Hegels Logik und die Chemie: Fortlaufender Kommentar zum "realen Maß" 9783787330751, 9783787315215

Exposition – Zweytes Kapitel. Das reale Maaß. – A. Das Verhältniß selbstständiger Maaße. – a. Verbindung zweyer Maaße. –

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Hegels Logik und die Chemie: Fortlaufender Kommentar zum "realen Maß"
 9783787330751, 9783787315215

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Hegel-Studien Herausgegeben von Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler

Beiheft 37

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Hegels Logik und die Chemie Fortlaufender Kommentar zum „Realen Mass“ von Ulrich Ruschig

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Inhaltlich unveränderter Print-on-Demand-Nachdruck der Auflage von 1997, erschienen im Verlag H. Bouvier und Co., Bonn.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-1521-5 ISBN eBook: 978-3-7873-3075-1 ISSN 0073-1578

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2016. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de/hegel-studien

Inhalt Exposition

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Die Entwicklung des Maßes und dessen Übergang ins Wesen 13 - Hegels „Kreislauf in sich selbst" scheitert am für die Übergänge konstitutiven Material 15 - Die vorwärtsgehende Entwicklung zu den Reflexionsbestimmungen erschließt lediglich eine notwendige Bedingung für die Kategorien des Seins, ist aber nicht zureichende Begründung für den Ausgangspunkt der Entwicklung (die Kategorien); Moment der Selbständigkeit des zitierten, die logische Entwicklvmg erst ermöglichenden Materials 17 - Hegels chemische Irrtümer, Konsequenzen für das Verhältnis von systematischer Entwicklimg und zitiertem Material 19 - Engels' „Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität und umgekehrt" - eine der idealistischen Generalthesis gemäße Glättung des Hegelschen Textes 22 Zweytes Kapitel. Das reale Maaß.

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Das reale Maß ist das Verhältnis zweier Maße, Beispiel: das spezifische Gewicht 25 - Hegels Inhaltsangabe: Maßverhältnisse werden ihrerseits ins Verhältnis gesetzt - die Relation der spezifischen Gewichte 27 - Spezifikation dieser Relation, Übergang zum Äquivalentgewicht nur bei Wechsel des chemischen Modells 28 - Von der Lösung zum reinen Stoff 29 - Durchs Ins-Verhältnis-Setzen der Äquivalentgewichte zur Wahlverwandtschaft, durchs Ins-Verhältnis-Setzen der Wahlverwandtschaften zur Knoterüirüe; die dazu korrespondierenden chemischen Modelle: Neutralisationsreaktionen von Säiuen und Basen, Reaktionen der Salze untereinander xmd die Affinitätsstärken der die Salze bildenden Ionen 30 A.

Das Verhältniß selbstständiger Maaße.

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Das Verhältnis der spezifischen Gewichte der Komponenten einer Lösimg, das Verhältnis der äquivalenten Mengen verschiedener Basen in deren Neutralisationsreaktionen mit einer Säure (Neutralisationsreihen), das Verhältnis der Äquivalentgewichte von Säure imd Base, die ein Salz bilden (Wahlverwandtschaft) 32

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Hegels Logik und die Chemie

a. Verbindung zweyer Maaße.

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Gegen Descartes' und Newtons Materie: Etwas ist in sich als Maßverhältnis bestimmt 33 - Die qualitative Natur des materiellen Etwas: das spezifische Gewicht 36 - Die „specifische Schwere" in der „Enzyklopädie" 36 - Gewicht und Raum ins direkte Verhältnis gesetzt 38 - Hegels Referat von Kant: das „Reale der Empfindimg" 39 - Von der Erdbeschleunigtmg ziu: Dichte 41 - Der Widerspruch des spezifischen Gewichts: ein „unmittelbares Quantum" steht für das „innere, eigenthümliche Maaß" 43 - Fortbestimmung des spezifischen Gewichts: zwei Metalle bilden eine Legierung 43 - Unklarheit im Begriff „Verbindung" 45 - Gegenseitige Spezifikation zweier spezifischer Gewichte in einer Legierung 46 - Der Grund für Sich-Erhalten oder Veränderung des spezifischen Gewichts: die Art der „Verbindung" 48 - Das spezifische Gewicht einer physikalischen Mischtmg 50 - Begründung für die Erhaltung der Masse bei der Bildimg einer Lösimg 51 - In der Abweichimg vom gewichteten Mittel der spezifischen Gewichte liegt die Spezifikation 52 - Das Volumen einer Lösung ist nicht die Summe der Volumina ihrer Komponenten 54 - Raum als Moment an der Materie 56 - Das spezifische Gewicht der Lösimg als Funktion der spezifischen Gewichte der Komponenten, Unterschied zur chemischen Reaktion 57 - Verdeutlichung in der „Anmerkung" 60 - Das „höhere Beweisen" empirischer Daten 61 - Ist die Abweichung vom gewichteten Mittel der spezifischen Gewichte inkommensurabel mit demselben ? 65 b. Das Maaß als Reihe von Maaßverhältnißen.

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Der kaschierte Wechsel des chemischen Modells und der logische Übergang 66 - Bilden zwei Stoffe eine chemische Verbindung, so stehen die reagierenden Massen in einem konstanten Verhältnis 67 - Bestimmung eines Stoffes durch ein aus seinen Reaktionen gewonnenes und so spezifiziertes Maß 70 - Mit der äquivalenten Menge eines Stoffes ist die Reihe der äquivalenten Mengen der mit ihm reagierenden Stoffe gesetzt 71 - Em stöchiometrisches Mengenverhältnis reicht für die Charakterisienmg der chemischen Qualität nicht aus 73 - Der Vergleich stöchiometrischer Mengenverhältnisse und die Gleichgültigkeit, welche Neutralisierung erfolgt 74 - Vergleich der spezifischen Gewichte versus „reelle Vergleichung" der Stoffe durch ihre Reaktionen miteinander 76 - Der chemische Prozeß 77 - Kein systematischer Zusammenhang zwischen spezifischem Gewicht und die chemische Qualität cha-

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rakterisierenden stöchiometrischen Mengenverhältnissen 78 - Abhängigkeit der logischen Entwicklung vom Wechsel des chemischen Modells 80 - Die Reihe der eine festgelegte Menge Säure neutralisierenden Basenmengen 82 - Das Verhältnis innerhalb dieser Reihe äquivalenter Basenmengen soll das Qualitative der Säure ausmachen 84 - Können aus den Maß-Relationen entwickelte qualitative Bestimmungen die für diese Relationen vorauszusetzenden Qualitäten ersetzen? 86 - Das Äquivalentgewicht - aus dem System stöchiometrischer Massemrelationen entwickeltes Resultat und zugleich erschlossener Gnmd für dieses System 87 - Hegels Fehler: das Identisch-Setzen von vorwärtsgehendem Weiterbestiirunen der unnüttelbar gegebenen Qualitäten und rückwärtsgehendem Erschließen des Gnmdes für diese Qualitäten 88 Die für die Naturwissenschaften konstitutive Funktion der experimentellen Arbeit 89 - Hegels Idealismus: der scheinbar von selbst sich bewegende „Kreislauf in sich selbst" 91 - Engels' „Materialisierung" dieses Kreislaufs zur „ewig sich bewegenden Materie" 91 - Der Maßstab für den Vergleich der Säuren: die Reihe der äquivalenten Basenmengen 93 - Übergang von der Reihe der äquivalenten Basenmengen zur Reihe der äquivalenten Säuremengen, System dieser Neutralisationsreihen 97 - Normieixmg der Neutralisationsreihen in der Geschichte der Chemie 99 - Hegels logische Deduktion des Äquivalentgewichts sitzt einer Besonderheit des historischen Weges zu dessen Entdeckimg auf 99 - Der Grad (intensive Größe) 100 - Das Äquivalentgewicht ist Grad 101 - Die Bestimmtheit des Äquivalentgewichts liegt in der Beziehung auf andere Äquivalentgewichte 102 - Die durch das System stöchiometrischer Maß-Relationen bestimmten Äquivalentgewichte sind spezifische Bestimmung der Substanz 104 - Analogie: der Preis als die aus dem System der Tausch-Relationen sich ergebende spezifische Bestimmvmg des Werts einer Ware 106 - Der Übergang vom Äquivalentgewicht zur Wahlverwandtschaft, erklärt als Übergang vom Quantitativen ins Qualitative HO - Das konstemte Verhältrds der Äquivalentgewichte von Säure imd Base im Salz, erklärt dvuch „Negation der Negation" 111 „Negation der Negation" - in chenüscher Gestalt 113 - Form der logischen Entwicklimg (Ins-Verhältrüs-Setzen von Exponenten) tmd für diese Entwicklung konstitutives Material 115 - Verwandtschaftsstärken in der zeitgenössischen Chemie, Hegels spekulative Konstruktion des Übergangs vom Äquivalentgewicht zur chemischen Affirütät und deren Maß 117 - ICritik an Hegels Konstruktion - die substantielle Differenz von Massen- und Energiegrößen 121 - Die (neue) Qualität der Wahlverwandtschaft: andere Salzbüdungen werden ausgeschlossen

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Hegels Logik und die Chemie

123 - Deduktion dieser Qualität aus dem festen Verhältnis der Äquivalentgewichte? 125 - Deduktion eines negativ bestimmten Substrats für die Maß-Relationen und der Übergang ins Wesen 126 - Qualitative und quantitative Bestimmimg der Wahlverwandtschaft 127 - Zusammenhang zwischen Affinitätsstärke vmd stöchiometrischer Zusammensetzung bei zeitgenössischen Chemikern 128 - Quantitatives und qualitatives Moment der Wahlverwandtschaft 133 - Gleichgültigkeit gegen die besondere Neutralisation: Verwandtschaft schlechthin 135 - Spezifisch auswählendes Verhalten: Wahlverwandtschaft 136 - Momente der Wahlverwandtschaft sind ihrerseits Einheit von Qualität und Quantität 138 - Affinität und Negation der Affinität 139 c. Wahlverwandtschaft.

143

Spezifische Qualität des Materiellen: sein chemisches Verhalten; substantielle Bestimmtheit des chemischen Objekts nicht in seinen chemischen Prozeß auflösbar 143 - Die das chemische Verhalten charakterisierende Maßgröße 145 - Gleichgültigkeit und spezifisch ausschließendes Verhalten 146 - Analogie zum chemischen Verhalten: das Zusammenklingen von Tönen 148 - Qualität des Tons liegt im Verhältnis zu einer Reihe anderer Töne; Normierung zu einem System der Töne: die gleichschwebend temperierte Stimmung 149 - Obertöne und Intervallbildimg; Qualität der Intervalle (Konsonanz, Dissonanz) gründet in Maßverhältnissen 152 - Ins-Verhältnis-Setzen der Intervalle: der Grundton und seine Tonleiter 153 - Ins-Verhältnis-Setzen der Tonleitern 155 - Eine Tonart schließt Töne aus 155 - Ins-Verhältnis-Setzen der Tonarten: der Quintenzirkel 155 - Der Akkord als ausschließende Wahlverwandtschaft, Akkordfolgen 156 - Formales Resümee: „Übergehen des Quantitativen und Qualitativen" 158 - Qualität der Intervalle und der Vergleich der Frequenzenverhältnisse der Töne 159- Qualität der Tonarten und deren Verwandtschaftsbeziehungen 161 - Qualität der Akkorde xmd spezifische Akkordfolgen 162 - Spezifikation der Verwandtschaft durch ein Quantum 164 - Quantitative imd qualitative Seite der Wahlverwandtschaft 166 - Spezifität der Wahlverwandtschaft und Affinitätsstärke 167 - Affinitätsstärken proportional den äquivalenten Mengen? 168 - Weswegen das Verhältnis der Affiiütätsstärken nicht durch das der äquivalenten Mengen ausgedrückt werden kann 170 - Ein Substrat für Massenrelationen imd Affinitäten? 171 - Die Konstruktion des Wesens imd die Differenz von Masse imd Energie 173 - Ein kaschiertes Zitat 173 - Begründet das feste Verhälnis der Exponenten die ausschließende Qualität der

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Wahlverwandtschaft? 174 - Übergang vom „Mehr oder Weniger" einer Maßgröße zum spezifisch ausschließenden Verhalten? 175 - Quantitative Seite der Wahlverwandtschaft: Gleichgültigkeit der Quanta für die Affinitätsstärke 177 - Quantitative imd qualitative Seite nicht einander äußerlich; Wahlverwandtschaften ins Verhältnis zu setzen; Verwandtschaftstafel 179 - Materiale Voraussetzungen für den Übergang zur Knotenlinie 182 - Umschlagen des Quantitativen ins Qualitative und Übergehen des Qualitativen ins Quantitative innerhalb der Verwandtschaftstafel 183 - Immer dasselbe Schema? 186 B.

Knotenlinie von Maaßverhältnißen.

189

„Neutralität" als das Zugrundeliegende für einen spezifizierenden Prozeß 190 - Spezifikation der „Neutralität" durch die Verwandtschaftsstärke? 193 - Kontinuieren einer Wahlverwandtschaft in andere Wahlverwandtschaften 194 - Trennbarkeit der Wahlverwandtschaft die Bedingung des Kontinuierens 197 - Das Kontinuieren schließt den chemischen Prozeß ein 199 - Setzt Kontinuieren Trennbarkeit? 200 Verschmelzung einer energetischen Größe mit der Bestimmung der Substanz 201 - Ursprxmg für Hegels Polemik gegen Daltons Atomhypothese 203 - Begründung eines Qualitativen aus dem Prozeß des Kontinuierens 204 - Resultat des Kontinuierens: das Verhältnis der Ionen im Salz 206 - Gleichgültigkeit gesetzt 208 - Das neue Verhältnismaß der „Neutralität" äußerlich und zugleich in ihr 209 - Übergang zur Reflexivität des Verhältnismaßes: die Ionen sind als in der „Neutralität" sich gegenseitig bestinunend gesetzt 210 - Ist diese Reflexivität qualitative Grundlage? 212 - Kants Bruch zwischen Inhalt und logischer Form der Naturgesetze 213 - Konstant-Bleiben des Substrats 214 - Spezifikation der mathematisch möglichen Maß-Relationen zu den physikalisch zutreffenden Gesetzen 215 - Negation der Negation - innerhalb eines materiellen Substrats? 216 - Von Kants „Beharrlichkeit der Substanz" zu Hegels bleibendem, das Prinzip seiner Spezifikation enthaltendem Substrat 219 - Sich-von-sich-selbst-Abstoßen 220 - Äquivokation im Begriff „Neutralität" - nötig für das Sich-von-sich-selbst-Abstoßen 223 - Zwei entgegengesetzte Resultate 223 - Begründimg der chemischen Elemente aus der an sich selbst spezifizierenden Einheit?; Voraussetzimgen für die Aufstellxmg des Periodensystems 224 - Voraussetzimgen für die Lösung der Schrödinger-Gleichung 230 - Ein imd dasselbe Substrat - sich selbst spezifizierend 232 - An sich selbst spezifizierende Einheit ist „Neutralität" 233 - Analoger Übergang: vom Chemismus

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zur Teleologie 234 - Implantation des physikalischen Gehalts von /Knotenlinie' 239 - Prima materia der Maße: eine quantifizierbare Skale 241 - Die Beziehimg des Maßes auf seine qualitativen Voraussetzungen 242 - Der Übergang von der Wahlverwandtschaft zur Knotenlinie, Kurzfassung 243 - Hegels Begründimg der Naturgesetze und der Übergang vom Maß ins Wesen 246 - Zwei einander entgegengesetzte Resultate ausgebreitet auf der Knotenlinie 249 - Begründung der Abfolge der Knoten durch den spezifizierenden Prozeß 251 - Farbumschläge von pH-Indikatoren bei Titrationen - Modell für das Umschlagen des veränderten quantitativen Verhältnisses in eine neue Qualität? 252 - Knoten auf der Skale - gegeneinander gleichgültige Qualitäten 254 - Hervorgehen der Qualität aus einer noch nicht ins Dasein getretenen, sich spezifizierenden Einheit 255 - Hegels creatio ex nihilo 257 - Qualität als Sprung oder Negation des stetigen Durchlaufens quantitativer Maßverhältnisse 259 - Reflexivität und qualitativer Sprung; qualifizierender Punkt 261 - Am Modell der Titration: Begründet das Abbrechen des stetigen Ehirchlaufens quantitativer Maßverhältnisse den qualitativen Sprung? 262 - Konstellation von kontinuierlich veränderlichen Maßverhältnissen xmd diskontinuierlichen Qualitäten 264 - Das Moment des Opaken 265 - Kein allmählicher Übergang zwischen zwei Qualitäten 266 - Hegels Fehler und Engels' dialektisches Grundgesetz 267 Universalerklänmg Knotenlinie? 268 - Modell für die Einheit von Kontinuität imd Diskontinuität: der Dedekindsche Schnitt 269 Anmerkung.

271

Qualitative Bestimmtheit der Zahlen rücht aus dem Gesetz ihrer Konstruktion ableitbar 271 - Qualitative Bestimmtheit ,Quadratzahl' ist Moment für die Herstellvmg quantitativer Kontinuität 273 - Quantitative Verändenmg des Frequenzenverhältnisses tmd harmonische Qualität der Intervalle 274 - Vermittlimg von natürlich reinen Intervallen imd gleichförmigem Fortschreiten des Frequenzenverhältnisses: die gleichschwebend temperierte Stimmtmg 278 - Gesetze der konstanten imd multiplen Proportionen kein Beweis für die Atomtheorie; Hegels Erklänmg dieser Gesetze 279 - Verwechslung von stöchiometrischer Zusammensetzung und Mischungsverhältnis der Ausgangsstoffe 282 Spezifizierender Prozeß auf der Knotenlirüe statt atomistischer Metaphysik 283 - Was haben diskret unterschiedene Aggregatzustände imd Verbindungen mit definierter stöchiometrischer Zusammensetzung gemeinsam? 284 - Über den Zusammenhang von kontinuierlicher Wär-

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mezufuhr und sprunghaften Eigenschaftsveränderungen des Wassers 285- Gasphase nicht Produkt des Umschlags aus der allmählichen Veränderung der flüssigen Phase; Koexistenz zweier Phasen, bestimmbar durch diskrete xmd kontinuierliche Größen 286 - Hegel-Epigonen wider Willen 288 - Sprung aus kontinuierlicher in diskontinuierliche Verändenmg? 289 - Qualität - Quantität: Übergehen imd Umschlagen 290 - Gefrierendes Wasser: nicht Abbruch des kontinuierlichen Prozesses, sondern Konstellation von sprunghafter Änderung vmd kontinuierlichem Prozeß 291 - Unterkühlte Flüssigkeit 292 - Hegels Vorwurf an die Atomtheorie: Sie verwandele den Begriffsimterschied in einen bloßen Größemmterschied 293 - Erklärung des dem Augenschein nach sprunghaften Eintretens der Qualität ,Neutralität' durch einen jenseits der Wahmehmumg daseienden molekularen Prozeß 294 - Hegels Ablehnung der zimächst spekulativ eingeführten Atome als schlechte Metaphysik 294 - Den Erscheinungen verhaftet: Hegels Erklärung der Kristallisation von Eis 295 - Substrat absolute Negativität oder qualitativ unterschiedene Atomsorten 297 - Ohne Realität der Atome keine Konfiguration der Atome im Raum, ohne Strukturformeln keine Organische Chemie 298 - Verdinglichung eines Vemimftbegriffs 300 - Experimentelle Arbeit findet heraus, welche spekulativen Begriffe zur Naturerkenntnis taugen 301 - Maßhalten 301 - Größe des Staates und Qualität der Verfassung 302 - Idealistische Illusion: Das Wachsen der Produktivkräfte (oder die Vermehrung des Quantums akkvunulierten Kapitals) müsse in eine neue Qualität des Produktionsverhältnisses Umschlagen 303

C.

Das Maaßlose.

