verstandesmetaphysischen Methode . . . . 2.21 „Das tote Produkt der Aufklärung" 2.22 Die Abhängigkeit vom Vorstellungsvermögen 2.23 Die mathematische Metaphysik 2.24 Der Dogmatismus 2.25 Die „Verstandesschlüsse" 2.26 Die eindeutige Seinsauffassung 2.27 Die Mannigfaltigkeit der Beweise §3 Spinoza und die doppelte Negation 3.1 Determinatio est negatio 3.2 Positio est negatio 3.3 Negation als Widerspruch 3.4 Doppelte Negation 3.5 Ambivalenz der Position Spinozas 3.6 Die Substanz und das Denken Kapitel III: Dialektische Metaphysik §1 Die Unendlichkeit 1.1 Das Endliche und das Unendliche

IX

120 120 123 123 124 124 125 125 126 127 128 128 129 129 130 131 131 131 132 133 133 133 135 135 137 138 139 141 142 142 142 144 145 145 146 147 147

X

Inhaltsverzeichnis 1.2 1.21 1.22 1.23 1.3 1.31 §2 2.1 2.2 2.3 2.31 2.32 2.33 §3 3.1 3.11 3.12 3.121 3.122 3.123 3.13 3.2 3.21 3.22 3.23 3.3 3.31 3.32 3.33

Das „schlechte" Unendliche Unendlichkeit als perennierendes Sollen Die dualistische Unendlichkeit Das Schlechte und Unwahre Die wahre Unendlichkeit Das Endliche ist aufgehoben Die absolute Notwendigkeit Zufälligkeit und Notwendigkeit Die absolute Wirklichkeit Substantialität und Kausalität „Die Substanz" , Das Kausalitätsverhältnis Die Aufhebung der Metaphysik Sein ist Denken Der Inbegriff aller Realitäten Der subjektive Begriff Der metaphysische Begriff Die verstandesmetaphysische Identität Die kritische Nidit-Identität Die dialektische Identität und Nicht-Identität „Die Herleitung des Reellen" Die Idee des Lebens Äußerliche Zweckmäßigkeit Innerliche Zweckmäßigkeit Der spekulative Tod Teleologie Der absolute Geist Absoluter und endlicher Geist: Freiheit Die ganze Hegeische Dialektik ist teleologisch

147 149 150 151 152 152 154 154 157 160 160 161 164 166 166 166 168 168 169 169 171 172 172 173 174 175 175 176 178

Zusammenfassung

181

Nachwort: Hegeische Dialektik und heutige Problematik

186

1. 2. 2.1 2.2 2.3 2.4

Analytik und Dialektik Die Aufhebung der Hegelsdien Dialektik Erste Umkehrung Zweite Umkehrung Dritte Umkehrung Vierte Umkehrung

Erklärungen zu den Anmerkungen Literaturverzeichnis Personenverzeichnis

186 189 189 192 193 194 197 199 204

Einleitung In Einführungen soll »das, w a s in f r ü h e m Zeitaltern den reifen Geist der

Männer

beschäftigte, zu Kentnissen, Übungen und selbst Spielen des Knabenalters herabgesunken" sein. (Hegel-Phän)

1. Gegenstand Die vorliegende Arbeit befaßt sich mit den wesentlichen Merkmalen der dialektischen Methode Hegels. Sie kann als eine Einführung in das von dem älteren Hegel entworfene Gedankengebäude gelten, denn diese Methode durchdringt sein ganzes System und stimmt mit der Form überein, die dem absoluten Geist zugeschrieben wird: Alle Seienden existieren für Hegel als ein Moment in einem durch die Kraft des Widerspruchs pulsierenden Kreislauf, der die Form des allumfassenden Ganzen bildet. Damit in Ubereinstimmung beschreibt auch der Weg der dialektischen Forschung einen Kreis. „Jeder der Teile der Philosophie ist ein philosophisches Ganzes, ein sich in sich selbst schließender Kreis, aber die philosophisdie Idee ist darin in einer besondern Bestimmtheit oder Elemente. Der einzelne Kreis durchbricht darum, weil er in sich Totalität ist, auch die Schranke seines Elements und begründet eine weitere Sphäre; das Ganze stellt sich daher als ein Kreis von Kreisen dar, deren jeder ein notwendiges Moment ist." 1

Die ineinander verwobenen („aufgehobenen") Kreisformen bilden die absolute Idee: die Wiedergabe des absoluten Geistes. Die Kreislauftheorie ist eine Erfindung des jungen Hegel. Schon in seiner Jenenser Logik und Realphilosophie (1805/06) spricht er wiederholt vom Kreis und erklärt ausführlich, wie sich Gegenwart, Vergangenheit 1

Enz. § 1 5 ; vgl. id. § 1 7 , Log. I $6, Log. II 500, $03 f. * Jen. Log. 1 4 0 ff., 1 5 4 f., 1 6 1 ff., 168, 1 7 1 , 1 7 5 , 1 7 8 , 1 8 1 , I8J;

Realphil. 1 9 , 29.

Einleitung

2

und Zukunft im Kreislauf der Zeit vereinigen4. Noch größere Bedeutung mißt er später der Theorie der universellen Rotation zu; in seinen Hauptwerken erhebt er sie zur einzigen Methode und zum zentralen Thema seines Systems. Sie tritt dann in jeder einzelnen Betrachtung hervor, verbindet diese mit der vorhergegangenen und mit der nachfolgenden, so daß jede Argumentation zu einem untrennbaren Teil des minutiös ausgedachten Gedankengebildes wird. Obwohl sich das ganze System nach der dialektischen Form richtet, wird diese nicht explizit auf jeder Seite seiner Arbeiten zum Ausdruck gebracht; dies hätte die Lektüre seiner Schriften bedeutend erleichtert. Doch Hegel fügte sich der Mode seiner Zeit, die die Tiefe eines Denkers nach seiner komplizierten Ausdrucksweise bewertete3. Als gutes Beispiel hierfür gilt die Vorrede zur Phänomenologie, die nur nach vielem dialektischem Denktraining verständlich wird. Außer diesen stilistischen Gründen hat auch die mit der Kreislaufmethode zu lösende weitverzweigte Problematik Hegel dazu gezwungen, andere Termini zu verwenden wie: „Rückkehr-in-sich", „Reflexion-insich", „Selbstbestimmung", „Selbstbewegung", „rückwärtsgehende Begründung", „absoluter Gegenstoß", „absolute Negation", „Negation der Negation", „Umbeugung", „Selbsterhaltung", „Auf-sich-bezogen-Sein", „das sich Widersprechende, das sich auflöst" usw. Diese verschiedenen Ausdrücke heben einen spezifischen Aspekt des gleichen Grundgedankens hervor. Jeder besagt auf seine Art, daß auf Grund des Widerspruchs alle Elemente der totalen Wirklichkeit bloße Momente einer allumfassenden Kreisbewegung sind, und daß dementsprechend die dialektische Forschung immer wieder zum gleichen Punkt zurückkehrt. Dieser Grundgedanke ist Gegenstand unserer Analyse.

2. Bedeutung Die Wichtigkeit dieser Untersuchung benötigt keine ausführliche Erklärung. Haben Hegels Widerspruchslehre und Idealismus nicht unter den größten Denkern leidenschaftliche Begeisterung und ebensolche Ablehnung hervorgerufen? Hegels entscheidender Einfluß auf den weiteren Verlauf des abendländischen Denkens ist allgemein anerkannt. Schon der philosophisch wenig Geschulte weiß, daß Hegel als der Vorläufer der sowjetischen sowie der marxistischen Philosophie überhaupt gilt. Nach der Feststellung von Karl Marx entlehnte jeder deutsche Denker seit Hegel s

Vgl. E. v. Hartmann 1 1 9 .

Schicksal der Hegelerklärung

3

dessen Riesensystem ein Element, um es dem Ursprung selbst und audi den von den anderen Posthegelianern hervorgehobenen Elementen gegenüberzustellen4. An dieser Situation hat sich inzwischen wenig geändert. Die Sowjetphilosophie, der marxistische und nichtmarxistische Existentialismus, der Intuitivismus Nikolas Losskys, die Philosophie der Problembestände Nicolai Hartmanns, die sog. „Gott ist tot"-Theorien, die gesellschaftskritische Theorie usw. sind nur Formen desselben Bestrebens, die Größe Hegels zu bewundern und sich gleichzeitig haushoch über ihn erhaben zu fühlen. A. Kojeve geht so weit, alle Philosophen des letzten Jahrhunderts als Links- oder Rechtshegelianer zu bezeichnen. Zur adäquaten Beurteilung dieser „Ismen" kann sich der Historiker vom Studium des Hegeischen Systems nicht dispensieren, weil dieses die Inhalte aller nachfolgenden philosophischen Spekulationen schon in einer synthetischen Einheit vorweggenommen hat. Mit der Kreislauftheorie begründet Hegel die untrennbare Einheit zwischen dem absoluten Subjekt und seinem Gegenstand. Diese wird im marxistischen Existentialismus von Jean-Paul Sartre auf eine anthropozentrische Ebene verschoben5. Demgegenüber erklärt der dialektische Widerspruch im kosmozentrischen Hegelianismus der sowjetischen Denker den allgemeinen Zusammenhang aller Erscheinungen und Prozesse. Auch diese These hat Hegel schon in seine Kreisbewegungslehre integriert. Selbst die gesellschaftskritische „negative Dialektik" Th. W. Adornos läßt sich nur mit Ausführungen über Hegels dialektische Denkbilder erklären. Die „Problemaufrollung", der zentrale Begriff Nicolai Hartmanns, bleibt ohne Einsicht in die Hegeische Methode undurchsichtig und wäre ohne sie vielleicht nie erdacht worden. Auch der Unterschied zwischen Kennen und Erkennen im Intuitivismus geht auf die Hegeische Spekulation über die Unmittelbarkeit und die Vermittlung — beides Kategorien der Kreisbewegung — zurück®.

3. Schicksal der Hegelerklärung Bedenkt man die Wichtigkeit der Kreisbewegungslehre, so mag es überraschen, daß sie jetzt, zweihundert Jahre nach der Geburt ihres 4 5

β

M a r x 19. Sartre 1 0 1 : „ S i l'on se refuse ä voire le mouvement dialectique originel dans l'individu et dans son entreprise de produire sa vie, de s'objectiver, il faudra renoncer ä la dialectique ou en faire la loi immanente de l'Histoire." Lossky 7 0 ff.

Einleitung

4

Urhebers, noch zum Thema gewählt werden muß. Sollte sie nicht schon längst erschöpfend behandelt sein? Das Versäumnis, die zum Wesen der Dialektik gehörenden Bestandteile zu synthetisieren, wirkte sich auf die Erklärung des Hegeischen Gedankenguts verhängnisvoll aus. Immer brachte man eines dieser Elemente in Mißkredit, so daß seine Methode als solche eher fragwürdig als durchsichtig wurde. Ein „dialektischer Vorgang" impliziert eine Komplexität; für Hegel besagt er eine auf dem Widerspruch und dessen Auflösung beruhende Kreisbewegung, die ontologisch dem alles umfassenden Subjekt zugeschrieben oder methodologisch für die Denkweise gehalten wird, die Einsicht in die Natur des Absoluten vermittelt. Die dialektische Methode fordert also dreierlei: a) die Kreisbewegung, b) den Widerspruch und seine Aufhebung und c) den Hegelschen Idealismus. Ohne ihre Einheit verlieren diese Elemente ihren Sinn und werden wehrlos der Kritik ausgeliefert. Von der Widerspruchstheorie getrennt, bleiben Kreisbewegung und Idealismus für den dialektischen Materialisten unverständlich; der formale Logiker kann in der isoliert betrachteten Widersprudistheorie nur Absurditäten sehen. J.I Die dialektischen Materialisten Die ontologisch-imanentistischen Tendenzen im Hegeischen System begeisterten Ludwig Feuerbach, bekanntlich einen der Vorläufer des dialektischen Materialismus. Er bewertete die Dialektik jedoch wegen ihrer idealistischen Implikationen negativ7. Karl Marx machte ihm diese Stellungnahme zum Vorwurf; er wollte den revolutionären Aspekt der Methode, den dialektischen Widerspruch, unbedingt beibehalten und allein Hegels ontologischen Idealismus in Verruf bringen. Friedrich Engels, Franz Mehring, Josef Dietzgen, Georgij Plechanov und Vladimir Il'ic Lenin waren überzeugt, den Materialismus mit der Widersprudistheorie neu begründen zu können; sie achteten jedoch wenig auf die Einheit zwischen der Widersprudistheorie und dem Idealismus Hegels. In seinen Philosophischen Heften versucht Lenin zwar, die materialistische Dialektik gegen die idealistische abzugrenzen und die Kreisbewegungslehre von ihren objektiv-idealistischen Voraussetzungen zu befreien8, aber auch 7

8

Feuerbadi I 222 f.: „Das Geheimnis aber der spekulativen Philosophie (ist) die Theologie, die spekulative Theologie, welche sich dadurch von der gemeinen unterscheidet, daß sie das von dieser aus Furcht und Unverstand in das Jenseits entfernte göttliche Wesen ins Diesseits versetzt, d. h. vergegenwärtigt, bestimmt, realisiert Feuerbach II 426: . . . Lenin 3 2 1 — 3 2 2 ( = 288—289).

Die dialektischen Materialisten

5

für ihn wurde der Gegensatz problematisch, die Grenzen zwischen Materialismus und Idealismus undeutlich®. Manchmal schreibt er sogar, daß ihm die Methode und das Gedankengut Hegels materialistisch erscheinen10. Hegel selbst bemühte sich mit seiner Methode nachzuweisen, daß sich alles in ein absolutes Subjekt, den absoluten Geist, aufhebt. Deshalb hält Gustav Wetter den Versuch, mit der gleichen Methode einen Materialismus zu begründen, für unmöglich11. Trotzdem bleiben die Sowjets bei ihrer „materialistischen Umgestaltung"12 der Hegeischen Dialektik, ohne anzuerkennen, daß diese Umgestaltung eine qualitative Abänderung zur Folge hat und daß die umgestaltete Methode einer neuen Erklärung und Begründung bedarf. Das dogmatisch aufgefaßte Urteil der „Klassiker" über den „Materialismus" der Hegeischen Methode macht eine objektive Untersuchung des Verhältnisses zwischen Hegels Methode und Idealismus in der Sowjetunion undenkbar. Implizit gibt nur R. O. Gropp den Idealismus der Hegeischen Methode zu: In seinem in der Zeitschrift Fragen der Philosophie publizierten Artikel weist er darauf hin, daß man leicht in einen Idealismus verfalle, wenn Hegels Methode allzu sklavisch gefolgt werde". Charakteristisch für die sowjetische Hegel-Deutung ist S. A. £firovs Arbeit Von Hegel ... zu, Gennaro. Nach diesem Autor läßt die Hegeische Methode nur zwei folgerichtige Interpretationen zu: Man kann sie entweder mit den Sowjets dialektisch-materialistisch oder mit E. Gennaro idealistisch-solipsistisch deuten14. Bekanntlich hält Hegel eine andere Position für folgerichtig. Die Sowjets werden erst dann ein Klima für eine adäquatere HegelErklärung schaffen, wenn sie anerkennen, aus der ganzen Hegeischen 9 10 11 12 13 14

Lenin 90 ( = 17), 172 f. ( = 110 f.), 197 ( = 13 8 )· Lenin 182 f. ( = 120), 250 ( = 214 f.), 275 ( = 240). Vgl. Wetter I und II 70, 116, 118, 130. Vgl. Bochenski I und II 86—99, sowie IV 19—26. Gropp ( i j i ) richtet seine Anschuldigung besonders gegen Ε. P. Sitkovskij. £firov 26 ff. — Ebenso charakteristisch für die sowjetphilosophische Hegeldeutung sind die Arbeiten von Gulian und Ovsjannikov. Erster er sdireibt (II 72 j): „Kak uze ukazyvalos', ν raznych castjach gegelevskidi trudov my obnaruzili izmenjajuSceesja sootnosenie mezdu itimi dvumja storonami, protivorecie mezdu metodom i sistemoj". (Wie schon bemerkt, entdeckten wir in den verschiedenen Teilen der Hegeischen Arbeiten das zerbröckelnde Verhältnis zwischen der Methode und dem System.") Ovsjannikov bemerkt (284): „Filosofija gegelja, kak £to vidno iz vsego predsestvujuScego iszlozenija, stradaet vnutrennej protivorecivost'ju. Ona zakljucaetsja ν soedinii protivopoloznych, kak by iskljucajusiich druk druka storon — revoljuzionnogo metoda i konservativnoj sistemy." (Die Hegeische Philosophie krankt — wie dies aus der gesamten vorhergehenden Darlegung klar wird — an einem inneren Widerspruch. Sie umfaßt in einer Einheit die entgegengesetzten, einander ausschließenden Seiten: eine revolutionäre Methode und ein konservatives System".)

6

Einleitung

Methode nur ein Element, nämlich den dialektischen Widersprudi, übernommen zu haben. 3.2 Der dialektische Idealismus Immanuel Fichte und Christian Weisse teilen mit den dialektischen Materialisten die Bewunderung für Hegels Methode, wählen jedoch die entgegengesetzte Richtung und versuchen, Hegels Idealismus zu übertreffen. Weisse entdeckt einen Widerspruch zwischen der Genialität der Methode und der trostlosen „Kahlheit" ihrer Resultate15. Es stört ihn, daß bei Hegel die Individualität in die Allgemeinheit aufgehoben und die Transzendenz geleugnet wird. Er lehnt die Hypostatisierung der Begriffe grundsätzlich ab und fordert den freien Schöpfungsakt eines transzendenten Wesens16. Fichte sieht in Hegels Annahme eines daseienden Widerspruchs dessen Grundirrtum. Widersprüche kann es allein in der Sphäre des subjektiv-dialektischen Denkens geben; in der Wirklichkeit hingegen soll ausschließlich die alle Gegensätze überwindende Liebe als Quelle jeder Entwicklung akzeptiert werden17. Schon Trendelenburg und Haring kritisierten derartige Versuche, die Hegeische Methode von derem Idealismus zu trennen18. Es ist wirklich eine verwunderliche Tatsache, daß man dem Weg der Hegeischen Forschung („Methode") folgen und seine Resultate ablehnen will. Da Hegel seine Methode mit der Form seines Systems gleichstellt — er lehnt eine gesonderte Methodologie ausdrücklich ab —, sind seine Dialektik und sein Idealismus untrennbar miteinander verbunden. Wenn man dem von ihm gegangenen Weg (Methodos) folgt, kann man seinen Idealismus nicht ablehnen, ohne diesen Weg selbst zu verlassen, d. h. ohne zumindest auf ein Element oder auf einen Aspekt der Hegeischen Methode zu verzichten. 3.3 Die Kritik der formalen Logiker Adolf Trendelenburg versucht in seinen Logischen Untersuchungen (1840) und in seiner Artikelserie Die logische Frage in Hegel's System (1842/43), die Unhaltbarkeit der dialektischen Methode nachzuweisen. 15 18 17

19

Vgl. A . Hartmann. Weisse II 36 ff. — Vgl. audi I 143 ff. I. H . Fichte I 308: „Nicht der Widerspruch, sondern der unendlich überwundene Gegensatz, das sich ergänzende Suchen und Finden, die Liebe, ist der innere Puls der Welt." — I. H . Fidite II 29: Hegels daseiender Widerspruch „ist sein Irrtum, aus welchem sich alle andern Irrtümer im Einzelnen ebenso folgerecht herleiten lassen". Trendelenburg III 7 — Haring 100.

Die Althegelianer und die späteren Interpreten

7

Dabei beruft er sich auf die Psychologie und auf die formale Logik. Hegels Dialektik setzt reines Denken voraus. Trendelenburg nun lehnt die Möglichkeit einer solchen Denkweise ab, da alle Gedanken irgendwie auf das Vorstellungsvermögen zurückgreifen19. In Friedrich Uberwegs Arbeit System der Logik und Geschichte der logischen Lehren (1857) findet Trendelenburgs Kritik begeisterten Beifall 20 . Eduard von Hartmann will in seiner Abhandlung Über die dialektische Methode, historisch-kritische Untersudoungen (1868) glaubhaft machen, daß Hegels Methodologie nicht nur das verständliche, sondern jedes — also auch das dialektische — Denken ausschließt". Das Resultat der Arbeit Über den Satz des Widerspruchs und die Bedeutung der Negation (1881) von dem dänischen Autor J . J . Borelius stimmt mit dem Standpunkt Eduard von Hartmanns überein. Nach ihm hat Hegel das Widerspruchsprinzip falsch verstanden22. In ihrem Aufsatz Hegel als Logiker (1968) folgt Magdalena Aebi der Linie der genannten Autoren. Obwohl diese Autoren die positive Erklärung der Hegeischen Dialektik vernachlässigten — E. von Hartmann widmet ihr nur drei Seiten —, nehmen sie einen wichtigen Platz in der Geschichte der Hegel-Deutung ein: Mit ihrer Kritik zeigen sie nämlich, daß mehrere Punkte des Systems näherer Erörterung bedürfen. 3.4 Die Althegelianer und die späteren

Interpreten

Als Hegel am 14. November 1831 in Berlin starb, hatte sein System den Höhepunkt seiner Glorie erreicht. Es war — begünstigt durch den Kultusminister von Altenstein — zur preußischen Staatsphilosophie erhoben worden". Seit 1827 hatten die Jahrbücher für wissenscbaßliche Kritik Hegels Gedankengut verbreitet. Gleich nach seinem Tod schlossen sich mehrere seiner Freunde, unter anderem Ph. Marheineke, J . P. Schulze, E. Gans, L. v. Henning, H . Hotho, C. L. Michelet und F. Forster, zusammen, um eine vollständige Ausgabe der Werke herauszugeben. Außerdem verteidigten und verbreiteten Georg Gabler — Hegels Nachfolger an der Berliner Universität —, der Heidelberger Theologe Karl Daub sowie Johann Erdmann und Johann Karl Rosenkranz, beide Philosophieprofessoren in Halle, mit ihren Werken den Hegelianismus. 19 20 21 22 23

Trendelenburg I I I 1 2 ff. — Vgl. audi I 125. Überweg 204, 2 1 8 . E. v. Hartmann 4 1 . Vgl. unser Kap. I § 3 . 2 1 , 1. Deutung, C. Vgl. Michelet (Vorrede Seite V I I I ) .

8

Einleitung

Die Situation änderte sich jedoch rasch. Das System wurde durch die formalen Logiker vom wissenschaftlichen, durch die Juli-Revolution vom politischen, und durch das Auftreten der Linkshegelianer — Bauer, Rüge, Strauss und Feuerbach — vom religiösen Standpunkt aus in Mißkredit gebracht. Eichhorn, von Altensteins Nachfolger, rief den alten Schelling nach Berlin. Dessen Einfluß und Otto Liebmanns Motto: „Es muß auf Kant zurückgegangen werden!" untergruben für längere Zeit Hegels Ausstrahlung auf die deutsche Philosophie24. Um den Hegelianismus vor diesen Gefahren zu schützen, gründeten Graf Cieszkowski und Michelet am 5. Januar 1843 in Berlin die Philosophische Gesellschaft. Als Ersatz für die seit 1847 nicht mehr erscheinenden Jahrbücher rief Michelet χ 861 die Zeitschrift Der Gedanke ins Leben. Den 100. Geburtstag Hegels feierte die Gesellschaft — durch den Deutsch-Französischen Krieg um ein Jahr verzögert — mit der Enthüllung eines Hegel-Denkmals. Von dem für diesen Zweck gesammelten Geld blieb noch eine Summe übrig, die es der Gesellschaft ermöglichte, eine Prämie für die beste Darstellung der Hegeischen Dialektik auszuschreiben. Nach 18 Monaten war noch keine Abhandlung eingegangen; der Preis wurde erhöht und der Einsendetermin um zwei Jahre verlängert. 1885 waren drei Einsendungen, davon zwei Widerlegungen des Hegeischen Systems, eingegangen. Die Philosophische Gesellschaft hielt jedoch keine dieser Arbeiten der ausgeschriebenen Prämie für würdig. Diese Tatsachen lassen das schwindende Interesse an der Hegeischen Philosophie im damaligen Deutschland erkennen. Michelet. der mit Lasson und Friedrich das Wettbewerbskomitee gebildet hatte, wollte sein Urteil mit dem der Gesellschaft nicht identifizieren. Er kündigte seine Mitgliedschaft auf und publizierte auf eigene Verantwortung die Arbeit von Haring (1888). Sie wird auch heute noch für eine wichtige Arbeit der althegelianischen Schule gehalten. Ein Drittel dieser etwa 60 Seiten zählenden Publikation beschäftigt sich mit der Darstellung der Hegeischen Methode, davon ist über die Hälfte dem absoluten Begriff gewidmet. Im übrigen befaßt sich der Autor mit dem Verhältnis zwischen These, Antithese und Synthese. Seine Wiedergabe der Kreislauftheorie Hegels erschöpft sich in einer halbseitigen Beschreibung des nachfolgenden Schemas25. u

V g l . Harings (98 £.) Kritik an Liebmann.

25

H a r i n g 1 3 9 . M a n könnte H a r i n g vorwerfen, es w ä r e unrichtig, die dialektisdi-logisdie Bewegung, die Bewegung der reinen Gedanken, mit Kreiszeidinungen darzustellen. Den gleichen V o r w u r f könnte man auch gegen unsere Arbeit, gegen Hegels Vorstel-

D i e Althegelianer und die späteren Interpreten

9

Begriff Sein

Sein

Dasein 1

Fürsich sein.

Quantität. Quantum) Quantitatives Verhältnife.

/SpecifiÄche Beates' u)[ Quantität Mafs Werden des Wesens.

(Der Schein. DieWeW\/Exisiciu Ersehet-, heiten | nnng Der Grund. Α Wesentliches Vertültnirs.

•ai'S -.-ft

Du Ab so - Wirk-), lute, lichkeit1 Absolutes VerhälUiifs.

& UrtUcil1 Schiufa.

MechaChemisnismus mus Teleologie.

Leben

Jdeedes Erfcennens 1 g Absolute Jdee. /ό

Anders als Michelet, der eine klarere Darlegung der Hegeischen Methodologie für unmöglich hält, glauben wir, daß Harings Arbeit verschiedene Fragen offen läßt; dieselben bleiben auch in zeitgenössischen HegelDeutungen ungelöst. a) Die erste Unzulänglichkeit besteht zweifelsohne in der mangelhaften Erklärung des Hegeischen Idealismus. Harings Arbeit beginnt zwar mit der Darstellung des Begriffs, aber die Frage, wie man mit Hegels Methode in der gegebenen Realität den absoluten Begriff entdecken kann, wird nicht geklärt. Dieses Problem findet auch bei E. Coreth (1952) und /«ngiausdruck „ K r e i s " , gegen das mathematische Zeichnen u n d gegen die m a t h e m a tisch-logischen Zeichen erheben. Dieser V o r w u r f w i r d ζ. T . hinfällig durch den H i n weis, unsere Zeichnungen richtig zu deuten: D i e in ihnen zerlegten Elemente der dialektischen B e w e g u n g dürfen nicht räumlich und nicht zeitlidi getrennt a u f g e f a ß t werden.

10

Einleitung

W. Albrecht (1958) keine eindeutige Lösung. Die von Trendelenburg (1840—43) und Nicolai Hartmann (1935) geäußerte Kritik, Hegels Methode setze den Idealismus, den sie nachweisen soll, voraus, wird von ihnen nicht ausreichend berücksichtigt. Albrechts Vorwurf, Hartmann habe eine dem Hegeischen System fremde Unterscheidung zwischen der realen und der begrifflichen Dialektik verwendet, besitzt wenig Uberzeugungskraft, da er selbst zwischen dem Ausgangspunkt der Methode und ihrem Ziel nicht unterscheidet und somit die Begründung der begrifflichen Dialektik und des Hegeischen Idealismus unerörtert läßt 2 \ b) Haring behauptet, der Widerspruch beruhe auf der Einheit von These und Antithese". Dabei umgeht er die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem dialektischen und dem formalen Widerspruch. Sie bleibt auch in den modernen Darstellungen von Η . A . Ogiermann (1948), J . Hyppolite (1953) und R. Garaudy (1962) unbeantwortet. E. Coreth und Fr. G^goire (1946) vertreten in bezug auf diese Frage zwei einander entgegengesetzte Meinungen. Die Lösung dieser Problematik würde die Hegel-Forschung zweifellos einen bedeutenden Schritt vorwärtsbringen. c) Harings Schema gibt die Hegeische Kreislauftheorie nidit adäquat wieder. Die Gliederung der logischen Momente bildet für Hegel nicht nur ein Programm für die Entwicklung der dialektischen Gedanken oder ein Inhaltsverzeichnis, sondern sie bezieht sich auch auf eine sich im objektiven Sein vollziehende Bewegung. Wie ist es möglidi, daß — wie Harings Schema zum Ausdruck bringt — sich die Bewegung der absoluten Idee außerhalb des Seins vollzieht? Es ist doch unwahrscheinlich, daß sich Hegel den Kreis der wahren Unendlichkeit (ein Element im Seinskreis) außerhalb von dem des absoluten Lebens (ein Moment im Kreis der Idee) gedacht hat! Haring unterläßt es, eine Verbindung zwischen der Kreisbewegungslehre und dem Widerspruchsproblem zu suchen. Auch Coreth spricht von beiden Problemen, ohne sie in einer Synthese zu vereinigen. Es ist allgemein bekannt, daß bei Hegel die Bewegung auf dem 26

87

Albrecht 1 j ff. — Eine scharfe Kritik der Corethschen Deutung findet man bei Kruithof 290 ff. — Nie. Hartmann versucht Hegel mit einem Begriff der Dialektik zu deuten und zu kritisieren, welche überhaupt keine Beziehung zur Metaphysik und zum Idealismus hat (vgl. unser Kap. III § 2.33); nach Albrecht (9) ist die Hegeische Methode untrennbar mit dem Idealismus verbunden: Sie ist auf ihn „als wesentliche Voraussetzung angewiesen" und verliert von ihm abgelöst jeden Sinn; die Hegeische Methode hat nach unserer Deutung den extremen Realismus (in dem vom Kap. I, § 1 erklärten Sinne) zur Voraussetzung und den Idealismus (die Theorie, nach der das Absolute von einem Universalienprozeß gebildet wird, in dem es keinen Platz gibt für eine räumliche oder zeitliche Trennung) zum Ziel. Haring 138.

