Kritik und Dialektik: Zur marxschen Methode

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Kritik und Dialektik: Zur marxschen Methode

Table of contents :
INHAL TSVERZEICHNIS
EINLEITUNG
ERSTER TEIL KRITIK DER DIALEKTIK untersuchung der erscheinung
KAPITEL I DIE »MARXISTISCHE DREIEINIGKEIT«
1.MARX-ENGELS-MARXISMUS
2.IN BEZUG A UF ANTI-DÜHRING
3.HINTER DER DIALEKTIK DER NATUR
4.MARX UND ENGELS
5.HEGEL IM MARXISMUS: EINE GESCHICHTLICHE BETRACHTUNG
5.1. Marx ' Ambivalenz
5.2. Engels' doppelte Seiten
5.3. Die revisionistische Rebellion
5.4. Russischer Marxismus
5.5. »Western Marxism«
5.6. Die antihegelianischen Marxisten
6.EINE ZUSAMMENFASSUNG
KAPITEL II ENGELS' UMSTÜLPUNG DER HEGELSCHEN PHILOSOPHIE
1.DIE AUSFÜHRUNG IN LUDWIG FEUERBACH UNDDIALEKTIK DER NATUR
2.EINE KRITISCHE ANAL YSE DER ENGELSSCHEN AUFFASSUNG
2.1. Die Gesetze der Dialektik als solche: »transzendentale Dialektik«
2.2. Materialismus oder Idealismus: »empiristischer Idealismus«
2.3. Das System: Rückschritt zum »Junghegelianismus«
KAPITEL III MARX' KRITIK AN HEGEL
1.DIE SCHWIERIGKEIT UND DAS VERFAHRENDER UNTERSUCHUNG
2.DIE ALLGEMEINE FORMEL:DOPPELTE BEZIEHUNG VOM MATERIELLEN-IDEELLEN
2.1. Die Forschungs- und Darstellungsweise
2.2. »Der erste Weg« und »der zweite Weg«
3.BEGRIFF UND GESCHICHTE
3.1. Abstraktion und Analyse
3.2. Geschichte und Zweck
4.DIE BASIS DER KRITIK
4.1. »keine Brücke wird geschlagen vom Allgemeinen zum Bestimmten«: der Übergang als Einbahnstraße
4.2. Die »GEGENSTÄNDLICHKEIT«
5.DAS GANZE DER MARXSCHEN KRITIK AN HEGEL
KAPITEL IV DER UNTERSCHIED ZWISCHEN MARX' UND ENGELS' HEGELKRITIK
1.DIALEKTIK ALS PRINZIP VS. ALS GESETZ
2.HISTORISCHE THEORIE VS. GESCHICHTSTHEORIE
3.EPISTEMOLOGISCHE VS. WELTANSCHAULICHE UMSTÜLPUNG
ZWEITER TEILDIALEKTIK DER KRITIK darstellung des wesens
KAPITEL V GENESIS DES »KAPITAL«
1.DER ANFANG
1.1.Der erste Blick
1.2.Über die »Einleitung« von 1857
1.3.Zum neuen Anfang
1.4.Die erste Fragestellung
2.ARBEIT UND IHR GEGENSTAND
2.1.Wert und Gebrauchswert
2.2.Abstrakt menschliche Arbeit und nützliche Arbeit
2.3.Arbeit und Naturstoff
3.FETISCHISMUS
3.1. Geldfetisch
3.2. Warenfetischismus
3.3.»Wertfetischismus«
3.4.»Kapitalismusfetischismus«
KAPITEL VI »KRITIK« DER POLITISCHEN ÖKONOMIE
1.PROBLEME DER POLITISCHEN ÖKONOMIE
2.AUFRICHTEN DES SUBJEKTS (DER DIALEKTIK)
2.1. Die allgemeine Form
2.2. Die Warenform
2.3. Die Wertform als Entfaltung der Warenform
2.4. Geldform
2.5. Kritik des Fetischismus: Zurück zur allgemeinen Form
3.DIE DIALEKTISCHE ENTFALTUNG (DES KAPITALS)
4.ENDE UND ANFANG DER DIALEKTIK UND DER KRITIK
KAPITEL VII DER KOMMUNISMUS ALS »IDEE«
1. DER KOMMUNISMUS
1.1. point de départ der Dialektik
1.2. point de départ der Kritik
1.3. point de départ der Kritik sowie point d'arivée der Dialektik
1.4. Frage nach dem Kommunismus
2.ONTOLOGISCHE UND EPISTEMOLOGISCHECONDITIO SINE OUA NON
2.1. »ontologische conditio sine qua non« der Erscheinung
2.2. »epistemologische conditio sine qua non« des Wesens
2.3. Denken und Sein
3.GRUNDLAGE UND LEITFADEN
3.1. Kritik als Grundlage der Dialektik
3.2. Dialektik als Leitfaden der Kritik
3.3. In Bezug auf die revisionistische Debatte
4.ZUM SCHLUß
4.1. Die einfache Form
4.2. Die entfaltete Form
4.3. Die allgemeine Form
LITERATURVERZEICHNIS
LEBENSLAUF

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KRITIK UND DIALEKTIK ZUR MARXSCHEN METHODE

INHAL TSVERZEICHNIS

EINLEITUNG 1. Odyssee des Marxismus / 2. Das allgemeine Resultat III 3. Gliederung dieser Arbeit //

ERTER TEIL

KRITIK DER DIALEKTIK untersuchug der erscheinung

KAPITEL I DIE »MARXISTISCHE DREIEINIGKEIT« 3 1. Marx-Engels-Marxismus 3 2. In Bezug auf Anti-Dühring 4 3. Hinter der Dialektik der Natur 7 4. Marx und Engels 9 5. Hegel im Marxismus: eine geschichtliche Betrachtung 12 5.1. Marx'Ambivalenz 12 5.2. Engels' doppelte Seiten 13 5.3. Die revisionistische Rebellion 14 5.4. Russischr Marxismus 16 5.5. »Western Marxism« 17 5.6. Die antihegelianischen Marxisten 20 6. Eine Zusammenfassung 22

KAPITEL II ENGELS' »UMSTÜLPUNG« DER HEGELSCHEN PHILOSOPHIE 25 1. Die Ausführung in Ludwig Feuerbach und Dialektik der Natur 25 2. Eine kritische Analyse der Engelsschen Auffassung 27 2.1. Die Gesetze der Dialektik als solche: »transzendentale Dialektik« 27 2.2. Materialismus oder Idealismus: »emppirischer Idealismus« 29 2.3. Das System: Rückschritt zum »Junghegelianismus« 31 KAPITEL III MARX' KRITIK AN HEGEL 35 1. Die Schwierigkeit und das Verfahren der Untersuchung 35 [Exkurs zum »jungen« und »alten« Marx] 37 2. Die allgemeine Formel: Doppelte Beziehung vom Materiellen-Ideellen 39 2.1. Die Forschungs- und Darstellungsweise 41 2.2. »Der erste Weg« und »der zweite Weg« 45 3. Begriff und Geschichte 51 3.1. Abstraktion und Analyse 51 3.2. Geschichte und Zweck 55

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4. Die Basis der Kritik 58 4.1. »Keine Brücke wird geschlagen vom Allgemeinen zum Bestimmten«: der Übergang als Einbahnstraße 59 4.2. Die »GEGENSTÄNDLICHKEIT« 62 5. Das Ganze der Marxschen Kritik an Hegel 68 KAPITEL IV DER UNTERSCHIED ZWISCHEN MARX' UND ENGELS'HEGELKRITIK 75 1. Prinzip vs. Gesetz 75 2. Historische Theorie vs. Geschichtstheorie 78 3. Epistemologische vs. weltanschauliche Umstülpung 81

ZWEITER TEIL

DIALEKTIK DER KRITIK darstellung des wesens

KAPITEL V GENESIE DES KAPITAL 87 1. Der Anfang 87 1.1. Der erste Blick 88 1.2. Über die »Einleitung« von 1857 89 1.3. zum neuen Anfang 91 1.4. Die erste Fragestellung 95 2. Arbeit und ihr Gegenstand 97 2.1. Wert und Gebrauchswert 99 2.2. Abstrakt menschliche Arbeit und nützliche Arbeit 102 2.3. Arbeit und Naturstoff 104 3. Fetischismus ho 3.1. Geldfetisch ui 3.2. Warenfetischismus 113 3.3. »Wertfetischismus« 117 3.4. »Kapitalismusfetischismus« 119

KAPITEL VI »KRITIK« DER POLITISCHEN ÖKONOMIE 125 1. Probleme der politischen Ökonomie 125 2. Aufrichten des Subjekts (der Dialektik) 127 2.1. Die allgemeine Form 127 2.2. Die Warenform 128 2.3. Die Wertform als Entfaltung der Warenform 130 2.4. Geldform 131 2.5. Kritik des Fetischismus: Zurück zur allgemeinen Form 132 3. Die dialektische Entfaltung (des Kapitals) 133 4. Ende und Anfang der Dialektik und der Kritik 135

KAPITEL VII DER KOMMUNISMUS ALS »IDEE« 141 1. Der Kommunismus 141 2. »focus imagnarius«. bei Kritik der politischen Ökonomie 145 3. »Postulat« bei Praxis 147 4. »Zweck« bei Interpretation der Geschichte 150

DRITTER TEIL

KRITIK UND DIALEKTIK KAPITEL VIII DAS GANZE DER BEZIEHUG VON ERSCHEINUNG UND WESEN 155 1. Point de départ und point d'arivée 156 1.1. point de départ der Dialektik 156 1.2. point de départ der Kritik 156 1.3. point de départ der Kritik sowie point d'arivée der Dialektik 157 1.4. Frage nach dem Kommunismus 158 2. ontologische und epistemologische conditio sine qua non 158 2.1. »ontologische conditio sine qua non« der Erscheinung 158 2.2. »epistemologische conditio sine qua non« des Wesens 159 2.3. Denken und Sein 160 3. Grundlage und Leitfaden 161 3.1. Kritik als Grundlage der Dialektik 162 3.2. Dialektik als Leitfaden der Kritik 162 3.3. In Bezug auf die revisionistische Debatte 164 4. Zum Schluß 165 4.1. Die einfache Form 165 4.2. Die entfaltete Form 168 4.3. Die allgemeine Form 169 LITERATURVERZEICHNIS 173

EINLEITUNG

I. ODYSSEE DES MARXISMUS Dadurch, daß seit Ende der 70er Jahre China den »neuen Langen Marsch« von Planwirtschaft zur »sozialistischen Marktwirtschaft« durchführt, daß der Ostblock Ende der 80er Jahre zusammenbrach und daß die UdSSR, das »Vaterland des Sozialismus« 1991 zerfiel, ist der Sozialismus nicht, wie Rosa Luxemburg Ende des letzten Jahrhunderts optimistisch behauptete, vom »Ideal« zur »geschichtlichen Notwendig­ keit« geworden,1 sondern hat sich gerade umgekehrt, aus einer »geschichtlichen Tatsache« wieder zum »Ideal« gewandelt, das der Menschheit vorschwebte und einmal schon verwirklich schien, jetzt jedoch bestenfalls als vage Idee oder Utopie in einigen Köpfer existiert, und auch diese Existenzform scheint gefährdet. Also kehrt die Geschichte zurück. Alles, was einmal als Sozialismus auf den Trümmern des Kapitalismus aufgebaut wurde, ist jetzt abzureißen, um auf seinen Trümmern den Kapitalismus wieder aufzubauen. Die Kommunisten haben Anfang des Jahrhunderts »saubere Wäsche« (»kommunistische Partei«) angezogen, aber die kommunistischen Parteien der ex-realsozialistischen Länder haben sich Ende des Jahrhunderts das damals entledigte »schmutzige Hemd« (»Sozialdemokraten«)2 eine nach der anderen wieder angezogen - dabei hat die SED nicht vergessen, dies Hemd umgekehrt anzuziehen (PDS), um nicht mit ihrem alten Freund und Feind SPD verwechselt zu werden. Ein chinesisches neues Sprichwort: »Nach dreißig Jahre Kommunismus befinden wir uns jetzt noch vor der Emanzipation.« Wenn dies Zurückkehren der Geschichte die »Krise«3 des Marxismus charakterisiert, so haben diese die meisten »Marxisten« schon seit Engels erlebt: Nachdem das allgemeine Stimmrecht 1866 eingeführt worden war, hat die Geschichte schon Engels unrecht gegeben.4 Die immer noch nicht dem Gesetz nach kommende große Revolution veranlasste den »Verrat« der Realpolitiker, deren theoretischer Vertreter Bernstein war, dessen Theorie zufolge der Marxismus aus zwei Elementen bestand: einer schon durch die wirkliche Entwicklung widerlegten Wissenschaft, und einem ewigen Endziel mit ethischen Charakter.5 Nach dem ersten Weltkrieg, also nach 1. Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke (Berlin, 1970), Bdl/1, S.409. 2. Lenin, »Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution«, Ausgewählte Werke (Berlin, 1961),BdII, S.81. 3. Vgl. Louis Althusser, Die Krise des Marxismus, Hamburg, 1978. 4. Engels, »Einleitung zu Marx’ >Klassenkämpfe in Frankreich««, MEW22, S.515f. 5 Vgl.u .a. Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgabe der Sozialdemokratie, Hamburg, 1969.

EINLEITUNG II

der Niederlage der proletarischen Revolution in Westeuropa, eröffnete Lukacs eine neue Epoche des Marxismus, indem er denselben als reine »dialektischen Methode« definierte, und daher alle konkret wissenschaftliche Prüfung ausschloß, die den Marxismus vielmehr als falsch beweisen könnte.6 Dank der Veröffentlichung der Pariser Manuskripte im Jahre 1932 wurde Marxismus während des Kalten Kriegs in Westeuropa erneut interpretiert, um die Verbreitung des totalitären sowjetischen Regimes, des »neuen Terrorismus« oder des »neuen furchtbaren Zustandfes]« zu verhindern, und »dasjenige, was positiv zu bewerten ist, wie zum Beispiel die Autonomie der einzelnen Person, die Bedeutung des einzelnen, seine differenzierte Psychologie, gewisse Momente der Kultur zu bewahren, ohne den Fortschritt aufzuhalten.«7 Sehnsucht nach dem »independent-variable Marxism«,8 dem absoluten Anfang, der Genesis, dem Zuhause des »echten« und »guten« Marxismus. Diese Odyssee scheint kein gutes Ende zu haben. Das Schicksal des mit Marx' Name genannten Ismus hat Marx selbst vielmehr schon antizipiert, indem er die Proletarische Revolutionen beschrieb: sie

kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eignen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze!9 Wenn die Geschichte Ende dieses Jahrhunderts den Sozialismus als reines Ideal in den Hintergrund drängt, so verhöhnt sie auch »die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten« des Ex-Realsozialimus als der »ersten Versuche« der Proletarier. Wenn es noch »wieder von neuem anzufangen« ist, können die Marxisten nicht mehr um Marx gehen, sondern müssen von Marx ausgehen, aber auch nicht von irgendeinem beliebigen Marx, sondern von dem, mit dem Marx selbst angefangen hat, nämlich der Marx der Methode. Denn es ist offensichtlich, daß viele Marxsche Behauptungen nicht mehr zur neuen Entwicklung der Wirklichkeit passen. Wenn Marx diese Entwicklung noch erleben könnte, müßte er doch - mit seiner Methode - dieselbe erneut begreifen und erklären. Wird aber diese Methode ausgeführt, und daher auf den gegenwärtigen Zustand angewandt, so ist dann die »Totenbeschwörung« nicht mehr nötig. Die vorliegende Arbeit hat sich also die Aufgabe gestellt, die Marxsche Methode zu untersuchen.

6. G.Lukacs, Geschichte und Klassenbewtißtsein, Neuwied und Berlin, 1970. 7. Max Horkheimer, »Kritische Theorie gestern und heute«, in Gesammelte Schriften, Bd8, Frankfurt/M, 1985, S.341. 8. Erik Olin Wright u.a., Reconstructing Marxism, London/New York, 1992, p,182f. 9. Der achizente Brumaire des Louis Bonaparte, MEW8,S. 118.

EINLEITUNG III

2. DAS ALLGEMEINE RESUL TA T Marx hat über seine Methode nicht schreiben können. Diese Aufgabe wurde von Engels übernommen, indem er unter der Marxschen Lehre eine »umgestülpte Hegelsche Philosophie« bzw. eine »Dialektik der Natur«, eine »materialistische Weltanschauung« oder eine »materialistische Geschichtsauffassung« verstand. Diese Initiative bedingte die nachfolgende Diskussion über Marxsche Methode, bei der es hauptsächlich um »Dialektik« - sei es Dialektik der Natur, Dialektik des Subjekts und Objekts oder Dialektik nur im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft - ging, und vergessen schien, daß Marx' Beschäftigung in »Kritik« (der politischen Ökonomie, der Hegelschen Philosophie... usw.) bestand. Dagegen versucht die vorliegende Arbeit, nach Marx' eigenen Texten seine Methode als »Zwieschlächtige« zu verstehen, ohne sich von Engels' Interpretation beeinflussen zu lassen. Die so verstandene Methode besteht aus zwei nicht mehr zu reduzierenden Dimensionen oder Richtungen: Kritik und Dialektik. Als zwei enthalten sie, kurz gesagt, die Beziehung von »Grundlage« und »Leitfaden«: 1) Wie bunt auch immer die Dialektik, es liegt ihr stets die Kritik zugrunde: Kritik ist Grundlage der Dialektik, Da die Dialektik nur ein gedanklicher Prozeß ist, nur idealistischen Charakter besitzt, nur zur ideellen Darstellung dient, tritt sie nie an Stelle der Bewegung der Wirklichkeit, ohne diese schon auf eine empirische Weise aufgefaßt bzw. erforscht zu haben, und daher für sie vorbereitet zu sein. 2) Die Kritik geht von der vorhandene Erscheinung aus, und kommt endlich bei dem Wesen an, so daß die Dialektik umgekehrt von demselben Wesen ausgehen und endlich bei derselben Erscheinung ankommen kann - in diesem Sinne ist eben Kritik die Grundlage der Dialektik. Aber die Kritik kann das Wesen überhaupt nicht finden, wenn dasselbe nicht vorher schon etwa geahnt wird. Und erst wenn es geahnt wird, wird seine Entfaltung zur Erscheinung auch gedacht, weil das Wesen nichts als das sein kann, was in der Erscheinung erscheint, was seine Erscheinung aufweist. Die Entfaltung des Wesens zur Erscheinung heißt Dialektik, und die Dialektik leitet eben die Kritik, die umgekehrt von der Erscheinung zum Wesen führt. In diesem Sinne ist Dialektik Leitfaden der Kritik. Auf das Detail ist hier nicht einzugehen. Es ist aber wert, den Beitrag dieser Auffassung hier zu erwähnen. Daß jede Theorie nur abstrakt ist, wenn sie von der Praxis getrennt wird, ist schon das marxistische alte Lied. Wenn aber Marx bloß die Abstraktion in die Praxis aufzulösen versucht hätte, könnte er sich von Feuerbach nicht unterscheiden. Er brach sowohl mit dem Idealismus als auch mit dem Feuerbachschen Materialismus vielmehr dadurch, daß er einerseits seine Dialektik stets auf Grundlage der Kritik aufbaute, und andererseits seine Kritik stets auf Dialektik richtete, so daß seine Kritik der Religion imstande war - sofern der Ausgangspunkt dieser Kritik die Abstraktion und das Ziel derselben die wirkliche Verhältnisse waren - »aus den jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen ihre verhimmelten Formen zu entwickelnd0; und seine Kritik der politischen Ökonomie gleichartig imstande war, - sofern hier dagegen der 10.VOP23, S.393(N) (Herv.HS).

EINLEITUNG IV

Ausgangspunkt der Kritik die Wirklichkeit und das Ziel derselben die Abstraktion waren11 ~ aus der abstrakt menschlichen Arbeit zuerst das Geld und dann das Kapital zu entwickeln. Der Kapitalismus wird also nur kritisiert, indem eine andere Gesellschaftsformation entworfen wird, in der die ganze Produktion unter der bewußten planmäßigen Kontrolle der Gesellschaft steht. Diese »andere« Gesellschaftsformation als »Kommunismus« wird aber nur gedacht, weil die abstrakt menschliche Arbeit schon vermittels des Kapitalismus praktisch wird. Und der Entwurf eines anderen Gesellschaftssystems erfolgt nicht zum Spaß, sondern um bestimmte Funktionen zu erfüllen, nämlich 1) die theoretische Kritik am Kapitalismus zu leiten, 2) die Voraussetzung der Verwandlungen der Welt zu bieten und 3) die Entwicklung der Geschichte zu interpretieren.

3. GLIEDERUNG DIESER ARBEIT Dieses allgemeine Resultat reflektiert sich in der vorliegenden Arbeit. Es wird im ersten Teil aus der Kritik der Dialektik erschlossen, und dient im zweiten Teil zur Erläuterung der Struktur der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie. Das Ganze wird im dritten Teil resümiert. Im ersten Teil handelt es sich um Kritik der Dialektik. Die Marxsche Methode wird, wie oben erwähnt, konventionell als »Dialektik« betrachtet. Diese Betrachtungsweise ist aber nicht selbstverständlich, sondern Produkt einer bestimmten Geschichte. Um diese Geschichte zu erkennen, wird im Kapitel I die Beziehung (sowie der Unterschied) zwischen Marx und Engels geprüft. Da Marx sich von Engels hauptsächlich durch die Kritik an der Hegelschen Philosophie unterschied, werden im Kapitel II und III die beiden Modi des »Umstülpens« analysiert, und ihr Unterschied wird im Kapitel IV aufgezeigt. Es sei hier zu bemerken, daß am Ende des Kapitels III das Zeichen »]-[« erst eingeführt wird, das gebraucht wird, um die Beziehung zwischen Wesen und Erscheinung, zwischen Kritik und Dialektik zu charakterisieren. Es verbindet zwei Pole, deren einer die »ontologische conditio sine qua non« des anderen ist, und dieser die »epistemologische condotio sine qua non« von jenem ist. Dadurch wird gesehen, daß Hegelsche Philosophie von Marx als »Mystifizierung« kritisiert wird, weil sie die »epistemologische condotio sine qua non« verneint.

Nachdem dieses Resultat erlangt worden ist, wird im zweiten Teil die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie dargestellt. Mit Hilfe dieses Resultats sollten einige Ergebnisse geleistet werden, dazu gehören: 1) Der absolute Anfang des Kapital, nämlich der Anfang mit dem Reichtum bzw. mit der Ware als seiner Erscheingsform, wird erklärt. Das Kapital fängt mit dem Reichtum bzw. mit der Ware an, weil das echte Subjekt der Produktion nur dadurch konstruiert werden kann, daß es nicht an sich erkannt wird, sondern sich stets GEGENSTÄNDLICH auf seinen Gegenstand bezieht. (Vgl. Kapitel V.l.) 11.Der Ausdruck »politische Ökonomie« ist zweideutig, er deutet einerseits die »Phänomena« an, andererseits das »theoretische System« derselben. Vgl.Louis Althusser/Etienne Balibar, Reading Capital, London, 1970, p.83f; Wolfgang F. Haug, Vorlesungen zur Einführung ins »Kapital«, Berlin, 1987., S.24. Hier wird die erste Bedeutung gebraucht.

EINLEITUNG V

2) Der Gegenstand der Arbeit wird dem doppelten Charakter der Arbeit - als nützliche und abstrakt menschliche Arbeit - entsprechend als »Arbeitsgegenstände« und »Gegenständlichkeit« betrachtet, damit das Problem relativ erleichtert werden kann, ob es bei Marx ein kantianisches »Ding-an-sich« gibt. Dies Problem ist wichtig, weil die abstrakt menschliche Arbeit gegenstandlos, und daher »Unwesen« sein muß, wenn der Gegenstand nicht als Zwieschlächtiger betrachtet werden kann. (Vgl. Kapitel V.2.) 3) Der Fetischismus wird in vier Schichten definiert: neben dem schon bekannten »Geldfetisch« und dem »Warenfetischismus« noch »Wert- « und »Kapitalismus­ fetischismus«. (Vgl. Kapitel V.3.) 4) »Kritik« wird in ihrem strengen Sinne begriffen. Sie geht von der vorhandenen Erscheinung aus, erreicht mit Hilfe der Dialektik als »Leitfaden« den bestimmten »Punkt«- nämlich die abstrakt menschliche Arbeit -, so daß von dem ab die ganze Entwicklung der (ökonomischen) Kategorien rückwärts dargestellt werden kann. Damit wird das Rätsel, daß Marx' »Kritik« zugleich »dialektische Darstellung«12 und »Dialektik« zugleich »kritisch« und »revolutionär«13 bedeutet, entziffert. (Vgl. VI.) 5) Der »Kommunismus« wird als »Idee« ausgeführt, die sich von irgendeinem Begriff oder Zustand dadurch unterscheidet, daß sie fungiert als »focus imagiarius« bei Kritik der politischen Ökonomie, als »Postulat« bei Praxis und als »Zweck« bei Interpretation der Geschichte. (Vgl. Kapitel VII.)

Im dritten Teil (Kapitel VIII) wird das Ganze resümiert.

12. Vgl. A-/W29 S.550. 13. Vgl.A-/W23, S.28.

ERSTER TEIL

KRITIK DER DIALEKTIK Untersuchung der erscheinung

. . • .

DIE »MARXISTISCHE DREIEINIGKEIT« ENGELS' UMSTÜLPUNG DER HEGELSCHEN PHILOSOPHIE MARX'KRITIK AN HEGEL DER UNTERSCHIED ZWISCHEN MARX' UND ENGELS' HEGELKRITIK

KAPITEL I DIE »MARXISTISCHE DREIEINIGKEIT«

1. MARX-ENGELS-MARXISMUS So wie es im Christentum eine heilige Dreieinigkeit gibt, nämlich »Vater-SohnGeist«, gibt es im Marxismus auch eine: »Marx-Engels-Marxismus». Und so wie die heilige Dreieinigkeit erst auftauchte, nachdem sich Jesus als Sohn des damals schon schweigend bleibenden Gottes bezeichnet hatte, so tauchte die marxistische Dreieinigkeit auch erst auf, nachdem die Sozialdemokraten Marx 1883 verloren hatten und Engels, wegen seiner langen Freundschaft und Mitarbeit mit Marx, unfreiwillig die Stelle der »ersten Violine« hatte einnehmen müssen.1 Der bescheidene Engels schrieb zwar vor und nach Marx’ Tod viele Vorworte und populäre Hefte wie Die Entwicklung des Sozialismus von Utopie zur Wissenschaft oder Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, die meistens von Marx-Studien angeführt wurden und werden, mochte indes diese Leistungen nicht als seine eigenen anerkennen, sondern erinerte vielmehr immer an seinen Mitkämpfer, so z.B. im Vorwort zur zweiten Auflage von Anti-Dühring-, seine »Anschauungsweise« sei »zum weitaus großem Teil von Marx begrünget und entwickelt worden, und nur zum geringsten Teil von mir«,2 Eis entstand der Eindruck, als ob Engels nur zur (autoritativen) Exegese der Marxschen Lehre dienen würde: einen selbständigen Engels gäbe es nicht. All seine selbständig erlarbeiteten Werke wurden nicht als seine eignen betrachtet, sondern als organische und daher untrennbare Bestandteile des »Marxismus«. Es soll also kein Wunder sein, daß Engels kaum eigenständig in den intellektuellen Erörterungen auftauchte, während von Marx auch allein die Rede sein konnte, also ohne Zutat Engels. Als (autoritativer) Interpret wäre Engels aber andererseits auch der »Weg«: »niemand kommt zu Marx außer durch ihn«: unter den »Marxisten« der ersten Generation wurde Marx eigentlich schon weniger gelesen als Engels. Wie Lucio Colletti mit vielen Beispielen aufzeigte: »The leading intellectual figures were all in the most explicit agreement on this point: they had all been drawn to Marxism principally by the works of Engels.«3 Bis in die 60er und 70er Jahre änderte sich an diesem Zustand wenig, so daß sich Althusser beklagte: »almost everyone in the human or social sciences says he is more or less a Marxist. But who has taken the trouble to read Marx closely, to 1. Engels an J.P.Becker am 15.0kt. 1884. MEW36, S.218. 2. V/W20.S.9. 3. Lucio Colletti, »Introduction to Karl Marx Early Wrilings«., London, 1975, p.9. Zu diesen »Figuren« gehören K. Kautsky, D. Riazanov, M. Adler usw.

DIE »MARXISTISCHE DREIEININGKEIT« 4

understand his novelty and take the theoretical consequences?«4 Terrell Carver war der gleichen Ansicht: »While socialists, communists and even selfconfessed Marxists paid lipservice to the power of Capital, Marx's magnum opus, it was these works that were most widely read and whose tenets were passed on in lectures, primers and handbooks, dowrn to official Soviet dialectics.« Zu »these works« gehören »Anti-Dühring, Socialism: Utopia and Scientific, Ludwig Feuerbach and the End of Classical German Philosophy - all by Engels.«5 Dies wird einfach bestätigt, indem man in irgendeinem dogmatischen Lehrbuch sei es des Kommunismus6 oder des Anti-Kommunismus7 - blättiert. Was dann zuerst ins Auge springt, sind die »philosophischen Grundlagen« des Marxismus, die (insbesondere die sogenannten Gesetze der Dialektik) aber, näher betrachtend, nicht Marx selbst sondern vielmehr ausschließlich Engels anführen, zumal seine zwei Hauptwerke: AntiDühring und Dialektik der Natur. Außerdem ist noch zu bemerken, daß, um zu beweisen, daß die Marxsche Methode eine (hegelianische) dialektische sei, sowohl Lenin, die Eiseneskorte des orthodoxen Marxismus, als auch Bernstein, der erste Rebell innerhalb der Marxisten, vielmehr miteinander darin übereinstimmten, daß, als sie nur durch Engels' Interpretation (besonders in Anti-Dühring) den Marxschen Standpunkt erklären konnten, ihre Ansätze noch dadurch zu rechtfertigen waren, daß die Argumente im Anti-Dühring völlig »in Übereinstimmung mit« Marx wären.8 Diese primitivste Übereinstimmung dient als eine Straßenwalze, die alle Holperigkeit auf den Weg von Engels zu Marx erst glättert, um weiterhin alle Ansätze von Engels zügig als organische Bestandteile des Marxismus eizusetzen.

2. IN BEZUG A UF ANTI-DÜHRING Woher kam aber diese »Übereinstimmung mit Marx«? Sie war keineswegs ein Produkt des »außer und über der Anschauung und Vorstellung denkenden und sich selbst gebärenden Begriffs«,9 sondern, wie Ideen, Kategorien und die sie ausdrückenden Verhältnisse nicht ewig sind, war sie auch ein »historisches, vergängliches, vorübergehendes« Produkt.10 Geschichtlich betrachtet wird ersichtlich, daß sie nicht aus irgendeinem Marxschen Text hervorgebracht wurde, das heißt, nicht von Marx bestätigt wurde, sondern eben aus Engels' »Vorwort zu der Auflage von 1885« des Anti-Dühring, d.h. aus dem Vorwort zur 2. Auflage deseiben Werks erst zwei Jahre nach Marx' Tod hergeleitet wird. •s L. Althusser, Montesquieu, Rousseau, Marx, London, 1972, p.168. T Carver, Marx und Engels: The Intellectual Relationship, Bloominton, 1983, pp,96-97. Z.B. Grundlagen der Marxistischen Philosophie, Berlin, 1960. Z.B. das taiwanesische offizielle Lehrbuch der high school der »Drei Volksprinzipien« (nämlich »Nationalismus, Demokratie und sozialer Wohlstand« des »Nationalvaters« - (Dr.) Sun, Yet-Sen -) oder die Lehrbücher sowohl des »Sun, Yet-Sens Gedankens« als auch der »Forschung der Probleme in Festland Chinas« an der Universität. 8. E. Bernstein, Die Voraussetzungen..., S. 34; W.I. Lenin, »Karl Marx«, in Ausgewälte Werke in drei Bänden, Berlin, 1961, S. 30. 9. Karl Marx, »Einleitung zu den Grundrissen«, inMEW42, S.36. 10. Karl Marx, Misère de la philosophie etc. (Das Elend der Philosophie), in MEW4, S.130.

4. 5. 6. 7.

DIE »MARXISTISCHE DREIEININGKEIT« 5

Darin bemerkte Engels »nebenbei«, als ob diese Aussage ganz gleichgültig wäre:

Da die hier entwickelte Anschauungsweise zum weitaus großen Teil von Marx begründet und entwickelt worden, und nur zum geringsten Teil von mir, so verstand es sich unter uns von selbst, daß diese meine Darstellung nicht ohne seine Kenntnis erfolgte. Ich habe ihm das ganze Manuskript vor dem Druck vorgelesen, und das zehnte Kapitel des Abschnitts über Ökonomie (»Aus der >Kritischen GeschichteAnti-Dühring< und der Dialektik der Natur. Während der eine Hegel aus seinem eignen Anliegen heraus überwunden, konkretisiert, realisiert und aufgehoben hat, hat ihn der andere lediglich kastriert.«49

Es gab also zwei Marx sowie zwei Hegel. Der »junge« Marx, der humanistisch und hegelnah war; der »alte« bzw. »erstarrte« Marx, der durch Engels und Lenin usw. »wissenschaftlich« verzerrt wurde; der »junge« Hegel, der revolutionär war, und der »alte« Hegel, der konservativ war. Die vier Figuren bildeten also zwei Reihe, auf eine einfache Formel gebracht: der junge Marx + der junge Hegel = marxistischer Humanismus der erstarrte Marx + der alte Hegel = DIAMAT

Dies ist natürlich nur ein überflächiger Überblick. Die Sache ist näher zu betrachten.

5. HEGEL IM MARXISMUS: EINE GESCHICHTLICHE BETRACHTUNG Die Marxsche als »Dialektik« genannte Methode ist seit langem mit der Hegelschen verwoben. Das Verhältnis zu Hegel ist die Achse, um die sich die Mehrzahl der Variationen des Marxismus dreht.

5.1. Marx ' Ambivalenz

Schon zu Marx' Lebzeiten wurde Hegel als »toter Hund« betrachtet. Dies verhinderte aber nicht, daß Marx sich »offen als Schüler jenes großen Denkers« bekannte, während er dabei nicht vergaß, an seine eigene Kritik an die Hegelsche Dialektik »vor beinah 30 Jahren« zü erinnern, und dieselbe als »auf dem Kopf stehend« zu bezeichnen.50 In Marx' Ambivalenz zur Hegelschen Philosophie hat schon die Schwierigkeit, Hegel im Marxismus zu orten, ihren Ursprung. Nämlich, wie sehr Marx auch immer nach Hegel aussieht, diese Ähnlichlichkeit kann nie verdecken, daß Marx doch stets Hegel kritisierte. Und vice versa: wie auch immer Marx sich von Hegel zu distanzieren scheint, kann diese Distanz jedenfalls insofern nicht überschätzt werden, als Marx sich 48.Vgl. Ekkehard Fräntzki, Der Missverstandene Marx, Augsburg, 1978, S.50ff. 49.Iring Fetscher, Kar! Marx und Marxismus, München, 1973, SS. 137-38. 50jV/W23,S.27.

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»als Schüler jenes großen Denkers« bekannte. Jeder Versuch (Versuch I), Marx in irgendeiner Richtung außerhalb der hegelianischen zu interpretieren, ist also ungültig, ohne ernsthaft die Beziehung Marx' zu Hegel fest ins Auge zu sehen; umgekehrt: jeder Versuch (Versuch II), Marx ausschließlich als Hegelianer zu beweisen, ist gleich umsonst, ohne zugleich die genaue Bedeutung sowohl der Marxschen »Umstülpung« als auch des »rationellen Kems« Hegels zu erklären. Während bisher der Versuch I Marx' Bezug auf Hegel als »Kokettierung« einfach ignorierte, bemühen sich alle hegelianischen Marxisten sowie Marxologen (Versuch II) umgekehrt darum, die genaue Bedeutung sowohl der Marxschen »Umstülpung« als auch des »rationellen Kems« verschieden zu entziffern.