309

Qualitative, quantitative imd die Unendlichkeit des Maßes 309 - Modelle für das Zugrundegehen der Qualität durch Änderung ihrer Größe - kritische Zustände 310 - Spezifisches Substrat für ins Maßlose führende Prozesse; deren Rückführbarkeit 311 - Das abstrakte Maßlose -dem spezischen Maß gegenübergestellt 313 - Rückkehr aus der Unendlichkeit des Maßes: der Widerspruch des abstrakten Maßlosen 314 - Unendlicher Progreß auf der Knotenlinie 315 - Modell für die schlechte Unendlichkeit dieses Progresses: Synthetisieren um des Synthetisierens willen 316 - Qualitative Unendlichkeit: ein endliches Etwas verschwindet in seinem Jenseits 318 - Quantitative Unendlichkeit: ein Quantum weist an sich selbst über sich hinaus 319 - Unendlichkeit der Spezifikation des Maßes: Sich-ineinander-Aufheben des Qualitativen und Quan-

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Hegels Logik und die Chemie

titativen 320 - Zusammengehen mit sich selbst 321 - Unendlicher Progreß auf der Knotenlinie - nicht in indefinitum, sondern zum Kreis geschlossen 322 - Übergang zur in sich selbst kontinuierenden Einheit des Qualitativen imd des Quantitativen 323 - Substrat für die mit sich selbst zusammengehende Bewegung: das wahrhaft Maßlose 324 - Materielles Substrat - ohne jedes Maß, jedoch eine Sache 326 - Entwicklung des von jeder Bestimmtheit abgetrennten Seins zum wahrhaft imendlichen, beständigen Substrat 327 - Antizipiertes Substrat aller Wahrnehmungen bei Kant: realitas phaenomenon 328 - Aristoteles: Materie ist nicht das Zugrundeliegende imd nicht selbständig abtrennbar 331 Dieselbigkeit des Substrats gesetzt 332 - Übergehen des Qualitativen imd des Quantitativen ineinander und deren Zusammengehen mit sich selbst 334 - Daseiendes Substrat, gezeigt oder gesetzt? 335 - Ist das Substrat ein selbständig Daseiendes? 335 - Selbständige Maße zu Zuständen desselben Substrats herabgesetzt 336 - Auflösung der Qualitäten in Reflexionsbestimmungen: Vom selbständigen Maß über den qualitativen Sprung zum gleichgültigen Wechsel von Zuständen am maßlosen Substrat 337 - Schon bei Kant: wechselnde Zustände an einem Substrat 339 - Zusammenfassung: Vom Maß über das Verhältnismaß (spezifisches Gewicht) und die Reihe von Maßverhältnissen (Neutralisationsreihen) zu deren Ordnung (Äquivalentgewichte) 339 - Wahlverwandtschaften, deren Verhältnisse, Knotenlinie, spezifizierendes Prinzip für die Knoten (in der Verwandtschaftstafel) 341 - Aufhebimg der selbständigen Maße zu Momenten der in sich selbst kontinuierenden Einheit 341 - Wahrheit der Zustände: die sie sowohl hervorbringende wie auflösende Bewegung 343 - Realisierende Fortbestimmimg des Maßes löscht ihren Antrieb 344 - Paradoxie des maßlosen Substrats und das Werden des Wesens 344 Anhang: Der Übergang in das „reale Maß"

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Exposition „Die Entwickltmg des Maaßes" ist, so urteilt Hegel selbst, „eine der schwierigsten Materien" (21. 327,18 f; IV. 410)i. Die Schwierigkeit liegt im Übergang des Maßes ii> das Wesen. Den Kern seiner Argumentation enthüllt Hegel, bevor er den Übergang im einzelnen durchführt, in einem dichtgedrängten tmd ohne Erläuterimg wohl unzugänglichen Expose: „[...] das Maaß ist erst an sich oder im Begriffe das Wesen, dieser Begriff des Maaßes ist noch nicht gesetzt. Das Maaß noch als solches ist selbst die s e y e n d e Einheit des Qualitativen und Quantitativen; seine Momente sind als ein Daseyn, eine Qualität und Quanta derselben, die nur erst an sich imtrennbar, aber noch nicht die Bedeutung dieser reflectirten Bestimmung haben. Die Entwicklung des Maaßes, enthält die ünterscheidung dieser Momente, aber zugleich die Beziehung derselben, so daß die Identität, welche sie an sich sind, als ihre Beziehung aufeinander wird, d. i. gesetzt wird. Die Bedeutimg dieser Entwicklung ist die Realisation des Maaßes, in der es sich zu sich selbst ins Verhältniß, und damit zugleich als Moment setzt; durch diese Vermittlung wird es als aufgehobenes bestimmt, seine ünmittelbarkeit wie die seiner Momente verschwindet, sie sind als reflectirte; so als das hervorgetreten, was es seinem Begriffe nach ist, ist es in das Wesen übergegangen" (21. 326, 18 - 29; IV. 409 f). Zentral für den Übergang ist das „reale Maaß", dargestellt im ,,Zweyte[n] Kapitel" (21.345 - 372; IV. 431 - 465), das durch vorliegende Arbeit kommentiert, d. i. erläutert und entschlüsselt werden soll. Die Ausführung des Vorhabens, den dichten und bis dato dunkel gebliebenen2 Text soweit diuchsichtig zu machen, daß er begriffen werden 1 Zitiert werden Hegels Schriften entweder nach G. W. F. Hegel; Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hrsg. von der RheinischWestfälischen Akademie der Wissenschaften. Abgekürzte Zitierweise: Band, Seite, Zeile werden in arabischen Zahlen angegeben, diese durch Punkt bzw. Komma getrennt und in einer runden Klammer hinter das Zitat gestellt imd/oder nach G. W. F. Hegel: Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden. Auf Grund (der Werke) im Faksimileverfaihren neu hrsg. von H. Glöckner. Stuttgart/ Bad Caimstatt 1965. Abgekürzte Zitierweise: Der Band wird in römischer, die Seite in arabischer Zahl angegeben, beide Zahlen werden durch einen Punkt getrennt und hinter einem Semikolon an das Kürzel für die andere Ausgabe angeschlossen. Querverweise in dieser Arbeit werden durch das ausgeschriebene Wort „Seite" in einer nmden Klammer angezeigt, also; (vgl. Seite X). 2 Zu dieser Dimkelheit bemerkt ein Logik-Kommentator aus dem Jahre 1983: „The section on Measure [...] is so obscure as to be, for the most part, hardly intelligible, and while

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Exposition

kann, hat den Umfang des Kommentars im Verhältnis zu den wenigen Seiten kommentierten Textes über das gewohnte Maß anschwellen lassen und damit den Einwand gefördert, hochgerechnet auf die gesamte Wissenschaft der Logik, die als Totalität doch die Gnmdlage für jeden ihrer Teile darstellt, versänke die Kommentienmg im Maßlosen imd der wie auch immer detailliert kommentierte Teil bliebe unverstanden, weil er als Teil nur des dann unkommentierbaren Ganzen begriffen werden könnte. Dieser Einwand kann durch den Hinweis auf das Exemplarische des Vorgehens entkräftet werden. Da die Totalität alle einzelnen Glieder durchzieht und nicht ein aus Vielem äußerlich Zusammengesetztes, sondern die eine nur in den Gliedern hervortretende Idee ist, kann am Einzelnen, hier am „realen Maaß", exemplarisch erkannt werden, wo die crux der Übergänge in Hegels Wissenschaft der Logik liegt. it contains some astonishingly prescient scientific conunents, it also indulges in what, to US in the twentieth Century, must appear iU-informed and perverse polemic against sound scientific insights" (E. E. Harris; An Interpretation of the Logic of Hegel. Boston/London 1983. 143). Da die Wissenschaft der Logik im Abschnitt Das Maaß „hardly intelligible" sei, läßt Harris diesen Text überhaupt fallen imd kommentiert stattdessen den entsprechenden Abschnitt der Logik aus der Enzyklopädie von 1830, welcher „relatively straightforward" sei. Verglichen mit den Kommentaren, die Harris lesen konnte und die den Hegelschen Text bloß paraphrasieren, was dessen Schwierigkeit nicht löst, sondern einen weiteren, noch schwierigeren Text erzeugt, mag der Verzicht auf einen Kommentar vorzuziehen und Konsequenz aus der Geschichte von Kommentaren zum Maaß sein. Zudem plaudert Harris aus, was den Versuch, den dunkel gebliebenen Text durchsichtig zu machen, zusätzlich blockiert hat: das hartnäckige Vorurteil von Hegels Inkompetenz in naturwissenschaftlichen Fragen und von bloßer Polemik gegen „sound scientific insights". Fast alle Kommentare (Ausnahmen; A. Doz: La Theorie de la Mesure. Traduction et Commentaire de la 3 Section du premier Livre de la ,Science de la Logique'. Paris 1970; A . V. Pechmarm: Die Kategorie des Maßes in Hegels „Wissenschaft der Logik". Köln 1980) haben ihre Erläuterungen zum Maaß äußerst knapp gehalten, in der Regel nur paraphrasiert imd so „eine der schwierigsten Materien" schlicht auf sich beruhen lassen. Vorliegende Arbeit sieht die Schwierigkeit nicht in Hegels chemischen Irrtümem. Der Hinweis auf solche Irrtümer widerleg weder Hegels Naturphilosophie noch den Abschnitt Das Maaß. Allerdings wird er häufig vorgeschoben, um die eigentlich auf Hegels Philosophie zielenden Einwände nicht darlegen zu müssen. Zeitgenössische Chemiker (von Davy bis Berzelius), die gemessen am heutigen Wissensstand nicht minder und teilweise auch grotesk irrten, sind damit nicht derart denunziert worden und in Verruf geraten wie Hegel, sondern werden als Vorläufer oder Begründer der Wissenschaft Chemie gefeiert. Warum sollte Hegels falsche Behauptung, Ammoniak habe eine metallische Basis (IX. 424), als Beleg für Hegels Inkompetenz in chemischen Fragen taugen, wenn er doch diese Behauptung von Davy übernahm, dem deswegen die Kompetenz als Chemiker nicht bestritten wird? Die Schwierigkeit im Abschnitt Das Maaß liegt also nicht in Hegels chemischen Irrtümem, sondern in seinem philosophischen Programm, aus den Kategorien des Seins (und insbesondere aus dem Maß) die Reflexionsbestimmungen zu entwickeln. Nur wenn diese Schwierigkeit gelöst wird, ist die Kommentierung auszuführen. Dann kann, bezogen auf dieses Programm, geklärt werden, welche Rolle Hegels chemische Irrtümer darin spielen.

Exposition

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Das Problem mit den Hegelschen Übergängen kann überhaupt nur exemplarisch gelöst werden. Denn die allgemeine Bestimmung von Übergehen schlechthin muß scheitern, weil für den jeweiligen Übergang die Beziehtmg auf das herangezogene besondere Material entscheidend ist, welche spezifische Beziehung von einer formal-allgemeinen Bestimmung nicht erfaßt wird. Deswegen bleibt Hegels allgemeine Charakterisierung des „Uebergehen[s]" als ,,dialektische[n] Proceß in der Sphäre des Seyns" (VIII. 355) eine inhaltsleere Nominaldefinition. Die Idassifizierende Abgrenzxmg des ,,Uebergehen[s]" gegen „das Schemen der einen [Bestimmimg, U. R.] an oder in dem Seyn der anderen" (XVI. 422; vgl. VIII. 355) und gegen „Entwickelung" als die „Bewegimg des Begriffs" (VIII. 355; vgl. XVII. 49 ff) wird von Hegel selbst eingezogen, wenn er, wie im Zitat des Anfangs, den Übergang des Maßes in das Wesen als „Entwicklimg des Maaßes" faßt, und genauer als Entwicklimg dessen, was das Maß an sich oder dem Begriffe nach sei. In einer seiner raren Bemerkungen zur wissenschaftlichen Vorgehensweise im allgemeinen führt Hegel aus, „daß das Vorwärtsgehen [zu den in der Systematik jeweils folgenden Bestimmimgen, U. R.] ein Rückgang in den Grund, zu dem Ursprünglichen und Wahrhaften ist, von dem das, womit der Anfang gemacht wurde, abhängt, und in der That hervorgebracht wird" (21. 57,14 - 16; IV. 74). Angewandt auf den Fall des „realen Maaßes" bedeutet dies, daß ausgehend von den zunächst unmittelbaren Kategorien des Seins (und insbesondere ausgehend vom Maß) die Reflexionsbestimmtmgen als deren Gnmd erkannt werden, als die „Wahrheit des Seyns" (11. 241, 3; IV. 481). So seien die Reflexionsbestimmvmgen vermitteltes Wissen, erhalten durch die aus den Kategorien des Seins zurückgehende Bewegtmg, die jedoch nicht eine den Kategorien äußerliche Reflexion, sondern deren Bewegung selbst (vgl. 11. 241,18 - 20; IV. 481) sei. Diese Bewegimg sei die „Realisation des Maaßes", die zu dessen Gnmd zurückführe, es aufhebe imd damit das Wesen immanent deduziere. Da der im Rückgang erschlossene Grund für das Maß zugleich aus dem Maß entwikkeltes Resultat sei (21.57,30; IV. 75) xmd da entsprechend das im Wesen gegründete Maß zugleich Gnmd für die Entwicklimg zum Wesen sei, werde die „wissenschaftliche Fortbewegung" (21.58,13; IV. 75) - so Hegels Generalthese - zu „ein[em] Kreislauf in sich selbst" (21.57,27 f; IV. 75). Dem widerspricht diese Arbeit. Hegels „Kreislauf in sich selbst" erzeugt den falschen Schein einer selbständigen, in sich gegründeten imd gegen heterogene Antriebsmomente sich abdichtenden Entwicklimg: Was an sich oder dem Begriffe nach das Wesen sei, werde durch imma-

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nente Deduktion zum Wesen entwickelt. Die „Entwicklung des Maaßes" zum Wesen konstruiert Hegel vom Entwickelten, also vom Wesen und letztendlich vom Begriff her. Richtig daran ist, daß die Kategorien des Seins ohne Reflexionsbestimmxmgen nicht bestimmbar sind. Doch die notwendige Bedingimg für die Bestimmimg der Kategorien wird von Hegel ungerechtfertigterweise in den zureichenden Gnmd für das Begreifen derselben verwandelt. Und nur wenn die Reflexionsbestimmungen zureichender Gnmd für die Kategorien wären, ließe aus dem dann Begründeten (den Kategorien) der Gnmd (das Wesen) sich entwickeln, und der Kreislauf wäre in sich geschlossen. Damit gingen die Kategorien in ihrer Entwicklvmg zu den Reflexionsbestimmimgen auf und könnten in letztere aufgelöst werden; das Maß wäre hinreichend als die genetische Exposition des Wesens bestimmt, so wie insgesamt die „objective Logik [...] die genetische Exposition des Begriffes" (12. 11. 25 f; V. 6) ausmachte; die „Entwicklimg des Maaßes" wäre „Fortgang der Exposition, oder näher [...] Fortgang des Begriffs zu seiner Exposition" (21. HO, 5 f; IV. 138 f). Dies hat Konsequenzen für das Verhältnis von systematischer Entwicklimg und herangezogenem Material: Hegel erklärt das von ihm im und für den „Fortgang" herbeizitierte Material zum lediglich illustrierenden Beispiel für eine im Begriff gegründete und auch unabhängig von den Beispielen zu konstruierende Entwicklung. Dies ist, wie eingehend an den Übergängen gezeigt werden wird, falsch: Ohne die Beziehung auf das Material, d. i. für sich genommen, scheitern die Übergänge - die „Entwicklung des Maaßes" käme rücht vom Fleck. Jedoch ,gehen' die Übergänge gerade mit dem von Hegel meist in die Anmerkungen verhärmten Material, das also in Wahrheit konstitutiv für die „Entwicklung des Maaßes" ist. Werm also gemäß der Generalthese vom „Kreislauf in sich selbst" das Material als bloßes Beispiel aus der systematischen Entwicklung in der Wissenschaft der Logik ausgeschlossen und in die Naturphilosophie verwiesen wird, wenn aber zugleich der Sache nach das Material als in die „Entwicklung des Maaßes" hineingezogen und dieselbe voranbringend sich erweist, darm widerspricht Hegels Bestimmung des Verhältnisses von systematischer Entwicklung und herangezogenem Material diesem Verhältnis selbst. An diesem Widerspruch setzt die immanente Kritik an. „Die wahrhafte Widerlegung muß in die Kraft des Gegners eingehen und sich in den Umkreis seiner Stärke stellen; ihn ausserhalb seiner selbst angreiffen und da Recht zu behalten, wo er nicht ist, fördert die Sache nicht" (12. 15, 12 - 15; V. 11). An den Übergängen selbst wird nachgewiesen werden, daß beide Momente des Erkermens, das rück-

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wärtsgehende Erschließen des Grundes für die unmittelbar gegebenen und vorauszusetzenden Qualitäten imd das vorwärtsgehende Weiterbestimmen aus denselben, nicht in eins gesetzt werden können, weil sie jeweils heterogener Momente bedürfen. Rückgang in den Grund bedeutet in Wahrheit, das für die Übergänge wesentliche, heterogene Material zu erschließen, welches Hegel zur „Entwicklimg des Maaßes" zwar herbeizitiert, aber mit dem Übergang ins Wesen zu tilgen versucht. Dieses Material gehört zur „genetischen Exposition" des Wesens. Da das Maß nicht zureichend aus dem Wesen begriffen und da es auch nicht vollständig in das Wesen aufgelöst werden kann, scheitert jener „Kreislauf in sich selbst", worin aus dem, was an sich oder im Begriffe das Wesen sei, qua immanenter Deduktion das Wesen gesetzt werden würde. Indem immanente Kritik dieses Scheitern aufzeigt, wird als die Wahrheit der in sich geschlossenen eine erschließende Bewegimg erkannt, die erschließt, was sie nicht selbst, was aber für sie konstitutiv ist: das Material. Was sich durch die Kritik für eine entwickelnde Bewegtmg ergeben hat, daß nämlich eine solche ohne Material xmd getrennt vom Material nicht möglich ist, ermöglicht die allgemeine Bestimmvmg des Materials: Es ist als dasjenige bestimmt, woran der „Kreislauf in sich selbst" scheitert imd worauf die entwickelnde Bewegung verweist. Kurz vor dem Ende der Wissenschaß der Logik greift Hegel auf die anfängliche Bemerkrmg zur wissenschaftlichen Vorgehensweise im allgemeinen zurück: Das „rückwärts gehende Begründen des Anfangs imd das vorwartsgehende Weiterbestimmen desselben [falle, U. R.] in einander und [sei, U. R.] dasselbe" (12. 251,17 f; V. 350). Vermöge solcher Natur der Methode stelle „sich die Wissenschaft als einen in sich geschlimgenen Kreis dar, in dessen Anfang, den einfachen Grund, die Vermittlung das Ende zurückschlingt" (12.252,17 -19; V. 351). Was ansonsten bei Hegel ungewöhnlich ist, nämlich der Rückgriff auf die Methode im allgemeinen, erachtet Hegel hier als nötig (vgl. parallel die Enzyklopädie §§ 239 - 243, VIII. 449 ff), um das für eine Wissenschaft der Logik doch verblüffende Ende als begründet darstellen zu können: Die absolute Idee, das in der Wissenschaß der Logik entwickelte Resultat, sei „absolute Befreyung" (12.253,17; V. 353), sie entlasse sich selbst als Natur frei aus sich (12. 253, 22; V. 353; vgl. Enzyklopädie § 244, Vin. 451 f). Und für das Resultat der Entwicklung insgesamt, wenn nämlich „in der Wissenschaft des Geistes seine Befreyung durch sich vollendet" (12. 253, 32 f; V. 353) sei, postuliert Hegel an jener anfänglichen Stelle: „So wird [...] der absolute Geist, der als die concrete und letzte höchste Wahrheit alles Se)ms sich ergibt, erkannt, als am Ende der Entwicklung