Die Althegelianer und die späteren Interpreten

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Widerspruch beruht. Sollte die Kreisbewegung darum nicht mit dem Widersprudi in Zusammenhang gebracht werden? Und könnten sich diese Elemente nicht gegenseitig erklären? Die Arbeit Harings wurde wahrscheinlich auf Grund dieser Unzulänglichkeiten von der Hegel-Kommission abgelehnt. Während die Philosophische Gesellschaft ihren Streit um die Anerkennung des Preises ausfocht, gab Anton Bullinger aus eigenem Antrieb seine Arbeit Hegels Lehre vom Widerspruch, Mißverständnissen gegenüber verteidigt (1884) heraus; sie war jedoch nicht imstande, den Einfluß dieser „MißVerständnisse" — gemeint sind die Angriffe Trendelenburgs und Überwegs — zu vermindern. Der Hegelianismus wurde vom Neukantianismus verdrängt, und das Interesse an Hegel schien für immer verschwunden. Der Streit für oder gegen den „deutschen Aristoteles" wurde ins Ausland verlegt. Eugen Schmitt (1888) aus Ungarn beschuldigte Michelet, unter dem Druck der formallogischen Kritik die Hegeische Widersprudistheorie verfälscht zu haben. Der dänische Philosoph Adolf Phal£n (1912) bezichtigte die anderen Althegelianer der gleichen Verfälschung. Er selbst versudit die Widerspruchstheorie mit der Kreismethode zu verbinden88. Doch wurde die Richtigkeit seiner Deutung von R. Kroner (1924) und J . Kruithof (1959) angezweifelt, weil er Hegels Ontologie auf das Erkenntnisproblem reduzierte29. In Rußland erschien 1916 die Arbeit von Iwan Iljin, die in ihrer deutschen Übersetzung von 1946 noch heute einen großen Einfluß ausübt. Iljin versucht mit seinem Kreislaufschema die Identität des Seins mit dem Denken nachzuweisen; aber auch bei ihm bleibt die Kreislauftheorie von der Widerspruchsproblematik getrennt. Der holländische Literat und Philosoph G. J . P. J . Bolland folgte zuerst der Kritik Eduard von Hartmanns, brach aber 1902 mit ihr und wurde sogar zum Vater des holländischen Hegelianismus. H. J . Betz (1905) und J . Clay (1919) versuchten daraufhin Bolland — gleichzeitig mit Hegel — zu widerlegen. Seitdem ist in Holland das Interesse an der Hegeischen Philosophie weitgehend geschwunden80. Den Auftakt der englischen Hegel-Deutung gab J . Hutchison Stirling mit seinem Buch Das Geheimnis Hegels (1865); von ihm wird gesagt, er habe das genannte Geheimnis vielleicht schon entdeckt, aber nicht ver28 29 30

Phal£n 170. Kroner 3 1 2 — Kruithof 37. Kruithof 2 5 : „Veel Boeken over H e g e l . . . zijn . . . in de Belgisdie en Nederlandse bibliotheken niet opengesneden".

12

Einleitung

raten 31 . Die Hegel-Forschung erlebte in England eine kurze Blüte, nämlich von 1880 bis 1910. Unter ihren Vertretern, E. Caird, E. Mc Gilvary, J . B. Bailie, W. T. Harris und J . Mc Taggart, ist letzterer mit seiner Arbeit über die Logik zweifellos der bedeutendste. Doch wurde seine Deutung schon von Mc Gilvary (1898) und neuerdings auch von Kruithof kritisiert32. Unter den zeitgenössischen Autoren üben W. T. Stace (1923) und G. R. G. Mure (1950) einen gewissen Einfluß aus. In Italien haben sich A. Vera (1859), A. Rosmini (1883), G. Maggiore (1924), E. de Negri (1934), L. Pelloux (1938), A. Devizzi (1939) und Fr. Chiereghin (1966) für die Erklärung der Hegeischen Dialektik eingesetzt. Ihnen allen ist die Vorliebe für den spekulativen Aspekt des Hegeischen Systems gemeinsam. In bezug auf das Widerspruchsproblem jedoch vertreten sie meist auseinandergehende und manchmal sehr verworrene Standpunkte. B. Croce (1901) und G. Gentile ( 1 9 1 3 ) haben dieses Problem außer acht gelassen und sich mehr um die Ausarbeitung einer persönlichen und neuen Form der Dialektik als um die Erklärung der Hegeischen bemüht. Das Interesse an Hegel erlebte in Deutschland seine zweite Blüte, als G. Lasson, J . Hoffmeister und H. Glockner die vollständigen Werke und H. Nohl die Jugendschriften herausgaben. Die Arbeiten von R. Kroner (1924), B. Heimann (1927), H. Marcuse (1933), G. Günther (1933), Nie. Hartmann (1929), W. Sesemann (1935), A. Dürr (1938) und H. Glockner (1936) werden auch heute noch diskutiert. Aber das Problem der Hegelschen Dialektik bekam auch in dieser Zeitspanne keine endgültige Lösung: Glockner bemühte sich mehr um seinen persönlichen Hegelianismus als um eine Hegel-Erklärung, Günther richtete seine Aufmerksamkeit nur auf den gnoseologischen Aspekt der Dialektik, Marcuse rückte die geschichtliche Seite in den Mittelpunkt, bei Heimann blieb die Widerspruchsproblematik ungelöst, Kroner verzichtete auf eine erschöpfende Analyse der Methode Hegels, während es Dürr — unter dem Einfluß von Nie. Hartmann — vermied, in der Dialektik eine Einheit zu entdecken. Nie. Hartmanns eigene Darstellung sowie auch die von Sesemann blieben durch die Vermischung von Erklärung und Kritik unklar. Ihre Einwände richteten sich besonders gegen die logische Dialektik, welche sie der phänomenologischen gegenüberstellten83. In der gleichen Situation befindet sich die von J . Wahl (1929) und 31 32 33

Mure II (Intr. page VIII). Kruithof 296. Vgl. Kap. I, § 3.21, I. Deutung, Bc.

Die Althegelianer und die späteren Interpreten

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A. Kojeve (1947) eingeleitete französische Hegel-Interpretation. Kojeve führte in seinen Vorlesungen (1933—40) Sartre, Merleau-Ponty, Fessard, Hyppolite und Queneau in die Problematik der Phänomenologie ein. Aber auch in Frankreich verdrängte die Kritik das Verlangen nach Einsicht in das System. Das Bewußtsein blieb — in Widerspruch zur Hegeischen Auffassung — „unglücklich", der Gegensatz zwischen dem menschlichen und dem absoluten Bewußtsein unüberwindbar, der Ubergang von der Phänomenologie zur Logik unannehmbar84. Gegen dieses Verfahren der französischen Schule haben Hyppolite (1933) und Garaudy (1962) scharf protestiert. Aber auch sie können einen Dualismus in ihrer Deutung nicht vermeiden; aus Anhänglichkeit an Marx verleumden sie das System und bewundern nur die Methode35. So wirkte es sich für die Hegel-Erklärung verhängnisvoll aus, daß die Einheit der Dialektik übersehen, vernachlässigt, außer Betracht gelassen oder absichtlich abgelehnt wurde. Im Hegeischen System läßt die Methode keinen Dualismus zu; auch wird in ihm der Gegensatz zwischen der phänomenologischen und logischen Dialektik überwunden. Der Widerspruch der Realität, die erste Negation, bildet den Ausgangspunkt der Phänomenologie; die Logik hingegen fängt mit dem Widerspruch der abstrakten Idealität — der zweiten Negation — an. In beiden Wissenschaften richtet sich die dialektische Forschung nach der doppelten Negation und bleibt nicht bei einer einfachen stehen. Der Gegensatz ihrer Methode liegt nur im Ausgangspunkt. Hält man die Logik — wie ζ. B. Nie. Hartmann und die Sowjetphilosophen — für eine undialektische Problematik, bleibt die Hegeische Dialektik unklar, da zu ihrer Deutung eine Hegel fremde Auffassung von Dialektik gebraucht wird. Die Erklärung soll von der transzendenten Kritik getrennt bleiben oder wenigstens von ihr unterschieden werden, da sonst die Deutung verschwimmt. Es ist billig, Hegel der Inkonsequenz zu beschuldigen, indem man von ihm fordert, den Gesetzen einer ihm fremden Methodologie zu folgen®8. Die Diskussion über das Wesen der Dialektik ist mit der Frage nach der Hegeischen Lösung des ontologischen Immanenzproblems eng ver84 35

se

V g l . Kruithof 19 ff., 4 3 f. Hyppolite (II 2 3 4 ff.) und G a r a u d y (I 200 ff.) kritisieren die dualistische Deutung von A . Kojeve. Diese zwei, Hyppolite (I 386) und G a r a u d y (I 2 1 3 ) , verfallen jedoch selbst in einen Dualismus, indem sie mit den dialektischen Materialisten (vgl. A n m . 1 4 ) den Gegensatz zwischen Methode und System behaupten. V g l . Nachwort, A n m . 1 3 .

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Einleitung

bunden. Aber auch in bezug auf diese Frage divergieren die Meinungen. Nach Hoffmeister und Lasson verteidigt Hegel das Christentum, dagegen ist er für G^goire Pantheist und der Vorläufer des Marxschen und Feuerbachschen Materialismus; auch Garaudy hält den marxistischen Atheismus für den „rationellen Kern" des Hegeischen Systems. Hegel hat — so glauben wir — den jenseitigen Gott, dem Gesetz seiner Methode konsequent folgend, geleugnet und negiert, aber nicht weniger folgerichtig die materielle Welt geleugnet und negiert. Aus dieser doppelten und untrennbaren Negation resultiert der Hegeische „Geist", in welchen „Gott" und „Welt" als Momente „aufgehoben" werden. Wer die „Momentanität" in der Negation der Transzendenz übersieht, entdeckt in Hegels System nur einen Atheismus. Wird man von der negativen Bedeutung, die er dem Endlichen zumißt, beeindruckt, hält man ihn leicht für den größten Apologeten des Christentums. Also wird die Hegel-Interpretation auch hier der Gefahr ausgesetzt, daß der auf dem Gesetz der doppelten Negation beruhende subtile Standpunkt Hegels einseitig gedeutet wird.

4. Einteilung Die Dialektik: Der Nachweis, daß das objektiv Gegebene Widersprüche enthält und sich notwendigerweise auflösen sollte, bildet den Ausgangspunkt des Hegeischen Systems und führt zur Frage, warum die „absurde" Erfahrungswelt überhaupt besteht. Diese Problematik findet ihre Lösung in der Negativität der abstrakten Idealität. Aus der Einheit der negativen und positiven Dialektik entwickelt sich die Methode des ganzen Systems, dessen materiale, formale und finale Objekte gesondert zu analysieren sind. Dialektik und Metaphysik: Zum umfassenden Verständnis eines Gegenstandes gehört die Erkenntnis seines Gegenteils. Deshalb soll das Verhältnis der Dialektik zur Metaphysik untersucht werden. Hegel behauptet, daß seine Methode nur in einer Metaphysik, nämlich der Wissenschaft der Logik, begründet werden kann, und ebenfalls, daß sie sich wesentlich von der metaphysischen Methode unterscheidet, welche von den Rationalisten und ζ. T. noch von Kant verwendet wurde. Die Hegelsche Dialektik hat also einerseits eine notwendige Beziehung zur Metaphysik und ist ihr anderseits wesentlich entgegengesetzt. Die dadurch entstehende Mehrdeutigkeit von „Metaphysik" wird im zweiten Kapitel untersucht: zuerst ihre notwendige Einheit mit einer Metaphysik, sodann

Einteilung

15

ihr Gegensatz zur Metaphysik im allgemeinen und zu Spinozas Metaphysik im besonderen. Dialektische Metaphysik: Nach der Darlegung der methodologischen Unterschiede und Übereinstimmungen zwischen der Metaphysik und der Dialektik wird die dialektische Lösung einiger Probleme der früheren Metaphysik aufgezeigt. Das dritte Kapitel könnte audi „Das dialektische Schema in seiner Anwendung" genannt werden. Unsere Abhandlung schließt, wie jedes Glied des Hegeischen Systems, mit der Betrachtung der Problematik der Teleologie.

KAPITEL

I

Dialektik § 1 Reale Dialektik

I.I

Einheit und Hauptthema der Dialektik

Solange die Frage nadi der Einheit der Hegeischen Methode umstritten ist, blockiert sie die Einsicht in das Wesen der Dialektik und muß daher zuerst beantwortet werden. Von den „mehr empirischen Gestalten der Dialektik in sonstigen Werken Hegels" absehend, untersucht Coreth allein die logische Methode. Er kommt zum Ergebnis, der Kern der Dialektik lasse sich in einem objektiv gültigen, formal eindeutig bestimmten und philosophisch bestimmbaren Gesetz ausdrücken. Er hält die Einheit von Analyse und Synthese für das Wesen der Hegeischen Methodologie 1 . Zugunsten von Coreths Standpunkt kann man darauf hinweisen, daß Hegel selbst seine Methode auf einen logischen Satz reduziert2 und allein die Logik als ihre adäquate Darstellung und Begründung ansieht3. Dennoch können die Ergebnisse von Coreths Untersuchung nicht völlig befriedigen. Mit der bloßen Forderung nach Einheit von Analyse und Synthese ist die Hegelsche Dialektik keineswegs ausreichend klar bezeichnet und abgegrenzt, denn auf diese Einheit verzichtet wohl kaum ein philosophisches System. Außerdem läßt Coreth ungeklärt, inwiefern die logische Dialektik die grundlegendste ist und inwiefern die anderen Methoden von ihr unterschieden sind. Im Gegensatz zu Coreth betont Nie. Hartmann, die Dialektik sei kein logisches „Seziermesser", und Hegel fehle jedes „Methodebewußtsein" 4 . 1 2 3 4

Coreth 20, 35. Log. I 3J. Log. I 23, 35. Nie. Hartmann II j .

Einheit und Hauptthema der Dialektik

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Nach ihm ringt die Hegeische Dialektik um die „innere Wesenserfassung des Absoluten"; alles andere sei „Detailarbeit"5. Immerhin hat er damit einen einheitlichen Wesenszug der Dialektik angenommen und zugegeben. Die Forderung, jeden Gegenstand als Moment des sich entwickelnden Absoluten zu betrachten und seine Bedeutung für das absolute Ganze festzustellen, kennzeichnet die Hegeische Methodologie. Die absolute Idee „ist der einzige Gegenstand und Inhalt der Philosophie"; es ist das „Geschäft der Philosophie", die absolute Idee in ihren verschiedenen Gestaltungen zu erkennen6.

Das Absolute ist also der einzige Gegenstand in Hegels Philosophie. Nun aber ist die Methode dem Gegenstand selbst entlehnt. Daraus könnte man schließen, es gäbe für ihn nur einen Gegenstand und nur eine Methode. Aber dann würde das System auch nur eine Wissenschaft enthalten, was nicht der Fall ist. Dieses Pardox löst sich folgendermaßen: Sowie sich das eine Absolute in verschiedenen „Gestaltungen" offenbart, so enthält auch die eine dialektische Methode verschiedene den „Gestaltungen" entsprediende Untersuchungsweisen. Die „Detailarbeit", vom Reichtum des absoluten Subjekts gefordert, konzentriert sich auf einen Gegenstand. Die Methode ist der „Weg" zur Lösung der philosophischen Problematik, nämlich zur Beantwortung der Frage nach der Natur des Absoluten. „Methode" wird von Hegel in ihrer griechischen Bedeutung aufgefaßt und mit „Weg" oder „Gang" bezeichnet7. Um diesen Weg kennenzulernen, muß man ihn begehen. Die Erörterung der philosophischen Methode ist selbst eine philosophische Problematik. Sie kann darum nicht vor, sondern nur in der philosophischen Untersuchung erklärt und begründet werden8. Nach Hegels eigenen Worten kann allein die Logik die Dialektik adäquat darstellen. Aber sie vermittelt keine problemlose Einsicht in das Wesen der Methode. In dieser Wissenschaft wird sofort mit der Analyse des reinen idealen Seins angefangen. Hat dieser Ansatzpunkt im Hegeischen System keine Rechtfertigung erfahren, dann wird die Logik, die eigentliche Begründung der Methode, hinfällig. 5

Nie. Hartmann I 3 7 5 . * Log. II 484. 7 Gesch. III 1 9 2 ; Jubiläumsausg. 18, 2, 2 1 8 : „Die andere Gattung, das in selbst Gedachte, ist die, w o die Seele von einer Grundlage, Voraussetzung Principe ausgeht, das nicht hypothetisch ist, und ohne die Bilder, die wir gebrauchen, durch die Ideen (eidesi) selbst, den Weg (methodon) macht." Log. I 35 „wissenschaftlicher Fortgang"; Log. II 490. 8

Log. I 3 j .

der Seele zu einem zu Jenem Vgl. ζ. B.

18

Reale Dialektik

Wie entdeckt der Dialektiker das Absolute in der Realität? Welche Theorie im Hegeischen System beleuchtet am besten den Aufstieg zum absoluten Subjekt? Vermag dies die Widerspruchstheorie zu leisten? Einerseits ist diese zwar höchst revolutionär und könnte den Aufstieg erklären, denn durch die Negativität oder Widersprüchlichkeit des Realen erhebt sich das dialektische Denken zum Idealen. Anderseits leuchtet es jedoch nicht ohne weiteres ein, warum „das Widerspruchsvolle" — zu übersetzen mit „das Sinnlose" — bestehen muß. Deswegen kann die dialektische Widerspruchstheorie nicht ohne Schwierigkeiten den Aufstieg erklären. Übrigens ist es nicht unwahrscheinlich, daß Hegel durch eine grundlegendere und ältere Problematik zu diesen umwälzenden Annahmen gekommen ist. Wir stellen hier noch hypothetisdi voraus, daß sich die Hegeische Methodologie nur dazu eignet, die immanentistisch-idealistische Lösung des Wert- und Universalienproblems in allen anderen Problemkreisen der Philosophie durchzusetzen. Unsere Darstellung wird dies ausführlich zeigen. Bekanntlich konzentriert sich das Hegeische System auf den Idealismus. Zum richtigen Verständnis der dialektischen Methode müssen drei Arten von Idealismus scharf voneinander unterschieden werden. Nach dem subjektiven Idealismus existiert das Reale nur im menschlichen Denken. Diesen Standpunkt lehnt Hegel grundsätzlich ab. Der objektive oder absolute Idealismus behauptet, daß alles in einem allumfassenden und absoluten Denken besteht. Diese Art unterscheidet sich vom ontologisdoen Idealismus — auch „extremer Realismus in bezug auf die Universalienfrage" genannt —, nach dem das Allgemeine als solches objektiv gegeben ist und eine Priorität über das zufällige, objektiv gegebene Sein besitzt. Diese Form bildet den Ausgangspunkt der Dialektik, der also zwangsläufig ein die Erfahrungswelt negierendes Element enthält. Wird unser Versuch, die dialektische Methode mittels der Hegeischen Lösung des Wert- und Universalienproblems zu verstehen, nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt? Oben stellten wir fest, daß diese Methode primär zur Erkenntnis des Absoluten führt. Hätte die Problematik des Absoluten nichts mit dem Wert- und Universalienproblem gemeinsam, so könnte unser Versuch nie eine Einsicht in die einheitliche Methode Hegels vermitteln. Beide Fragen sind jedoch identisch, denn nur das absolute Subjekt ist das wahrhaft Konkrete und Gute®. Die originelle Lösung der Wert- und Universalienfrage ist für Hegel ein generelles • Log I 29, II 490. — Enz. § 164 Anm. — Gesch. I 30, 97, 1 1 1 .

Die negative Dialektik

19

Hilfsmittel, um von jeder Bestimmung und Tendenz der gegebenen Realität nachzuweisen, daß sie nur ein Moment im Denken und Streben des absoluten Subjekts ist und darum demselben Subjekt als dem einzig Konkreten und Guten zuzuschreiben ist. Die Hegeische Dialektik geht also von dem ontologisdien Idealismus aus, um den objektiven nachzuweisen. Es hat sich gezeigt, daß a) die dialektische Methode der Weg ist, der zur Erkenntnis des Absoluten führt, b) die Einheit dieser Methode in der Natur des Absoluten fundiert ist und c) für Hegel nur das Absolute konkret ist, so daß der Aufstieg von den Dingen zum Absoluten am leichtesten mit Hilfe seiner Lösung des Wert- und Universalienproblems erklärt werden kann. 1.2 Die negative Dialektik Die negative Dialektik, d. h. die Dialektik, mit der angefangen und nodi kein positives Resultat erreicht wird, richtet sich gegen die Auffassung, daß die zufälligen Dinge und die bestehenden Institutionen selbst das Subjekt ihres Seins bilden; das wahrhaft Selbständige in ihnen ist das Begreifbare, das Allgemeine, das Ideale10. Die Objektivität unserer Erkenntnis wird damit nicht in Zweifel gezogen. In der Gnoseologie vertritt Hegel eindeutig den Standpunkt des Realismus; über den subjektiven Idealismus seiner Vorgänger — Berkeley, Locke, Kant und Fichte — äußert er sich nur höhnisch". Jedoch betont Hegel nicht nur die Objektivität der sinnlichen Bilder, sondern auch die der allgemeinen Bestimmungen; sodann fragt er, welcher von beiden die Priorität zuzuschreiben sei. Aufgrund der nachfolgenden Argumente spricht er sich zugunsten des Allgemeinen aus. a) Gleichwertigkeit der sinnlichen und abstrakten Erkenntnis. Es gibt für Hegel keinen Grund anzunehmen, daß das Allgemeine eine schlechtere Kopie darstelle als das sinnliche Bild. Beide Fassungen vom Sein, die sinnliche und die abstrakte, drängen sich mit mechanischer Notwendigkeit auf". Die wissenschaftliche Wiedergabe der Seinsstruktur ist zwar abstrakt, aber darum noch nicht willkürlich, denn sie ist über jede Zufälligkeit erhaben13. Die sinnliche Erkenntnis hingegen ist an die Partikularität 10 11 12 13

Vgl. Log. I i j f. G L u. W . 92 f. Log. I 14. Enz. §§ 1 9 — 2 5 .

20

Reale Dialektik

des individuellen Menschen gebunden und davon abhängig, was sich zufälligerweise — in dieser Zeit und in diesem Raum — diesem individuellen Subjekt präsentiert. Deshalb beinhaltet die wissenschaftliche Erkenntnis eine zumindest gleichwertige, wenn nicht bessere Wiedergabe des objektiven Seins. b) Alles Sein ist wissenschafllich erkennbar. Bei der Begründung seiner Position in bezug auf die Wert- und Universalienfrage beruft sich Hegel auch darauf, es gebe keinen Inhalt in der Erfahrungswelt, der nicht vom begrifflichen Denken erfaßt werden könne. Die wissenschaftliche Erkenntnis ermöglicht eine vollständig adäquate Wiedergabe der Seinsstruktur. Dies setzt voraus, daß der ganze Seinsinhalt allgemein, d. h. ideal ist. Zur näheren Erklärung dieser Argumentation sei bemerkt, daß es sich hier um eine ontologische und ethische Aussage handelt, die auf einer Analyse des Erkenntnisprozesses basiert. Die Entwicklung der Wissenschaft ermöglicht es uns, das Wesen der Wirklichkeit immer besser zu erfassen. Daraus schließt Hegel für die Gnoseologie: Der ganze Inhalt der sinnlichen Welt läßt sich wissenschaftlich erklären, und für die Ontologie: Die sinnliche Welt ist in sich selbst völlig intelligibel und allgemein bestimmt. Sie ist in sich selbst ideell, denn Nicht-Idealität würde ihre Intelligibilität einschränken19. Hegels ontologisther Idealismus richtet sich in erster Linie gegen den Mystizismus, der etwas Unerkennbares in der objektiven Wirklichkeit annimmt". Für ihn gibt es nidits Unverständliches und nichts Unaussprechbares18. Alles, was ist, kann auch gedacht und formuliert werden, wenn audi nicht in einem Wort oder in einem Satz. Dieser Standpunkt zwingt keineswegs zur Annahme einer Grenze, weder in der Entwicklung der Wissenschaften noch in der Entwicklung des objektiven Seins. Die Intelligibilität des Seins impliziert lediglich dessen Idealität19. Diesen Übergang jedoch lehnt der gemäßigte Realist ab; das Individuum ist für ihn unerschöpflich und unaussprechbar, und als solches bleibt es wesentlich der Idealität und dem Werturteil entgegengesetzt. Diesen Einwand hat schon Feuerbach gegen Hegel erhoben20. 14 15 19 17 18 19 20

Log. 1 4 0 f. Log. I 32. Log. I 24 f. Log. I 25, Log. II 440. — Vgl. Gl. u. W. 1. Enz. § 20 Anm. Enz. §§ 8, 12, 24. Feuerbach III 341 ff.; vgl. Kap. III § 3, 1 1 .

Die negative Dialektik

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c) Die Nichtigkeit des Sinnlidjen. Die ganze Phänomenologie bekämpft das naive Bewußtsein, welches das sinnlich Gegebene für das „Wahre" hält21 und zeigt, daß das Sinnliche das „verschwindende" 22 , veränderliche und widerspruchsvolle Sein, das Ideale dagegen das selbständige und beständige Sein ist. Die allgemeinen Begriffe, Gesetze und Ideale treten immer und überall auf verschiedene A r t und Weise in der Realität auf; sie sind das Bleibende im objektiven Ganzen. Ist damit gesagt, daß die Strukturen und die Dinge überhaupt nicht bestehen? Verdanken die Gesetze nicht ihre Wirkung gerade der Existenz der Dingwelt? Ist ein Ding oder eine Institution nicht das Subjekt seiner Bestimmungen bzw. ihrer Grundideale? Für Hegel hat die Welt der Dinge und Institutionen nur den Schein von Sein, weil die These, die Dinge seien selbständige Subjekte, einen Widerspruch enthält: Ein Ding ist nur insofern selbständig, als es sich von den anderen Dingen unterscheidet; die Selbständigkeit setzt also einen Unterschied voraus. Nun aber impliziert Unterschied auch Bezogenheit; Selbständigkeit ist also Bezogenheit, d. h. Unselbständigkeit, und darum widerspruchsvolle Um den Widerspruch zu vermeiden, unterscheidet man des öfteren zwischen der Substanz, ihren Akzidenzen und ihren Relationen und behauptet, ein Ding oder eine Institution sei einerseits für sich und anderseits in bezug auf Anderes bestimmt. Diese Unterscheidung hält Hegel für eine „Sophisterei", die den Widerspruch nur verdeckt und nicht löst: Der neue Gegensatz impliziert nämlich wiederum eine Relation24. Jeder Versuch, die Selbständigkeit näher zu bestimmen und von der Abhängigkeit zu unterscheiden, muß gleichzeitig mit der Annahme des Gegensatzes eine neue Relation, d. h. eine neue Abhängigkeit, akzeptieren. Jede Selbständigkeit bedeutet also gleichzeitig eine Abhängigkeit. Durch diesen In der Phänomenologie (73) erfährt das Subjekt die Nichtigkeit seiner Gegenstände In Log. I 15 f. faßt Hegel diese in der Phänomenologie ausfiihrlidi begründete These zusammen: „Wenn es aber an dem ist, was vorhin angegeben worden, und was sonst im allgemeinen zugestanden wird, daß die Natur, das eigentümliche Wesen, das wahrhaft Bleibende und Substantielle bei der Mannigfaltigkeit und Zufälligkeit des Ersdieinens und der vorübergehenden Äußerung, der Begriff der Sache, das in ihr selbst Allgemeine ist, wie jedes menschliche Individuum, zwar ein unendlidi eigentümliches als Prtus aller seiner Eigentümlichkeit, darin Mensib zu sein, in sich hat, wie jedes einzelne Tier das Prius, Tier zu sein: so wäre nidit zu sagen, was, wenn diese Grundlage aus dem mit noch so vielfachen sonstigen Prädikaten Ausgerüsteten weggenommen würde, ob sie gleich wie die andern ein Prädikat genannt werden kann, — was so ein Individuum noch sein sollte." ** Log. II 159. 23 Phän. 89—103, bes. 98 und 100 24 Phän. 100.

21

22

Reale Dialektik

Widerspruch wird die angebliche Selbständigkeit der sinnlichen Dinge und der institutionellen Welt zu einem „unlogischen" Schein degradiert, der eigentlich „verschwinden" müßte. Hier drängt sich die für die negative Dialektik typische Frage auf, wie diese widerspruchsvolle Selbständigkeit überhaupt entstehen kann. Ferner kritisiert Hegel in seiner Analyse der „Erscheinungen" die A u f fassung, die das objektiv Gegebene für selbständig hält25. Der Ausdruck „Erscheinung" steht hier wie in der natur- und gesellschaftswissenschaftlichen Sprache für „Prozeß" 28 . Für den Verstand, der sich nach der Hegelschen Gnoseologie mit der Erscheinungs- und Dingwelt beschäftigt, ist sie nur eine zufällige Einheit von einer zwar bestimmten, jedoch allgemeinen Kraft und von zwar bestimmten, jedoch allgemeinen Gesetzen. Das Bleibende und Selbständige ist also nicht die Erscheinung selbst — denn diese ist nur eine momentane Synthese — , sondern die allgemeinen Gesetze und Kräfte, die sich gleichzeitig in vielen Erscheinungen äußern. Audi in der menschlichen Praxis wird unbewußt die Priorität des Allgemeinen vorausgesetzt", denn jeder glaubt an den unwiderstehlichen Erfolg einer absolut vernünftigen Handlung. Wenn der Mensch alle realen und realisierbaren Begriffe, Gesetze und Strukturen erkennt und seine Tätigkeit nach dieser Erkenntnis ausrichtet, handelt er frei. Eine derartige Tätigkeit kann ja mit keiner Notwendigkeit in Konflikt geraten, weil sie mit allem Notwendigem, Möglichem und Realem harmoniert. In dieser Freiheitsauffassung wird das Unvernünftige-Unverständliche für einen nicht ernstzunehmenden Faktor gehalten. Implizit setzt man also voraus, daß nur das Vernünftige „wirkend", objektiv und realisierbar ist. „Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig.***

Fordert die Theorie von der vernünftigen Wirklichkeit unbedingt den ontologischen Idealismus? Der Vergleich dieser Theorie mit dem gemäßigt realistischen Thomismus wird die Frage darauf erleichtern. Für den Thomisten ist das absolute Wesen unbedingt frei; dennoch hält er die Unterscheidung zwischen dem idealen und realen Sein, zwischen dem absoluten und endlichen Sein aufrecht. Der folgende Gedankengang Hegels hingegen fordert die Auflösung dieser Unterscheidung: Würde die gegebene Realität etwas Unvernünftiges und wesentlich Unverständliches enthalten, 25 26 27 28

Phän. 1 0 2 — b e s . 112. Nie. Hartmann I 329. Phän. 138, Log. II 480. Recht (Vorrede Seiten X I X — X X ) .