5.2. Engels' doppelte Seiten Der erste Versuch II wurde von Engels durchgeführt. Obwohl die Marxsche Ambivalenz schon zu seinen Lebzeiten bekannt war, wurde sie eigentlich nicht ausgeführt. In einem Brief an Engels bermerkte Marx: »Wenn je wieder Zeit für solche Arbeiten kommt, hätte ich große Lust, in 2 oder 3 Druckbogen das Rationelle an der Methode, die Hfegel] entdeckt, aber zugleich mystifiziert hat, dem gemeinen Menschenverstand “zugänglich zu machen.«51 Diese Zeit hat Marx aber nicht gehabt. Und die heute als Marx' Hegelkritiken betrachteten Werke wie »Kritik des Hegelschen Staatsrechts« (erst 1927 veröffentlicht), der letzte Teil der Pariser Manuskripe (erst 1932 veröffentlicht), sowie die »Einleitung« der Grundrisse (erst 1939 veröffentlicht) blieben damals auch noch unbekannt. Das »unser Verhältnis zur Hegelschen Philosophie, unser Ausgang wie unsere Trennung von ihr«52 wurden vielmehr erst 1888 in Engels' Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie systematisch dargestellt. Diesem Pamphlet nach verweigerte Marx die konservative Seite der Hegelschen Philosophie einerseits, setzte aber andereseits die revolutioäre Seite der Hegelschen Dialektik fort, indem er die Dialektik nicht als Bewegung der Begriffe, sondern als Bewegung der wirklichen Welt auffasste. Die Ersetzung des »Ideellen« durch das »Materielle« hieß also »Umstülpung«, und die Dialektik als Form der »rationelle Kem«. Da die materialistisch umgestülpte Dialektik nicht mehr mit der Hegelschen idealistischen »Philosophie« zu identifizieren sei, hatte sie einen neuen Name zu tragen: materialistische Dialektik als das Synonym der »Wissenschaft«. Eine ausführliche Analyse wird im nächsten Kapitel durchgeführt, hier ist nur kurz aufzuzeigen, daß, während Marx der Hegelschen Philosophie »als solchen« gegenüberstand, Engels vielmehr auf einer Seite innerhalb derselben und gegen die andere stand. Mit anderen Worten, während Marx' Ambivalenz darin bestand, »to be or not to be« a Hegelian, bestand Engels' Alternative darin: der eine oder der andere Hegelianer zu sein. Und nicht an Marx' Ambivalenz, sondern eben entlang die beiden Linien von Engels entfaltete sich der Marxismus zu pluralistischen Marxismen.

51. Marx an Engels um den 16. Januar 1858, MEW29, S.260. Dazu vgl. auch MEW32, S.547, MEW36, S.3. Larfague und Dietzgen berichteten auch, daß Marx plante, eine Logik und eine Geschichte der Philosophie, oder eine Dialektik zu verfassen. Vgl. Vorländer, Kant undMarx, Tübingen, 1911, S.65. 52. F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, MEW2A, S.264. (Herv. SHS)

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5.3. Die revisionistische Rebellion

Aufgrund der Engelsschen Ausführung herrschte in der Zweiten Internationalen die Meinung, daß Hegel schon völlig überwunden und zu vergessen sei (ebenso wie Marx nach dem Zusammenbruch des realexistierten Sozialismus), daß an die Stelle der Philosophie53 schon die »Wissenschaft« trat, die die »schon nah vor der Tür stehende große proletarische Revolution« und daher die unentbehrliche Entstehung des Sozialismus garantierte, indem sie die notwendigen Gesetze der geschichtlichen Entwicklung entdeckte und bewies. Was zu tun sei, wäre also nur solidarisch zu erwarten. Wie Leszek Kolakowski den Standpunkt Karl Kautskys beschrieb: »Verbessern wir einstweilen den Kapitalismus, der Sozialismus ist uns ohnehin durch die historischen Gesetze garantiert«.54 »Justice delayed is Justice denied«. Nach jahrzehntelanger Erwartung riß aber endlich den Gewerkschaftlern und den realistischen Politikern, die »nur Kämpfe zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen führen wollen«,55 die Geduld. Es erschien ihnen vielmehr, daß die Alltagspolitik viel wichtiger war, als »die Arbeiter bis zur großen Katastrophe kampffähig zu erhalten«. Dies war »ein Hauptmoment, worin der Revisionismus sich von der anderen, der alten Auffassung der Sozialdemokratie unterscheidet: in der erhöhten Wertschätzung dessen, was zur sozialistischen Gegen warts arbeit gehört«.56 Stehend auf dem Standpunkt der Gegenwartsarbeit erschien die Dialektik vielmehr nur als eine Vogelperspektive der großen Geshichte, und war daher impotent für die praktische politische Entscheidung, die keine überblickende bzw. philosophische Anschauung, sondern jeweils eine konkrete bzw. wissenschaftliche Analyse der vorhandenen Wirklichkeit bedurfte. Also bemerkte Bernstein: »Je zusammengesetzter aber ein Gegenstand ist, je größer die Zahl seiner Elemente, je verschiedenartiger ihre Kraftbeziehungen, um so weniger können uns solche Sätze [der Dialektik] über seine Entwicklung sagen«.57 Von diesem Hintergrund hob die »Rebellion« Bernsteins ab, die als die theoretische Vertretung der Ungeduld der Alltagspolitiker zu betrachten war.58

53. »Für ihn [Marx] ist >die< Philosophie das System Hegels; andere Richtung und Positionen werden nicht in Betracht gezogen.« H.Schnädelbach, »Karl Marx und die Philosophie«, in Zur Rehabilitierung des animal rationale, Franffurt/M, 1992, S.332 54. L. Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus, Bd2, München, 1978, S.71. 55. Max Weber, Der Sozialismus, Weinheim, 1995, S. 110. 56. E.Bemstein, »Der Revisionismus in der Sozialdemokratie«, in derselbe, Ein revisionistisches Sozialismiisbild, TMxYmföQnn, 1976, S.126. 57. E.Bernstein, Voraussetzungen..., S.49. 58. Cf.Franz Mehring, Geschichte der Deutschen Demokratie, Stuttgart, 1897-98; Erika König, Vom Revisionismus zum »Demokratischen Sozialismus«, Berlin, 1964; Predrag Vranicki, Geschichte des Marxismus, Frankfurt/M, 1972; Jacques Dros (Hrsg), Geschichte des Sozialismus, Frankfurt am Main/Berlin/Wien, 1974; Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus, Frankfurt/M, 1974; Horst Heimann, (Hrsg.) Eduard Bernstein, Bonn, 1977; L. Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus, München, 1978; Akademie der Wissenschaften der UdSSR/Institut für Geschichte der UdSSR (Hrsg.), Die Geschichte der Zweiten Internationale, Moskau, 1983, insbesondere SS.475ff; Manfred Tetzel, Philosophie und Ökonomie, Berlin, 1984; Jia-Feng Duan, Geschichte der Zweiten Internationale, Taipei, 1987, Thomas Meyer, »Eduard Bernstein«, in Walter Euchner (Hrsg.) Klassiker des Sozialismus, München, 1991, SS.203-217.

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Um den »Cant« des Marxismus bzw. die durch Gesetze garantierte notwendige geschichtliche Entwicklung zu zerbrechen, warf Bernstein nur ein Jahr nach Engels' Tod (1895) in semer Artikelserie »Problem des Sozialismus«59 erstmal initiativ innerhalb des Marxismus die von Hegel unreflektiv übernommene Dialektik, sei sie gewandt oder gedreht worden, als die Erbsünde des zum Blanquismus werdenen Marxismus vor: die »geschichtliche Selbsttäuschung... würde bei einem Marx... unbegreiflich sein, wenn man in ihr nicht das Produkt- eines Restes Hegelscher Widerspruchsdialektik zu erblicken hätte, das Marx - ebenso wie Engels - sein Lebtag nicht völlig losgeworden zu sein scheint.«60 Bernsteins Zeitgenosse Karl Vorländer, der Vertreter der Marburger Schule, war der gleichen Meinung: »Sie [Marx und Engels] haben zwar seine [Hegels] Philosophie und dialektische Methode für ihre Zwecke >umgestülptwendet< Engels auf Naturphänomene dialektische Bewegungsformen >anCases< under a principle Dialektik genannt [hat]«.18 Mit anderen Worten, in diesem Nachlaß wird nur die Aufgabe gestellt, genau wie sie Hegel »an Hunderten von Stellen« versteht, »aus Natur und Geschichte die schlagendsten Einzelbelege für die dialektischen Gesetze zu geben«,19 während sich die Gesetze als solche dabei nicht ändern. Diese Ungründlichkeit warf ihm sogar Lenin vor, selbst wenn nur kurz und implizit, daß Engels »jedoch aus Gründen der Gemeinverständlichkeit« die »Identität der Gegensätze« nicht als »Gesetz der Erkenntnis«, sondern bloß »als Summe von Beispielen« genommen habe.20 So scheint es, daß es nur deswegen überflüssig ist, sich um die Wiederentdeckung dieser Gesetze zu bemühen, sie wissenschftlich zu produzieren, weil diese Gesetze eigentlich weder aus der Natur noch aus der Gesellschaft auf irgendeine (wissenschaftliche) Weise abstrahiert, entdeckt oder abgeleitet werden, sondern schon als Wahrheit von Hegels Spekulation gegeben sind, so daß es die einzige Aufgabe ist, schlagende Belege für sie zu geben und damit ihre schon vorherbestimmte Gültigkeit zu beweisen. Die Engelssche Dialektik scheint sich also nur dadurch vom Hegelschen absolutem Begriff zu unterscheiden, daß sie nicht von Ewigkeit, sondern - diesmal »bekannt wo« - eben von Hegel vorhanden ist. Die Hegelsche Philosophie wurde nicht »umgestülpt«, sondern vorausgesetzt und wiederholt. So bemerkte Predrag Vranicki: »In seinen Notizen zur Dialektik der Natur hat Engels« »wiederum von den Begriffen und Standpunkten Hegels« ausgegangen.21 Wenn aber Hegel in seiner idealistischen Weise schon dieselben Gesetze erfinden konnte wie die, die danach von der Naturwissenschaft nachgewiesen wurden, wie das kopemikanische System von Leverrier bewiesen worden war, dann kann dies nur bedeuten, daß Hegel »ein schöpferisches Genie war«22: die falsche Herkunft der Gesetze sollte in keine Weise ihre allgemeine Gültigkeit verhindern. Es fragt sich also, \6.MEW2Q, S.348. 17. Ebd„ S.349. 18. Marx an Engels am 9,Dez.l 861. MEW30, S.207. I9Affilk20, S.349. 20. »Zur Frage der Logik«, in Lenin, Werke, Bd.38, S.338. 21. Predrag Vranicki, Geschichte des Marxismus, Bdl Frankftirt/M, 1983, S.226 22. Ludwig Feuerbach... ,MEW2\, S.268.

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wozu es nötig ist, die falsche Herkunft als Schwerpunkt zu erheben und darauf die Kritik zu legen?

Stellt die »sich mit den Namen Marx knüpfende Richtung« der Aufgabe, alle Ewigkeit aufzulösen, nämlich die revolutionäre Seite Hegels von der Fessel entweder des Systems oder des Idealismus zu befreien, und weiterhin am radikalsten durch­ zuführen, dann ist die Frage zu stellen: ob die dialektischen Gesetze der Bewegung als solche, seien sie ideologische oder wissenschaftliche, seien sie Hegelsche oder Engelssche, seien sie auf Kopf oder auf Füßen stehend, auch selber als vergänglich aufzulösen oder dagegen als ewig bzw. allgemeingültig festzuhalten sind? Wenn sie als vergänglich zu verstehen sind, wovon hängt es ab? Von welchen Bedingungen soll deren Gültigkeit bedingt werden? Wenn sie dagegen als ewig zu verstehen sind, wie ist es zu rechtfertigen? Während Marx der Dichotomie von Über- und Unterbau aufgrund ausdrücklich bemerkte, daß »diese Ideen, diese Kategorien«, von denen die Dialektik als Überbau auch unentbehrlich ausgemacht werden muß, »ebensowenig ewig wie die Verhältnisse [seien], die sie ausdrückten«,23 schwieg Engels vielmehr zu diesen Fragen. Dazu theoretisch zu schweigen, bedeutet aber in der Wirklichkeit umgekehrt, die Gesetze nicht als finit, sondern als infinit anzuerkennen. So war Engels der Kritik zu unterziehen, daß er, mit Lukäcs' Worten, die soganannte »dialektische Beziehung des Subjekts und Objekts im Geschichtsprozeß« nicht bemerkte, und daher seine eigne Befrachtung selbst »bloß anschauend bleiben« ließ;24 oder mit Sartres Worten, daß seine Dialektik, da unreflektiv von Hegel übernommen, eine »transzendentale Dialektik« war, und als »apriorische« der »Ukas« zu sein schien.25 Diese zu »transzendental« gewordene Dialektik ist eben die eigentliche Wurzel dessen, was viele Gegner dem Marxismus vorwarfen, daß der Mensch zum »Opfer einer fremden und übermächtigen ökonomischen Gesetzlichkeit« gemacht werde, »die ihm gleichsam kalt und unabwendbar gegenübersteht.«26

2.2. Materialismus oder Idealismus: »empiristischer Idealismus« Wenn die Dialektik als solche sowohl in Hegels’ als auch in Engels' Hände nach wie vor dieselbe bleibt, und daher als ein Neutrales, als eine leere Form erscheint, in die irgendein beliebiger Inhalt eingefüllt werden kann, dann, insofern ein Unterschied zur Hegelschen Philosophie gemacht werden muß, ist es entscheindend, ob Ideelles oder Materielles ihr zutreffender Inhalt sein soll. Engels' Antwort war unerstaunlich ausdrücklich: nur das Materielle könnte der richtige Inhalt sein, da die Dialektik nicht als die Bewegung der Begriffe, sondern nur als die der wirklichen Welt zu bewilligen sei. Um die idealistische Dialektik abzusagen, sollte Engels eigentlich davon überzeugen, daß sie innere Mängel habe, daß es z.B. ein ihr innewohnendes und unlösbares Problem gebe, das nur durch z.B. eine materialsitische Umkehrung beseitigt 23. K. Marx, Das Elend der Philosophie, MEWA, S.130. 24. G. Lukäcs, Geschichte und Klassenbewußtsein, SS.61-62. 25. J.-P. Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft, SS. 28; 30. 26. Max Adler, »Die Beziehung des Marxismus zur klassischen deutschen Philosophie«, in Nobert Leser und Alfred Pfabigan (Hrsg.), Max Adler, Ausgewählte Schriften, Wien, 1981, S.5O3.

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werden könnte. Dies hat Engels indes wieder nicht getan. Materialistisch oder idealistisch zu sein, scheint bei ihm vielmehr nur eine beliebige Auswahl von verschiedenen und äußerlich gegenüberstehenden Anschauungen zu sein, die überhaupt nicht begründet zu werden braucht, da es vielmehr bloß eine »Geschmacksache« zu sein scheint, oder sogar nicht begründet werden kann, da jegiche Begründung vielmehr einer Anschauung unterstellt. Der Materialismus wäre völlig berechtigt mit diesem Stand­ punkt; und der Idealismus wäre ebenso überzeugend, sofern seine Wahrheit einfach geglaubt würde. Auf dieser willkürlichen Auswahl beruht das seit der Zweiten Internationale herrschende Verständnis, wie Predrag Vranicki mit Recht beschrieb, daß Marxismus »nichts anders als der umgekehrte Hegel [ist]; die absolute Idee Hegels, als der Grund der gesamten Wirklichkeit, muß nur durch die Materie, die sich dialektisch weiterentwickelt, ersetzt werden, und das Problem ist gelöst.«27 Vranicki spottete, »die Vertreter solcher Ansichten merkten nicht einmal, daß dadurch nur em etwas >dialektisierter< Materialismus des 18. Jahrhunderts gewonnen war«, derweiteren sprach er an, daß dieses Problem »jedoch viel tiefer, komplexer und schwieriger« erscheint, »wenn man konsequent im Sinn von Marx verfahren will.«28 Allerdings hat er nicht erklärt und auch nicht erklären können, wie Marxismus durch Engels' Hände nicht nur als der umgekehrte Hegelianismus verstanden werden soll? Oder, wenn Engels' Text bloß so zu interpretieren ist, daß das, was beim Marxismus zu tun sei, nur darin bestehe, die Hegelschen Etiketten von der Dialektik als allgemeine Gesetze abzureissen und materialistische aufzukleben, was für ein anderer Schluß ist daraus zu ziehen als der, daß »das Problem nur durch die Ersetzung der Materie die absolute Idee Hegels gelöst ist«? Es ist vielmehr eine Paradoxie, daß, während Engels 1844 in seiner »genialen Skizze zur Kritik der ökonomischen Kategorien« schon dem Materialismus des 18. Jahrhunderts vorwarf, daß dieser »nur statt des christlichen Gottes die Natur dem Menschen als Absolutes« gegenüberstellte,29 derselbe Engels, nachdem er 1870 seinen Betrieb geschlossen und die Philosophie nach fast vierzig Jahren zurückgenommen hatte, in demelben Mangel verfiel, nämlich nur statt des Hegelschen Geistes die Materie als ursprülngiches gegenüberzustellen, d.h. mit dem Treten der »Natur« an die Stelle des »Denkens« dieselbe dialektische Philosophie wiederzugeben. Wenn bei Hegel die Natur oder das Materielle als Denken bzw. als »Entäußerung der absoluten Idee«, als »Abklatsch« der »Selbstbewegung des Begriffs« gefasst wurde, so fasste Engels umgekehrt das Denken bzw. die Begriffe »als die Abbilder der wirklichen Dinge«,30 Was Engels dabei umkehrte, war offenbar nur den Inhalt von »fassen als«: die Form blieb indes dieselbe. Oder mit anderen Worten, nur weil die Form von »fassen als« nicht geprüft wurde, konnte Engels so gleichgültig das Ideelle als das Materielle fassen, just wie Hegel umgekehrt das Materielle als Ideelle. Ohne die Form von »fassen als« herauszufordem, wäre der Gegensatz des Materiellen zum Ideellen also statt grundsätzlich nur oberflächlich, und Engels' Umkehrung vielmehr umsonst, wenn eben in diesem »fassen als« überhaupt die Hegelsche Mystifikation 27. Predrag Vranicki, A.a.O., S.217. 28. Ebd. SS.217-18. 29. Friedrich Engels, »Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie«, inAÆJTl, S. 500. 30JWW21, SS. 272; 292; 293.

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bestehen würde. Die letzte Behauptung vertretend zeigte Althusser auf: »we should fall... into speculative idealism if, with Hegel, we confused thought and the real by reducing the real to thought, by ^conceiving the real as the result of thought*.into empiricist idealism if we confused thought with the real by reducing thought about the real to the real itself. In either case, this double reduction consists of a projection and realization of one element in the other: of thinking the difference between the real and thought about it as either a difference within thought itself (speculative idealism) or as a difference within the real itself (empiricist idealism).«3’ Sowohl »empiristischer« als auch »spekulativer« Idealismus, mit anderen Worten, seien der gleichen Natur, sofern sie beiden in der »Reduktion« bestünden, die entweder die Wirklichkeit als das Denken, oder das Denken als die Wirklichkeit fasst. Und gerade in dieser Richtung warf Althusser Engels vor, daß bei ihm das »thought concret« durch »real concret« ersetzt wurde.31 32

2.3. Das System: Rückschritt zum »Junghegelianismus«

Davon ausgehend, daß der Hauptmangel Hegels in seiner »konservativen Seite« bestehe, die »kraft der Notwendigkeiten des Systems« die Dialektik irgendwo beenden muß, dann ist dem gesunden menschlichen Verstand nach nur der Schluß zu ziehen, daß es schließlich um »Stehenbleiben oder Weitergehen« geht, und eine vom System als »Vergänglichen« befreiende, und daher immer weiter durchführende Dialektik, die Engels »Methode« nannte, die im Gegenteil zum System vielmehr »ewig« sein sollte, schon den Zweck erreicht, Hegelsche Dialektik zu überwinden oder mindestens zu korrigieren. Eine materialistische Umkehrung scheint dabei vielmehr unzutreffend, wenn nicht überflüssig zu sein, sei es denn, daß der Idealismus unentbehrlich zum System werden müßte, während dagegen nur der Materialismus imstande wäre, der Systembildung zu entgehen. Da aber eine Überzeugung dafür auch in der Engelsschen Ausführung fehlt, scheint es vielmehr so, daß eine materialistische Duchführung der Dialektik oder eine der Befreiung vom System nicht notwendig wäre, selbst wenn sie die Aufgabe bisher am besten erfüllen könnte. Dieser konsequente Schluß ist aber offenbar der Standpunkt der »Junghegelianer«, zu deren Gruppe Marx und Engels um 1840 auch mal zugehörten, aber 1845 mit Der deutschen Ideologie rasch brachen. Während in Der deutschen Ideologie aufgezeigt wurde, daß das Problem der Junghegelianer darin bestehe, daß keiner von ihnen »eine umfassende Kritik des Hegelschen Systems auch nur versuchte«, sondern jeder von ihnen nur »eine Seite des Hegelschen Systems herausnimmt und diese sowohl gegen das ganze System wie gegen die von den Andern herausgenommenen Seiten wendet«, keinem also eigefallen sei, »nach dem Zusammenhänge der deutschen Philosiphie mit der deutschen Wirklichkeit, nach dem Zusammenhänge ihrer Kritik mit ihrer eignen materiellen Umgebung zu fragen«,33 nahm Engels doch nach dreiundvierzig Jahren ohne Begründung den auch von ihm selbst einmal vertretenen aber nachher abgesagten Standpunkt der Junghegelianer wieder auf. Er war »seemingly unware (or had he forgotten?) that The German Ideology had, in a sense, transcended those philosophical 31. L. Althusser, Reading Capital, p. 87. 32. Ebd., p.l 14. 33. Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, in MEW3, S3.19-20. (Herv.SHS)

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questions and their various philosophical solutions for new premises.«34 »He returned, for example, to the idea of a contradiction between Hegel’s principles and his actual conclusions, between the >revolutionary< dialectical method and the conservative system«.35 Daß Engels' Gegensatz zwischen »Methode« und »System« in Feuerbach... eigentlich ein Rückschritt zum Junghegelianismus ist, kann durch ein Beispiel bewiesen werden. In seiner frühen Schrift »Schelling und die Offenbarung«, sofern es um das politische und religiöse Verhalten sowohl Hegels als auch seiner Schüler geht, befand sich schon der junghegelianische Unterschied »einer Seite von anderen« innerhalb des Hegelschen Systems, nämlich der Gegensatz zwischen seinen »Prinzipien« und »Folgerungen« (Konzequenzen): »Die Prinzipien sind immer unabhängig und freisinnig, die Folgerungen - das leugnet kein Mensch - hier und da verhalten, ja illibieral.«36 Dieser Gegensatz nahm in Feuerbach... viehmehr die Form des Gegensatzes zwischen »Methode« und »System« ein, indem, daß derselbe der Unterschied der eine Seite von der anderen innerhalb des Hegelschen Systems sei, daß die eine offen, während das andere geschlossen sei, daß dieser Gegensatz nicht nur ein philosophischer sei, sondern sich als politischer sowie religiöser verkörperte, so daß »wer das Hauptgewicht auf das System Hegels legte«, religiös wie politisch »ziemlich konservativ sein [konnte], wer in der dialektischen Methode die Hauptsache sah, [...] religiös wie politisch zur äußersten Opposition gehören [konnte]«.37 Auch aufgrund des junghegelianischen Unterschieds innerhalb des Hegelschen Systems konnte Engels in seiner Retrospektive den Beitrag Feuerbachs nur so einschätzen, daß durch sein Wesen des Christenthums »das >System< [...] gesprengt und beiseite geworfen [war]«,38 während für Marx Feuerbachs Arbeit überhaupt nichts mit dem »System« zu tun hatte, sondern bloß im »Zusammenhänge der Philosophie mit der Wirklichkeit« bestand, nämlich darin, »die religiöse Welt in ihre weltliche Grundlage aufzulösen«.39 Obwohl es eben Engels war, der die »Thesen über Feuerbach« gefunden und als Anhang von Feuerbach... erst veröffentlicht hatte, schien es, daß er Marx' Einschätzung sowie Kritik an Feuerbach nicht ganz verstand oder nicht vertreten wollte, so daß er nach seiner eignen Erfahrung den Marx von 1841/42 auch zu »momentan Feuerbachianer«40 dazuzählte, was indes hochwahrscheinlich eine falsche Erinnerung war, weil, wie Mehring anzweifelte, »sich in den ersten, darnach erschienenen Arbeiten von Marx [k]ein besoderer Einfluß Feuerbachs erkennen ließ«.41 Nicht nur, daß Marx hochwahrscheinlich nie wie Engels die neue Auffassung Feuerbachs »enthusiastisch begrüßte« und »von ihr beeinflußt wurde«, sondern vielmehr, wie Colletti bemerkte, »there is no documentary evidence at all that Marx ever accepted this idea of the radical Idealist left«, im Gegenteil, »he distinguishes not the revolutionary method from the

34. T. Carver, Marx & Engels, p. 116. 35. L.Colletti, »Introduction«, p. 13. 36AÆJE EBII, S.176. 37.AÆJT21, S.270. 38. Ebd, S.272. 39. »Thesen über Feuerbach«, MEW3, S.6. 40. ÀÆIF21, S.272. 41. Franz Mehring(Hrsg.), Gesammelte Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels. 1841 bis 1850, Stuttgart, 1902, S.336; Vgl. auch Inge Taubert, »Wie entstand die Deutsche Ideologie von Marx und Engels?«, in Studien zu Marx' erstem Paris-Aufenthalt und zur Entstehung der Deutschen Ideologie, Schriften aus dem Karl-Marx-Haus, Nr.43, Trier, 1990. insbes. S.16f.

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conservative system, but two different and opposed aspects of the Hegelian dialectic itself- that is, two aspects of the >methodFrucht< der Abstraktion« macht, das die Abstraktion 'weitergehend, d.h. erst nachdem sie abstrahiert worden ist, als das äußerlich existierende »wahre Wesen« des Apfels, der Birne usw., als das Produkt der »Bewegung der reinen Vernunft«6, erklärt. Das jene ist der »endliche, von den Sinnen unterstützte Verstand«, während dieses die »Spekulation« oder »spekulative Vernunft« ist.62

58JWW2, S.60. 59. CfAffi^23, S.293(N). 60. WtF2, S.62. 61. ÂÆWA, S. 128. S2.MEW2, S.60..

MARX' KRITIK AN HEGEL 53

Daß der »endliche Verstand« von den Sinnen unterstützt ist, bedeutet, daß er die Existenz eines Gegenstandes begreift, indem er vermittels der Anschauung, in der sich die Eigenschaften des Gegenstandes vorfinden, dieselbe Existenz empfängt. Ein außerhalb des Verstandes existierender Gegenstand mit eignen Eigenschaften ist also vorausgesetzt. Bloß aber aus der Anschauung besteht noch keine Erkenntnis. Der Verstand muß vielmehr noch »abstrakte Verstandesformeln«63 schaffen, um ihnen die empfangenen Eigenschaften unterzuordnen. Diese aktive bzw. schaffende Seite wird einerseits vom »bisherigen Materialismus« ignoriert,64 verursacht andererseits aber auch den Mißbrauch der schaffenden Betätigung, da es so scheint, als ob der Gegenstand sich nicht in der sinnlichen Anschauung gibt, sondern exklusiv von derselben Betätigung geschaffen wird. Das diesen Anschein machende Vermögen ist die spekulative Vernunft. Während sich der Verstand stets auf den Gegenstand mit Eigenschaften bezieht, und daher von demselben bedingen läßt, bezieht sich die spekulative Vernunft nur auf das Produkt des Verstandes, nämlich auf die Vorstellungen oder Begriffe, die nichts als das Zusammenfallen der sinnlichen Anschauung einerseits und der Verstandesformel andererseits sind. Erst nachdem also die Begriffe entwickelt, und daher von ihrer Wurzel getrennt und entfremdet worden sind, können sie eine ideelle Welt bilden, die sich vermittels der Vernunft dialektisch bewegt, so daß es so scheinen mag, als ob eben die Vernunft den Begriffen das Leben verleiht. Da aber die Vernunft selbst nichts als die Begriffe oder Ensemble der Begriffe ist, scheint es sogar so zu sein, daß die Begriffe sich bewegen, und sich selbst das Leben verleihen. Dies hat aber nur den Anschein, weil die Vernunft eigentlich nichts aus selbst schaffen kann, ohne als ihre Materie die Begriffe oder Vorstellungen schon vorher vom Verstand angeboten zu bekommen. Der Drehpunkt ist also die Verselbstständigung der Begriffe, oder, mit anderen Worten, daß die Begriffe zwar vom Verstand erzeugt, von der Vernunft indes als ihre eigenen Bestimmungen betrachtet werden, so daß die ganze Welt, in der jede Sache ihren eigenen Name bzw. Begriff hat, im Ideellen aufgelöst zu werden und exklusiv ideelle Welt zu sein scheint, und daher ermöglicht, eine Theorie (wie bei Proudhon) nur »nach der Folge der Ideen« zu konstruieren,65 oder (wie bei Hegel) das Wirkliche als Inkarnation oder Existenzform des einheitlichen Wesens zu erklären, und daher »die spekulative Entwicklung für wirklich und die wirkliche Entwicklung für spekulativ zu halten.«66

Das Geheimnis der Hegelschen Philosophie besteht also nicht in z.B. der einseitigen Betonung des aktiven Charakters des Denkens, oder in der Begründungslosigkeit der abstrakten Form der Darstellung, sondern darin, das Wirkliche durchaus zu verlassen, und folglich dasselbe nur durch das Gedankliche zu ersetzen. In Hegels »Phänomenologie« werden die materiellen, sinnlichen, gegenständlichen Grundlagen der verschiedenen entfremdeten Gestalten des menschlichen Selbst­ bewußtseins .sïe/iéw gelassen, und das ganze destruktive Werk hatte die konservativste Philosophie zum Resultat, weil es die gegenständliche Welt, die 63. Ebd., S.62. 64. »Thesen über Feuerbach«, inMEWj, S.5. 65A/W4, S.126f. 66AÆW2. S.63.

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sinnlich wirkliche Welt überwunden zu haben meint, sobald es sie in ein »Gedankending«, in eine bloße Bestimmheit des Selbslbewußtseins verwandelt hat und den ätherisch gewordenen Gegner nur auch im »Äther des reinen Gedankens« auflösen kann.67 Hegels Philosophie wurde nicht zur konservativsten, weil sie als »System«, wie Engels sagte, »irgendwo zu Ende kommen muß«, sondern weil sie die sinnliche Welt ganz stehengelassen hat, und daher sie in die gedankliche Welt verwandelt und sie endlich auch nur gedanklich überwinden können hat, wobei die Welt nach wie vor dieselbe geblieben ist, d.h. sich konserviert hat.

Bisher ist zu ersehen, daß der Terminus »Abstraktion« vielmehr zweideutig ist. Im breiteren Sinne (»Abstraktion I«) deutet sie an, vom wirklichen Gegenstand seine Form zu extrahieren, in der dieser Gegenstand mit anderen gleichgesetzt wird. Und in diesem Sinne ist Marx' Abstraktion des Wertes von der Ware dasselbe wie Hegels Abstraktion des »Diesen« vom Gegenstand.68 Im engeren Sinne (»Abstraktion II«) bedeutet sie aber den Mißbrauch der Vernunft, der die einheitliche Form - erst nachdem sie entwickel worden ist - als etwas vom Gegenstand unabhängiges und sein eigenes Leben besitzendes festhält. Eben gegen diesen Mißbrauch setzte Marx seine »Kritik« durch, die offenbar nicht die »Abstraktion I« als solche ganz vernichtet, sondern der »Abstraktion II« die Grenze anweist, oder aufzeigt, daß die »Abstraktion II»«, was auch immer ihr Inhalt sein mag, nie an der Stelle der sinnlich wirklichen Welt treten darf, sondern stets derselben gegenüberstehend bleiben muß, und dabei auch nur ihre Gültigkeit beanspruchen kann.

Da aber die »Abstraktion II« eigentlich die »Abstraktion I« voraussetzt, d.h. jene nicht ohne diese stattfinden kann, bilden die beiden eine Kontinuität. Um die »Abstraktion I« von der »Abstraktion II« zu befreien, um »über die Einheit... die wesentliche Verschiedenheit nicht [zu] vergessen«,69 ist Marx1 eigne »Abstraktion I« vielmehr als »Analyse« zu nennen, die sich dadurch von der »Abstraktion I« unterscheidet, daß sie keine »Abstraktion II« verursacht.70 Marx beschrieb also sein eignes analytisches Verfahren: De prime abord gehe ich nicht aus von »Begriffen«, also auch nicht vom »Wertbegriff«, und habe diesen daher auch in keiner Weise »einzuleiten«. Wovon ich ausgehe, ist die einfachste gesellschaftliche Form, worin sich das Arbeitsprodukt in jetzigen Gesellschaft darstellt, und dies ist die »Ware«. Sie analysiere ich, und zwar zunächst in der Form, worin sie erscheint. Hier finde ich nun, daß sie einerseits in ihrer Naturalform ein Gebrauchsding, alias Gebrauchswert ist; andrerseits Träger von Tauschwert, und daher diesem 67. Ebd., S.203. 68. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Hamburg, 1988, S.69. 69JVÆW2, S.21. 70.Diesen Unterschied nicht begreiffend kann z.B. Helmut Brentel den Anfang des Kapital nur als »Analyse der sogenannten einfachen ökonomischen Formen« oder der »Abstraktionen der politischen Ökonomie« mißverstehen, und kann »in den ersten Kapitel... noch keine Darstellung des Gesamt­ zusammenhanges, noch keinen wirklich zureichenden Begriff ökonomischer Gegenständlichkeit«, sondern nur den »nationalökonmischefn] Begriff«, die »abstrakten, formellen Auffassung über öko­ nomische Gegenständlichkeit« ersehen, ders., a.a.O., S.28O.

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Gesichtspunkt selbst »Tauschwert«. Weitere Analyse des letzteren zeigt mir, daß der Tauschwert nur eine »Erscheinungs/brm«, selbständige Darstellungsweise des in der Ware enthaltnen Werts ist, und dann gehe ich an die Analyse des letzteren... Ich teile also nicht den Wert in Gebrauchswert und Tauschwert als Gegensätze, worin sich das Abstrakte, »der Wert«, spaltet, sondern die konkrete gesellschaftliche Gestalt des Arbeitsprodukts.71

Es zeigt sich deutlich, daß die ökonomischen Kategorien wie Gebrauchtswert, Tauschwert und Wert bei Marx stets nur vom konkreten Gegenstand nach und nach extrahiert werden, oder um es umgekehrt zu formulieren, daß derselbe stets für sie als »Anker« gelten muß, wovor sie sich legen müssen. Dies aber verhindert keineswegs, daß diese Kategorien die »theoretischen Ausdrücke, die Abstraktionen der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse« sind.72 Was abzulehnen ist, ist die »Metaphysik der politischen Ökonomie«, die von »Begriffen« ausgeht, die als Mitglieder einer selbstständigen ideellen Welt »soeben funkelneu einem reinen Vemunftkopf entsprungen«73 zu sein scheinen.

3.2. Geschichte und Zweck

Indem die »Abstraktion II« vom allgemeinsten Wesen ausgeht, das in der Tat jeweils von der »Abstraktion I« in der geschichtlich entwickelten Epoche gefunden wird und zugleich, allgemein gesagt, allen Epochen gemeinsam ist, scheint es ihr also, daß dasselbe Wesen der »providentielle« Zweck der Geschichte wäre, daß sich die geschichtliche Entwicklung auf das als Ausgangspunkt geltende Wesen richten würde, so daß das Wesen durch die Geschichte zurück zu sich selbst kehren würde, die also nichts wäre als seine eigene Entfaltung. So galt die Geschichte für Hegel als »das wissende sich vermittelnde Werden - der an die Zeit entäußerte Geist«, dessen »Vollendung« darin bestehe, »das was er ist, seine Substanz, vollkommen zu wissen«, so daß dies Wissen auch nichts als sein »Insichgehen« sei.74 Da aber dieser Auffassung als solcher eigentlich stets die »Abstraktion II«, d.h. die Trennung des Ideellen vom Materiellen, die Trennung der Begriffen von ihrem Gegenstand zugrunde liegen muß, ist sie sich auch nur auf das Territorium des Gedankens zu beschränken, selbst wenn auch sie immer »an vielen Punkten die Elemente einer wirklichen Charakteristik der menschlichen Verhältnisse gibt«75. Fraglich ist also nicht der Inhalt, sondern die Form dieser Auffassung.

Hegels Geschichtsauffassung setzt einen abstrakten oder absoluten Geist voraus, der sich so entwickelt, daß die Menschheit nur eine Masse ist, die ihn unbewußter oder bewußter trägt. Innerhalb der empirischen, exoterischen Geschichte läßt er daher eine spekulative, esoterische Geschichte vorgehn. Die Geschichte der

71.Karl Marx, »Randglossen zu A. Wagners >Lehrbuch der politischen ÖkonomieOtetschestwennyje Sapiskü«, MEWV), S.112. 84.Der erwähnte Text ist so bekannt, daß es unnötig ist, hier wörtlich zu zitieren. Cf. MEWV3, SS.8-9.