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sich mit Freyheit entäussemd und sich zur Gestalt eines unmittelbaren Seyns entlassend, - zur Schöpfung einer Welt sich entschließend, welche alles das enthält, was in die Entwicklung, die jenem Resultate vorangegangen, fiel, und das durch diese umgekehrte Stellung, mit seinem Anfang in ein von dem Resultate als dem Principe abhängiges verwandelt wird" (21. 57, 20 - 26; FV. 74 f). Da aber das vorwärtsgehende Entwickeln, das (in der YJissenschaß der Logik) auf das Wesen imd letzlich den Begriff und die absolute Idee führt, damit lediglich auf eine notwendige Bedingimg imd nicht auf den zureichenden Gnmd zurückgeht, ist die „wissenschaftliche Fortbewegung" (21. 58,13; IV. 75) kein in sich geschlossener Kreislauf. Deswegen sind die Kategorien des Seins in den Reflexionsbestimmungen nicht dergestalt aufgehoben oder aufbewahrt, daß sie aus diesen abgeleitet werden könnten. Und insgesamt enthält der absolute Geist deswegen nicht „alles das", was in die Entwicklung, die ihm vorangegangen, fiel. Das für diese Entwicklung konstitutive Material ist nur vom Entwikkelten her imd durch den Rückgang in den Grund für die Entwicklung zu erschließen - insoweit ist die „umgekehrte Stellung" nötig, und insofern ist das Material „von dem Resultate als dem Principe" abhängig. Aber das Material hat, da es im Resultat nicht enthalten ist, diesem gegenüber zugleich ein Moment von Selbständigkeit: Es kann aus der Idee bzw. aus dem absoluten Geist nicht hervorgebracht oder gesetzt werden^. 3 Es ist erforderlich, die in dieser Arbeit ausgeführte Kritik an Hegels Bestimmung des Verhältnisses von logischer Entwicklimg und dem für diese in Wahrheit konstitutiven Material auf die Schellingsche Hegel-Kritik und die neuere Diskussion des Verhältnisses Hegel-Schelling zu beziehen. Doch die dann unerläßliche, eingehende Schelling-DarstelIxmg imd Kritik sprengte den Charakter eines fortlaufenden Kommentars zu Hegels Wissenschaft der Logik. Hier sei nur angemerkt, daß ein Ansatzpunkt für Schellings HegelKritik mit demjenigen dieser Arbeit übereinstimmt. Als Beleg dafür seien zwei Zitate aus Schellings Münchener Vorlesungen Zur Geschichte der neueren Philosophie angeführt; „Hegel hat über der Naturphilosophie seine abstrakte Logik aufbauen wollen. AUein er hat dorthin die Methode der Naturphilosophie mitgenommen, es ist leicht zu erachten, welche Erzwungenheit dadurch entstehen mußte, daß er die Methode, welche durchaus Natur zum Inhalt und Naturanschauung zur Begleiterin hatte, ins bloß Logische erheben wollte" (F. W. J. von Schellings sämmtliche Werke. Erste Abtheilung. Zehnter Band. Stuttgart und Augsburg 1861.138). „Obgleich nämlich der Begriff nicht der einzige Inhalt des Denkens seyn kann, so könnte wenigstens immer wahr bleiben, was Hegel behauptet, daß die Logik in dem metaphysischen Sinn, den er ihr gibt, die reale Grundlage aller Philosophie seyn müsse. Es könnte darum doch wahr seyn, was Hegel so oft einschärft, daß alles, was Ist, in der Idee oder in dem logischen Begriff ist, und daß folglich die Idee die Wahrheit von allem ist, in welche zugleich alles als in seinen Anfang und in sein Ende eingeht. Was also dieses beständig Wiederholte betrifft, so körmte zugegeben werden, daß alles in der logischen Idee sey, und zwar so sey, daß es außer ihr gar nicht seyn körmte, weil das Sinnlose allerdings nirgends und nie existiren karm. Aber eben damit stellt sich auch

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Ist für die „Entwicklung des Maaßes" das von Hegel heranzitierte Material konstitutiv und nicht ein der Möglichkeit nach austauschbares Beispiel, dann ist für die Klärung, ob die Hegelschen Übergänge stimmen oder erschlichen sind, zusätzlich von Bedeutimg, in welcher Fassung das Material in die Wissenschaft der Logik eingeht, also welche Kenntnis, ob richtige oder falsche, imgenaue oder schiefe, Hegel von den angeführten chemischen Sachverhalten hatte und wie diese Kenntnis von Hegel zu seiner Philosophie der Chemie verarbeitet wurdet. Hegel stand vor einer sprunghaft sich entwickelnden Wissenschaft Chemie, die über ihre theoretischen Grundlagen sich selbst nicht im

das Logische als das bloß Negative der Existenz dar, als das, ohne welches nichts existiien könnte, woraus aber noch lange nicht folgt, daß alles auch nur durch dieses existirt" (a. a. 0.143). Das im Fortgang der Wissenschaft der Logik Entwickelte (Reflexionsbestimmungen, Begriff, Idee) ist notwendige Bedingtmg („ohne welches nichts existiren körmte"), nicht aber zureichender Grund für die Kategorien des Seins imd für das die logische Entwicklung erst ermöglichende Material. ^ Hegels Philosophie der Chemie wurde lange Zeit nicht sowohl als obsoleter, als vielmehr als nicht emstzunehmender Gegenstand der Forschung angesehen. Ausnahme: E. Färber: Hegel's Philosophie der Chemie. In: Kant-Studien 30 (1925), 91 - 114. Bahnbrechend war die Dissertation von D. v. Engelhardt: Wissenschaftliche Chemie um 1800 imd Hegels Philosophie der Chemie im Rahmen der zeitgenössischen Wissenschaft imd Philosophie der Natur. Heidelberg 1968; dann in: D. v. Engelhardt: Hegel imd die Chemie. Wiesbaden 1976; vgl. auch: D . v. Engelhardt: Das chemische System der Stoffe, Kräfte und Prozesse in Hegels Naturphilosophie und der Wissenschaft seiner Zeit.In: Stuttgarter Hegel-Tage 1970. Hrsg. v. H.-G. Gadamer. Hegel-Studien. Beiheft 11. Bonn 1974. 125 139). Sie räumte mit dem Vorurteil von Hegels Inkompetenz in chemischen Fragen auf, indem sie darlegte, was Hegel von der zeitgenössischen Chemie wußte, welche damals nicht entschiedenen Kontroversen es innerhalb der Chemie gab, daß Hegel sich auf eine Seite dieser Kontroversen schlug und daß insgesamt die Hegelsche Philosophie der Chemie in begründeter Weise auf die zeitgenössische Chemie bezogen und ihr gerade nicht abstrakt entgegengesetzt ist. In Abhängigkeit von der Entwicldung der Chemie veränderte sich Hegels Philosophie der Chemie, ein Chemiker (Berthollet) bewirkte gar grundlegende Veränderungen (vgl. M. J. Petry: D. v. Engelhardt Hegel und die Chemie. HegelStudien 14,338; vgl. auch H. A. M. Snelders: Hegel und die Bertholletsche Affinitätslehre. In: Hegels Philosophie der Natur. Hrsg. v. R.-P. Horstmann u. M. J. Petry. Stuttgart 1986. 88 -102). Für die Darstellung der Hegelschen Philosophie der Chemie beschränkte v. Engelhardt sich auf die Enzyklopädie und klammerte die chemischen Teile der Wissenschaft der Logik und damit das Problem aus, ob und wie das chemische Material für die Entwicklung in der Logik bestimmend wird. v. Engelhardt stellte die Klärung dieses Problems als Aufgabe für zukünftige philosophische Forschung. „Eine besondere Analyse verlangt Hegels Verwendung chemischer Kategorien in der Logik" (D. v. Engelhardt 1976. 85). Da in der Konstruktion des Übergangs ins Wesen die primäre Schwierigkeit liegt, ist für deren Lösung die Kenntnis, in welcher Weise die zeitgenössische Chemie von Hegels Philosophie der Chemie reflektiert wird, ein zwar notwendiges Hilfsmittel, aber nicht der springende Punkt.

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klaren war. Solcherart hochaktuelles, chemisches Wissen war nun bestimmend für den so wichtigen Übergang ins Wesen, war aber zugleich weder von den Chemikern noch von Hegel vollständig begriffen und schon bald teils überholt, teils präzisiert imd fortentwickelt. Dies trug dazu bei, daß nach Hegels Tod dieser Übergang weder von naturwissenschaftlicher noch von philosophischer Seite durchsichtig gemacht imd erklärt worden ist. Die Naturwissenschaftler hielten die Hegelsche Naturphilosophie, die sie zudem in der Regel mit der romantischen eines Schelling oder Carus in einen Topf warfen, für einen durch den Fortschritt der Wissenschaft drastisch blamierten metaphysischen Hokuspokus, und damit waren solche Passagen der Wissenschaft der Logik dislo-editiert, in denen Modelle aus der Naturphilosophie, seien sie mm bloße Demonstrationsbeispiele oder mehr, eine Rolle spielen. Darauf reagierend versuchten auf der anderen Seite die Philosophen, die Wissenschafl der Logik von dem Material, dessen in die Logik eingehende Fassimg von den Naturwissenschaftlern abqualifiziert wurde, unabhängig zu halten, imd verunmöglichten gerade dadurch das Begreifen der logischen Entwicklung. Wiche man diesem Dilemma aus, indem man Hegel schlicht aus seiner Zeit heraus verstünde, dann wäre zwar der Zusammenhang von logischer Entwicklimg und zugrundeliegendem Material gerettet, aber die Frage nach der Wahrheit der „Entwicklung des Maaßes" und ihrer Beziehung auf das Material eskamotiert. Ein zentraler Teil der Wissenschaft der Logik würde relativiert zu einem Hegels chemisches Wissen, das in von ihm nicht geklärter Weise schiefe und falsche Kermtnisse mit scharfsinnigen und weitblickenden Einsichten vermischt, philosophisch überhöhenden Überbau; die Beschäftigung damit verkäme ganz unhegelsch zur musealen Pflege einer abgelegten Gestalt des Weltgeistes. Doch die Wahrheit der „Entwicklung des Maaßes" ist nicht solcherart Bewahrung, die tatsächlich die Vernichtung ihres substantiellen Gehalts bewirkt, sondern vielmehr die immanente Kritik, die mit der Frage, ob die Übergänge stimmen oder nicht, deren Widersprüche offenlegt, sich in den Umkreis der Stärke der Hegelschen Argumentation stellt und diese Stärke für deren Widerlegung nutzt. Dies kritische Verfahren bleibt nicht bei der Feststellung stehen, Hegels Philosophie der Chemie passe zu seiner Generalthese vom „Kreislauf in sich selbst", sondern zeigt die Widersprüche auf, die in der Konstellation von chemischen Irrtümem imd idealistischer Konstruktion des ,,Übergehen[s]" liegen, um gerade nicht bei diesen Widersprüchen stehen zu bleiben. Die Prüfung, was an Hegels Philosophie der Chemie substantiell und was falsch ist, erfordert heutiges chemi-

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sches Wissen^. So werden die Naturwissenschaften für die philosophische Forschung produktiv, und im Gegenzug erweist sich, daß der Deutsche Idealismus für die Naturwissenschaften der tote Htmd nicht ist, als der er schon bald nach Hegels Tod verschrien wurdet. 5 Nur mit dem heutigen chemischen Wissen läßt sich feststellen, wo Hegel vtnd seine chemischen Gewährsmänner irrten, wo deren chemische Gegner irrten und was trotz der Irrtümer an Hegels Philosophie der Chemie imd an seiner Kritik an zeitgenössischen Chemikern scharfsichtig war. So traf Hegel an Berzelius' Theorie der chemischen Bindung, es lagerten sich die entgegengesetzt elektrischen Pole der kleinsten Teilchen zweier verschiedener Stoffe aneinander, den entscheidenden Pimkt: „die Identification der Electricität und des Chemismus" (21.360,2; IV. 450; vgl. IX. 409 ff). Daß die Beseitigung dieses Mangels für die weitere Entwicklimg chemischer Theorie ausschlaggebend ist xmd chemische Bindimg, wiewohl elektrisch geladene Teilchen voraussetzend, gerade im Unterschied zum bloß elektrostatischen Aneinanderlagem bestimmt werden muß, erkermen wir erst mithilfe der heutigen Wissenschaft. An diesem Beispiel läßt sich demonstrieren, was allgemein für Hegels Naturphilosophie gilt: Hegels Kritik, die aus der Reflexion auf die vorhandene Wissenschaft entstammt xmd deren Widersprüche offenlegt, ist triftig, auch darm, wenn sie auf Gegenstände wie die Atomtheorie geht, die sich im nachhinein als richtig herausstellte, damals aber unzureichend begründet war. Dagegen taugen Hegels positive Aussagen zur Wissenschaft Chemie, die aus zeitgenössischen Veröffentlichungen bloß aufgelesen sind, häufig recht wenig und sind in aller Regel überholt. 6 Naturphilosophie ist Reflexion der Grundlagen der Naturwissenschaften, also der theoretischen Begriffe, der Rolle der experimentellen Arbeit, des Zusammenhangs der Einzeldisziplinen. Sie hat die einzelnen Naturwissenschaften „zur Voraussetzung und Bedingung" (IX. 37), ersetzt diese aber nicht und beansprucht auch nicht, Teil der Chemie, Physik, Biologie zu sein. „Die Naturphilosophie nimmt den Stoff, den die Physik ihr aus der Erfahrung bereitet, an dem Pimkte auf, bis wohin ihn die Physik gebracht hat, und bildet ihn wieder um, ohne die Erfahrung als die letzte Bewährung zu Grunde zu legen; die Physik muß so der Philosophie in die Hände arbeiten, damit diese das ihr überlieferte verständige Allgemeine in den Begriff übersetze, indem sie zeigt, wie es als ein in sich selbst nothwendiges Ganze aus dem Begriff hervorgeht" (IX. 44). Die Übersetzung in den Begriff ist vom zu Übersetzenden, dem in den Naturwissenschaften gewonnenen „verständigen Allgemeinen", zu imterscheiden und darf damit nicht vermengt oder in eins gesetzt werden. So wenig deswegen Hegels Naturphilosophie bloß wegen chemischer Irrtümer als nicht emstzxmehmend verworfen werden kann, so sehr sollte man sich davor hüten, Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts als entweder erahnt oder gar in Keimform schon enthalten in die Naturphilosophie hineinzuinterpretieren. Denn Hegels angebliches Voraussehen von Relativitätstheorie bis ,Chaos-Theorie' ist in Wahrheit ein von rückwärts Hineinsehen imd Hegel-Interpretieren, was eben heutige Wissenschaft voraussetzt. Auch hier ist nicht zum Kreis zu schließen, denn aus der vermeintlichen Keimzelle in Hegels Naturphilosophie sind moderne naturwissenschaftliche Theorien weder systematisch entwickelbar noch historisch entwickelt worden. Die Übersetzimg in den Begriff, wiewohl unterschieden vom zu Übersetzenden, ist dennoch nicht von diesem abtrennbar und ihm gegenüber selbständig. Hegels Naturphilosophie wird ihre konstitutive Bedingung, die zeitgenössische Naturwissenschaft, nicht los \md besitzt, bewirkt durch deren Mängel, einen nicht zu tilgenden Makel. Wiewohl deswegen die besondere Gestalt der Hegelschen Naturphilosophie der Kritik verfällt, ist damit nicht im allgemeinen die Übersetzimg in den Begriff zurückgewiesen, zumal weim diese den gegenwärtigen Stand der Naturwissenschaften zur Grundlage nimmt imd strikt beim reflektierenden Verfahren bleibt (vgl. M. J. Petry: Hegels Naturphilosophie - Die Notwendigkeit einer Neubewertung. In: Zeitschrift für Philosophische Forschimg 35 (1981), 627).

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Es hat sich der Grund dafür ergeben, warum „die Entwicklung des Maaßes [...] eine der schwierigsten Materien" (21. 327,18 f; IV. 410) ist: Indem eine falsche Generalthese mit Material in problematischer und für heutige Leser in der Regel unzugänglicher Fassung zugeschüttet und zu einem Ganzen verschmolzen, dies Verschmolzensein vom Autor zudem abgeleugnet wird, resultiert ein hermetischer Text, der dem Auseinanderlegen imd Freilegen des Kritik provozierenden systematischen Kernes beträchtlichen Widerstand entgegensetzt imd der philosophischen Forschung als terra incognita galt. Doch obwohl der systematische Gedardce im Abschnitt Das Maaß und insbesondere im Kapitel Das reale Maaß unbegriffen blieb, wurde ein herausgelesener Teil dieses Kapitels weit verbreitet imd gewann in popularisierter Form eine vermeintlich von selbst verständliche Gewißheit. Das reale Maaß enthält mit der Knotenlinie von Maaßverhältnißen nämlich die Quelle, aus der zunächst Engels' „Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität imd umgekehrt"^ stammte, welches dann unabhängig von der Stellung zu Engels' sonstigen Auffassungen zu der wie eine logische Formel verwendeten Redensart verkam: Durch quantitative Vermehrung schlage die Qualität um. Prima vista ist es erstaunlich, daß nie der Versuch gemacht wurde, an der Hegelschen Originalstelle selbst herauszubekommen, was an dem Umschlagen wahr oder falsch ist. Einerseits stand Engels' Diktum dagegen, die „dialektischen Gesetze" sähen nur „in der idealistischen Philosophie äußerst geheimnisvoll''^ aus, während sie ohne dieselbe „einfach und sonnenklar" seien. Da das Resultat feststand und mit den „schlagendsten Einzelbelege[n]"9 versehen worden war, schien es überflüssig, einen angeblich verkomplizierten und verworrenen Text zu dem zu enträtseln, was ohnehin klar wario. Anderer7 F. Engels: Dialektik der Natur, ln: K. Marx, E Engels: Werke. Bd 20. Berlin 1973.348. 8 F. Engels: A. a. O. 9 F Engels: A. a. 0.349. 10 Die Debatte um Engels' „dialektisches Gesetz" krankte lange Zeit daran, daß es als gegeben hingenommen und daim nur über mehr oder weniger problematische bzw. passend zugerichtete Beispiele gestritten wurde. Das Zerpflücken solcher Beispiele taugt aber nicht als Kritik. Hingegen eröffnet die Hegelsche Herleitung der „Knotenlinie von Maaßverhältnißen" die Möglichkeit zur Kritik, gerade weil diese Herleitimg eine systematische Begründung des „Gesetzes" versucht. Was die Argumentation „äußerst geheimnisvoll" aussehen läßt, ist dem Widerstand des Materials gegen die idealistische Subreption geschuldet, die dem Maß vorauszusetzenden Substanzen zimächst in Verhältnisse von selbständigen Maßen und dann in durch die Bewegimg des sich selbst spezifizierenden Maßes gesetzte Maßverhältnisse auflöst. Das „dialektische Gesetz" enipuppt sich als eine der idealistischen Generalthese durchaus gemäße Glättimg des Hegelschen Textes, welche die in dem Text enthaltenen Brüche \md entgegenstehenden Momente ein-

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seits ist der Hegelsche Text auf den ersten Blick in der Tat undurchsichtig. Hinter sein Geheimnis kommt nur, wer die Beziehung auf das zitierte chemische Material klärt. Nach der Beziehung auf das Material sucht bei Hegel derjenige nicht, der ihn mit dem Vorurteil liest, der Idealismus mißachte das Materielle oder Konkrete, weil er das Immaterielle oder Abstrakte vergöttere^. Hegels Ausführungen zum „Umschlagen" beispielsweise können nur mit der von Hegel quasi kontrapunktisch mitgeführten chemischen Bedeutung, daß die Farbe des Indikators bei einer Säure-Base-Titration umschlägt, begriffen werden. Die Hegelsche „Knotenlinie von Maaßverhältnißen" beansprucht, die Universalerklänmg für den Zusammenhang von kontinuierlich veränderlichen Maßverhältnissen und diskontinuierlichen Größen zu sein. Der „Umschlag" ist der Übergang von einer kontinuierlichen Veränderung zu einer diskontinuierlichen, dem qualitativen Sprung. Diesen Übergang entwickelt Hegel aus dem, was an sich oder dem Begriffe nach im Kontinuieren der Maßverhältnisse schon enthalten ist. Nicht zu bestreiten ist, daß es diskrete Größen imd Sprünge in der Natur gibt, die in einem Zusammenhang mit kontinuierlichen Verändenmgen stehen. Bestritten wird jedoch Hegels Vorhaben, das universelle Gesetz vom „Umschlagen" auf der „Knotenlinie" aus dem im Maß an sich Enthaltenen immanent zu deduzieren. Für diese Deduktion ist entscheidend, daß Hegel den qualitativen Sprung als zureichend begründet durch die bestimmte Negation der kontinuierlichen Veränderung von Maßverhältnissen ausgibt und so vom Kontinuieren der Maße zur spnmghaften Verschiedenheit der Qualitäten als deren wesentlicher Bestimmimg übergeht. Nur damit wäre der Rückgang aus den kontinuierlich veränderlichen Maßverhältnissen zu deren Grund, nämlich den diskret voneinander verschiedenen Qualitäten, zugleich Entwicklung dieses Grundes als Resultat, der Kreislauf wäre in sich geschlossen, imd die zunächst vorausgesetzten Qualitäten wären gesetzt oder begründet. Aber das Abbrechen kontinuierlicher Verändenmg ist lediglich notwendige Bedingimg, nicht zureichender Gnmd für die Verschiedenheit von Qualitäten. So wird an diesem Übergang, dem „Umebnet; Hegel ist gegen seinen idealistischen Liebhaber Engels zu verteidigen. Die Geschichte des „dialektischen Gesetzes" demonstriert, welches Eigenleben Resultate der Hegelschen Wissenschaft der Logik gewinnen können, wenn sie von Hegels Begründungen getrennt, damit jeder immanenten Kritik entzogen und eben als herausgegriffene Resultate petrifiziert werden. vgl. M. J. Petry: Hegels Naturphilosophie - Die Notwendigkeit einer Neubewertung. A. a. O. 623.