D i e negative Dialektik

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so könnte dieses der absolut vernünftigen Tätigkeit Widerstand leisten, und dann wäre das Bestreben, unsere praktischen Erkenntnisse zu bereichern, sinnlos. Die ganze Realität läßt sich vernünftig erkennen und verändern; unter diesen Voraussetzungen enthält sie nichts Unvernünftiges oder Nicht-Ideelles". Diese Analyse der Praxis basiert also auf der vorher betrachteten These von der wissenschaftlichen Erkennbarkeit des Seins: Diese behauptet die universelle Erkenntniskraft der Vernunft, jene die universelle Schöpfungskraft der Vernunft. Implizit setzt das Streben nach Entwicklung sowohl der theoretischen als auch der praktischen Erkenntnis voraus, daß sich die Realität nur scheinbar von der Idealität unterscheidet, nur scheinbar einen Gegensatz zur Idealität bildet und nur scheinbar von der Idealität unabhängig ist. In der negativ-dialektischen Betrachtung gibt es also drei Momente: a) Der ganze Inhalt der Erfahrungswelt ist vernünftig und ideal, b) Die Ding- und Erscheinungswelt ist zwar objektiv gegeben, aber ihre Dinge und Institutionen sind „absurde" Konstruktionen, c) Daraus ergibt sich die Frage nach dem Seinsgrund dieser „sinnlosen" Welt. Die hier aufgestellten Behauptungen gelten nur für die Einführung und nicht für das Hegelsdie System überhaupt. Um eine solche Verwechslung zu vermeiden, muß das Verhältnis der negativen Dialektik zum ganzen System näher bestimmt werden. a) Wegen ihres einführenden Charakters steht die negative Dialektik am Anfang. Dagegen bildet sie im Prozeß der doppelten Negation das „zweite" Moment. Die „erste" Negativität ist die der reinen idealen Bestimmungen; sie begründet die Existenz der „sinnlosen" Dinge und Institutionen. Die Logik beginnt mit der „ersten" Negativität, die Phänomenologie mit der „zweiten", nämlich mit der Erfahrungswelt80. b) Zweifelsohne bildet die negative Dialektik die zentrale Argumentation im Nachweis der Identität von Sein und Denken. Sie zeigt die notwendige Auflösung und Aufhebung der Realität ins Ideale, d. h. sie weist nach, daß der Realität ein „Abstraktionsprozeß" immanent ist. Unabhängig vom menschlidxen Subjekt vollzieht sich dieser Prozeß im objektiv Gegebenen selbst. c) Die negative Dialektik kann — isoliert genommen — leicht zu unrichtigen Schlußfolgerungen in bezug auf Hegels Lösung des Universalienproblems führen, ca) So ist es ζ. B. irreführend, ihn vorbehaltlos 29

Enz. § 564 A n m .

30

V g l . dieses Kapitel § 2.33.

Reale Dialektik

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einen extremen Realisten zu nennen, denn dies gilt nur für den Ausgangspunkt des Systems. Zwar ist das Allgemeine objektiv, aber im absoluten Ganzen auf dreifache Weise konkret: Das Allgemeine tendiert wesentlich zur Realisierung, und das Realisierte existiert nicht außerhalb des Allgemeinen; und diese doppelte Relation wächst (concrescere) im dialektischen Prozeß mit anderen gleichartigen Beziehungen zusammen. Das abstrakte Allgemeine, d. h. das von jeder Beziehung losgelöste Allgemeine, ist also nur im menschlichen Verstand vorhanden, cb) Viele Texte laufen deshalb der Auffassung, das Abstrakte sei objektiv, zuwider. Sie sind jedoch nicht gemäßigt realistisch zu deuten. Eine solche Lösung des Universalienproblems ist der Hegeischen sogar diametral entgegengesetzt: Das Hegeische Allgemeine ist nicht in den Dingen und Erscheinungen vorhanden, sondern diese existieren als Momente im Allgemeinen, cc) D a der Abstraktionsprozeß und die Objektivität des Allgemeinen angenommen wird, können wir Nie. Hartmanns Behauptung, im Hegeischen System gäbe es nominalistische Tendenzen, nicht beipflichten. Zwar wird „das absolute Sein", „das Absolute", „Gott" u. dgl. in mehreren Texten ein „leeres Wort" genannt, aber damit will Hegel lediglich behaupten, daß diese Ausdrücke am Anfang des dialektischen Prozesses „abstrakte Inhalte" bedeuten, deren konkreter Inhalt noch zu untersuchen sei. cd) Im Gegensatz zu Kants subjektivem Konzeptualismus ist Hegels Konzeptualismus objektiv: Das Absolute ist ein denkendes Subjekt, das mittels seiner apriorischen Formen seine Objektivität (unsere Erfahrungswelt) in sich selbst setzt und erkennt. d) Die negative Dialektik zeigt mehrere Identitäten zwischen „Idealität" und „Realität" auf, so daß diese Ausdrücke vieldeutig werden: da) Das Allgemeine-Ideale ist in der Realität das Beständige; es ist also in der Erfahrungswelt real anwesend, db) Überdies folgt aus der notwendigen Auflösung der Erfahrungswelt die Realität des reinen Idealen, de) Aus der negativen Dialektik ergibt sich auch die Identität des Realen mit dem Idealen: Der Inhalt der Realität ist allgemein-ideal; das Reale repräsentiert bloß eine zufällige Kombination von idealen Strukturen, dd) Im weiteren Verlauf des dialektischen Prozesses begegnen wir noch einer vierten Bedeutung von „Idealität" und „Realität": Die „wahre" Idealität wird nur dem konkretesten Subjekt zugeschrieben. Das Reale oder Getrennte, wozu auch die getrennten abstrakten Bestimmungen 31 32 33

Enz. § 164 Anm. Nie. Hartmann I 283. Log. I 63, Log. II 354.

Die Voraussetzung der dialektischen Methode

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zählen, wird am Ende der dialektischen Analyse vollständig „verschwunden" und a aufgehoben" sein. Durch diese neuen Bedeutungen von „Realität" wird die landläufige Gleichsetzung von „Realität" und „Wirklichkeit" unzulässig. In den meisten Texten Hegels steht „das Reale" für „das Endliche", „das Getrennte", „das räumlich Auseinander- und zeitlich Nacheinanderseiende". Der Begriff „Wirklichkeit" dagegen erhält in der Kategorienhierarchie einen besonderen Inhalt, der im Zusammenhang mit „Möglichkeit" bestimmt wird. „Das Wirkliche" ist für Hegel primär „dasjenige, was wirkt"; es impliziert darum zwangsläufig eine Beziehung zur Kausalität und Notwendigkeit. Um die Liste der terminologischen Schwierigkeiten der Hegel-Erklärung zu vervollständigen, sei noch darauf hingewiesen, daß jeder Ausdruck, der gewöhnlich das objektiv Gegebene bezeichnet, im dialektischen Prozeß eine exakt bestimmte Bedeutung erhält. Die sinnliche Welt ist die räumlich-zeitliche, die reale Welt die endliche, die wahrnehmbare Welt die der Dinge und Erscheinungen. Unter „Wirklichkeit" wird das Wirkende als solches verstanden und unter „Objektivität" die dem absoluten Subjekt gegenüberstehende Totalität. Jede dieser „Welten" hat eine eigene negative Dialektik. Der besseren Verständlichkeit willen werden wir das objektiv Gegebene hauptsächlich als „Erfahrungswelt", „objektive Realität", „Erscheinungs- und Dingwelt" und „objektive Wirklichkeit" bezeichnen, die realisierte Idealität (das Hegelsche universale in re) als „objektiv Allgemeines" und das objektiv gegebene Transzendierende als „ideale Realität der reinen Bestimmungen".

1.3 Die Voraussetzung der dialektischen Methode: die idealistische Individuation Die negative Dialektik impliziert eine Kritik am realistischen Individuationsprinzip, weil sie die aristotelische Unterscheidung von universale in re, post rem und ante rem aufhebt. Sie zeigt die vollständige Auflösung der objektiven Realität in reine Bestimmungen. Das Gleiche gilt für die positive Dialektik, die — umgekehrt — nachweist, daß das objektiv Gegebene aus der notwendigen Synthese der reinen Bestimmungen resultiert. Daraus ergibt sich die für die dialektische Methode so charakteristische Eigenschaft, die Analyse jedes Gegebenen unmittelbar mit der Frage nach dem Grund und dem Ziel von dessen Existenz zu verbinden. Aristoteles hat die Möglichkeit, die Realität — ausgehend von reinen

Reale Dialektik

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Bestimmungen — zu erklären, abgelehnt. Ein Ding ist die untrennbare Einheit zwischen einer individuellen Materie und einer individuellen Form. Sie bestehen weder vor noch nach der Existenz des individuellen Dinges, denn in sich bestehende Allgemeinheiten gibt es nicht. Hegel kritisiert diese Beschreibung der Individualität und behauptet, daß Aristoteles das Verhältnis von Materie und Form nicht ausreichend geklärt" und den platonischen „Ubergang vom Denken zur Körperlichkeit" nicht verstanden habe8®. Wie P. G. M. Manser nachweist, ist das aristotelische Individuationsprinzip in der Geschichte lebhaft diskutiert worden. Die thomistische Deutung geht zweifelsohne auf Aristoteles zurück". Versuchen wir zuerst diese Deutung des Prinzips zu verstehen. Die Frage, ob sie die einzig richtige aristotelische ist, sei hier ausgeklammert, wir benützen sie nur als Mittel, um Hegels originelle Stellungnahme in dieser Problematik distinktiv hervorzuheben. ι .31 Das Individuationsprinzip ist eigentlich kein „Prinzip" im Sinne eines Gesetzes oder einer Vorschrift wie etwa das Widerspruchsprinzip in der formalen Logik; ersteres ist vielmehr ein Grund (arch£), der in den Dingen selbst vorhanden ist, ihre Individualität bestimmt und sie von den bloßen Gedankendingen unterscheidet. „Individuation" bezeichnet eine Tätigkeit, aber nicht die eines Seienden, denn dies würde voraussetzen, daß das Individuationsprinzip vor dem Ding, für sich und getrennt von der Form existieren könnte. Von der Individuation wird darum nur das Ergebnis, die einmalige Individualität, anerkannt. Während die Form besagt, was ein Ding ist, bestimmt das Individuationsprinzip das Dieses-was-Sein (hoc aliquid). In seinem Verhältnis zur Form definieren die Scholastiker das Individuationsprinzip als eine quantitaiv beschränkte Materie (materia quantitate signata). Sie unterscheiden es ebenfalls von der reinen Materie (materia prima), die eine bloße Abstraktion ist und der überhaupt keine objektive Realität entspricht. Die quantitativ beschränkte Materie hingegen ist in den Dingen vorhanden und in ihnen mit einer individuellen Form verbunden. Durch diese Einheit ist das Wesen des Dinges ein Einzelnes (incommunicabile), d. h. das Wesen existiert in einer einmaligen Form getrennt und unabhängig von den anderen Realisierungen derselben Art. Daraus folgt die 34 35 36

Gesch. III 289. Gesdi. III 184. Manser 617—66γ.

Die Voraussetzung der dialektisdien Methode

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für die Analytik so charakteristische Eigenschaft, jedes Ding und jede Institution als getrennt und für sich seiende Gegebenheit zu betrachten. 1.32 Hegels Auffassungen über das Individuum sind dem Abschnitt Die sinnliche Gewißheit, das Dieses und das Meinen der Phänomenologie und dem Buch Die Lehre vom Sein der Logik zu entnehmen; ersterer beschreibt das „Dieses", letzteres das „Etwas". Das „Dieses" der Phänomenologie ist das räumlich-zeitlich bestimmte, das „Etwas" der Logik hingegen das schlechthin bestimmte Sein. Beide sind also nähere Determintationen des „absoluten Seins", das in Hegels System als reine Bestimmungsmöglichkeit oder materia prima auftritt57. a) Das „Dieses" wird durch seine räumlichen und zeitlichen Dimensionen oder „Negationen" bestimmt: Es ist hier und jetzt. Das „Hier" und das „Jetzt" sind im „Diesen" nicht individuell, sondern als Allgemeinheiten vorhanden. Das „Jetzt" ist zuerst Nacht, dann Mittag. Das Allgemeine, in diesem Fall das „Jetzt", setzt sich durch und überschreitet die Grenzen des „Diesen", das zuerst „Nacht" war und jetzt „Tag" ist. Die Zeit ist nicht eine Seinsform der Dinge, sondern durchläuft die verschiedenen Stadien88. Auf gleiche Art ist das „Hier" nicht in den „Diesen" oder durch die „Diesen" individuell und nicht incommunicabile. Es bleibt dasselbe einheitliche und vielfältige „Hier", welches gleichzeitig in allen „Diesen" besteht. „Das Hier selbst verschwindet nicht; sondern es ist bleibend im Verschwinden des Hauses, Baumes, usf., und gleichgültig, Haus, Baum zu sein." 39

Dieselbe „Gleichgültigkeit" vom Raum als solchem und von der Zeit als solcher ist in allen „Diesen" vorhanden. Der gemäßigt realistische Standpunkt, für den Zeit und Raum bloße Abstraktionen von der objektiv gegebenen Dauer bzw. von den objektiv gegebenen Quanta sind, findet hier seine „Umkehrung": Zeit und Raum bestehen nicht in den „Diesen", sondern die „Diese" in jenen Formen und durch dieselben. b) Ebenso liegt die logische Analyse des „Etwas" im Streit mit dem gemäßigten Realismus. Das „Etwas" verdankt seine Bestimmtheit einer Serie von Kategorienpaaren, nämlich Sein-Nichtsein, qualitative Unendlichkeit-Endlichkeit, Einheit-Vielheit, quantitative Unendlichkeit-Endlich37 38 39

Phän. 192, Log. I 66 f. Phän. 81. Phän. 82.

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Reale Dialektik

keit und Maßlosigkeit-Maß. Aus der Einheit vom abstrakten Sein als der reinen Bestimmungsmöglichkeit und vom Nichtsein als der Negation überhaupt resultiert das bestimmte „Dasein" von „Etwas" 40 . Das Nichtsein grenzt das „Etwas" vom „Andern" ab. Analog ergibt sich aus dem Zusammenschmelzen der beiden Kategorien Unendlichkeit-Endlichkeit das „endliche Etwas", das durch sein Ende vom „Andern" abgegrenzt wird41. Auf gleiche Weise wird das „Etwas" durch die jeweilige Einheit der anderen entgegengesetzten Kategorien näher bestimmt. Jedesmal funktioniert die zweite negative Kategorie als Determination der ersten positiven, die als eine Bestimmungsmöglichkeit auftritt. In den verschiedenen Bestimmungsbereichen des „Etwas" kehrt die „Gleichgültigkeit" des Seins jedesmal in einer neuen Gestalt zurück: Alle positiven Kategorien sind grenzenlos und bestimmungslos und somit eine Bestimmungsmöglichkeit. Hier zeigt sich deutlich eine Analogie zum analytischen Aristotelismus. Auf jeder Ebene der aristotelischen Analyse tritt audi die materia prima jeweils in einer konkreteren Gestalt auf: Die quantitativ beschränkte Materie kann von der Form determiniert, die Einheit von Materie und Form kann realisiert, und diese Realität kann mit Akzidenzen näher bestimmt werden. So wie sich die aristotelische materia prima in den verschiedenen Arten von Möglichkeit äußert, so auch die Gleichgültigkeit des Hegeischen Seins in den verschiedenen Bestimmungsmöglichkeiten der positiven Kategorien. Mit der These der „Unüberwindlichkeit des Seins"42 unterscheidet sich Hegels Logik jedoch wesentlich von der aristotelischen Analyse der objektiven Realität. Die Bestimmungsmöglichkeit der positiven Kategorien ist durch die Einheit mit ihrem Gegenteil zwar objektiv real determiniert, aber nicht individuell; sie überschreitet jedesmal die Schranken des „Etwas". Den gleichen vom Aristotelismus abweichenden Denkweisen begegneten wir schon bei der phänomenologischen Analyse des „Diesen". Zusammenfassend läßt sich der Unterschied so formulieren: Während das Individuum in der aristotelischen Analyse nur durch seine Relationen über sich selbst hinausweist, gehen für Hegel die konstituierenden positiven Elemente des „Diesen" und des „Etwas" über die Grenzen des „Diesen" bzw. des „Etwas" hinaus und übersteigen sogar auch die Totalität aller „Diesen" bzw. aller „Etwas". Diese Theorie der „Unüberwindlichkeit" des Seins folgt konsequent 40 41 42

§ 3 . 2 2 2 1 , dieses Kapitel erklärt das Verhältnis zwischen Sein-Nichts-Werden. Über das Unendliche vgl. Kap. I I I § 1. Jen. Log. 8.

Die Voraussetzung der dialektischen Methode

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aus der vorher betrachteten objektiven Realität des Allgemeinen. Das Allgemeine ist seinem Wesen nach unerschöpflich; dadurch überschreitet es — seine Gegenständlichkeit in der Erfahrungswelt vorausgesetzt — objektiv die Totalität all seiner Realisierungen. c) Hegel selbst hält diese Deutung der Individualität für widerspruchsvoll und weist zwei Arten von Kontradiktionen nach: i . Das „Etwas" ist durch die Abgrenzung vom „Anderen" bestimmt. Der Widerspruch, den er hier nachzuweisen versucht, ist von gleicher Art wie jener, der oben bei der Analyse der Selbständigkeit des „Dinges" erörtert wurde. Wir lassen ihn deshalb außer Betracht43. 2. Die zweite Widersprüchlichkeit kann bildlich folgendermaßen ausgedrückt werden: Die schrankenlose Bestimmungsmöglichkeit aller positiven Kategorien kann man sich als eine Linie vorstellen. Auf dieser Linie gibt es Punkte, die die Grenzen zwischen dem „Etwas" und dem „Anderen" darstellen. Dieses Bild veranschaulicht die Bestehungseinheit des Schrankenlosen und Beschränkten. In dieser Einheit gibt es Grenzen, die Punkte, über welche gleichzeitig hinausgegangen wird. Die Grenzen sind da, denn das „Etwas" wird vom „Anderen" unterschieden, und sind zugleich nicht da, denn die Kategorien gehen über diese Grenzen hinaus; damit ist der Widerspruch gegeben. Die jeweilige Einheit aller obengenannten Kategorienpaare enthält eine Antinomie, die durch dieses von Hegel öfters gebrauchte Bild veranschaulicht werden kann44. Da die Struktur von „Diesem" und „Etwas" wesentlich widerspruchsvoll ist, kann sie nicht aus eigener Kraft bestehen; ihre Bestimmtheit ist dergestalt, daß sie notwendigerweise „verschwinden" müßte oder überhaupt nicht existieren dürfte. Diese Hegeische Reaktion auf die „Wahrnehmung" eines Widerspruchs ist revolutionär. Eine Kontradiktion veranlaßt den Analytiker, seine Analyse zu überprüfen. Wenn Hegel dagegen eine absurde und widerspruchsvolle Struktur auffindet, versucht er den Grund für die Existenz dieser Struktur in der idealen Realität der reinen Bestimmungen zu entdecken. Der Widerspruch führt also zur Auflösung der Erfahrungswelt und zur Untersuchung der Idealität. Die Auflösung hat jedesmal einen bestimmten Inhalt: Das räumlich-zeitlich determinierte „Dieses" wird in das allgemeine „Sein" und das „Nichts des Diesen" aufgelöst45, das logische „Etwas" in das „gleichgültige Sein" und „den Inbegriff aller Negationen"49. 43 44 45 46

Log. 1 1 0 4 ff. Log. I 1 1 5 , 231 ff. Phän. 90. Log. II 61.

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Reale Dialektik

Die Auflösungstheorie hat eine zweifache Bedeutung: Gnoseologisch führen die Absurditäten der Erfahrungswelt zur Analyse der reinen Bestimmungen; ontologisch-ethisch würden sie tatsächlich die Erfahrungswelt auflösen, wenn das Ideale seine gründende Tätigkeit nicht kontinuierte. Bei den Analytiker stößt die Auflösungstheorie auf folgende Gegenargumente: i . Auf Grund des Individuationsprinzips enthält das gegenständliche Sein in sich nichts Allgemeines. Dadurch wird die ontologische Seite der Auflösungstheorie unannehmbar. Die Auflösung des objektiv Gegebenen in allgemeine Bestimmungen kann für den Analytiker nur in der Intelligenz, in der es seine Individualität verloren hat, stattfinden. 2. Die Annahme von „absurden" und „widerspruchsvollen" Strukturen in der Erfahrungswelt gerät mit der formalen Logik in Konflikt. Das Individuationsprinzip befähigt den gemäßigten Realisten, die meisten von Hegel nachgewiesenen Widersprüche zu vermeiden. Das gemäßigt realistische Allgemeine läßt sich — wegen der Inkommunikabilität — keineswegs mit dem Bild einer durchlaufenden Linie illustrieren. Dieses Prinzip unterscheidet also grundlegend die Position Hegels von der analytischen. Charakteristisch für die idealistische Individuation sind somit die folgenden Punkte: a) Das Individuelle ist die Einheit von den abstrakten, schrankenlosen Bestimmungen und deren Grenzen („Negationen"). Innerhalb der Grenzen des „Diesen" bzw. des „Etwas" besitzt das Allgemeine keine strikte Inkommunikabilität, denn es überschreitet die Negationen. Außerdem kann es von der Totalität seiner Realisierungen nicht erschöpft werden, b) Die gründende Tätigkeit der reinen Bestimmungen bewahrt die Erfahrungswelt vor völliger Auflösung, c) D a für den Analytiker die objektive Realität nichts Allgemeines als solches enthält, kann es für ihn keine reale (sondern nur eine intentionale) Auflösung außerhalb einer Intelligenz geben. Diese Schwierigkeit überwindet Hegel teilweise durch die Annahme eines Abstraktionsprozesses im absoluten Ganzen, d) Die Widersprüche beruhen zum Teil auf der Beseitigung der Individualität und bewirken die Auflösung des Gegebenen in reine Bestimmungen. Dies bekräftigt unsere Hypothese, Hegels Widerspruchstheorie sei wesentlich mit dem Universalienproblem verknüpft.

31

§ 2 Positive Dialektik Die Analyse der Texte, in welchen Hegel seine Methode beschreibt (§ 2.1), und die Untersuchung der methodologischen Prinzipien, die er der deutschen Philosophie entlehnt (§ 2.2), werden es uns ermöglichen, das Wesen seiner Dialektik zu erfassen (§ 2.3). Die Erörterung der negativen Dialektik findet dabei eine weitere Ergänzung; sie tritt nicht nur — wie im vorigen Paragraphen gesehen — als Voraussetzung, sondern auch als Moment der dialektischen Bewegung auf. 2.1 Die Hegelscbe Dialektik und ihre Vorgeschichte 2.11

„Dialektik",

„Dialektiker"

Der Ausdruck „Dialektik" hat sich in der philologischen Geschichte aus dem griechischen Verb dialegesthai entwickelt, das ursprünglich „aussuchen" (dialegein) bedeutet. Schon Homer verwendet dieses Verb für eine höhere geistige Tätigkeit. Er läßt ζ. B. Odysseus sagen: „Aber warum nur überlegt (dielexato) mein Herz diese Dinge?" In der griechischen und jüdischen Literatur wird „überlegen" öfters im Zusammenhang mit dem „Herzen" gebracht, das man damals für das Organ der Denktätigkeit hielt. In Homers Dichtung besagt der Ausdruck also: „denken", „überlegen" oder „die Argumente in bezug auf eine Sache ordnen"1. Welchem Denker verdankt der Ausdruck seine philosophisch-technische Bedeutung? Die historischen Quellen, Aristoteles und Diogenes Laertius, geben uns dafür Zenon und Piaton an2. Die Frage, ob nun Zenon oder Piaton der erste Dialektiker war, bleibt hier ausgeklammert, da auch Hegel sie unbeantwortet läßt®. Wichtiger für uns ist die Tatsache, 1 2 8

Sichirollo 1 8 — 3 4 . Metaph. A 6 987 b 32, Μ 4 ιογΒ b 2 $ — Diels 128 (Zeile 25 f.). Hegel nennt sowohl Zenon (Gesch. II 284) als audi Piaton (Log. II 4 9 1 ) „Urheber* der Dialektik.

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Positive Dialektik

daß er bei den Beschreibungen seiner eigenen Dialektik immer an das griechische Denken im allgemeinen und an das von Zenon und Piaton im besonderen anknüpft. Unsere erste Aufgabe gilt darum einer summarischen Untersuchung der griechischen Dialektik. 2.1 Ii

Herakleitos und die Eleaten

Als erster Grieche arbeitete Parmenides eine Methodologie aus. Er unterscheidet zwei Forschungswege: Der erste führt zur Wahrheit und beruht auf dem Prinzip, daß das Seiende ist und unmöglich nicht sein kann; demgegenüber ergeben sich aus der Voraussetzung, das Sein könne auch nicht sein, bloße Meinungen. Hier macht Parmenides die für das spätere dialektische Denken charakteristische Unterscheidung zwischen Wahrheit (aletheia) und Meinung {doxa, Scheinwahrheit)4. Die Meinung ist veränderlich und unzuverlässig wie die gegebene Dingwelt selbst, auf welche sie zurückgeht. Ihre Unbeständigkeit und Ungewißheit wird durch die Mischung von Sein und Nichtsein in den veränderlichen Dingen veranlaßt. Das Nichtsein ist nämlich unerkennbar und unaussprechbar. Die Wahrheit kann darum nicht aus der gegebenen Welt geschöpft werden; sie beruht auf dem absoluten Sein, das nicht geworden — sonst wäre es aus dem Nichtsein entstanden — , eins, ungespalten und unvergänglich ist. Enthielte das Sein eine Vielheit, so wäre das Eine nicht das Andere; diese Unähnlichkeit würde also die Realität des Nichtseins voraussetzen. Deshalb muß die Mannigfaltigkeit für bloßen Schein gehalten werden 5 . Durch seine Unterscheidung zwischen dem idealen und realen Sein, seine Formulierung des Widerspruchsprinzips und seine gnoseologische Problemstellung ist Parmenides zum Vater des abendländischen Denkens geworden. Zenon, Parmenides' Schüler, stellt, um die Theorie vom bewegungslosen Sein gegen die Kritik und die Ironie des Publikums zu verteidigen, seine berühmte Antinomienlehre auf®. Sein Meister hatte den Aufstieg zum höchsten Seins- und Denkprinzip mythologisch beschrieben und von einem von vernünftigen Pferden gezogenen Wagen gesprochen, der den irdischen Denker zu der alle Wahrheit offenbarenden Göttin hinauffährt. Dem Übergang von der gegebenen Realität zum bewegungslosen Sein fehlte noch seine rationelle Begründung 7 . Deshalb versucht Zenon Diels i2i (Zeile 12). Diels 120 (Zeile 1—34). ® Man glaubt, die Pythagoreer; vgl. darüber Raedemaeker 175. 7 Diels 114. 4

5

Herakleitos und die Eleaten

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die Notwendigkeit jenes Ubergangs mit seiner Antinomienlehre nachzuweisen. Sie soll darlegen, daß die Erkenntnis, die auf der mannigfaltigen und sich bewegenden Wirklichkeit beruht, unmöglich die Wahrheit enthalten kann, da die Vielheit und die Bewegung widerspruchsvoll sind8. Dem Bericht von Aristoteles zufolge hat audi Herakleitos die Widerspruchsfreiheit nidit für die Erfahrungswelt gefordert*. Für ihn durchdringt die widerspruchsvolle Einheit von Sein und Nichtsein, das Werden, die Struktur der veränderlichen Welt. In dem alles beherrschenden Prozeß des Werdens vollzieht sich eine Kreisbewegung: Ein Weg nach oben (hodos anoo) verbindet sich mit einem Weg nach unten (hodos katoo)10. Es gibt dadurch weder Anfang nodi Ende. Das Universum wird von keinem Gott und von keinem Menschen in Bewegung gebracht; anfangslos und endelos besteht und lebt es durch das ewige Feuer, das sich „gesetzmäßig" entzündet und erlischt11. In dieser Kreisbewegung werden verschiedene Stadien durchlaufen. Das sich auslöschende Feuer wird zu Erde und Wasser, aus deren Nebel die Pflanzen-, Tier- und Menschenseelen entstehen12. Die Einheit und der Streit der Gegensätze bilden in diesen verschiedenen Bereichen die Quelle aller Bewegung. Das Ende des Streits ist der Friede, der Friede aber der Tod, die Auflösung in das Feuer. Der Prozeß von Abkühlung und Verbrennung geschieht nicht willkürlich, denn er wird vom Logos, von der Harmonie gesteuert. Diese Harmonie muß an erster Stelle dem himmlischen Feuer zugeschrieben werden; in der Welt dagegen ist alles in Dissonanz. Das allumfassende Werden vollzieht sich also in einem Wechsel zwischen der Einheit, der Freundschaft, dem Feuer und der Harmonie einerseits und dem Widerstreit, dem Gegensatz, der Disharmonie anderseits. Herakleitos unterscheidet sich insofern von den Eleaten, als er sich primär mit dem Sichtbaren und Hörbaren beschäftigt; die Eleaten richten 8 9

10 11

12

Diels 1 3 3 ff. E . von H a r t m a n n (2) und Raedemaeker ( 1 2 1 ) halten diesen Bericht z w a r f ü r unzuverlässig — nach ihnen sollte dieses Prinzip damals noch nicht genügend ausgearbeitet sein — , aber sie widersprechen sidi selbst, d a sie gleichzeitig behaupten, die Z e i t genossen von Herakleitos, Parmenides und Zenon bauten ihre Theorie auf dem gleichen Prinzip auf (E. von Hartmann 1 ; Raedemaeker 1 5 5 ) . Außerdem muß bebemerkt werden, daß die von Parmenides geäußerte Beschuldigung der „ D u m m köpfe, für welche das Sein und das Nichtsein f ü r dasselbe gilt", sidi gegen H e r a kleitos richtet (Diels 1 1 7 , Zeile 1 8 ) ; Pia ton drückt sich in ähnlicher Weise wie A r i s t o teles aus (Piaton Soph. 2 4 2 D.). Diels 70 (Zeile 19). Dieser Ausdruck wird von Hegel (Gesch. II 3 1 2 ) hervorgehoben; Herakleitos spricht (Diels I 6 1 , Zeile 30 f.) audi vom »Logos". Raedemaeker 1 2 4 f., 1 4 6 f.