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klassischen Ausführungen des »historischen« Materialismus öfter angeführt wird. Bemerkenswert ist, daß dabei ignoriert wird, daß sich der ganze Text auf »das allgemeine Resultat« der Marxschen Forschungen bis 1859 beschränkte, die zwar schon vielmals erneut angefangen wurde, indes noch mit den frischsten Entwicklungen der Geschichte immer wieder anzufangen war. Marx' »allgemeines Resultat« tauchte nicht in erster Linie in irgendeiner Form von »esoterischen Geschichte« auf, sondern diente, einmal gewonnen, den Marxschen Studien stets negativ bzw. regulativ »zum Leitfaden«.85

Unter »Leitfaden« soll vielmehr im kantianischen Sinne verstanden werden,86 daß als »Telos« das »Abschließen« der »Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft«,87 das der geschichtlichen Entwicklung vorhängen anscheint, nicht auf irgendeine spekulative oder metaphysische Weise a priori garantiert daher mystifiziert wird, sondern nur subjektiv (nicht aber willkürlich) gesetzt wird, nicht um die Welt dogmatisch zu antizipieren, sondern um die Entwicklung zu verstehen, indem dieselbe nicht als eine ausgangslose »Fliege am Fenster«, sondern als eine »Totalität« mit einheitlichem Zusammenhang begriffen wird, in der alle Erscheinungen nicht nur nebeneinander gesammelt, sondern als Momente des Ganzen begriffen werden, und daher erst ihre eigne Sinne gewinnen können.

4. DIE BASIS DER KRITIK Durch die obige Ausführung wird schon ersichtlich, daß Marx' Kritik immer an zwei Linien entlangführt. Die eine, allgemein gesagt, geht um die Beziehung des Ideellen mit dem Materiellen, der Absraktion mit dem Wirklichen, des Denkens mit dem Sein, des Allgemeinen mit dem Besonderen usw., während die andere sich auf den gegenständlichen Charakter, nämlich die außer dem Kopf bestehende Existenz des Materiellen, des Wirklchen, des Seins oder des Besonderen bezieht. Die beiden Linien liegen aber nicht gleichgültig nebeneinander, sondern, die Beziehung des Ideellen mit dem Materiellen usw. wird einerseits zu einer entfremdeten, sofern sie nicht auf dem gegenständlichen Charakter des Materiellen usw. beruht; und der gegenständliche Charakter muß andererseits umgekehrt stets in den Ideellen usw. seinen Ausdruck finden, oder mit anderen Worten, sich stets zum Ideellen entwickeln. Als Basis der Marxschen Kritik an Hegel ist diese Subsumtion hauptsächlich in Kritik des Hegelschen Staatsrechts sowie in den Pariser Manuskripten ausgeführt.

85,Ebd., S.8. Sö.Zur Kantschen Bedeutung des Leitfadens, vgl.u.a. Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbi'irgerlicher Absicht, Hannah Arendt, Lectures on Kant's Political Philosophy, Chicago, 1982, Yirmiyahu Yovel, Kant and the Philosophy of History, Princeton, 1980, sowie Mathias LutzBachmann, Geschichte und Subjekt, Freiburg/München, 1988. 87.A/W13, S.9.

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4.1. »keine Brücke wird geschlagen vom Allgemeinen zum Bestimmten«: der Übergang als Einbahnstraße Hegel baute in seiner Philosophie überall immer einen Übergang auf, der vom Allgemeinen und Abstrakten zum Besonderen und Konkreten hergeleitet wird. So ist z.B. in Grundlinien der Philosophie des Rechts, wie Marx bemerkte, der Übergang der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft in den politischen Staat »ganz derselbe Übergang, der in der Logik aus der Sphäre des Wesens in die Sphäre des Begriffs bewerkstelligt wird. Derselbe Übergang wird in der Naturphilosophie aus der unorganischen Natur in das Leben gemacht.«88 Der Übergang »vom Allgemeinen zum Besonderen« ist aber Marx nach eine umgedrehte Illusion, weil der einzig wirkliche Übergang vielmehr als »Einbahnstraße« nur umgekehrt »vom Besonderen zum Allgemeinen« aufzubauen ist. Und auch nur nachdem jede Bestimmung schon diese Richtung (nämlich vom Besonderen zum Allgemeinen) entlang empirisch durch Forschung bzw. Analyse nachgewiesen worden ist, ist es erst möglich, die Bestimmungen als eine dialektische, d.h. sich vom Allgemeinen zum Besonderen entwickelte Reihenfolge in einer gegenläufigen Richtung des Gedankengangs anzuordnen. So bemerkte Marx mit aller Entschiedenheit: »Es ist aber keine Brücke geschlagen, wodurch man aus der allgemeinen Idee... zu der bestimmten Idee... käme, und es wird in Ewigkeit keine solche Brücke geschlagen werden können.«89

In Kritik der Hegelschen Staatsrechts ist also nachzuweisen, 1. daß Hegelsche Philosophie ein Quidproquo ist, in dem alle Wirklichen nach dem Bild des Denkens umgedreht werden; 2. daß ohne die wirklichen Bestimmungen vorher empirisch nachzuweisen, der Gang des Denkens nur »sprungweise und im Zickzack«90 gehen kann. Das ganze Mysterium der Rechtsphilosophie und der Hegelschen Philosophie überhaupt ist nach Marx im Paragaphen §262 niedergelegt, wo steht:

Die wirkliche Idee, der Geist, der sich selbst in die zwei ideellen Sphären seines Begriffs, die Familie und die bürgerliche Gesellschaft, als in seine Endlichkeit scheidet, um aus ihrer Idealität für sich unendlicher wirklicher Geist zu sein, teilt somit diesen Sphären das Material dieser seiner endlichen Wirklichkeit, die Individuen als die Menge zu, so daß diese Zuteilung am Einzelnen durch die Umstände, die Willkür und eigene Wahl seiner Bestimmung vermittelt erscheint.91

Dagegen stellte Marx eine Tatsache dar: »Familie und bürgerliche Gesellschaft sind wirkliche Staatsteile, wirkliche geistige Existenzen des Willens, sie sind Daseinswesen des Staates; Familie und bürgerliche Gesellschaft machen sich selbst zum Staat, Sie 88. Karl Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, inÀÆJZl, SS.208-09. 89. Ebd., SS.212-13. 90. Diesen Ausdruck wandte Engels auf seine Beschreibung der Geschichte an, wodurch er dem logischen Denken Kontinuität verlieh, (VgI.»Karl Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie«, MEWIj, S.475.), während für Marx die »eigentliche Entwicklung« bzw. die Kontinuität nur »an der exoterischen Seite« ist, deren Gegenteil die »esoterische« ist, deren Interesse nur darin besteht, »die Geschichte des logischen Begriffs im Staat wiederzufinden«.(MEWI, S.206.) Hier wird auch der Unterschied zwischen Marx und Engels ersichlich. 91 GW.F.Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin, 1981, S.289.

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sind das Treibende.«92 Aber nach Hegel sind sie »dagegen getan von der wirklichen Idee«93: die Idee sei umgekehrt das Treibende und an sich der Zweck, denn sie hätte »sich selbst in zwei Sphären geschieden«, nur »um aus ihrer Idealität für sich unendlicher wirklicher Geist zu sein«. Diese Umstülpung ist in der Hegelschen Rechsphilosophie durchgeschlagen. So wird z.B. der empirische Satz: »Der Wille des Monarchen ist die letzte Entscheidung« zum »Die letzte Entscheidung des Willens ist der Monarch«, um die »Idee« als »Ein Individuum« herauszukonstruieren;94 es kommt bei Hegel auch nicht »die wirkliche Person zum Staat, sondern der Staat muß erst zur wirklichen Person kommen«;95 er faßt die Idee der Regierungsgewalt nicht als die wirkliche Idee der Regierungsgewalt, sondern als die schon im Fürsten körperlich existierende Idee,96...usw. Summa summarum, bei Hegel besitzt die obere Stufe der Entwicklung, die nur als Resultat oder Produkt der Entwicklung daher auch nur Passive sein kann, eine aktive Stelle, damit sie imstande ist, sich mit sich selbst die niedere Stufe durchzusetzen, sich mit sich selbst zwischen den in niederer Stufe liegenden Gegensätzen zu vermitteln. Die Umdrehung dieses Verhältnises ist nach dem Feuerbachs Terminus auch die Umdrehung des Subjekts zum Prädikat. Mit anderen Worten, Hegel machte das Subjekt zum Prädikat, und das Prädikat zum Subjekt, indem er die Bestimmung, die Substanz des Subjekts von demselben trennte, abstrahierte, und als eine selbständige Vorstellung isolierte, die daher umgekehrt als »Mittler« unter den reellen Subjekten, die jetzt aber nur als Erscheinungen, als Phänomen ausgesprochen werden, sich vermitteln würde, um wieder zu- sich selbst als Unendlicher Geist zu verwirklichen. Das Geheimnis Hegelscher Philosophie besteht also darin, daß, »eben weil Hegel von den Prädikaten der allgemeinen Bestimmung statt von dem reellen Ens ausgeht, und doch ein Träger dieser Bestimmung da sein muß, wird die mystische Idee dieser Träger.«9798 Der Unterschied zwischen Marx und Hegel aber »ruht nicht im Inhalt, sondern in der Betrachtungsweise oder in der Sprechweise«.93 Und die Marxsche Betrachtungs­ weise oder Sprechweise unterscheidet sich von der Hegelschen nicht nur dadurch, daß die letztere mit einem anderen Ausgangspunkt angefangen hat, sondern vielmehr dadurch, daß sie untubar ist. Daß der Hegelsche Übergang auf dem Kopf steht, wird dadurch ersichtlich, daß, wenn von der abstrahierten abstrakten Abstraktion ausgegangen wird, dann »keinen Schritt über den allgemeinen Begriff >der IdeeDieser Organismus ist die politische Verfassung«? Warum nicht: »Dieser Organismus ist das Sonnensystem?««101 Und dadurch, »daß ich sage: »dieser Organismus (sc. des Staats, die politische Verfassung) ist die Entwicklung der Idee zu ihren Unterschieden etc.«, weiß ich noch gar nichts von der spezifischen Idee der politischen Verfassung; derselbe Satz kann mit derselben Wahrheit von dem tierischen Organismus als von dem politischen ausgesagt werden. Wodurch unterscheidet sich also der tierischen vom politischen!«102 Was den politischen Organismus vom Sonnensystem, das Sonnensystem vom tierischen Organismus unterscheidet, können nur ihre »in ihrem spezifischen Wesen begriffenen Bestimmungen« als ihre »differentia specifica« sein, die immer als empirische Tatsache, als empirische Wahrheit auftauchen und »auf keine Weise als Resultat einer früheren [logischen] Entwicklung [der Idee] hervorgegangen« sind; ohne sie vorher zu bestimmen, ist eine Erklärung überhaupt unmöglich: »Eine Erklärung, die aber nicht die differentia specifica gibt, ist keine Erklärung«; und Hegel kann nur »dieser Organismus« statt als das Sonnensystem als politische Verfassung bestimmen, »weil er >die verschiedenen Seiten des Staats< später als die »verschiedenen Gewalten« bestimmt hat.«103 Das heißt, nur insofern die ersten schon als die letzten bestimmt werden, kann die Entfaltung von Idee zum Staat gerechtfertigt werden. Also zwei Seiten: die besondere und empirische Tatsache einerseits, und eine allgemeingültige Tautologie andererseits. Die erste muß als Subjekt, während die letztere als Prädikat betrachtet werden. Nur aus der ersten zur letzteren wird eine Brücke geschlagen, in der anderen Richtung dagegen nicht. Das heißt, nur wenn die erste als Subjekt mit der letzteren als Prädikat verbunden wird, wird ein Urteil gemacht, just wie sich die relative Wertform auf die Äquivalentform bezieht, und daher in der Wertform ihren Wert ausdrückt. Z.B., daß »die unterschiedenen Seite eines Organismus in einem notwendigen, aus der Natur des Organismus hervorgehenden Zusammenhang stehn, ist - reine Tautologie« einerseits; und daß »die verschiedenen Seite des Organismus des Staats die verschiedenen Gewalten sind«, ist »eine empirische Tatsache« andererseits. Es wird »ein großer Fortschritt« sein, die beiden zu verbinden, d.h. zu beurteilen, ob »die verschiedenen Gewalten« einen »Organismus« bilden oder »die verschiedenen Gewalten« »Glieder eines Organismus« sind.104 Dieser Fortschritt kann nur gemacht werden, wenn die Tatsache sich schon so entwickelt, daß in ihr ein der Tautologie, als Basis der Gültigkeit des Urteils, entsprechender Organismus ausgesehen wird.105 Nur dadurch kann eine Brücke aus dem Bestimmten, im obigen Fall 100.Grundlinien der Philosophie des Rechts, S.294. IOIjWWI, S.212. 102. A.a.O., S.210. 103. A.a.O., S.210-12. 104. A.a.O., S.210-11. [05.Dasselbe Verhältnis drükte Marx im Kapital z.B. so aus: »Erst innerhalb ihres Austauschs erhalten die Arbeitsprodukte eine... Wertgegenständlichkeit«. Der Satz, daß die Arbeitsprodukte Produkte der (abstrakten menschlichen) Arbeit sind, ist eine Tautologie. Sobald die Wertgegenständlichkeit, die den Austausch ermöglicht, als die abstrakte menschliche Arbeit bestimmt ist, wird der Satz, daß die

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den verschiedenen Gewalten, zum Allgemeinen, dem Organismus, geschlagen werden. Und erst nachdem eine solche Brücke geschlagen worden ist, kann es scheinen, als ob das Allgemeine sich das Bestimmte determiniert, sich im Bestimmten verwirklicht. Da sie aber eigentlich keine Brücke schaffen können, sondern ihr Übergang zum Bestimmten vielmehr von der vorher schon empirisch geschlagenen Brücke bedingt ist, kann ihre Entwicklung, trotz dem von Hegel mystifizierten eignen Zweck, nichts anders sein, als das, »wie es wirklich ist.«106 Deshalb bezeichnete Marx die Hegelsche Philosophie als »den unkritischen Positivismus und dèn ebenso unkritischen Idealismus«.107 »Unkritischer Idealismus« in dem Sinne, daß Hegel die Wirklichkeit der sinnlichen, empirischen Welt absagte, und daher die ideelle Welt nur unkritisch als wirklich erklärte; »unkritischer Positivismus« dagegen in dem Sinne, daß er endlich auch unweigerlich die empirische Welt, die er am Anfang wegließ und daher nicht einmal analysierte, nur unkritisch wiederherstellen mußte, weil außer ihr die Idee oder • der Geist keine andere Inkarnation haben konnte. 4.2. Die »GEGENSTÄNDLICHKEIT«

Ira Gegenteil hat ein kritischer Materialismus stets erneut von der wirklichen Welt auszugehen, weil die einfachste und einheitlichste und daher allgemeinste Idee (oder Kategorie, Tautologie...usw., wie sie auch immer beliebig genannt werden mag), die zwar stets der Ausgangspunkt einer Theorie sein muß, daher aber zugleich von der mystifischen Philosophie als Absolutes festgehalten wird, immer nur in der sich stets entwickelnden wirklichen Welt ausfindig gemacht werden kann, und daher mit deren jeweils erreichter höchster Form ihren eigenen Inhalt wechseln muß. Der theoretische Ausgangspunkt, von dem ausgehend die Entwicklung der wirklichen Welt erklärt wird, ist, mit anderen Worten, stets durch die sich entwickelnde wirkliche Welt reguliert, die aber zuerst zu analysieren ist, weil ihr, eben wie dem Werte, es »nicht auf der Stirn geschrieben [steht], was er ist.«108 Mit anderen Worten, was das Wirkliche ist, d.h. was sein Prädikat, seine entsprenchende Kategorie (ohne die ist das Wirkliche nicht zu erkennen, und daher für uns nichts) ist, wird erst durch die Analyse erwiesen. Ein Wirkliches zu analysiem, setzt aber voraus, daß es synthetisch aus Teilen besteht.109 Die Teile bilden es weiterhin nur, indem sie innerliche und wesentliche Triebe haben, also keinem außer ihnen bestimmten und sie zwingenden Zweck oder Gesetz sich zu unterwerfen brauchen. Insofern es sich bei Marx um die menschliche Gesellschaft handelt, können die das Wirkliche bildende Teile immer nur die Menschen und ihre

Arbeitsprodukte eine Wertgegenständlichkeit erhalten, daher auch eine Tautologie. Aber ein Urteil, daß dieses oder jenes Arbeitsprodukt ist, daher Arbeitskraft also Wertgegenständlichkeit erhält, kann erst gemacht werden, »sobald der Austausch bereits hinreichende Ausdehnung und Wichtigkeit gewonnen hat...« (MEW23, S.87, Herv.SHS.) 106. A.a.O., S.205. 107. Karl Marx, Ökonomisch-Pholosophische Manuskripte (1844) [Pariser Manuskripte], MEW;EB 1, S.573. i08AÆTP23, S.88. Der chinesische taoistische Philosoph Zhuang-Zi sagte änhlich aus: »Der Weg (Tao oder Logos) wird nur geebnet, indem er gegangen wird, sowie das Ding nur so ist, indem es erst genannt wird.« 109.1. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A77/B103: »Vor aller Analyse unserer Vorstellungen müssen diese [Synthesis] zuvor gegeben sein«. Diese Voraussetzung setzt noch weiterhin den Satz des (Nieht)Widerspruchs voraus. Dazu vgl. Colletti. Marxism and Hegel, op.cit., pp.l 13-138.

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Umwelt sein. Die Beziehung zwischen den Menschen und ihrer Umwelt ist hier als die »GEGENSTÄNDLICHKEIT« mit Großbuchstaben zu bezeichnen. Sie ist eine doppelte: 1) Der Mensch lebt wie das Tier »von der unorganischen Natur«, von den »Naturprodukten, mögen sie nun in der Form der Nahrung, Heizung, Kleidung, Wohnung etc. erscheinen.« Die Natur ist also »sein Leih«, sein »unmittelbares Lebensmittel«, und der Mensch, der durchaus von der Natur durchdrungen ist, ist auch nichts anders als »ein Teil der Natur«.110 Selbst dieses Verhältnis ist wechselseitig: die Menschen fangen einerseits damit an, »sich aktiv zu verhalten, sich gewisser Dinge der Außenwelt zu bemächtigen durch die Tat, und so ihr Bedürfnis zu befriedigen«,* 1'1 andererseits setzen und schaffen sie »nur Gegenstände«, weil sie »durch Gegenstände gesetzt« sind.112

Der Mensch ist unmittelbar Naturwesen. Als Naturwesen und als lebendiges Naturwesen ist er teils mit natürlichen Kräften, mit Lebenskräften ausgerüstet, ein tätiges Naturwesen; diese Kräfte existieren in ihm als Anlagen und Fähigkeiten, als Triebe-, teils ist er als natürliches, leibliches, sinnliches, gegenständliches Wesen ein leidendes, bedingtes und beschränktes Wesen, wie es auch das Tier und die Pflanze ist, d.h. die Gegenstände seiner Triebe existieren außer ihm, als von ihm unabhängige Gegenstände', aber diese Gegenstände sind Gegenstände seines Bedürfnisses, zur Betätigung und Bestätigung seiner Wesenkräfte unentbehrliche, wesentliche Gegenstände.113 Naturwesen zu sein, bedeutet also nicht nur ein leidendes Tier zu sein, sondern auch ein Tätiges zu sein. Aber die Triebe dieses Tätigen kommen nicht als ein subjektiver Reiz aus ihm selbst oder aus seinem Ansichsein, sondern werden stets von den von ihm unabhängig existierenden Gegenständen von draußen gerührt, weil sie stets auf die Gegenstände gerichtet sind, just wie die letzten stets als »die Gegenstände seines Bedürfnisses«, d.h. nicht als die an sich stehenbleibende Gegenständlichkeit als solche, sondern als die Gegenstände mit konkreten Bestimmungen, mit menschlichen Charakter, auf die Menschen richten. In diesem Sinne ist schon zu bemerken, daß ein nur in einem Verhältnis statisch »stehendes« Wesen bzw. »ein ungegenstädliches Wesen«, sei es der Mensch, sei es die Natur, die wohl vom »Materialsmus« als »unabhängig vom Bewußtsein existierend« behauptet wurde,114 für Marx nur »ein Unwesen«115 ist. 2) »Aber der Mensch ist nicht nur Naturwesen, sondern er ist menschliches Naturwesen.«116 Das heißt, er verhält sich nicht nur als »ein Teil der Natur«, indem er sich von der Natur durchdringen läßt, indem für ihn die Natur als sein unmittelbares Lebensmittel also als sein Leib gilt. Er macht die ganze Natur vielmehr auch umgekehrt

\\Q.MEW;EB1, SS.515-16. 111.Karl Marx, »Randglossen zu A. Wagners >Lehrbuch der politischen Ökonomie«« inAÆffl9, S.36263. \\2MEW;EB1, S.577. 113,Ebd„ S.578. 1 \A.Grundlagen der Marxistischen Philosophie, S. 18. 1 \5NIEW;EBL S.578. llö.Ebd., S.579.

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zu seinem indirekten Werkzeug bzw. zum Produktionsmittel seiner Lebenstätigkeit,117 macht »seine eigne Lebenstätigkeit selbst«, sofern sie auch ein Teil der Natur bildet, zum »Gegenstand seines Wollens und seines Bewußtseins«, macht sein physisches »Leben« zum »Lebensmittel« eines anderen Lebens, nämlich des »Gattungslebens«, des produktiven Lebens, und daher schaut er sich selbst »in einer von ihm geschaffnen Welt« an, indem »er sich zu sich selbst als der gegenwärtigen, lebendigen Gattung verhält, indem er sich zu sich als einem universellen, darum freien Wesen verhält.«118 Kurz: der Mensch macht die ganze Natur, die selbst auch ihn einschießt, zum Gegenstand des Ideellen, des Subjekts usw., indem er sich aus der Natur abstrahiert. Und auch indem er dies macht, kann er sich als das universelle, d.h. das nicht durch die Natur begrenzte, und daher freie bzw. von der Natur befreite Wesen verhalten.

Dieses freie Wesen ist aber ebenso wechselseitig mit der »GEGENSTÄND­ LICHKEIT« zu charakterisieren, weil, erstens, dieses freie Wesen sich stets auf die auch es einschließende ganze Natur als seinen Gegenstand richten muß, just wie die letzte stets auf es; zweitens, der Gegensatz zwischen dem freien Wesen einerseits und der ganzen Natur als seinem Gegenstand andererseits stets auf dem Gegensatz zwischen den Menschen als »Naturwesen«, als »einem Teil der Natur« einerseits und der übrigen Natur andererseits beruhen muß, d.h. als Produkt des letzten Gegensatzes betrachtet werden muß,119 während umgekehrt der letzte nur mit dem ersten dargestellt werden kann: der Gegensatz zwischen dem ersten Gegensatz einerseits, in dem das freie Wesen der ganzen Natur gegenübersteht, und dem zweiten andererseits, in dem das bloße Naturwesen der Menschen dem übrigen Naturwesen gegenübersteht, ist also auch »GEGENSTÄNDLICH«.

Es ist aber eben dieses freie Wesen, sobald es rücksichtlos von der GEGENSTÄNDLICHKEIT losgelöst wird, das die Genesis oder die »wahre GeburtsStätte« der Hegelschen spekulativen Philosophie bildet. Im letzten Teil der Pariser Manuskripte, welcher mit »Kritik der Hegelschen Dialektik und Philosophie überhaupt« tituliert wurde, wurde die Phänomenologie des Geistes, sogar dessen Letztes Kapitel - »Das absolute Wissen« -, als die »wahre Geburtsstätte« der Speku­ lation nachgewiesen. Das Letztere wird bei Marx zum Anfang, zur Genesis gemacht, weil für Hegel das »Resultat nur darum dasselbe [ist], was der Anfang, weil der Anfang Zweck ist; oder das Wirkliche [...] nur darum dasselbe [ist], was sein Begriff, weil das Unmittelbare als Zweck das Selbst oder die reine Wirklichkeit in ihm selbst hat.«120 Da der »ausgeführte Zweck« nichts sei als »die Bewegung und das entfaltete Werden«, die/das aber auch nichts sei als »das Selbst«, so sei »das Wahre [...] das Ganze«.121 Was am Anfang in der »Vorrede« der Phänomenologie ausgesagt wurde, wurde am Ende derselben wiedergegeben. Marx legte »das absolute Wissen« so aus: der Geist ist das »in seine II7.Der Unterschied zwischen dem »unmittelbaren Lebensmittel« und dem indirekten »Werkzeug« tauchte schon auf der ersten Seite des Kapital wieder auf als »Gegenstand des Genusses« und »auf einem Umweg, als Produktionsmittel«. MEW13, S.49. \\3.MEW;EB1, SS.515-17. 119. Dazu vgl. MEW3, S.30f. 120. G.W.F.Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 17. 121. Ebd., S.15.

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eigne Geburtsstätte heimkehrende Denken, welches sich als anthropologischer, phänomenologischer, psychologischer, sittlicher, künstlich-religiöser Geist immer noch nicht für sich selbst gilt, bis es sich endlich als absolutes Wissen und darum absoluter, i.e. abstrakter Geist vorfindet und selbstbejaht, sein bewußtes und ihm entsprechendes Dasein erhält. Denn sein wirkliches Dasein ist die Abstraktion.«122 Der Anfang ist das Ende, zu dem die dialektische Bewegung führt. So bildet diese Bewegung einen abgeschlossenen Kreis, eine Totalität, oder das Absolute. Obgleich diese Bewegung sich stets bewegt, ist ihr jeweils neu zu erreichendes Ende nur ihr ursprünglicher Anfang - sei es ein immer noch nicht hinreichend entfaltenter Anfang. Es sei also nicht das »sich an dem EINS annährende ZWEI«, sondern eben dies absolute »EINS«, welches sich durch das »Entzweien« entfalten bzw. »an die Zeit entäußern« würde,123 das die Aufhebung der Entfremdung ermögliche: die Entfremdung könne nur deshalb aufgehoben werden, indem die verselbständigten Gegenstände vom Subjekt wieder angeeignet würden, weil der Natur nach die Entfremdung eben die »Entzweiung des Einfachen, oder die entgegensetzende Verdoppelung, welche wieder die Negation dieser gleichgültigen Verschiedenheit und ihres Gegensatzes ist«,124 d.h. weil sie Entfremdung des Subjekts sei, vom Subjekt entfremdet sei; oder umgekehrt: weil der entfremdete Gegenstand eigentlich zum Subjekt gehöre, dürfe also nur das Subjekt ihn vindizieren. Nicht ein von Anfang an schon gegen seinen Gegenstand stehendes und ihn stets aneignendes Subjekt, sondern das den Gegenstand schon von Anfang an habende Subjekt,125 sei also für Hegel das echte Subjekt, das die im gegesätzlichen Verhältnis stehenden Parteien (Subjekt und Gegenstand) versöhne. Mit anderen Worten, der Gegensatz könne nur durch einen Vermittler (als das Dritte) vereinigt werden, der aber nichts sei als die sich entzweiende oder entfremdende Vereinigung selbst.126 Diese Erfassung wurde von Marx als »das Große« an der Hegelschen Phänome­ nologie genannt, weil es »nur in der Form der Entfremdung« möglich ist, daß der Mensch sich wirklich als Gattungswesen, als menschliches Wesen verwirklicht.127*Als eine die wirkliche Verwirklichung ermöglichende Form ist aber die Entfremdung statt einer tatsächlichen nur eine theoretische Voraussetzung, oder eine Weise, worauf der Sachverhalt nicht entsteht, sondern gefaßt werden kann. Trotz dem »Großen« besteht also die Hegelsche »Einseitigkeit« darin, daß er das Tatsächliche durch das Theoretische verschlungen werden ließ, indem er den Mensch nur einfach als das sich \22MEW;EB1, S.572. 123 Phänomenologie des Geistes, S.521;530. 124. Ebd., S.14. 125. Die beiden Arten von Subjekt können ihren Namen in der Bibel metaphorisch finden, nämlich das den Ggegenständen gegenüber stehende Subjekt als »Adam und Eva nach dem Sündenfall«, die nur »im Schweiße ihres Angesichts Brot essen können«, also säkular und diesseitig sind; dagegen das die Gegenstände habende Subjekt als »Adam und Eva im Garten Eden«, die ihr Brot essen können, ohne in Schweiß kommen zu müssen, also heilig und jenseitig sind. Als »Anfang« charakterisiert der Unterschied nicht nur die Natur des platonischen und des aristotelischen, die des jüdischen und des christlichen, (Vgl, u.a. Jürgen Habermas, »Der deutsche Idealismus der jüdischen Philosophie«, ders., Philosophisch-politische Profile, Frankfurt/M, 1984, SS.39-64.) sondern auch die des proletarischen und des bürgerlichen. (Vgl. MEW23, S.741.) 126. »For Hegel essence must appear as something other than itself;... The opposition can achieve reconciliation through the mediation of a third party: for example, the state reconciles the opposition within civil society.« Patrick Murray, Marx's Theory of Scientific Knowledge, London, 1988, xvii. \21.MEW;EBl, S.574.

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selbst entfremdende Subjekt, d.h. als Selbstbewußtsein begriff, ohne ihn zweifach als das seinen Gegenstand (theoretisch) Setzende und zugleich als das (tatsächlich) durch seine Gegenstände Gesetzte, welches stets das Bewußtsein bedingt, zu begreifen. Nämlich: 1) Während Hegel den Mensch mir abstrakt als Selbstbewußtsein erfaßt, und damit alle Entfremdung »nichts als Entfremdung des Selbslbewußtseins«^ zu sein scheint, zeigte Marx vielmehr als die »wirkliche« Bedingung dieser Erfassung eine durch die »gewöhnliche Empirie«,129 die »Handgreiflichkeiten«130 als einen »Gemeinplatz« über­ prüfbare Tatsache131 auf, daß das Bewußtsein nichts anderes als »das bewußte Sein« ist132, d.h. das Bewußtsein oder die Vernunft (sie sind bei Hegel nur verschiedene Namen des Geistes in seinen verschiedenen Phasen) nichts anders als die »Qualität der menschlichen Natur«133 ist, daher nicht rückschlagend als der Mensch zu identifizieren ist, der nie als der Mensch, der »vereinzelt der Natur gegenübersteht«, sondern immer als ein »in irgendeiner Form der Gesellschaft schon befindlicher Mensch« auftritt, dessen »Lebensgewinmingsprozeß schon irgendeinen gesellschaftlichen Charakter hat«.134

2) Just wie das Bewußtsein nicht als der Mensch zu identifizieren ist, ist das vom Bewußtsein gesetzte auch nicht mit dem selbständigen Gegenstand gleichzusetzen. »Selbstbewußtsein [kann] durch seine Entäußerung nur die Dingheit, d.h. selbst nur ein abstraktes Ding, ein Ding der Abstaktion und kein wirkliches Ding setzen«, da die Entfremdung oder Entäußerung nur dem Satz des (Nicht)Widerspruchs nach das entfremdete oder entäußerte Wesen des Subjekts ist. Diese Dingheit ist »durchaus nichts Selbständiges, Wesentliches gegen das Selbstbewußtsein, sondern em bloßes Geschöpf, ein vom ihm Gesetztes«, und das Gesetzte, »statt sich selbst zu bestätigen, ist nur eine Bestätigung des Aktes des Setzens, der einen Augenblick seine Energie als das Produkt fixiert und zum Schein ihm die Rolle - aber nur für einen Augenblick - eines selbständigen, wirklichen Wesens erteilt.«135

3) »Für einen Augenblick« können aber die dem Bewußtsein gegenüberstehenden, selbstständigen Gegenstände indes umgekehrt als das Produkt des Bewußtseins scheinen, insofern es sich auf das Gedankengebiet, auf das die ganze Natur als Gegenstand betrachtende »freie Wesen« beschränkt, ohne dabei zu reflektieren, daß der Gedanke als GEGENSTÄNDLICHE Betätigung stets einerseits em außer ihm bestehendes, stets zurückbleibendes Wesen voraussetzen muß, weil er selbst andererseits das Resultat eines Entstehungsprozesses ist, in dem der wirkliche Mensch sich ebenso GEGENSTÄNDLICH betätigt. Aber selbst wenn die »Energie« - selbst nur »einen Augenblick« - als das Produkt des »Schaffens des Gegenstandes« oder der »reinen Tätigkeit« zu sein scheint, bestätigt dies auch nur, daß diese Tätigkeit eine »eines gegenständlichen natürlichen Wesens« ist, weil das gegenständliche Wesen nur 128JEbd., S.572. 129jWEJH, S.206. 130. MWLB/, S.545. 131. Wolfgang F. Haug, Vorlesungen zur Einführung Ins »Kapital«., Berlin. 1987, S.38. 132JWW3, S.26. \33K1EW;EBI, S.575. 134.AÆ7K19, S.362. \35.MEW;EBl, S.577.

MARX' KRITIK AN HEGEL 67

Gegenstände schafft, setzt, »weil es durch Gegenstände gesetzt ist, weil es von Haus aus Natur ist.«136 Mit anderen Worten, daß das »Setzen« den Gegenstand als seine eigene »Entzweiung« setzt, setzt nicht das Subjekt als absolutes »ELMS«, sondern die GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen als freien Wesens voraus, die aber wieder die GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen als ein Naturwesen voraussetzt: in beiden Fällen dient die letzte stets zur Grundlage der ersten, während die erste stets als das Ziel erscheint, auf das sich die letzte richtet, so daß z.B. nachdem eine bestimmte Form des Bewußtseins durch die GEGENSTÄNDLICHE Tätigkeit der wirklichen Menschen entstanden ist, es so scheinen mag, daß eben die Form diese Tätigkeit trieb, daß sie sich vermittelte, um zu sich selbst zurückzukehren. Zum Schluß und schlicht ausgedrückt: die Marxsche Kritik an der Hegelschen Einseitigkeit zielte auf das Verhältnis vom »EINS« und »ZWEI« ab. Während die Hegelsche Philosophie vom »EINS« ausging, und die wirkliche Welt als den Erfolg der »Entzweiung« desselben erfaßte, der sich entwickelte, um das »EINS« wieder zu erlangen, zeigte Marx vielmehr auf, daß dieses ganze Verfahren als solches nur innerhalb des Gedankens stattfand, das als solches stets noch dem Wirklichen gegenüberstand, das vielmehr umgekehrt dadurch ausgemacht wurde, daß das »ZWEI« sich tatsächlich entwickeltete, ohne irgendeine Form vom »EINS« a priori vorauszusetzen. Und das »EINS« konnte sich nur zeigen, nachdem die Entwicklung vom »ZWEI« schon einen bestimmten Höhepunkt erreicht hatte. Da aber diese Entwicklung stets einen neuen Höhepunkt erreichen würde, konnte das »EINS« entsprechend nie fixiert werden und daher als ständiger Ausgangspunkt gelten, sondern muß immer durch die tatsächliche Entwicklung reguliert werden. Die Marxsche Kritik ist also nichts als die Befreiung der wirklichen, sinnlichen und lebendigen Welt von der toten Domination der Vernunft, des Bewußtseins oder des Gedankens, just wie die Befreiung der Proletarier als lebendige Arbeit nichts ist als die Befreiung von der Bourgeosie als vergangener also toter Arbeit. Und in dieser Befreiung besteht eben die GEGENSTÄNDLICHKEIT. Es ist weiterhin noch zu bemerken, daß, während für Hegel der Mangel der Kantschen Philosophie darin bestehe, daß Kant zwar »die Einheit ausspricht«, er indes »doch wieder die subjektive Seite heraus [hebt]«, indem ihm die Existenz »ein schlechthin anders als ein Begriff« blieb,137 der Kantsche Standpunkt vielmehr wieder von Marx angenommen wurde, indem Marx (mit Colletti zu sprechen) den Unterschied zwischen »ratio essendi« und »ratio cognoscendi« aufrechterhielt, und daher Hegel umgekehrt kritisierte, daß seine Auflösung der Existenz in der Begriffen nichts als die Einheit des Subjektiven ist, und daher keinen Schritt aus dem Subjektiven tat.138

136. Ebd. 137. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, a.a.O., S.400;383. 138. Dazu vgl., Colletti, Marxism and Hegel, op.cit., insbes. pp. 113-38; Patrick Murray, Marx's Theory of Scientific Knowledge, op.cit.; Heinrich Brinkmann, Die Ware, Gießen, 1975, S.5f; Sun, Shan-Hao, »Hundert Taler: Kant, Hegel und Marx«, in Zeitschrift der Philosophie, Taipei, März, 1996.