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schlagen" aus der kontinuierlichen Veränderung von Maßverhältnissen, gezeigt werden, daß das vorwärtsgehende Entwickeln, das auf den qualitativen Sprung führt, damit lediglich auf eine notwendige Bedingung zurückgeht und daß Rückgang in den Grund in Wahrheit bedeutet, das für das „Umschlagen" wesentliche, heterogene Material zu erschließen. In den Naturwissenschaften stehen kontinuierlich veränderliche Maßverhältnisse imd qualitative diskontinuierliche Größen in einer Konstellation, die ihrerseits durch ein bestimmtes Material, nämlich durch zu den in Konstellation stehenden Maßgrößen heterogene Qualitäten, spezifiziert wird. Damit ist das „Umschlagen" nicht als das gesetzt, was an sich im Kontinuieren der Maße enthalten ist, sondern verweist auf ein bestimmtes und gerade mittels solcher „Umschläge" bestimmbares Material. Die Exposition kann den Mangel in ihrer Darstellung nicht verbergen, daß ihr Vorwärtsgehen vorab und imabhängig von dem Material, d. i. dem Hegelschen Text, der in ihr entwickelten These widerspricht. Deswegen soll sie mm ihrerseits übergehen - in ihre Durchführung. Es folgt der fortlaufende Kommentar zu dem zweiten Kapitel (Das reale Maaß) des dritten Abschnitts (Das Maaß) aus dem ersten Band (Die Lehre vom Seyn) des ersten Teils (Die objective Logik) der Wissenschafl der Logik. Die zu kommentierende Passage ist jeweils vorangestellt. Der Kommentar beginnt, werm der Text dimkel erscheint, mit einer eingehenden Erläuterimg der einzelnen Sätze, um mögliche Schwierigkeiten des Verständnisses aufzulösen. Ist die Hegelsche Argumentation dann durchsichtig geworden, wird geprüft, ob sie stimmt oder nicht stimmt. Fallweise schließen sich Folgerungen imd wissenschaftshistorische Anmerkungen an.

ZWEYTES KAPITEL.

DAS REALE MAASS. Das Maaß ist bestimmt zu einer Beziehung von Maaßen, welche die Qualität unterschiedener selbstständiger Etwas, geläuffiger: Dinge ausmachen. Die so eben betrachteten Maaßverhältnisse gehören abstracten Qualitäten, wie dem Raume und der Zeit, an; zu den im bevorstehenden zu betrachtenden sind specifische Schwere, weiterhin die chenüschen Eigenschaften die Beyspiele, welche als Bestimmungen materieller Existenzen sind.

Die „Beyspiele" werden von Hegel herbeizitiert. Er erweckt den Anschein, als stünden sie in dem durch die Fortbestiirummg des „realen Maaßes" dargestellten, systematischen Zusammenhang und als wäre so die Entwicklimg von der Erdbeschleunigrmg zur spezifischen Schwere und von dieser zum Äquivalentgewicht u. s. w. begründet. Raum und Zeit sind auch Momente solcher Maaße, die aber nun weitem Bestimmungen untergeordnet, nicht mehr nur nach ihrer eigenen Begriffsbestimmung sich zu einander verhalten.

Im vorherigen Kapitel wurde eine Relation von Raum und Zeit (die „noch halb bedingte und nur halbfreye Bewegvmg" (21.343,23; IV. 430), nämlich die Fallbewegxmg) vorgestellt, in der Raum imd Zeit „nach ihrer eigenen Begriffsbestimmung sich zu einander verhalten"; sie stehen in einem Potenzenverhältnis. Über den Exponenten a (die halbe Erdbeschleurügung) wurde zum „realen Fürsichseyn", der Sache nach zur spezifischen Schwere, übergegangen (vgl. dazu den Anhang, Seite 286). Raum imd Zeit sind auch Momente dieser neuen Maße, sind aber nun (im Vergleich zu a) „weitem Bestimmimgen imtergeordnet". In der spezifischen Schwere taucht das Volumen im Nenner auf. Das Potenzenverhältnis ist in ein direktes transformiert. Im Klange z. B. ist die Z e i t, in welcher eine Anzahl der Schwingungen erfolgt, das Räumliche der Länge, Dicke, des schwingenden Körpers, imter den Bestimmimgsmomenten; aber die Größen

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jener ideellen Momente sind sich äusserlich bestimmt, sie zeigen sich nicht mehr in einem Potenzen-, sondern in gewöhnlichem directen Verhältniße gegeneinander, xmd das Harmonische reducirt sich auf die ganz äusserliche Eirdachheit von Zahlen, deren Verhältniße sich am leichtesten auffassen lassen, und damit eine Befriedigimg gewähren, die ganz der Empfindung anheimfällt, da für den Geist keine Vorstellung, Phantasiebild, Gedanke imd dergleichen ihn erfüllendes vorhanden ist.

Die harmonischen Verhältnisse werden ausführlich im Kommentar zu der Passage 21. 352, 21 ff; IV. 440 f behandelt werden. Weil aber in dem vorliegenden Satz auch heute noch verbreitete Vorurteile stecken, welche auf der Stufe der pythagoreischen Musiktheorie stehen gebUeben sind imd diese versteinert enthalten, sei hier schon vorsorglich, zunächst noch ohne Begründxmg xmd die Vorurteile lediglich aufspießend, vier Behauptimgen widersprochen: 1. ) „[...] das Harmonische reducirt sich auf die fachheit von Zahlen". Hegel denkt an die Intervalle Oktave, Quinte, Quarte usw. xmd die Frequenzenverhältnisse für die Grxmdschwingxmgen der Töne 1:2,2:3,3:4 usw. Er behauptet fälschlicherweise, „das Harmonische" (die Klangqualitäten der Intervalle) ließe sich auf diese einfachen Zahlenverhältnisse reduzieren xmd aus ihnen ableiten. 2. ) „[...] deren Verhältniße sich am leichtesten a Mathematisch gesehen ist das Verhältnis 7:8 nicht schwieriger als 2:3. „[...] am leichtesten auffassen" bedeutet hier wohl ,am leichtesten hören'. Damit ist erstens behauptet, eine Oktave sei leichter zu hören (axxfzufassen) als eine Quinte xmd dissonante Intervalle seien sehr viel schwieriger als konsonante. Zweitens ist der Zusammerxhang xmterstellt: Intervalle höre man deswegen als konsonant/dissonant, weil die Zahlenverhältnisse eirxfach/kompliziert seien, je einfacher die Zahlen, desto konsonemter klinge das Intervall in xmseren mathematischen, einfache Zahlen höher schätzenden Ohren. 3. ) „[...] damit eine Befriedigxmg gewähren, die anheimfällt [...]". Die Befriedigxmg, die angeblich von z. B. einer Oktave gewährt wird, soll nxm - xmd das widerspricht der vorherigen, xmter 2.) aufgeführten Behauptxmg - nicht darin gründen, daß xmseren mathematischen Ohren eirxfache Zahlen besser gefallen, sondern darin, daß der Geist durch einfache Zahlen nicht oder kaxun behelligt xmd somit eine Befriedigxmg möglich wird, „die ganz der Empfindxmg an-

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heimfällt". Solche Befriedigung - so kann ergänzt werden - unterbleibt, wenn der Geist mit krummen Zahlen geplagt wird. 4.) Es ist ein gemeines, musikalische Bildvmg verachtendes Vorurteil, daß als Kriterium für gute oder schlechte Musik die Befriedigung, „die ganz der Empfindimg anheimfällt", genommen werden solle. Spätestens nachdem die Musik die Entwicldimg des musikalischen Gedankens zu ihrem Gegenstand gemacht hatte, wurde die unmittelbare Empfindung der Musik unangemessen. Die Rede über solche vom Geist, d. i. einem analytischen Hören unverdorbene Empfindimg ist ohnehin das einzige angeführte Indiz dessen, was da je unsagbarer desto tiefer sein soll, was aber in Wahrheit dem leeren, hin imd hergehenden „Raisonniren" gleicht - in der „Freiheit von dem Inhalt" und der „Eitelkeit über ihn" (II. 54). Indem die Seiten, welche nun das Maaßverhältniß ausmachen, selbst Maaße, aber zugleich reelle Etwas sind, sind ihre Maaße zunächst unmittelbare Maaße und als Verhältniße an ihnen, directe Verhältniße.

Modell für die „unmittelbaren Maaße", die „als Verhältniße an ihnen, directe Verhältniße" sind, ist die „specifische Schwere" oder - in heutiger Terminologie - das spezifische Gewicht (= das direkte Verhältnis oder der Quotient von Gewicht und Volumen). Die altertümliche Ausdrucksweise leistet der Konstruktion des Übergangs ins „reale Maaß" Vorschub: Hegel bezeichnete den Exponenten aus der Weg-Zeit-Relation für die Fallbewegung (heute: die Erdbeschleunigung) als „Schwere". Diese „Schwere" ist eine und dieselbe für den Fall verschiedener Körper; diese Körper haben (in der Regel) jedoch nicht dasselbe Gewicht. So ist ein und dasselbe Maß (und nicht die quantitativ verschiedenen Gewichte) vorhanden, welches dann dem Prozeß des Spezifizierens (vgl. IX. 216) unterworfen werden kann. Es ist das Verhältniß solcher Verhältniße zu einander, welches nun in seiner Fortbestimmung zu betrachten ist.

Angefangen wird mit dem „realen Maaß", einem unmittelbaren qualitativen Etwas (also mit dem spezifischen Gewicht, das seinerseits als direktes Verhältnis von Maßen bestimmt ist). Das „Verhältniß solcher Verhältniße zu einander" ist nun „zu betrachten". Doch die „Fortbestimmung" fällt nicht nur in die äußere Reflexion, der die Bildung des

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Verhältnisses zweier qualitativer Etwas gegeben ist und die dann die entstandenen Maßverhältnisse betrachtet. Vielmehr ist die Entwicklung des Maßes und seine Realisation, d. i. „seine Fortbestimmimg" zu betrachten, nämlich, daß das reale Maß „sich zu sich selbst ins Verhältniß, xmd damit zugleich als Moment setzt" (21.326,25 f; IV. 409). Darin stekken zwei Probleme: 1.) Wer setzt ins Verhältnis? Es ist nicht das spezifische Gewicht, das sich zu sich selbst ins Verhältnis setzt, sondern der Experimentator, der imter besonderen, von ihm hergestellten Bedingimgen z. B. zwei Metalle zusammenschmilzt und dann das spezifische Gewicht der Legierung mit dem der Ausgangsstoffe vergleicht. Unterstellt ist also experimentelle Arbeit, die jedoch von dem scheinbar automatischen Sich-zu-sich-selbst-ins-Verhältnis-Setzen als marginal imd nicht dieses Verhalten verfassend abgewertet wird. 2.) Das Ins-Verhältnis-Setzen, später das Sich-zu-andem-Verhalten, ist keine hinreichende Bestimmimg für den jeweils unterstellten chemischen Prozeß. In den Unterkapiteln werden verschiedenerlei chemische Prozesse (Bildung von Lösimgen/Legienmgen, Neutralisationsreaktion, Reaktionen von Salzen) zitiert, ohne die die dann behandelten Maßverhältnisse nicht herauskommen, deren Unterschiede jedoch in dem bloßen Sichzu-andem-Verhalten von immer weiter spezifizierten Maßen gelöscht sind. Hegel erweckt den Anschein, als ob diese Unterschiede von der Entwicklung des Maßes hervorgebracht oder zumindest erklärt würden. Die folgende Seite in Hegels Text ist ein ausführliches Inhaltsverzeichnis dieses Kapitels. Der Kommentar beschränkt sich darauf, das jeweils angezogene chemische Modell zu nennen, was als Leitfaden sehr nützlich ist. Das Maaß, wie es so nunmehr reales ist, ist erstens ein selbstständiges Maaß einer Körperlichkeit, das sich zu andern verhält und in diesem Verhalten dieselben, so wie damit die selbstständige Materialität, specificirt.

Das spezifische Gewicht ist das „selbstständige Maaß einer Körperlichkeit", d. h. ein materielles Etwas wird durch das spezifische Gewicht bestimmt. Ein „selbstständiges Maaß [...] [verhält, U. R.] sich zu andern": Dieses Verhalten unterstellt, daß die zwei materiellen Etwas (z. B. zwei Metalle) eine Lösung bilden. Dann können die spezifischen Gewichte untereinander in Relation gesetzt werden. Diese Relation ist ihrerseits wieder quantitativ bestimmt tmd soll in besonderer Weise für die materiellen Etwas, aus denen die Lösung gebildet wird, spezifisch

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sein („[...] in diesem Verhalten dieselben, so wie damit die selbstständige Materialität, specificirt")- Für die spezifischen Gewichte trifft das nicht zu. Setzt man dagegen die äquivalenten Mengen von miteinander reagierenden Stoffen ins Verhältnis, erhält man quantitative Relationen. Diese können, wenn die reagierenden Stoffe in verschiedenen Relationen Vorkommen, untereinander in Relation gesetzt werden. Normiert man dabei, dann kann jedem Stoff ein ,spezifisches' Gewicht, nämlich das Äquivalentgewicht, zugeordnet werden. Dieses Äquivalentgewicht ist der Exponent des Verhältnisses der verschiedenen Relationen eines Stoffes zu vielen anderen Stoffen. Bei Hegel wechselt von Unterabschnitt a zu Unterabschnitt b das zugnmdeliegende Modell. Zunächst bilden zwei Stoffe eine Löstmg, und die Relation der spezifischen Gewichte wird betrachtet, welche Relation aber zu keiner spezifizierten Maßgröße führt. Dann neutralisieren sich Säure imd Base, imd die Reihe von Maßverhältrüssen (Neutralisationsreihen für die äquivalenten Mengen) wird betrachtet. Äus dieser Reihe (genauer: aus dem Ins-Verhältnis-Setzen solcher Reihen bei Durchfühnmg einer Normienmg) geht das Äquivalentgewicht hervor, das dcum als spezifizierte Maßgröße das spezifische Gewicht ersetzen kann, denn es drückt eher als dieses die qualitative Natur des Stoffes aus. Deswegen changiert im Verlauf der Hegelschen Darstellung der Inhalt des Begriffs „specifische Schwere" vom spezifischen Gewicht (im physikalischen Sinn) zum Äquivalentgewicht. Diese Specification, als ein äusserliches Beziehen zu vielen Andern überhaupt ist das Hervorbringen anderer Verhältniße, somit anderer Maaße, und die specifische Selbstständigkeit bleibt nicht in einem directen Verhältnisse, bestehen, sondern geht in specifische Bestimmtheit,dieeineReihevon Maaßen ist,über.

Das „Hervorbringen anderer Verhältniße" und das Übergehen in „specifische Bestimmtheit" bezeichnen nur dann einen Sachverhalt, wenn das zugrundeliegende Modell von der Lösrmg zur Neutralisationsreaktion wechselt. Die zu kommentierenden Übergänge in der Wissenschaß der Logik sind zugleich der Versuch, für die Chemie fundamentale Begriffe (in heutiger Terminologie: heterogener Stoff, homogener Stoff, Lösung, reiner Stoff) auseinander zu entwickeln. Ein heterogener Stoff ist eine physikalische Mischung homogener Stoffe, ein homogener Stoff eine einzige Phase, die an allen Stellen durch denselben Wert phy-

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sikalischer Größen wie eben des spezifischen Gewichts charakterisiert werden kann. Homogener Stoff ist der Oberbegriff zu Lösung imd reinem Stoff. Die Unterscheidimg von heterogenem und homogenem Stoff folgt der Anschauvmg; ein heterogener Stoff ist äußerlich imeinheitlich, ein homogener Stoff - und als erste Bestimmung desselben sei ,Lösung' genommen - zeigt im Vergleich mit der physikalischen Mischung eine Verändenmg der Eigenschaften der Bestandteile („das Hervorbringen anderer Verhältniße, somit anderer Maaße")- Mit dem „realen Maaß" ist das materielle Etwas zum homogenen Stoff bestimmt. Dieser ist dasjenige, dessen „qualitative Natur" in einem solchen unmittelbaren Maßverhältnis wie dem spezifischen Gewicht liegt. Der Übergang von Unterabschnitt a zu Unterabschnitt b ist dann der Versuch, innerhalb des Oberbegriffs ,homogener Stoff' (= "reales Maaß") aus dem Begriff der Lösung den des reinen Stoffes zu entwickeln. Mit „specifische Bestimmtheit, die eine Reihe von Maaßen ist," ist der reine Stoff und dessen Äquivalentgewicht erreicht. Denn eine Lösung, die eine innerhalb mehr oder weniger weiten Grenzen variable Zusammensetzung besitzen kann, ist nicht eine „specifische Bestimmtheit". Zweytens sind die dadurch entstehenden directen Verhältniße, an sich bestimmte und ausschliessende Maaße, (Wahlverwandtschaften); indem aber ihr Unterschied von einander zugleich nur quantitativ ist, so ist ein Fortgang von Verhältnißen vorhanden, der zum Theil bloß äusserlich quantitativ ist, aber auch durch qualitative Verhältniße imterbrochen wird, und eine Knotenlinie von specifischen Selbstständigen bildet.

Unter „erstens" wurde vom spezifischen Gewicht zum Äquivalentgewicht übergegangen. Dessen „Fortbestimmimg" ist unter „zweytens" zu betrachten: Es setzt „sich zu sich selbst ins Verhältniß" (21.326, 25 f; rV. 409). ..] die dadurch [durch das Ins-Verhältiüs-Setzen der Äquivalentgewichte; diesem Ins-Verhältnis-Setzen von Maßen liegt ein realer Prozeß, die Neutralisationsreaktion, zugnmde, U. R.] entstehenden directen Verhältniße" sind die Wahlverwandtschaften, „an sich bestimmte und ausschliessende Maaße", die die Resultate der Neutralisationsreaktionen (Salze) charakterisieren. Die Wahlverwandtschaften werden ihrerseits ins Verhältnis gesetzt imd darin spezifiziert (Reaktionen der Salze untereinander, Umgruppierung der Ionen). Die Wahlverwandtschaften zu einem bestimmten Stoff können in eine Verwandt-

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schaftstafel für diesen Stoff eingetragen werden und sind darin nach ihrer Affinitätsstärke geordnet („[...] ihr Unterschied von einander zugleich nur quantitativ ist"). Dieser „Fortgang von Verhältnißen" bildet „eine Knotenlinie von specifischen Selbstständigen". Drittens aber tritt in diesem Fortgange für das Maaß die Maaßlosigkeit überhaupt, tmd bestimmter die Unendlichkeit des Maaßes ein, in welcher die sich ausschliessenden Selbstständigkeiten eins mit einander sind, und das Selbstständige in negative Beziehung zu sich selbst tritt.