34

Positive Dialektik

ihre Aufmerksamkeit nur auf das Sein, dessen Grenzen unseren Gesichtsund Gehörkreis weit überflügeln. Der Gegensatz zwischen Herakleitos und der eleatischen Schule ist jedoch nicht per sie et non: Beide vertreten die Auffassung, daß die Struktur der veränderlichen Dinge widerstreitig ist, und daß die ewige Wahrheit die Erfahrungswelt übersteigt. 2.112 Piaton und die Sophisten Anaxagoras versucht das absolute Sein der Eleaten mit dem heraklitisdien Werden zu versöhnen. Er schlägt die historische Brücke zwischen diesen Schulen und den späteren Sophisten. Als erster in der Philosophiegeschichte verwendet er den Finalitätsbegriff zur Erklärung von Bewegung und Veränderung. Das höchste Sein, der Nous, ist nicht nur die letzte Ursache, sondern auch das Maß und Ziel der Entwicklung aller Dinge. Der Nous formt die Welt aus der Urmaterie. Diese Urmaterie, von den Naturphilosophen für einfache Elemente wie Wasser, Luft usw. gehalten, besteht für Anaxagoras aus einer Vielheit von Urteilchen (ta Spermata)1*. Im Gegensatz zum herkalitischen Werden, das ein unmittelbares Entstehen aus dem göttlichen Feuer und ein unmittelbares Zurückgehen zu demselben voraussetzt, entsteht nach Anaxagoras ein Ding aus den Teilchen, die vorher die Bestandteile eines anderen Dinges gebildet haben. Er erklärt das Werden mit seiner Theorie über die Vereinigung und die A b spaltung der Spermata". Bei der Veränderung oder Vernichtung eines Dinges gehen seine Spermata in die Struktur eines neuen Dinges über. Das Verhältnis zwischen der Dingwelt und ihrem Bewegungsprinzip, dem Nous, wird dadurch lockerer und die Trennung zwischen beiden größer als bei Herakleitos. Die katholischen Forscher sahen darum in Anaxagoras einen Vorläufer der Lehre von der göttlichen Transzendenz 16 . Statt der absoluten Weltvernunft wird bei den Sophisten der liche Nous zum Ziel und Kriterium für das Sein und das Nichtsein der Dinge. Die „Sophistes" waren herumziehende Weise, die im praktischen — besonders im politischen — Wissen unterrichteten. Ihr Auftreten wurde durch die im 5. Jahrhundert v. Chr. in den griechischen Städten herrschende Gesellschaftsstruktur ermöglicht. Ein Politiker gewann damals nur durch Gelehrsamkeit an Einfluß. Die daraus erwachsende Nachfrage 15 14 15

Diels 314 (Zeile 24). Diels 320 (Zeile 26) — 312 (Zeile 4). Raedemaeker 239.

Piaton und die Sophisten

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nach allgemeinbildendem Unterricht beantworteten die sophistischen Schulen, in welchen neben Rhetorik, politischen Wissenschaften und Kunst auch Philosophie doziert wurde. Da sich das Interesse aber hauptsächlich auf die Politik richtete, wurde der Mensch zum Ausgangspunkt und Ziel aller Tätigkeit und zum zentralen Gegenstand der Wissenschaft. Der Durchbruch des Sophismus bedeutete für das griechische Denken — in moderner, aber nicht ganz adäquater Terminologie ausgedrückt — den Ubergang vom ontologischen Idealismus zum subjektiven. Als wichtigster Vertreter des Sophismus muß Protagoras genannt werden. Er erhebt das Individuum zum höchsten Kriterium: Der Mensch ist das Maß aller Sachen (pantoon chrematoon metron estin anthropos). Unter „Maß" ist sowohl das für die Bedeutung einer Sache Bestimmende als auch das Ziel einer Sache zu verstehen. Die ganze bis dahin in der griechischen Philosophie ausgearbeitete Methodologie wurde von Protagoras anthropozentrisch umgedeutet. Während nach Herakleitos und den Eleaten der Widerstreit in den Dingen selbst vorhanden ist, glaubt Protagoras, daß er seinen Ursprung im Verhältnis der Menschen zu den Dingen und in der Unzulänglichkeit der Erkenntnis hat1®. Da der Mensch weder dieses Verhältnis überwinden noch das Übel der Unzulänglichkeit vermeiden kann, hat er das Recht und die Pflicht, von sich aus das Vernünftige und Gute zu bestimmen. Sokrates stellt dieser individualistischen Moral seine Theorie über das absolute Gute gegenüber. Er versucht dies in den privaten Zielstrebungen der Menschen hervorzuheben und verwendet dazu die Methode seiner berühmtgewordenen „Ironie". Uber den absoluten Wert unterweisend, befragt er — sich unwissend stellend — die Bürger und Handwerker nach dem Ziel ihrer Tätigkeit und fordert sie auf, dasselbe zu begründen, mit der Absicht, sie gerade das Gegenteil von dem, wovon sie ausgegangen waren, behaupten zu lassen. Der verwirrte Gesprächspartner wird auf diese Weise zur nötigen Reife erzogen, um das allgemeine Gute als den höchsten Wert anzuerkennen. Der berühmteste Schüler Sokrates' ist zweifellos Piaton. Wie Zenon seine Antinomienlehre zur Rechtfertigung der Seinsauffassung seines Meisters aufgebaut hat, so beabsichtigt auch Piaton, mit der Dialektik seiner Jugendschriften die Lehre Sokrates' zu unterstützen. Später, besonders in Politeia und in Parmenides, versucht er der sokratischen Ethik eine 19

Vgl. Reinhardt 242.

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Positive Dialektik

ontologische Grundlage zu geben und identifiziert das allgemein Gute mit dem wahren Sein der Ideen als dem Ursprung aller Dinge". Die Dialogform, eine der bekanntesten Eigenschaften der platonischen Dialektik, bezweckt — wie Sokrates' „Ironie" — ein pädagogisches Ziel: Das Hin- und Herreden soll den Leser oder den Zuhörer von seinen beschränkten Urteilen befreien und zur Konzentration auf das wahre Wesen der Sache führen. In der Annahme des an-und-für-sich-existierenden Guten und Wahren stimmt die platonische Stellungnahme mit der eleatischen überein. Wie für die Eleaten das Sein, so ist für Piaton das Wahre und Gute das Bleibende und Beständige. Im Gegensatz zu diesen italienischen Griechen will er jedoch den sich verändernden Dingen nicht jeden positiven Wert absprechen; sie erhalten bei ihm die Bedeutung von Abbild (eidolon). Daraus erwächst das für die platonische Dialektik so spezifische Problem der Teilnahme (methexis, participatio) am Sein der wahren Gestalt (eidos), die das Vorbild (paradeigma) der objektiven Realität ist. Der Dialektiker beherrscht die Kunst, ausgehend von den gegebenen Dingen, zum idealen Sein aufzusteigen. Mit diesem Aufstieg beschäftigt sich besonders die Politeia, in der Piaton seine bekannte Forderung erhebt: Der Politiker solle gleichzeitig auch Philosoph sein. Eine allgemeine sophistische Bildung, die sich in der arithmetischen, geometrischen, astronomischen und politischen Erkenntnis erschöpft, reicht für die Regierung des Staates und für die Erkenntnis der Gerechtigkeit nicht aus. Der Staatsmann müsse außerdem das an-und-für-sich-seiende Wahre und Gute erkennen — gerade dies ist die dialektische Erkenntnis —, bevor er sich seiner Aufgabe widmet, die Gerechtigkeit im Staat durchzuführen. Diese Erkenntnis ist die Erfassung des Absoluten mittels der Begriffe. „Es sind die Dinge, die die Vernunft selber mit Hilfe der Dialektik sich zu eigen madit. Sie faßt die Voraussetzungen nicht als Grundlagen auf, sondern eben als Voraussetzungen, d. h. als Ausgangspunkte und Anstiegspunkte gleichsam, von denen aus sie bis zum Voraussetzungslosen: zum Anfang aller Dinge dringt. Ihn begreift sie und geht dann zurück, an der Hand dessen, was von ihm ausgeht, und steigt bis an das Ende hinab. Dabei nimmt sie nichts sinnlich Wahrnehmbares zu Hilfe, sondern führt ihre Untersuchungen mit Begriffen, durch Begriffen, und um der Begriffen willen und endet in Begriffen."18

Die Dialektik ist das Vermögen der menschlichen Vernunft (nous, logos), in den von den Dingen abstrahierten und für sich genommenen Begriffen das voraussetzungslose Wesen zu entdecken und dieses als den 17

18

Diesem Thema ist die Arbeit von Schmitz-Moormann gewidmet. — Uber die platonische Dialektik im allgemeinen vgl. Marten und Gundert. Politeia j i i B.

Piaton und die Sophisten

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Ursprung aller Dinge anzuerkennen. Die Vernunft betrachtet das Allgemeine nicht so, wie es in den Dingen realisiert ist. Dadurdi unterscheidet sie sich vom Verstand (dianoia), der sich zwar auch mit dem Allgemeinen beschäftigt, aber nicht dessen seinsbegründende Funktion analysiert. Die Vernunft ist somit ein reines Erkenntnisvermögen, d. h. sie erkennt in den allgemeinen Bestimmungen als solchen das an-und-für-sich Wahre und Gute. Im gleichen Dialog greift Piaton später nochmals — bei der Beschreibung des berühmtgewordenen Sonnengleichnisses — dieselben Gedanken auf: Wie wir mit den Augen die Sonne als die Quelle aller Schatten und Farben erkennen, „ebenso schreitet der, weldier sich der Dialektik widmet, ganz ohne Hilfe von Sinneswahrnehmungen, nur mit Hilfe von Begriffen auf das, was an den Gegenständen wahrhaftes Sein hat, los" 19 .

So versucht schon Piaton — lange vor Hegel — in den reinen Bestimmungen den Seinsgrund für die Dingwelt zu entdecken. Wie kommt die Vernunft dazu, das Allgemeine nicht mehr als Bestandteil des Dinges, sondern als in-sich-seiend zu betrachten? Warum sucht sie den Anfang aller Dinge in der Einheit der in sidi bestehenden Bestimmungen? Der Aufstieg zum an-sich-seienden Allgemeinen wird auch bei Piaton wie bei Zenon durch die Widersprüchlichkeit der Dinge veranlaßt. Er unterscheidet nämlich zwischen zwei Arten von Gegenständen: Einige werden von der Wahrnehmung hinreichend erfaßt; andere bleiben rätselhaft und regen das Denken zum Nachforschen an, weil sie gleichzeitig zwei entgegengesetzte Sinneseindrücke hervorrufen. «Allerdings enthält gerade der Gesichtseindruck in solchen Fällen Widersprüche. Wir sehen dasselbe Ding als eine Einheit und als eine unendliche Vielheit." 80

Wie für die Eleaten, so ist auch für Piaton die Mannigfaltigkeit der Dinge zusammen mit der Einheit des Allgemeinen widerspruchsvoll. Auf die Widersprüchlichkeit der Dinge kommt Piaton erneut im Permenides zu sprechen. In diesem Dialog ergreift Zenon zuerst das Wort und versucht zu zeigen, daß die Vielheit der Seienden widerspruchsvoll ist. „Wenn die Seienden Viele sind, müssen sie ähnlich und unähnlich sein, und das ist unmöglich; denn die Unähnlichen können nicht ähnlich und die Ähnlichen nicht unähnlich sein." 21 19 20

iJ

Politeia $32 A . Politeia 525 A . — Zitiert nach der Übersetzung von A. Horneffer, Stuttgart 1933. E. Chambry (Piaton Oeuvres Compl. VII, 1) übersetzt „Alla mentoi, ef£, toutog'ediei ouch hekista h£ peri auto opsis . . . " mit „Cette propriite, la vue de l'unite Γ a certes au plus haut p o i n t . . . etc.". Ähnlich W. Wiegand (Piaton W w . II Berlin). Parmenides 127 E.

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Positive Dialektik

Dieser Schlußfolgerung tritt der junge Sokrates entgegen und schlägt vor, für das Unähnliche ein anderes Eidos zu verwenden als für das Ähnliche. Darauf mischt sich der alte Parmenides ins Gespräch ein und widerlegt den Jüngling; diesen trifft am Ende des Dialogs der Tadel, es fehle ihm noch an dialektischer Denktechnik. Die Meinungen der heutigen Platonologen divergieren noch über die Deutung des Parmenides; aber man ist sidi darüber einig, daß in diesem Dialog die eleatisdien Tendenzen Piatons stark hervortreten. Auch Hegel hat den Parmenides sdion auf diese Weise interpretiert. Das positive Urteil Hegels über die Dialektik in Piatons Parmenides ist im vorigen Jahrhundert von E. von Hartmann kritisiert und neuerdings von L. Sichirollo mißverstanden worden". Ersterer gibt zu, dieser Dialog lasse eine Leugnung der Widerspruchsfreiheit vermuten, aber eine derartige Deutung sei unerlaubt, da Piaton in den anderen Dialogen das gleiche Prinzip anerkenne. Darum kann, so glaubt E. von Hartmann, Hegel keine einheitliche Platon-Interpretation aufrechterhalten, wenn er sich auf den Parmenides als historischen Zeugen für seine Widerspruchsdialektik beruft. Der Autor untersucht jedoch nicht die Frage, ob Piaton das Prinzip auf gleiche Weise für das sinnliche Sein wie für die Ideen gelten läßt. Die heutigen Platonologen — wir nennen hier nur E. Hoffmann, G. Prauss und H . Gundert23 — glauben, bei Piaton eine doppelte Bedeutung des Widerspruchsprinzips wahrzunehmen. Für sie hat Piaton zwar schon das von Aristoteles endgültig formulierte und systematisch ausgearbeitete Prinzip implizit anerkannt und ausgesprochen, aber ihm eine von Aristoteles abweichende Bedeutung zugeschrieben. Dieser hat sich „das Retten der Phänomene", das seit der eleatischen Widerlegung der Realität das griechische Denken beschäftigte, zum Hauptziel seiner Untersuchungen gemacht und die der eleatischen Methode entgegengesetzte Forderung, auch Urteile über das Sinnliche sollen widerspruchsfrei sein, aufgestellt. Piaton hingegen hat seine Dialoge noch in Übereinstimmung mit der eleatischen Tradition geschrieben. Sichirollo, der ebenfalls wie Hoffmann, Prauss und Gundert zu dieser Feststellung kommt, stellt sie dem Hegeischen Urteil gegenüber. „Bekanntlich bezeichnete Hegel den Parmenides als das .berühmteste Meisterstück der platonischen Dialektik'. Diese Behauptung läßt sich im Zusammenhang mit

22 23

E. v. Hartmann 4 ff. — Sichirollo 81 Anm. Hoffmann 64 — Praus 93—98, bes. 94 f. — Gundert 297, 332, 389, 400 ff., 407.

Piaton und die Sophisten

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dem Piatontext schwer aufrechterhalten. Die Dialektik, von der hier die Rede ist, ist diejenige Zenons . .

Der Autor übersieht, daß Hegels positives Urteil über den Parmenides fast jedesmal von der kritischen Bemerkung, der Dialog führe bloß zum „Nichts", begleitet wird. Nun aber beginnt die Hegeische Logik mit dem Nachweis, daß das eleatische Sein mit dem „Nichts" identisch ist. Deshalb muß das Hegeische Urteil wie folgt übersetzt werden: Der Parmenides ist zwar ein Meisterstück der Dialektik, kommt jedoch nicht über die eleatische Dialektik hinaus. Sichirollo glaubt daher zu Unrecht, daß Hegels PtfrmerciWej-Interpretation von seiner eigenen abweicht. Man ist sich also heute darüber einig, daß Piaton das Widerspruchsprinzip eleatisch deutet. Außerdem setzt seine Methode die Möglichkeit eines reinen Denkens und das An-sich-Sein von reinen Begriffen voraus. Sie bezweckt, in dem Reich dieser in sich seienden Begriffe das bedingungslose Wesen als den Grund aller Dinge zu entdecken. Insofern Piaton den Eleatismus neu verbreitet, ist er Vorläufer von Hegels negativer Dialektik; insofern er nicht über diesen hinauskommt, wird er von Hegel kritisiert.

2.1 IJ Von Aristoteles zu Kant In seinem Parmenides hat Piaton erklärt, die Dialektik werde gänzlich ausgeschlossen, wenn man das An-sidi-Sein bestimmter Formen leugnet24. Aristoteles ficht in der Metaphysik gerade diesen Standpunkt an und behauptet, es gebe außer den Dingen keine Formen. Außerdem fordert er die ausnahmslose Widerspruchsfreiheit. Trotzdem spricht er der Dialektik nicht jede Bedeutung ab und behält sie in ihrer sokratischen Form bei: Die Meinungen der Älteren können erst nach einer dialektisch-kritischen Analyse akzeptiert werden. Durch den Vergleich der sidi widersprechenden Meinungen kann in diesen das Unwahrscheinliche vom Wahrscheinlichen unterschieden werden. Für Aristoteles bedeutet „ein dialektischer Schluß" „ein Wahrscheinlichkeitsschluße2S. Von den Stoikern sowie von den mittelalterlichen Denkern wird der Dialektik keine besondere Bedeutung zugemessen. In der transzendentalen Logik von Immanuel Kant hingegen nimmt sie wieder eine zentrale Stellung ein. Ihre negative Aufgabe besteht im Nachweis der Widersprüche, die in der herkömmlichen Seinsmetaphysik enthalten sind. Die Dialektik 24 25

Parmenides 135 CD. Vgl. BodieÄski III 53, 59 — E. v. Hartmann 8 ff.

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Positive Dialektik

in diesem Sinne nennt Kant die Logik des Scheins; sie muß die Scheinwahrheit der grundlosen Anmaßungen des Verstandes und die Widersprüche der Ansichten der hyperphysisch spekulierenden Vernunft aufdecken". Nachdem unsere Erkenntnis von den metaphysischen Sophismen gereinigt ist, folgt die positive Aufgabe der Dialektik: die Ausarbeitung der Ideenlehre. Anstelle der Gegenstände Gott, Welt und Seele, die von der früheren Metaphysik für objektiv seiend gehalten wurden, treten drei Ideen, die nichts anderes als Forderungen nach Synthese der empirisdien Erkenntnis sind. Diese Synthesen vermitteln jedoch nur eine vorläufige und wahrscheinliche Erkenntnis, einen GlaubenWir finden also bei Kant die sokratisch-aristotelische Bedeutung der Dialektik wieder: Nadidem die sich widersprechenden Meinungen einmal beseitigt sind, wird eine Wahrscheinlichkeitserkenntnis vermittelt. Die Kantische Dialektik und die Kritik der reinen Vernunft überhaupt haben einerseits einen großen Einfluß auf die Hegelsche Dialektik ausgeübt und werden andererseits in dieser scharf kritisiert. Das Verständnis dieses doppelten Verhältnisses setzt eine bessere Einsicht in die Hegelsche Dialektik voraus. Fassen wir, bevor wir uns dieser Dialektik erneut zuwenden, die Ergebnisse unserer Untersuchung zusammen, a) Die Eleaten, Piaton, Aristoteles und Kant erkennen das Prinzip der Widerspruchsfreiheit an. b) Die Dialektik ist für die genannten Denker die Methode, um nach der Beseitigung der sich widersprechenden Meinungen oder Phänomene das Wesen einer Sache oder ein allgemeingültiges Urteil hervorzuheben, c) Diese Philosophen erkennen zwar das Prinzip der Widerspruchsfreiheit an, würdigen es jedoch auf verschiedene Weise, nicht zuletzt auf Grund ihrer verschiedenen Realitätsauffassungen. Nach der eleatisch-platonischen Deutung des Prinzips ist das sinnlich Gegebene widerspruchsvoll und hat deswegen nur den Schein von Sein; das widerspruchslose Wesen der übersinnlichen Welt soll gesucht werden. Die aristotelische Deutung des Prinzips fordert die allgemeine Widerspruchsfreiheit. Protagoras und Kant halten den Widerspruch für einen unumgänglichen Fehler unserer Erkenntnis. 26 27

K r V A 6 3 f. K r V Β (Seite X X X ) : „Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu b e k o m m e n . . . " — Vgl. K r V A 824—831. — Κ . Dürr wies in seinem Artikel schon auf die sokratisch-aristotelische Bedeutung hin, in der Kant den Ausdruck „Dialektik" verwendet. — Über die Doppeldeutigkeit des Kantischen Ausdrucks „Dialektik" vgl. Heintel.

Kritik, Sophistik, Dialektik

2.12 Kritik, Sophistik,

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Dialektik

Hegel unterscheidet verschiedene Arten von Dialektik. Ihnen allen ist die Eigenschaft gemeinsam, das „Feste wankend zu machen"*9. Unter diesem „Festen" wird primär die landläufige Meinung verstanden, daß die Dinge selbständige Substanzen sind, daß das Absolute ein in sich bestehendes Ding ist, welches getrennt von der Erfahrungswelt existiert, und daß unsere sinnliche Erkenntnis eine adäquate Wiedergabe der Seienden gibt. Die Dialektik im allgemeinen richtet sich also gegen „den sog. gesunden Menschenverstand". Dieser Verstand ist der Mißverstand, der das wahrhafte Sein für etwas Dinghaftes und Handgreifliches hält**. A ) Die Arten der „Dialektik" unterscheidet Hegel nach ihrem Ziel: a) Die skeptische Dialektik richtet sich gegen die Erkenntnis überhaupt. Diese Methode hat „das reine Nichts" zum Ergebnis, d. h. sie eignet sich nur zur Markierung von Grenzen. Der Skeptizismus versucht, die Relativität und Subjektivität alles Wissens aufzuzeigen und setzt „allgemein an die Stelle des Seyns im Wissen den Ausdruck des Scheinens"30.

Das Sein in sich selbst bleibt unbekannt; jede Erkenntnis ist ein subjektiver Schein. Zur skeptischen Dialektik rechnet Hegel auch die von Kant, da diese beim negativen Resultat, nur das Endliche lasse sich erkennen und das Absolute sei unerkennbar, stehen bleibt. Kant war sich — so behauptet Hegel — des Widerspruchs in diesem Resultat nicht bewußt. Zur Erkenntnis eines Gegenstandes gehört auch die Einsicht in sein Gegenteil. Darum ist es widerspruchsvoll, das Endliche für erkennbar und das Un-endliche für unerkennbar zu halten31. Den Fehler der skeptischen Dialektik im allgemeinen sieht Hegel in ihrem Streben, allein das Relative und Negative in der Erkenntnis aufzuzeigen, ohne gerade in dieser Negativität ein Motiv für den Aufstieg zum Absoluten zu entdecken". b) Die sophistische Dialektik macht „das Feste" um des individuellen Subjekts willen wankend. »Ist das Feld der Gründe, das, was dem Bewußtseyn als fest gilt, durch die Reflexion wankend gemacht, was soll man nun zum letzten Zweck machen? Denn Ein 28 29 30 31 38

Log. II 493. Log. I 31. Gesch. II 473. Enz. § 60 Anm. Der Skeptiker sieht nur das Nichts und entdeckt in ihm nicht die positive Bestimmtheit, Resultat einer Auflösung zu sein (Phän. 68).

Positive Dialektik

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Festes muß man dodi haben . . . Bei den Sophisten war nun das Individuum sich selbst die letzte Befriedigung; und indem sie Alles wankend machten, wurde der feste Punkt dieß: ,Es ist meine Lust, Eitelkeit, Ruhm, Ehre, besondere Subjektivität, welche ich mir zum Zweck mache' " . M

Beide, die Hegeische und die sophistische Dialektik, streben eine absolute Freiheit an. Diese dient nur dem individuellen Subjekt, jene hingegen bezweckt, das Individuum mit dem absoluten Subjekt zu konformieren. c) Die eleatische und die platonische Dialektik begründen eine ideale Realität und heben sie als das wahrhafte Sein hervor. Wie die Analyse der negativen Dialektik schon vermuten läßt, bewertet Hegel von den historischen Formen der Dialektik diese am positivsten. „Wir finden hier den Anfang der Dialektik, d. h. eben der reinen Bewegung des Denkens in Begriffen: damit den Gegensatz des Denkens gegen die Erscheinung oder das sinnliche Seyn . . . und an dem gegenständlichen Wesen den Widerspruch, den es an ihm selbst hat, — die eigentliche Dialektik."*4

Die eigentliche Dialektik umfaßt also zwei Momente: aa) Sie ist ein rein begriffliches Denken und bb) sie nimmt die Gegenständlichkeit des Widerspruchs an. Im Gegensatz zur sophistischen Dialektik, die sich nur auf die Beschränktheit unserer Erkenntnis konzentriert, zielt die eleatische Dialektik auf die immanente Betrachtung der Sache selbst hin. „Man setzt sich ganz in die Sache hinein, betrachtet den Gegenstand an ihm selbst, und nimmt ihn nach den Bestimmungen, die er hat. In dieser Betrachtung zeigt er dann von sich selbst auf, daß er entgegengesetzte Bestimmungen enthält, sich also aufhebt Das Resultat dieser Dialektik ist Null, das Negative; das Affirmative darin kommt noch nicht vor. Dieser wahrhaften Dialektik kann das zugestellt werden, was die Eleaten gethan haben. Es ist bei ihnen aber noch nicht die Bestimmung und das Wesen des Auffassens weit gediehen; sondern sie sind dabei stehen geblieben, daß durch den Widerspruch der Gegenstand ein Nichtiges ist." 35

Enthalten diese Texte nicht ein Paradox? Steht das reine Denken, das doch vom sinnlich Gegebenen absieht, nicht diametral der immanenten Betrachtung der Sache selbst gegenüber? Das Paradox löst sich, wenn man bedenkt, daß diese Betrachtung jene Denkart begründet. Mit „immanenter Betrachtung" ist nämlich die Entdeckung der widerspruchsvollen Strukturen und der daraus folgende Aufstieg zur idealen Realität gemeint. Überzeugt von der Negativität des sinnlich gegebenen Gegenstandes, analysiert der eleatische Dialektiker das bleibende und beständige Allge33 34 35

Gesch. III 24 f. Gesch. II 260. Gesch. II 286.

Kritik, Sophistik, Dialektik

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meine, das sich als ein Anderes von der sinnlichen Mannigfaltigkeit unterscheidet. Die Unvollkommenheit dieser Dialektik liegt in der ausschließlichen und starren Konzentrierung auf die reine Idealität, auf das Nichtige des Gegebenen. Dadurdi wird die Realitätserklärung, die eigentliche Aufgabe der Philosophie, vernachlässigt. Diese Unzulänglichkeit hindert Hegel nicht daran, die eleatische Dialektik wegen ihres gnoseologischen Realismus höher als jede skeptische Kritik zu bewerten. Z w a r halten beide Arten von Dialektik die Erscheinung für einen bloßen Sdiein, aber diese Dürftigkeit veranlaßt die Eleaten, sich nur mit dem Anderen der Erscheinung, mit dem einen und unterschiedslosen Sein, auseinanderzusetzen, während der Skeptizismus die Objektivität unserer Erkenntnis preisgibt und sich in gnoseologische Spekulationen verliert36. Obwohl mehrere platonische Dialoge — zum Beispiel Parmenides — keine höhere Ebene als die der eleatischen Dialektik erreichen und nur die ideale Realität betonen, besteht die allgemeine Tendenz der platonischen Dialektik für Hegel doch darin, „dieses Allgemeine in ihm selbst weiter zu bestimmen. Diess Bestimmen ist das Verhältniss, welches die dialektische Bewegung im Gedanken zum Allgemeinen hat; denn durch diese Bewegung kommt die Idee zu solchen Gedanken, die Gegensätze des Endlichen in sich enthalten. Die Idee ist dann, als das sich selbst Bestimmende, die Einheit dieser Unterschiede; und so ist sie die bestimmte Idee. Das Allgemeine ist daher als das bestimmt, welches die Widersprüche in sidi auflöst und aufgelöst hat, mithin als das in sich Concrete; so dass diese Aufhebung des Widersprudis das Affirmative ist. Die Dialektik in dieser höhern Bestimmung ist die eigentlich Platonische: als spekulativ, endet sie nicht mit einem negativen Resultat; sondern sie zeigt die Vereinigung der Gegensätze auf, die sich vernichtet haben." 37

Offensichtlich will Hegel hier das Gesetz der doppelten Negation, das Grundgesetz seiner eigenen Dialektik, in die platonische hineininterpretieren. In anderen Texten gibt er jedoch zu, daß sich bei Piaton nicht alles so „ausdrücklich" vorfindet, wie er es ihm zudichtet38. Außerdem wird jeder Vergleich zwischen der Hegeischen Wiedergabe der platonischen Dialektik und deren modernen Darstellungen wie ζ. B. denen von H . Gundert und R. Marten zeigen, daß unser Denker ihren Reichtum eingeschränkt hat. Jedoch sind Hegels Unterlassungen in seiner PiatonInterpretation für uns von geringerem Interesse als die Frage, ob die von Hegel in der platonischen Dialektik hervorgehobenen Elemente tatGesch. II 299. " Gesch. III 198. 38 Gesch. III 207. 31

Positive Dialektik

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sächlich bei dem griechischen Denker vorhanden sind, d. h. ob dasjenige, was er mit „platonischer Dialektik" bezeichnet, zu Recht „platonisch" genannt werden darf. Piaton selbst betont ausdrücklich die Widersprüchlichkeit im sinnlichen Sein und die „Reinheit" des dialektischen Denkens und versucht mit Hilfe der Dialektik das Wesen, das der Grund aller Dinge ist, zu erfassen. Außerdem spricht er an mehreren Stellen von einer Kreisbewegung, die sich in der objektiven Welt vollzieht". Diese Theorien Piatons werden von Hegel unterstrichen. „Die spekulative Dialektik Piatons" bedeutet also in der Hegeischen Sprache die Annahme, daß das Allgemeine, dessen Selbständigkeit und Beständigkeit die gegebene Dingwelt übertrifft, nicht bewegungslos bleibt in seiner Idealität wie das eine eleatische Sein. Es enthält selbst „die Gegensätze des Endlichen" in sidi und muß sich deshalb — wie das Sinnliche — auflösen und verschwinden. Dadurch gewinnt das Allgemeine eine doppelte Wirkung: Es hat einerseits die Widersprüche seiner Realität in die negative Dialektik aufgelöst und löst anderseits die Widersprüchlichkeit seiner Abstraktion auf. N u r in dieser doppelten Funktion ist das Allgemeine das wahrhaft Konkrete; das sinnlich Konkrete wird dadurch zu einem scheinbaren herabgesetzt. B) Hegels Beschreibungen seiner eigenen Dialektik sind spärlich, schwierig zu verstehen und in ihrem Kontext jedesmal von ebenso schwer verständlichen historischen Bemerkungen begleitet. Mit den Ergebnissen unserer obigen historischen Untersuchung können wir diese Schwierigkeiten zum Teil beseitigen. Die eleatisch-platonische Tradition weiterführend, lehnt Hegel die Sophistik und die skeptische Kritik ab. a) Von den drei Beschreibungen der Hegeischen Methode analysieren wir zuerst die aus der Einleitung zur Logik. „Das Einzige, um den wissenschaftlichen Fortgang zu gewinnen, . . . ist die Erkenntnis des logischen Satzes, daß das Negative ebensosehr positiv ist, oder daß das sidi Widersprechende sich nicht in Null, in das abstrakte Nichts auflöst, sondern wesentlich nur in die Negation seines besonderen Inhalts, oder daß eine solche Negation nicht alle Negation, sondern die Negation der bestimmten Sache, die sidi auflöst, somit bestimmte Negation ist, . . . Indem das Resultierende, die Negation, bestimmte Negation ist, hat sie einen Inhalt. ... Das, wodurch sidi der Begriff selbst weiter leitet, ist das vorhin angegebene Negative, das er in sich selbst hat; dies macht das wahrhaft Dialektische aus. . . . Audi die platonische Dialektik hat selbst im Parmenides und anderswo ohnehin noch direkter, teils nur die Absicht, beschränkte Behauptungen durch sich selbst aufzulösen und zu widerlegen, teils aber überhaupt das Nidits zum Resultate. Gewöhnlich sieht man die Dialektik f ü r ein 39

Tim 47 BC.