MARX'KRITIK AN HEGEL 63

5. DAS GANZE DER MARXSCHEN KRITIK AN HEGEL Ein roter Faden, der sich durch die ganze Kritik zieht, soll nach der Untersuchung ersichtlich werden. Es geht dabei um die GEGENSTÄNDLICHKEIT, die aus vier Seiten besteht. 1) »Die GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen I«: als Naturwesen ist der Mensch GEGENSTÄNDLICH, weil er stets allen anderen natürlichen Gegenstände wie Pflanzen, Tiere, Steine usw. gegenüberstehen muß, um durch sie zu überleben; und in diesem Sinne ist der Mensch, just wie alles andere Wesen, ein Teil der Natur. 2) »Die GEGENSTÄNDLICHKEIT des Gegenstandes I«: die dem Menschen konfrontierenden (konkreten) Gegenstände wie Pflanzen, Tiere, Steine usw. sind auch GEGENSTÄNDLICH, weil sie nur als (konkrete) Gegenstände des Menschen bzw. der menschlichen Bedürfnisse auftauchen, nämlich als (konkrete) Gegenstände, die mit ihren Eingenschaften die menschlische Bedürfnisse befriedigen. Einen dem Menschen nicht konfrontierenden Gegenstand gibt es also nicht. 3) »Die GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen II«; indem der Mensch sich von der ganzen Natur abstrahiert, und daher die ganze Natur, die auch sein Naturwesen einschließt, als Gegenstand des Bewußtseins, das nichts als seine eigne Abstraktion ist, betrachtet, ist er ein »freies Wesen«. Das Wesen ist aber auch GEGENSTÄNDLICH, weil der Akt der Abstraktion von der Natur stets auf der »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen I« beruht, und daher das Bewußtsein sowie das freie Wesen selbst als Produkt derselben auch unentbehrlich GEGENSTÄNDLICH sein muß, d.h. stets ein außer ihm selbständiges bestehendes Wesen voraussetzen muß. 4) »Die GEGENSTÄNDLICHKEIT des Gegenstandes II«: als das stets vorauszusetzende Wesen ist der Gegenstand einerseits GEGENSTÄNDLICH, eben weil er stets vom Bewußtsein vorausgesetzt werden muß. Ein Gegenstand, der nicht vom Bewußtsein vorausgesetzt wird, ist also ein »Unwesen«, d.h. kein Gegenstand. Anderer­ seits ist der vom Bewußtsein vorausgesetzte Gegenstand GEGENSTÄNDLICH, weil er nichts als die Abstraktion der konkreten Gegenstände ist, die eine Einheit den letzten verleiht, damit sie in einer Totalität begriffen werden können. Diese vier Seite haben offenbar jeweils ihre Funktionen in einer ganzen Beziehung, die auch durch GEGENSTÄNDLICHKEIT charakterisiert wird. Sie ist so darzustellen:

1) »Die GEGENSTÄNDLICHKEIT des Gegenstndes I« ist stets als primitiv anzusehen, weil »die GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen I« immer nur stattfinden kann, d.h. die Menschen sich nur praktisch, theoretisch oder künstlerisch betätigen können, indem die Gegenstände nicht von den Menschen »emaniert«, sondern als Gegebene von den Menschen zuerst sinnlich empfangen und dann umgeformt werden. Als Gegebene ordnen also die Gegenstände sich durchaus nicht dem Menschlichen unter, sondern enthalten ihre eignen Eigenschaften sowie autonomen Gesetze, die aber nur als a priori fixiemd erscheinen, erst nachdem sie entdeckt worden sind, und daher ihre Inhalte jeweils mit der erneuten Forschung (die auch menschliche GEGENSTÄNDLICHE Tätigkeit ist) zu ändern sind. Daß sie nur vermittels der menschlichen Forschung ihre eigenen Inhalte annehmen können, schließt ein, daß sie durch die »GEGENSTÄNDLICHKEIT« sowohl des Gegenstandes I als auch des Menschen 1 begrenzt sind, und daher nicht (wie bei Hegel) als das die Gegenstände

MARX' KRITIK AN HEGEL 69

Schaffende, sondern stets als »Produkt« zu betrachten sind, wie auch immer a priori sie zu sein scheinen mögen. In diesem Sinne deutet Marx also an, daß vorn Allgemeinen zum Bestimmten keine Brücke geschlagen werden kann, »und es [...] in Ewigkeit keine solche Brücke geschlagen werden können [wird].«139 Die Brücke ist eher umgekehrt vom Bestimmten zum Allgemeinen zu schlagen, weil die vom Menschen unabhängige Existenz sowie die Beweglichkeit der Gegenstände vielmehr zuerst anzuerkennen ist, und auch nur in dieser Annerkennung besteht die strenge Bedeutung des »Materialismus«.

2) »Die GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen I« bildet sich die Geschichte, die sebst wiederum als ein Gegenstand mit dem Menschen konfrontiert wird, nachdem sie wirklich entstanden ist. Die Menschen sind also »nicht in irgendeiner phantastischen Abgeschlossenheit und Fixierung, sondern in ihrem wirklichen, empirisch anschau­ lichen Entwicklungsprozeß unter bestimmten Bedingungen«,140 das heißt, sie stehen nie abstrakt oder gleichgültig den äußeren Gegenstände gegenüber, sondern schließen sich stets in einem GEGENSTÄNDLICHEN Verhältnis ein, das einerseits das Produkt ihrer vorhergegangenen, andererseits die Voraussetzung ihrer weiterhin durchzusetzenden GEGENSTÄNDLICHEN Tätigkeiten ist. Unter diesem Verhältnis als »unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen« machen also die Menschen »ihre eigne Geschichte«.141 Da die Menschen nur unter bestimmten Bedingungen die Geschichte machen können, ist keine persönliche Gewalt der Initiative in der Weltgeschichte anzusehen. Da aber die Menschen doch ihre eine Geschichte machen, ist die Geschichte keine objektive Konstruktion, sei es materialistisch oder idealistisch, die' die Menschen beherrscht. Die Geschichte entwickelt sich, öffnet sich zu (begrenzten) Möglichkeiten, ohne irgendeinem Übergeschichtlichen zu unterstehen.

3) Just wie aber die Eigenschaften und Gesetze der Gegenstände als a priori gegeben erscheinen mögen, nachdem sie von Menschen entdeckt worden sind, wird die Geschichte auch als ein zu ihrem »providentiellen« Zweck entwickelter Prozeß begriffen, nachdem die Spur der Entwicklung theoretisch dargestellt worden ist. Die beiden Auffassungen gehen auf die »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen II« zurück, die darin besteht, daß der Mensch die ganze Natur, die auch ihn einschließt, als seinen Gegenstand, nämlich als Gegenstand des Bewußtseins betrachtet, indem er sich von der Natur abstrahiert. Als eigentümliche Fähigkeit des Menschen kann diese Abstraktion dazu dienen, einerseits die Mannigfaltigkeit der Gegenstände von einem einheitlichen Punkt ausgehend anzuordnen, so daß die ganze Natur als eine Totalität erscheinen kann, in der jedes Einzelne nicht mehr sinnlos nebeneinander steht, sondern seinen Stellenwert annimmt, und daher einen einheitlichen Zusammenhang bildet. Andererseits kann sie dazu dienen, - dies ist aber nur diesselbe Sache mit einer anderen bzw. dynamischen Perspektive - »die Ordnung des geschichtlichen Materials zu erleichtern, die Reihenfolge seiner eizelnen Schichten anzudeuten«,142 oder mit anderen Worten, als »Leitfaden« die Studien der gesellschaftlichen Formationen sowie deren Entwicklungen in verschiednen Formen zu leiten.

139.A/EJT1, SS.212-13. 14OA/E03, S.27. 14LKarl Marx, Der achtzente Brumaire des Louis Bonaparte, in MEW0>, S. 115. 142.Z1/Ü deutsche Ideologie, MEWh, S.27.

MARX' KRITIK AN HEGEL 70

Das Geheimnis der Hegelschen Philosophie sowie aller Mystifikationen besteht hauptsächlich darin, die negative, regulative Funktion der Abstraktion (Abstraktion I) in eine positive, konstruktive (Abstraktion II) zu transformieren, d.h. illegitim auf den »transzendentalen Schein«143 zu geraten, so daß diese Abstraktion nicht mehr GEGENSTÄNDLICH bleibt, nicht mehr in der wirklichen Geschichte verankert sein muß, sondern von derselben losgelöst werden kann, und daher ihr eignes Leben zu haben scheint, das als das »esoterische« umgekehrt das »exoterische« bzw. empirische mystisch bestimmen oder als das letzte erscheinen würde. Erst aber indem diese Mystifikation als Resultat einer bestimmten Epoche der geschichtlichen Entwicklung enthüllt wird, wird die Hegelsche Welt entzaubert. Diese Enthüllung bedeutet aber nicht, die Hegelsche Mystifikation zu rechtfertigen, indem sie (wie im Engelsschen Fall) endlich auf einer materialistischen Grundlage begründet wird. Bei der Befreiung der Entwicklung der Gegenstände als Lebendigen von der Herrschaft der Ideellen, des Bewußtseins oder des Geistes usw. als Toten befreit sich vielmehr auch das Ideelle... usw. von seiner eignen fixierten Form. Die sich ent­ wickelnde Geschichte schiebt stets das Ideelle... usw. zu einem höheren Punkt, mit dem die Darstellung erneut anfangen muß - und eben darin besteht die »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Gegenstandes II«. 4) Die »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Gegenstandes II« ist einerseits das subjektive »Gesetzte« des Ideellen, des Bewußtseins, des Geistes oder der Vernunft usw., andererseits aber nichts als die Abstraktion der Gegenstände, weil das Ideelle... usw. nichts setzen kann, ohne daß die Gegenstände schon vorhanden sind. Da die Gegenstände sich entwickeln, ohne irgendeinem Übergeschichtlichen zu unterstehen, sind die übergeschichtlichen, weil für alle Epochen allgemeingültigen Gesetzte einerseits nur Nachfolge dieser Entwicklung. Da aber erst als sich diese Gesetzte befinden, nach denen die wirkliche Entwicklung nur darzustellen ist, scheint es also andererseits so zu sein, daß die letzte umgekehrt nichts als Nachfolge der Gesetzte ist. Der Charakter dieser Gesetze als der »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Gegenstandes II«, bald Nachfolge, bald Bestimmend zu sein, liefert also dden Spielraum, auf diesen Gesetzen ein idealsitisches oder matenalistsches Mysterium zu prägen, indem der doppelte Charakter in einer bstimmten Form der Eindeutigkeit reduziert wird. Und in den Bemühungen, diese als »Dualismus« bezeichnete Zwieschlächtigkeit zu beseitigen, besteht also einerseits der Hegelsche Idealismus, der die Seite der Nachfolge (Existenz) in der Seite der Nachzufolgenden (Begriff) aufzulösen sucht, sowie andererseits der Engelsche Materialismus, zu dem sowohl der Leninismus als auch die Ontologie144 des alten Lukäcs gehören, in dem das Sein dem Denken vorausgeht. 143 .Dazu vgl. Sun, Shan-hao, »Transzendentaler Schein und Fetischismus«, in Zeitschrift der Philosophie, Taipei, März, 1995, ders., »Fetischismus und Graha: das Zusammenfallen des Marxismus mit vijnapti-matrata«, in Formosa, 1993. Zum »transzendentalen Schein« Vgl. I.Kant, KdrV, A293/B349ff 144.Lukäcs bemerkte zwar, daß Engels »in seiner Kritik an Hegel weniger prinzipiell und tief war als Marx selbst, d.h. manches aus Hegel - natürlich bei einer materialistischen Umkehrung - allzu unverändert übernahm, was Marx selbst von tieferen ontologischen Erwägungen ausgehend verwarf oder entschieden modifiziert«, und Lenin in einigen Fragen doch »als Fortfuhrer der Engelsschen Linie charaktisieren« läßt, (G. Lukäcs, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins, Darmstadt und Neuwied, 1984, S.575-76.), wiederholte er indes das Engels-Lenins Motiv, »daß das Sein eine ontologische Priorität vor dem Bewußtsein hat«, (S.582) daß »das Wesen der ökonomischen Totalität

MARX’KRITIK AN HEGEL 71

Es ist aber zu bermerken, daß eben diese Spannung der Zwieschlächtigkeit den Marxschen Gedanken durchzielt: nicht nur in den Pariser Manuskripten erscheint das »Gattungswesen« als Zwieschlächtiges, nämlich als »Naturwesen« und das der ganzen Natur gegenüberstehende Wesen; sondern auch in »These über Feuerbach« ist der Erzieher zugleich zwieschlächtig als der erzogen werdene zu begreifen; in der »Einleitung (1857)« der Grundrisse erscheinen »der erste Weg« und »der zweite Weg«, im Kapital die Ware (als Wert und Gebrauchswert), die Arbeit (als nützliche und abstrakt menschliche) und der Wert (der Wert und die Wertform) usw. auch jeweils als Zwieschlächtiges. 5) Die Zwieschlächtigkeit ist aber nicht das Nebeneinander. Sie zeigt sich vielmehr als zwei gegenseitige Richtungen in demselben Gang, so daß der point de départ der einen zugleich der point d'arriée der anderen bildet, und vice versa. Auf dieser Grundlage stehen eben die oben erörterten vier GEGENSTÄNDLICHKEITEN. A) Das Verhältnis zwischen der »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Gegenstandes I« und der »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen I«: a) Die »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Gegenstandes I« ist der wirkliche point de départ, davon ausgehend ist »die GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen 1« gesetzt sowie gerüstet zu werden. Die letzte ist also der point d’arivée.

b) »Die GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen I« verändert aber auch die »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Gegenstandes I«, indem der Mensch von seinen eigenen Bedürfnissen ausgehend die Formen der Stoffe nach seinem eigenen Maß ändert, und daher neue Stoffe schafft. Er kann dies aber nur, nachdem er schon unmittelbar von der Natur genährt worden ist. Trotz der »Sekundärität« seines Schaffens ist doch in diesem Sinne die »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen I« der point de départ, während die »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Gegenstandes I« der point d’arivée ist. B) Das Verhältnis zwischen der »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Gegenstandes I« und der »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Gegenstandes II«:

a) Da die »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Gegenstandes II« nichts als die Abstraktion der »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Gegenstandes I« ist, stellt die letzte den point de départ, und die erste den point d’arivée dar. b) Aber nachdem sich die »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Gegenstandes II« gefunden hat, kann es doch scheinen, daß die »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Gegenstandes I« nur die Erscheinung der ersten wäre. In diesem Sinne ist umgekehrt die erste der point de départ, während die letzte der point d’arivée ist.

C) Das Verhältnis zwischen der »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen I« und der »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen II«:

selbst den Weg zu ihrer Erkenntnis vorfschreiben].« (S.580), ohne zugleich zu bemerken, daß das Bewußtsein umgekehrt eine erkenntnistheoretische oder »epistemologische Priorität« vor dem Sein hat. Vgl. auch, derselb. »Vorwort(1967)« zur Geschichte und Klassenbewußtsein.

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a) »Die GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen II« ist die Abstraktion der »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen I«, weil das Bewußtsein, das den Menschen zum »Freien Wesen« macht, nur aufgrund des materiellen Leben entstehen kann. In diesem Sinne ist die »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen I« der point de départ, während die andere der point d'arivée ist.

b) Sobald aber die »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen II« eigene Gestalt annimmt, macht sie sofort die »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen I« zu ihrem Lebensmittel, das als der point d'arivée ihr als dem point de départ zur Verfügung steht.

D) Das Verhältnis zwischen der »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Gegenstandes II« und der »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen II«: a) Als »freies Wesen»« liegt aber die »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen II« nicht im Vakuum. Ihr »Dasein« kann nicht von ihrselbst bestätigt, sondern viel­ mehr nur dadurch ausfindig gemacht werden, daß die »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Gegenstandes II« als ihr Gegenstand auftaucht. Bei dieser Annahme ist die »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Gegenstandes II« der point de départ, und die »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen II« der point d'arivée.

. b) Die »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Gegenstandes II« ist aber andererseits als das »Gesetzte« oder die »Entäußerung« der »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen II« zu betrachten, weil ihr »Dasein« 'immer durch die »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen II« vermittelt, oder von der letzten ermöglicht wird. So ist in dieser Betrachtung die »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen II« der point de départ, und die »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Gegenstandes II« der point d'arivée.

Diese vier Verhältnisse können so illustriert werden: a)

GEGENSTÄNDLICHKEIT des GegeStandes H !__ __ l B i——i

GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen H

GEGENSTÄNDLICHKEIT des Gegenstandes I

GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen I

I

i

Dasselbe Zeichen »]-[«, sei es auch 90° umgedreht worden, bezeichnet jeweils das Verhältnis A, B, C und D, und verbindet jeweils einen point de départ mit einem point d'arivée. Die »Richtung a)«, die jeweils vom Gegenstand oder Konkreten ausgeht und

MARX' KRITIK AN HEGEL 73

das Subjekt oder die Abstraktion erlangt, ist dem Marxschen Terminus entsprechend »der erste Weg«, während umgekehrt die »Richtung b)« »der zweite Weg«. Da die vier Pole eigentlich nur durch zwei Richtungen gegliedert werden, bestehen also weiterhin noch zwei Verhältnisse, nämlich: E) Das Verhältnis zwischen der »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Gegenstandes« und der »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen«: a) Die »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Gegenstandes« ist stets der point de départ, von dem ausgehend die »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen« erst erkannt werden kann .

b) Die »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen« ist aber anderseits der point de départ, von dem ausgehend die »GEGENSTÄNDLICHKEIT des Gegenstandes« dargestellt werden kann. Eine Illustration:

GEGENSTÄNDLICHKEIT ■ des Gegestandes H

GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen H

GEGENSTÄNDLICHKEIT des Gegenstandes I

GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen I

b)

F) Das Verhältnis zwischen der »GEGENSTÄNDLICHKEIT I« und der »GEGENSTÄNDLICHKEIT II«:

a) Die »GEGENSTÄNDLICHKEIT I« bildet stets den point de départ, weil die »GEGENSTÄNDLICHKEIT II« nichts als die Abstraktion von der ersten sein kann. b) Die »GEGENSTÄNDLICHKEIT II« ist aber andererseits der point de départ, mit dem anfangend die »GEGENSTÄNDLICHKEIT I« als Erscheinung der ersten dargestellt werden kann. Noch eine Illustration:

MARX' KRITIK AN HEGEL 74

GEGENSTÄNDLICHKEIT. des Gege stand es H

GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen H

b) GEGENSTÄNDLICHKEIT des Gegenstandes I

GEGENSTÄNDLICHKEIT des Menschen I

Da die »Richtung a)« stets von der Erscheinung ausgeht und die Bedingung erlangt, die ihr »Dasein« ermöglicht, ist sie der philosophischen Terminologie entsprechend als »Kritik« oder »Analyse« zu bezeichnen, während die »Richtung b)«5 indem sie umgekehrt vom Wesen ausgeht und sich zu seinen Erscheinungsformen entwickelt, der philosophischen Terminologie entsprechend als »Dialektik« oder »Erscheinung« zu bezeichnen ist. Die Marxsche Kritik der Hegelschen Dialektik besteht also darin, schlicht ausgedrückt, daß die Dialektik stets nur die »Rückseite« der Kritik ist, weil sie stets von der letzten bedingt werden muß, während umgekehrt die Dialektik stets der Kritik eine Richtung liefert, weil die Kritik immer nur dahin gelangen kann, wo die Dialektik beginnt, die wegen der Schlußfähigkeit, die die Dialektik durchaus charakterisiert, imstande ist, das in der Erscheinung versteckte Wesen einzusehen. Dies schließt aber zugleich auch zwei Arten von condition sine qua non em, eine epistemologische, und eine ontologische. Z.B. das Verhältnis zwischen der »GEGENSTÄNDLICHKEIT I« und der »GEGENSTÄNDLICHKEIT II«: insofern die letzte mir durch die »Kritik« oder »Analyse« der ersten zu erkennen ist, ist die erste die epistemologische condition sine qua non der letzten, während umgekehrt, die »GEGENSTÄNDLICHKEIT I« auch mir als Erscheinung der »GEGENSTÄND­ LICHKEIT II« da sein bzw. existieren kann, die letzte die ontologische condition sine qua non der ersten ist. Dasselbe Verhältnis gilt auch sowohl für das Verhältnis E als auch für das von A, B, C und D. 61 So erreicht jetzt endlich die Marxsche Kritik der Hegelschen Dialektik den Höhepunkt, indem sie so formuliert wird, daß sie eben die »Umstülpung« der Hegelschen Philosophie ist. »Umstülpung« zwar im strengen Sinne, daß die »Dialektik« nie ohne Bedingung primitiv stattfinden kann, sondern stets durch »Kritik«, die stets ein äußerlich gegebenes Wesen als Gegenstand voraussetzt sowie davon ausgeht, begrenzt werden muß, d.h. von derselben abhängt, deren »Rückseite« bilden muß, so daß eine sich selbst bewegende Dialektik als Illusion zu bezeichnen ist. Da die Gegenstände sich ohne Zutun der Menschen entwickeln, ist entsprechend die Kritik immer mit der frischsten Entwicklung der Gegenstände erneut anzufangen, und daher jeweils den »Springpunkt« zu erreichen, womit die Dialektik jeweils erneut anzufangen ist, um die wirkliche Entwicklung ideell darzustellen. Den »Springpunkt« von seiner fixierten Form zu befreien, indem die autonome Entwicklung der Gegenstände anerkannt wird, darin besteht also, kurz gesagt, die Marxsche Kritik der Hegelschen Philosophie.

KAPITEL /V

DER UNTERSCHIED ZWISCHEN MARX' UND ENGELS' HEGELKRITIK

Daß Marx sich offen als Schüler Hegels bekannt hat, verursachtden Eindruck, als ob Marx, wie Bernstein behauptete, »das Produkt eines Restes Hegelscher Widerspruchsdialektik« sein Lebtag - »eben so wie Engels« - nie völlig losgeworden sei,1 als ob Das Kapital nicht verstanden werden könne, wie Lenins' Aphorismus lautetet, »ohne die ganze Logik von Hegel durch studiert« zu haben.2 Den Unter­ suchungen, die sich grundsätzlich auf die Kontinuität der Marxschen und Hegelschen Methoden konzentrieren (Versuch II), schien es also, daß Marx innerhalb der Hegelschen dialektischen Tradition zu Hause sei, und nur einige, wenn auch immer wesentliche Aspekte derselben materialistisch modifizierte. Worin diese Modifikation bestehe, sei daher die Frage. Ist statt der Kontinuität die Diskontinuität zuerst ins Auge gesprungen (Versuch I), sofern es ernsthaft um das Verhältnis von Marx zu Hegel geht,3 so kann sich eine andere Perspektive eröffnen, aus der die Marxsche Kritik an Hegel nicht mehr als irgendeine Form von »Modifikation« innerhalb der Dialektik erscheint, sondern als »Begrenzen« derselben als solche auf das Gebiet des Denken, und daher zugleich als »Befreiung« des Wirklichen von der Dialektik als Gedankengesetz bzw. als vom Gedanke ausgegebenes Gesetz. Und diese Perspektive hat sich schon bewähren sollen.

Da Engels' Hegelkritik die erste Form des »Versuches II« ist, durch die die anderen gleichartigen Untersuchungen eben geprägt werden, und sich der »Versuch I« vielmehr als »echte Marxsche« bewähren soll, ist der Unterschied zwischen dem Versuch II (Kritik als Modifikation innerhalb der Dialektik) und Versuch I (Kritik als Begrenzung und Befreiung) als der Unterschied zwischen Marx' und Engels' Hegelkritik zu sehen, der hauptsächlich unter drei Aspekte zu betrachten ist:

1. DIALEKTIK ALS PRINZIP VS. ALS GESETZ Bei Marx fing die Analyse bzw. Forschung immer mit dem Gegenstand an. Die »GEGENSTÄNDLICHKEIT« ist also point de départ. Davon ausgehend ist eine ideelle Reproduktion der Konstruktion des Wirklichen, die als innere gesetzliche Beziehung 1. E.Bernstein, Die Voraussetzungen.... a.a.O., S.49. 2. W.I.Lenin, Über Hegelsche Dialektik, Ansgewählte Texte, a.a.O., S.123. 3. Vgl. Kapitel 1, 5.

DER UNTERSCHIED ZWISCHEN MARX' UND ENGELS' HEGELKRITIK 76

des Stoffs erscheint, der Ankunftpunkt, also point d'arrivée. Mit dem Gegenstand anzufangen, setzt tatsächlich eine offene, un-bedingte Konfrontation von zwei Substanzen voraus, die theoretisch sowohl von einanden abhängen müssen (These), weil sie sonst nicht miteinander konfrontiert werden (Synthese) können, als auch sich durch ihre Eigenschaften von einanden zu unterscheiden haben (Antithese), weil sie sonst auch nicht zu konfrontieren (Synthese) brauchen. Ohne die verschiedenen »zwei« ist das »mzt-anfangen« tatsächlich unmöglich, während ohne die inneren Beziehungen bzw. die »dialektische Gleichheit« (gleich und zugleich ungleich) der zwei Substanzen die Konfrontation theoretisch nicht begriffen werden kann. Das Gesetz als ideeller Ausdruck der inneren Beziehungen der beiden ist daher tatsächlich das Produkt der Konfrontation, d.h. erst nach der Untersuchung begreifbar, während dasselbe Gesetz theoretisch als Voraussetzung dient, die die Konfrontation der zwei inneren Beziehungen enthaltenen Substanzen ermöglicht.4 Dieses Gesetz mit dem doppelten Charakter, nämlich bald theoretischen point de départ, bald tatsächliche point d'arivée zu sein, wird hier als »Prinzip« bezeichnet. Als theoretischer point de départ scheint das Prinzip schon a priori gegeben zu sein. Dies scheint aber nur so oder ist statt einer willkürlichen Illusion ein Schein, weil und sofern er die Rückseite desselben Prinzips tatsächlicher point d'arivée ist. Deswegen muß das Prinzip stets der Forschung des Wirklichen unterzogen werden, wie fixiert es auch immer scheinen mag. Ein Gesetz, das vom Gedanken kategorisch ausgegeben wird, wird daher zum Prinzip, indem es nicht einfach zu übernehmen, sondern zuerst zu überprüfen ist. Und, es ist noch zu betonen, selbst wenn das Prinzip, nachdem es überprüft worden ist, als allgemeingültig übernommen wird, kann es keineswegs davon entbunden werden, weiter überprüft zu werden. Daß irgendein Gesetz nicht selbstverständlich als gegeben zu akzeptieren ist, sondern zuerst als ein Problem suspekt zu betrachten ist, sollte schon in der vorhergegangenden Diskussion (Kapitel III) ersichtlich deworden sein. Ein weiterer. Beweis dafür ist es aber vielleicht noch wert hier aufgestellt zu werden:

Ein sehr tiefgründiger, doch etwas phantasiereicher Erforscher [Hegel] der Bewegungsgesetze der Menschheit pflegte das, was er das Gesetz von der Einheit der Gegensätze nannte, zu einem der herrschenden Naturgeheimnisse zu erheben. Nach seiner Ansicht war das schlichte Sprichtwort »Die Extreme berühren sich« eine erhabene und machtvolle Wahrheit auf jedem Gebiet des Lebens, ein Axiom, auf das der Philosoph ebensowenig verzichten könne wie der Astronom auf die Kelperschen Gesetze oder auf die große Entdeckung Newtons. Ob nun die »Einheit der Gegensätze« wirklich ein derart allgemeingültiges Prinzip ist oder nicht: dafür ist der Einfluß, den die chinesische Revolution aller Wahr­ scheinlichkeit nach auf die zivilisierte Welt ausüben wird, ein treffendes Beispiel. 4. Das Verhältnis vom point de départ und point d’arivée ist auch »GEGENSTÄNDLICH«. Und es ist noch zu bemerken, daß dieser Charakter in der Marxschen Lehre nicht nur das Verhältnis des Gedankens mit dem Realen charakterisiert, sondern auch als ein roter Faden sich durch den ganzen Marxschen Gedanken zieht. So z.B., daß »der Erzieher selbst erzogen werden muß«; (MEWS, S.6) daß die Ware zugleich als »Voraussetzung der Kapitalbildung« und »das Produkt und Resultat des kapitalistischen Produktionsprozesses« erscheint usw. (K. Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Frankfijrt/M, 1969, SS. 91-92)

DER UNTERSCHIED ZWISCHEN MARX' UND ENGELS' HEGELKRITIK 77

Scheinbar ist es eine sehr seltsame und sehr paradoxe Behauptung, daß die nächste Erhebung der Völker Europas... wahrscheinlich in großem Maße davon abhängt dürfte, was sich jetzt im Reich des Himmels - dem direkten Gegenpol Europas abspielt... Dennoch ist es kein Paradox; das werden alle einsehen, die die näheren Umstände der Angelegenheit aufmerksam betrachten.5

Hegel ist sowohl tiefgründig als auch phantasiereich, wie die »Einheit der Gegensätze« allgemeingültig und zugleich paradox ist. Hegel kann sich also als »tiefgründiger Erforscher« bewähren, indem »das Gesetz von der Einheit der Gegensätze« durch »ein treffendes Beispiel«, nämlich die wirklich betrachtbaren Umstände, als ein »Naturgeheimnis«, als eine »Wahrheit« bestätigt wird, und vice versa: er kann sich nur als »phantasiereicher Erforscher« bewähren, sofem diese Umstände das Gesetz verneinen. Das Gesetz kann also nie darauf verzichten, ein vom Wirklichen Abhängiges zu sein, selbst wenn es schon tausendmal bestätigt wurde. Oder mit anderen Worten, der Charakter des tatsächlichen point d’arivée ist stets eine der beiden unauflösbaren Dimensionen des Gesetzes, und auch eben dieser Charakter macht das Gesetz zum »Prinzip« im hier gebrauchten Sinne, nämlich das Prinzip, das neben dem Charakter des theoretischer point de départ, der das Hegelsche Gesetz der Dialektik schon charakterisiert, stets noch den Charakter des tatsächlichen point d’arivée enthält.

. Engels betrachtete dagegen das Gesetz als point de départ, und die Gegenstände bzw. das Wirkliche als point d'arrivée. Bei ihm erschien das Gesetz deshalb als a priori vorhandenes Herrschendes, das sich sowohl in der Natur als auch in der Menschen­ geschichte durchsetzte, weil er die Gesetze zwar »materialistisch« nannte, aber nicht einmal überzeugend beweisen konnte, wodurch sich diese Gesetze von den »idealistischen« unterschieden. Dagegen erschienen die Natur und die Menschen­ geschichte eher als Untertanen, als »die Subsumtion einer Masse von >Cases< under a principle«6, oder als »zahlreiche Beispiele« des Gesetzes, die nur dazu zu dienen schienen, »nachzuweisen, daß die dialektischen Gesetze wirkliche Entwicklungsgesetze der Natur, also auch für die theoretische Naturforschung gültig sind«7, wobei der Charakter des tatsächlichen point d’arivée durchaus verschwindet. Und es ist auch diese Einseitigkeit, die veranlaßt, daß der Revisionismus z.B. den sogenannten orthodoxen Marxismus bezichtigte, daß er die Menschen »lediglich als lebendige Agenten geschichtlicher Mächte«8 betrachtet, oder »zum Opfer einer fremden und übermächtigen ökonomischen Gesetzlichkeit«9 macht, als auch die vielfältigen Vorwürfe gegen Engels.10

Dieser Unterschied lag ihrem Verhalten zu Hegel zugrunde: Marx' Kritik an Hegel besteht darin, daß der Realprozeß als solcher, den Hegel mit dem Denkenprozeß verwechselte, indem er point de départ als point d'arrivée identifizierte, vielmehr von 5. Karl Marx, »Die Revolution in China und in Europa«, MEW9, S.95. 6. Marx an Engels am 9.Dez,1861. MEW30, S.207. 7. Dialektik der Natur, MEW20, S.349.(Herv.SHS) Die hier implizierte »Identität« der »wirklichen Entwicklungsgesetze« mit der »theoretischen Naturforschung« beseitigt offenbar gerade den »doppelten« Charakter des Prinzips als theoretischer point de départ und wirklicher point d’arivée. 8. E.Bernstein, Voraussetzungen..., S.33.. 9. Max Adler, Ausgewählte Schriften, a.a.O., S.5O3. 10. Vgl. Kapitel 1, 4,5.

DER UNTERSCHIED ZWISCHEN MARX' UND ENGELS' HEGELKRITIK 78

irgendeinem außer ihm hergestelltenen Ideellen zu befreien ist, so daß das Ideelle und das Materielle nur als »zwei« zu begreifen sind. Diese Warnung der Konfusion von point de départ und point d'arrivée begriff Engels aber nicht, so daß sein Umstülpen Hegels nur bedeuten konnte, die sogenannten materialistischen Gesetze - unbekannt woher sie kamen - an die Stelle des Geistes treten zu lassen, ohne sich dabei von demselben eindimensionalen Prozeß zu entfernen, in dem point de départ und point d'arrivée verwirrt werden.

2. HISTORISCHE THEORIE VS. GESCHICHTSTHEORIE Insofern Marx' Kritik an Hegel in der Befreiung des Realprozesses vom Denkenprozeß besteht, erscheint der Realprozeß als eine geschichtliche Entwicklung, die sich bewegt, ohne vorher irgendeine »Logik« oder ein Gesetz vorauszusetzen. Bei der Konfrontation mit den Menschen bietet die geschichtliche Entwicklung das Material, das zusammen mit der gedanklichen »Verarbeitung von Anschauung und Vorstellung in Begriffe« die Erkenntnis bildet. Da das Denken auch nur »ein Moment des praktischen, gesellschaftlich-individuellen Lebensprozesses der Menschen« ist,11 das heißt, gleich wie das Material durch seinen geschichtlichen Charakter geprägt wird, ist die Erkenntnis auch als ein Realprozeß zu begreifen, der eben durchaus vom geschichtlichen Charakter bestimmt wird. Eine so betrachtete Erkenntnis, sei es Naturwissenschaft, sei es Psychologie, sei es Soziologie, oder sei es sogar Geschichtslehre, ist eine »historische Theorie«. Eine historische Theorie ist daher eine Theorie, deren Bestimmungen durch den Realprozeß als Geschichte geliefert werden, deren »instrumenteller Charakter als ein gesellschaftlich Gesetzes zu erkennen« ist.12. Die [Hegelsche] Dialektik, da sie »in dem positiven Verhältnis des Bestehenden zugleich auch das Verhältnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordne Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt«, ist zwar (am besten) imstande, den von der sich bewegenden geschichtlichen Entwicklung abhängigen Charakter der Theorie sowie allen anderen »Überbau« präzis zu beschreiben, und daher »ihrem Wesen nach kritisch« - weil sie die geschichtliche Grundlage oder Bedingungen der Theorie usw. aufzeigen kann - »und revolutionär«13 - weil diese Grundlage sich stets bewegt, stets dem Bestehenden seinen festen Boden entzieht, so daß es stürzen muß. Indes soll die Dialektik dem oben erwähnten Unterschied zwischen Forschungs- und Darstellungsweise, zwischen Real- und Denkprozeß, nach keineswegs als die von menschlichen gegenständlichen Tätigkeiten unabhängige Bewegung, sondern gleich wie alle restlichen Theorien, die sie selbst beschreibt, als eine Ideelle, als eine Erkenntnis, daher eine »historische Theorie« identifiziert werden.

Dieser »historische Charakter« der Theorie wurde aber von Engels verworfen, oder zu mindestens in eine »Geschichtstheorie« verwandelt, die die Geschichtsentwicklung zu erklären versucht, indem Gesetze aufgestellt werden, oder mit Engels' eignen 1 l.Jindrich Zeleny, »Zum Wissenschaftsbegriff des dialektischen Materialismus«, in A.Schmidt (Hersg.) Beiträge zur marxistischen Erkenntnistheorie, Frankfurt/M, 1972, S.79. 12.Peter Seel, Erkenntniskritik als Ökonomiekritik, Gießen, 1980, S. 12. 13WÆW23, S.28.