An dem „Fortgang von Verhältnißen" zeigt sich der Übergang in die „Unendlichkeit des Maaßes". Darin sind die zuvor selbständigen tmd einander ausschließenden Maße (die Wahlverwandtschaften) zu Zuständen oder Momenten eines und desselben Substrats herabgesetzt. Die Wahrheit, zu der dann übergegangen wird, ist die in sich spezifizierende Bewegung oder das Substrat, das „in negative Beziehtmg zu sich selbst tritt".

A. Das Verhältniß selbstständiger Maaße. Die Maaße heißen nun nicht mehr bloß unmittelbare, sondern selbstständige, insofern sie an ihnen selbst zu Verhältnißen von Maaßen [werden], welche specificirt sind, so in diesem Fürsichse5m Etwas, physicalische, zunächst materielle Dinge sind. Das Ganze, welches ein Verhältniß solcher Maaße ist, ist aber a. zvmächstselbst unmittelbar ; so sind diebeyen Seiten, welche als solche selbstständige Maaße bestimmt sind, ausser einander an besondem Dingen bestehend, und werden äusserlich in Verbindung gesetzt;

Die selbständigen Maße, „insofern sie an ihnen selbst zu Verhältnißen von Maaßen [werden]", sind „in diesem Fürsichseyn Etwas, physicalische, zunächst materielle Dinge", d. h. das spezifische Gewicht ist die hinreichende Bestimmung für das materielle Ding, soweit es bis jetzt entwickelt ist, nämlich den homogenen Stoff. „Das Ganze, welches ein Verhältniß solcher Maaße [spezifischer Gewichte, U. R.] ist, ist aber a. zimächst selbst unmittelbar": Zwei Stoffe bilden eine Lösimg. Die beiden diese Stoffe charakterisierenden spezifischen Gewichte werden „äusserlich in Verbindung gesetzt". Die Lösung ist durch das Verhältnis zweier spezifischer Gewichte bestimmt. b. die selbstständigen Materialitäten sind aber, was sie qualitativ sind, nur durch die quantitative Bestimmvmg, die sie als Maaße haben, somit durch selbst quantitative Beziehung auf andere, als different dagegen (sogenarmte Affinität) imd zwar als Glieder einer Reihe solchen quantitativen Verhaltens bestimmt;

Von dem Äußerlich-in-Verbindung-Setzen (= Lösen) ist die „Affinität" (= die Fähigkeit von Säure und Base, sich zu neutralisieren, d. i. eine chemische Reaktion) verschieden. Die „selbstständigen Materialitäten" (z. B. Säuren und Basen) sind nicht mehr unmittelbar (wie durch das spezifische Gewicht), sondern durch ihre Affinität xmd die diese Affinität verwirklichenden und durch neue Maße charakterisierbaren chemischen Reaktionen („durch selbst quantitative Beziehimg auf an-

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dere") und somit „als Glieder einer Reihe solchen quantitativen Verhaltens", nämlich als äquivalente Mengen in den Neutralisationsreihen, bestimmt. Mit einer Normierung ergeben sich daraus die Äquivalentgewichte, eine weiter entwickelte, spezifizierte Maßgröße für jene „selbstständigen Materialitäten". c. dieses gleichgültige mannichfaltige Verhalten schließt sich zugleich zum ausschließenden Fürsichseyn ab; - sogenannte Wahlverwandschaft.

„[...] dieses gleichgültige mannichfaltige Verhalten": Eine Säure kann von jeder einzelnen aus der gegenüberstehenden Reihe der Basen neutralisiert werden; von welcher der Basen ist gleichgültig, wenn es bloß auf die Neutralisation ankommt. Ist eine Salzbüdimg erfolgt, dann schließt diese (eine Wahlverwandtschaft) eine weitere aus. a. Verbindung zweyer Maaße. Etwas ist in sich als Maaßverhältniß von Quantis bestimmt, welche ferner Qualitäten zukommen, und das Etwas ist die Beziehung von diesen Qualitäten. Die eine ist dessen Insichseyn, wonach es ein Fürsichseyendes, - Materielles - ist, (wie intensiv genommen, das Gewicht, oder extensiv, die Menge aber von materiellen Theilen); die andere aber ist die Aeusserlichkeit dieses Insichseyns, (das Abstracte, Ideelle, der Raum.)

Descartes bestimmt die Materie unmittelbar als Ausdehnungi - die hier bei Hegel unter „die Aeusserlichkeit" fällt. Die Schwere (ebenso wie die Härte, Farbe „oder andere derartige Qualitäten") komme einem materiellen Körper lediglich akzidentell zu; diese Qualitäten müßten, wenn die Substanz des Körpers erkannt werden soll, entfernt werden2. Die so erhaltene Substanz, res extensa, sei beliebig teilbar und überall dieselbe^. Ihr gegenüber stellt Descartes die res cogitans, die Beziehung 1 R. Descartes: Prinzipien der Philosophie. II. Teil. 1. Absatz. Übersetzt und erläutert v. A. Buchenau. Hamburg 1965.31 f. 2 R. Descartes: Meditationes de prima philosophia. Auf Gnmd der Ausgaben v. A. Buchenau neu hrsg. v. L. Gäbe. Hamburg 1977.53 f (II. Meditation); R. Descartes: Prinzipien der Philosophie: II. 4. A. a. 0.32 f. 3 R. Descartes: Prinzipien der Philosophie. II. 20.22. A. a. 0.40 f.

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des ,Ich denke' auf sich - hier bei Hegel ist der „Aeusserlichkeit" das „Insichseyn" gegenüber gestellt. Bei Descartes bleibt letztlich ungelöst, wie von der rein extensiv (als bloße Ausdehnung) bestimmten Materie zu intensiven Größen wie dem spezifischen Gewicht zu gelangen ist bzw. wie das Verhältnis von ausgedehnter Substanz und jenen Qualitäten beschaffen ist. Die klassische Mechanik (Newton) setzt Materialität als ein gegenüber Raum und Zeit Unabhängiges, Fertiges voraus^. Raum und Zeit ihrerseits werden aboluts, als für sich reale Daseiende angenommen, die selbst nichts enthalten tmd die dennoch Etwas gegen die sie erfüllende Materie sein sollen - was auf das Problem führt, daß, wenn der Raum durch Materie erfüllt wird, an demselben Ort zwei Daseiende sein müßten. Raum imd Zeit sollen gleichgültig imd selbständig gegen ihre Erfüllung sein, können aber ohne diese gar nicht festgestellt vmd von dieser gar nicht abgetrermt werden. Die Materie soll gleichgültig und selbständig gegen Raum imd Zeit und zugleich als wesentlich räumlich und zeitlich angenommen werden. Sowohl die Descartessche wie auch die Newtonsche Bestimmung der Materie durchschaut Hegel als falsche Abstraktionen. Sie sind in seiner Bestimmung des Materiellen aufgehoben: „Etwas ist in sich als Maaßverhältrüß [...] bestimmt" und ist damit „die Beziehung" zweier Qualitäten. Die eine, das Gewicht, ist das „Insichseyn" des Etwas, „wonach es ein Fürsichseyendes" ist; vgl. die Naturphilosophie: „[...] die Schwere ist das Insichseyn der Materie" (IX. 95). Während Descartes Raum und Materie unmittelbar in eins setzt, deswegen bei der abstrakten „Aeusserlichkeit" verbleibt und daraus weder Schwere der Materie noch spezifische Schwere erklären kann, entwickelt Hegel aus der Relation von Raum und Zeit das „Fürsichseyn im Maaße" (am Modell Fallgesetz: aus dem Potenzenverhältnis den Exponenten, die Erdbeschleunigung) und geht via „Schwere" zu dem dann „realen Fürsichseyn", der „specifischen Schwere", über - so in der Wissenschaft der Logik. In der Naturphilosophie stellt Hegel Raum und Zeit zunächst als „das ganz abstracte Außereinander" (IX. 70) vor, zeigt deren immanente Beziehung aufeinander und entwickelt über die Bewegung „die Einheit und Negation dieser abstracten Momente, [...] die Materie" * Newton setzt in der 1. Erklärung seiner Principia die Dichte voraus und bestimmt die „Grösse der Materie“ (= die im folgenden zugrundeliegende Masse) durch das Produkt von Dichte und Volumen, vgl. I. Newton: Mathematische Prinzipien der Naturlehre. Hrsg. V. J. Ph. Wolfers. Darmstadt 1963.21. 5 I. Newton: A. a. 0.25.

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(IX. 70). „[...] die Wahrheit des abstracten Raumes [...] ist [...], als materieller Körper zu seyn" (IX. 73). „Der Raum ist seinem Begriffe nicht angemessen; es ist daher der Begriff des Raumes selbst, der in der Materie sich Existenz verschafft" (IX. 93). Die Materie fällt insofern weder unmittelbar mit dem Raum zusammen, wie Descartes behauptet, noch ist sie, wie Newton gegen Descartes behauptet, ein zum Ratun Heterogenes und von ihm Unabhängiges. Die (gegen Descartes) richtige Einsicht, daß dem aus der Relation von Raum imd Zeit entwickelten „Fürsichseyn" ein Moment von Selbständigkeit gegen Raum imd Zeit zukommt, erscheint bei Newton in der Gestalt der (falschen) Abstraktion einer vom Raum abgetrennten, selbständigen Materie imd - damit einhergehend - des Raumes als „etwas Substantiellen für sich" (IX. 73). Beides ist deswegen falsch, weil der Raum nur als erfüllter Raum real sein kann, während er, abgetrennt von seiner Erfüllung, lediglich das „ganz abstracte Außereinander", nicht aber „etwas Substantielles für sich" ist, und weil die Materie als die Wahrheit des abstrakten Raumes diesen als Moment enthält und so immer nur räumliche (und zeitliche) Materie sein kann. „[...] die andere [Qualität, U. R.] [...] ist die Aeusserlichkeit dieses Insichse5ms", nämlich das Volumen, das ein durch das Gewicht bestimmtes Materielles einnimmt. Diese „Aeusserlichkeit" ist „das Abstracte, Ideelle, der Raum". Nach Kant ist der Raum die Form der Anschauung, und daran ist, „wenn von dem abgesehen wird, was in dem Kantischen Begriffe dem subjectiven Idealismus [...] angehört," richtig, „daß der Raum eine bloße Form, d. h. eine Abstraction ist, und zwar die der unmittelbaren Aeußerlichkeit" (IX. 71). Wenn nichts räumlich wahrgenommen werden kann, was nicht erfüllter Raum ist, dann ist das Materielle (das „Insichseyn") das Substantielle und der Raum die (subjektive) Bedingung desselben oder - von der transzendentalphilosophischen Terminologie befreit - das abstrakte, ideelle Moment an dem Realen, Materiellen („Aeusserlichkeit" des „Insichse5ms"). Als Modell kann ein Gas in einem Kolben dienen: Das Gewicht bleibt, falls das System materiell abgeschlossen ist, konstant, während das Volumen durch experimentelle Tätigkeit verändert werden kann; es ist vom Druck und der Temperatur abhängig. In der Beziehung auf das „Insichseyn" kehrt die „Aeusserlichkeit" als veränderte Bestimmimg zurück. Werden Raum und Zeit für ^ich vorgestellt, so sind sie als „Abstractionen der Aeußerlichkeit" (IX. 80) gesetzt. Hegel zeigt - gegen die Kinematik, die s und t als zwei gegeneinander selbständige imd einander äußerliche Größen in Relation setzt - die immanente Beziehung bei-

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der aufeinander. Aus dieser Relation beider entwickelt er das „Fürsichseyn im Maaße", den Exponenten, und kommt so zur Materie. An dieser Materie hat die Bestimmung der zuvor abstrakten „Aeusserlichkeit" (des Raiunes) sich dadurch verändert, daß sie in Relation zum Exponenten gesetzt ist und diesen darin spezifiziert. Sie ist Volumen der Materie („Aeusserlichkeit dieses Insichseyns"). Diese Qualitäten sind quantitativ bestimmt, imd das Verhältniß derselben zu einander macht die qualitative Natur des materiellen Etwas aus; - das Verhältniß des Gewichts zum Volumen, die bestimmte specifische Schwere.

Wenn Hegel in der gesamten Passage von „Gewicht" (bzw. „Schwere") und „specifischer Schwere" und nicht, wie ein Physiker vielleicht stillschweigend verbessern würde, von Masse imd Dichte spricht, so ist dies kein Lapsus, sondern liegt darin begründet, daß er - entgegen der klassischen Mechanik - die Materie zunächst als schwere Materie bestimmt (IX. 94) und dann daraus erst die träge Materie (IX. 97 f) entwikkelt. Deswegen ist für Hegel die „Schwere", wie auch der Übergang vom Potenzenverhältnis des freien Falls zur Erdbeschleunigimg zeigt, die grundlegendere Bestimmung. Gewicht imd Volumen sind als Qualitäten gegeneinander bestimmt, welche quantifiziert werden können. So sind beide Maße, Einheiten von Qualität und Quantität. Weil es weder ein Gewicht ohne Volumen noch ein Volumen ohne Gewicht (richtig mu:, wenn hier an die Stelle von ,Gewicht' ,Masse' eingesetzt wird) gibt, stehen beide Maße in einem notwendigen Zusammenhang. Nur beide zusammen („das Etwas ist die Beziehung von diesen Qualitäten") ergeben die Bestimmtheit eines materiellen Gegenstandes; das Volumen allein reicht nicht (wie für das Gas im Kolben gezeigt, unterliegt es der Veränderung durch die experimentelle Tätigkeit) und das Gewicht allein auch nicht (1 kp kann vom Blei bis zu den Federn alles Mögliche sein). Gewicht hat ein „materielles Etwas" nur in Beziehung auf ein anderes solches (die Erde) und ist deswegen als Relation von Maßen (der beiden Massen) bestimmt. Das spezifische Gewicht dagegen bezieht sich auf das „materielle Etwas" selbst und macht dessen „qualitative Natur" aus. In der Naturphilosophie wird die „Schwere" als der Materie allgemein zukommende Bestimmung entwickelt: die „Repulsion" zum „außereinanderseyenden Fürsich- se)m" (IX. 94) imd dessen „Attraction" („weil diese Verschiedenen ein und dasselbe sind" (a. a. O.)) sind die

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Momente der Materie. Die demnach sowohl außereinanderseiende als auch kontinuierliche Materie wird „zur Einheit als negativer Beziehung auf sich, der Einzelnheit, Einer (jedoch noch ganz abstracten) Subjectivität" (IX. 94f), reduziert. Diese „Reduction" ist die „Schwere". Sie macht „die Substantialität der Materie aus, diese selbst ist das Streben nach dem [...] außer ihr fallenden Mittelpunkt" (IX. 95). Das Streben nach dem Mittelpunkt spezifiziert das „Außereinander der Materie" (IX. 213) nicht; „Schwere" kommt allen Körpern in gleicher Weise zu; „das Maaß der Besonderungen der Unterschiede der schweren Materie" ist „der Raum, und zwar nach einem Quantum" (IX. 213). Sachlich notwendig für den Übergang von der „Schwere" zur „specifischen Schwere" - ein Übergang, der in der Wissenschaft der Logik nicht erklärt sondern nur formal durch das Ins-Verhältnis-Setzen von „Insichseyn" und „Aeusserlichkeit dieses Insichseyns" beschrieben wird - ist der in der Naturphilosophie ausgeführte Prozeß, der „metereologische Proceß" (IX. 196). Darin dirimieren sich die „physicalischen Elemente" (Luft, Feuer, Wasser, Erde) und werden als gegeneinander gespannte ebensowohl erzeugt (IX. 204) wie auch durch diese ihre Spannung verzehrt (IX. 206). Mithin werden die zunächst „außer einander seyenden abstracten Elemente" zur „realen Individualität" (IX. 212) aufgehoben. Durch diese ihre „gesetzte Individualität [ist die Materie, U. R.] in ihrem Außereinander selbst ein Centralisiren gegen dieß ihr Außereinander und gegen dessen Suchen der Individualität: different gegen das ideelle Centralisiren der Schwere, ein immanentes anderes Bestimmen der materiellen Räumlichkeit, als durch die Schwere imd nach der Richtvmg derselben" (IX. 213). Die Materie wird „durch die immanente Form [...] bestimmt" (IX. 213). „Die einfache, abstracte Specification ist die specifische Schwere [...], ein Verhältniß des Gewichts der Masse zu dem Volumen, wodurch das Materielle als selbstisch sich von dem abstracten Verhältnisse zum Centralkörper, der allgemeinen Schwere, losreißt, aufhört, die gleichförmige Erfüllung des Raums zu se5m, und dem abstracten Außereinander ein specifisches Insichseyn entgegensetzt" (IX. 216). „Hier fällt das bloß Quantitative [in der „Endlichen Mechanik" sind die schweren Massen bloß als verschiedene Quanta desselben, U. R.] weg, und Qualitatives tritt ein; denn die Materie hat jetzt eigenthümliche Determination in ihr selbst. Das specifische Gewicht ist so eine vollkommen durchdringende Grundbestimmung der Körper [vgl. Wissenschaft der Logik: „[...] macht die qualitative Natur des materiellen Etwas aus", U. R.]. Jeder Theil dieser körperlichen

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Materie hat diese specifische Bestimmtheit in ihm selbst, während bei der Schwere diese Centralität nur Einem Punkte zukam" (IX. 218). Das Volumen, das Ideelle, ist als die Einheit anzunehmen, das Intensive aber, das in quantitativer Bestimmtheit und in der Vergleichung mit jenem als extensive Grösse, Menge von fürsichseyenden Eins erscheint, als die Arrzahl.