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äußerliches und negatives Tun an, das nidit der Sache selbst angehöre, in bloßer Eitelkeit als einer subjektiven Sucht, sich das Feste und Wahre in Schwanken zu setzen und aufzulösen, seinen Grund habe oder wenigstens zu nichts führe als zur Eitelkeit des dialektisch behandelten Gegenstandes . . . In diesem Dialektischen, wie es hier genommen wird, und damit in dem Fassen des Entgegengesetzten in seiner Einheit oder des Positiven im Negativen besteht das Spekulative "i0

aa) Hegels Dialektik unterscheidet sich von der gewöhnlichen, d. h. skeptischen. Diese ist ein äußerliches und negatives Tun, das der Sache selbst nicht angehört, und die mit dem "Widerspruch die Nutzlosigkeit der Einsicht in den dialektisch behandelten Gegenstand nachweisen will. Hingegen ist Hegels dialektischer Widerspruch objektiv gegeben, bb) Dieser Widerspruch leitet den Begriff weiter, d. h., in unserem Bestreben, die Existenz einer Sache zu verstehen, entdecken wir in ihr eine Widersprüchlichkeit oder Unverständlichkeit, die uns veranlaßt, etwas anderes zu untersuchen, das diese existierende Widersprüchlichkeit zu erklären vermag. cc) Weil der Widerspruch gegenständlich ist, liegt dem gedanklichen Übergang zu diesem Anderen ein ebenso gegenständlicher Übergang und Zusammenhang zugrunde, dd) Der Ausdruck „das Negative" verwirrt durch seine Mehrdeutigkeit; er steht für die widerspruchsvolle Struktur (das Negative oder das sich Widersprechende), für deren Auflösung (das den Begriff weiterleitende Negative) und für das Ergebnis dieser Auflösung (das resultierende Negative). Diese Sachverhalte bilden die Momente einer einheitlichen Bewegung, weshalb sie von Hegel mit einem einzigen Ausdruck benannt werden, ee) Das Negative als Ergebnis der Auflösung ist ebensosehr positiv. Diesen zweifachen Inhalt verdankt es der doppelten Auswirkung der Auflösung, die den Widerspruch abstreift und gleichzeitig den Ausgangspunkt verliert, ff) Das Resultierende hat einen bestimmten Inhalt, der sich aus der Auflösung der bestimmten Sache ergibt. Darin unterscheidet sich Hegels Dialektik von der mystischen Tendenz, die dem Übersinnlichen einen phantastischen Inhalt oder eine phantastische Macht zudichtet, gg) Die Erkenntnis ist erst dann spekulativ, wenn sie die Einheit des Positiven und Negativen sowohl in der Sache, von der ausgeganen, als auch in ihrem Anderen, zu dem übergegangen wird, erfaßt hat. Mit dieser methodologischen Forderung sucht Hegel sogar Piaton zu übertreffen, der zum Teil noch eine eleatische Methode, die überhaupt das Nichts zum Resultat hat, und eine sokratische, die beschränkte Behauptungen durch sich selbst auflöst, verwendet. » Log. 1 3 j .

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b) Die Paragraphen 79 bis 82 der Enzyklopädie, zusammengefaßt unter dem Titel Nähere Begriffe der Logik, beinhalten eine weitere allgemeine Beschreibung der Hegeischen Dialektik. „Das Logische hat der Form nach drei Seiten, a) die abstrakte oder verständige, b) die dialektische oder negativ-vernünftige, c) die spekulative oder positiv-vernünftige. a) Das Denken als Verstand bleibt bei der festen Bestimmtheit und der Unterschiedenheit derselben gegen andere stehen; ein solches beschränktes Abstraktes gilt ihm als für sich bestehend und seiend. b) Das dialektische Moment ist das eigene Sidiaufheben soldier endlidien Bestimmungen und ihr Ubergehen in ihre entgegengesetzte."

Daran anschließend lehnt er die skeptische und sophistische Deutung der Dialektik ab und fährt fort: „Die Reflexion ist zunächst das Hinausgehen über die isolierte Bestimmtheit und ein Beziehen derselben, wodurch diese in Verhältnis gesetzt, übrigens im ihrem isolierten Gelten erhalten wird. Die Dialektik dagegen ist dies immanente Hinausgehen, worin die Einseitigkeit und Beschränktheit der Verstandesbestimmungen sich als das, was sie ist, nämlich als ihre Negation, darstellt. Alles Endliche ist dies, sich selbst aufzuheben. Das Dialektische madit daher die bewegende Seele des wissenschaftlichen Fortgehens aus und ist das Prinzip, wodurch allein immanenter Zusammenhang und Notwendigkeit in den Inhalt der Wissenschaft kommt, so wie in ihm überhaupt die wahrhafte, nicht äußerliche Erhebung über das Endliche liegt. — c) Das Spekulative oder Positiv-Vernünftige faßt die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auf, das Affirmative, das in ihrer Auflösung und ihrem Übergehen enthalten ist. Die Dialektik hat ein positives Resultat, weil sie einen bestimmten Inhalt hat, oder weil ihr Resultat wahrhaft nicht das leere, abstrakte Nichts, sondern die Negation von gewissen Bestimmungen ist, welche im Resultate eben deswegen enthalten sind, weil dies nicht ein unmittelbares Nichts, sondern ein Resultat ist. Dies Vernünftige ist daher, obwohl ein Gedadites, auch Abstraktes, zugleich ein Konkretes, weil es nicht einfache, formelle Einheit, sondern Einheit unterschiedener Bestimmungen ist."

Im dialektischen Übergang sind drei Momente sdiarf zu unterscheiden: der Ausgangspunkt, der Ubergang und das Ergebnis. aa) Die Dialektik setzt die Verstandeserkenntnis voraus. Die Reflexion oder der Verstand hält die Dinge nicht mehr wie das Vorstellungsvermögen für unabhängige und isolierte Existenzen. Die Naturwissenschaften ζ. B. weisen einen allgemeinen Zusammenhang zwischen den Dingen nach. Dem Verstand gelingt es jedoch nicht, seine Welt zu überflügeln. Er faßt die Bestimmungen einseitig und beschränkt auf, d. h. er hält sie für Bestimmungen der gegebenen Dinge. bb) Diese Beschränktheit zeigt sich im Negativ-Vernünftigen, d. h. im Widerspruch und der ihm innewohnenden Forderung nach Auflösung und

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Übergang zum Andern. Dieses Hinausgehen, d. h. dieser Übergang, wird durdi die Beschränktheit der in den Dingen realisierten Bestimmungen veranlaßt und ist daher der Natur der Sache immanent. Hingegen beruht die Abstraktion des Verstandes in dessen Natur und ist dadurch eine der Sache selbst fremde und äußerliche Erhebung. cc) Das Positiv-Vernünftige, d. h. das, was sich aus der Auflösung ergibt, ist ein Gedachtes und Abstraktes, mit anderen Worten eine ideale Realität von reinen Bestimmungen; aber zugleich ein Konkretes, weil es die durch die Auflösung freigewordenen Bestimmungen in einer Einheit enthält. Das Positive des Positiv-Vernünftigen besteht gerade in dieser Einheit, die als Ausgangspunkt einer neuen Bewegung auftreten kann. c) Hegel schließt die Logik mit einem Rückblick auf die angewandte Methode ab und kommt wiederum auf drei Momente zu sprechen. aa) In der Logik wird jeweils mit dem Allgemeinen angefangen. Es »gilt aber in der absoluten Methode nicht als bloß Abstraktes, sondern als das objektiv Allgemeine, d. h. das an sich die konkrete Totalität, aber sie nodi nicht gesetzt, nodi nicht für sid) ist. Selbst das abstrakte Allgemeine als solches im Begriffe, d. i. nach seiner Wahrheit betrachtet, ist nicht nur das Einfache, sondern als Abstraktes ist es schon gesetzt als mit einer Negation behaftet."41

Das Allgemeine als solches ist objektiv und nicht objektiv: Es ist im objektiv Gegebenen vorhanden, kann aber nicht für sich existieren. Diese Doppeldeutigkeit gründet sich auf die zweifache Bewegung in der Kreisform. Es gibt eine notwendige Auflösung in das Allgemeine und eine ebenso notwendige Negation desselben. Das reine Allgemeine besteht zwar im objektiven Ganzen, aber nur als Moment. Da es mit einer Negation behaftet, d. h. widerspruchsvoll ist, wird es zur Vereinigung mit seinem Gegenteil getrieben. Das Allgemeine der reinen Bestimmungen ist deshalb schon an sich die Totalität, die sich aus ihm entwickeln wird. Im Gegensatz zum „Für-sich-Sein" enthält das „An-sich-Sein" die Notwendigkeit einer Entwicklung. „Für sich" ist dasjenige, was eine in sich selbst geschlossene Einheit formt. Das »An-und-für-sich-Sein" wird der Totalität zugeschrieben, die das Entwicklungsprinzip in sich hat und alle Entwicklung auf sich richtet. bb) Aus der Einheit der allgemeinen Bestimmungen mit ihrem Gegenteil ergibt sich das zweite Moment. „Die zweite Bestimmung die negative oder vermittelte, ist ferner zugleich die vermittelnde. . . . Sie ist das Negative, aber des Positiven, und schließt dasselbe in 41

Log. II 489; in diesem Zusammenhang (id. 491) weist Hegel ausdrücklich auf den Piatonismus seiner Methodologie hin.

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Positive Dialektik sich. . . . Sie ist somit als der Widerspruch die gesetzte Dialektik ihrer selbst". Ihre „Negativität madit nun den Wendungspunkt der Bewegung des Begriffes aus."41

cc) Die Negativität des zweiten Moments ist der Tatsache zu verdanken, daß das Allgemeine sich nidtit ändert, sondern nur mit seinem Gegenteil zusammentrifft. Die daraus entstandene Einheit von zwei einander entgegengesetzten Momenten ist widerspruchsvoll und kann nicht beständig sein. Aus der Auflösung dieser Einheit ergibt sich dann wieder die ursprüngliche Allgemeinheit. „In diesem Wendepunkt der Methode kehrt der Verlauf des Erkennens zugleich in sich selbst zurück. Diese Negativität ist als der sich aufgebende Widerspruch die Herstellung der ersten Unmittelbarkeit, der einfachen Allgemeinheit", „welche wieder ein Anfang sein kann."45

Die Bewegung kehrt also durch die zweite vermittelte und gleichzeitig vermittelnde Bestimmung zur ersten Unmittelbarkeit zurück. Der sonst so schwer erfaßbare Unterschied zwischen der Unmittelbarkeit und der Vermittlung wird dank der vorausgegangenen Erklärungen der Kreismethode verhältnismäßig leicht verständlich. Das erste Moment wird unmittelbar aufgenommen. Das zweite hingegen ergibt sich aus dem ersten und ist somit durch dasselbe vermittelt. Es tritt jedoch auch vermittelnd auf, denn es fungiert als Durchgangsmoment zwischen der ursprünglichen und der daraus resultierenden Unmittelbarkeit. Der ganze durch die Rückkehr-in-sich entstandene Kreis formt wieder einen unmittelbaren Ausgangspunkt für die folgende Spekulation. Anfang und Ende der Kreisbewegung sind also unmittelbar, dieser ist die vermittelte Unmittelbarkeit, jener hingegen ist einfach unmittelbar aufgenommen. Aus der Rückkehr-in-sich folgt, daß die erste Unmittelbarkeit nur für uns unvermittelt war; unser Denken ist nun einmal darauf angewiesen, mit dem unmittelbar Gegebenen anzufangen. Weil alles in der Kreisform existiert, gibt es nichts Unmittelbares. Im Wahren sind alle Kreise ineinander verwoben. Der Ausgangspunkt der jeweiligen Kreisbewegung wird zum Punkt der Rückkehr und wiederum zum Ausgangspunkt für eine neue Kreisbewegung, so daß alle Kreisformen in einem Punkt zusammentreffen und untrennbar miteinander verschmolzen sind. Die vorhergehende Rotation begründet die jeweils nachfolgende. Das Hegeische Verfahren kann deshalb mit Nie. Hartmann eine „Problemaufrollung" genannt werden. Ist eine bestimmte Allge42 43

Log. II 495 f. Log. II 497 ff.

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Technische Beschreibung

meinheit als Ausgangspunkt und Ziel einer Realität anerkannt, wird zur Frage nach dem Grund einer neuen Realität übergegangen. N u r das Ganze ist unmittelbar und wird nicht durch etwas anderes, sondern durch seine eigenen Momente vermittelt. Aus der Analyse der Hegeischen Beschreibungen der Dialektik resultiert folgendes: a) Die immer wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrende methodische Bewegung zielt auf die Lösung des Wert- und Universalienproblems hin: Die Allgemeinheiten werden in ihrer Kreisform einem einzigen Punkt, dem absoluten Subjekt, zugeschrieben, b) Hegel will mit seiner Dialektik die frühere eleatisch-platonische Tradition fortsetzen, c) Er lehnt die sophistische und die skeptische Dialektik, die das an-undfür-sich-seiende Wesen für unerkennbar und das Allgemeine für rein subjektiv halten, grundsätzlich ab.

2.13 Der Seinskreis, die abstrakteste Form der 2.1 JI

Dialektik

Technische Beschreibung

Nach den allgemeinen Beschreibungen der Kreismethode zeigen wir nun ihre Anwendung an einem Beispiel, an der Seinsbewegung. Der Seinskreis ist die abstrakteste Form der Hegeischen Dialektik.

Die Logik beginnt mit dem „absoluten Sein", dem ersten Attribut des absoluten Subjekts. „Absolut" — absolvere heißt „befreien" — ist für Hegel die abstrakte, von jeder Grenze oder Bestimmtheit befreite Realität; sie ist somit bestimmungslos und wird erst durch die Entwicklung von demjenigen, was an-sich in ihm enthalten ist, entwickelt. Das absolute Sein an sich in seiner reinen Idealität ist also keineswegs eine Bestimmung,

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Positive Dialektik

die eine Vollkommenheit ausdrückt, sondern leer und dem Nichtsein gleich. Neben dieser Identität mit dem Nichtsein steht die Nicht-Identität mit demselben, und man braucht nur diese beiden Sachverhalte des abstrakten Seins miteinander in Verbindung zu bringen, um den Widerspruch zu entdecken: Das reine ideale Sein ist identisch und zugleich nichtidentisch mit dem Nichts. Nach dem allgemeinen Gesetz der Dialektik wird das absolute Sein seiner Widersprüchlichkeit wegen negiert und die Einheit mit seinem Gegenteil, dem Nichtsein, gefordert. Diese Einheit, das Werden, beinhaltet nach dem gleichen Gesetz das Positive, das Sein als solches, wenn auch mit dem Nichtsein vereinigt. Das Werden beinhaltet also zwei entgegengesetzte Bestimmungen: das Sein und das Nichtsein. Eine solche Vereinigung aber zerstört sich, denn sie ist widerspruchsvoll. Das Werden löst sich deshalb zwangsläufig auf, so daß die beiden in ihm enthaltenen Bestimmungen, das Sein und das Nichtsein, wieder frei werden44. Die zwei in der Kreisbewegung auftretenden Widersprüche enthalten jeweils die Bestimmungen Sein und Nichts, jedoch in entgegengesetztem Verhältnis. Im ersten Widersprudi wird die Trennung auf die Spitze getrieben, im zweiten ihre Einheit. 2.132 Die Voraussetzungen Diese Seinsbetrachtung setzt die negative Dialektik voraus, welche sowohl die notwendige Realitätsauflösung als auch die Beständigkeit und Selbständigkeit der allgemeinen Bestimmungen aufzeigt. Nachdem dieser Nachweis von der Phänomenologie sichergestellt ist, sucht die Logik zu Recht in den reinen Allgemeinheiten den Grund aller Realität und allen Daseins. Nie. Hartmanns Behauptung, Hegel nehme die Voraussetzungen seiner SelbstentfaJtungstheorie als gegeben hin und entziehe sich damit jeder Rechenschaft und Diskussion, fußt nicht auf einer Auseinandersetzung mit der negativen Dialektik45. Seine Kritik ist dadurch unbegründet. Ähnlich wie Hartmann glauben A. Trendelenburg und L. Erdei, der Anfang der Hegeischen Logik sei mittels einer Abstraktion konstruiert worden; die Philosophie solle nicht mit dem abstrakten, sondern mit dem sinn44 45

Log. I 66 f., 93. Nie. Hartmann II 12.

Die Voraussetzungen

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lidi-konkreten Sein beginnen4'. Auch diese Kritik ist unberechtigt, denn wie die negative Dialektik zeigt, ist das Abstrakte, mit dem die Logik anfängt, durch die der objektiven Realität immanente Auflösung und nicht durch subjektive Abstraktion entstanden. Über die Phänomenologie in ihrer Eigenschaft als Voraussetzung zur Logik äußert sich Trendelenburg so: Die Phänomenologie ist entweder eine Propädeutik oder ein Teil des Systems; im ersten Fall gehört sie nicht zum System und beeinflußt darum keineswegs die Begründung desselben, im zweiten Fall zählt sie zur Geistesphilosophie und verdankt ihre Rechtfertigung der Logik, die der Geistesphilosophie vorangestellt ist. Wir können diesem „Entweder-Oder" nicht beipflichten, denn die von der Phänomenologie aufgezeigte Realitätsauflösung bildet ein Moment der logischen Kreise und erhält durch sie eine zweite Begründung. Übrigens verwechselt Trendelenburg ein Kapitel der Geistesphilosophie mit der Wissenschaft, die den Titel Phänomenologie des Geistes trägt: In jenem wird das Phänomen der Erscheinungen des absoluten Geistes im menschlichen Geist, in dieser die Erscheinungen selbst beschrieben; im ersteren handelt es sich um eine Eigenschaft des menschlichen Geistes, im letzteren um den Inhalt des sich offenbarenden absoluten Geistes. Der Stil der Logik und noch deutlicher die Auseinandersetzungen in den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik lassen erkennen, daß die Identität zwischen Sein und Nichts von Hegels Zeitgenossen scharf kritisiert wurde. Die gleiche ablehnende Haltung zeigen die heutigen Autoren. C . Nink ζ. B. äußert sich über diese Identität folgendermaßen: „Das,reine', abstrakte Seiende ist zwar nicht näher bestimmt, aber es ist insofern bestimmt, als es nicht nichts ist und nicht nichts sein kann. ... (In dem abstrakten Seienden) werden zwar keine näher bestimmten Merkmale gedacht, vielmehr wird sein Begriff dadurch gebildet, daß wir w i s s e n , worin das Wesen des abstrakten Seienden besteht. Somit folgt nicht, daß ,das reine Sein' ,Nichts' sei. Das absolute Nichts ist die Verneinung alles Seienden; es ist nicht ,einfache Gleichheit mit sich selbst', audi nicht .vollkommene Leerheit, Bestimmungs- und Inhaltslosigkeit'." 47

Vergißt man bei der Deutung dieses Textes für einen Augenblick Ninks Aristotelismus, dann sind diese Worte eher eine Bestätigung als eine Widerlegung der von Hegel verteidigten Unterschiedslosigkeit von Sein und Nichts. Wenn nämlich das reine abstrakte Sein überhaupt nicht näher bestimmt ist und keine näher bestimmten Merkmale besitzt, dann kann es als solches nicht objektiv gegeben sein, dann wissen wir nicht mehr, 44 47

Trendelenburg III 23 f. — Erdei 12, 142. Nink 100 f.

52

Positive Dialektik

worin das Wesen des abstrakten Seienden sich vom Nichts unterscheidet, und dann ist es vollkommen leer, inhaltlos und mit dem Nichts — wie Nink es definiert — identisch. Für Hegel ist das absolute abstrakte Sein in seiner idealen Realität, die sich aus der Negation und Auflösung aller werdenden und daseienden objektiv gegebenen Realitäten ergeben hat, gerade mit dieser von Nink beschriebenen Verneinung alles Seienden identisch. Diese Analyse zeigt, wie schwierig sich der Unterschied zwischen Sein und Nichts formulieren läßt. Diese Schwierigkeit ist eher ein Argument zugunsten der Hegeischen Identität. Hegel beruft sich nämlich darauf, daß unaussagbare Unterschiede abzulehnen sind, weil es für die Vernunft nichts Unbegreifliches und Unaussprechliches geben kann48. Zum besseren Verständnis der ersten Identität und Nicht-Identität sei noch angefügt, daß sie nur für die ideale Realität der reinen Bestimmungen und nicht für die objektiv gegebene Realität gilt. Das Sein und das Nichtsein von 100 Talern sind auch für Hegel real unterschieden. Dieser Unterschied der objektiv gegebenen Realität wird in der idealen Realität durch die Nicht-Identität der reinen Bestimmungen zum Ausdruck gebracht. Hegels Seinsauffassung differiert grundsätzlich von der aristotelischen und somit auch von der Ninkschen. Für den Aristoteliker ist das Nichts eine privatio, es ist nicht-seiend, nicht gegeben und darum auch nicht real vom Sein unterschieden. Es gibt für ihn überhaupt kein Nichts. Nink will — wenn wir ihn richtig verstanden haben — betonen, daß mit „Sein" der Semsakt bezeichnet ist, der sich über jede kategoriale und essentielle Bestimmung erhebt. In dieser Seinsdeutung findet sich in der objektiv gegebenen Realität nichts, das mit einem Seinsbegriff übereinstimmt. Für den analytischen Aristoteliker enthält der Seinsd&t nichts Begriffliches. Der dialektische Seinskreis ist darum nicht akzeptabel; die objektiv gegebene Realität kann sich nicht in den Seinsbegriff und in den Nichtsbegriff auflösen, weil in ihr nichts diesen Begriffen entspricht. Die logische Dialektik steht und fällt also mit der negativen Dialektik. 2.133

Die Deutung

Wie muß man sich den Seinskreis vorstellen? Was besagt und begründet er? Wo vollzieht sich die Kreisbewegung des Seins? Diese Fragen 48

Enz. § 20 Anm.

53

Die Deutung

wurden schon zum Teil durch unsere Analyse von Hegels Beschreibungen seiner Methode beantwortet. Die Dialektik soll die Auflösung, die Begründung und die Aufhebung der scheinbar selbständigen und endlichen Realität nachweisen. Der Deutung des ersten logischen Kreises fügt er noch einige nähere Erklärungen an. „Den einfachen Gedanken des reinen Seins haben die Eleaten Parmenides

zuerst, vorzüglich

als das Absolute und als einzige Wahrheit . . . ausgesprochen: nur das

Sein ist, und das Nichts ist gar nicht. ...

D e r tiefsinnige Heraklit

hob gegen jene

einfache und einseitige Abstraktion den höhern totalen Begriff des Werdens hervor und sagte: Das Sein ist so wenig als das Nichts, oder auch: Alles fließt, d a ß heißt, Alles ist Werden."*»

Anfänglich stimmt Hegel in der Logik dem Eleatismus zu, der das ideale Sein für die wahrhafte Realität hält. Diese Position wird aber anschließend durch die Identität und Nicht-Identität des Seins mit dem Nichts relativiert. Das absolute Sein ist zwar das Beständigste des objektiven Ganzen, aber es ist immer auf verschiedene A r t und Weise mit dem Nichts verbunden. Sodann identifiziert er seine Position mit der von Herakleitos und behauptet sogar, alle Sätze dieses griechischen Denkers in die Logik aufgenommen zu haben50. Sowohl die Idealität als auch das objektiv Gegebene stellen eine Kombination von Sein und Nichts dar und sind somit eine Form des Werdens. Seinen Heraklitismus unterstreichend, schreibt er, „daß es nirgend im Himmel Nichts, in sich enthielte*.*1

und auf Erden Etwas gebe, was nicht beides, Sein und

Dieser Satz ist der Vorstellungsspradie, nämlich der Religionsphilosophie, entlehnt und dürfte eigentlich in der Logik, der Wissenschaft der reinen Gedanken, keinen Platz haben. Zur Deutung des ersten Kreises leistet er jedoch gute Dienste. Wie unsere Figur bildlich zeigt, werden die ideale und die objektiv gegebene Realität durch eine Einheit von Sein und Nichts gebildet. Der Seinskreis ist der allgemeinste und umfassendste Kreis; er beschreibt auf abstrakte Weise alle dar au f folgenden Kreise und erlaubt schon einen Einblick in das vom logischen Verfahren beabsichtigte Ziel, die Identität von Sein und Denken nachzuweisen. Diese Identität besagt für Hegel, daß alle „Etwas", die ganze Ding- und Erscheinungswelt sowie die objektive Wirklichkeit überhaupt nur Momente in der kreisförmigen " 6® 51

Log. 1 6 i . Gesch. II 301. Log. I 69.

54

Positive Dialektik

Aktivität von Synthese und Auflösung der reinen Bestimmungen sind. Die Tradition der Eleaten, Anaxagoras' und Piatons fortsetzend, will die Logik also glaubhaft machen, daß die reinen Bestimmungen das Beständige im objektiven Ganzen sind, daß alles nur als momentane Kombination von reinen Bestimmungen besteht, und daß das wahre Sein nur der synthetischen und analytischen Denktätigkeit des allumfassenden Nous zugesprochen werden muß. „Anaxagoras wird als derjenige gepriesen, der zuerst den Gedanken ausgesprochen habe, daß der Nus, der Gedanke, das Prinzip der Welt, daß das Wesen der Welt als der Gedanke zu bestimmen ist. Er hat damit den Grund zu einer Intellektualansicht des Universums gelegt, deren reine Gestalt die Logik sein muß. Es ist in ihr nicht um ein Denken über Etwas, das für sidi außer dem Denken zugrunde läge, zu tun." 52

Im Gegensatz zum menschlichen Denkvermögen, das sidi auf ein ihm gegenüberstehendes Objekt richtet, schöpft der absolute Nous seinen Gegenstand in sich und aus sich selbst; er „denkt" also nicht über Etwas, das für sich außerhalb von seinem Denken oder getrennt von ihm existiert. Die Weltvernunft oder die alles durchdringende Denktätigkeit wird von der Logik auf ihre reine Gestalt hin untersucht; d. h., im logisdien Prozeß wird der räumliche und zeitliche Aspekt des objektiven Ganzen abstrahiert und jede dinghafte Selbständigkeit von vornherein abgelehnt. Das objektiv Reale wird ja von Anfang an für eine Kombination von zwei entgegengesetzten allgemeinen Bestimmungen gehalten. „Durch diese Bewegung werden die reinen Gedanken Begriffe, und sind erst, was sie in Wahrheit sind, Selbstbewegungen, Kreise, das, was ihre Substanz ist, geistige Wesenheiten. Diese Bewegung der reinen Wesenheiten m a c h t d i e N a t u r der W i s s e n s c h a f t l i c h k e i t ü b e r h a u p t aus." 5 8

Hegel unterscheidet die reinen Gedanken von den Begriffen. Letztere sind die in ihrer notwendigen Rüdkkehr-in-sidi aufgefaßten Allgemeinheiten. Er nimmt „Begriff" somit in der mit „Begreifen" verwandten Bedeutung: Die Gegebenheit des „Etwas", der ganzen Ding- und Ersdieinungswelt sowie der objektiven Wirklichkeit überhaupt ist erst dann ausreichend begriffen, wenn die erste Negativität als ihr Grund, die zweite Negativität als ihre Rückkehr und die sich darauf gründende Selbstanschauung des absoluten Subjekts als ihr Ziel erkannt sind. Die Erklärung des objektiv Gegebenen fällt darum für Hegel mit der Untersuchung nach der Natur der absoluten Weltvernunft zusammen. 58 59

Log. I 31. Phän. 31.