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Worten, »auf die letzte ökonomischen Ursachen zurückzugehen«, um »den inneren Kausalzusammenhang nachzuweisen«,14 ohne aber dabei zu berücksichtigen, daß die die Geschichte zu erklärende Theorie selbst auch durch die Geschichte geprägt sein muß. Eben mit dieser Verwandlung stellte sich Engels die Aufgabe, die »revolutionäre Seite« der Hegelschen Dialektik - ohne sie als historisch bedingte zu betrachten weiterhin zu entwickeln, und die »konservative Seite«, die die endlose Entwicklung verhindert, zu beseitigen, weil der Gegenstand, auf den der »historische Materialismus« oder (als dessen Varietät) die »materialistische Geschichtsauffassung« ausschließlich abzielt, eher die sich stets grenzenlos entwickelnde, und daher' nicht einmal stillstehende. Auch diese Schiften konnte erklären, warum Engels aufgrund der Marxschen kritischen Anmerkungen zur Morgans Ancient Society das selbstständige geschichtliche Werk Der Ursprung der Familie, des Privateigentum und des Staats15 isolierend ausführte, während es keinen Beweis gibt, daß Marx die Ansich hegte, diese Anmerkungen zu veröffentlichen. Während es bei Engels um »Verständnis des geschichtlichen Entwicklungs­ prozesses der Menschheit«16 geht, geht es bei Marx vielmehr konsequent um »die kapitalistische Produktionsweise und die ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse«17 - eine gegenwärtige oder synchronische Struktur.18 Um diese zu verstehen, bedarf es aber »nicht des Rückblicks auf die Entstehungsgeschichte des Kapitals«, weil dieselbe Geschichte »täglich vor unseren Augen« spielt.19 Und es ist »daher nicht nötig, um die Gesetze der bürgerlichen Ökonomie zu entwickeln, die wirkliche Geschichte der Produktionsverhältnisse zu schreiben.«20 Darunter soll verstanden werden, daß die Geschichte als solche nicht Marx' sondern Engels’ Fokus ist.21 Der bekannte durchgestrichene Satz in der Deutschen Ideologie'. »Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte«,22 mag vielmehr zweideutig verstanden werden: Im Engelsschen Sinne ist die Geschichte der einzige Gegenstand der Wissenschaft, mit dem der Forscher sich beschäftigen sollte, während im Marxschem Sinne die Geschichte alle Wissenschaften ernährt und bedingt, und daher die Erkenntnis der Geschichte vielmehr die Basis aller Wissenschaften, oder »Wissenschaft der Wissenschaften« ist. Die »Geschichte« bedeutet hier nichts anders als die »Gegenwart«, die nicht von Anfang an als solche fixiert gegeben ist, sondern in der Geschichte entsteht. Eine Geschichte, die von der Gegenwart losgelöst wird, ist eben wie die von der wirklichen Geschichte getrennten Abstraktionen oder ein nur in einem Verhältnis statisch stehendes Wesen - ein »Unwesen«. Die Vergangenheit der 14.Friedrich Engels, »Einleitung zu Karl Marx' >Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850< (1895)«, in MEW22, S.509. 15VÆTF21, SS.25-153. 16. Friedrich Engels, »Karl Marx«, in MEW\6, S.362. 17.AÆJF23, S.12. 18. »Unlike all the economists who had discussed society >in general«»« before him, Marx is concerned with one society only, modern capitalist society.« Lucio Colletti, From Rousseau to Lenin, N.Y./London, 1972, p.3. 19. MW23, S. 161. 20. GÄ.S.364. 2 l.Vgl. Terrell Carver, Marx and Engels, op.cit.,p.67; pp.94-95 etc. 22.MEW3, S.18.

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Geschichte wird soviel epistemologisch von der Gegenwart bestimmt wie die Gegenwart tatsächlich, von der Vergangenheit, obwohl der letzte Sachverhalt nur begriffen werden kann, nachdem die gegenwärtigen gesellschaftlichen Formationen analysiert worden sind. Aufgrund des Ausdrucks der »materialistischen Auffassung der Geschichte« kommt oft ein (Miß)Verständnis vor, wie Bernstein bemerkte, daß Marxismus eine Geschichtstheorie, eine »Übertragung des Materialismus in die Geschichtserklärung«23 sei, die einen Glauben an eine mit Notwendigkeit bald kommende proletarische Revolution anbiete. Auch auf dieser Illusion beruhte Bernsteins Kritik, daß der Marxismus »Calvinismus ohne Gott« sei, daß Marxismus den Menschen bloß als Agenten der geschichtlischen Gesetze verstanden hätte. Dieses (Miß)Verständnis herrscht seit der Zeit der Zweiten Internationale sowohl unter den Sozialisten und Sozialdemokraten als auch unter ihren Gegnern.24 So bemerkte nicht nur z.B. das klassische marxistisch-leninistische Lehrbuch: der historische Materialismus untersuche »nicht die speziellen und besonderen Gesetze..., sondern die allgemeinsten Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung«,25 sondern behandelt z.B. auch Jürgen Habermas, der »trying to be a Marx for our times«,26 den Historischen Materialismus »als Theorie der sozialen Evolution« sowie »die Theorie der kapitalistischen Entwicklung.«27 Es ist dann auch nicht erstaunlich, daß trotz ihrem Streit William Shaw und G.A.Cohen ihre Werke zugleich »(Karl) Marx's Theory of History« nannten,28 während Shaw dabei noch zugeben mußte, daß »the meaning of Marx's theory of history is unclear«, »while Marx claimed or actually believed himself to be offering a scientific theory of history«.29

Die Bedeutung der »Theorie der Geschichte« ist aber daaim unklar, weil Marx eben keine »wissenschaftliche Theorie der Geschichte« stiftete. Abgesehen von dem oben erwähnten Unterschied zwischen »historischer Theorie« und »Geschichtstheorie« ist es somit keine Überraschung, daß der dieses (Miß)Verständnis ermöglichende Ausdruck »die materialistische Auffassung der Geschichte« nicht von Marx, sondern erst 1859 eben in Engels' »Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie (Rezension)«30 hergestellt wurde.

23. E.Bernstein, Voraussetzungen..., S.32 24. Z.B. vestand Kari Kautsky die materialistische Geschichtsauffassung als die Untersuchung der Frage nach der geschichtlichen Spur: »woher es kommt, daß diese Ideen und Ideale zu verschiedenen Zeiten sehr verschieden sind... und sie [Marx und Engels] fanden, daß die letzte Ursache der Veränderungen der Ideen in den Veränderungen der Ökonomischen Bedingungen zu suchen sind«. Die materialistische Geschichtsauffassung, Berlin/Bonn, 1988, S.83. Dazu vgl. auch u.a., Predrag Vranicki, Geschichte des Marxismus, a.a.O.; Leszek Kolakowski, Die Hauptströmmungen des Marxismus, a.a.O.; Max Weber, Sozialismus, a.a.O.; Bo Gustafsson, Marxismus und Revisionismus, a.a.O. 25. Grundlagen der Marxistischen Philosophie, hrsg. von F.W. Konstantinow, Berlin, 1960, S.375 26. Anthony Giddens, »Jürgen Habermas«, in The Return of Grand Theory in the Human Sciences, Cambridge, 1985,p. 124 27. Jürgen Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt/M, 1976, S.144. 28. William H. Shaw, Marx's Theory of History, Standford, 1978, G.A.Cohen, Karl Marx's Theory of History, Oxford, 1978. 29. W.H.Shaw, a.a.O., pp. 1/2. 30.inV/£JV13,S.469.

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3. EPISTEMOLOGISCHE VS. WELTANSCHAULICHE UMSTÜLPUNG

Nach der obigen Erörterung ist zu subsumieren, daß für Marx die von Hegel abstrakt hergestellten allgemeingültigen Gesetze insofern richtig sind, als sie als die dem Realprozeß entsprechenden Darstellungen auf das Denkgebiet begrenzt werden. Und da das Denken nicht als das selbst Gebärende getäuscht werden darf, kann die Gültigkeit der Gesetze keineswegs ewig allgemein oder schon fixiert sein, sondern muß immer wieder vom jeweils erreichten Niveau der Entwicklung der empirischen Tatsachen abhängen, also immer wieder von derselben bedingt und denselben entsprechend geprüft werden. Erst nachdem sie dem Realprozeß unterzogen worden sind, erhalten sie provisorisch allgemeine Gültigkeit,31 deren Funktion darin besteht, zum »Leitfaden« der weiteren Studien zu dienen,32 ohne aber dabei als Selbstständiges über den Re al prozeß hinauszuführen. Es handelt sich also um die geschichtlich-gesellschaftlichen Konditionen, unter denen das Denken sich legitim durchsetzen darf, oder umgekehrt (und das ist nur ein anderer Ausdruck derselben Sache) um die Grenze des Denkens, über die hinaus das Denken nicht mehr dominieren darf. Das bei Hegel als Bestimmendes oder Herrschendes erscheinende Denken wird also in Marxs' Händen als Bestimmtes oder Untertan umgestülpt, und nur als Bestimmtes kann das Denken in seinen legitimen Gebiet etwas bestimmen. . Dies ist offenbar eine epistemologische Kritik: »a return to epitemology«.33 Während Hegel vesuchte, das von Kant Getrennte, wie noumenon und phaenomenon, Wesen und Erscheinungen, Erkenntnisvermögen (oder Begriff) und Sein... usw., in einem dialektischen Prozeß wiederzuvereinigen, ist der Marxsche Standpunkt trotz seinem Unterschied vom Kantischen34 vielmehr »a return to the critical, epistemological position of Kantian philosophy, a position which Hegel had denounced as a subjectivistic denial of the power of thought to grasp the true or absolute«.35 Oder wie Jindrich Zeleny aufzeigte, der Marxsche Standpunkt knüpft »an das Denkmotiv des Kantischen Transzendentalismus an«, indem er, wie vor ihm Kant, »die Gegenständlichkeit, die Wirklichkeit nicht als etwas einfach Gegebenes auffaßt, was vom Menschen unmittelbar, bloß rezeptiv angeeignet und erkannt werden kann«, sondern »nach der menschlichen Vermittlung der Wirklichkeit und Wahrheit« fragt.36 Daß der Mensch die Wirklichkeit stets vermittelt, setzt eine (Wieder)Zertrennung der von Hegel beanspruchten Wiedervereinigung in zwei unreduzierbare und daher stets aufrechtzuerhaltende Dimensionen voraus als Realprozeß einerseits, der wohl mit dem phaenomenon usw. identifiziert werden kann, und Denkprozeß andererseits, der wohl mit dem noumenon usw. Jede bloß vom Denken bekannte absolute Wahrheit, »insofern es nicht in Beziehung auf mein erkennendes Bewußtsein steht, ist uns verwehrt. Sie 31.Vgl. Ernest Mandel, »Die zukünftige Funktion des Marxismus«, in Hans SpatzeneggerfHersg.), Das verspielte »Kapital«?, Salzburg, 1991, S.171. 32AÆFH3, S.8. 33. Patrick Murray, Marx's Theory ofScientific Knowledge, op.cit., p.xvi. 34. Dieser Unterschied besteht hauptsächlich darin, daß die mögliche Kondition der Erkenntnis bei Kant individuell und subjektiv ist, während bei Marx geschichtlich-gesellschaftlich. Vgl.Jindrich Zeleny, »Zum Wissenschaftsbegriff des dialektischen Materialismus«, a.a.O., S.79f; Henri Lefebvre, Der dialektische Materialismus, Frankftirt/M, 1969, S.lOlf; Peter Seel, a.a.O. 35. Patrick Murray, op.cit., p. 117. 36. Jindrich Zeleny, »Zum Wissenschaftsbegriff des dialektischen Materialismus«, a.a.O., S.83.

UEK UN IEHSCHIED ZWISCHEN MARX' UND ENGELS' HEGELKRITIK 82

wäre Metaphysik in dem... von Kant bekämpften Sinn, d.h. sie wäre eine mißbräuch­ liche, unkritische Anwendung unseres Erkenntnisvermögen, das seiner Natur nach immer auf Bewußtseinserscheinungen bezogen bleiben muß.«37

Es fehlt aber den epistemologischen Charakter des Marxschen Gedankens eben bei der Engelschen Auffassung. Mit anderen Worten, während es sich bei Marx um Epistemologie handelt, handelt es sich bei Engels um Weltanschauung bzw. um den Standpunkt, von dem die Welt direkt angeschaut wird. Das Engelssche Thema über Hegel besteht also in der Alternative, entweder eine idealistische Weltanschauung oder eine materialistische einzunehmen, um die Welt anzuschauen, um der Geschichts­ entwicklung einen derselben innewohnenden Kausalzusammenhang auszugeben. Da aber das Anschauen als solche sowie das Aufstellen der Gesetze nicht epistemologisch selbst-reflektiert wurden, blieben bei Engels die Hegelschen dialektischen Gesetze, die zwar von ihm in Marx' Namen »umgestülpt« wurden, mit ihrem Inhalt und Stellenwert dieselben. Was dabei geändert wurde, war nicht der Charakter der Gesetze, nämlich die Umwandlung der ewig allgemeinen Gültigkeit der Gesetze in geschichtlich­ gesellschaftliche, und daher provisorisch allgemeine, sondern nur die Herkunft der Gesetze, d.h., erst wenn diese Gesetze als vom Materiellen statt vom Ideellen herkommend erklärt werden, »wird alles einfach«.38

Die Marxsche epistemologische Reflektion könnte allerdings als eine »Weltanschauung« betrachtet werden, insofern gerade von dieser Reflektion überhaupt die Rede wäre. Diese Betrachtungsweise kann sich aber nach Marx auch »nur für einen Augenblick«39 bewähren, weil eine von dem Reflektierten getrennte Reflektion, d.h. eine Reflektion über Erkenntnis oder Wissenschaft, die sich von dieser Erkenntnis oder Wissenschaft abstrahiert, und daher ihre Stelle an sich zu enthalten scheint, vielmehr eine »Abstraktion II«, oder um mit Kant zu sprechen, ein »transzendentaler Schein« ist. Just wie bei Kant die Begriffe oder Ideen keine »transzendentale Bedeutung« haben ohne deren »Gebraucht«,40'so muß die Marxsche Methode auch nur auf z.B. das Gebiet der politischen Ökonomie anwenden oder dann GEGENSTÄNDLICH erscheinen. Nur dies erklärt, warum Marx sowenig gerade über seine eigne Methode diskutierte,41 und warum, als er mal hoffte, seine eigne Methode auszuführen, 42 diese Ausführung nicht 37.Max Horkheimer, »Kant und Hegel«, in Gesammelte Schriften, Bd II, Franfurt/M, 1987, S.109. Horkheimer bezeichnete hier den Unterschied zwischen Kant und Hegel als »Epistemologie und Metaphysik«, der als rohe Form des Unterschied zwischen »kritischen und traditionellen Theorie« zu verstehen sein sollte. Die hier zitierte Beschreibung der Epistemologie bezog sich also eigentlich nicht auf Marx, obwohl für Marx auch gelten kann. Dies soll vielmehr andeuten, daß statt der Marxschen die Kantischen Theorie als ein Vorbild für kritische Theorie von Horkheimer trotz seiner Distanz zu Kant eingenommen würde: Horkheimer begriff die Marxsche Theorie nicht ausdrücklich im Kantischen Sinne, sondern vielmehr der damaligen Atmosphäre entsprechend als eine Theorie der geschichtliche Entwicklung. Vgl. derselb. »Traditionelle und kritische Theorie«, in a.a.O., Bd.4, Frankfurt/M, 1988; sowie »Marx heute« und »Kritischge Theorie gestern und heute«, in Gesellschaft im Übergang, Frankfurt/M, 1972, Axel Honneth, »Max Horkheimer and the Sociological Deficit of Critical Theory«, in S.Bebhabib u.a. (edited), On Max Horkheimer: New Perspectives, Cambridge, Massachusetts, 1993,pp.215ff.,A.Schmidt, Drei Studien über Materialismus, München, 1977, usw. 3%.Dialektik der Natur, MEW2Û, S.348. 39. MEW.EBl, S.577. 40. Vgl. Heinz Röttges, Dialektik als Grund der Kritik, Königstein/Ts., 1981. 41. Cf. Patrick Murray, op.cit, p. 109f. 42. AÆJT29, S.260.

DER UNTERSCHIED ZWISCHEN MARX' UND ENGELS' HEGELKRITIK 83

cm sich durchgesetzt werden sollte, sondern die Form einnehmen mußte, die der von Hegel mystifizierten Methode gegenüberstand: nur in der Kritik an der letzten als dem Gegenstand erscheint, die Marxsche Methode. Es ist aber eben die vom Gegenstand abstrahierte Methode, mit der Engels sich beschäftigte. Was von Marx als Kondition des Denkens begriffen wurde, verstand Engels als Beispiel für die ewig allgemeine Gültigkeit des Gesetzes der Dialektik. Was von Marx umgestülpt wurde, stülpte Engels wieder um. Während es bei Marx um »Kritik« der Hegelschen Philosophie als solche ging, modifizierte Engels diesselbe, indem er daran eine materialistische Grundlage fügte. »Sie wissen das nicht, aber sie tun es.«43 Als der auf die Praxis orientierende Bernstein »den Geist des großen Königsberger Philosophen, des Kritikers der reinen Vernunft« anrief, um aufzuzeigen, daß der Marxismus eine irreführende Ideologie sei,44 wußte er wohl auch nicht, daß er in der Tat der erste war, der versuchte, Marx aus dem Engelsschen Schatten zu befreien, der seit Marx' Tod als Gespenst im Marxismus umgeht.

Hier wird aber nicht behauptet, daß Marx und Engels ganz verschiedene Gedanken vertraten oder überhaupt keine Überschneidungen hatten, denn sonst wäre ihre langjährige Freundschaft und Zusammenarbeit überhaupt unmöglich gewesen. Zu betonen ist aber, daß als differentia specified die unterschiedlichen Eigentümlichkeiten der beiden »Begründer des Marxismus«, die in der Kritik an. Hegel ausdrücklich erscheinen, nicht zu vergessen sind, ferner, daß der notwendige Bindestrich, und daher die von demselben unterstellte »marxistische Dreieinigkeit« vielmehr aufzulösen ist.

43. MOA3, S.88. 44. E.Bernstein, Die Vorausselutigen..., S.217t'.

ZWEITER TEIL

DIALEKTIK DER KRITIK darstellung des wesens

. .

GENESIS DES KAPITAL MARX' »KRITIK« DER POLITISCHEN ÖKONOMIE DER KOMMUNISMUS ALS »IDEE«

KAPITEL V GENESIS DES »KAPITAL«

1. DER ANFANG Als »Fortsetzung« der 1859 veröffentlichten Schrift: »Zur Kritik der Politischen Ökonomie« ist Das Kapital selbst schon der Anfang der Reihefnolge, in der Marx das System der bürgerlichen Ökonomie betrachtete, und der entsprechend die geplante Einteilung von »Zur Kritik der Politischen Ökonomie« bilden sollte, nämlich: Kapital, Grundeigentum, Lohnarbeit (sie sind drei Kategorien, deren Personifikation die drei Hauptklassen der kapitalistischen Gesellschaft sind); Staat, auswärtiger Handel und Weltmarkt (sie sind, sozusagen, eine Variante der hegelianischen Entwicklung des Staats zur Weltgeschichte). Das vom Kapital handelnde erste Buch bestand aus drei Kapiteln: 1. die Ware; 2. das Geld oder die einfache Zirkulation (die ersten beiden bildeten das veröffentlichte Heft) und 3. das Kapital im allgemeinen.1 Das Kapitel 3 bzw. das nächste Heft ist indes nicht planmäßig aufgelegt worden. An seine Stelle trat vielmehr acht Jahre später das erste Buch des Kapital, in dem der Anfang der Kritik der politischen Ökonomie, nämlich »Ware und Geld«, nochmals anfing. Das Kapital wurde jetzt als sein Produktionsprozeß (I.Buch), Zirkulationsprozeß (II.Buch), Gesamtprozeß (III.Buch) sowie die Geschichte der Theorie (IV.Büch) jeweils diskutiert. Die nächsten drei Bücher konnte Marx wegen seiner Krankheit nicht selbst druckfertig machen, trotzdem verbesserte er im Drang der Schlußredaktion des zweiten Bandes immer rückwärts das erste Buch, und zur wichtigsten der solcherart von Marx' eigentümlicher aber Engels fremd vorkommender »Gründlichkeit«2 geprägten Verbesserungen zählt offenbar Abschnitt (nach der ersten Auflage) bzw. Kapitel (nach der zweiten Auflage) I - der Anfang des Kapital.

»Aller Anfang ist schwer«, gilt auch dem Kapital. Hinzufügend ergänzte Marx mit seiner Praxis: »aber doch auch wichtig«, sonst wäre es unnötig, wie die Proletarische Revolution, beständig sich selbst zu kritisieren, sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf zu unterbrechen, auf das scheinbar Vollbrachte zurückzugehen, »um es wieder von neuem anzufangen«.3 Es wäre sonst auch unnötig, nachdem die restlichen Texte schon 1. »Zur Kritik der Politischen Ökonmie, Vorwort«, MEILI 3, S.7. 2. »Die Gründlichkeit Marxens, dessen schweres Ringen mit dem Stoff, das er nicht ließ, bis er ganz bewältigt hatte, die Gewissenhatigkeit, mit der Marx alles verarbeitete, was je zuvor über den Gegenstand gedacht worden war, waren Engels fremd.« B.Nicolaevsky/O.Maenchen-Helfen, Karl Marx, Eine Biographie, Berlin/Bonn, 1975, S. 103. 3. Der achtzente Brumaire des Louis Bonaparte, MEW3,S. 118.

GENESIS DES »KAPITAL« 88

weitestmöglich popularisiert worden sind, noch die Leser des Kapital schon am Anfang abzuschrecken, seien sie die deutsche Arbeiterklasse, das ungeduldige französische Publikum4 oder irgendjemand, der »weiß, wenn er auch sonst nichts weiß, daß die Waren eine... Wertform besitzen«.5 Die Schwierigkeit des Anfangs erscheint deshalb als solche, weil »bei Analyse der ökonomischen Formen« die »Abstraktionskraft« gefordert ist.6 Diese Abstraktionskraft sollte mit der »Untersuchungsmethode« identifiziert werden, die »auf ökonomische Probleme noch nicht angewandt wurde« und [deshalb] »die Lektüre der ersten Kapitel ziemlich schwierig« macht.7 Da eben die »Methode« den Anfang so schwer - im doppelten Sinne von schwierig und gewichtig - macht, ist auch im Anfang die Ungewöhnlichkeit der Methode zu entdecken.

1. l.Der erste Blick

Als Anfang der Kritik der politischen Ökonomie fängt Das Kapital, wie oben erwähnt, mit dem Produktionsprozeß des Kapitals an, und der mit der »Ware«. Bestimmend durch die »Untersuchungsmethode« sind aber der wirkliche Anfang des Kapital die zwei Sätze: Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine »ungeheure Warensammlung«, die einzelne Ware als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware.8*

Diese Sätze lassen sich mit ihrem Vorgänger, den ersten zwei Sätze in »Zur Kritik der Politischen Ökonomie«, vergleichen:

Auf den ersten Blick erscheint der bürgerliche Reichtum als eine ungeheure Warensammlung, die einzelne Ware als sein elementarisches Dasein. Jede Ware aber stellt sich dar unter dem doppelten Gesichtspunkt von Gebrauchswert und Tauschwert? Daß sich jede Ware unter diesem doppelten Gesichtspunkt darstellt, wird im Kapital durch eine überlegtere »Analyse« ersetzt. Mit Ausnahme des Ausdrucks »auf den ersten Blick« bleibt aber der erste Hauptsatz: »Der Reichtum erscheint als eine ungeheure Warensammlumg«, fast derselbe. Ob es ausdrücklich ist oder nicht, änderte indes keineswegs, daß eben der Reichtum erst zu erblicken ist, daß eben mit dem Reichtum die Kritik anzufangen ist.

Dieser »erste Blick« ist aber, näher betrachtet, eigentlich nicht so selbstverstädlich zuerst zu werfen, weil es vielmehr natürlicher zu sein scheint, sofern sich die 4. Das Kapital,Bei. 1, MEW23, S.31. 5. A.a.O., S.62. 6. A.a.O, S.12. 7. A.a.O., S.31. 8. A.a.O., S.49. 9AÆW13.S.15.

GENESIS DES »KAPITAL« 89

Untersuchung um die Gesellschaftsformation handelt, gerade mit der zu betrachtenden Gesellschaft, mit den Mitgliedern derselben anzufangen. So begann z.B. Hobbes, der erste politische Philosoph der bürgerlichen Gesellschaft, in Leviathan mit »Man« bzw. »Thoughts of .Man«,10 Rousseau in Du Contrat social mit »L'homme«,11 Adam Smith in The Wealth of Nations mit »Division of Labour«.12 Dies scheint so natürlich zu sein, daß Marx selbst auch zugab, daß es (»auf den ersten Blick« - Marx hätte ergänzen mögen) richtig zu sein scheint,

mit dem Realen und Konkreten, der wirklichen Voraussetzung zu beginnen, also z.B. in der Ökonomie mit der Bevölkerung, die die Grundlage und das Subjekt des ganzen gesellschaftlichen Produktionsakts ist.1-’ Und sofern unter »Gesellschaft« die moderne bürgerliche Gesellschaft verstanden wird, ist deren »Bevölkerung« als »in Gesellschaft produzierende Individuen« zu verstehen. Mit der Bevölkerung anzufangen, bedeutet dann also, wie Marx im Anfang der »Einleitung« der Grundrisse aussagte, daß diese Individuen »natürlich der Ausgangspunkt« sind.14

Wie natürlich auch immer dieser Anfang scheinen könnte, brach Marx allerdings mit dem bürgerlichen Gedanken offenbar dadurch, daß er im Kapital nicht mit dem Subjekt des Produktionsakts, sondern mit dessen Objekt bzw. dessen Produkten anfing. Mit anderen Worten, er setzte in den Sozialwissenschaften, ähnlich wie Kant in der Epistemologie,15 eine »kopemikanische Wende« durch, die darin besteht, das Objekt bei Untersuchung erst in Ruhe zu lassen, und nach seiner gegenständlichen Bestimmung zu richten.

1.2. Über die »Einleitung« von 1857

Diese Wende fand aber in der »Einleitung« von 1857 noch nicht deutlich statt. Dort wurde der Anfang mit der Bevölkerung abgelehnt, nicht weil sie Subjekt ist, sondern weil sie [...] eine Abstraktion [ist], wenn ich z.B. die Klassen, aus denen sie besteht, weglasse. Diese Klassen sind wieder ein leeres Wort, wenn ich die Elemente nicht kenne, auf denen sie beruhen. Z.B. Lohnarbeit, Kapital etc. Diese unterstellten Austausch, Teilung der Arbeit, Preis etc. Kapital z.B. ohne Lohnarbeit ist nichts, ohne Wert, Geld, Preis etc.16

Der richtige Anfang einer theoretischen Konstruktion der Gesellschaft war also »die einfachsten Bestimmungen«, obwohl sie gleichzeitig der Erfolg einer Reihe von kritischen Analysen der entwickeltsten Gesellschaft sein mußte, weil nur in einer 10.Thomas Hobbes, Leviathan, London, 1985, p.85. 11 .J.J.Rousseau, Du Contrat social,'m Oeuvres politiques Paris, 1989, p.250. 12. Adam Smith, The Wealth of Nations, New York, 1937, p.3. 13. »Einleitung zu den Grundrissen«, MEW42, S.35. 14. A.a.O. S.19 15.1.Kant, Kritik der reinen Eerrnmft.B/X'VÏ. Ï6.MEW42, S.35.

GENESIS DES »KAPITAL« 90

solchen Gesellschaft die einfachsten Bestimmungen erst praktisch werden könnten. So suggerierte die »Einleitung«, daß die Einteilung »offenbar so zu machen [ist], daß 1. die allgemeinen abstrakten Bestimmungen, die daher mehr oder minder allen Gesellschafts­ formen zukommen, aber in oben auseinandergesetztem Sinn. 2. Die Kategorien, die die innere Gliederung der bürgerlichen Gesellschsft ausmachen und worauf die fundamentalen Klassen beruhen. Kapital, Lohnarbeit, Grundeigentum.«17 Also erstens die allen geschichtlich entstehenden Gesellschaftsformen, seien sie asiatische, antike, feudale oder moderne bürgerliche, zukommenden und daher allgemeinen Kategorien; und dann die spezifischen Kategorien, die just der bürgerlichen bzw. kapitalistischen Gesellschaftsform entsprechen. Diese Reihenfolge, nämlich vom Allgemeinen zum Besonderen, von allen Epochen gemeisamen Bestimmungen zu Bestimmungen einer besonderen Epoche z.B. der bürgerlichen Produktion, ist deshalb nötig, weil »sich keine Produktion ohne sie [Produktion im allgemeinen] denken lassen [wird]«.18 Nur warnte Marx, daß die allen Produktionsstufen gemeinsamen Bestimmungen, »die von Denken als allgemeine fixiert werden«, nichts sind als »diese abstrakten Momente, mit denen keine wirkliche geschichtliche Produktionsstufe begriffen ist«.19 So kann eine wirkliche geschichtliche Produktionsstufe, z.B. die kapitalistische Produktionsweise nicht ver­ standen werden, wenn sie nur als die Produktion, wobei das Kapital z.B. nicht als eine »gesonderte« Form des Produktionsinstruments, sondern nur als das Produktions­ instrument begriffen wird, das alle Produktion ermöglicht, und daher für alle Produktion gilt. Umgekehrt ist es aber auch »lächerlich«, von einer allgemeinen Bestimmung der Produktion, z.B. Aneignen der Natur, »einen Sprung auf eine bestimmte Form des Eigentums, z.B. des Privateigentums, zu machen.«20 Als Ausgangspunkt, sofem der Gegenstand die Produktion im allgemeinen ist, ist also das Individuum in diesem Sinne nur eine »Täuschung«, »nur der ästhetische Schein der kleinen und großen Robinsonaden«, weil das Individuum nicht »Ausgangspunkt der Geschichte« ist, sondern eben das Produkt einer wirklichen geschichtlichen Epoche, nämlich »einerseits der Auflösung der feudalen Gesellschaftsformen, andererseits der seitdem 16. Jahrhundert neuentwickelten Produktionskräfte«.21 Abgesehen davon, daß Marx vor de Verwirrung des Allgemeinen mit dem Besonderen, oder dem »Schein der Robinsonaden« warnte, welche zehn Jahre später im Kapital als »Fetischismus« überlegener angedeutet wurden, handelt es sich in der »Einleitung« jedoch nicht (wie im Kapital) um die besonderen Bestimmungen der kapitalistischen Produktionsweise, sondern um die vom Denken als allgemein fixierten Bestimmungen wie »Produktion im allgemeinen«, »das allgemeine Verhältnis der Produktion zu Distribution, Austausch, Konsumtion«... usw. Unter diesen Kategorien ist der allgemeinen Betrachtung nach die Produktion die herrschende, weil sie »sowohl über sich in der gegensätzlichen Bestimmung der Produktion, als über die anderen Momente« übergreift.22 Und innerhalb der herrschenden Produktion, ist, näher betrachtet, in allen Gesellschaftsformen noch »eine bestimmte Produktion, die allen

17. A.a.O.,S.42 18. A.a.O.,S.21 19. A.a.O.,S.24 20. A.a.O.,S.23 21 A.a.O.,S.19 22.A.a.O.,S.34

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übrigen und deren Verhältnisse daher auch allen übrigen Rann und Einflüß anweist.«23 In den antiken und feudalen Gesellschaftsformen herrscht z.B. der festsitzende Ackerbau vor, während in der bürgerlichen das Kapital die »alles beherrschende ökonomische Macht der bürgerlichen Gesellschaft« ist.24 Es wird also gesehen, daß bei Untersuchung der kapitalistischen Gesellschaftsform deshalb mit dem Kapital anzufangen ist, weil 1. die Produktion im allgemeinen die anderen Kategorien beherrscht, 2. das Kapital anweisend ist, in der bürgerlichen Gesellschaftsform im besonderen. Dieselbe Reihenfolge durchdringt dann auch die Marxsche Untersuchung des Kapitals, die eben mit dem /’rot/utoonsprozeß des Kapitals anfängt, der sowohl den Zirkulationsprozeß als auch die Bewegung des Kapitals beherrscht.

1.3. Zum neuen Anfang

Durch die allgemeinen Bestimmungen wird zwar erklärt, warum die Ökonomie bzw. die Betrachtung irgendeiner Gesellschaftsform mit der Produktion, die Unter­ suchung der bürgerlichen Gesellschaftsform mit dem Kapital, und die Analyse des Kapitals mit seinem Produktionsprozeß anzufangen sind, aber bisher bleibt es noch unklar, warum der bestimmte Anfang des Kapital gerade der Reichtum bzw. die Ware ist. ■ Um das Kapital zu verstehen, »bedarf es nicht des Rückblicks auf die Entstehungsgeschichte des Kapitals«,25 aber doch auf die »Genesis« desselben, nämlich seine »erste Erscheinungsform«: das Geld. Der Unterschied zwischen »Entstehung« und »Genesis« besteht darin, daß jene eine Reihenfolge nach der natürlichen Zeit (oder »ideological conception of historical time« in Althussers Sinne) darstellt, während diese eine der natürlichen Zeit nicht unbedingt entsprechende theoretische Reihenfolge (oder »invisible time«26) ist, in der die Elemente eine Konstruktion bilden, indem sie einander voraussetzen. Sofern es um das Geld geht, weist Marx das nach, »was von der bürgerlichen Ökonomie nicht einmal versucht ward, nämlich die Genesis diser Geldform.«27 Als Ausdruck der Wertgröße, nämlich die allgemeine Äquivalentform, kann aber das Geld wieder nicht verstanden werden, ohne vorher den Wert zu begreifen. Der Wert ist die in Gegenstand materialisierte Arbeit. Dies wurde zwar von z.B. Ricardo unzulänglich angedeutet, Marx aber ist der erste, der den Unterschied zwischen »abstrakt menschlicher Arbeit« und »konkreter nützlicher Arbeit«, daher den Unterschied zwischen »(Tausch)Wert« und »Gebrauchswert« kritisch nachgewiesen hat.

Alle Arbeit ist einerseits Verausgabung menschlicher Arbeitskraft im physiologischen Sinn, und in dieser Eigenschaft gleicher menschlicher oder abstrakt menschlicher Arbeit bildet sie den Warenwert. Alle Arbeit ist andrerseits 23. A.a.O.,S.40. 24. A.a.O.,S.41. 25jW£ÏP23,S.161. Vgl.auch, GRS.364. 26. L. Althusser und E.Balibar, Reading Capital, London, 1970, p.96; 101. 27.MEJf23,S.62.

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Verausgabung menschlicher Arbeitskraft in besondrer zweckbestimmter Form, und in dieser Eingenschaft konkreter nützlicher Arbeit produziert sie Gebrauchswerte.28 Um das Kapital zu verstehen, muß man vorher das Geld verstehen; und um das Geld zu verstehen, den Wert. Da jetzt schon expliziert wird, daß der Wert die Gallerte abstrakt menschlicher Arbeit ist, und diese auch von Marx als »Springpunkt«, »um den sich das Verständnis der politischen Ökonomie dreht«,29 identifiziert wird, soll es nicht schon eine ausreichende Entwicklung bilden, daß die abstrakt menschliche Arbeit zum Wert, Wert zum Geld, und dann endlich Geld zum Kapital werden? Wäre es tubar, hätte Marx mit der abstrakt menschlichen Arbeit angefangen.

Wert ist Verausgabung menschlicher Arbeitskraft, umgekehrt gilt dies aber nicht. Alle produktiven Tätigkeiten, mögen sie in irgendeiner geschichtlichen Epoche statt­ finden, sind stets Verausgabung von menschlichem Him, Nerv, Muskel, Sinnesorgan... usw., die aber nicht unbedingt Wert bildet. Sie bildet Wert vielmehr nur in einer bestimmten, nämlich der kapitalistischen Gesellschaftsform, deren spezifischer Charakter in »voneinander unabhängig betriebenen Privatarbeiten«30 besteht. Als Privatproduzenten verhalten die Glieder einer solchen Gesellschaft zueinander nicht sich als unmittelbare Menschen, sondern lediglich als Warenbesitzer, das heißt, außer Austausch ihrer Arbeitsprodukte als Waren gibt es unter ihnen kein gesellschaftliches Verhältnis. Und »das einzige Band, das sie zusammenhält, ist die Naturnotwendigkeit, das Bedürfnis, die Konservation ihres Eigentums und ihrer egoistischen Person«,31 kurz, »die Freiheit des Menschen als isolierter auf sich zurückgezogener Monade«.32 Daraus, daß die Menschen voneinander unabhängig sind und sich isolieren, die Waren dagegen miteinander im Austauschverhältnis stehen, springen vielfältige Illusionen vor, als ob der Austausch der Waren erst durch ein gleichgültiges Element ermöglicht würde, das mit allem anderen zu tun haben mag als mit dem Menschlichen.

Da aber in der kapitalistischen Gesellschaftsform der den Austausch der Waren ermöglichende Wert (obwohl er eigentlich nichts als Gallerte abstrakt menschlicher Arbeit ist) stets mit dem von Menschen unabhängen scheinenden Warenkörper verwächst, erscheint der gesellschaftliche Charakter auch nur innerhalb des Austausch­ verhältnisses. Um die kapitalistische Gesellschaftsform zu untersuchen, ist also erst »die phantasmagorische Form eines Verhältnises von Dingen« zu untersuchen, die »das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst«33 annimmt. Folglich ist es auch nötig, um die Genesis des Kapitals (als »vergangener, objektivierter Arbeit«) anzudeuten, zwischen der Arbeit und dem Wert einen Umweg anzunehmen, namentlich die Ware dazwischen einzufügen, eine oben genannte »Wende« durchzuführen. Die Arbeit wird jetzt nicht gerade als Ausgangspunkt, sondern erst auf den Wert richtend bzw. von dem bestimmend34 als Erzeugerin des Gebrauchswerts und Substanz des 28. A.a.O.,S.61. 29. A.a.O.,S.56. 30. A.a.O.,S.87. 31 .»Zur Judenfrage«, AÆTP1, S.366. 32. A.a.O. S.364. 33.MEW23, S.86. 34. »wenn die Ware das Doppelte von Gebrauchswert und Tauschwert, auch die in der Ware dargestellte Arbeit Doppelcharakter besitzen muß.« Karl Marx, Brief an Engels vom 8.Jan. 1886. in MEW32, S.ll.