Die „specifische Schwere" ist das direkte Verhältnis von Gewicht zu Volumen. „Einheit und Anzahl waren zuerst die Momente des Quantums; [...] im [directen, U. R] Verhältniße, dem insofern realisirten Quantum, erscheint jedes seiner Momente als ein eigenes Quantum " (21. 312,9-11; rV. 392). Wird das Volumen als „Einheit" angenommen, ist das Quantum des Gewichtes die „Anzahl, das Quantum des Exponenten [hier: der „specifischen Schwere", U. R] selbst" (21.312,17; rV. 392). „Ein Kubik-Zoll karm Wasser oder Gold se)m, in diesem ihren Volumen setzen wir sie gleich; aber das Gewicht ist ganz und gar verschieden, indem das Gold neunzehnmal mehr, als das Wasser, wiegt" (IX. 218). „[...] das Intensive [das „Insichseyn", das Gewicht, U. R.] [...], das in quantitativer Bestimmtheit [Quantum des Gewichtes, U. R.] imd in der Vergleichung mit jenem [dem Volumen als Einheit genommen, U. R.] als extensive Größe, Menge von fürsichseyenden Eins [als Quantum der „specifischen Schwere", obiges „neunzehnmal mehr",U. R.] erscheint." In der „specifischen Schwere" sind „Insichse5m" und dessen „Aeusserlichkeit" als zwei Qualitäten genommen, ins direkte Verhältnis gesetzt und hierdurch zu einem neuen Maß spezifiziert. Beide Qualitäten sind darin nicht einander äußerlich, sondern Momente dieses direkten Verhältnisses. Schon bei der Bestimmxmg der Materie kritisiert Hegel - mit Kant - die „gemein-mechanische Vbrstellimgsweise [...], die bei der einen Bestimmung, der Undurchdringlichkeit, der für-sichseyenden Punktualität, stehen bleibt, und die entgegengesetzte Bestimmimg, die Beziehung der Materie in sich öderer mehrerer Materien, die wieder als besondere Eins angesehen werden, aufeinander, zu etwas äusserlichem macht" (21.169,13-17; IV. 214). Es ist eine falsche Abstraktion, Materie als rmdurchdringlich und gleichgültig gegen Raum vmd Zeit, Raiun und Zeit ihrerseits als leer, gleichgültig gegen ihre Erfüllung und für sich existierend anzimehmen imd dann den leeren Raum vmd die leere Zeit mit der ihnen äußerlich gegenüber-

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gestellten Materie zu erfüllen (vgl. IX. 89). Analog ist der Raum (das Volumen) nicht etwas dem Gewicht Äußerliches. In dem direkten Verhältnis der „specifischen Schwere" erweist er sich vielmehr als das Qualifizierende. Am Modell: Nimmt man 1 kp Wasserdampf und verändert Druck imd Temperatur, so kann man (im Prinzip) 1 kp Wasser bzw. 1 kp Eis erhalten. Was bei konstantem Gewicht die „qualitative Natur" (hier: Dampf, Wasser oder Eis) des materiellen Etwas ausdrückt und worin demnach - bezogen auf ein konstantes „Insichseyn" - die Spezifikation liegt, ist das imterschiedliche Volumen, das eingenommen wird. Oder am weiter unten ausgeführten Modell: Gibt man 500 p Wasser und 500 p Alkohol zusanunen, resultiert eine Lösung von 1000 p. Doch deren Volumen ist nicht gleich der Summe der Volumina der Bestandteile und ist gerade das die Lösung spezifisch Qualifizierende. Weil in dem direkten Verhältnis das Volumen nicht etwas dem Gewicht Äußerliches ist, erscheint dieses Gewicht („das Intensive") bezogen auf das extensive Volumen, das, weil qualifizierend, als Einheit angenommen wird, „als extensive Größe, Menge von fürsichseyenden Eins". In der Anwendung der reinen Verstandesbegriffe auf mögliche Erfahrung bestimmt Kant den Gebrauch ihrer Synthesis, und zwar zunächst bezogen auf die Anschauung überhaupt (bei Hegel „das Abstracte. Ideelle"), und erhält als ersten transzendentalen Grundsatz des reinen Verstandes „die Axiome der Anschammg" (B 202): Weil die Erscheinungen, „der Form nach", eine Anschauung in Raum und Zeit enthalten, weil diese Anschauung nur „als durch die Synthesis des Mannnigfaltigen" möglich ist und weil diese Synthesis den „Begriff einer Größe (quanti)" voraussetzt, sind „die Erscheimmgen [...] insgesamt Größen, imd zwar extensive Größen" (B 203). Bezogen auf das Dasein einer Erscheinung überhaupt bestimmt Kant dann den zur Kategorie Realität gehörenden zweiten Grundsatz, der den extensiven Erscheimmgen zugnmdeliegende „Materien zu irgendeinem Objecte überhaupt" (B 207) erschließt: „In allen Erscheimmgen hat das Reale, was ein Gegenstand der Empfindimg ist, intensive Größe, d. i. einen Grad" (B 207). Wiewohl die Realität uns nur durch die Wahrnehmung „gegeben" ist, muß jeder Wahmehmimg ein Grad, eine intensive Größe, zugeordnet werden. Dieser Grad ist imabhängig davon, daß es für die aktuelle Empfindung eine Reizschwelle gibt, unterhalb derer nichts wahrgenommen wird. Der Grad ist gerade im Unterschied dazu als etwas bestimmt, das „bis ziun Nichts [...] durch unendliche Stufen" (B 214), also kontinuierlich, abnimmt. Insofern kann der Grad nicht Empfindung sein, er geht auf das „Reale der Empfindung" (B 207). Die-

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ses „Reale der Empfindung" ist damit von der Wirklichkeit der Empfindimg gelöst (bei Hegel kommt dem „realen Fürsichse}m" eine „volle Selbstständigkeit" (21. 344, 12, 14; IV. 431) gegenüber den „abstracten Qualitäten, wie dem Raume und der Zeit", (21. 345, 5; IV. 431) und deren Relationen zu), was von Kant als transzendentaler Grundsatz formuliert wird: Dieses „Reale" hat einen Grad; dieser Grad ist - im Gegensatz zu den extensiven Anschammgen - intensive Größe, die der Wahrnehmung korrespondieren soll, die aber unabhängig von der Wirklichkeit der Empfindungen ist. Die zu kommentierende Passage aus der Wissenschafi der Logik referiert die Kantsche Entwicklimg vom als extensive Größe bestimmten Ideellen zum als intensiven Grad gefaßten Reellen aus der Systematischen Vorstellung aller synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes. Hegel geht aus von imterschiedenen Qualitäten. Die eine, „das Abstracte, Ideelle, der Raum", ist extensive Größe. Die andere ist „das Intensive", das quantitativ unterscheidbar („in quantitativer Bestimmtheit") ist und so mit einer extensiven Größe gemessen werden kann. (Im Kapitel Identität der extensiven und intensiven Größe zeigt Hegel, daß jede intensive Größe, weil abzählbar, nur mit einer extensiven („als Anzahl") und nicht rein als intensive dargestellt werden kann (21. 213,1-6; IV. 266); physikalisch sind intensive Größen nie direkt zu messen, sondern werden in extensive überführt, das Maß für die intensive Temperatur ist die Ausdehnimg eines Quecksilberfadens, eine extensive Größe.) Das Verhältnis beider Qualitäten zueinander, die „specifische Schwere", macht die „qualitative Natur des materiellen Etwas" aus. Weil Raum nur als erfüllter Raum denkbar ist, konnte Hegel vom Raum, dem „ganz abstracten Außereinander" (IX. 70), zur Erfüllimg des Raums, der Materie, übergehen; weil die Erfüllung des Raums nicht gleichförmig sein muß, erfolgt die Weiterbestimmung der Materie zur „specifischen Schwere", einem dem „abstracten Außereinander" entgegengesetzten „specifischen Insichseyn" (IX. 216). Die „specifische Schwere" ist so intensive Größe, die, weil jede intensive Größe ein Moment von extensiver Größe hat, mithilfe extensiver Größen bestimmt wird, nämlich als Quotient aus dem Gewicht (einer intensiven Größe, die als extensive erscheint) xmd dem (extensiven) Volumen. In Hegels Kant-Referat entspricht die „specifische Schwere" dem „Grad" (im zweiten Gnmdsatz wird die „spezifische Schwere" sogar als Modell für den „Grad" erwähnt (B 216)), nur daß Hegel diesen seinen „Grad" als Bestimmrmg des „Realen"/ der Materie aus der Relation von Maßen entwickelt. Hegel folgt Kant in dessen Polemik gegen „beinahe alle Naturlehrer" (B 215), die die verschiedene Dichte der Ma-

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terie (die „Verdichtung") „durch die Erdichtung von leeren Zwischenräumen" (IX. 216) erklären. „Wer hätte aber von diesen größtenteils mathematischen und mechanischen Naturforschern sich wohl jemals einfallen lassen, daß sie diesen ihren Schluß [auf die leeren Zwischenräume, U. R.] lediglich auf eine metaphysische Voraussetzvmg, welche sie doch so sehr zu vermeiden vorgeben, gründeten? indem sie annehmen, daß das Reale imRaume[...] allerwärts einerlei [dem „Grade" nach gleich, U. R.] sei und sich nur der extensiven Größe d. i. der Menge nach unterscheiden könne" (B 215). Das reine qualitative Verhalten der beyden Größebestimmtheiten, nach einem Potenzenverhältniß ist darin verschwimden, daß in der Selbstständigkeit des Fürsichseyns (- materiellen Seyns -) die Uranittelbarkeit zurückgekehrt ist, an welcher die Größebestimmtheit ein Quantum als solches, imd das Verhältniß eines solchen zu der andern Seite ebenfalls in dem gewöhnlichen Exponenten eines directen Verhältnißes bestimmt ist.

Im „Potenzenverhältniß" ist das Quantum „zu seinem Andern, der Qualität, geworden, insofern jene Aeusserlichkeit mm als vermittelt durch es selbst, so als ein Moment gesetzt ist, daß es eben in ihr sich auf sich selbst bezieht, Se}m als Qualität ist" (21. 320, 10-13; IV. 401 f). Stehen zwei der Qualität nach verschiedene Maße in einem „Potenzenverhältniß" (s = at2), ist „das Quantitative beyder Seiten qualitativ bestimmt [...]; sie sind so Momente Einer Maaßbestimmtheit von qualitativer Natur" (21. 341, 12-14; IV. 427), der „Schwere". Darin sind Raum und Zeit einerseits nach dem „Potenzenverhältniß" spezifisch bestimmt: „Die Schwere [...] ist [...] als eine Naturkraft anzusehen, so daß durch die Natur der Zeit und des Raums ihr Verhältniß bestimmt ist, und daher in die Schwere jene Specification, das Potenzenverhältniß, fällt" (21. 343, 22-26; IV. 430). Andererseits ist der „empirische Coefficient" (21. 343,19; IV. 430) a durch ein „directes Verhältniß" bestimmt und ist so „unmittelbares Maaß" (21. 343, 13; IV. 429). „Das reine qualitative Verhalten der beyden Größebestimmtheiten, nach einem Potenzenverhältniß ist darin verschwimden", insofern als die Bestimmung des empirischen Quantums für a nicht aus „der qualitativen Maaßbestimmung [= dem „Potenzenverhältniß", U. R.] [...] des Gesetzes des Falles selbst" (21. 343, 15 f; IV. 429 f) folgt. Von der „Schwere" wird zur „specifischen Schwere", dem dann „realen Fürsichseyn" (21.

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344,12; IV. 431), übergegangen, welches die beiden einander widerprechenden Bestimmungen enthält: Einerseits ist es „in sich specificirtes" (21.344,4; IV. 430) Maß. So ist es „Einheit von Qualitäten [Gewicht tmd Volumen, U. R.], die im Maaßverhältniße sind“ (21. 344, 13; IV. 431). Darin sind „die Grössen durch die Natur der Qualitäten bestimmt und different gesetzt" (21. 344, 5 f; IV. 431); das Maßverhältnis hat gegen diese Qualitäten „eine volle Selbstständigkeit“ (21. 344, 13 f; IV. 431). Andererseits ist das „reale Fürsichse)m“ „unmittelbares, äusserliches“ (21. 344, 4; IV. 431) Maß, das zwar „an ihm selbst qualitativ se)m soll, [das aber an einem unmittelbaren Quantum, U. R.] [...] erst in Wahrheit die qualitative Bestimmtheit [hat, U. R.]“ (21.344,11 f; IV. 431). Weil das „Potenzenverhältniß“ in ein „directes Verhältniß“ zurückverwandelt worden und weil der Exponent eines solchen ein unmittelbares Quantum ist, kann das „reale Fürsichseyn“ durch ein unmittelbares Quantum bestimmt werden. Hegel will die Einfachheit der Materie als intensive Größe aus dem zuvor eingeführten „Potenzenverhältniß“ der „abstracten Qualitäten“ entwickeln. Seine Begründimg für den Übergang zur „specifischen Schwere“ (der Sache nach der Übergang vom Fallgesetz s = at^ über die Erdbeschleunigimg 2a zur Dichte - in der Hegelschen Fassung: vom „Potenzenverhältniß“ der „abstracten Qualitäten“ über den „empirischen Coefficienten“ für die „Schwere“ zum „directen Verhältniß“ für die „specifische Schwere“) basiert auf dem Verschwinden des „Potenzenverhältnißes“ bzw. auf dessen Zurückverwandlung in ein einfaches „directes Verhältniß“. Nun ist aber weder für den „empirischen Coefficienten“ (eine Beschleunigung, Dimension cm/sec2) noch für die Dichte {p = Kg/1 = g/cm^) einsichtig, daß das „Potenzenverhältniß“ verschwunden wäre. Kant vermeidet zwar solche Ungereimtheiten, insofern er seinen „Grad“ nicht entwickelt, sondern schlicht transzendental setzt. Aber damit blockiert er die naheliegende Überlegung, daß dem „Grad“ als intensiver Größe doch wohl ein Quantum und eine Dimension, in der er dann auch zu messen wäre, zugeordnet werden müsse. Dieser Exponent ist das specifische Quantum des Etwas, aber er ist urunittelbares Quantum und dieses, damit die specifische Natur von solchem Etwas, ist nur in der Vergleichung mit andern Exponenten solcher Verhältniße bestimmt. Er macht das specifische An-sich-bestimmtseyn, das innere eigenthümliche Maaß von Etwas aus; aber indem dieses sein Maaß auf dem Quan-

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tum beruht, ist es auch nur als äusserliche, gleichgültige Bestimmtheit, imd solches Etwas ist dadurch der innerlichen Maaßbestimmung ungeachtet veränderlich.

Das spezifische Gewicht (die „specifische Schwere") macht das „innere eigenthümliche Maaß aus", (vgl. Naturphilosophie: „[...] die Materie hat [...] eigenthümliche Determination in ihr selbst. Das specifische Gewicht ist so eine vollkommen durchdringende Grxmdbestimmimg der Körper. Jeder Theil dieser körperlichen Materie hat diese specifische Bestimmtheit in ihm selbst [...]" (IX. 218).) Als Einheit von Gewicht und Volumen ist es in sich spezifiziert und soll an ihm selbst qualitativ sein. Zugleich hat es „aber" seine qualitative Bestimmtheit an einem „unmittelbaren Quantum", dem „Exponenten eines directen Verhältnißes". Ein solches Quantum ist allein nicht aussagekräftig imd kann „nur in der Vergleichung mit andern Exponenten [im Vergleich mit Zahlenangaben für das spezifische Gewicht anderer Stoffe, U. R.] bestimmt" werden. Weil das „innere eigenthümliche Maaß von Etwas" (das spezifische Gewicht) „auf dem Quantum beruht, ist es auch nur als äusserliche, gleichgültige Bestimmtheit". (Dem Zahlenwert für das spezifische Gewicht von z. B. Gold ist nichts über dessen chemische Eigenschaften zu entnehmen; er zeigt Spezifität nur im äußerlichen Vergleichen mit anderen Zahlenwerten an; „eigenthümlich" im Siime von ausschließlich zukommend ist das „specifische An-sichbestimmtseyn" nicht - sehr verschiedenartige chemische Substanzen haben dasselbe spezifische Gewicht.) Die widersprechende Bestimmimg des Etwas (ein „unmittelbares Quantum" steht für das „irmere eigenthümliche Maaß") führt darauf, daß ein solches Etwas „der irmerlichen Maaßbestimmtmg xmgeachtet veränderlich" ist. Das spezifische Gewicht soll das „specifische An-sich-bestimmtseyn" ausmachen und ist doch, weil unmittelbares Quantum, als solches veränderlich. (Weil dieses Quantum nur im äußerlichen Vergleichen bestimmt werden kann, ist der Zahlenwert für das spezifische Gewicht vom Maßstab des Vergleiches abhängig und insofern ungeachtet der innerlichen Maßbestimmung quantitativ veränderlich.) Die „qualitative Natur des materiellen Etwas" wird zimächst durch das spezifische Gewicht bestimmt. Der Widerspruch, daß das „specifische An-sich-bestimmtse)m" durch ein „unmittelbares Quanhun" ausgedrückt wird, erzwingt die Fortbestimmimg dieses Maßes: Es wird zu anderen solchen Maßen ins Verhältnis gesetzt. Diese Relation soll in besonderer Weise spezifisch für die materiellen Etwas sein.

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Für die Relation der spezifischen Gewichte trifft das nicht zu. Nimmt man aber die stöchiometrischen Mengen von miteinander reagierenden Stoffen als Ausgangsmaße, z. B. 4gH2 + 32g02^36gH20, setzt diese in Relation (1:8:9), bestimmt zudem die Relationen mit anderen Stoffen (des Wasserstoffes mit Chlor, Stickstoff etc.), setzt die so erhaltenen Relationen untereinander in Relation und normiert dabei, dann kann man jedem Stoff ein ihn spezifizierendes ,Gewicht' zuordnen, das Äquivalentgewicht. Es ist der Exponent des Verhältnisses der verschiedenen Relationen eines Stoffes zu vielen anderen Stoffen imd drückt - spezifischer als das spezifische Gewicht - die „qualitative Natur des materiellen Etwas" aus. (Daraus, daß ein Metall durch das spezifische Gewicht nicht spezifisch bestimmt ist, zogen die Münzfälscher ihren Vorteil: Sie erreichten den Zahlenwert für das spezifische Gewicht von Silber mit einer das Silber imitierenden Legierung und machten sich zunutze, daß das die „qualitative Natur" des Silbers vermeintlich anzeigende spezifische Gewicht leicht nachgeprüft werden konnte, das seine „qualitative Natur" eher charakterisierende Äquivalentgewicht dagegen nicht.) Im Verlaufe der Entwicklung von Abschnitt a zu Abschnitt b changiert der Inhalt des für einen Stoff spezifischen Gewichtes vom spezifischen Gewicht im physikalischen Sinne zum Äquivalentgewicht. Die Äquivalentgewichte werden dann ihrerseits in Relation gesetzt, imd als weitere Fortbestimmimg der „qualitativen Natur des materiellen Etwas" resultiert die Wahlverwandtschaft. Bestimmend für den Übergang vom spezifischen Gewicht zum Äquivalentgewicht ist die „Verbindung zweyer Maaße". Im Abschnitt a werden danmter Lösungen und Legienmgen, im Abschnitt b chemische Verbindimgen verstanden. Nur im zweiten Fall werden die selbständigen Maße des Ausgangs in ein sie spezifizierendes Verhältnis gesetzt und zum Äquivalentgewicht spezifiziert. Vorausgesetzt dafür ist eine chemische Reaktion, die zu einer definierten chemischen Verbindimg führt. Das Andere, zu dem es als veränderlich sich verhalten kann, ist nicht eine Menge von Materie, ein Quantum überhaupt; hiegegen hält sein specifisches Ansichbestimmtseyn aus, sondern ein Quantum, das zugleich ebenso Exponent solchen specifischen Verhältnißes ist.

Gegen „eine Menge von Materie, ein Quantum überhaupt" hält das „specifische Ansichbestimmtseyn" aus - das spezifische Gewicht eines

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Stoffes ist unabhängig davon, wieviel dieses Stoffes vorhanden ist. Bilden zwei Metalle aber eine Legierung, dann bleiben die spezifischen Gewichte der beiden nicht unverändert, selbst werm sie denselben Zahlenwert besessen hätten. Es sind zwey Dinge, von verschiedenem innerem Maaße, die in Beziehung stehen, und in Verbindung treten; - wie zwey Metalle von verschiedener specifischer Schwere; - welche Gleichartigkeit ihrer Natur, daß es z. B. nicht ein Metall ist, von dessen Verbindimg mit Wasser die Rede wäre, sonst zur Möglichkeit solcher Verbindung erforderlich sey, gehört nicht hieher zu betrachten.