Die idealistische „Auslegung" des Absoluten

55

Die erste Kreisbetrachtung vermittelt uns folglich schon eine formale Einsicht in die schöpfende und auflösende Denktätigkeit der absoluten Vernunft. 2.14 Die idealistische „Auslegung"

des Absoluten

Die Kreismethode bestimmt im wesentlichen die A r t des Hegeischen Idealismus. Hegel nennt sich einen Idealisten, weil er die Realität „negiert". Unter „Realität" versteht er die „Endlichkeit" oder die „unabhängig und außerhalb voneinander existierende vermeintliche Selbständigkeit". A m prägnantesten wird sein Idealismus mit dem Satz „Alles Endliche ist dies, sich selbst aufzuheben" charakterisiert54. In der „wahren" Idealität Hegels ist jede Scheinselbständigkeit und jede Endlichkeit in die ewig sidi zurückkehrende Kreisbewegung aufgehoben. Dem Endlidien oder dem objektiv Gegebenen spricht Hegel, wie die Analyse der negativen Dialektik zeigte, jede Individualität und Selbständigkeit ab; es kann nicht für sich existieren und auch nicht selbst seine Existenz begründen. Das eine Endliche kann unmöglich der Grund für das andere Endlidie sein, denn alles, was endlich ist, muß seiner Natur nach zu-grunde-gehen ins Absolute und hat gleichzeitig den Grund seiner Existenz in demselben. Der übliche Sprachgebrauch drückt sdion — so glaubt er — diese spekulative These aus: Wenn etwas zu-grunde-geht, geht es auf seinen Grund zuK. Diese Bedeutung des Ausdrucks „Zugrundegehen in seinen Grund" wird aus den obigen Erläuterungen leidit ersichtlich: Das Endliche löst sich ins Absolute auf, um von ihm wieder neu begründet zu werden; letzteres tritt somit als der Grund und audi als der Abgrund des ersteren auf. Wir glauben jedodi nicht, daß diese Deutung schon aus der Umgangssprache heraus verständlich ist. Für die landläufige Vorstellung besteht der Grund früher als das Begründete, und dasjenige, was Hegel den Abgrund einer Sache nennt, später als dieses. N u n aber kann etwas nur das „Vor" und zugleich das „Nach" einer Sache sein, wenn es in einer Kreisbewegung mit ihr verbunden ist. Die Hegeische Sinnbildung des genannten Ausdrucks ist also nur mittels einer Erkenntnis der Kreismethode verständlich. Mit der seinsbegründenden und seinsauflösenden Natur des absoluten Wesens stimmt eine positive und negative Auslegung oder Betrachtungs54 55

Vgl. 2.12 Bb. Log. II j8—63 — Enz. % 120 ff.

Positive Dialektik

56

weise überein. Begeistert von der Parallelität zwischen dem „Gang" der Methode und der Form der Tätigkeit in der absoluten Vernunft, verwendet Hegel absichtlich eine doppeldeutige Terminologie, um diese Übereinstimmung aufzuzeigen. Der Dialektiker gibt eine Auslegung — d. h. Deutung, Erklärung — des Absoluten auf gleiche Art, wie das Absolute sich selbst „auslegt", „verklärt", „ausdrückt" oder entfaltet. Dementsprechend bekräftigt er, daß die endlichen Strukturen durch die positive Auslegung des Absoluten vor ihrem Verschwinden aufgehalten werden. Über das Zugrundegehen des Endlichen in seinen Grund schreibt Hegel: „Diese Auslegung hat aber selbst zugleich eine positive Seite; insofern nämlich das Endliche darin, daß es zugrundegeht, diese Natur beweist, auf das Absolute bezogen zu sein oder das Absolute an ihm selbst zu enthalten. Aber diese Seite ist nicht so sehr die positive Auslegung des Aboluten selbst als vielmehr die Auslegung der Bestimmungen, daß sie nämlich das Absolute zu ihrem Abgrunde, aber auch zu ihrem Grunde haben, oder daß das, was ihnen, dem Schein, ein Bestehen gibt, das Absolute selbst ist. — Der Schein ist nicht das Nichts, sondern er ist Reflexion, Beziehung auf das Absolute; oder er ist Schein, i n s o f e r n das Absolute in ihm scheint. Diese positive Auslegung hält so nodi das Endlidie vor seinem Verschwinden auf und betrachtet es als e i n e n A u s d r u c k u n d A b b i l d d e s Absoluten. Aber die Durchsichtigkeit des Endlichen, das nur das Absolute durch sich hindurchblicken läßt, endigt in gänzliches Verschwinden; denn es ist nichts am Endlichen, was ihm einen Unterschied gegen das Absolute erhalten könnte; es ist ein Medium, das von dem, was durch es scheint, absorbiert wird." 56

aa) Das „Nichts" bezeichnet die reinen Bestimmungen in ihrer Funktion als Ergebnis der Auflösung und als Grund für die gegebene und sich auflösende Realität. Das Besondere des Textes liegt in der Verbindung des „Nichts" mit dem „Schein", der doppeldeutig aufgefaßt wird: Das Resultat der negativen Dialektik, die Realität habe nur den Schein von Sein, führt zur positiven Einsicht in die sc&eiwenJe Natur des absoluten Subjekts. Die Theorie der Sc&emrealität führt also nicht zum Nichts, sondern zur Erfassung des Absoluten. Außerdem erklärt sie, daß das objektiv gegebene Endliche ein notwendiges Moment im Widerschein, in der Widerspiegelung oder Reflexion-in-sich des Absoluten bildet. bb) Die Durchsichtigkeit des Endlichen endigt im gänzlichen Verschwinden desselben; es wird völlig vom Absoluten absorbiert. Dieser Satz nimmt das Endresultat der Logik schon vorweg; denn erst am Schluß dieser Wissenschaft erkennt der Dialektiker das Endliche, so wie es vom Absoluten selbst gedacht wird: Es hat überhaupt keinen Inhalt, den es " Log. II ι J9 f.

Die idealistisdie „Auslegung" des Absoluten

57

sich selbst verdankt, und keine Selbständigkeit, durch welche es sich vom Absoluten unterscheiden kann. cc) Hegels Bestreben, die platonische Tradition weiterzuführen, tritt auch im vorliegenden Text — besonders in dessen Kontext betrachtet — klar zutage. Die Ausdrücke „Abbild", „Schein", „Medium", „Nichts" kommen schon bei Piaton, u. a. in der Beschreibung des Sonnengleichnisses, häufig vor. Die Idee des Wahren und Guten gibt allen Dingen ihre Existenz, wie die Sonne ihnen Sichtbarkeit und Farbe verleiht57. Damit in Übereinstimmung nennt Hegel das absolute und allumfassende Subjekt, in dem das Endliche gänzlich verschwunden ist, die Idee des Wahren und Guten. Hegels Piatonismus ist jedoch zweifach monistisch: Er lehnt die Dualität zwischen dem Allgemeinen und der damit dürftig übereinstimmenden Mannigfaltigkeit grundsätzlich ab. Außerdem bleiben die ihre Realisation in sich enthaltenden Allgemeinheiten nicht nebeneinander und getrennt stehen; ihre Kreise werden in der jeweils zu sich zurückkehrenden Spiralbewegung zu einem einzigen Subjekt verkettet. Es ist nun leichter verständlich, in welchem Sinn Hegel sich zum Idealismus bekennt. „Jede Philosophie ist wesentlich Idealismus oder hat denselben wenigstens zu ihrem Prinzip, und die Frage ist dann nur, inwiefern dasselbe wirklich durchgeführt i s t . . . Eine Philosophie, welche dem endlichen Dasein als solchem wahrhaftes, letztes, absolutes Sein zuschriebe, verdiente den Namen Philosophie nicht."58

aa) Jede Philosophie ist in gewissem Maße idealistisch, denn jede deutet die phänomenale Welt mit einem nicht-phänomenalen Prinzip. Sogar die Naturphilosophen werden von Hegel zu den Idealisten gezählt, denn Wasser, Feuer und die anderen Elemente, mit denen sie das objektiv Gegebene erklären, sind keine empirischen, unmittelbar gegebenen oder realen Elemente. Jede Philosophie deutet die Erfahrungswelt mit Hilfe eines Prinzips, das beständiger und allgemeiner ist als die Erfahrungswelt selbst. bb) Wegen ihrer Theorie der Aufhebung alles Endlichen ist die Hegelsche Philosophie absolut idealistisch. Jedem Moment des Ganzen werden das Getrenntsein, die Selbständigkeit, die Realität und die Endlichkeit abgesprochen. Diese Eigenschaften sind am Ende der Logik völlig „verschwunden". Es bleibt nichts außer dem einheitlichen Kreis des allumfassenden, absoluten Subjekts. 57

58

Vgl. Sdimitz-Moormann.

Log. 114$.

58

Positive Dialektik

cc) Es gibt einerseits für Hegel kein absolutes Subjekt, das getrennt von der gegebenen Realität existiert, denn diese Trennung würde dessen Endlichkeit implizieren. Anderseits ist das Endliche der gegebenen Realität verschwunden, da es seine spezifische Natur verloren hat: Die Endlichkeit wird verewigt und vergöttlicht. Diese „Verewigung" ist nicht so aufzufassen, als ob er die endlichen Dinge — jedes für sich — vergöttlichte; vielmehr ist die Endlichkeit als solche ein ewiges, notwendiges Moment des Absoluten. Diese Eigenschaft wird keinem individuellen Ding zugeschrieben. So leugnet er sowohl die getrennt für sich existierende Realität als auch eine getrennt für sich existierende Erfahrungswelt: Alles wird verewigt, wird ewig gesetzt und kehrt ewig zurück ohne irgendeine Art von realer Selbständigkeit. Alles ist ein bloßes und gleichzeitig notwendiges Moment in der perennierenden Rotation und somit ein ideales Moment der allumfassenden Denkbewegung. In diesem Sinne nennt sich Hegel Idealist, denn Idealismus und Realitätsleugnung sind ihm gleichbedeutend.

2.2 Vom subjektiven zum objektiven Idealismus 2.2i

Subjekt-K-F-H

Hegels Beschreibungen seiner Methode, das Beispiel des Seinskreises und die Bestimmung des Hegeischen Idealismus vermitteln zwar eine Einsicht in den Sinn, die Wirkung und die Absicht des grundlegenden Gesetzes der doppelten Negativität, aber in diesen bisherigen Betrachtungen fehlt noch der Kern der Hegeischen Methodologie. Das allgemeine Schema, mit dem er von jedem Gegenstand das Negative oder Widersprüchliche nachweist, muß noch analysiert werden. Durch die Parallelität von Methode und Seinsbewegung stimmt die Struktur des Schemas mit dem allumfassenden Wesen überein. Die Ausdrücke, mit denen das methodologische Schema und das absolute Wesen beschrieben werden, erhielten ihre spezifische Bedeutung in den Auseinandersetzungen mit Kant und Fichte. Wie kann Hegel mit den beiden Gnoeseologen in Diskusison treten? Er untersucht die Seinsstruktur an und für sich, hingegen halten Kant und Fichte eine Ontologie im strengen Sinne für ausgeschlossen. Für sie erfaßt der Mensch nur das im Erkenntnisvermögen Vorhandene und nicht das gegenständliche Sein an sich. Die Subjekte, von der Kritik der reinen

Vom subjektiven zum objektiven Idealismus

59

Vernunft (Subjekt-K) und von der Wissenschaflslehre (Subjekt-F) analysiert, und Hegels logisches Nous (Subjekt-Η) unterscheiden sich grundlegend voneinander, denn Subjekt-K-F ist das menschliche Erkenntnisvermögen, Subjekt-Η die allumfassende Denktätigkeit. In seiner Polemik gegen Kant und Fichte läßt Hegel diesen Unterschied außer acht, weil ihn die zentrale Frage der Kritik der reinen Vernunft, ob unsere Erkenntnis „aus der Erfahrung" oder aus dem menschlichen Erkenntnisvermögen stamme, gar nicht interessiert. Dadurch werden seine Ausführungen über die Fichtesche und Kantische Philosophie für uns schwer verständlich. Die Zeitgenossen Hegels kämpften weniger mit dieser Schwierigkeit, weil sie die Verschiebung vom subjektiven zum absoluten Idealismus miterlebten. Der Ubergang vom Subjekt-K zum Subjekt-Η wurde nicht nur von Fichte, sondern auch von S. Maimon (1753—1800), K . L. Reinhold (1758—1823) und besonders von F. W. J . von Schelling (1775—1854) vorbereitet5*. Durch die Veröffentlichungen dieser Philosophen, die schon eine Synthese vom Subjekt-K mit dem Piatonismus anstrebten, war man zu Hegels Zeiten mit der Literatur vertraut, in der das Subjekt-K auf ontologischer Ebene kritisiert wurde. Heute können die Deutungsschwierigkeiten am besten vermieden werden, wenn man sich vor jeder weiteren Analyse zuerst auf die Basis der Auseinandersetzungen konzentriert: Kant, Fichte und Hegel vertreten zwar in der Gnoseologie grundlegend versdiiedene Auffassungen, beschäftigen sich jedoch mit einer gemeinsamen Problematik. Subjekt-K-F ist subjektiv-idealistisdo\ als das menschlidie Subjekt setzt es spontan seine objektive Realität in sich selbst. Subjekt-Η ist absolut-idealistisch-, als das absolute Subjekt setzt es die Erfahrungswelt, die nicht außerhalb von ihm existieren kann. Subjekt-K-F-H setzt das Objektive in sich selbst und bestimmt seinen Inhalt. Nur insoweit Kant, Fichte und Hegel einen Idealismus vertreten, ist Hegels kritische Auseinandersetzung mit ihnen berechtigt. Die Entwicklung vom subjektiven zum absoluten Idealismus hat eine Bedeutungsversdiiebung zur Folge, die sich besonders auf die Ausdrücke „Sollen", „Ding an sich", „Identität", „Immannenz" und „Materie" bezieht. Ihrem gnoeseologischen oder moralischen Kontext entzogen, werden sie in der Logik für ontologisdie Beschreibungen verwendet. Diese Bedeutungsversdiiebung wird im folgenden analysiert. 59

Die Bedeutung dieser Denker für das Verständnis der Hegeischen Philosophie wurde von Kroner und Nie. Hartmann (I) schon hervorgehoben.

Positive Dialektik

60

2.22 Die Auseinandersetzung mit Kant 2.221

Der „Anstoß von außen" und die Immanenz

Kant beschäftigt sich mit dem gleichen Problem wie Piaton und Hegel, nämlich mit der Frage, inwiefern die erscheinenden Dinge das Subjekt ihrer allgemeinen Bestimmungen sind. Für Kant können die Gesetze der Wissenschaften, die sog. „synthetischen Urteile a priori", ihre Quelle nicht in der Erscheinungswelt haben, weil diese in ihrer mannigfaltigen, zufälligen und veränderlichen Vielheit dem einfachen, notwendigen und ewigen Inhalt der Gesetze gegenübersteht. Die Kantische Lösung dieses Problems ist dualistisch: i. Die Einheit und die Notwendigkeit der wissenschaftlichen Urteile gründen sich auf apriorische Formen, die vor jeglicher Erfahrung im menschlichen Erkenntnisvermögen gegeben sind. z. Die mannigfaltige Vielheit hat ihre Quelle außerhalb des menschlichen Subjekts; sie beruht auf der vom Ding an sich gegebenen Materie. Das Ding an sich bleibt selbst unbekannt; wir erkennen nur eine Einheit von Materie und subjektiven Formen. Die Gesetze der Mathematik gründen sich auf die apriorischen Formen von Raum und Zeit, die der Naturwissenschaften auf die Verstandeskategorien. Der Verstand bildet jedoch die Gegenstände nicht für sich allein und ausschließlich aus seinen apriorischen Formen. Seine Selbständigkeit wird durch die Tätigkeit des Dinges an sich beeinträchtigt. Hegel nennt — Kant interpretierend — diese außerhalb vom erkennenden Subjekt angenommene Aktivität „den Anstoß von außen"80. Seine Kritik an dieser Theorie läßt sich in vier Punkten zusammenfassen: a) Als das absolute und allumfassende Ganze kann Subjekt-Η nicht wie Subjekt-K von einer ihm fremden Tätigkeit abhängig sein. Es setzt autonom seine Gegenständlichkeit in sich selbst. Deswegen fordert Hegels Methodologie, in der Subjektseite des absoluten Nous (Subjektseite-H) — d. h. in der einheitlichen Totalität aller reinen Bestimmungen — den Grund für die Entäußerung zu entdecken. Damit ist die Aufgabe der ersten Negativität im Prinzip der doppelten Negativität beschrieben: Sie soll nachweisen, daß es den reinen Idealitäten immanent ist, objektiv zu werden und sich zu entäußern. Diese Setzung wurde in der Kritik der reinen Vernunft mit der Spontaneität des Subjekts-K und mit dessen zufällig bleibender Tätigkeit erklärt. Die Struktur und die Notwendigkeit der Setzung wurde 80

Log. I 32 — Log. II 10 — Phän. 181.

Die Auseinandersetzung mit K a n t

61

nicht aufgezeigt, die Selbständigkeit des Subjekts-K und der Idealismus blieben unbegründet, b) Ebenso kann Subjekt-Η als absolutes nicht „von außen" einen Inhalt, eine Materie in sich aufnehmen. An mehreren Stellen in der Einleitung zur Logik" wird darum Kants Kritik an der formalen Realitätserklärung widerlegt. „ D e r Inhalt, der an den logisdien Formen vermißt wird, ist nidits anderes als eine feste Grundlage und Konkretion dieser abstrakten Bestimmungen; und ein solches substantielles Wesen pflegt f ü r sie a u ß e n gesucht zu werden."® 2

Für Hegel besteht das scheinbar substantielle Wesen, das objektiv gegebene konkrete Individuum, nicht außerhalb der allgemeinen Bestimmungen. Die mannigfaltige Vielheit und somit die sinnlich gegebene Individualität verdanken ihre Objektivität und ihren Inhalt der Synthese der positiven und negativen Bestimmungen: Sein und Nichts, Unendliches und Endliches usw. Die Konkretion oder Realisierung des Allgemeinen bestimmt völlig die Objektseite-H, so daß keine von „außen" gegebene Materie vorausgesetzt wird. Diese zwei Punkte beziehen sich auf die Setzung der Objektseite-H und bilden Hegels Theorie der „immanenten Entstehung der Unterschiede", die jede Transzendenz der gegebenen Individualität in bezug auf die formellen Bestimmungen ablehnt. Die Erfahrungswelt entsteht durch die Bewegung, die der Subjektseite-H immanent ist. Die zwei nun folgenden Punkte beziehen sich auf die Rückkehr zur Subjektseite-H. c) Die Objektseite-H löst sich nach dem Gesetz der negativen Dialektik vollständig auf und ist deshalb für die Subjektseite-H kein Jenseits. Hingegen bleibt in Kants Gnoseologie der Gegenstand für den Verstand ein niemals erfaßtes, unerfaßbares Objekt und darum ein Jenseits68. d) In mehreren Texten lehnt Hegel das Jenseits ab, verteidigt das Diesseits und nimmt gleichzeitig — Kant kritisierend — eine Transzendenz an®4. Auch diese paradoxen Äußerungen klären sich in der Kreistheorie. Durch die Auflösung in die Subjektseite-H, die Transzendierung zum Unendlichen95, übersteigt die gegebene Realität sich selbst. Daraus ergibt sich, 61 62 63

M

"

Log. I 24 ff. — L o g . I 2 9 ff. — L o g . I I 2 3 1 fF. Log. I 29. Log. I 2 j . Dieser V o r w u r f Hegels gilt für jede realistische Gnoseologie, die annimmt, daß die objektive Wirklichkeit außerhalb des Subjekts besteht, und daß diese W i r k lichkeit mehr bedeutet als eine bloße Kombination von formellen Bestimmungen. A m Schluß seiner Arbeit weist Maier auf die Inadäquatheit der Hegeischen Kritik an K a n t hin: K a n t beabsichtigte keineswegs eine gnoseologische Immanenz. Log. II 408 f. Rel. I I — I 20.

Positive Dialektik

62

daß das totale Ganze, dessen Moment das objektiv Gegebene ist, wohl die Erfahrungswelt übersteigt, aber nicht jenseits derselben steht. Da die „Auflösung" die Seinsgrenze zwischen der gegebenen und der idealen Realität aufhebt, wird auch jede Jenseitigkeit aufgehoben. Beide Realitäten sind als Subjekt- und Objektseite vom Subjekt-Η die partes integrales eines einheitlichen Seins. Sich auf diese Lösung des ontologischen Immanenzproblems stützend, lehnt Hegel die gnoseologische Transzendenz ab: Der ganze Inhalt der absoluten Idee ist diesseits des BewußtseinsM. Während das Ding an sich für Subjekt-K ein unerreichbares X bleibt, ist für ihn das absolute Ganze — auch die tranzendente Subjektseite-H — schon bekannt oder zumindest erkennbar, denn das Ideale hat sidi entäußert oder wird sich entäußern.

2.222 Die Methode, das Unbedingte zu erkennen 2.2221 Kants Kritik an der Metaphysik Die Formen der reinen Anschauung ermöglichen die Mathematik, die reinen Verstandeskategorien die Naturwissenschaften; beide ermöglichen die „Erfahrungswissenschaften" überhaupt. Aber damit nicht zufrieden, will der Mensdi über diese Erkenntnisse hinausgehen und das Unbedingte erfassen. Er strebt nach Einsicht ι . in den absoluten Inbegriff aller überhaupt möglichen Bestimmungen, i . in den absoluten Inbegriff aller Erscheinungen und 3. in den absoluten Inbegriff aller Bestimmungen des Subjekts. Kritiklos diese durch subjektive Synthesen erworbenen Begriffe hypostatisierend, bezeichnete die rationalistische Metaphysik sie mit „Gott", „Welt" und „Seele" und stellt sich nicht die Frage, ob mit derartigen Begriffen an-sich-seiende Dinge übereinstimmen können. Kants transzendentale Dialektik zeigt, daß die menschliche Vernunft nur drei problematische Begriffe und keine Erkenntnisse von an-sich-seienden Objekten erwerben kann. 1. Von den Gottesbeweisen hält Kant den ontologischen für den grundlegendsten, weil dieser den Inbegriff aller möglichen Bestimmungen explizit zum Gegenstand hat. Darum richtet sich die Kritik der reinen Vernunft hauptsächlich gegen diesen Beweis. Wir können uns zwar — so argumentiert er — einen Inbegriff aller Realitäten bilden, aber daraus βί

Enz. § 60 Anm.

Die Methode, das Unbedingte zu erkennen

63

folgt noch nidit ihre Existenz, denn die bloße Vorstellung eines Gegenstandes impliziert noch nicht dessen Sein. Der Annahme des mit dem Inbegriff übereinstimmenden Dinges an sich fehlt jede Begründung, denn es ist in keiner Erfahrungswelt gegeben'7. 2. Gegen die rationalistische Kosmologie stellt Kant seine berühmte Antinomienlehre auf. Der Metaphysiker fragt sich, a) ob die Welt dem Raum und der Zeit nach endlich oder unendlich, b) ob sie ihrem Wesen nach einfach oder zusammengesetzt, c) ob sie kontingent oder notwendig sei, d) ob sie sich selbständig oder in Abhängigkeit von einer frei wirkenden Ursache entwickle. Weil sich die Thesen und auch die jeweiligen Antithesen begründen lassen, hält Kant die metaphysische Problematik für falsch gestellt und unlösbar. Die menschliche Vernunft sollte sich mit vorläufigen Synthesen der kosmologischen Forschungsergebnisse begnügen. Die Vorstellung von der „Welt" als an-sich-seiendes Ding ist illusionär88. 3. Das „Ich denke" wird für ein bestimmtes und einfaches Subjekt angesehen, das in den verschiedenen psychischen Aktivitäten mit sich identisch bleibt und sich von den außerhalb des »Ich" existierenden Dingen untersdieidet. Die rationalistische Psychologie gründet auf dieser Voraussetzung ihre Annahme, die Seele sei immateriell, unzerstörbar, persönlich und geistig. Diese Schlüsse sind für Kant para-logisch und unwissenschaftlich, weil sie die vorläufige Synthese der psychischen Erfahrungen und der impirisch-psychologischen Forschungsergebnisse überschreitet. „Hierauf beziehen sidi nun vier Paralogismen einer transzendentalen Seelenlehre, welche fälschlich für eine Wissenschaft der reinen Vernunft, von der Natur unseres denkenden Wesens, gehalten wird. Zugrunde derselben können wir aber nichts anderes legen, als die einfadie und für sich selbst an Inhalt gänzlidi leere Vorstellung: Ich, von der man nicht einmal sagen kann: daß sie ein Begriff sei, sondern ein bloßes Bewußtsein, das alle Begriffe begleitet. Durch dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denkt, wird nun nichts weiter als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = X , welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können." 9 ·

Die spekulative Psychologie ist die „Wissenschaft" einer leeren Vorstellung. Von der Seele steht ja am Anfang nicht einmal fest, ob und wie sie existiert. Trotzdem werden ihr bestimmte Phänomene und psychische Prozesse zugesdirieben. Die Urteile der metaphysischen Psychologie bleiben inhaltslose Aussagen, weil das Subjekt der Prädikate ein verborgenes X bleibt. w 88 M

KrV A 583—631. K r V A 426—461. K r V A 34 j f.

64

Positive Dialektik

2.2222 Dialektischer Schein Das Scheitern der früheren Metaphysik war für Kant kein Anlaß, ihre Aufgabe zu ignorieren. Die Tatsache, daß die Metaphysik jahrhundertelang erfolglos eine allgemein anerkannte Beschreibung des Unbedingten angestrebt hat, ist einerseits ein Hinweis für ihre unrichtige Methodologie und anderseits ein Zeichen für das in der menschlichen Vernunft verwurzelte Verlangen, das Absolute zu erkennen. Die Ideen sind „subjektive Forderungen, unsere Erkenntnis in einer einheitlichen Synthese zu vereinen". Der Irrtum oder die Illusion entsteht erst, wenn das Resultat der subjektiven Synthese für das Wesen eines an-sich-seienden Dinges genommen wird. Die Illusion ist ζ. T. unvermeidlich und sogar notwendig, denn nur der Glaube an die Existenz solcher Gegenstände veranlaßt uns, die Erfahrungserkenntnis in einer Synthese zu vereinigen. Da die Synthese für die Systematisierung unserer Erkenntnis unentbehrlich ist, müssen wir in den Wissenschaften so vorgehen, als ob diese Gegenstände tatsächlich beständen70. Wenn der „Schein" nicht aufhört und sogar für die Systematisierung erforderlich ist, welche Bedeutung hat es dann noch, ihn aufzudecken? Die Quintessenz der Kantischen Dialektik besteht im Nachweis der zwangsläufigen Unvollständigkeit unserer Einsicht in das Absolute und will den Imperativ, unsere Erfahrungserkenntnis solle immer erweitert werden, sicherstellen. Damit im Zusammenhang steht die positive Bewertung, die das Ding an sich allmählich in der Analyse der Kritik der reinen Vernunft gewinnt. Während in der Analytik nur das Unerkennbare und Unerreichbare des an-sich-seienden Dinges zum Ausdruck kommt, wird diese Negativität in der Dialektik mit einer positiveren Aufgabe verbunden. Die Materie des Dinges bekommt durch den Imperativ die Bedeutung einer unerschöpflidien Bestimmungsmöglidikeit für die Verstandeskategorien. Diese unendliche Bestimmbarkeit trägt in den Begriff der Erfahrung das praktische Moment hinein: Die Materie soll näher bestimmt werden. Auch die Antinomien und Paralogismen erhalten dadurch eine positive Wirkung. Sie treiben zur Erweiterung der Erfahrungserkenntnis, um eine höhere Synthese zu ermöglichen71. 70

71

Über das Kantische „Als ob": K r V A 672 if., K r V A 681, K r V A 68j f., K r V A 700. Üben den falschen Schein: K r V A 295 ff. Über den transzendentalen Schein: K r V A 298 ff., KrV A j i 7 f f . Uber die positive Bedeutung, welche das Ding an sich in der kantschen Dialektik erhält, vgl. Kroner I 12 j : „Während die Ursache der Empfindung ein der Verstandes-

Dialektischer Schein

65

Die Erkenntnis der metaphysischen Gegenstände ist ein asymptotischer Punkt: Diese Gegenstände werden nie erschöpfend erkannt; trotzdem müssen wir davon ausgehen, daß wir sie erkennen können und sollen. Der Unterschied ist subtil: Das, was wir nie erreichen werden, ist in sich noch nicht wesentlich unerreichbar. „Ich behaupte nun, daß die Transzendentalphilosophie . . . dieses Eigentumliche habe: daß gar keine Frage, welche einen der reinen Vernunft gegebenen Gegenstand betrifft, für eben dieselbe menschliche Vernunft unauflöslich sei; . . . weil ebenderselbe Begriff, der uns in den Stand setzt zu fragen, durchaus uns auch tüchtig machen muß, auf die Frage zu antworten, indem der Gegenstand a u ß e r d e m B e g r i f f e gar nicht a n g e t r o f f e n wird.""

Mit dem Vernunftsbegriff stimmt zwar kein an-sich-seiendes Ding überein, für die Systematisierung unserer Einsicht jedoch ist er von entscheidender Bedeutung. Jedes Element unserer Erkenntnis hat nur insofern einen wissenschaftlichen Wert, als es in dem durch die Idee geschaffenen System seinen Platz erhält. Dieselben Gedanken formuliert Kant noch deutlicher in seiner methodologischen Abhandlung, die sich unmittelbar an das Kapitel der Dialektik anschließt: „Das Ganze ist also gegliedert und nicht gehäuft; es kann zwar innerlich, aber nicht äußerlich wachsen, wie ein tierischer Körper, dessen Wachstum kein Glied hinzusetzt, sondern, ohne Veränderung der Proportion, ein jedes zu seinen Zwecken stärker und tüchtiger macht." 78

Die Idee bildet das System, sie weist jedem Teil seine Bestimmung und seinen Zweck in bezug auf das Ganze zu und ist somit die Form, die das Ganze informiert. Die Idee macht die organisdhe Entwicklung unserer Erkenntnis möglich.