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Werts dargestellt, und das »Zwieschlächtige« des Werts wird nicht in der Luft, sondern als in der Ware erscheinendes betrachtet, und daher erst durch Analyse der Ware ersichtlich: mit der fängt also Das Kapital an. Mit der Ware, deren Sammlung die Erscheinungsform des Reichtums der kapita­ listischen Gesellschaft ist, anzufangen, impliziert also schon

1. eine Beschreibung der kapitalistischen Gesellschaftsform. Da die Verhältnisse der Menschen in der kapitalistischen Geselschaftsform nur in den Verhältnissen der Produkte als Waren erscheinen, ist die Beschreibung der Ware nichts als die der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse der Menschen. Als Gesamtprodukt einer Gesellschaft ist der Reichtum, wie die Produktion im allgemeinen, eine Abstraktion, ohne die kein Produkt gedacht werden kann. Er muß also durch seine Erscheinungsform in einer bestimmten geschichtlichen Epoche begriffen werden. Und statt einer Totalität der Produkte ist eine Waxensammlring die Erscheinungsform des Reichtums in den kapitalistischen Gesellschaften - statt der Gesellschaft. »Sammlung« unterscheidet sich von »Totalität« dadurch, daß unter ihren qualitativ voneinander verschiedenen Mitgliedern statt organischen nur mechanische Beziehungen bestehen.35 Diese Sammlung ist eine »Warenwelt«, deren Mitglieder »Bürger dieser Welt«36, also die Individuen, die »Einzelnen«: die einzelne Ware sind, und daher das »elementarische Dasein« enthalten. »In gewisser Art geht's dem Menschen wie der Ware«.37 Und in dieser Warenwelt spiegelt sich vielmehr die kapitalistische Menschenwelt, in der die Menschen »als unabhängige Privatpersonen zugleich in einem gesellschaftlichen Zusammenhang stehen«.38 Eine Welt, ist noch zu bermerken, die nicht durch Verbindung der Menschen, sondern durch Trennung derselben gebildet wird, kann an sich auch keineswegs eine Totalität, sondern viele Gesellschaften, oder am besten eine Gesellschaftensammlung, bilden. 2. eine Kritik der kapitalistischen Gesellschaftsform. Diese Beschreibung ist zugleich eine Kritik, die nicht im moralischen Vorwurf besteht, sondern darin, die Warenwelt in die Menschenwelt aufzulösen. Mit anderen Worten, die Ware kann als von den Menschen unabhängige, und daher den Menschen als eine herrschende Kraft scheinen, nur weil die Menschen als unabhängige Produzenten voneinander getrennt sind. Der äußere Gegensatz zwischen Waren und Menschen ist eine Erscheinung des inneren Gegensatzes zwischen Menschen. Warenfetischismus ist also, just wie die »sich ein selbständiges Reich in den Wolken« fixierende religiöse Welt, nichts als Selbstentfremdung der Menschen, aber auch nicht des Menschen oder des menschlichen Wesens als »inneren, stummen, die vielen Individuen natürlich verbindenden Allgemeinheit«, sondern der »Selbstzerrissenheit

35. Dieser Unterschied befindet sich auch in z.B. Rousseaus Unterscheidung zwischen volonté général und volonté de tous. Vgl. Du contrast social, insbes. Chap.3, in Oeuvres politiques, Paris, 1989. 36. MEW2.3, S.77. 3T.MEW23, S.67. 38.K.Marx, Grundrisse, Berlin, 1953,S.909.

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und Sichselbstwidersprechen« der menschlichen Welt bzw. der kapitalistischen Gesellschaft.39 So sagte Marx:

Da sie [die Individuen] weder subsumiert sind unter ein naturwüchsiges Gemeinwesen, noch andererseits als bewußt Gemeinschaftliche das Gemeinwesen unter sich subsumieren, muß es [gesellschaftliches Dasein] ihnen als den unabhängigen Subjekten gegenüber als ein ebenfalls unabhängiges, äußerliches, zufälliges Sachliches ihnen gegenüber existieren.40 Daß die von den Menschen unabhängige Warenwelt nur eine Projektion der selbstzerissenen Menschenwelt ist, ist aber kein geschichtlich unentbehrliches Schicksal, sondern Produkt einer bestimmten Epoche im Flusse der geschichtlichen Entwicklung. Es wird verschwinden, sobald die Produktionsweise geändert wird. Kritik des Fetischismus weist also nicht nur auf seine geschichtliche Bedingtheit, sondern auch auf seine Negation. In diesem Sinne ist Kritik revolutionär: sie erklärt nicht nur das »Woher«, weist aber auch hin auf das »Wohin«: den Kommunismus.

3. die Methode. Mit der Ware anzufangen, ist der Anfang des Aufsteigens vom enizelnen zum allgemeinen, um die Marx seine Leser bat. Als er 1859 das erste Heft von Zur Kritik der Politischen Ökonomie veröffentlichte, wurde die zwei Jahre vorher von allgemeinen Bestimmungen handelne »Einleitung« deshalb von Marx selbst unterdrückt, weil ihm »bei näherem Nachdenken jede Vorwegnahme erst zu beweisender Resultate störend scheint, und der Leser, der mir überhaupt folgen will, sich entscheiden muß, von dem einzelnen zum allgemeinen aufzusteigen.«41 Das »allgemeine Resultat« vorwegzunehmen, scheint deshalb störend, weil es ein Mißverständnis verursachen würde, als ob »das Reale als Resultat des sich in sich zusammenfassenden, in sich vertiefenden und aus sich selbst sich bewegenden Denkens zu fassen« wäre,42 als ob das Allgemeine sein eigenes Dasein hätte und es »ein Rezept oder Schema« geben könnte, »wonach die geschichtlichen Epochen zurechtgestutzt werden können«, während seine eigentliche Funktion darin besteht, »die Ordnung des geschichtlichen Materials zu erleichtern«,43 den Studien »zum Leitfaden« zu dienen.44 Um dies Mißverständnis zu vermeiden, dient die Ware jetzt als das Einzelne oder die Erscheinung, worin das Allgemeine erscheint. Durch die Erscheinung das Erscheinende als Wesen herauszufinden, heißt Kritik. Je tiefer diese Kritik sich durchsetzt, desto mehr ist sie imstande, das »Woher« zu erklären, nämlich »wie, warum, wodurch« das Wesen zur Erscheinung wird. So z.B., wenn durch Kritik der Ware jene in dieser dargestellte abstrakt menschliche Arbeit herausfindet werden kann, so kann aus dieser Arbeit die Wertform, die Geldform sowie der Warenfetischismus entwickelt werden. Diese Entwicklung heißt Dialektik. Obwohl diese dialektische Entwicklung der »Einleitung« nach »die wissenschaftlich richtig Methode« ist, beweist der Anfang des Kapital, daß diese Entwicklung zugleich eine Kritik voraussetzen muß. 39. »Thesen über Feuerbach«, MEW3, S.6. 40. K.Marx, Grundrisse, Berlin, 1953,S.909. 41A/W13,S.7. 42.»Einleitung«, AÆ'JF42,S.35. A3MEW3, S.27. 44.M£JF13,S.8.

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1.4. Die erste Fragestellung

Daß die • Privatproduzenten voneinander unabhängig Ware produzieren, charakterisiert die kapitalistische Gesellschaftsform. Der gesellschaftliche Charakter ihrer Produktion wird durch den gesellschaftlichen Charakter der miteinander austauschbaren Waren ersetzt oder verborgen. Da aber die gesellschaftliche Produktionskraft sich so entwickelt, daß sie sich nicht mehr mit ihrer kapitalistischen Hülle vertragen kann, und daher den »Durchgangspunkt zur Rück Verwandlung des Kapitals in [Gesellschafts]Eigentum der [assoziierten] Produzenten«45 ersehbar macht, ist der gesellschaftliche Charakter der Produktion zum Vorschein zu bringen. Da dieser im Kapitalismus durch das Austauschverhältnis der Waren verborgen ist, ist dies Verhältnis erst zu erfragen, nämlich die in ihm vergegenständlichte menschliche Arbeit als notwendige Verbindung zu zeigen. Die erste Fragestellung lautet also: »wie ist ein der Ware immanenter (Tausch)Wert möglich?« Denn, wenn unter den Waren als Entäußerung menschlicher Arbeit keine notwendige Grundlage bewiesen werden kann, die den Austausch ermöglicht, dann ist die sich in Waren entäußerte Arbeit auch nicht als gemeinsame anzuerkennen. Eben darin besteht »einer der Grundmängel der klassischen politischen Ökonomie«, daß »sie die Wertform als etwas Gleichgültiges oder der Natur der Ware selbst Äußerliches« behandelt.46 Die Wertform übersehend scheint also den »in den Verhältnissen der Waren­ produktion Befangenen« der Tauschwert »etwas Zufälliges und rein Relatives«. »Ein innerlicher, immanenter Tauschwert (valeur intrinsèque) scheint daher eine contradicto in adjecto«.47 Eine »contradicto in adjecto« heißt, daß, da der Tauschwert als ein quantitatives, zufälliges und relatives Verhältnis, »das beständig mit Zeit und Ort wechselt«,48 zwischen zwei einander äußerlich gegenüberstehenden Waren scheint, es eigentlich keinen der Ware innewohnenden, als deren Wesen geltenden Tauschwert geben könne, kurz, »nichts [...] einen inneren Tauschwert haben [kann]«.49 Diese Ansicht kann als »Skeptizismus des Werts« genannt werden, und durch ihn werden die Gegensätze sowie zwischen Waren und Menschen als auch zwischen den Menschen bewahrt. Diese Sache ist aber näher zu betrachten.50 Das heißt, der »Skeptizismus des Werts« ist nicht einfach als die Wahrheit zu akzeptieren, sondern vielmehr erst zu bezweifeln. Ob ein der Ware innerlicher, immanenter Tauschwert wirklich wie sein Schein eine »contradicto in adjecto« ist bzw. unmöglich ist, bedarf noch einer behutsamen Überprüfung. Eine solche Überprüfung wird insofern eingesetzt, als die Frage erst gestellt wird: »gibt es einen immanenten Wert, dann wie ist er möglich?« Um dies zu beantworten, übt Marx eine Kritik auf das Austauschverhältnis aus. Austauschen zweier Waren ist nur deshalb möglich, weil sie gleich einem Dritten sind, »das an und für sich weder das eine noch das andere ist«.51 Dies Dritte als die 45AÆPP25, S.453. 46jW£'if'23, S.95(N). 47. A.a.O., SS.50-51. 48. A.a.O., S.50. 49. A.a.O., S.5l(N). 50. A.a.O„ S.5I. 51. Ebd.

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Einheit, auf dieselbe die zwei Waren reduziert werden, kann nicht irgendeine der natürlichen Eigenschaften- der Waren sein, durch die irgendeine Art menschlicher Bedürfnisse befriedigt wird, weil die natürlichen Eigenschaften ihrer Natur nach qualitativ voneinander unterschiedlich, daher inkommensurabel sind. Wird aber von allen natürlichen Eigenschaften abstrahiert, bleibt dem Warenkörper doch noch eine Eigenschaft, »die von Arbeitsprodukten«,52 weil die Ware zuerst das Produkt ist, das dadurch produziert wird, daß die Menschen »die Formen der Stoffe ändern«.53 Ein Arbeitsprodukt als solches, dessen alle die menschlichen Bedürfnisse befriedigenden natürlichen Eigenschaften schon abstrahiert werden, kann dann nur die Arbeit sein, und auch nicht irgendeine Art von Arbeit, die noch eine bestimmte Form enthält, daher von anderen unterschieden werden kann, sondern die gleiche menschliche Arbeit, »abstrakt menschliche Arbeit«.54 Das Arbeitsprodukt als solches ist also nichts als »eine bloße Gallerte unterschiedloser menschlicher Arbeit«, und »als Kristalle dieser ihnen [den Produkten] gemeinschaftlichen gesellschaftlichen Substanz« ist es Wert.55 Es kann daher gesagt werden, daß »em Gebrauchswert oder Gut [...] also nur einen Wert« bzw. einen inneren Tauschwert hat, »weil abstrakt menschliche Arbeit in ihm vergegenständlicht oder materialisiert ist.«56 Als Wert ist die abstrakt menschliche Arbeit zwar die »Substanz« der Ware, die ein Produkt zur Ware macht, wird aber nicht einfach von Anfang an gedeutet, weil »im geraden Gegenteil zur sinnlich groben Gegenständlichkeit der Warenkörper [...] kein Atom Naturstoff in ihre Wertgegenständlichkeit ein[geht]. Man mag daher eine einzelne Ware drehen und wenden, wie man will, sie bleibt unfaßbar als Wertding.«57 Als eine einfache Kategorie kann der Wert vielmehr erst begriffen werden, nachdem der Austausch, der durch den Wert ermöglicht wird, sich schon hinreichend entwickelt hat. • Wo die Arbeitsprodukte nur zufällig und gelegentlich ausgetauscht werden, kommt lediglich praktisch die einfache Wertform vor: x Ware A = y Ware B.58 Diese Form ist zwar »der Keim der Geldform«,59 wird aber nicht gewußt, sondern nur getan.60 Wo aber »ein Arbeitsprodukt, Vieh z.B., nicht mehr ausnahmsweise, sondern schon gewohn­ heitsmäßig mit verschiedenen anderen Ware ausgetauscht wird«,61 kommt zuerst tatsächlich die entfaltete Wertform vor: z Ware A = u Ware B oder = v Ware C oder = w Ware D oder = x Ware E oder - etc. Und »sobald der Austausch bereits hinreichende Ausdehnung und Wichtigkeit gewonnen hat, damit nützliche Dinge für den Austausch produziert werden«, dann bestätigt sich erst die »Spaltung des Arbeitsprodukts in nützliches Ding und Wertding«.62 Das heißt, von hier ab wird die Wertform als Geldform vom jedermann gewußt, »wenn er auch sonst nichts weiß«, daher bildet sie den Ausgangspunkt der kritischen Forschung.

52. A.a.O., 53. A.a.O., 54. Ebd. 55. A.a.O., 56. A.a.O., 57. A.a.O„ 58. A.a.O., 59. A.a.O., 60. A.a.O., 61. A.a.O., 62. A.a.O.,

S.52. S.57.

S.52. S.53. S.62. S.80. S.85. S.88. »Sie wissen das nicht, aber sie tun es.« S.80. S.87.

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Daß die gleiche, unterschiedlose, abstrakt menschliche Arbeit die gemeinschaftliche gesellschaftliche Substanz der Produkte bildet und daher die Produkte zur Ware, die Ware zum Geld, das Geld zum Kapital macht, bedeutet, daß es in der Warenwelt doch eine allgemein gültige - also notwendige - Verbindung gibt, die aber nicht in irgeneiner sachlichen Eigenschaft besteht, sondern nichts als das Menschliche ist. Das »Werden« bzw. die dialektische Entwicklung der abstrakt menschlichen Arbeit zum Wert, des Wertes zum Geld... usw. ist aber durch Kritik erst zu erkennen, nachdem das Kapital schon die gesamte gesellschaftliche Produktion beherrscht hat. Die Entwicklung des Kapitals, mit anderen Worten, bietet die Möglichkeit an, das die Ware notwendig Verbindende zu sehen. Und da dies nichts als Menschliches ist, kann es natürlich auch die Menschen selbst verbinden, sobald sie nicht mehr vermittels der Ware erst im Kontakt zu treten brauchen, sobald sie nicht mehr Ware produzieren, sondern gerade Produkte, die ihre Bedürfnisse befriedigen. Durch Beantworten der Frage: »wie ist ein der Ware immanenter (Tausch)Wert möglich?« deutet Marx nicht nur das an, was die Substanz der Ware bildet, daher den Kapitalismus ermöglicht, sondern zugleich auch das, was ein »Verein freier Menschen« erst voraussetzen muß.

2. ARBEIT UND IHR GEGENSTAND Die in den Waren materialisierte abstrakt menschliche Arbeit bildet den Wert. Diese ist aber keine von der nützlichen Arbeit, der Erzeugerin des Gebrauchswerts, unabhängige Arbeit anderer Art. Obwohl Marx die »in der Ware dargestellte Arbeit« als eine »Zwieschlächtige« bzw. »Doppelcharakter« besitzende bezeichnete, bedeutet das nicht, daß die Arbeit als zwei substantielle Teile zu trennen ist, sondern vielmehr dieselbe Arbeit mit zwei Aspekten.63 So ist »alle Arbeit« »einerseits Verausgabung menschlicher Arbeitskraft im physiologischen Sinn« und zugleich »andrerseits Verausgabung menschlicher Arbeitskraft in besondrer zweckbestimmter Form«.64 Diese zwei Seiten sind nur zwei Eigenschaften der Arbeit, indem sie respektiv betrachtet werden, nämlich formal und materiell: während materiell betrachtet die Arbeit nützliche Arbeit ist, ist sie formal betrachtet abstrakt menschliche Arbeit. Nützliche Arbeit wie Schneiderei und Weberei kann sinnlich begriffen werden, während als bloß »eine Verausgabung menschlicher Arbeitskraft« die produktive Tätigkeit nur erkannt werden kann, wenn man von ihrer »Bestimmheit« daher »vom nützlichen Charakter der Arbeit« absieht.65 Diese respektive Betrachtung ist nicht nur auf einzelne Arbeit anzuwenden, sondern auch auf geschichtliche Entwicklung. Nämlich, die von allen sinnlich ergreifbaren Eigenschaften abstrahierte und daher keine bestimmte Gestalt annehmende Arbeit ist als eine allgemeine Form allen geschichtlichen Epochen gemeinsam, während dieselbe abstrakt menschliche Arbeit in verschiedenen 63. Engels: »Die englische Sprache hat den Vorzug, zwei verschiedne Worte für diese zwei verschiédnen Aspekte der Arbeit zu haben. Die Arbeit, die Gebrauchswerte schafft und qualitativ bestimmt ist, heißt work...; die Arbeit, die Wert schafft und quantitativ gemessen wird, heißt labour...«, in MEW23, SS. 61-62(N) (Herv.SHS). Und als germanisches Wort drückt »work« »die unmittelbare Sache« aus, als romanisches Wort »labour« dagegen »die reflektierte Sache«, S.50(N). 64. A.a.O., S.61. 65. A.a.O., S.58

GENESIS DES »KAPITAL« 98

geschichtlichen Epochen verschiedene Gestalten annimmt, und daher als verschiedne Arten nützlicher Arbeit auftritt, die stets mit der jeweiligen Entwicklungsstufe ihre eigne Stelle in einem bestimmten Gesellschaftsverhältnis wechselt, wie z.B. der Ackerbau in der antiken Gesellschaftsform die herrschende Macht ist, während in der kapitalistischen eine sekundäre. Die formale und materielle Betrachtung sind also parallel zu Form der Zeit und des Raums (Kant), dynamischen und statischen (Comte), oder diachronischen und synchronischen (Saussure). Da Material und Form zwei nicht mehr zu reduzierende Dimensionen irgendeiner Betrachtung bilden, dürfen die beiden Seiten der Arbeit nicht durcheinander ersetzt werden. Oder mit anderen Worten, obwohl alle nützliche Arbeit gleichzeitig abstrakt menschliche Arbeit ist, ist nie irgendeine Art nützlicher Arbeit als abstrakt menschliche Arbeit überhaupt zu identifizieren. Ist ihre Unidentifizierbarkeit vergessen, gelingt dann z.B. »die ganze Weisheit der modernen Ökonomen, die die Ewigkeit und Harmonie der bestehenden sozialen Verhältnisse beweisen«.66 Da die Ware die Vergegenständlichung der Arbeit ist, ist die Ware parallel zum Doppelcharakter der Arbeit auch zwieschlächtig. Sie ist zunächst Gebrauchswert, der von der nützlichen Arbeit erzeugt wird, durch seine sinnlich groben Eigenschaften menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art befriedigt, und daher den ständigen »stofflichen Inhalt des Reichtums«67 bildet, welche Erscheinungsform er auch immer annehmen würde. Dann ist sie Wert, der eigentlich nichts anders als die bloße Verausgabung der abstrakt menschlichen Arbeit ist und sinnlich unfaßbar bleibt, weil in ihn kein Atom Naturstoff eingeht. Ob die Ware als diese oder als jene Eigenschaft erscheint, hängt aber nicht von derselben ab, sondern von der Betrachtungsweise', es sind nicht zwei unabhängige Substanzen oder »Monaden ohne Fenster« in derselben Ware, sondern dieselbe Ware mit zwei Aspekten.68 Nämlich, materiel betrachtet ist die Ware Gebrauchswert, »sieht man nun vom Gebrauchswert der Warenkörper ab«, d.h. formal betrachtend, »so bleibt ihnen nur noch eine Eigenschaft, die von Arbeits­ produkten.«69 '

Bei Beziehungen der Arbeit zur Ware als ihrem Gegenstand geht es also um die Beziehung zwischen 1 .dem Wert und dem Gebrauchswert; 2. der abstrakt menschlichen Arbeit und der nützlichen Arbeit; 3. der Arbeit und der Waren(körper) als ihrem Gegenstand überhaupt.

66.»Einleitung zu den Grundrissen«, AÆTF42, S.21. 6TMEW23, S.50. 68. »Im 17.Jahrhundert finden wir noch häufig bei englichen Schriftstellern >Worth< für Gebrauchswert und >Value< für Tauschwert, ganz im Geist einer Sprache, die es liebt, die unmittelbare Sache germanisch und die reflektierte Sache romantisch auszudrücken.« A.a.O., S.50(N). Obwohl die beiden Wörter dieselbe Bedeutung haben, drückt das deutsche »Wertsein« doch minder schlagend »als das romanische Zeitwort valere, valer, valoir, daß die Gleichsetzung der Ware B mit der Ware A der eigne Wertausdruck der Ware A ist«. A.a.O., S.67. Es geht also offenbar nicht um die Sachen als solche, sondern um sprachlichen Ausdruck. 69. A.a.O., S.52.(Herv.SHS)

GENES/S DES »KAPITAL« WO

Der Wert ist nichts als »das Residuum der Arbeitsprodukte«, eine »bloße Gallerte unterschiedloser menschlicher Arbeit«, »Kristalle« dieser »gesellschaftlichen Substanz«.79 Er kann erkannt werden, indem »wir [...] in der Tat vom Tauschwert oder Austauschverhältnis der Ware ausfgehen]«,80 das heißt, nachdem alle körperlichen Eigenschaften durch Analyse von Warenkörper abstrahiert worden sind, also vom Besonderen auf das Allgemeine aufgestiegen worden ist. Abstrahierend von allen Eigenschaften ist der Wert bloß eine Gegenständlichkeit, die trotz ihrer wirklichen Existenz »in diesen Dingen selbst« an sich »unsichtbar«81 bzw. (sinnlich) »unfaßbar«82 ist. Als unsichtbares und (daher) unfaßbares Dasein kann die Wertgegenständlichkeit also von z.B. Böhm-Bawerk als ein »scholastisch­ theologisches« Produkt83, von Bernstein als »wissenschaftliche Hypothese« oder »Abstraktion«84 kritisiert werden, sowie aber von Marx selbst mit den mystisch-religiös gefärbten Ausdrücken wie »Wertseele«85 oder »gespenstige Gegenständlichkeit«86 beschrieben werden - dieses letzte Adjektiv soll an das Manifest der kommunistischen Partei erinnern, wo der Kommunismus eben als »Gespenst« schon im ersten Satz bezeichnet wurde.87*

Ohne daß er ausgedrückt wird, bleibt also der Wert unsichtbar, unfaßbar, und ist daher für die Menschen nichts. Um sich auszudrücken, muß der Wert, der durch Analyse seiner Erscheinungsform erst erkannt wird, »jetzt zu dieser Erscheinungsform des Wertes 'iirückkehrenuf* um einen körperlichen »Träger« als seine »zugeknöpfte Erscheinung«89 zu gewinnen. Mit anderen Worten, nachdem vom Austauschverhältnis als dem einzelnen zum Wert als dem allgemeinen aufgestiegen worden ist, ist jetzt vom allgemeinen umgekehrt zum einzelnen zurückzukehren: ein ähnliches hin-und-zurückVerfahren wie es in Platons »Höhlengleichnis«: der Entfesselte gehe zum Licht der Sonne, sähe richtig, müßte aber doch in die Höhle hinuntersteigen, um den Anderen die Wahrheit mitzuteilen.90

79.A.a.O., S.52. 80. A.a.O. S.62. 81. »Der Wert von Eisen, Leinwand, Weizen usw. existiert, obgleich unsichtbar, in diesen Dingen selbst«, A.a.O., S.110. Danach ist z.B. Solange Mercier-Josas scheinbar radikale Behauptung: »Die Waren haben keinen inneren Tauschwert. Der Wert ist kein Ding an sich, die Ware ist nicht substantiell; dies zu glauben, heißt Fetischismus.« {Übergänge von Hegel zu Marx, Köln, 1989, S.23) offenbar falsch, obwohl die Existenz des innerlichen (Tausch)Wertes dadurch bedingt werden muß, daß er eigentlich nur den Warenproduktion Befangenen nach als Wert existiert, während den von Warenproduktion sich Befreienden nach als bloße Verausgabung abstrakt menschlicher Arbeit. Daß der Wert nicht wie Warenpörper sinnlich zu fassen ist, daß er keine ewige Erscheinungsform der abstrakt menschlichen Arbeit ist, bedeutet nicht, daß es ihn nicht gibt. Fetischismus besteht, wie im nächsten Abschnitt erörtert wird, nicht darin, den Wert als der Ware innwohnendes Ding an sich zu begreifen, sondern darin, dies Ding an sich nicht epitemologisch zu reflektieren. 82. AÆ1T23,S.62. 83. E.Böhm-Bawerk, Zum Abschluß des Marxschen Systems, Wien, 1896, S.152. '84.E. Bernstein, Voraussetzungen..., SS.66.68. 85.M£JP23,S.66. 86. A.a.O.,S.52. 87jWEPF4, S.461. 88AÆ1P23, S.62.(Herv,SHS) 89. A.a.O.,S.66. 90. Platon, Politeia,VH,514-17.

GENESIS DES »KAPITAL« 99

2.1. Wert und Gebrauchswert

Die Ware ist zuerst ein Produkt, und ein Produkt ist zuerst »ein äußerer Gegenstand«.70 Ein abstrakt genommener, »in der Trennung vom Menschen« fixierter und daher den Menschen gleichgültig gegenüberstehender Gegenstand ist aber »für den Menschen nichts«.71 Er wird vielmehr nur vorgebracht, sofern er ein für die Menschen benutzbarer Gegenstand ist, ein durch seine Eigenschaften die »menschlichen Bedürfnisse irgendeiner Art« befriedigendes »nützliches Ding«, ein Gebrauchswert.

Als Gebrauchswert ist aber das Produkt nicht mit allen nützlichen Dingen zu identifizieren. »Es ist dies der Fall, wenn sein Nutzen für die Menschen nicht durch Arbeit vermittelt ist. So Luft jungfräulicher Boden, natürliche Wiesen, wildwachsendes Holz usw.«72 Das heißt, nur das durch Arbeit vermittelte nützliche Ding ist Produkt, und nur als Produkt wird das Ding zum Thema, das von Marx erörtert wird. »Durch die Arbeit vermitteln« heißt, daß die Stoffe nicht ohne Zutun der Arbeit zum Produkt werden können. Sie können dies nur indem, einer theoretischen Reihenfolge (vom allgemeinen zum besonderen) nach, erstens, sie sich »als der allgemeine Gegenstand der menschlichen Arbeit« ohne Zutun des Menschen vorfinden;*73 zweitens, sie als »von Natur vorgefundne Arbeitsgegenstände« den Menschen als einer »Naturmacht« gegenübertreten, und »von ihrem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Erdganzen« vermittels der Arbeit losgelöst werden;74 und daher drittens, daß sie es zulassen, daß ihre Formen durch die Arbeit geändert werden.75

Daß die Naturstoffe stets sich auf die Menschen richten, stets die Menschen konfrontieren, weist nach, daß sie »unmittelbar als Lebensrnittel«76 zunächst der »unorganische Leib des Menschen« sind, just wie der Mensch »ein Teil der Natur ist«.77 Und als gleichartige Naturmächte können sich die Natur und die (menschliche) Arbeit erst verbinden, miteinander verschmelzen, daher die Gebrauchswerte bilden. Angesichts der Tatsache, daß die Menschen in allen geschichtlichen Epochen stets von Dingen der Außenwelt genährt werden müssen, sind diese Dinge auch in allen Epochen unbedingt nötig. In diesem Sinne bilden die Gebrauchswerte den ständigen »stofflichen Inhalt des Reichtums«,78 welche geschichtlich bestimmte Erscheinungs­ form er annehmen würde. Und sobald er in der geschichtlich besonderen kapitalis­ tischen Gesellschaftsform die Ware als seine Erscheinungsform annimmt, nehmen die Gebrauchswerte außer ihrer aller Epochen gemeinsame noch eine derselben Gesellschaftsform entsprechende besondere Rolle an: Körper der Waren bzw. stofflicher Träger des Werts.

70.A.a.O., S. 49. Ti.MEW;EBl, S.587. TIMEWT^ S.55. 73. A.a.O., S.193. 74. A.a.0., S.193. 75. A.a.O., S.57. 76. A.a.O., S.49. TTMEW;EB1, S.516. 78A/W23, S.50.

GENESIS DES »KAPITAL« 101

Ist aber der Tauschwert als »das quantitative Verhältnis, die Proportion, worin sich Gebrauchswerte einer Art gegen Gebrauchswerte anderer Art austauschen«91 point de départ der Forschung bzw. der Kritik, so muß die Darstellung bzw. die Dialektik durch die einzelne Ware hindurch bis zum selben Verhältnis als point d'arivée gelangen. Eine zugeknöpfte Erscheinung genügt daher noch nicht, den Wert zu verraten. Da die Wertgegenständlichkeit »rein gesellschaftlich ist, so versteht sich auch von selbst, daß sie nur im gesellschaftlichen Verhältnis von Ware zu Ware erscheinen kann.«92 Dieses Verhältnis besteht als »Wertform« oder »Wertausdruck« aus zwei »zueinander gehörigen, sich wechselseitig bedingenden, unzertrennlichen§ aber zugleich »einander ausschließenden oder entgegensetzten« Momenten: relative Wertform und Äquivalent­ form.93 Indem Ware A als relative Wertform ihren Wert in Ware B als Äquivalentform ausdrückt, nimmt das der Ware A innewohnende Wertding eine von seiner eignen zugeknöpften Erscheinung qualitativ verschiedene Gestalt der Ware B an, oder mit anderen Worten, wird Ware B zum »Wertding«, welches außerhalb der Wertform nur als Wertabstraktion der Ware A gilt und stets unfaßbar bleibt. So bemerkte Marx: Um zu sagen, daß ihre sublime Wertgegenständlichkeit von ihrem steifleinenen Körper verschieden ist, sagt sie [die Leinwand], daß Wert aussieht wie ein Rock und daher sie selbst als Wertding dem Rock gleicht wie ein Ei dem andern.94 Und je abundanter der Austausch seine Ausdehnung und Wichtigkeit gewinnt, desto praktischer be[s]tätigt sich die Spaltung des Arbeitsprodukts in nützliches Ding und Wertding.95 Obwohl die Geldform als allgemeinste Wertform die Entfaltung ihres Keimes der einfachen Wertform ist, ist jedoch innerhalb der einfachen Wertform ihre Entfaltung zur Geldform erst aufzuzeigen, nachdem sich die Geldform schon aus­ reichend entwickelt hat: Der theoretische point de départ (einfache Wertform) hebt sich ab nur am Ende der geschichtlichen Entwicklung als der tatsächliche point d'arivee, während der theoretische point d'arivée (Geldform) stets der jeweils frischeste Zustand der Entwicklung, also der tatsächliche point d'arivée ist, mit dem die Untersuchung tatsächlich immer »von vom wieder« erneut anzufangen ist.96

Es ist also abzuschließen: 1.1. Als Abstraktion ermöglicht theoretisch der Wert den Gebrauchswert, weil ohne Verausgabung der abstrakt menschlichen Arbeit überhaupt kein Produkt gedacht werden kann, das von irgeneiner nützlichen Arbeit erzeugt wird. 1.2. Der den Gebrauchswert ermöglichende Wert kann aber nur als das im Gebrauchswert (als der Erscheinung) Erscheinende tatsächlich erkannt werden, weil er sonst überhaupt unfaßbar bleiben muß. 2.1.Als gesellschaftliches Dasein ermöglicht theoretisch erst der Wert den gesellschaftlichen Austausch zweier Waren, oder mit anderen Worten, der Austausch zweier Waren setzt theoretisch voraus, daß es Wert wirklich gibt, der von Natur aus gesellschaftlich ist. 9DWE^23.S.5O. 92. A.a.O.,S.62. 93. A.a.O.S.63. 94. A.a.O.,S.67. 95. A.a.O., S.87. 96JWL7H3, SS. 10-11.

GENESIS DES »KAPITAL« 102

2.2.Dieser Wert mit gesellschaftlichem Charakter ist tatsächlich nur zu begreifen, indem sich eine Ware auf andere gesellschaftlich bezieht. 3.Sei es die Beziehung der Wertabstraktion zu ihrer Erscheinung als Gebrauchs­ wert, oder die der relativen Wertform zur Äquivalentform, entsprechen die beiden Beziehungen offenbar dem Verhältnisse, in dem das allgemeine durch Kritik der einzelnen tastsächlich bzw. epistemologisch zu erreichen ist, während die einzelnen theoretisch bzw. ontologisch nichts sind als dialektische Entfaltung des allgemeinen.

Abstrakt 2.2.

menschliche Arbeit und nützliche Arbeit

Die Arbeit »ist zunächst em Prozeß zwischen Menschen und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwehsei mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert.«97 Menschliche Tat kann nur den Stoffwechsel vermitteln, oder der Prozeß kann nur zwischen Menschen und Natur bestehen, weil eine gewisse Gegensätzlichkeit der Menschen zur Natur vorausgesetzt wird. Da aber der Mensch »ein Teil der Natur« ist, ist diese Gegensätzlichkeit nichts als dieselbe innerhalb dem Menschen. Das heißt, indem der Mensch die Natur als Gegenstand behandelt, behandelt er auch sich selbst als Gegenstand, macht er seine »Lebenstätigkeit selbst zum Gegenstand seines Wollens und seines Bewußtseins«, daher schaut er sich selbst an »in einer von ihm geschaffnen Welt«98: Der Mensch ist ein Gattungswesen, nicht nur indem er praktisch und theoretisch die Gattung, sowohl seine eigne als die der übrigen Dinge, zu seinem Gegenstand macht, sondern...auch indem er sich zu sich selbst als der gegenwärtigen, lebendigen Gattung verhält, indem er sich zu sich als einem universellen, darum freien Wesen verhält.99

Die als Gegenstand verstandene Natur, die sowohl das menschliche Leben als auch die übrige natürliche Umwelt zugleich einschließt, dient im Arbeitsprozeß als Arbeitsgegenstand und Arbeitsmittel, welche mit zweckmäßiger Tätigkeit oder der Arbeit selbst, die der Natur überhaupt gegenübersteht, »die einfachen Momente des Arbeitsprozesses« bilden.100 Alle Arbeitsgegenstände gehören zur natürlichen Umwelt bzw. zur Erde. Sie sind Arbeitsgegenstäde, sofern die Arbeit sie »nur von ihrem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Erdganzen loslöst.«101 Die Arbeit bemächtigt sich aber nicht unmittelbar der Arbeitsgegenstände, sondern vermittels des Arbeitsmittels, das ursprünglich auch die Natur selbst ist - nicht nur im Sinne, daß sie dem Arbeiter z.B. »den Stein, womit er wirft, reibt, drückt, schneidet usw.« liefert, daß sie dem Arbeiter »den locus standi und seinem Prozeß den Wirkungsraum« gibt, sondern auch, daß bei der Ergreifung fertiger Lebensmittel z.B.

97A/£tK23„ S.192. 98MEW;EB1, SS.516-17. 99.A.a.O.,S.515. 100MEJT23, S.193. lOl.Ebd.