In der Naturphilosophie hat Hegel ausgeführt, welche „Dinge" in welche Art von „Verbindung treten" und „welche Gleichartigkeit ihrer Natur [...] zur Möglichkeit solcher Verbindung erforderlich sey": Es sind bloß verschiedene, nicht entgegengesetzte und gegeneinander gespannte chemische Objekte (wie Säure und Base). „Das Gemeinschaftliche oder ihre Gattimg macht schon die Bestimmtheit ihrer Existenz zu einander aus; ihre Verbindung oder Scheidung hat die Weise der Unmittelbarkeit, und Eigenschaften ihrer Existenz erhalten sich. Solche Verbindungen chemisch gegen einander imbegeisteter Körper sind die Amalgamation und sonstiges Zusammenschmelzen von Metallen, Vermischung von Säuren mit einander, imd derselben, des Alkohols u. s. f. mit Wasser imd dergleichen mehr" (IX. 393). Und Hegel hat ausgeführt, daß der zu solchen „Verbindungen" führende Prozeß (der „formale Proceß") von dem „eigentlichen chemischen Proceß" unterschieden werden müsse, welcher einen „bestimmteren Gegensatz" (die gegeneinander gespannten Säure und Base) voraussetze imd aus welchem „eine größere Thätigkeit und ein specifischeres Product" (IX. 395) entspringe. Doch solcherart Unterscheidungen gehörten - so Hegel „nicht hieher", d. i. in die Wissenschaft der Logik. Daß Hegel das Besondere der hier behandelten „Verbindung" schon erläutert, zugleich aber sagt, solche Erläuterung gehöre nicht hierher, ist widersprüchlich. Diese Widersprüchlichkeit hat einen Gnmd. Einerseits muß, sollen Abschnitt a imd Abschnitt b nicht zusammenfallen, die „Verbindung zweyer Maße" unterschieden werden von der „Verbindung", die das „Maaß als Reihe von Maaßverhältnißen" ermöglicht, und dazu führt Hegel für a als Modell die Legierungsbildung („Amalgamation") und für b die Neutralisationsreaktion zum Salz an (insofern: gehört hierher). Andererseits soll der Übergang von a nach b aus den in a enthaltenen

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logischen Bestimmungen entwickelt werden, und dazu muß Hegel bei einem nicht weiter bestimmten, unscharfen Begriff von ,Verbindimg' bleiben, denn sonst wäre der Vorwurf berechtigt, imter ein und demselben Begriff würde der Gegenstand gewechselt (insofern: gehört nicht hierher^ Zu Hegels Zeit waren auch für Chemiker die Unterscheidungen weder von Lösung und reinem Stoff noch von Element und Verbindimg klar6. Hegel bestimmt ,Verbindung' zunächst nur als In-Verbindvmg-Setzen zweier Maße (= zweier spezifischer Gewichte), um dann aus diesem allgemeinen und abstrakten Begriff von ,Verbindung' die Besonderheiten zu entwickeln: Nicht jedes Etwas vereinigt sich mit beliebigem Anderen zu einer ,Verbindung'; ,Verbindrmgen' sind spezifisch unterschieden ebenso wie die Prozesse des Vereinigens zu einer ,Verbindung'. Es wird gezeigt werden, daß die Hegelschen Übergänge nicht stimmen, d. h. ohne sachlichen Rückgriff auf die zitierten Modelle nicht möglich sind, was ihre ,rein logische' Konstruktion sabotiert. Einerseits erhält sich nun jedes der beyden Maaße in der Veränderung, die an dasselbe durch die Aeusserlichkeit des Quantums kommen sollte, weil es Maaß ist, andererseits aber ist dieses Sicherhalten selbst ein negatives Verhalten zu diesem Quantum, eine Specification desselben, imd da dasselbe Exponent des Maaßverhältnißes ist, eine Veränderung des Maaßes selbst und zwar eine gegenseitige Specification.

Das „innere eigenthümliche Maaß" (das spezifische Gewicht) eines materiellen Etwas wird durch ein „unmittelbares Quantum" ausge6 Aufgrund der Theorie der chemischen Bindimg sind wir heutzutage in der Lage, zwischen chemischer Verbindung imd Lösimg bzw. Legierung zu imterscheiden. Hegel verwendete für beides den Begriff „Verbindung", erfand damit jedoch nicht eine eigene Terminologie, sondern übernahm die der damaligen Chemiker, von Berzelius zum Beispiel: „Die Verbindungen der Metalle xmter sich sind von zweierlei Art: Verbindimgen nach bestimmten Verhältnissen [hierunter listete Berzelius dann irrtümlich Legierungen auf, U. R.] imd bloße Zusammenschmelzimgen oder sogenannte Legirungen" (J. J. Berzelius: Lehrbuch der Chemie. Übersetzt v. E Wühler. Ersten Bandes zweite Abteilung. Dresden 1825. 693). Die Unklarheit im Begriff „Verbindung" ermöglichte den Wechsel des darunter gefaßten Gegenstands. Nur so gelingt der Übergang von Abschnitt a zu Abschnitt b. Berzelius hebt, imd darin folgt üun Hegel, als die wesentliche Charakterisierung der Legierung hervor, „daß bei dem Zusammenschmelzen mehrerer Metalle das eigenthümliche Gewicht [= das spezifische Gewicht, vgl. Hegel: „das specifische An-sichbestimmtse)m, das innere eigenthümliche Maaß von Etwas" (21. 347, 22; IV 434), U. R.] der Mischung dem der einzelnen Metalle nicht mehr entspricht, weil die chemische Verbindung [sic!, U. R.[, die dabei entsteht, gewöhnlich dichter wird" (J. J. Berzelius: A. a. O. 695).

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drückt und ist somit zugleich „nur als äusserliche, gleichgültige Bestimmtheit". Die „Aeusserlichkeit des Quantums" macht eine „Veränderung" des Maßes möglich. „Veränderung" kann bedeuten: 1.) Weil dieses Quantum nur in der äußerlichen „Vergleichtmg" bestimmt werden kann, ist es vom Maßstab des Vergleichs abhängig und insofern „der innerlichen Maaßbestimmung imgeachtet veränderlich". 2) Wird ein Metall geschmolzen oder ein Gas komprimiert, bleibt die „qualitative Natur" des Stoffes erhalten; der Zahlenwert für das spezifische Gewicht ändert sich (vgl. 11. 215,3). 3) Zwei Metalle werden geschmolzen und bilden eine Legierung. Die Zahlenwerte für das spezifische Gewicht verändern sich von denjenigen für die reinen Metalle zu demjenigen für die Legierung. Welcher Fall von „Veränderung" vorliegt (nämlich Fall 3), wird durch das zitierte Modell entschieden, das insofern der Sache nach in die Fortbestimmung des Maßes eingeht. An der zu kommentierenden Stelle hat Hegel das zitierte Modell gewechselt, nämlich von der „Vergleichung", einem dem Maß äußerlichen Verhältnis, wo Bestimmtheit imd quantitative Veränderlichkeit in die äußere Reflexion fallen, zum „äusserlich in Verbindung" (21. 346, 22; FV. 433 und 21. 347, 29; FV. 435) Treten, wo Veränderung und Spezifikation des Quantums durch einen realen Prozeß, die Bildimg einer Legienmg, gesetzt sind. Das „innere eigenthümliche Maaß", weil es „specifisches An-sich-bestimmtseyn" ist, „erhält sich nun" in der aus der „Aeusserlichkeit des Quantums" herkommenden „Veränderung". Oben (21.347, 26 f; FV. 434) wurde gezeigt, daß das spezifische Gewicht eines Stoffes unabhängig davon, ob die Menge dieses Stoffes verändert wird, konstant bleibt. Jetzt, nachdem zum „äusserlich in Verbindung" Treten übergegangen worden ist, bleibt in dieser „Verbindung" das spezifische Gewicht nicht konstant. Also ist dem „einerseits erhält sich" ein „andererseits" entgegengesetzt: Wenn das Quantum, wogegen das spezifisch an-sich-bestimmte Maß (für Metall A) sich erhält, das Quantum für das spezifische Gewicht (von Metall B), also ebenfalls ein Maß ist (und nicht ein Quantum, das bloß die Vermehrung der Menge von Metall A anzeigt) und wenn die beiden Quanta nicht bloß äußerlich miteinander verglichen werden (zur Maßbestimmimg des spezifischen Gewichts, Fall 1), wenn also der (besondere) Prozeß der „Amalgamation", Mischimg zweier Flüssigkeiten, etc. unterstellt wird, dann ist das „SichErhalten selbst ein negatives Verhalten zu diesem Quantum". Dieses (das Quantum für das spezifische Gewicht von B) wird gerade deswegen, weil das spezifisch an-sich-bestimmte Maß (für A) sich erhält, verändert und spezifiziert, erhält sich also nicht. Da das Quantum für das

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spezifische Gewicht „Exponent des Maaßverhältnißes" (und so „specifisches An-sich-bestimmtseyn") ist, sollte es sich - gemäß „einerseits" gegen jede aus der „Aeusserlichkeit des Quantums" herkommende „Veränderimg" erhalten. Derm was für A gilt, muß auch für B gelten, wo doch beide nur formal unterschieden wurden. Damit liegt der Widerspruch vor: Das „specifische An-sich-bestimmtseyn" von B erhält sich und wird zugleich verändert und spezifiziert. Dasselbe gilt, wenn die Legierungsbildung von B aus gesehen wird, für das „specifische An-sich-bestimmtseyn" von A. Mithin ergibt sich „eine gegenseitige Specification" beider Maße in ihrer „Verbindimg". In der Gegenüberstellung von „einerseits" und „andererseits" wird ein Widerspruch formuliert. Dieser Widerspruch hat seinen Gnmd darin, daß unter „andererseits" das Modell Legierungsbildimg zitiert wird, während unter „einerseits" an das spezifische Gewicht eines Stoffes gedacht ist und „Veränderung" „durch die Aeusserlichkeit des Quantums" der Sache nach etwas anderes bedeutet. (Die Erste Auflage gibt einen zusätzlichen Hinweis: Dort (11. 206,19-23) ist das „erhält sich" erläutert als das Konstant-Bleiben des Exponenten des direkten Verhältnisses, während die äußerliche, quantitative Veränderung in den Seiten des Verhältnisses, Gewicht und Volumen, liege.) Also ist das Zitat für die zu kommentierende Stelle konstitutiv und ermöglicht erst die Formulierung des Widerspruchs. Ausgehend von dem Widerspruch ist als Weg des Erkennens möglich rmd richtig: Man kann dem Widerspruch auf den Gnmd gehen, erkennen, daß das Zitat zugrunde liegt, und also aus dem Widerspruch dessen Gnmd in der Sache erschließen. Hegel will aber zugleich, was problematisch ist, den umgekehrten Weg, nämlich aus dem Widerspruch die sachlichen Bestimmungen als dessen Resultat entwickeln. Deswegen drängt er das Zitat, wiewohl er es erwähnt, als „nicht hieher" gehörend zurück imd läßt bei: „Verändenmg, die [an das spezifisch an-sich-bestimmte Maß, U. R.] durch die Aeusserlichkeit des Quantiuns kommen sollte" offen, welches „Quantum" und welche Art von „Veränderung" gemeint sind. Dies erweckt den Anschein, der Widerspruch sei ,rein logisch', d. h. ohne Rückgriff auf die Sache, entwickelt. In der Zweiten Auflage ist der erläuternde Hinweis aus der Ersten gestrichen, welcher das „Einerseits" auf das KonstantBleiben des spezifischen Gewichts bei quantitativer Vermehrung des Stoffes bezog. Ist das Modell gewechselt, bedeutet das Sich-Erhalten des „Einerseits", daß das „spezifische Ansichbestimmtse5m" in der Legierung, insofern diese nämlich Metall ist, erhalten bleibt. In der Naturphilosophie ist die Gegenüberstellung von „einerseits"

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„Sich-Erhalten", „andererseits" „Veränderung" und „gegenseitige[r] Specification" am in der Wissenschaft der Logik erwähnten Modell illustriert. Die „zwey Maaße", die „in Verbindung treten", sind solche für Stoffe derselben „Gattung" (also z. B. Metalle). „Das Gemeinschaftliche oder ihre Gattimg macht schon die Bestimmtheit ihrer Existenz zu einander aus; [...] [in ihrer Verbindung erhalten sich, U. R.] Eigenschaften ihrer Existenz" (IX. 393). Die Legierung ist ebenfalls Metall imd zeigt zum Teil die Eigenschaften (bei Hegel ohne Artikel!) ihrer Bestandteile. „[...] fragt sich, was an ihnen verändert wird. [...] Das, wodurch sie diese Besonderen sind. Die erste ursprüngliche Bestimmtheit, wodurch sie Besondere sind, ist nun ihre specifische Schwere [...]. Die Verbindung solcher Körper derselben Klasse ist [...] nicht bloße Vermischung [die heterogene, physikalische Mischung homogener Stoffe wie z. B. Schwarzpulver aus Schwefel, Kohle und Salpeter, U. R.], sondern ihre Differenz [das „innere eigenthümliche Maaß" für zwei „Körper derselben Klasse" ist das spezifische Gewicht, das durch ein „unmittelbares Quantum" ausgedrückt wird, „ihre Differenz" ist so die Differenz dieser ihrer Quanta, U. R.] erleidet in ihrer Combmation eine Modification" (IX. 393). Die dem „Sich-Erhalten" gegenübergestellte „Veränderung" könnte auch „bloße Vermischung" bedeuten, denn auch diese ergäbe eine „Veränderung" des spezifischen Gewichts, nämlich das gewichtete Mittel der spezifischen Gewichte der Bestandteile. Deswegen muß der Unterschied zur „bloße [n] Vermischung" als „Modification" (in der Wissenschaft der Logik als „gegenseitige Specification") eingeführt und kann nicht deduziert werden, wobei es - genauer formuliert - die besondere Art der „Modification" ist, welche die Spezifität der „Combination" ausdrückt. Die „Modification" muß Hegel zudem vom ,,eigentliche[n] chemische[n] Proceß" (IX. 395) imterscheiden, imd dieser Unterschied wird gleichfalls der Sache nach eingeführt, nicht deduziert: Die „eigenthümlich chemische Veränderung" (IX. 394) setzt die chemischen Objekte als differente imd gegeneinander gespannte (Modell: Säure und Base) voraus, welche Differenz imd Spannung im Prozeß verändert wird. Während bei der „Modification" nur die „Bestimmtheiten" verändert werden, „die der allgemeinen Besonderheit der Körper angehören" (IX. 393), wie „specifische Schwere, Härte, Cohäsion, Schmelzbarkeit, Farbe" (IX. 393). Die „Modification" ist eine Veränderung „der irmem, an sich seyenden Differenz" (IX. 395), „worin es noch nicht zur äußerlichen Existenz der Differenz als solcher kommt" (IX. 394).

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Nach der bloß quantitativen Bestimmung wäre die Verbindung ein bloßes Summiren der zwey Grössen der einen, und der zwey der andern Qualität, z. B. die Summe der beyden Gewichte und der beyden Volumen bey der Verbindimg zweyer Materien von verschiedener specifischer Schwere, so daß nicht nur das Gewicht des Gemisches gleich jener Summe bliebe, sondern auch der Raum, den dasselbe einnimmt, gleich der Summe jener Räume.

Unter „Verbindung" „nach der bloß quantitativen Bestimmung" versteht Hegel die heterogene, physikalische Mischung homogener Stoffe (A imd B), wobei das spezifische Gewicht der Mischung (PA+B) gleich dem gewichteten Mittel der spezifischen Gewichte der Bestandteile (PA/ PB) ist. GA

PB =

VB

Mit den Faktoren der Gewichtung WA tmd WB ergibt sich: VA = WA Vo, VB = WB • Vo, GA = PA ■ WA ■ Vo, GB = PB • WB • VQ Eingesetzt in das spezifische Gewicht der Mischung PA+B: GA + GB _ WA ■ PA + WB • PB VA + VB

VVA + WB

Allein nur das Gewicht findet sich als die Summe der Gewichte, die vor der Verbindung vorhanden waren; es summirt sich die Seite, welche als die fürsichseyende zum festen Daseyn imd damit von bleibendem unmittelbaren Quantum geworden ist, - das Gewicht der Materie, oder was für dasselbe nach der Rücksicht der quantitativen Bestinuntheit gilt, die Menge der materiellen Theile.

Der Sache nach geht Hegel von der heterogenen, physikalischen Mischung zur homogenen, physikalisch-chemischen Mischung, d. i. zu den Lösxmgen, über. Modell: Alkohol imd Wasser werden vermischt; die Massen/"Gewichte" summieren sich, die Volumina nicht; das Volumen der Lösung ist kleiner als die Summe der Volumina der Bestandteile. Der grammatischen Konstruktion nach wird vom Coniunctivus irrealis zum Indikativ übergegangen, was die folgende Begründung für den Übergang suggeriert: Es sei eine falsche Abstraktion und also irreal, „nach der bloß quantitativen Bestimmimg [...] die Verbindung" zu be-

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greifen; aufgrund der Einsicht in das Falsche der Abstraktion müsse zur realen „Verbindimg", die dann nicht bloß quantitativ, sondern durch eine qualitative, gegenseitige Spezifikation bestimmt sei, übergegangen werden. Ermöglicht wird eine solche Begründimg durch den im unklaren gelassenen und zu Hegels Zeit auch den Chemikern unklaren Begriff „Verbindimg", welcher sowohl die heterogene Mischimg als auch die Lösung als auch die Verbindung im heutigen exakten Sirm umfaßt und welcher - so Hegel - seine Spezifikation in der „Verbindung zweyer Maaße", d. h. durch das Ins-Verhältnis-Setzen zweier Maße, erfahre. Hegel liefert dafür, daß die eine „Seite" (die „Gewichte") sich „summirt", daß also bei der Bildung einer Lösung die Masse erhalten bleibt, ein Argument: Diese „Seite" sei „als die fürsichseyende zum festen Daseyn und damit von bleibendem unmittelbaren Quantum geworden". Von der Relation von Raum imd Zeit war Hegel zum „Fürsichseyn im Maaße" übergegangen, welches als negative Einheit selbständig gegen die veränderlichen Relata war: Die Erdbeschleunigung ist eine Konstante. Weil aus dem „ganz abstracte[n] Außereinander [Raum xmd Zeit, U. R.]" (IX. 70) über die Bewegung und die sie beschreibende Weg-Zeit-Relation die Materie als „Einheit und Negation dieser abstracten Momente" (IX. 70) entwickelt werden könne, ist für Hegel der Übergang von der Konstanten in der Weg-Zeit-Relation zu einem „Fürsichse)m", das „zum festen Dasein [...] geworden ist", plausibel (vgl. das „Insichse5m, wonach es ein Fürsichseyendes, - Materielles - ist" (21.347,5; IV. 434)). Weil dieses „Fürsichseyn" durch ein „unmittelbares Quantum" ausgedrückt werden kaim, komme diesem Quantmn jene für das „Fürsichseyn im Maaße" abgeleitete Selbständigkeit bzw. Konstanz gegenüber den veränderlichen Relata zu; es sei so bleibendes immittelbares Quantum. Diese ,Beweiskette' ist als Begründung für den Satz von der Erhaltung der Materie nicht stichhaltig. Daß Hegel überhaupt eine spekulative Ableitung des Satzes versucht, offenbart gleichwohl die richtige Einsicht, daß dieser Satz nicht empirisch bestimmt, sondern spekulativ erschlossen ist. Denn nur unter Voraussetzung dieses Satzes, der die Forderung an den Experimentator begründet, Systeme materiell abzuschließen, sind die quantitativen Relationen von Reaktionspartnem eindeutig zu bestimmen; aus empirischen Relationen, die sich ohne die (experimentell zu realisierende) Forderung nach materieller Abgeschlossenheit ergeben, karm jener Satz nicht erschlossen werden. An anderer Stelle hat Hegel programmatisch sein Programm der Deduktion bestimmter Naturgesetzte aus Kategorien for-

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muliert: „Es muß aber noch ein höheres Beweisen dieser Gesetze [hier: des Satzes von der Erhaltung der Materie, U. R.] gelodert werden, nemlich nichts anders als daß ihre Quantitätsbestimmungen aus den Qualitäten, oder bestimmten Begriffen, die bezogen sind, [hier: aus der Selbständigkeit des „Fürsichseyns" gegenüber den veränderlichen Relata Raum und Zeit, als deren negative Einheit die Materie entwickelt ist, U. R.] [...] erkannt werden" (21. 340, 22-25; IV. 426). Durch Verfolgung seines undurchführbaren Programms gelangt Hegel zu Einsichten in die Grundbegriffe der Naturwissenschaften, die anders nicht zu haben sind, so zu der, daß der Satz von der Erhaltung der Materie durch spekulative Vernunft begründet ist. Dies wird von der Kritik, daß obige Ableitung im einzelnen nicht zu halten ist, nicht getroffen. Aber in die Exponenten fällt die Veränderung, indem sie der Ausdruck der qualitativen Bestimmtheit, des Fürsichse5ms als MaaßVerhältniße sind, welches, indem das Quantum als solches die zufällige, äusserliche Verändervmg durch Zusatz, der summirt wird, erleidet, zugleich sich als negirend gegen diese Aeusserlichkeit erweist.