72

metaphysik des Seins entlehnter Begriff ist, der problematische Gegenstand aber nur negative, grenzsetzende und grenzwahrende Bedeutung hat, enthüllt sich in der Idee zuerst die positive Seite, die das Ding an sich in der Kantschen Philosophie gewinnt, die aber erst bei Kants Nachfolgern, von Maimon an, ihrer ganzen Bedeutung nach hervorgetreten ist: es wird zur Aufgabe, insofern dem Verstände im Stoffe der Anschauung eine Unendlichkeit möglicher Bestimmungen, eine unendliche Bestimmbarkeit entgegentritt. Diese unendliche Bestimmbarkeit, die dem Verstände gestattet, die Sphäre seiner Spontaneität schrittweise zu erweitern und in das Reich des ihm Gegebenen hinein auszudehnen (worin eigentlich das Wesen der Erfahrung l i e g t ) . . . trägt in den Begriff der Erfahrung d a s p r a k t i s c h e M o m e n t h i n e i n " . — Seit Kant ist Denken identisch mit: seinen Gegenstand schöpfen. K r V A 478.

66

Positive Dialektik

2.2223 Bedeutung der kritischen Philosophie Obwohl Hegel hauptsächlich Platoniker geblieben ist, hat Kants Philosophie — mit der er sich sein ganzes Leben lang beschäftigte — einen tiefgehenden Einfluß auf sein Denken und besonders auf seine Terminologie ausgeübt. Detailliert läßt sich das Verhältnis der beiden Systeme wie folgt beschreiben: 1. Die Bedeutung der Hegelsdien Ausdrücke „Transzendenz-Immanenz" und „Diesseits-Jenseits" wird nur im Kontext seiner Auseinandersetzungen mit Kant verständlich. 2. Hegel zollt Kant das Lob, die Dialektik mit der „Objektivität des Scheins" und der „Notwendigkeit des Widerspruchs" verbunden zu haben7*. Diese Zustimmung ist aber nicht aufrichtig gemeint. Kant und Hegel sind sich nur in einem Punkt einig: Beide halten die Antinomien für unvermeidlich. Wegen ihrer Widersprüchlichkeit hält Kant unsere Erkenntnis des Unbedingten für einen illusorischen subjektiven Schein. Er schreibt also keineswegs wie Hegel den Widerspruch und den Schein dem objektiven Ganzen zu. Für Kant bedeutet der Widerspruch eine Triebfeder zur weiteren Forschung, für Hegel die Aufhebung der Realität. 3. Die These des unerkennbaren Absoluten ironisierend, erklärt Hegel die Kantische Philosophie für eine mittelalterliche „Magd des Glaubens"75. Der Verzidit auf Einsicht in das Absolute ist der Verzicht auf die Philosophie. 4. Der Hegeische Begriff „Geist" wurde von Kants kritischer Psychologie vorbereitet. In dieser wird die Seele nicht mehr als eine Substanz aufgefaßt, die von der Intelligenz und dem Willen bloß hinzukommend (accidentaliter) bestimmt wird. Kant kehrt das Verhältnis um und erhebt das Denken („Ich denke") zum primären Wesen des Menschen, das alle psychischen und somatischen Prozesse umfaßt und durchdringt. So audi umfaßt Hegels absoluter „Geist" die kosmische Seele und das kosmische Leben überhaupt. 5. Bei Hegel begegnen wir wiederum den drei Kantischen Vernunftsbegriffen. Er faßt sie aber objektiv auf und synthetisiert sie zu einem einheitlichen Ganzen. Als Subjektseite-H wird die objektive Existenz des absoluten Inbegriffs aller Realitäten wieder anerkannt. Das ideale Sein dieses Begriffs ergibt sich aus der negativen Dialektik, und in jeder dia73 74 75

K r V A 833. Log. I 38. Gl. u. W. 1. — Vgl. audi Gl. u. W. 2 und 14.

Bedeutung der kritischen Philosophie

67

lektischen Analyse tritt eines seiner Elemente als Voraussetzung und als Ziel der Bewegung auf. Der Inbegriff entäußert sich als subjektiver Begriff. Die Totalität aller Entäußerungen bildet den objektiven Begriff, der mit dem Kantisdien Inbegriff aller Erscheinungen übereinstimmt. Die einheitliche Bewegung, ausgehend vom subjektiven Begriff zum objektiven und von diesem wieder zurückkehrend zum subjektiven, vollzieht sich im absoluten Begriff oder im absoluten Geist. Die dynamische Form des Geistes umschließt also die beiden vorigen Begriffe. 6. Diese Ausdrücke, von Hegel der Kantisdien Paralogismenlehre entlehnt und zur Beschreibung der Selbstbewegungstheorie öfters verwendet, erhalten hier eine wesentlich andere Bedeutung. Mit dem „Ich denke" wird nicht mehr wie in der Kritik der reinen Vernunft der Gegenstand der psychologischen, sondern der metaphysischen Untersuchungen bezeichnet. Die gleiche Bedeutungsverschiebung findet man in den Texten, in denen Hegel das absolute Subjekt am Anfang der dialektischen Forschung ein leeres Wort, eine bloße Abstraktion und eine leere Vorstellung nennt7*. Kants Kritik an der rationalistischen Psychologie gilt — so glaubt Hegel — nicht für die dialektische Metaphysik, die Wissenschaft der Logik, die die Attribute des absoluten Subjekts nicht mit Hilfe der menschlichen Abstraktion bestimmt. Die Dialektik nimmt nicht an, daß das Absolute ein „ruhender Punkt" ist, dessen Inhalt mit von uns abstrahierten und ihm zugeschriebenen Attributen bestimmt wird. Das objektiv Gegebene selbst bestimmt durch die ihm innewohnende Negativität (Abstraktion!) den Inhalt des absoluten Subjekts. Das Absolute ist kein toter Punkt, sondern ein Subjekt, dessen Inhalt — die Attribute — in der entäußernden und auflösenden Bewegung lebendig ist. 7. Die Vernunftsidee ermöglicht — Kant zufolge — die organische Entwicklung der Vernunft. Auch Hegel nimmt eine organische Denkentwicklung an, jedoch nicht nur in bezug auf die menschliche Erkenntnis des Absoluten, sondern auch in der Entfaltung des absoluten Subjekts selbst". Hegels Systematisierung ist noch durchgreifender als die von Kant: Er synthetisiert die drei bei Kant noch getrennt gebliebenen Vernunftsbegriffe in einen absoluten Begriff. Außerdem wird das System zum Kriterium der ontologischen Bedeutung jedes Gegenstandes: Was sich nicht 79 77

Log. II 220 ff., 225, 493 ff. — Phän.: Vorrede, passim, bes. 23. — Enz. § 28 ff., 33. Gesch. I 30 ff., 96 ff., 113 ff., 14 j ff., 300.

68

Positive Dialektik

im systematisch sich entwickelnden Ganzen einfügt, wird zum „Verschwinden" verurteilt78. 8. Die Materie bleibt bei Kant eine uneingeschränkte Bestimmungsmöglichkeit. Die Ideenlehre endet mit der Maxime: Die Erfahrungswelt soll immer weiter bestimmt werden. Diesem „perennierenden Sollen" — das auch in Fichtes Philosophie zum Ausdruck kommt — setzt Hegel die völlig bestimmte Idee des an-und-für-sich-seienden Wahren und Guten entgegen. Sowohl Kant und Fichte als auch Hegel halten die Anschauung des absoluten Wesens für das höchste Ziel der menschlichen Erkenntnis. Aber das Absolute K-F soll vom menschlichen Erkenntnisvermögen bestimmt werden: Der Mensch schafft sich selbst sein Absolutes, so daß das Ziel unbestimmt bleibt. Hingegen ist für Hegel die Anschauung des anund-für-sich bestimmten Wahren und Guten das Ziel der Erkenntnis: Die Phänomenologie ist die Leiter, um zum absoluten Wissen aufzusteigen. Im dialektischen Fortgang der Logik konzentrieren sich die verschiedenen Stufen unserer Erkenntnis. Der Prozeß endigt in der Kontemplation der ewigen und ursprünglichen Einheit des absoluten Begriffs. Wie kann das Absolute-K einerseits das an-und-für-sich bestimmte Absolute sein und anderseits sich entwickeln? Dieses Paradox wird durch die Einsicht in die doppelte — d. h. die logisch-ewige und die räumlichzeitliche — Gestalt des Absoluten aufgelöst. Die logische bewegt sich in einer sich ewig gleichbleibenden Form, die räumlich-zeitliche ist in ihrer Entwicklung der Zufälligkeit preisgegeben. Die logische Form ist das Vorbild; die zeitliche Bewegung hat die Gleichförmigkeit mit der logischen Bewegung zum Ziel. Dieses kann nur schrittweise in der historischen Entwicklung der menschlichen Vernunft erreicht werden. Das Absolute-Η ist also in sich selbst, d. h. in seiner logischen Form, bestimmt und soll nicht wie bei Kant und Fichte bestimmt werden. 9. Hegel hat der Kantischen Antimonienlehre mehrere Arten von Widersprüchen entlehnt. Diese Widersprüche, die er in der objektiv gegebenen Realität von Raum und Zeit, von Quantität und Qualität, von Möglichkeit, Wirklichkeit und Kausalität nachweist, beruhen alle auf der gleichen in der Kantischen Antimonienlehre schon ausgedrückten Begriffskombination: Es gibt eine Grenze, und gleichzeitig gibt es diese Grenze nicht. Aber auch hier liegt ein tiefgreifender Unterschied vor. Für Kant bleibt die Frage, ob Raum und Zeit endlich oder unendlich seien, unent78

Log. II 4 8 5 : aller Inhalt hat nur durdi die Methode seine Wahrheit.

Die Auseinandersetzung mit Fichte

69

schieden; Hegel hingegen hält diese Realitäten selbst für widerspruchsvoll und behauptet, daß sie darum in die „Idealität" zugrunde gehen. Das entscheidende Kriterium für Hegels Zustimmung oder Ablehnung der Kantischen Gedanken bleibt — wie fast jeder Punkt zeigt — seine platonische Kreiswegungstheorie. Insofern diese Gedanken die Komplexität der Kreistheorie bereichern, werden sie von ihm übernommen, insofern sie notwendigerweise mit dem Subjektivismus verbunden sind, werden sie von ihm abgelehnt oder absichtlich falsch gedeutet. 2.23 Die Auseinandersetzung mit Fichte Da sich Hegels Kritik an Kant fast vollständig mit der an Fichte deckt, könnte diese hier ausgeklammert bleiben, wenn nicht gerade der Identitätsbegriff — für die Selbstbewegungslehre von zentraler Bedeutung — sich am besten im Kontext der Auseinandersetzung mit Fichte erklären ließe. 2.231 Die Identität in der Wissenschaftsieh re Fichte beginnt seine mit dem unendlichen Ich, das nicht als das absolute Ganze — wie etwa Subjekt-H — , sondern als das abstrakte Subjekt in seiner Funktion als Voraussetzung aller menschlichen Erkenntnis und Tätigkeit — wie etwa das transzendentale Ich der Kritik der reinen Vernunft — aufzufassen ist. Dieses ursprüngliche Ich ist zwar uneingeschränkt und unendlich, aber gleichzeitig auch leer und unbestimmt. Seine Unendlichkeit ist darum kein Reichtum, sondern eine abstrakte Sichselbstgleichheit, die mit dem Identitätssatz „Idi = Ich" beschrieben wird7*. Der Erkenntnisprozeß kann sich nicht allein aus diesem unendlichen Ich ergeben, denn dazu wird der Gegenstand, das Nicht-Ich, vorausgesetzt. Der Gegenstand nun kann nicht unabhängig und getrennt vom Subjekt bestehen, denn er verdankt der Beziehung zum Subjekt seine Objektivität. Einerseits steht er in seiner eigenen Identität (Nicht-Ich = Nicht-Ich) der ersten Identität (Ich = Ich) gegenüber, anderseits sollte er mit dem Subjekt eine Identität bilden. Nicht-Ich ist Nicht-Ich und sollte Ich werden, denn nur ein mit dem Ich gleichförmiger Gegenstand 79

Über die Fichtesche Dialektik vgl. Kroner und Radermacher.

70

Positive Dialektik

kann erkannt werden. Zur Uberwindung des Widerspruchs wird das endliche Ich gesetzt, dem ein beschränktes Nicht-Ich gegenübersteht. Das empirische Idi hat zur Aufgabe, das Nicht-Ich durch seine theoretische und praktische Tätigkeit zu bestimmen, zu negieren und zu idealisieren, um es mit dem unendlichen Ich zu versöhnen. Wie die Erkenntnis des Unbedingten bei Kant, so bleibt auch diese Versöhnung bei Fichte ein asymptotischer Punkt: Das Nicht-Ich wird nie erschöpfend negiert und nie völlig mit der ursprünglichen Identität versöhnt80. 2.232 Identität und Trennung in der Hegeischen

Dialektik

Hegel bewertet den Versuch Fichtes, alle Tätigkeit einem Subjekt zuzuschreiben, als Versuch sehr positiv, hält ihn aber für gescheitert: a) Das Ich wird gesetzt. Diesem gegenüber wird das Nicht-Ich gesetzt. Zur Überbrückung des Hiatus wird das empirische Ich gesetzt . . . Die ganze Wissensckaflslehre bleibt eine Aufzählung von Setzungen, deren Notwendigkeit nicht aufgezeigt wird; der Grund, warum von einem Element zum andern übergegangen wird, bleibt ungeklärt, b) Das Nicht-Ich wird nie vollständig mit dem ursprünglichen Ich versöhnt, denn es bleibt immer (perennierend) der ursprünglichen Identität gegenüber stehen. Dadurch wird ihm implizit eine gewisse Unabhängigkeit zugeschrieben, die Einheit von Ich und Nicht-Ich nie erreicht und der Idealismus nicht begründet. „Idealismus" in der Hegeischen Bedeutung setzt ja voraus, daß alles Sein und alle Tätigkeit, sowohl die theoretische als auch die praktische, ausschließlich einem einzigen Subjekt zuerkannt wird. Um bessere Klarheit in das Gesetz der doppelten Negativität, das Grundgesetz der Selbstbewegungslehre, zu gewinnen, werden wir auf diese zwei Vorwürfe etwas näher eingehen.

M

Schon J. G . Fichte (61 — wie auch Kant) schreibt dem Widerspruch eine positive Bedeutung zu, wenn auch nur auf subjektiver Ebene: „Vorausgesetzt, daß audi dieser fremde Satz auf die oben beschriebene Weise systematisch im Bewußtseyn begründet wäre, so müßte das System, zu welchem er gehörte, um des bloß formellen Widerspruchs seines Daseyns willen, dem ganzen ersten Systeme auch materialiter widersprechen, und auf einem dem ersten Grundsatze geradezu entgegengesetzten Grundsatz beruhen; so daß, wenn der erste ζ. B. der wäre: Ich bin Ich, — der zweite seyn müßte: Ich bin nicht Ich. Aus diesem Widerspruche soll und kann nun nicht geradezu die Unmöglichkeit eines solchen zweiten Grundsatzes gefolgert werden". — Auch ist bei Fichte (61, 92) schon die Idee der Kreisbewegung vorhanden.

Identität und Trennung in der Subjektseite-H

2.2321 Identität und Trennung in der

71

Subjektseite-H

Das Ich kann nur dann das Nicht-Ich setzen, wenn Nicht-Ich in Ich enthalten ist und zwangsläufig aus ihm hervortritt. »So gut die Identität geltend gemacht wird, so gut muß die Trennung geltend gemacht werden. Insofern die Identität und die Trennung einander entgegegengesetzt werden, sind beide absolut, und wenn die Identität dadurch festgehalten werden soll, daß die Entzweiung vernichtet wird, bleiben sie einander entgegengesetzt. D i e P h i l o s o p h i e m u ß dem T r e n n e n in S u b j e k t und O b j e k t sein R e c h t w i d e r f a h r e n l a s s e n ; aber indem sie es gleich absolut setzt mit der der Trennung entgegengesetzten Identität, hat sie es nur bedingt gesetzt, sowie eine solche Identität, — die durch Vernichten der Entgegengesetzten bedingt ist, — auch relativ ist. D a s A b s o l u t e s e l b s t a b e r i s t d a r u m d i e I d e n t i t ä t d e r I d e n t i t ä t u n d d e r N i c h t i d e n t i t ä t ; Entgegensetzen und Einssein ist zugleich in ihm." 81

Fichtes Dualismus, der Gegensatz von Ich und Nicht-Ich, kann von der Subjektseite aus erst dann überbrückt werden, wenn der mit sich selbst identische, abstrakte und unendliche Inhalt des Ichs sidi selbst bestimmt und dadurch objektiv wird. Deshalb versucht die Logik nachzuweisen, daß die Bestimmungspaare Sein-Nichts, Unendlichkeit-Endlichkeit usw. in ihrer Abstraktion identisch und nichtidentisch sind. Die Sichselbstgleichheit und die Trennung des abstrakten Seins sind absurd und fordern deswegen ihre eigene Negation, die durch das Auflösen der Trennung des Seins vom Nichts vollzogen wird. Das abstrakte Sein wird durch die Synthese mit dem Nichts, mit den Negationen überhaupt, gespalten, bestimmt und objektiv. Das Gleiche geschieht mit der Identität und Trennung der anderen positiven Bestimmungen der reinen Idealität. Wie können Bestimmungen „identisch" und „getrennt" sein? In der Subjektseite-H sind sie abstrakt: Das abstrakte Sein ist kein Sein, das abstrakte Unendliche nicht unendlich usw. Diese Bestimmungen sind darum identisch mit ihrem Gegenteil. Sie sind jedoch auch getrennt von demselben, denn das Abstrakte ist das Losgelöste. Das objektiv Reale ist für den Idealisten eine Kombination von Bestimmungen; die Auflösung einer Sache ist die Loslösung dieser Bestimmungen. In der Subjektseite-H sind die Bestimmungen somit identisch mit sich (abstrakt) und getrennt (losgelöst). Die Identität und Trennung bilden die Struktur der ersten Negativität, die die Entäußerung und die Setzung der Objektseite-H begründet8*. 81 82

Differenz 76 f. Differenz 79: »Der Ubergang als die Synthese wird eine Antinomie; eine Synthese

72

Positive Dialektik

2.2322 Identität und Trennung in der Ob)ektseite-H Bei Fichte bleibt die Objektseite in absolutem Gegensatz zur Subjektseite. Die Philosophie muß aber, so behauptet Hegel, dem Trennen und der Identität nicht nur in der Subjektseite, sondern auch in der Objektseite Recht widerfahren lassen. Die Trennungstätigkeit, die das empirische Ich zur Bestimmung oder Negierung des Nicht-Ichs ausführen soll, muß schon in der objektiven Identität, im Nicht-Ich, gegeben sein. Die Trennung, die der Objektseite-H immanent ist, findet ihre Begründung in der zweiten Negativität. Das objektiv gegebene Werden ζ. B. vereint zwei entgegengesetzte Bestimmungen, und die Auflösung dieser Einheit impliziert die Trennung der im Werden enthaltenen Bestimmungen. Durch die zweite Negativität wird das Nicht-Ich vollständig aufgelöst und zu seinem Ausgangspunkt, dem Ich, zurückgebogen. Die Trennung und die Identität sind also in beiden Seiten des Subjekts-Η vorhanden. Die Einsicht in diese Behauptung bildet die Vorstufe zum Verständnis der Reflexion-in-sich. Kurz gesagt besteht der Unterschied zwischen Subjekt-F und - H darin, daß im ersteren das Positive dem Negativen gegenübersteht, während im letzteren jeweils die erste Positivität und Negativität der zweiten Positivität und Negativität gegenübersteht.

2.3 Die Reflexion-in-sich als das Wesen der Selbstbewegung 2.31 Die Ausdrücke „Selbstbewegung" und „Reflexion-in-sich* A) Die Ausdrücke „Selbstbewegung" und „Reflexion-in-sich" sind vieldeutig: a) „Selbstbewegung" deutet auf die Autodynamik hin, die wir des Endlichen und Unendlidien, des Bestimmten und Unbestimmten aber kann die Reflexion, das absolute Trennen, nicht zustande kommen lassen, und sie ist es, die hier das Gesetz gibt. Sie hat das Recht, nur eine formale Einheit geltend zu machen, weil die Entzweiung in Unendliches und Endliches, welche ihr Werk ist, verstattet und aufgenommen wurde; die Vernunft aber synthetisiert sie in der Antinomie und vernichtet sie dadurch. Wenn eine ideelle Entgegensetzung Werk der Reflexion ist, die von der absoluten Identität ganz abstrahiert, so ist dagegen eine reelle Entgegensetzung Werk der Vernunft, welche die Entgegengesetzten nicht bloß in der Form des Erkennens, sondern auch in der Form des Seins, Identität und Nichtidentität identisch setzt. Und eine reelle Entgegensetzung allein ist die, in welcher Subjekt und Objekt, beide als Subjekt—Objekt gesetzt werden, beide im Absoluten bestehend, in beiden das Absolute, also in beiden Realität". — Vgl. auch Log. II 61.

Die Reflexionsbestimmungen

73

in den Elementen des objektiven Ganzen, in den Allgemeinheiten, entdecken83. b) Diese Autodynamik beruht auf dem Prinzip der Selbstbewegung, dem Widerspruch; dieser treibt die Idealität zur Realisierung und löst die objektive Realität wieder auf84, c) Das absolute Ganze ist ein in sich selbst bewegendes Subjekt, das aa) die Quelle aller Tätigkeit und allen Inhalts ist, bb) außerhalb dem nichts existieren kann und cc) in das alles wieder zurückkehrt85, d) Hegel verwendet den Ausdruck „Selbstbewegung" auch für die Methode, mit der man dieses sich selbst bewegende Subjekt erkennt8®. B) „Reflexion" bedeutet „Zurückbeugung", „Zurückstrahlung" und „das Vermögen, über etwas nachzudenken oder zu reflektieren" (Erkenntnisvermögen). Die Logik schreibt diese drei Eigenschaften dem absoluten Wesen zu: a) Das objektiv Reale biegt sich — wie die Lehre vom Sein nachweist — zurück in das absolute Wesen, von dem es ausgegangen ist. b) Es liegt in der Natur des absoluten Wesens, seinen Inhalt in der Dingund Erscheinungswelt widerzuspiegeln87. Nun aber existiert — so zeigt die Lehre vom Wesen — die Ding- und Erscheinungswelt nicht außerhalb oder unabhängig vom absoluten Wesen. Dieses widerspiegelt sich also in sich selbst, d. h. in seinem entäußerten Inhalt88, c) Durch die Reflexionin-sich erkennt das absolute Wesen sidi selbst. Da jede Bewegung und Tätigkeit in der Reflexion-in-sich absorbiert wird, hat das Entstehen, Bestehen und Vergehen aller Dinge und Erscheinungen nur einen einzigen Zweck: die Selbstbespiegelung oder Selbstanschauung des Absoluten. Diese Selbsterkenntnis ist Objekt der Lehre vom Begriff9. 2.32 Die Reflexionsbestimmungen Die Theorie der Reflexionsbestimmungen ist zwar ein schwieriger, aber wichtiger Bestandteil der Hegeischen Philosophie, denn sie bildet den Kern ihrer Dialektik. Hegel faßt die Totalität aller Reflexionsbestimmungen unter dem Begriff „Widerspruch" oder „das sich Widersprechende" zusammen. 83

Phän. 31 — Log. I 7. μ Log. II $8, 469. 85 Phän. 23 — Log. Π 6i — Gl. u. W. 123. 88 Log. I 35· 87 Log. II 9 ff. — vgl. Garaudy I 333. 88 Log II 202, 15. «· Log. II $8 f.

74

Positive Dialektik

Was ist eine „Reflexionsbestimmung"? Der Ausdruck „Bestimmung" hat eine sehr allgemeine Bedeutung. Hegel gebraucht ihn für „Sein", „Nichts", „Unendliches" usw. Diese Bestimmungen „bestimmen" den Inhalt der Kreisbewegungen, die Reflexionsbestimmungen hingegen die verschiedenen Momente der Kreisform. Er nennt sie audi „Wesenheiten", da sie sich auf das Wesen der Dialektik beziehen. Die Reflexionsbestimmungen insgesamt sind folgende: Identität, Nicht-Identität oder absoluter Unterschied, Verschiedenheit, Gegensatz und Widerspruch. Ihre Bedeutung kann an jedem beliebigen Attribut aufgezeigt werden, denn Hegel schreibt alle Attribute in einer Kreisform dem absoluten Subjekt zu. Als Beispiel geben wir die erste Kreisform der Logik wieder, da sie schon oben analysiert wurde.

Die erste Negativität des Kreises zwingt das abstrakte Sein zur Vereinigung mit dessen Gegenteil, so daß das Werden als die Einheit von Sein und Nichts entsteht. Dieses Werden umfaßt die ganze gegebene Realität. Die negative Dialektik kehrt die gemäßigt realistische Deutung des Individuums um: Es tritt nicht als das in-sidi-seiende Subjekt der hinzukommenden Bestimmungen auf. Substantiell und beständig ist hingegen das objektive Allgemeine, das veränderlich und nebensächlich (accidentaliter) vom Partikularen und Individuellen bestimmt wird. Demgemäß umfaßt das Werden die totale objektive Realität und bildet den identischen „substantiellen" Prozeß, der von den konkreteren Prozessen, nämlich Entstehen und Vergehen, „akzidentell" bestimmt wird. Aber diese Totalität von Werden, Entstehen und Vergehen ist widerspruchsvoll, denn die „Akzidenzen" der Identität von Werden, Entstehen und Vergehen

Die Reflexionsbestimmungen

75

sind einander entgegengesetzt. Diese widerspruchsvolle Struktur zerstört sich selbst*®. Die Kreise lassen sich ihren Reflexionsbestimmungen nach so darstellen:

a) In der idealen Realität — im Wesen, das sich im logischen Prozeß zur Subjektseite-H, zum absoluten Ich, entwickelt — richten sich die reinen Bestimmungen nach den Verhältnissen von Identität und vom absoluten Unterschied, d. h. von der Nicht-Identität. Die Einheit dieser Beziehungen fungiert als erste Negativität, als Urquelle aller Tätigkeit und Entäußerung, und begründet die Realisation bzw. die Entäußerung und „Objektivierung" des ganzen abstrakten Inhalts. „Der Unterschied ist das Ganze und sein eigenes Moment, wie die Identität ebensosehr ihr Ganzes und ihr Moment ist. — Dies ist als die wesentliche Natur der Reflexion und als bestimmter Urgrund aller Tätigkeit und Selbstbewegung zu betrachten."91

b) Die Verschiedenheit. Nicht nur die inhaltlichen Bestimmungen — Sein-Nichts, Unendliches-Endliches usw. —, sondern auch die in der Subjektseite-H enthaltenen Reflexionsbestimmungen bilden eine widerspruchsvolle Struktur: die Einheit von Identität und Unterschied. Darum entäußern sie sich gleich den inhaltlichen Bestimmungen. „Diese äußerliche Identität nun ist die Gleichheit, und der äußerliche Unterschied ist die Ungleichheit "n 90

91 M

Log. I 92. Entstehen und Vergehen als Momente des Werdens wurden oben außer Betracht gelassen, um die erste Begegnung mit der Kreislauftheorie zu erleichtern. Aber zur Erfassung des Wesens der dialektischen Bewegung ist die Betrachtung beider Momente erforderlich. Log. II 33; vgl. § 3.221. Log. II 3J.

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Positive Dialektik

Die Gleichheit und die Ungleichheit formen zusammen die Verschiedenheit. Dieser Beschreibung der Verschiedenheit wird jeder Philosoph beipflichten; eine Verschiedenheit setzt ja eine Ubereinstimmung oder Gleichheit voraus, ohne sie ist jedes Vergleichen und Unterscheiden unmöglich. Die Besonderheit der Hegeischen Auffassung der Verschiedenheit liegt darin, daß ihre Elemente aus der Entäußerung der Identität und des Unterschieds resultieren. c) Der Gegensatz wird beschrieben als „die Einheit der Identität und der Verschiedenheit; seine Momente sind in Einer Identität verschiedene; so sind sie entgegengesetzte.'99

Die Struktur des Gegensatzes besteht aus einer allgemeineren Bestimmung mit zwei entgegengesetzten konkreteren Bestimmungen. Diese formen zusammen eine Realität. Das „Entstehen" ζ. B. ist nicht realiter vom „Vergehen" zu trennen; beide bilden eine Bestehungseinheit. Es gibt keine distinctio realis zwischen beiden Prozessen, denn sie vollziehen sich im einheitlichen Werden. So bilden auch Vater und Sohn, Rechts und Links usw. „Ein Bestehen". Diese Beispiele werden von Hegel auf gleiche Art und Weise wie das Entstehen und Vergehen gesehen. Das „Vatersein" und das „Sohnsein" sind keine Akzidenzen, die ihr „In-sein" (esse in) in den Substanzen der Personen „X" und „Y" haben. Hegel sieht die Sachlage umgekehrt. Es gibt eine bestimmte Vaterschaft, die das Vatersein von „X" und das Sohnsein von „Y" in sich einschließt. Läßt man seine ontologischen Auffassungen außer acht, dann versteht man nicht, warum er in den genannten Beispielen Widersprüche entdeckt. Freilich hat die Person X noch viele andere Bestimmungen außer dem „ Vater-sein-von-Y"; diese bestehen aber in anderen bestimmten Verhältnissen. So ist die Relation selbst Träger oder Subjekt der Bestimmungen und nicht die Dinge, die nur Scheinsubstanzen sind. Wie unterscheidet sich die Verschiedenheit vom Gegensatz? Entstehen und Vergehen, Vater und Sohn, Rechts und Links sind Bestimmungen, die jeweils voneinander verschieden sind. Der Gegensatz umfaßt die Bestehungseinheit der Verschiedenheit und die Verschiedenheit selbst: Vaterschaft und Vater und Sohn, Werden und Entstehen und Vergehen. Die verschiedenen Elemente formen eine ganzheitliche Bestehungseinheit: „Eine Identität", „Ein Bestehen". In einem gemeinsamen Sein der Vaterschaft ist die Verschiedenheit im Vatersein wie im Sohnsein verschieden. M

Log. II 40. Hegel schreibt oft den Artikel „Ein" mit Majuskel ( „ . . . in Einer Identität verschiedene..."), um zu betonen, daß es sich um eine Bestehungseinheit handelt.