GENES/S DES »KAPITAL« 103

das Arbeitsmittel »seine eignen Leibesorgane allein« ist,102 die nichts sind als »die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte«103 oder umgekehrt seine der Natur angehörige Leiblichkeit. Als Naturkraft ist die Arbeit, die ihren gleichartigen und jeweils vom Erdganzen losgelösten Arbeitsgegenständen gegenübertritt, die nützliche Arbeit, »die zweckmäßige Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten, Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse, allgemeine Bedingung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens und daher unabhängig von jeder Form dieses Lebens, vielmehr allen seinen Gesellschaftsformen gleich gemeinsam«.104 Wenn aber die den Gebrauchswert erzeugende Arbeit von Natur aus die Natur ist, die Arbeitsgegenstand und -mittel bildet, was ist dann übrig geblieben beim dritten Moment des Arbeitsprozesses - der sogenannten »Arbeit selbst«? Offenbar nur eine Formbestimmung, in der der Mensch - welche Gesellschaftsform immer er eingehen würde - physiologisch seine körperlichen Kräfte von Him, Nerv, Muskel, Sinnesorgan usw. verausgab, um die Form des äußeren Gegenstandes einerseits dem Maß jeder species und andererseits seinem inhärenten Maß gemäß zu verändern, um denselben zum Gebrauchswert, der die menschlichen Bedürfnisse befriedigt, zu machen, kurz, um seinen Zweck im Natürlichen zu verwirklichen. Da diese »Arbeit selbst« aller geschitlichen Epochen gemeinsam ist, da sie theoretische Voraussetzung aller Arten nützlicher Arbeit ist, ohne die überhaupt keine Arbeit gedacht werden kann, ist sie abstrakt menschliche Arbeit.

Die solcherart abstrakt menschliche Arbeit findet sich zwar seit uralten Zeiten, ist aber nicht von Anfang an selbstverständlich zu erkannen. Es ist vielmehr nur durch geschichtliche Entwicklung möglich, oder sozusagen »eine geschichtliche Tat«. In der antiken griechischen Gesellschaft z.B. war es nach Aristoteles unmöglich, 5 Polster gegen 1 Haus auszutauschen, »weil die griechische Gesellschaft auf der Sklavenarbeit beruhte, daher die Ungleichheit der Menschen und ihrer Arbeitskräfte zur Naturbasis hatte«.105 Durch das z.B. Monetarsystem, Manufaktursystem, kommerziellen System oder physiokratischen System konnte die abstrakt menschliche Arbeit auch nicht begriffen werden. Selbst wenn Adam Smith »Arbeit schlechthin« fortwarf, fiel er indes noch »von Zeit zu Zeit wieder in das physiokratische System« zurück. Als »das geistige Resultat einer konkreten Totalität von Arbeiten« ist die abstrakt menschliche Arbeit vielmehr erst praktisch zu sehen nur »bei der reichsten konkreten Entwicklung, wo eines vielen gemeinsam erscheint, allen gemein«, oder in der Gesellschaftsform, »worin die Individuen mit Leichtigkeit aus einer Arbeit in die andre übergehn und die bestimmte Art der Arbeit ihnen zufällig, daher gleichgültig ist«.106 Die Beziehung zwischen der abstrakt menschlichen und nützlichen Arbeit ist also zu resümieren: 102. A.a.O., S.194.195. 103. A.a.O, S.192. 104. A.a.O, S.198. 105. A.a.O. S.74. 106. MW42, SS.38.

GENESIS DES »KAPITAL« 104

El.Ohne die abstrakt menschliche Arbeit als einem von drei Momenten des Arbeitsprozesses kann theoretisch keine nützliche Arbeit stattfinden. 1.2.Die abstrakt menschliche Arbeit ist aber an sich nicht zu begreifen, sondern nur tatsächlich durch Abstraktion bzw. Kritik mannigfaltiger nützlicher Arbeit als ihre Erscheinung zu erkennen. 2.1. Da die abstrakt menschliche Arbeit von allen natürlichen Zügen abstrahiert wird, und daher darin besteht, keine bestimmte Form der nützlichen Arbeit anzunehen, ist sie theoretisch die allgemeine Formbestimmung der nützlichen Arbeit, die allen Gesellschaftsformen oder geschichtlichen Epochen gemeinsam ist. 2.2. Die abstrakt menschliche Arbeit hebt sich tatsächlich als allgemeine ab, nachdem ein Formwechsel unter verschidenen Arten der nützlichen Arbeit aufgetreten ist. 3.Gleich wie die Beziehung des Wertes zum Gebrauchswert, hier besteht auch das Verhältnis, in dem die einzelnen (nützliche Arbeit) einerseits das allgemeine (abstrakt menschliche Arbeit) theoretisch voraussetzen, daher nur als dessen Erscheinung oder dialektische Entfaltung zu verstehen ist, während das allgemeine andereseits die einzelnen tatsächlich voraussetzt, daher nur durch Kritik derselben zu erkennen ist.

2.3.Arbeit und Naturstoff Korrespondierend mit dem Doppelcharakter der Ware ist die Arbeit auch als Zwieschlächtiges zu betrachten. Diese Korrespondenz besteht weder in der verflachten also bloß formalen und leeren »Wechselwirkung« als der »dialektischen Beziehung des Subjekts und Objekts im Geschichtsprozeß«,107 noch darin, daß es eine mystisch metaphysische Harmonie zwischen zwei Substanzen oder »Monaden« gäbe. Als äußerlich erscheinende Beziehung von zwei Doppelcharakter besitzenden ist sie vielmehr unweigerlich gleichfalls doppelt, nämlich bestehend wie Doppelcharakter sowohl der Ware als auch der Arbeit in zwei verschiedenen Ordnungen: die theoretische und die tatsächliche. Genau wie der Wert den Gebrauchswert, die abstrakt menschliche Arbeit die nützliche Arbeit, so ermöglicht theoretisch die Arbeit die Ware; und genau wie der Wert erst durch den Gebrauchswert, die abstrakt menschliche Arbeit erst durch die nützliche Arbeit, so ist die Arbeit nur erst durch die Ware tatsächlich erkannt zu werden - dies erklärt auch, warum während die Arbeit der »Springpunkt«, d.h. der theoretische Anfang ist, sie aber tatsächlich als »in der Waren dargestellte« nach Analyse der Ware im Kapital auftaucht. Hier ist jedoch die Analogie aufzuhören, da, während Arbeit sowie Ware dieselbe Sache mit zwei Aspekten ist, ist die Beziehung zwischen den beiden die der verschiedenen Sachen. Irgendeine Sache kann nur materiell und formell betrachtet werden, sofern sie ein und dieselbe ist. Wenn jetzt die Beziehung zwischen Arbeit und Ware auch als doppelte zu betrachten ist, dann ist vorauszusetzen, daß sie auch ein und dieselbe ist, daher sich von doppelten Ansichten betrachten läßt. Mit anderen Worten, wenn es keine allgemeine und notwendige Grundlage gibt, auf die die Arbeit sich auf die Ware und vice versa bezieht, sondern sich nur gleichgültiges Vakuum oder am

107.Lukäcs, Geschichte und Klassenbewußtsein. S.61(15).

GEiVES/S DES »KAPITAL« 105

besten Zufälligkeit zwischen ihnen befindet dann kann von der Beziehung überhaupt keine Rede sein.

Zu dieser Grundlage dient bei Marx der »gegenständliche Charakter der menschlichen Tätigkeit«, der darin besteht: daß »das gegenständliche Wesen [...] gegenständlich [wirkt], und es [...] nicht gegenständlich wirken [würde], wenn nicht das Gegenständliche in seiner Wesensbestimmung läge«. »Es schafft, setzt nur Gegenstände, weil es durch Gegenstände gesetzt ist«.108 Es ist mit dem gesunden Menschenverstand problemlos zu verstehen, daß nützliche Arbeit Gebrauchswerte nur produzieren kann, indem sie die Formen der Naturstoffe ändert, deren nutzbare Eigenschaften immer nur auf menschliche Bedürfnisse sich richtend entdeckt werden. Das heißt, die Naturstoffe können einerseits trotz ihrer Eigenschaften dieselben menschlichen Bedürfnisse nicht befriedigen, ohne von der nützlichen Arbeit vermittelt zu werden, die nützliche Arbeit kann andererseits ohne Material auch nichts beschaffen, das von Natur angeboten wird. Die Gebrauchswerte bzw. die Warenkörper sind also »Verbindungen von zwei Elementen: Naturstoff und Arbeit«. Wird von den Warenkörpem »die Gesamtsumme aller verschiednen nützlichen Arbeit« abgezogen, »so bleibt stets ein materielles Substrat zurück, das ohne Zutun des Menschen von Natur vorhanden ist«.109 Sofern es um »Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur« geht, setzen also die beiden theoretisch sowie tatsächlich einander als Gegenstand voraus. Das »stets zurückbleibende - d.h. stets sich von den Menschen distanzierende materielle Substrat« muß aber von den Naturstoffen unterschieden werden, die vielmehr stets dem Mensch schmeicheln, wie die Waren dem Geld mit dem Preise als »Liebesaugen« winken,110 auch der Arbeit stets mit ihren Eigenschaften als Liebesaugen winken, um von der Arbeit bearbeitet zu werden und daher die menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Was ist nun dieses von nützlichen Naturstoffen verschiedne materielle Substrat? Es ist dem vulgären Marxisten so fremd, daß es hier eines näheren Betrachtens bedarf. Die Menschen, wie Alfred Schmidt bemerkt,

haben es ja nie mit Materie »als solche« bei ihrer Produktion zu tun, sondern stets nur mit ihren konkreten, quantitativ und qualitativ bestimmten Daseinswesen.111 Daß die Menschen bei Produktion nie mit der »Materie an sich« zu tun haben, bedeutet auch umgekehrt, daß sie nie mit den Menschen zu tun hat. In diesem Sinne ist das materielle Substrat stets den Menschen femliegend, also stets »zurückbleibend« »stets« im Sinne, daß es immer noch eine Distanz von Menschen wahren würde, wenn die Menschen es zu erreichen versuchen würden. Was die Menschen wirklich erreichen können, sind dagegen die Daseinswesen. Die Daseinswesen erhalten aber nicht von Anfang an ihre selbständige Existenz. Sie sind vielmehr zuerst Bestandteile eines Ganzen, und werden dann als dieser oder jener i(yiMEW;EB!, S.577. 109A/W23, S.57. 110. A.a.O., S.124. 111. Alfred Schmidt, Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, op.cit.. S.27.

GENESIS DES »KAPITAL« 106

konkrete Arbeitsgegenstand die nützliche Arbeit treffen, indem sie vermittelst derselben Arbeit »von ihrem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Erdganzen« losgelöst werden.112 »So der Fisch, der von seinem Lebenselement, dem Wasser, getrennt, gefangen wird, das Holz, das im Urwald gefällt, das Erz, das aus seiner Ader losgebrochen wird.«113 Das heißt, bevor die Arbeitsgegenstände wie Fisch, Holz usw. vom Erdganzen bzw. von der Natur als solcher losgelöst werden, sind sie nur potentiell Arbeitsgegenstände, und bilden als miteinander zusammenfassende Elemente ein noch nicht differenziertes chaotisches Ganzes. Ein solches Ganzes kann umgekehrt als »ohne Zutun des Menschen von Natur vorhandenes« nur zum Vorschein gebracht werden, nachdem die Arbeit tatsächlich ihre Arbeitsgegenstände auf ihr Gemeinsames, d.h. darauf reduziert hat, daß sie alle loslösbare Bestandteile eines Ganzen sind. Wenn jetzt aber alle nützlichen Arbeit abgezogen wird, so auch alle sinnlich bergreifbaren Eigenschaften der Naturstoffe, weil diese Eigenschaften nur durch nützliche Arbeit vermittelt werden. Naturstoff ohne Eigenschaften kann aber nichts sein als eine Abstraktion, ein Residuum, ein »materielles Substrat«. Es hat' an sich keine Existenz, ist indes »ohne Zutun des Menschen von Natur vorhanden«, nachdem die Menschen versucht haben, etwas mit ihm zu tun. Als der Zusammenhang oder die Totalität aller Arbeitsgegenstände mit Eigenschaften bekommt es seine eigne Gestalt nur als das Ganze aller Eigenschaften. Da aber stets neue Arbeitsgegenstände mit der geschichtlichen Entwicklung vorgefunden werden, ist die Gestalt des Ganzen auch jeweils mit seiner neuen Konstitution zu wechseln, also seine Erscheinungen zu entwickeln. In diesem Sinne ist also das »materielle Substrat« als solches von der menschlichen Seite ausgehend statt erreichbar nur approximativ, und von der sachlichen Seite vielmehr stets »zurückbleibend«. Es ist ein bedingender Begriff, der aller Arbeitsgegenständen eine gemeinsame Einheit verleiht, daher ihre wirkliche Existenz theoretisch bewahrt. Daß das materielle Substrat nur im Residuum der Abstraktion der Arbeits­ gegenstände besteht, d.h. sein »Vorhandensein« nur auf den Arbeitsgegenständen beruht, die nichts anders als die Gegenstände der materiell betrachteten Arbeit (d.h. nützlichen Arbeit) sind, beweist, daß es auch nichts als ein Gegenstand sein muß Gegenstand der formal betrachteten Arbeit, abstrakt menschlichen Arbeit. Ohne Gegenstand dieser Arbeit zu sein ist das materielle Substrat oder die Natur als solche »sinnlos oder hat nur den Sinn einer Äußerlichkeit, die aufgehoben werden muß«.*1 14

Nicht nur ist das materielle Substrat einerseits, sondern auch die abstrakt menschliche Arbeit andererseits gegeständlich. Just wie Gebrauchswert - in Bezug auf die davon auszugehende kapitalistische Gesellschaftsform - nur in der Verbindung der nützlichen Arbeit und Naturstoffe besteht, so muß der Wert, der den Gebrauchswert als seine notwendige Erscheingsform annimmt, daher von demselben bestimmt zu werden ist, auch gegenständlich sein. So bemerkt Marx: »Menschliche Arbeitskraft im flüssigen Zustand oder menschliche Arbeit bildet Wert, aber ist nicht Wert. Sie wird Wert in geronnenem Zustand, in

112AÆJT23, S.193. 113.A.a.O„ S.193. 1 UMEW;EBI., S.587.

GENESIS DES »KAPITAL« 107

gegenständlicher Form.«.'15 Um eine gegenständliche Form anzunehmen, ist selbständlich ein Gegenstand als Träger notwendig. Da hier die menschliche Arbeit die »menschliche Arbeitskraft im flüssigen Zustand« ist, kann ihr Gegenstand nicht irgendeine dingliche oder nützliche Eigenschaft des Stoffes erhalten, die stets der nützlichen Arbeit gegenübertritt, sondern kann nur das gleichermaßen noch nicht als irgendein Arbeitsgegenstand bestimmte, noch nicht geronnene, daher allgemeine Substrat sein. Diesen Gegenstand bezeichnet Marx als »der allgemeine Gegenstand der menschlichen Arbeit« oder »Gegenständlichkeit«, ohne die Tätigkeit »nichts ist oder höchstens Gedankentätigkeit, von der es sich hier nicht handelt«.116 Und eben weil das materielle Substrat als allgemeiner Gegenstand dem Menschen als Gattungswesen gegen übertritt, führt das Gallert der menschlichen Arbeit an ihrem Gegenstand, das nur in Warenproduktion Wert bildet, auch nicht zur sinnlichen Existenz, sondern nur zur »gespenstige[n] Gegenständlichkeit«, »welche von der [z.B.] Leinwand selbst dinglich verschieden und ihr zugleich mit andrer Ware gemeinsam ist.«117 Daß der allen Waren gemeinsame Wert von allen Dingen »dinglich verschieden« ist, bedeutet, daß er kein Ding ist. Dieser undingliche Charakter besteht aber nicht in der Luft, sondern im Charakter seiner Konstitution, nämlich darin, daß sowohl der Mensch, der noch nicht in irgendein Produktionsverhältnis eingehende Mensch,118 als auch die Natur, der allgemeine Gegenstand der menschlichen Arbeit, auch schon keine existierenden Dinge, sondern sinnlich unfaßbar oder »sinnlich übersinnliche« pure Gegenständlichkeit sind. Dies gilt aber nicht nur für die Ware, sondern für jedes Produkt. Daß das Gallert der menschlichen Arbeit nur in Warenproduktion als Wert auftritt, verhindert keineswegs, daß außerhalb Warenproduktion dasselbe Gallert sich in anderer Form befand (im Feudalismus z.B.), befindet (in der Bauemfamilie z.B.) bzw. befinden würde (im Kommunismus z.B.), wobei das materielle Substrat stets zurückbleibend als Gegenständlichkeit dem Menschen als gegenständlich sich betätigenden gegenübertritt.

Zum Schluß: Erstens, die Natur ist vorhanden da, nur indem sie sich mit den Menschen konfontiert, genau wie die Menschen nur in Konfrontation mit der Natur ihr Dasein bestätigen. Mit anderen Worten, daß die Natur oder die Außenwelt ohne Zutun des Menschen da ist, kann nur bewiesen werden, nachdem der Mensch schon versucht hat, etwas mit ihr zu tun. Also ist die ohne Zutun des Menschen da seiende Natur keineswegs Selbständiges, sondern nichts als Gegenstand der Arbeit, als stets von der Arbeit Abhängiges, genau wie die Arbeit ihres gegenständlichen Charakters wegen stets von der Natur abhängen muß. Zweitens, die Konfrontation des Menschen mit der Natur erhält zwei verschiednen Formen, die davon abhängen, welche Form der Mensch und die Natur annehmen. Nämlich, einerseits tritt als »Arbeitsgegenstände« die Natur den Menschen gegenüber, indem die beiden die sinnliche Form annehmen, und daher durch nützliche Arbeit vermittelt werden. Andererseits tritt als »allgemeiner Gegenstand der menschlichen 1I5JWEJF23, 1I6.MW42, 117AOP23, 118.À-/W13,

S.65.(Herv.SHS) S.193. S.66. S.9.

GENES/S DES »KAPITAL« 108

Arbeit«, als »Gegenständlichkeit« die Natur dem Menschen gegenüber, indem die beiden die abstrakte oder gedankliche Form annehmen, und daher durch abstrakt menschliche Arbeit vermittelt werden. Im ersten Fall befriedigt die Natur die menschlichen Bedürfnisse, indem ihre Eigenschaften von der Arbeit formal geändert, und daher zum Nützlichen gemacht werden. Im zweiten Fall hat als »Gegen­ ständlichkeit« die Natur nichts zu tun mit irgendeiner Art von Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse, sondern dient nur als Träger der abstrakt menschlichen Arbeit, ohne den diese nur in flüssigem Zustand bleibt, d.h. nicht geronnen wird, und daher nicht Wert wird. Im ersten Fall ist also die Natur ihrer nutzbaren Eigenschaften wegen ein Bestandteil oder eine von zwei Quellen des nützlichen Wertes, während im zweiten Fall sie, da von ihr alle dinglichen Eigenschaften abstrahiert werden, nicht sinnlich existiert, sondern nur als Bedingung der zu gerinnenden abstrakt menschlichen Arbeit fungiert. Drittens bedeutet aber der Unterschied der vorhandenen Existenz der Natur als eine sinnliche einerseits und eine gedankliche andererseits weder, daß sich die beiden so streng voneinander unterscheiden, als ob es innerhalb desselben Gegenstandes zwei Existierende gäbe, die miteinander nichts zu tun hätten, noch, daß die sinnliche Existenz wirklicher als die gedankliche wäre. Der Unterschied findet vielmehr nur insofern statt, als derselbe Gegenstand auf zwei verschiednen Betrachtungsweisen, nämlich materiel und formel, angesehen wird. Dank dieses Unterschieds is es Marx ermöglich, den Wert »zunächst jedoch unabhängig von dieser [seiner notwendige Erscheinungs]Form zu betrachen«,119 das heißt, in einem »theoretischen Verhältnis zu Dingen der Außenwelt zu stehen«, ohne Rücksicht darauf, daß der Betrachtende im Widerspruch zu seinen eigenen Ansätzen stehen mag, dem nach »ein ungegen­ ständliches Wesen«, d.h. em von seiner Erscheinungsform getrenntes Wesen, eben »ein Unwesen«, daher nicht zu erörtern ist.120 Indem derselbe Gegenstand so betrachtet wird, besteht zwischen den »Arbeitsgegenständen« als sinnliche Existenz und »Gegenständlichkeit« als gedankliche doch noch eine Wechselseitigkeit. Nämlich, wenn es keine Existenz überhaupt gibt, die gedacht wird, dann gibt es auch überhaupt keine sinnliche Existenz weder der Natur noch der Menschen, weil die letztere eben durch die erste bestimmt wird. Wenn es aber umgekehrt überhaupt keine sinnliche Existenz gibt, kann die Existenz überhaupt auch nicht gedacht werden, weil die letzte nur durch die erste bewiesen werden kann. Mit anderen Worten, während die gedankliche Existenz theoretisch die Voraussetzung der sinnlichen Existenz ist, muß sich die letzte tatsächlich oder der Zeit nach vorfinden, bevor das Denken daher die gedankliche Existenz entsteht. Oder: die gedankliche Existenz ist die ontologische condition sine qua non der sinnlichen Existenz, während die sinnliche die epistemologische condition sine qua non der gedanklichen.

Die Arbeit als abstrakt menschliche und nützliche zu begreifen, ist den Marxisten üblicherweise bekannter, als die Natur entsprechend als Gegenständlichkeit und Arbeitsgegenstände zu begreifen. Den beiden Zwieschlächtigkeiten zugrunde liegt die Marxsche Kritik am Fetischismus, just wie der Unterschied sowie der »Dinge an sich« von den »Erscheinungen« als auch der »Vernunft« vom »Verstand« Kantscher Kritik an Theologie die Grundlage bietet. Daraus, daß sie den Kantschen Begriff oft »utterly

119.AÆPP23, S.53. \2Q.MEW;EBl, S.578.

GENESIS DES »KAPITAL« 109

absurd« verstehen,121 ist zu ersehen, wie wenig die vulgären Marxisten die Natur in doppelten Ansichten betrachten können, und wie weit daher die Marxsche Lehre von ihrer eigenen Bedeutung abgewichen ist.122

Engels z.B. hat zwar bemerkt, daß die Materie als solche »eine reine Gedankenschöpfung und Abstraktion«, daher »nichts Sinnlich-Existierendes« ist,123 hat jedoch weder diese Auffassung konsequent in seinen Werken entwickelt (sondern sogar bis zum Ende seines Lebens unveröffentlicht gelassen), noch vermittels derselben dem Marxschen Gedanken begriffen. So hält er fest - z.B. bei der Diskussion über das Verhältnis von Denken und Sein -, daß das Sein das Ursprüngliche sei, für den, der »ohne vorgefaßte idealistische Schrullen an sie herantritt«.124 - Vom Sein als einer »reinen Ger/nz^erzschöpfung« ist dabei nicht die Rede, dagegen wird dieselbe vielmehr in »die Abbilder der wirklichen Dinge«125 verwandelt. Und gleich hierbei versteht er das Kantsche »unfaßbare« (dies ist keineswegs Kants eigner Terminus) Ding an sich als »die im pflanzlichen und tierischen Körper erzeugten chemischen Stoffe«, wie z.B. »der Farbstoff des Krapps«.126 - Dies kann aber nur beweisen, wie wenig Engels Kant gelesen hat. Engels' Auffassung liegt dem »orthodoxen« marxistischen Verständnis sowohl für Marxsche als auch für Kantsche Begriffe von Dingen zugrunde. So z.B. Lenin bei der Auseinandersetzung mit »Empirokritizismus« um das Ding an sich: »Die Dinge existieren unabhängig von unserem Bewußtsein, unabhängig von unserer Empfindung, außer uns; ...Zwischen der Erscheinung und dem Ding an sich gibt es absolut keinen prinzipiellen Unterschied, und es kann einen solche nicht geben.«127 Diese materialistische Behauptung widerlegt direkt »das Kantsche unfaßbare (oder unerkennbare) Ding an sich«, denn Kant »nimmt die Existenz des >Dinges an sicht an, erklärt es aber für >unerkennbarIdeologieeA-Bewegung vom Konkreten oder Wirklichen zum Abstrakten oder Ideellen und von diesem wieder zurück zum Konkreten.«34- Mit anderen Worten, das Ende der Dialektik kann nichts sein als der Anfang der Kritik, während das Ende der Kritik auch nichts als Anfang der Dialektik. Da Marx jetzt von der kapitalistischen Produktionsweise als seinem Untersuchungsgegenstand ausging, um.sie zu analysieren, ist diese selbstverständlich der Anfang der Kritik sowie das Ende der Dialektik. Soweit aber Marx, wie oben erörtet wird, von der amA ausging, um die Kategorien der politischen Ökonomie darzustellen, ist diese auch der Anfang der Dialektik sowie das Ende der Kritik. Als eine Kreis-Bewegung ist aber dieses wissenschaftliche Verfahren nichts neues. Selbst Marx betrachtete die klassische politische Ökonomie als Systeme oder Darstellungen, die auf der »wissenschaflichten Methode« »von dem Einfachen, wie Arbeit, Teilung der Arbeit, Bedürfnis, Tauschwert, aufstiegen bis zum Staat, Austausch der Nationen und Weltmarkt.«35 Diese Darstellungen sind aber für Marx unzulänglich, so daß sie zu kritisieren ist. Worin besteht dann ihre Unzulänglichkeit?

Diese Unzulänglichkeit bildet sich wie ein Rätsel, und eine Mehrzahl von Verfassern ist also daran beteiligt gewesen, je nach ihren eignen verschiednen Vorstellungen der Marxschen Methode dasselbe zu raten, die aber oft schwer mit Marx' eigenem Verständnis derselben in Übereinstimmung zu bringen sind.

1) Der klassischen (Um)Interpretation nach besteht die Unzulänglichkeit der politischen Ökonomie darin, daß sie die Kategorien, deren Gültigkeit vielmehr auf eine historisch bestimmte Produktionsweise zu beschränken ist, und daher auch dieselbe Produktionsweise als allgemeingültig auffaßte. Die Marxsche Kritik bestehe dann darin, ihre historische »Beschränkenheit« bzw. Bedingung aufzuzeigen. So verstand z.B. Rodolsky die Marxsche »Kritik« unter Hauffmanns Beschreibung über Marxsche Methode, daß sie die »besonderen Gesetze« aufdeckte, »welche 34. Galvano della Volpe, Rousseau und Marx, Darmstadt und Neuwied, 1975, S. 185. 35. A/W42, S.35.

»KRITIK« DER POLITISCHEN ÖKONOMIE 136

Entstehung, Existenz, Entwicklung, Tod eines gegebenen gesellschaftlichen Organismus und seinen Ersatz durch einen anderen, höheren regeln«,36 Nachdem er dies aufgezeigt hatte, sprang Rodolsky direkt auf das Thema: »Auf welchem Weg kann die Theorie zur Erkenntnis von solch besonderen, nur historisch Geltung beanspruchenden Gesetzen gelangen? Und wie sind diese Gesetze mit den allgemeinen, auf alle Gesell' schaftsepochen anwendbaren ökonomischen Bestimmungen in Einklang zu bringen?« Die Antwort: die »fundamental wichtige Marxsche Unterscheidung zwischen >Form< und >lnhaltÜbersichhinausgehenspracticed< in his work, ... without producing the concept of it in a philosophical opus of the same rigour«.-50 Sofem es sich um Marxsche »Kritik« handelt, ist hier nicht der richtige Ort, über Probleme des struktualistisehen Marxismus zu diskutieren. Eines ist aber hier eher zu bemerken, daß, selbst wenn Althusser bemerkte, daß Marx sowohl den »Doppelcharakter der Arbeit« als auch den »Mehrwert unabhängig von seinen besondren Formen als Profit, Zins, Grundrente« zu seinem »Besten« zählte, er aber nur einen geringeren Blick auf den ersten als auf den zweiten warf,51 so daß er nicht begreifen konnte, in welchem Sinne der erste dem Marxschen eigenen Verständnis entsprechend eine kritische Rolle spielt.

Anders als die drei Variationen ist hier zu argumentieren, daß, da die politische Ökonomie, wie der Titel bzw. Untertitel der Manschen Hauptwerke zeigt, statt »dargestellt« »kritisiert« werden muß, vielmehr anweist, daß die Kategorien einerseits nicht als eine selbstständige, von der wirklichen abstrahierte Welt zu betrachen sind, in der statt des Sachverhalts die Begriffe gehandelt werden;52 andererseits aber, daß die Unzulänglichkeit sowie deren Kritik vielmehr eben statt der »Dialektik« in der Seite der »Kritik« liegt. Nämlich, die politische Ökonomie konnte die sich entwickelnde kapitalistische Produktionsweise deswegen nicht überzeugend darstellen, weil sie die Kritik, die stets mit dem zu beginnen hat, was geschichtlich entsteht und daher als Untersuchungsgegenstand vorhanden gegeben ist, nicht bis zum Ende durchgesetzt, und daher das Ende der Kritik als den Punkt nicht am radikalsten erreicht hat. So hat zwar z.B. Adam Smith die Arbeit schlechthin aufgedeckt, von der ausgehend das System der politischen Ökonomie dargestellt werden kann; er hat die Arbeit indes noch nicht in ihrem »Doppelcharakter« begreifen können, so daß er »noch von Zeit zu Zeit wieder in das physiokratische System zurückfällt«53 bzw. die Arbeit mit der Lohnarbeit verwechselt.54 Der Unterschied zwischen der Arbeit (amA) und der nützlichen Arbeit (nA), worauf »alles Verständnis der facts« beruht,55 wird vielmehr erst von Marx kritisch, d.h. aus dem entwickeltsten Zustand des Kapitalismus, nachgewiesen,56 mit 48. Althusser, Reading Capital, Für Marx, a.a.O. 49. Nicos Poulantzas, »Theorie und Geschichte: Kurze Bemerkungen über den Gegenstand des >KapitalsVerein freier Menschern] zum Kapitalismus.«26 Ob die Gesellschaftsform als Kommunismus überhaupt verwirklicht werden kann, liegt dem gegenwärtigen menschlichen Verstand noch so fern, daß alle Zweifel daran nicht so selbstverständlich beseitigt werden können. Eine Sache sei aber trotz aller Zweifel versichert, daß, selbst wenn sie {die Gesellschaftsform) realisiert würde, sie eher eine von allen bisherigen Epochen qualitativ unterschiedene sich eröffnen würde, indem sie sie alle als »die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft«27 abschließen würde: sie liegt also nach wie vor ihrer Realisierung jenseits der bisherig empirischen Geschichte, weil sie eben die ideelle Abstraktion aus derselben ist.

3. »POSTULA T« BEI PRAXIS . Der Marxismus ist aber offenbar bekanntlich keineswegs eine neutrale Inter­ pretation des Kapitalimus, sondern eine mit ethischen Implikationen.28' Das heißt, er forderte nicht nur eine Feuerbachsche oder theoretische Auflösung der Widersprüche, sondern noch eine praktische. Für ihn ist das logische Gesetz des (Nicht)Widerspruchs vielmehr genauso durchzusetzen wie das praktische, oder sogar: das logische Gesetz des (Nicht)Widerspruchs ist für ihn erst vollendet, sobald seine materielle Grundlage sich mit sich selbst versöhnt. »Also nachdem z.B. die irdische Familie als das Geheimnis der

24. G7Î, S.25;AÆ1F42, S.39. 25AÆJT23, S.94. 26. G.Markus, »Entfremdung und Verdinglichung«, in a.a.O., S.94. 27.AÆJF13, S.9. 25. Dazu vgl.u.a., Steven Lukes, Marxism and Morality, Oxford, 1985; Philip J.Kain, Marx and Ethics, Oxford, 1988; E.Angehm u. G.Ldhmann(Hrsg.), Ethik und Marx. Königstein/Ts, 1986; Franz von Magnis, Normative Voraussetzungen im Denken des jungen Marx (1843-1848), Freiburg/München, 1976.

DER KOMMUNISMUS ALS »IDEE« 148

heiligen Familie entdeckt ist, muß nun erstere selbst theoretisch und praktisch vernichtet werden.«29 Ob diese ethischen Implikationen als »praktisch-revolutionäre Abzweckungder Kritik« schon im Marxschen »methodischen Verhältnis von Anschauung und Begriff vorgezeichnet« sind,30 oder von Anfang an neben der »Wissenschaft« als die »zweite Komponente« des Marxismus31 gelten, darüber läßt sich seit Jahrzenten schon streiten.32 Abgesehen davon wird aber sicherlich von niemandem widersprochen, daß die Marxsche Theorie doch »Hoffnungen [erweckt], [...] Halt und Festigkeit [gibt], [...] Zuversicht [verleiht].«33 Sie kann dies aber, nicht weil sie die Notwendigkeit der geschichtlichen Entwicklung, daher die der kommunistischen Revolution oder des Kommunismus garantiert, sondern weil der letzte zugleich auch »total gerecht« ist,34 ein erwünschtes Ideal ist - »Ideal« aber nicht im (Kantschen) Sinne, daß es vom reinen Willen gegebenes moralisches Gesetz oder »Gegenstand einer reinen praktischen Vernunft« usw. ist,35 sondern im Sinne, daß es eine aus einer noch nicht existierenden Gesellschaftsform abstrahierte - mit Dahrendorfs Worten - »gewordenen Absolutheit« ist, wobei es sich von seinem Charakter als »Postulat« indes nicht loslösen läßt. Die kommunistische Revolution unterscheidet sich nicht dadurch von allen bisherigen, daß sie ein bestimmtes Ideal aufstellt, sondern dadurch, daß sie keine Bewegung »von Minoritäten oder im Interesse von Minoritäten« ist, sondern »die selbstständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl«; daß sie nicht sucht, »die ganze Gesellschaft den Bedingungen ihres [der Klassen] Erwerbs« zu unterwerfen,36 und »daher die Gesellschaft in zwei Teile - von denen der eine über ihr erhaben ist - [zu] sondieren«.37 Die Proletarier übernehmen also nicht die Rolle des Unterdrückenden, sondern schaffen das Verhältnis von Unterdrückenden und Unterdrückten überhaupt ab, indem sie die Herrschafts- bzw. Produktionsmittel nicht als ihre eigenen aneignen, sondern als gesellschaftlich angeeignetes Eigentum aller Produzierenden, unter denen nicht mehr Klasse nach Besitz am Produktionsmittel besteht, sondern nur die planmäßige Arbeitsteilung nach Funktionen in derselben Produktion.

Die kommunistische Revolution ist also nicht eine formelle, Oberfläche Ver­ änderung der Gesellschaft durch eine bestimmte Gruppe, sei es KP als »Avantgarde des Proletarias«, sei es als Klasse genannte Fabrikarbeiter usw., die nach ihrem eignen Bild die anderen Gruppen vernichtet oder unterdrückt, wobei der Charakter des Eigentums 29. »Thesen über Feuerbach«, MEW3, S.6.(Herv.SHS) 30. Georg Lohmann, Indiffernz und Gesellschaft, Frankfiirt/M, 1991, S.43. 31. E.Mandel, »Die zukünftige Funktion des Marxismus«, a.a.O., S. 171f. 32. Vgl. E.Bemstein, Die Voraussetzungen..., a.a.O., insbes.SS.47ff; M.Adler, Ausgewählte Schriften, a.a.O.; K. Vorländer, Kant und Marx, a.a.O.; H.J. Sandkühler u. R.de la Vega (Hrsg.), Marxismus und Ethik, a.a.O. 3 3. Bernd Rabehl, Marxismus heute: Toter Hund oder des Pudels Kem?, Zürich, 1986, S.13 34. Ralf Dahrendorf, Marx in Perspektive, Hannover, 1953, S.94f. Obwohl Dahrendorf aufzeigte, daß der Marxsche Begriff des Gerechten zugleich »absolut« und »deriviert« war, bemerkte er nicht, daß die beiden Momente vielmehr auf den Kantschen Unterschied zwischen »noumena« und »phänomena«, mit dessen »Vereinigung« Hegel sich beschäftigte, hinweisen sollten. Dies ignorierend verneinte er also die Verwandtschaft zwischen Marx und Kant als »absurd genug«. A.a.O., S.13 If. 35.1.Kant, KdpV, A192f. 36jV/CTT4, S.472f. 31.MEW3, S.6.

DER KOMMUNISMUS ALS »IDEE« 149

nicht wesentlich geändert, sondern nur anders genannt wird. So waren die Fälle des (Ex)Realsozialismus, in dem »der zentrale Plan immer als eine Machtressource der Partei- und Staatsbürokratie benutzt worden ist und daher niemals vergesellschaftete Plannung war, in deren Prozeß die gesammte Gesellschaft aktiv und partizipativ einbezogen gewesen wäre.«38 Stattdessen ist vielmehr die kommunistische Revolution.die Sich-Umwälzung der als Totalität verstandenen Gesellschaft vermittelst des Fortgangs des Kapitalismus zu seiner eignen Negation einerseits und der Solidarität, der Vereinigung als »das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe« sowie der selbstbewußten Organisierung der Arbeiter andererseits, die eher zum »Praktikum« des »Vereins freier Menschen« dienen, indem dadurch die Arbeiter, zu denen neben den Fabrikarbeitern auch die Dirigenten bzw. Manager gehören, über die Produktion selbstständig verfügen können, ohne sich der Funktion des Kapitals als Leitung, Überwachung und Vermittlung noch zu unterstellen.39 Mit anderen Worten, die Proletarier können nur die kommunistische Revolution durchsetzen, indem sie sich selbst ihres besonderen Zustandes wegen schon als Mitglieder der als eine Totalität vorgestellten kommunistischen Gesellschaft betrachten, in der alle Beiträge für die vergesellschaftliche Produktion als gleichartige Funktionen (während die gegenwärtigen Klassen vielmehr als Träger anscheinend inkommensurabel verschiedenartiger Funktionen bestehen), und daher nach ihren verbrauchten Zeiten sowohl bei der Produktion als auch bei der Distribution der Produkte berechnet würden.