Die Reflexionsbestimmungen

77

d) Der Widerspruch. Diese Auffassung vom Gegensatz ist widerspruchsvoll und zwar nicht deshalb, weil der reale Gegensatz falsch aufgefaßt wurde, sondern weil seine objektive Realität in sich selbst widerspruchsvoll ist. Seine Struktur wird von einem Sein mit zwei entgegengesetzten Bestimmungen gebildet". e) Die Auflösung. Was sidi widerspricht, sollte sich in die Idealität auflösen, d. h. sollte zugrundegehen in seinen Grund, von dem es ausgegangen ist. „Das Einzige, um den wissenschaftlichen Fortgang zu gewinnen, ... ist die Erkenntnis des logisdien Satzes, . . . daß das sidi Widersprechende sich nidit in Null, in das abstrakte Nichts auflöst, sondern wesentlich nur in die Negation seines besonderen Inhalts.""

Aus der Auflösung einer bestimmten widerspruchsvollen Struktur resultiert nicht das abstrakte Nichts, das am Anfang der Logik steht und das sowohl mit dem abstrakten Sein identisch als auch von ihm unterschieden ist, sondern das Nichts, das einen besonderen Inhalt hat. Hegel verwendet den Terminus „Nichts" für reine Negationen oder Bestimmungen überhaupt. Das Nichts, das Resultat einer bestimmten Auflösung, umfaßt in sich alle Bestimmungen der zurückkehrenden Kreisbewegung. Die erste Kreisform löst sich in das Nichts und in die reine Bestimmungsmöglichkeit des reinen Seins auf. A u f ähnliche Weise vollziehen sich die anderen Kreisbewegungen. Der Inhalt des absoluten Wesens (Ausgangspunkt und Punkt der Rückkehr von jedem Kreis) ist die Einheit aller überhaupt möglichen Bestimmungen (Nichts) und der Bestimmungsmöglichkeit überhaupt (Sein). Was besagt im zitierten Text der Ausdruck „das sich Widersprechende" löst sich in Nichts auf? Warum spricht Hegel nidit von der doppelten Negation oder dem doppelten Widerspruch? Der erste und der zweite Widerspruch bilden eine Einheit: Aus dem ersten Widerspruch resultiert der zweite, der sich auflöst. Das wesentliche Merkmal der Kreisbewegung besteht in der Formveränderung des Widerspruchs und dessen Auflösung als Rückkehr. Der Ausdruck „das sich Widersprechendea oder „der Widerspruch" besagt die Totalität aller Reflexionsbestimmungen. Der Satz „das sich Widersprechende löst sich auf" drückt also die ganze in-sichzurückkehrende Bewegung der Reflexion aus.

Log. II 48 f. »s Log. 135 f. M

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Positive Dialektik

2.33 Die Reflexion-in-sich als die Natur des absoluten Wesens und als Wesen der dialektischen Methode Mit dem logischen Satz, das sich Widersprechende löse sich in die Negation der bestimmten Sache auf, ist Hegels Selbstbewegungsmethode definiert und mit dem Schema der Reflexionsbestimmungen — wie audi die allumfassende Selbstbewegung des Ganzen — bildlidi dargestellt. Das Schema ist das Fundament, auf dem das ganze System aufbaut. a) Die Reflexion in der Logik. Die Beschreibung der Reflexionsbestimmungen steht in der Logik an zentraler Stelle. Sie gibt einen Rückblick auf den zurückgelegten Weg, denn die Lehre vom Sein zeigt, daß sich die Bestimmungspaare Sein-Nichts, Endlichkeit-Unendlichkeit, Einheit-Vielheit, die Quantität und ihre Grenzen, Maßlosigkeit-Maß nach dem Sdiema der Reflexionen realisieren und zurückkehren. Die Beschreibung des verwendeten Schemas gehört schon zur Lehre vom Wesen und bereitet deren weitere Entwicklung vor. Die Reflexion-in-sich entäußert sich einerseits in die Ding- und Erscheinungswelt und begründet anderseits deren Auflösung oder „Erinnerung" in den absoluten Grund. Diese Erinnerung wird aus dem im Sdiema dargestellten Wesen der Dialektik deutlich: Alle Verschiedenheiten, Gegensätze und Verhältnisse, die in der Ding- und Erscheinungswelt angetroffen werden, bilden selbst widerspruchsvolle Strukturen oder sind deren Elemente b) Die Reflexion in der Phänomenologie. Hat man einmal die Natur des Absoluten und die sich darauf gründende Methode erfaßt, dann leuchtet es von selbst ein, warum Hegel in seiner Phänomenologie, bei der Analyse der objektiven Realität, nur Widersprüche entdecken kann: Die Zeit ist eine Identität, deren verschiedene Momente Tag und Nacht sind. Der Raum ist eine Identität, deren verschiedene Momente Baum und Haus, Links und Rechts, sind. Das Ding ist eine Identität, deren verschiedene Momente das Gesetz und die Kraft sind usw.97. Der Unterschied der logischen und der phänomenologischen Methode besteht also darin, daß die Logik „oben" in der Reflexion und die Phänomenologie „unten" anfängt, aber das Schema bleibt sich gleich. Beide Wissenschaften beginnen mit einem Element des absoluten Denkens: die erste mit der Subjektseite, die zweite mit der Objektseite. c) Die Reflexion und das Ganze. Mit unserer Analyse wird die beM 97

Log. II 60 — vgl. audi Log. II 72. Vgl. § 1 dieses Kapitels.

Das absolute "Wesen und die Methode

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rühmteste, aber auch schwierigste Hegeische Beschreibung des Ganzen verständlich. Die absolute Substanz ist „als Subjekt die reine einfache Negativität, ebendadurdi die Entzweiung des Einfadien; oder die entgegensetzende Verdoppelung, weldie wieder die Negation dieser gleichgültigen Verschiedenheit und ihres Gegensatzes ist: nur diese sich wiederherstellende G l e i c h h e i t oder die R e f l e x i o n i m A n d e r s s e i n i n s i c h s e l b s t — nicht eine ursprüngliche Einheit als solche, oder unmittelbare als solche — ist das Wahre. Es ist das Werden seiner selbst, der Kreis, der sein Ende als seinen Zweck voraussetzt und zum Anfange hat und nur durch die Ausführung und sein Ende wirklich i s t . . . Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durdi seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlidi Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt, oder Sichselbstwerden zu sein . . . Die Vermittlung ist nichts anders als die sidi bewegende Sichselbstgleichheit, oder s i e i s t d i e R e f l e x i o n i n s i c h s e l b s t , das Moment des fürsichseienden Ich, die reine Negativität oder, auf ihre reine Abstraktion herabgesetzt, das ein jache Werden. Das Idi oder das Werden überhaupt, dieses Vermitteln ist um seiner Einfachheit willen eben die werdende Unmittelbarkeit und das U n mittelbare selbst. — Es ist daher ein Verkennen der Vernunft, wenn die Reflexion aus dem Wahren ausgeschlossen und nidit als positives Moment des Absoluten erfaßt wird. Sie ist es, die das Wahre zum Resultate macht."®8

Die Bewegung der Reflexion-in-sich durchdringt das Ganze. Ihre zweifache Negation wird auf eine einfache zurückgeführt, da die Trennung und der daraus folgende Gegensatz zwischen den Negationen ja ebenfalls einen Widerspruch hervorrufen würden. Darum ist die ganze Bewegung ein eitt/dc&es Werden. Jeder Kreis fängt mit der einfachen Unmittelbarkeit des Ichs an und kehrt wieder zu ihr zurück. Die Ausdrücke „Ich", „Unmittelbarkeit" und „Gleichheit" oder „Einfachheit" sind ihrer Bedeutung nach sehr verschieden, besitzen jedoch eine Mehrdeutigkeit von gleicher Art und beziehen sich auf die gleichen Sachverhalte: a) Der Ausgangspunkt ist das einfache und unmittelbare Ιώ; b) über das vermittelnde Nicht-Ich wird zu ihm wieder zurückgekehrt; c) die ganze Bewegung vollzieht sich innerhalb des allumfassenden Ichs und bildet ein Ganzes, das unmittelbare, nur durch sich selbst vermittelte, einfache und absolute Ich. Nicht nur die logische Bewegung, sondern auch die räumliche und zeitliche Entwicklung vollzieht sich nach dem gegebenen Schema. Das Sdiema der Reflexionsbestimmungen offenbart sich also in jeder objektiven Bewegung; es ist auch das abstrakte Schema der dialektischen Methode und stellt das Skelett des Hegelsdien Systems dar. 98

Phän. 20 f.

§ 3 Der Gegenstand der dialektischen Philosophie Die Problematik des Verhältnisses zwischen der Dialektik und ihrem Gegenstand umfaßt drei Fragen: i. Wie verhält sich die dialektische Methode zum Ausgangspunkt der Philosophie? 2. Inwiefern ist die Bewegung in der menschlichen Vernunft eine adäquate Wiedergabe des sidi entwickelnden Ganzen? 3. Welcher Unterschied besteht zwischen dem Ziel der dialektischen Methode, d. h. dem System, und dem objektiv seienden Absoluten? Hält Hegel sein System für die adäquate und endgültige Darstellung des Absoluten?

3.1 Der Ausgangspunkt der Philosophie und die Dialektik Die Philosophie geht von Denkbestimmungen oder Denkformen aus, d. h. von allgemeinen Begriffen, Gesetzen und Wesenheiten, die ein objektives Bild, ein conceptus objectivus, des objektiv Gegebenen enthalten. Der Inhalt dieser Denkformen ist uns aus der naturwissenschaftlichen Forschung und der Alltagserfahrung bekannt. Der Philosophie obliegt es, diesen uns bekannten und abstrakten Inhalt in seiner Bedeutung als konstitutives Element des absoluten Wesens zu erkennen\ Hegel nimmt nie die Dinge zum Ausgangspunkt der Philosophie. Er betont des öfteren, daß sich die philosophische Analyse schon von vornherein im absoluten Wissen befindet. Das objektiv Gegebene wird von Anfang an als Widerschein und verklärte Wesenheit des Absoluten betrachtet*. Hat er seine Theorie der Reflexion-in-sich einfach in die Erfahrungswelt hineininterpretiert? Nie. Hartmann und C. Nink weisen ausführlich darauf hin, daß man Hegel auf Grund dieser Äußerungen keinen Apriorismus zuschreiben darf. Hartmann geht sogar so weit, die Logik 1 s

Log. I I I — Phän. 28. Phän. 2 j .

Die „Seele" der dialektischen Bewegung

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als eine Er fahrungs Wissenschaft zu bezeichnen8. Hegel leugnet nicht die Erfahrung, sondern die Selbständigkeit der Erfahrungswelt: Er erfährt, daß die Dingwelt „verschwindet". Erste Aufgabe des dialektischen Philosophen ist, das in der zufälligen Welt erhaltene positive und beständige Allgemeine herauszukristallisieren. Wie die Naturphilosophen Wasser und Feuer als das konstitutive Prinzip (arche) der Welt betrachtet haben, so sieht Hegel das Allgemeine als den Baustein alles Seienden an4. Das Allgemeine hat eine doppelte Existenz: Es ist ein Element des subjektiven Denkens und ein Element der absoluten Vernunft. In beiden Existenzformen ist es auf verschiedene Weise der dialektischen Kreisbewegung unterworfen; während es im menschlichen Denken anfänglich eine abstrakte Bewegung aufzeigt, bildet es im objektiven Ganzen eine Kreisform, die in die konkrete Totalität aller Kreisformen aufgehoben ist. Jedodi soll die erste Existenz mit der zweiten adäquat werden.

3.2 Die „Seele" der dialektischen Bewegung

3.21 Die Möglichkeit einer dialektischen Logik Die objektiven Gedanken formen die arcbe aller Seienden, weshalb ein Denkgesetz — nämlich Hegels Widerspruchsprinzip — auch ein Gesetz für jede objektive Bewegung sein kann. Daraus entsteht die Schwierigkeit, das subjektive Denkgesetz vom objektiven zu unterscheiden. Hegel selbst umgeht diese Problematik und wählt diese Methode erst dann zum Thema, wenn am Ende der Logik die Erkenntnisweisen des Menschen mit der absoluten adäquat geworden ist. Die Erkenntnisweisen unterscheiden sich dann zwar immer noch ihrem Subjekt nach — die menschliche Vernunft ist ja nicht die absolute — , aber nicht mehr ihrem Inhalt nach. Die Methode als die menschliche Erkenntnis- und Denkweise läßt sich dann inhaltlich mit der „Seele", der „Substanz" und der Seins- und Denkweise des Absoluten selbst gleichsetzen5. 8 4 5

Nie. Hartmann I, 310—IJ, 321, 371 ff., 384 ff. — Nink 104. Gesdi. I 142. Log. II 486 — „Denkgesetz" ist hier nicht in der Bedeutung von „formallogischer Regel" genommen, sondern in der von „gnoseologischem Gesetz"; Begründung: §§ 3.223$ und 3.2236.

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Der Gegenstand der dialektischen Philosophie

Da er mehrere gnoseologische und methodologische Fragen nidit explizit zum Gegenstand der Analyse gewählt hat, kämpft die heutige HegelErklärung u. a. noch mit der schwierigen Frage nach der Bedeutung des dialektischen Widerspruchs. Durch die Entwicklung der formalen Logik, deren Grundgesetz das Nichtwidersprudisprinzip ist, wird die Lösung dieser Frage noch erschwert. Wenn es tatsächlich Hegels Absicht war, objektive Widersprüche nachzuweisen, bedeutet dann die strenge Wissenschaftlichkeit der modernen Logik nicht die Widerlegung seines Systems? Bis heute gehen die Antworten auf diese Fragen weit auseinander. Einige Interpreten bejahen und andere leugnen die Objektivität des Hegelschen Widerspruchs; die einen lehnen die dialektische Logik auf Grund ihres Gegensatzes zur formalen Logik ab, die anderen versuchen sie gegen die Angriffe der formalen Logiker zu schützen. Eine erschöpfende Darstellung aller je gegebenen Lösungen liegt nodi nicht vor. Auch unsere ist unvollständig, doch wird sie genügen, um die Komplexität dieser Problematik aufzuzeigen. Erste Deutung Die Hegeischen Widersprüche sind objektiv A) Ihre Objektivität' A. Vera und C. Stommel vergleichen die Kantischen Antinomien mit den Hegeischen Widersprüchen; sie glauben, daß diese im Gegensatz zu jenen objektiv zu deuten seien. Damit übereinstimmend behauptet A. Brunswig, daß bei Hegel der Widerspruch und das Gesetz der Dialektik die Welt regiere. Auch Η. A. Ogiermann erklärt, „daß dieser Prozeß (nämlich der Entstehung und der Auflösung des Widerspruchs — A. S.) .eigenes Tun' der ontologischen Wesenheiten sein soll; darum darf man die Negation auch nicht wie eine subjektive Fähigkeit des Erkennenden nehmen, — sie ist ontische Dynamik des Seins des Seienden selbst."

Ebenso ist R. Garaudy davon überzeugt, daß für Hegel der Widerspruch die innere Natur und Entwicklungsquelle der Dinge selbst ausmacht. Leider verzichteten diese Autoren darauf, die aus solchen Behauptungen resultierende Problematik zu untersuchen. B) Objektivität und Echtheit des Hegeischen Widerspruchs a) A. Phal£n und E. Coreth7 erklären, der Hegeische Widerspruch sei echt, d. h. den Gesetzen der formalen Logik entgegengesetzt. • Vera 69 ff. — Stommel 16, 22 — Brunswig 84 — Ogiermann 42 — Garaudy Π 32 f. 7 Phalin 169, 123, 166 — Coreth 42, J4.

Die Möglichkeit einer dialektischen Logik

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„Die Auflösung des Widerspruches aber war dessen Vernichtung, und die Vernichtung setzte die Wirklichkeit desselben voraus, impliziert selbst diese Wirklichkeit. Der Widerspruch muß daher in der Vernichtung bestehen bleiben, und zwar als ungelöst. . . . Die Wirklichkeit ist also sowohl widersprechend als nicht widersprechend."

Diese Deutung PhaMns des Widerspruchproblems enthält selbst einen Widerspruch! Coreth bestimmt mit Scharfsinn den Gegensatz zwischen formaler und dialektischer Logik. Er zeigt auf, daß dieser Gegensatz durch zwei Umstände abgeschwächt wird: i. Der Hegeische Widerspruch ist nicht rein, und 2. er wird aufgehoben. „Sofern die Negation näher bestimmt ist, kann nicht mehr ein beliebiges N o n - A an die Stelle von Α treten, nur ein bestimmtes B. Das Widerspruchsprinzip wird also nicht schlechthin negiert in der ganzen Breite seiner Geltung, sondern immer nur in Bezug auf ein ganz bestimmtes anderes. Dieses andere bleibt indes N o n - A ; und so bleibt audi ein Widerspruch bestehen."

Hegels Widersprüche sind nach dem klassischen, von Aristoteles entwickelten Schema keine Kontradiktionen im engen Sinn, sondern nur Antinomien, mit anderen Worten, sie werden nicht von kontradiktorischen, sondern nur von konträren Sätzen gebildet. Trotz dieser Einschränkung bleibt der Unterschied mit der formalen Logik bestehen. Eine Aufhebung findet statt, wenn „der widersprechende Inhalt auf eine höhere Ebene emporgehoben wird, und zwar so, daß er einen wesentlichen Wandel erfährt. Der anfängliche Widerspruch bestand zurecht und objektiv, aber nur auf der betreffenden Stufe des Seins und des Denkens."

Der dialektische Widerspruch besteht notwendig und objektiv; er verändert sich wesentlich im dialektischen Prozeß. Das Sein als solches ist durch seine Unterscheidung vom Nichts und durch seine Identität mit dem Nichts widerspruchsvoll. In umgekehrter Form tritt dieser Widerspruch im Werden und, in konkreterer Form, im subjektiven Begriff auf, der das reine Sein in sich enthält und gleichzeitig nicht in sich enthält. Der Widerspruch erfährt also einen grundlegenden Wandel. Aber auch Coreths Analyse läßt einige Fragen offen: Ist das absolute Ganze vielleicht doch widerspruchslos? Wann und für welches Denken bestand zum Beispiel der Widerspruch zwischen Sein und Nichts zu Recht und objektiv? Coreths Interpretation des daseienden Widerspruchs anfechtend, behauptet Gr^goire, daß das reine Sein, das reine Nichts und der zwischen ihnen angeblich auftretende Widerspruch niemals objektiv sind, weil sie nur das anfängliche Moment der dialektischen Analyse bilden.

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Der Gegenstand der dialektischen Philosophie

b) Ein oberflächlicher Einbilde in Hegels System spricht sich gegen die folgende Behauptung A . Guzzonis 8 aus: „Indem es aber als Bewegung ist, ist das Absolute nicht schlechthin da, sondern es kommt immer erst zu sich, wird jeweils erst, was es ist."

Hegel unterscheidet scharf das An-sich-Sein, das das Absolute ist, vom An-und-fiir-sich-Sein, das das Absolute wird. Aber tatsächlich ist mit dieser Unterscheidung der fundamentalste Widersprudi — unsere Analyse zeigte, daß jeder Unterschied im dialektischen Denken zum Widerspruch wird — ausgedrückt. Dies wird auch von den konkreteren dialektischen Analysen bestätigt: A m Anfang ist das Absolute bloß gegeben, bloß Sein, dessen Inhalt bloß Nichts ist. Aber es sollte allumfassendes Sein sein. Analog ist anfänglich das unbegrenzte unendliche Absolute wegen seiner Ende- und Bestimmungslosigkeit selbst endlich, während es das allumfassende wahre Unendliche sein sollte. Guzzonis Beschreibung ist deshalb eine subtile und allgemeine Definition des dialektischen Widerspruchs. Dessen Verhältnis zum formalen Widerspruch wird vom Autor jedoch außer acht gelassen. c) Nie. Hartmann und W. Sesemann9 betonen die Echtheit und Objektivität des Hegeischen Widersprudis, lehnen jedoch einstimmig die in der Hegeischen Logik verwendete Begriffsdialektik ab, um eine reale Dialektik als die erfolgreichste Methode für die Philosophie vorzuschlagen. Nach ihnen soll diese auf einen daseienden Widersprudi verziditen und nur von einer „Realrepugnanz" in der Sache bzw. einer „gegenseitigen Durchdringung der Gegensätze" in der Realität ausgehen, aa) Sesemann behauptet, daß sich die Hegeische Denkart von jeder früheren unterscheidet, da sie jeden einzelnen Sachverhalt und auch das Sein als Ganzes für durch und durch widerspruchsvoll hält, bb) Die Hegeische Widersprüchlichkeit gründet sich auf die in der Realität angenommene Isolierung, d. h. „Negation" oder „Abstraktion", die „das an sich Unbestimmte stimmtes

(oder nicht eindeutig Bestimmte)

als ein schlechthin

Be-

setzt".

cc) Sesemann lehnt die Realität dieser Isolierung und darum auch die Wissenschaftlichkeit der Hegelsdien „Begriffsdialektik" ab. Diese ist mitunter höchstens als Hilfsmittel für die Entdeckung einer verborgenen Seinsdialektik zu gebrauchen. Für die Beurteilung von Sesemanns Interpretation ist seine Schlußbemerkung wichtig:

8 9

Guzzoni ι ο ί . Sesemann aa — 32; bb = 4 1 ; cc = $9.

Die Möglichkeit einer dialektischen Logik

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„Ein Grenzfall des Dialektischen, und zwar einer von eminenter Bedeutung — ist in unserer Analyse unberücksichtigt geblieben, nämlich die coincidentia oppositorum im Absoluten. Die Berechtigung dafür liegt darin, daß eine fruchtbare Erörterung der Dialektik des Absoluten, u. E., nur möglich ist, wenn man zunächst über die Dialektik des endlichen, empirischen Seins Klarheit gewonnen hat."

Damit hat er implizit zugegeben, daß der dialektisdie Widerspruch dort auftritt, wo dieser nach Hegels Methodologie auftreten soll: bei der Analyse des Absoluten, des einzigen Gegenstandes der Philosophie. Will man philosophisch „über die Dialektik des endlichen, empirischen Seins Klarheit gewinnen", drängt sich der Unterschied und somit auch der Widerspruch mit dem unendlichen und allgemeinen Sein auf. aa) Wie für Sesemann, so ist auch für Nie. Hartmann10 der Hegelsche Widerspruch „echt gemeint". Was in der gewöhnlichen Logik „ein Anzeichen der Unrichtigkeit ist und für jeden legitimen Geltungsanspruch erst einmal zu überwinden wäre, das ist in der Dialektik ganz folgerichtig und kann nicht als Anzeichen sachlicher Unstimmigkeit gelten. Hält man dieses fest und leuchtet man nun die Hegeische Dialektik auf Unstimmigkeiten ab, so findet man schlechterdings keine. Sie läuft überall glatt und folgerichtig fort, erfüllt durchaus ihr eigenes formelles Gesetz, gibt einem durchaus keinen Anstoß." Unter den genannten Voraussetzungen ist sie „fehlerfrei und tadellos".

Nie. Hartmann unterscheidet die formale Logik von der dialektischen; diese ist erst dann folgerichtig, wenn die Widerspruchsfreiheit nidat mehr ausnahmslos gefordert wird, bb) Auch der Ausdruck „Aufhebung" ist buchstäblich zu verstehen. Der Widerspruch wird in der Aufhebung nicht gelöst, sonst wäre er ja nicht objektiv. Die Koexistenz von „A" und „Non-A" wird durch die Synthese der These mit der Antithese „festgenagelt". cc) Jedoch werden nicht alle Hegeischen Widersprüche verewigt; einige werden gelöst und sind darum unecht. „Zu diesen, also den unechten, gehören zweifellos viele aus der Phänomenologie, sowie aus den späteren Teilen des Systems. In der Logik dürften sie nur schwach vertreten sein. Wo Hegels Dialektik auf der Höhe i s t . . . , da handelt es sich wohl überall um echte Antinomien. Das hat seinen guten Grund: unechter Widerspruch dürfte schwerlich bewegende Kraft und Leben hervortreiben. — B

Diese Bemerkung ist schwer verständlich, weil die Dialektik der Phänomenologie, der Religions- und P/?i/o50p/u>g«c&ic&ie auf gleicher spekulativer „Höhe" steht wie die Logik, denn die Geschichte ist für Hegel der Streit um Einsicht in den Logos. So bedeuten seine Zustimmung zur verstandesmetaphysischen Identität des Inbegriffs aller Realitäten mit dem Sein und seine Zustimmung zur kritisdien Nicht-Identität zusammen 10

Nie. Hartmann aa = I 394, 398 und II 17; bb = I 398; cc = I 401.

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Der Gegenstand der dialektischen Philosophie

nicht nur die Beschreibung einer kritischen Meinungsverschiedenheit, sondern auch die Annahme eines dialektisch widerspruchsvollen Sachverhalts. Da Hartmann den Gegensatz zwischen Logik und Dialektik nicht weiter analysierte, konnten sich die entgegengesetzten Meinungen Coreths und G^goires auf ihn berufen11. Hartmanns Ausdrücke „eine festgenagelte Koexistenz von zwei entgegengesetzten Elementen" und „ein echter sich aufhebender und aufgelöst bleibender Widerspruch" bedürfen einer weiteren Erklärung. Wenn die Analyse einen Widerspruch bleibend und endgültig aufgelöst hat, dann ist der Widerspruch nicht echt im objektiven Ganzen vorhanden und wäre nur ein Moment im subjektiven Denken. Außer den genannten Autoren nimmt auch Ε. H. Schmitt" die Objektivität und die Echtheit der Hegeischen Widersprüche an, geht aber in seiner gegen Michelet gerichteten Arbeit nicht weiter auf diese Problematik ein. C) Formale Logik gegen dialektische Logik Während die vorige Gruppe von Interpreten nur die Objektivität des Widerspruchs und den Gegensatz zwischen Dialektik und Logik vertreten, gehen M. Aebi, J . A. Berman, J . J . Borelius, I. H. Fichte, E. v. Hartmann, A. Trendelenburg und Fr. Uberweg — alles Gegner des Hegelschen Systems — noch weiter und lehnen die dialektische Logik auf Grund ihrer Unvereinbarkeit mit der traditionellen, aristotelischen ab. I. H. Fichte hält den daseienden Widerspruch für Hegels Hauptfehler. M. Aebi kritisiert die Begriffe „Identität" und „Verschiedenheit", auf denen die Hegeische Widerspruchstheorie basiert. Trendelenburg und Überweg behaupten, Hegel verwechsle „Widerspruch" mit „realem Gegensatz", und Borelius glaubt, daß Hegel den Ausdruck „Widerspruch" mißbraucht habe. Für diesen Autor bilden „ A " und „Non-A" nur dann einen Widerspruch, wenn „Non-A" die Leugnung von „A" bedeutet. „Statt dessen gibt aber Hegel dem Nicht-Α ausdrücklich eine positive Bedeutung; es ist sogar eine Hauptsache seiner Philosophie, daß das Negative ebenso sehr positiv ist."

Der Satz, das Negative ist ebensosehr positiv, wird hier unrichtig angewandt. Für Hegel ist das Negative ζ. B. des reinen Seins ebensosehr das Positive, weil aus der Negativität die zu sich selbst zurückkehrende 11 18

Gr£goire III 96 — Coreth 37 f. Schmitt 13 — Auch Lakebrink (130 f. und 150 ff.) hebt den Unterschied zwischen dem analytischen und dialektischen Standpunkt hervor.

Die Möglichkeit einer dialektischen Logik

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Bewegung resultiert. Für Borelius hingegen wäre ζ. B. das reine Nichtsein des Anfangs zusammengesetzt und enthielte das Sein. In diesem Fall gäbe es tatsächlich keinen Widerspruch, denn „Nichts" wäre in einer Rücksicht identisch, in einer anderen nicht-identisch mit dem Sein. Diese Unterscheidung der Rücksichten lehnt Hegel jedoch ausdrücklich ab. Indem Aebi, Borelius, Fichte, Trendelenburg und Uberweg18 Hegel vorwerfen, den „Widerspruch" mißverstanden zu haben, verteidigen sie die formale Logik. Berman" und E. von Hartmann14 dagegen versuchen auf andere Weise das gleiche Ziel zu erreichen, indem sie die mit der Behauptung eines daseienden Widerspruchs verbundenen Schwierigkeiten aufzeigen. Die Arbeit von J . A. Berman" richtet sich gegen die „metaphysischen" Materialisten, J . Dietzgen, G. V. Pledianov und Lenin, und versucht die Unhaltbarkeit der Dialektik im allgemeinen und der materialistischen Dialektik im besonderen nachzuweisen. Durch die Annahme der vollständigen Gesetzmäßigkeit und Rationalität des Widerspruchs gerate Hegel in eine unmögliche Lage, da auch er die Forderung der Widerspruchsfreiheit anerkennen müsse, um überhaupt eine Bestimmtheit, eine Eigenschaft oder einen Unterschied der Entwicklungsmomente des Absoluten ausdrücken zu können. Ausführlicher versucht E. von Hartmann die Annahme einer dialektischen Logik neben der traditionellen ad absurdum zu führen: aa) Auf Grund einer gründlichen Analyse Hegelscher Texte kommt er zum Ergebnis, daß die Leugnung der Widerspruchsfreiheit conditio sine qua non der Dialektik ist. Er hebt besonders hervor, daß nach der gewöhnlichen Vorstellung das sich Widersprechende unmöglich, nach der Hegelsdien Auffassung hingegen „Nichts" ist. „Das Nichts (ist jedoch) ein ganz bestimmtes, durchaus nicht unmögliches Resultat

Die Analytiker halten überhaupt eine widerspruchsvolle Struktur für unmöglich. Für Hegel dagegen ergibt sich aus derer Objektivität ein „durchaus nicht unmögliches Resultat", nämlich das Nichts. Eben damit habe Hegel das formallogische Prinzip geleugnet, bb) Eine Auseinandersetzung zwischen Dialektiker und Analytiker ist nicht möglich; ersterer kann wegen der grundsätzlichen Ablehnung der Widerspruchsfreiheit keines Fehlers beschuldigt werden, cc) Aus demselben Grund ist eine Diskussion unter Dialektikern unmöglich; es fehlt ihnen ein „Kriterion der Wahrheit", dd) Ohne dieses Wahrheitskriterium kann es keine Er13 14

Aebi j ; Trendelenburg II 14 f.; Uberweg 204; Borelius 28. Berman" 89, E . v . Hartmann a a = 3 8 , 4 1 ; bb = 3 9 ; cc = 4 4 ; dd = 4 i ; ee = 4