Als die Gesellschaftsform ist also die kommunistische Gesellschaft bzw. der Kommunismus nicht ein besonderes Ziel irgendeiner besonderen Gruppe, sondern das »Dasein«, das die »revolutinäre Praxis« postulieren muß, die innerhalb der in verschiedne und gegensetzliche Klassen geteilten Gesellschaft aber zugleich dieselbe Gesellschaft als eine klassenlose Gesellschaft aufzuheben versucht. Die »revolutionäre Praxis« besteht also nicht nur darin, daß sie auf den Kommunismus abzielt, sondern darin, daß sie, um sich zu demselben zu entwickeln, auch denselben schon voraussetzt, so daß es scheinen mag, als ob es nicht eine bestimmte Klasse, sondern die Gesellschaft selbst es wäre, welche die »revolutionäre Praxis« durchführen würde. Nicht aber aufgrund der Logik oder des abstrakt moralischen Gesetzes (wie bei Kant) wird der Kommunismus postuliert, sondern aufgrund dessen, daß, just wie alles Ideelle im Materiellen aufzulösen ist, als Grundlage des Kommunismus die amA auch schon sich vom Kapitalismus abhebt, obwohl dies nur von denen erkannt wird, die sich von der kapitalistischen Befangenheit befreien, indem sie entweder aus ihrer eignen Erfahrungen spontan erwachen oder aufgrund ihrer Erfahrungen sich intellektuell aufklären lassen. Trotz der verschiednen bzw. idealistischen und materialistischen Begründungen bleibt es indes, daß der Kommunismus als »Postulat« für die Marxsche »revolutionäre Praxis« dient wie die Ideen bei der Kantschen moralischen Praxis.

38. Elmar Altvater, Die Zukunft des Marktes, Münster, 1992, S.356. Vgl. auch Dong-Sun Chang (neben Carson Chang der Mitbegründer der »Sozialdemokratischen Partei Chinas«), Demokratie und Sozialismus, Shanhai, 1948; Shan-Hao Sun, »Das Zurückziehen des Sozialismus: Einige Betrachtungen und Refiektionen«, in Reflection, Nr.2, Taipei, 199i(Sommer). 39. Vgl. MEW23, S.392F,MEW25, S.452f, 456f.

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4. »ZWECK« BEI INTERPRETATION DER GESCHICHTE Um eine bestimmte Produktionsweise zu verstehen, ist sie als eine bestimmte »Erscheinungsform«, als der irdische »Fall« der Gesellschaftsform zu betrachten, die wiederum bei »revolutionärer Praxis« zu postulieren ist, um sich selbst irdisch durchsetzen zu können. Da aber als das Erscheinende die Gesellschaft jenseits von den Erscheinungen liegt, und als Postulat dieselbe auch zur Praxis eine Distanz wahrt, befindet sich also eine Kluft zwischen Diesseits und Jenseits: ein GEGEN­ STÄNDLICHES Verhältnis. Das Jenseitige könne sich diesseitig sowohl erscheinen als auch durchsetzen, indem es vom Diesseitigen als sein eigner »Zweck« genommen würde, so daß die wirkliche Welt als eine »Entwicklung« betrachtet werden könnte, die sich dadurch von Wandlung unterscheidet, daß sie auf Zweck abzielt, und daher sich als »Übergang« bildet. Dies Verfahren hat die ganze (Vor)Geschichte der menschlichen Gesellschaft schon erlebt: sie »ist nichts als die Aufeinanderfolge der einzelnen Generationen«, die eher als »asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweise als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden«.40 Die Aufeinanderfolge der Untergänge einer veralteten Gesellschaftsform sowie die Überwältigung einer neuen veranlaßt also eine spekulative Ansicht, »daß die spätere Geschichte zum Zweck der früheren gemacht wird«, während der Zweck eignentlich nichts ist »als eine Abstraktion von der späteren Geschichte, eine Abstraktion von dem aktiven Einfluß, den die frühere Geschichte auf die spätere ausübf«.41 Wenn aber die frühere Geschichte auf die spätere den Einfluß ausübt, von dem der Zweck der ersten abstrahiert wird, hat der Kapitalismus als die gegenwärtige bzw. letzte Gesellschaftsform aber offenbar keine nachfolgende Geschichte, daher auch keinen Zweck. Wäre hier stehengeblieben worden, so würde es Marx nicht ermöglicht, von der »Rückverwandlung des Kapitals in Eigentum der Produzenten«, von der »Negation der Negation« des Kapitalismus zu sprechen, sondern wäre sowohl Fukujamas hegelianisches »Ende der Geschichte«42 berechtigt, für den die kapitalistische Pro­ duktionsweise mit ihren Idealen von Freiheit und Gleichheit vielmehr entgültig siegt, als auch dagegen die pluralistische Auffassung leicht zuzulassen, daß »der entwickelte Kapitalismus [...] auf wenige Gesellschaften beschränkt [bleibt]«, so daß er vielmehr historisch in der Lage sei, »eine Koexistenz einzugehen mit anderen Produktions- und Herrschaftsformen«,43 selbst wenn dabei auch durch Marxsche »Kritik« (besonders im klassischen Sinne) anerkannt wird, daß die kapitalistische Produktionsweise - eben wie alle koexistierden anderen - eine historisch bestimmte ist. Als eine historisch bestimmte Produktionsweise kommt der Kapitalismus nicht zum Stillstand, sondern zu seinem Untergang. Aber auch nicht zu irgendeinem beliebigen. Parallel zur bürgerlichen Revolution, die den Feudalismus im Okzident überwältigt hat und weltweit stets noch überwältigt, ist eine proletarische vorzustellen, die den 40.AÆW13, S.9. 41AÆJF3, S.45; ÂÆJF13, S.9. 42. Francis Fukuyama, the End of History and the Last Man, N.Y., 1992. Dazu auch Perry Andersons Kritik, Zum Ende der Geschichte, Berlin/Nördlingen, 1993. 43. Bernd Rabehl, Marxismus heute, S.21F

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Kapitalismus dadurch überwältigen oder sogar gleichfalls vW.s noch überwältigen sollte, eine neue Produktionsweise, nämlich den Kommunismus, hervorzubringen. Ohne diese Setzung, die als »Leitfaden«- der Studien die Spur des Kapitalismus erleuchten soll, ist es unmöglich, z.B. in den Aktiengesellschsften einen »Durchgangspunkt zur Rückverwandlung des Kapitals in Eigentum an den Produktionsmitteln und an der Mehrarbeit«, oder aus der »Verkürzung des Arbeitstags« die »Grundbedingung« für das »wahre Reich der Freiheit« zu ersehen.44 Hingegen ist vielmehr nur zu schließen, daß der Kapitalismus sich verändert, oder wie Immanuel Wallerstein bemerkte, daß »even if today ci transition is inevitable, it is not inevitably a transition to socialism (that is, a transition to an egalitarian world in which production is for us value).«45

Just wie es »dem Werte nicht auf der Stirn geschrieben [steht], was er ist«,46 so der Entwicklung des Kapitalismus. Wenn es für Wallerstein - eben wie für Rosa Luxemburg - so »certain and desirable« sei, »that capitalism will in the not too distant future knows its demise«, sollte dies also bedeuten, daß es nicht die Entwicklung an sich, sondern deren den Kommunismus orientierende Interpretation ist, das sich durch die sich entwickelte Wirklichkeit, zu der auch die menschliche »revolutionäre Praxis« gehört, beweisen läßt, so daß Wallerstein auch aufzeigte: »that the nature of our future world remains an open question, depending on the outcome of current struggle, seems to me equally certain.«47 Keine gesetzliche Garantie, daß der Kommunismus sowie die proletarische Revolution und damit der Untergang des Kapitalismus schon an der historischen Tür klopft, kann sich also bewähren, ohne die Totalität, die Gesellschaftsform oder den Kommunismus, zu der/dem sich der Kapitalismus gesetzmäßig entwickeln sollte, wie Sartre behauptete, heuristisch »als regulative Prinzipien^ zu gebrauchen.48 In diesem Sinne kann auch gesagt werden, daß Marx vielmehr »der Kantschen Transzendentalphilosophie näher als dem Hegelschen Identitätssystem« steht,49 weil als »Leitfaden zum Studium der Geschichte« der historische Materialismus »die beiden Momente zum Ausdruck [bringt]: den >kalten Blickt für die bestimmenden Ursachen und wirklichen Ereignisse und die regulative Interpretation der Geschichte, wie sie nicht ist und doch prinzipiell sein soll.«50 Als »Zweck« der geschichtlichen Entwicklung ist aber der Kommunismus nicht willkürlich oder spekulativ vorgestellt, sondern materialistisch, also wissenschaftlich, weil er, selbst wenn nur vermittels der Kreativität bzw. der Prognosekraft des Denkens, seine Wurzel schon im Kapitalismus hat. Obwohl es für dieses »Vorhandensein« als einem »Keim« überhaupt keine Garantie geben konnte, kann sowie können wird, muß es allerdings »gedacht« werden, daß es als »Zweck« oder »Endziel« den Menschen vorschweben würde, so daß der Kapitalismus nicht für ewig bleiben, und die »revolutionäre Revolution« nicht umsonst sein würde.

44JWEIF25, S.456f; 828. 45.Etienne Balibar & Immanuel Wallerstein, Race, Nation, Class: Ambiguous Identities, London/New York, 1991, p.!33f. 46jW£JT23, S.88. 47. Etienne Balibar & Immanuel Wallerstein, Race. Nation, Class: Ambiguous Identities, p.134. 48. Jean-Paul Sartre, Marxismus und Existentialismus, S.24. 49. Werner Post u. Alfred Schmidt, Was ist Materialismus?, München, 1975, S.66. Zur Kantschen Philosophie der Geschichte, vgl. auch, H.Arendt, Lectures on Kant's Political Philosophy, Yirmiyahu Yovel, Kant and the Philosophy of History, Princeton, 1980. 50. Matthias Lutz-Bachmann, Ceschichte und Subjekt, S.213.

DRITTER TEIL

KRITIK UND DIALEKTIK das ganze



DAS GANZE DER BEZIEHUNG VON ERSCHEINUNG UND WESEN

KAPITEL VIII

DAS GANZE DER BEZIEHUNG VON ERSCHEINUNG UND WESEN

Alle Wissenschaft »wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen.«1 Der Unterschied zwischen der Erscheinung dessen, was da erscheint, und dem Wesen, das im Untersuchundsgegenstand steckt, ist also Marx nach, mit Lukäcs' Worten, »die erste Voraussetzung einer wirklich wissenschaftlichen Betrachtung«.2 »Unterschied« bedeutet aber nicht »ohne Beziehung zu haben«. So wie es immer einen Unterschied zwischen Erscheinung und Wesen gibt, so gibt es doch stets eine Beziehung zwischen Beiden. Diese Beziehung ist, wie oben erörtert wird, ein Doppeltes: die Erscheinung bezieht sich einerseits auf das Wesen, und ■ das Wesen bezieht sich auch andererseits auf die Erscheinung: eine abstrakte »Interaktion« oder »Wechselwirkung« gibt es also nicht. Als die beiden Seiten desselben Verfahrens sind sie aber nicht gleichartig. Die Erscheinung im Wesen aufzulösen, heißt »Kritik«, während umgekehrt, daß das Wesen sich zur Erscheinung entwickelt, »Dialektik« heißt. »Kritik« setzt wie »Dialektik« den Unterschied zwischen der Erscheinung und dem Wesen voraus, weil die Erscheinung nur im Verschiedenen aufgelöst werden kann, just wie das Wesen nur als Verschiedenes erscheinen kann. Mit anderen Worten, ohne die Spannung zwischen der Erscheinung und dem Wesen ist sowohl die Auflösung als auch das Erscheinen unmöglich. Daß eine verdoppelte Beziehung zwischen der Erscheinung und dem Wesen als zwei Pole bzw. zwei Substanzen besteht, bedeutet aber zugleich, daß die beiden innerhalb der Beziehungen jeweils verschiedne Stellen enthalten, weil es nicht die Gestalt der Substanz an sich ist, das die Beziehung bestimmt, sondern vielmehr umgekehrt, daß die Gestalt der Substanz stets für sich von der Beziehung bestimmt werden muß. Die Frage ist also nicht, was für eine Beziehung zwischen zwei gegebnen Substanzen ist, sondern wie die Substanzen in einer bestimmten Beziehung aussehen werden. So ist z.B. dieser Mensch »nur König, weil sich andre Menschen als Untertanen zu ihm verhalten«, während sie umgekehrt metaphysisch befangend Untertan zu sein glauben, »weil er König ist«.3 Die die Gestalt der Substanz bestimmende Beziehung ist dreifach auszuführen:

1. AY/JF25, S.825. 2. G.Lukäcs, Geschiehte und Klassenbewußlsein, S.68. 3. MEWTs, S.72. Vgl. auch S.66; 67(N).

DAS GANZE DER BEZIEHUNG 156

I. POINT DE DÉPART UND POINT D'ARRIVÉE Sofern es sich um Kritik handelt, ist der gefragte Untersuchungsgegenstand als Erscheinung point de départ, und das Wesen point d'arivée. Sofern es sich aber um Dialektik handelt, ist das Wesen umgekehrt point de départ, und die Erscheinung point d'arivée.

1.1. point de départ der Dialektik Erst mit der Dialektik wird eine Erscheinung erklärt, weil die »einzig materia­ listische und daher wissenschaftliche Methode« nicht darin besteht, »durch Analyse« bzw. Kritik den Kem der Erscheinung zu finden, sondern umgekehrt darin, aus dem Kern ihre Form dialektisch zu entwickeln.4 Um zum Beispiel das Geld im Kapitalismus zu erklären, ist also nicht nur zu wissen, daß Geld Ware ist, sondern »wie, warum, wodurch Ware Geld ist.«5 Mit anderen Worten, das Geld im Kapitalismus wird nicht erklärt, indem es bloß in der Ware als seinem Wesen aufgelöst wird, sondern indem es als point d'arivée der dialektischen Entwicklung der Ware, deren innerer Widerspruch (zwischen GW und W) in derselben Entwicklung von der einfachen Wertform bis zur Geldform sich äußert, betrachtet wird. Die Dialektik, in der sich das Wesen als point de départ auf die Erscheinung als point d'arivée bezieht, bildet also die Darstellung der Spur, in der die Erscheinung theoretisch (statt geschichtlich) entsteht. Und es ist in diesem Sinne, daß Marx die Vulgärökonomie abwies, die »sich nur innerhalb des scheinbaren Zusammenhangs herumtreibt«.6 Aufgrund dieses Verständnisses, daß Dialektik ein von der wirklichen Geschichte relativ unabhängiger, d.h. quasi-a-historischer, ideeller bzw. theoretischer Prozeß ist, in dem sich point de départ zum point d'arivée entwickelt, damit die mannigfaltigen Erscheinungen als eine »Konstruktion a priori« systematisch dargestellt werden können, kann gesagt werden, daß es bei Marx die »materialistische« Dialektik oder die Engelssche »Dialektik der Natur« nicht gibt, sofern sie als vom Ideellen unabhängig verstanden wird. Aufgrund desselben ist auch aufzuzeigen, daß die Lukäcssche Interpretation der Marxschen Dialektik als »Wechselwirkung«, als »dialektische Beziehung des Subjekts und Objekts im Geschichtsprozeß«,7 vielmehr wie eine Verwirrung sein muß, selbst wenn diese Interpretation in ihrem eignen Zusammenhang überzeugend sein würde.

1.2. point de départ der Kritik

Daß aber die Ware das Wesen des Geldes ist, daß das Geld aus der Entwicklung der Ware bzw. aus der des inneren Widerspruchs der Ware zu erklären ist, ist »nur eine Entdeckung für den, der von seiner fertigen Gestalt ausgeht, um sie hinterher zu

4. MEW23, S.393(N). 5. ÂÆ7F23, S.107. 6. MEW23, S.95(N). 7. G.Lukàcs, Geschichte und Klassenbewußtsein, S.61.

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analysieren.«8 Von der Ware ausgehend das Geld zu erklären, ist also keineswegs ein selbstverständliches oder selbständiges Verfahren. Es setzt vielmehr voraus, vom Geld ausgehend seine Gestalt zu analysieren. Nur wenn im Ende derselben Analyse die Ware als das Wesen des Geldes auftaucht, kann dasselbe Verfahren erst gerechtfertigt werden. Point de départ der Dialektik, wie wissenschaftlich auch immer sie scheinen mag, muß stets zugleich point d'arivée der Analyse bzw. der Kritik sein, sonst wird die Dialektik zur Metaphysik, da sie dann nur als die Bewegung der Abstraktionen oder der Begriffe im Vakuum stattfindet So warnte Marx vor der Proudhonisehen »Metaphysik der politischen Ökonomie«,9 und betonte, daß seine Analyse (statt Dialektik) eben nicht wie Proudhon mit der Begriffen, sondern mit der Ware als vorhandenen Erscheinung anfing:

De prime abord gehe ich nicht aus von »Begriffen«, also auch nicht vom »Wertbegriff«, und habe diesen daher auch in keiner Weise »einzuleiten«. Wovon ich ausgehe, ist die einfachste gesellschaftliche Form, worin sich das Arbeits­ produkt in jetzigen Gesellschaft darstellt, und dies ist die »Ware«.10

1.3. point de départ der Kritik sowie point d'arivée der Dialektik Point de départ der Dialektik kann der point d'arivée der Kritik aber überhaupt nur sein, weil diese von der gegebenen Erscheinung als point de départ ausgeht, welcher wieder point d'arivée der Dialektik bildet. Mit anderen Worten, das Wesen kann nur durch Kritik, die mit der Erscheinung anfängt, erreicht werden, indem die Erscheinung als Folge eines bestimmten Entstehungsprozesses betrachtet wird, der sich nicht an sich erkennen läßt, sondern nur vermittels der Dialektik erst theoretisch dargesetellt werden kann. Point de départ der Kritik muß also stets auch zugleich point d’arivée der Dialektik sein. Also kann z.B. das Geld als point de départ nur analysiert werden, indem es schon etwa geahnt wird, daß es point d'arivée einer gewissen Dialektik sein müsse. Bloß diese »Ahnung« sollte zur Marxschen »Weltanschauung« dienen, wenn es bei Marx überhaupt um eine solche gehen würde. Da aber zur »wissenschaftlichen Methode« nicht einmal die Kritik, obwohl sie stets von der Dialektik vorausgesetzt werden muß, sondern bloß letztere gezählt werden kann, so gehört die obig genannte »Ahnung« offenbar auch nicht zu derselben »Methode«. Wenn der Satz: »was wirklich ist, das ist vernünftig«11 so zu verstehen ist, daß das Wirkliche als point d'arivée von einem Wesen als point de départ ausgehend dialektisch dargestellt werden können muß, so ist dieses »Müssen« nicht der Bestandteil der Methode, sondern nur das, was die Methode ermöglicht: es bewährt sich, wenn durch die Methode das Wirkliche tatsächlich dialektisch dargestellt würde; es muß aber dagegen »heuristisch« funktionieren, wenn diese Darstellung (noch) nicht praktisch würde. Da diese »Ahnung« oder »Weltanschauung« bei Marx statt unabhängig oder »konstruktiv« immer nur abhängig oder »heuristisch« sein muß, steht die Hegelsche Philosophie »auf dem Kopf«, für die diese »Ahnung« unabhängig und das Wirkliche 8. MEW23, S.105. 9. MEWA, S.125ff 10. Marx, »Randglossen zu Adolph Wagners >Lehrbuch der politischen Ökonomie««, MEW19, S.367f. 11 .Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts,a.&.O., S.25

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umgekehrt abhängig sei, da das Reale eben nichts »als Resultat des sich in sich zusammenfassenden, in sich vertiefenden und aus sich selbst sich bewegenden Denkens zu fassen« sei.12

1.4. Frage nach dem Kommunismus

Es ist aber weiterhin noch zu bemerken, daß die Marxsche Dialektik offenbar nicht beim Status quo des Kapitalismus zum Ende kommt, sondern sich zum Kommunismus als der Negation desselben entwickelt. Wenn also die kapitalistische Gesellschafts­ formation point de départ der Kritik ist, so ist point d'arivée der Dialektik nicht dieselbe Gesellschaftsfonnation, sondern ihre Negation. Was ermöglicht aber solches »Übergehen«? Nicht nur das, daß sich der Keim des Kommunismus schon in der Entwicklung des Kapitalismus befindet, so daß von demselben als Erscheinung ausgehend der Keim des Kommunismus kritisch erlangt, und daher auch umgekehrt zu demselben entwickelt werden kann, sondern auch das, daß der Keim des Kapitalismus, nämlich der Gegensatz zwischen der amA und der nA, zugleich auch der des Kommunismus ist, so daß er, nachdem er durch Kritik derselben Erscheinung hingewiesen worden ist, sowohl zum Kapitalismus als auch zum Kommunismus sich entwickeln kann. Weil, um den Kommunismus darzustellen, ein point de départ der Dialektik unentbehrlich gefordet werden muß, die wiederum nur point d'arivée der Kritik der vorhandnen Erscheinung sein muß, die aber dem Kommunismus als einer »Vorstellung« eben fehlt. Als eine Vorstellung ohne Erscheinung kann aber der Kommunismus nur aufgericht werden, indem sich der point de départ der dialektischen Darstellung des Kapitalismus schon die Möglichkeit läßt, von ihm ausgehend eine neue Gesellschaftsform mit Hilfe der »antizipierden Kraft« des Denkens13 theoretisch zu konstruieren. Obwohl die Entwicklung des Kapitalismus »notwedig« sein muß, weil alle ihren Momente in der dialektischen und daher notwendigen Kette eingeordnet werden, muß der Kapitalismus nicht die »einzige« Form sein, zu der sich der point de départ der Dialektik des Kapitalismus entwickelt. Just wie jenseits von der Notwendigkeit die Freiheit liegt,14 so weist auch point d'arivée der Kritik des notwendigen Kapitalismus die Vorstellung eines »Vereins freier Menschen« hin, die als point d’arivée einer Dialektik erst praktisch würde, wenn durch eine »lange und qualvolle Entwicklungsgeschichte« die »frei vergesellschaftlichtetn Menschen« die Gesellschaft »unter deren bewußter planmäßiger Kontrolle« stehen würden.15

2. ONTOLOGISCHE UND EPISTEMOLOGISCHE CONDITIO SINE OUA NON 2.1. »ontologische conditio sine qua non« der Erscheinung Die Kritik, die Forschung oder die Analyse soll mit der Erscheinung anfangen, so z.B. mit der Bevölkerung. Die Bevölkerung hat, wie alles empirisch Gegebene, ihre 12.AÆ7F42, S.35. 1 S.G.Lohmann, Indifferenz und Gesellschaft, S.42. 14. Vgl.M£W25, S.828. 15. MW23, S.94.

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eigene Entstehungsgeschichte, also ihre vorherigen Zustände, ihre historischen Voraussetzungen. Diese bilden aber deshalb nicht den Gegenstand der Marxschen Kritik, weil Marx' Voraussetzungen sucht, die sich von der Erscheinung qualitativ unterscheiden, während jene als Erscheinungen derselben Natur wie die Bevölkerung sind, so daß die Aufgabe statt gelöst nur verschoben wird, wenn an Stelle der »Voraussetzung« diese geschichtlich vorherigen Zustände treten. Der Gegenstand der Marxschen Kritik besteht vielmehr im »Wesen«, das als »conditio sine qua non« das Sein oder onto der Erscheinung ermöglicht. So beschrieb Marx seine Kritik: die Bevölkerung ist nichts, wenn die Klasse als ihre Bestimmung nicht erkannt wird. Die Klasse ist wieder nichts, wenn das Kapital, die Lohnarbeit oder der Wert usw. als ihre Bestimmungen nicht erkannt werden. Dasselbe Verfahren muß sich nach und nach bis zu einem »Punkt« weiter durchsetzen, der als »das Wesen« endlich gerechtfertigt werden kann, so z.B. die abstrakt menschliche Arbeit (amA).16 Die Kritik ist also der Zugang zum Wesen, das das »Sein« oder die »Existenz« der Erscheinung ermöglicht; und als Wesen dienen die abstrakten, ideellen bzw. theoretischen Kategorien jeweils zur »ontologische conditio sine qua non« der jeweili­ gen Erscheinungen. Die Erscheinung, die zwar als point de départ der Kritik zuerst sinnlich zu empfangen ist, enthält also kein Sein an sich: ihr Sein kommt vielmehr auf das Wesen an bzw. wird von demselben vermittelt, das nicht mit der Erscheinung zu identifizieren ist, da sonst »alle Wissenschaft überflüssig wäre«. Dagegen führt das Wesen, die Kategorie, z.B. der Tauschwert, »ein antediluvianisches Dasein«,17 ein an sich Sein, das nicht mehr von irgendwas abhängt, sondern umgekehrt alles bestimmt, indem es sich dialektisch bewegt, entwickelt und daher verwirklicht. In diesem Sinne ist hier zu behaupten, daß das Wesen »ontologische conditio sine qua non« der Erscheinung ist.

2.2. »epistemologische conditio sine qua non« des Wesens

All dies passiert aber nur im Rahmen des Denkens, d.h. nur auf eine theoretische, gedankliche bzw. epistemische Weise. Wenn das Wesen wirklich »ein ante­ diluvianisches Dasein« führt, so muß sich dies Dasein gleichzeitig epistemologisch beschränken, oder mit anderen Worten, ist seine »Wirklichkeit« nur eine theoretische, epistemische Wirklichkeit, und befindet sich nur im Denken, das vielmehr umgekehrt das ohne Zutun der menschlichen Tätigkeit schon selbständige Dasein der Erscheinung voraussetzt, weil das Denken nichts schaffen kann als das schon ihm gegebene, und daher stets seinen Inhalt mit der jeweils sich erzeugenden Erscheinung wechseln muß. So schilderte Marx: »Das reale Subjekt bleibt nach wie vor außerhalb des Kopfes in seiner Selbstständigkeit bestehn; sofern sich der Kopf nämlich nur spekulativ verhält, nur theoretisch. Auch bei der theoretischen Methode daher muß das Subjekt, die Gesellschaft, als Voraussetzung stets der Vorstellung vorschweben.«18 Ohne die »epistemologische conditio sine qua non« des Wesens zu berücksichtigen, d.h. »von der Praxis isolierend«, ist also der Streit »über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens [...] eine reine scholatische Frage«.19 Dies gilt nicht nur 16. AÆIP42, S.35f 17. Ebd., S.36. 18. Ebd. \9.MEW3, S.5.

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für Hegel, der »auf die Illusion« geriet, »das Reale als Resultat des... Denkens zu fassen«,20 sondern auch sowohl für Proudhon, der eine »Metaphysik der politischen Ökonomie«21 aufbaut, in der es bloß um »Reihenfolge in der Idee« geht, als auch für Ricardo, der in seiner Lehre »alle möglichen Kategorien, die erst entwickelt werden sollen, als gegeben voraussetzt, um ihr Adäquatsein mit dem Wertgesetz nach­ zuweisen.«22 Hegel, Proudhon und Ricardo stimmen also - für Marx - mehr oder minder damit überein, daß das Gedankliche die selbstständige Welt bildet, und daher vom Wirklichen isoliert betrachtet werden kann, das von ihnen entweder einfach ignoriert oder, um den sogenannten (Kantischen) Dualismus zu überwinden, bewußt in das Denken aufgelöst wird. Und Marx' »kritische« Beschäftigung besteht eben darin, das Wirkliche von der Herrschaft des Denkens zu befreien, damit der empirisch vorhandene Sachverhalt erleuchtet werden kann, daß das Wesen von der Erscheinung epistemisch abhängig sein muß, die umgekehrt das Wesen ontologisch, voraussetzt.

2.3. Denken und Sein Es geht hier offenbar um die Spannung zwischen Sein und Denken, zwischen Praxis und Theorie, zwischen onto und episteme. Damit wird wohl an die sich verbreitende Engelssche These in Feuerbach erinnert, daß die große Frage aller Philosophie »nach dem Verhältnis von Denken und Sein« dargestellt werden sollte.23 Dasselbe Verhältnis nur als »Was ist Ursprünliche« verflacht -, wiederholt sich in Lenins Materialismus und Empiriokritizismus und auch - mit der Variante von »Priorität« - in Lukäcs' Ontologie, in der es heißt:

Sprechen wir einer Kategorie eine ontologische Priorität vor der anderen vor, so meinen wir bloß: Die eine kann ohne die andere existieren, während das Gegenteil seinsmäßig unmöglich ist. So gleich bei der zentralen These jedes Materialismus, daß das Sem eine ontologische Priorität vor dem Bewußtsein hat. Ontologisch bedeutet das einfach so viel, daß es ein Sein ohne Bewußtsein geben kann, während jedes Bewußtsein etwas Seiendes zur Voraussetzung, zur Grundlage haben muß.24

Diese Beschreibung genügt, wenn es bloß darauf abzielt, die idealistische Illusion zu zerstören, die die ideelle Welt als die Welt betrachtet. Sie liegt aber noch von der Aufgabe fern, das Marxsche Verständnis für das Verhältnis von Sein und Denken auszuführen, weil sie nicht genügt, sogar impotent ist, die materialistische Illusion gleichfalls zu vernichten, da sie eben derselben untersteht, die, direkt im Gegenteil zu ihrem idealistischen Äquivalent, das Materielle, das Sein oder der empirisch vor­ handene Gegenstand als unmittelbar gegebenes bzw. von nichts vermitteltes versteht, während vom »ohne Bewußtsein schon seienden Sem« für Marx, wie obig erörtet, nur die Rede sein kann, erst nachdem die »Verarbeitung von Anschauung und Vorstellung in Begriffe« erledigt worden ist.

20AÆJ/42, S.35. 21. Vgl.Das Elend der Philosophie, MEW4. 22. Marx an Ludwig Kugelmann am 11 .Juli. 1868, MEW32, S.553. 23jWW21, S.274. 24.G. Lukäcs, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins, Darmstadt u. Neuwied, 1984, S.582.

DAS GANZE DER BEZIEHUNG 161

Ein gegensätzliches Extrem wird von Althusser angeboten. Für ihn sei unter dem Marxschen Ausdruck, daß das reale Subjekt »nach wie vor außerhalb des Kopfes in seiner Selbstständigkeit bestehn [bleibt]«, vielmehr zu verstehen, daß die selbstständige Außenwelt nie von der Theorie erfasst werden kann, also »ohne jemals verwechselt werden zu können mit jenem anderen >KonkretenWesen< gelesen werden - SHS.], das selbst, von seiner Wirklichkeit ausgehend, die Bedingungen seiner Verwirklichung setzt.«46 Mit anderen Worten, nachdem das Zeichen »]-[« das Wesen an die Erscheinung gekettet hat, entsteht aus beiden dann ein »stolzer, symmertrischer, wunderbarer Bau«,47 d.h. eine theoretische Totalität, deren Elemente alle schon theoretisch erklärt wurden. Jenseits des neuen entstandenen Wesens tauchen aber jetzt unentbehrlich die neuen Erscheinungen, die »nach wie vor außerhalb des Kopfes in [ihrer] Selbständigkeit bestehnfbleiben]«,48 sich stets entwickeln, sich stets vom Wesen distanziert, sich noch nicht theoretisch erklären lassen, und daher noch demselben Verfahren untergezogen werden müssen wie die Erscheinungen, die schon von Wesen eingeschlossen sind. Das heißt, von diesen neuen Erscheinungen wird die Kritik erneut - von der Dialektik geleitet - ausgehen, um ihr Wesen zu erreichen. Es wird so illustriert:

46. GÆ, S.363. 47. R. Luxemburg, a.a.O., S.438. 48. G/?, S.22.

öAS GANZE DER BEZIEHUNG 169

&) Kritik J

a)

Ers cheinung



Wesen

b)

b) Dialektik

Wesen

Erscheinung

a) Kritik a)

Erscheinung



b)

W es en

b) Dialektik

Zwischen den beiden Sphären von Wesen und Erscheinung herrscht aber kein Vakuum, sondern die Beziehung der »GEGENSTÄNDLICHKEIT«, die auch mit dem Zeichen »]-[« charakterisiert werden kann. Wenn diese Beziehung dagegen nur einseitig begriffen wird, nämlich, entweder das Wesen als die Welt von der Erscheinung losgelöst wird, oder die Erscheinung mit dem Wesen verwechselt wird, dann findet sich entweder Idealismus oder Fetischismus, über den Marx konsequent scharfe Kritik übte (Vgl. Kapitel III und V-3). Wird diese Beziehung aufgezeigt, so ergibt sich:

4.3. Die allgemeine Form Um klarer auf das Verhältnis hinzuweisen, werden das Wesen und die Erscheinung in der Sphäre der Erscheining als »Wesen I« und »Erscheinung I« jeweils umgezeichnet, während dagegen als »Wesen II« und »Erscheinung II« in der Sphäre von Wesen.

a) Kritik

Erscheinung H Wesen ................ a) Erscheinung

i

Wesen H

i

l_____ i

1

l—

__ I 1

Erscheinung I

i

Wesen Ï

b) Dialektik

DAS GANZE DER BEZIEHUNG 170

Einzel betrachtend besteht hier eine Quarte-Beziehung: Wesen I ]-[ Erscheinung l Wesen II ]-[ Erscheinung II Wesen I ]-[ Wesen II Erscheinung I ]-[ Erscheinung II

Sie unterstellt aber noch einer Dual-Beziehung, nämlich: zwischen den beiden Spalten (zwischen »Wesen I+II« und »Erscheing I+II«) sowie zwischen den beiden Zeilen (zwischen »Wesen I + Erscheinung I« und »Wesen II + Erscheinung II«, kurz, zwischen I und II) besteht auch die Beziehung »]-[«. So kann die allgemeine Form je nachdem umformuliert werden: a) Kritik

Wesen H

Erscheinung H

W es en

b) Erscheinung Wesen I

Erscheinung I

b)- Dialektik

oder: a) Kritik Erscheinung H

Wesen H

Wesen

b)

a) Erscheinung

Erscheinung I

Wesen I

b) Dialektik

Diese Form ist allgemein, weil sie imstande ist, alle Momente der Marxschen Methode ans Licht zu bringen. So daß durch sie, wie obig gezeigt wird, sowohl die Marxsche Ambivalenz zur Hegelschen Philosophie, das rätselhafte erste Kapitel des Kapital, als auch die strenge Bedeutung der Marxschen »Kritik« sowie die Funktion des Begriffs »Kommunismus« aufgeklärt werden kann, indem an Stelle der vier Kategorien (Wesen I u.II, Erscheinung I u.II) jeweils andere zutreffenden Kategorien treten, wie z.B. amA, nA, GW und W... usw.

DAS GANZE DER BEZIEHUNG 171

Sofem es aber keine eindeutige Ausführung in den Marxschen Texten gibt - und dies ist so oft der Fall, daß es alles Mißverständnis veranläßt -, die genau über vier Kategorien verfügt, ermöglicht diese allgemeine Form das Vierte tax finden, um die andren Drei in einem ordentlichen Verhältnis einzuordnen, und daher verstanden zu werden, indem es geahnt wird, daß es ein gewisses Viertes mit so und so Eingenschaften geben muß, die von der »]-[« Beziehung bestimmt werden. So z.B., die verdoppelte Arbeit steht »dem Gegenstand« gegenüber* der aber nicht der Zwieschlächtigkeit der Arbeit entsprechend eindeutig verdoppelt wird. Der allgemeinen Form nach wird aber die »Gegenständlichkeit« von der »Arbeitgegenstände« unterschieden, und daher darauf hingewiesen, daß Marx' Naturbegriff vielmehr der Kantschen transzendentalen Philosophie näher steht (Vgl. Kapitel V-2). Oder zum andren Beispiel, es fehlt schon dem Anfangsatz des Kapital das Vierte, der aus drei Elemente besteht: der Reichtum, die kapitalistische Produktionsweise und die Waren­ sammlung. Und der allgemeinen Form nach wird es aufgeklärt, daß, während der Reichtum in der kapitalistischen Produktionsweise als die Warensammlung erscheint, er doch als solcher der Gesellschft entgegenstehen muß, die vielmehr der Kommunismus ist, da sie die Gesellschaft sein muß, die als verschiedne Gesell­ schaftsformen erscheint oder sich zu verschiednen Gesellschaftsformen entwickelt, und daher unbedingt von den bestimmten Formen eingeschränkt und verdreht wird. (Vgl. Kapitel VI) Diese Funktion der allgemeinen Form kann auch als »Leitfaden« der Marx-Studien genannt, der der kritischen Analyse der Marxschen Texte zugrunde liegt. Als »das allgemeine Resultat« läßt sich diese Form aber gleichfalls von der neusten Entwicklung kritisieren.

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