„Etwas ist in sich als Maaßverhältniß [...] bestimmt" (21. 347, 3; IV 433), welches Verhältnis „die qualitative Natur des materiellen Etwas" (21.347,9; IV. 434) ausmacht. So ist nicht das Quantum für das Gewicht, sondern der „Exponent" (die Maßzahl für das spezifische Gewicht) „der Ausdruck der qualitativen Bestirmntheit." Unter „Veränderung" versteht Hegel hier nicht diejenige bei einer heterogenen, physikalischen Mischung, wo eine „Verbindung" „nach der bloß quantitativen Bestimmung" (das gewichtete Mittel der spezifischen Gewichte) entstünde, sondern diejenige bei der Bildimg einer Lösimg, wobei diese „Verbindung" zunächst negativ gegen die vorherige als nicht bloß quantitativ, also qualitativ, bestimmt ist. (Hegel kaschiert das Zitieren der verschiedenen Modelle, indem er eine Entwicklung von der „Verbindimg" nach der quantitativen Bestimmimg zu der „Verbindung" nach der nicht bloß quantitativen Bestimmimg konstruiert.) Letztere „Veränderimg" falle deswegen „in die Exponenten", weil diese im Gegensatz zum Gewicht, das gleichgültig gegen die „qualitative Natur" vor und nach der „Veränderung" konstant bleibe, die „qualitative Natur" sowohl der Lösung als auch ihrer Bestandteile ausmachten. Das „Fürsichseyn als Maaß-Verhältniß" {- das spezifische Gewicht) wird durch ein Quantum ausgedrückt. Insofern es „Quantum als solches"

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ist, „erleidet" es „die zufällige, äusserliche Veränderung durch Zusatz, der summirt wird." Insofern es aber „inneres eigenthümliches Maaß von Etwas" und damit dessen „specifisches An-sich-bestimmtseyn" ist, „erhält" es sich in der aus der „Aeusserlichkeit des Quantums" herkommenden „Veränderung" (21. 347, 22, 33 f; IV. 434 f). Weil aber das „Sich-Erhalten" zugleich „negatives Verhalten zu diesem Quantum" (21. 347, 35 f; IV 435) ist, welches für das spezifisch an-sich-bestimmte Maß steht, ergibt sich für ein solches Maß in der „Verbindung" mit einem anderen der Widerspruch: Es erhält sich und wird zugleich verändert. Durch diesen Widerspruch ist die „gegenseitige Specification" zweier Maße in ihrer „Verbindung" bestimmt - insoweit das Referat jener vorherigen Passage (21.347,33 - 348,2; IV. 435), auf die der Text hier verweist. Dort war jedoch offen geblieben, worauf „Veränderung, die [an das spezifisch an-sich-bestimmte Maß, U. R.] durch die Aeusserlichkeit des Quantums kommen sollte" (21. 347, 33 f; IV. 435), sich bezog. An der zu kommentierenden Stelle ist die „zufällige, äusserliche Veränderung durch Zusatz, der summirt wird", jetzt die Verändenmg, die die spezifischen Gewichte in einer heterogenen, physikalischen Mischung (einer „Verbindung" „nach der bloß quantitativen Bestimmung") erleiden: Im Ausdruck für das spezifische Gewicht der Mischung summieren sich sowohl die „beyden Gewichte" als auch die „beyden Volumen"; das „Quantum" verändert sich „durch Zusatz, der summirt wird", zum gewichteten Mittel der spezifischen Gewichte der Bestandteile. Das „Sich-Erhalten" als „negatives Verhalten" zu dem „Quantum" ist jetzt auf die gerade erläuterte „äusserliche Veränderung" bezogen. Daß das „Fürsichseyn als Maaß-Verhältniß [...] sich [zugleich, U. R.] als negirend gegen diese Aeusserlichkeit erweist", bedeutet deswegen, daß in der Abweichung vom gewichteten Mittel der spezifischen Gewichte die Spezifikation dieser „Aeusserlichkeit" imd damit der „Verbindrmg" „nach der bloß quantitativen Bestimmimg" zur jetzt behandelten Lösung liegt. Zu Beginn des Kapitels Verbindung zweyer Maaße war das Maß insofern widersprechend bestimmt, als das „in sich specificirte", „innere eigenthümliche Maaß von Etwas" durch ein „unmittelbares, äusserliches" Quantum ausgedrückt wurde (vgl. Seite 25). In der „Verbindimg" zweier Maße ergibt sich für ein solches dann der Widerspruch: Dieses spezifisch an-sich-bestimmte Maß erhält sich tmd wird zugleich verändert, wobei die „gegenseitige Specification" durch diesen Widerspruch zunächst abstrakt bestimmt ist (vgl. Seite 30). Konkreter wird der Widerspruch jetzt dadurch, daß der bloß ,,äusserliche[n] Ver-

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änderung", nämlich der Bildung des gewichteten Mittels, das „SichErhalten" gegen diese „äusserliche Veränderung" als Negieren dieser „Aeusserlichkeit" entgegengesetzt wird. Spezifikation wird damit durch bestimmte Negation der Bildung des gewichteten Mittels, d. i. als Abweichung von demselben ausgedrückt. Durch diese konkretere Fassimg des Widerspruchs ist - so Hegel - die Lösimg im Unterschied zur (vorherigen) „Verbindvmg" „nach der bloß quantitativen Bestimmung" hinreichend bestimmt und aus dem Ins-Verhältnis-Setzen zweier Maße begründet. Dieses immanente Bestimmen des Quantitativen, da es, wie gezeigt, nicht am Gewichte erscheinen kann, erweist sich an der andern Qualität, welche die ideelle Seite des Verhältiüsses ist.

„Immanentes Bestimmen des Quantitativen" : Das „Quantitative" ist der Exponent, die Maßzahl für das spezifische Gewicht. „Immanentes Bestimmen" ist nicht (äußerliche) „Vergleichung", wo das Verhältnis zu den anderen Maßzahlen in die äußere Reflexion fällt. Und es ist nicht jene „äusserliche Verändenmg durch Zusatz, der summirt wird". Weil es nach Hegel hinreichend durch diese beiden bestimmten Negationen bestimmt sein soll, ist es die Negation der Bildtmg des gewichteten Mittels. Also ist es das Bestimmen der Abweichung von demselben, einer Differenz von Quanta. „Immanentes Bestimmen" ist es auch insofern, als das „Quantum" (= der Exponent) jenen obigen Widerspruch (als „unmittelbares, äusserliches" Quantum steht es für das „innere eigenthümliche Maaß von Etwas") enthält, aus welchem Hegel das Bestimmen der Abweichimg vom gewichteten Mittel entwickelt imd erklärt. Doch das „immanente Bestimmen" ist nicht von dem zugrundeliegenden Sachverhalt, der bestimmt wird, loszulösen, was an der schon herangezogenen Parallelstelle aus der Naturphilosophie offenbar wird: „Immanentes Bestimmen" ist nämlich das Bestimmen der „irmem, an sich seyenden Differenz" (IX. 395). „Gegenseitige Specification" der Maße bezeichnet die Veränderung oder „Modification", die diese „Differenz" erleidet, weim zwei „Körper derselben Klasse" eine „Verbindung" (IX. 393) eingehen. Bei solcher „Combination" „[kommt, U. R.] es noch nicht zur äußerlichen Existenz der Differenz als solcher" (IX. 394). So ist das „immanente Bestimmen" konstruiert gegen das Bestimmen, wo die Differenz äußerliche Existenz gewonnen hat und solche Differenz dann den chemischen Prozeß setzt (s. dazu das folgende Kapitel Das Maaß als

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Reihe von Maaßverhältnißen). Letzteres Bestimmen ist dann die bestimmte Negation des „immanenten Bestimmen[s]“. Wenn also das „immanente Bestimmen des Quantitativen" das Bestimmen der Abweichung vom gewichteten Mittel ist und wenn dieses Mittel in der Hegelschen Fassung ^A+B -

GA + GB + VB

genommen wird, dann muß sich das „immanente Bestimmen" durch die Abweichxmgen von den beiden Summen in Zähler und Nenner ausdrücken lassen. Im Zähler ist aufgrund des Satzes von der Erhaltung der Materie eine Abweichung von der Summe nicht möglich. (Hegels Formulierung „[...] wie gezeigt, nicht am Gewichte erscheinen fcflnn" offenbart, daß er die Passage 21.348,9-11 als Beweis für den Satz von der Erhaltung der Materie auffaßt.) Wenn es derm überhaupt ein „immanentes Bestimmen" gibt, muß die Abweichung von der Summe im Nenner auftreten. Dem „Insichseyn", welches das Materielle des Etwas ausdrückt, war die „Aeusserlichkeit des Ir\sichse)ms", das abstrakte, ideelle Moment dieses Materiellen, gegenübergestellt (21. 347, 5-8; IV. 434). „Insichse5m" (Gewicht) und „Aeusserlichkeit dieses Insichseyns" (Volumen) wurden als zwei Qualitäten ins direkte Verhältnis gesetzt. In dem sich ergebenden selbständigen Maß (dem spezifischen Gewicht) waren Gewicht und Volumen nicht einander äußerlich, sondern das Volumen erwies sich als das Qualifizierende. Treten zwei selbständige Maße in „Verbindung" (Wasser imd Alkohol werden zu einer Lösimg vereinigt), so bleibt das „Insichse5m" (das Gewicht) in der „Verbindung" konstant, während „das Abstracte, Ideelle" (das Volumen) das die „Verbindimg" spezifisch Qualifizierende ist. Für die sinnliche Wahrnehmung kann es auffallend seyn, daß sich nach der Vermischung zweyer specifisch verschiedener Materien eine Verändenmg, - gewöhnlich eine Verminderung, - des summirten Volumens zeigt; der Raum selbst macht das Bestehen der aussereinanderseyenden Materie aus.

Der Raum existiert nicht für sich imd ist lediglich das „ganz abstracte Außereinander" (IX. 70). Real wird er erst als erfüllter Raum, d. i. als Materie, die, weil sie den Raum als ihr Moment enthält, immer nur räumliche („aussereinanderseyende") Materie sein karm. Materie ist

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somit notwendig auf den Raum verwiesen: Nur insofern sie ausgedehnt ist, besteht sie. Dies bedeutet aber nicht, daß der Satz von der Erhaltimg der Materie für deren „Bestehen" im Raume gilt, was nur dann der Fall wäre, würde Materie unmittelbar identisch mit ihrem „Bestehen" im Raume gesetzt, d. h. würde Materie als Undurchdringlichkeit bestimmt (vgl. IX. 89). Eine solche Bestimmung läge nahe, werm die unmittelbare „sirmliche Wahmehmimg", der die Gegenstände wesentlich Erscheimmgen im Raume sind, absolut genommen wird. Wird Materie mit Undurchdringlichkeit unmittelbar in eins gesetzt, dann dürfte beim Vermischen von Wasser und Alkohol rdcht „eine Vermindenmg [...] des summirten Volumens" sich zeigen. Daß ein verringertes Volumen herauskommt, ist für jene „sinnliche Wahrnehmung [...] auffallend". Aber diß Bestehen, gegen die Negativität, welche das Fürsichse5m in sich enthält, ist das nicht an sich seyende, das Veränderliche; der Raum wird auf diese Weise als das, was er wahrhaft ist, als das Ideelle gesetzt.

Getrermt von ihrer Erfüllung sind Raum und Zeit „das ganz abstracte Außereinander" (LX. 70). Materie, „die erste Realität, das daseyende Fürsichseyn" (IX. 93), ist „die Einheit und Negation dieser abstracten Momente" (IX. 70). So ist die Materie sowohl „positives Bestehen des Raums" („unmittelbares Außereinander") als auch „ausschließende Beziehimg auf sich" („Negativität oder [die, U. R.] als für sich seyende Einzelnheit") (IX. 93 und 89). Letzteres, das „Insichseyn der Materie" (IX. 95) oder ihre „Schwere", ist negativ gegen Raum (imd Zeit) imd - konkreter - gegen das „Außersichseyn" (die Ausdehmmg) der Materie oder ihr „Bestehen" im Raume bestimmt. An der zu kommentierenden Stelle aus der Wissenschaft der Logik sind die beiden einander entgegengesetzten Momente der Materie als „diß Bestehen" imd „die Negativität, welche das Fürsichseyn in sich enthält", formuliert. „Die Schwere [hier: „die Negativität, welche das Fürsichseyn in sich enthält", U. R.] macht die Substantialität der Materie aus" (IX. 95). Somit ist „diß Bestehen [die Ausdehnung oder das Volumen der Materie, U. R.] [...] das nicht an sich seyende, das Veränderliche". Der „Raum", „das Bestehen der aussereinanderseyenden Materie", wird durch den Prozeß der Bildung einer Lösimg (was Hegel hier bezeichnenderweise unerwähnt läßt) „als das, was er wahrhaft ist, als das Ideelle gesetzt". Für sich genommen ist der Raum „eine bloße Form, d. h. eine Abstraction"

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(IX. 71). Seine „Wahrheit [...] ist [...], als materieller Körper zu se)^" (IX. 73). Mithin ist er ideelles Moment an diesem „materiellen Körper". „Moment" ist das „Aufgehobene", „Ideelle" (21. 94, 12; IV. 120), welches eine Negation in sich schließt imd so „in die Einheit mit seinem Entgegengesetzten getreten ist" (21. 95, 3 f; IV. 121) imd zwar hier: Das „Bestehen [...] ist [...] das Veränderliche". „[...] auf diese Weise", weil nämlich das „Bestehen" in die Einheit mit seinem Entgegengesetzten, der Veränderimg, eingetreten ist, sei - so Hegel - der Raum als Moment, „als das Ideelle gesetzt", und darin, daß in der „Verbindung" zweier Maße der Raum als Moment derselben gesetzt sei, liege die Bestimmung der Lösung/Legierung. Richtig an Hegels Argiunentation ist seine Kritik daran, die Materie schlicht als Undurchdringlichkeit zu bestimmen. Hegel kann zeigen, daß die Undurchdringlichkeit, nämlich das unmittelbare Identisch-Setzen der Materie mit ihrem „Bestehen" im Raume, eine falsche Abstraktion ist imd daß die bei der Bildung einer Lösung beobachtete Veränderlichkeit der Materie, da für ihre Masse ein Erhaltimgssatz gilt, in ihre räumliche Ausdehnimg fällt und daß der Raum deswegen Moment an der Materie ist. Falsch an Hegels Argumentation ist, daß er den Raum als Moment oder „Ideelles" setzt und daß er darin die Bestimmimg der „Verbindung" zweier selbständiger Maße begründet sieht. Denn nur unter der von Hegel hier verschwiegenen Voraussetzung der Bildung einer Lösung erweist der Raum sich als Moment oder „Ideelles"; dieses Moment-des-Materiellen-Sein ist aber nicht aus dem bloßen Ins-Verhältnis-Setzen zweier selbständiger Maße gesetzt (= hergeleitet). In Hegels Begründung ist das zu Begründende konstitutiv eingegangen. Es ist aber hiemit nicht nur die eine der qualitativen Seiten als veränderlich gesetzt sondern das Maaß selbst, und damit die darauf gegründete qualitative Bestimmtheit des Etwas hat sich so gezeigt, nicht an ihm selbst ein festes zu se)m, sondern, wie das Quantum überhaupt, seine Bestimmtheit in andern Maaßverhältnißen zu haben.

Nicht nur „die eine der qualitativen Seiten" (der Raum, das Volumen), sondern „das Maaß selbst" (das spezifische Gewicht) ist „als veränderlich gesetzt". Für Hegel ist die Veränderung des Volumens aus dem bloßen Ins-Verhältnis-Setzen zweier Maße hergeleitet/gesetzt. Damit soll die Bildung einer Lösung erklärt und deren Bestimmimg begründet sein. Es geht Hegel nicht lediglich um die Beschreibung, daß

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bei der Bildung einer Lösung das Volumen sich vermindert, dieses sich also als veränderlich erweist, sondern um deren Erklärimg: Das Volumen (imd ihm gemäß das spezifische Gewicht) werde „als veränderlich gesetzt". „[...] die darauf gegründete qualitative Bestimmtheit"; „[Das Maßverhältnis des Gewichts zum Volumen, U. R.] macht die qualitative Natur des materiellen Etwas aus" (21. 347,9; IV. 434). Auf diesem Maß (dem spezifischen Gewicht) imd darauf, daß es in und durch seine Relation zu anderen als veränderlich gesetzt wird, gründet die „qualitative Bestimmtheit" (zunächst des reinen Stoffes imd dann der Lösimg). Dieses Maß hat „seine Bestimmtheit in andern Maaßverhältnißen", was am von Hegel bisher herangezogenen Modell, den spezifischen Gewichten der Stoffe bei der Bildung einer Lösimg, erläutert werden karm: Ist pA das spezifische Gewicht des Stoffes A, pß das des Stoffes B, und bilden A imd B eine Lösung, dann ist deren Zusammensetzung zwar nicht durchweg beliebig, aber doch innerhalb mehr oder weniger weiter Grenzen variabel, PA+B, das spezifische Gewicht der Lösung, durchläuft ein Kontinuum von Quanta. Die auf dem spezifischen Gewicht „gegründete qualitative Bestimmtheit [der Lösung, U. R.] hat sich so gezeigt, nicht an ihm selbst ein festes zu seyn"; die Lösung zeigt je nach Zusammensetzung kontinuierlich veränderliche Eigenschaften und Maße. Das die Lösung wesentlich charakterisierende spezifische Gewicht hat „seine Bestimmtheit in andern Maaßverhältnißen", nämlich in den spezifischen Gewichten der Bestandteile und deren Verhältnis, genauer: Es ist als Abweichung vom Verhältnis der spezifischen Gewichte „nach der bloß quantitativen Bestimmung" (= vom gewichteten Mittel) bestimmt. Am Modell des nächsten Kapitels, den chemischen Reaktionen, die zu Verbindungen im heutigen, exakten Sinn mit einer genau definierten Zusammensetzung führen, karm erläutert werden, worauf die zu kommentierende Passage zielt, inwiefern sie den Übergang zum „Maaß als Reihe von Maaßverhältnißen" ausmacht und was an diesem Übergang problematisch ist; Angenommen, die Stoffe A und B reagieren zu Stoff C und die spezifischen Gewichte pA, PB, Pc wären die die Stoffe wesentlich charakterisierenden Maße. Darm muß, auch wenn die Stoffe durch die chemische Reaktion A + B miteinander verknüpft sind, jedes spezifische Gewicht jeweils einzeln für sich bestimmt werden. Zwar läßt sich eine Relation der spezifischen Gewichte PA und PB bilden und für pc formal pc = f(pA/ PB) hinschreiben; aber es stellt sich heraus, daß kein allgemeines Naturgesetz existiert, das aufgrund der Reaktion A + B C die spezifischen Gewichte miteinander verknüpfte, pc hat „seine Bestimmtheit" also nicht „in andern Maaß-

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verhältnißen" (in dem Verhältnis von pp, und p^. Tauscht man in dem Modell die spezifischen Gewichte der Stoffe mit deren äquivalenten Mengen aus, dann können diese Maße, wenn ihre Relationen mit anderen auch noch untereinander in Relation gesetzt werden, zu den Äquivalentgewichten VaU, ValB,Valc spezifiziert werden. Für die Äquivalentgewichte (nicht aber für die spezifischen Gewichte) gilt, daß Vale seine Bestimmtheit im Verhältnis von VaU und Valß hat. Die Äquivalentgewichte sind gerade nicht für sich bestimmbar, sondern erst in und durch die aufgrund der chemischen Reaktion möglichen Relationen der äquivalenten Mengen. Der Verknüpfung von chemischer Reaktion und Relation der Maße liegen allgemeine Naturgesetze zugnmde, das Gesetz von der Erhaltvmg der Masse vmd die Gesetze der konstanten und multiplen Proportionen, ohne die Reaktionsgleichungen imd Massenbilanzen von Reaktionen nicht aufgestellt werden können. Für die logische Entwicklimg des bisherigen Maßes in der „Verbindimg zweyer Maaße" war das zitierte Modell konstitutiv. Analog impliziert der Übergang zum „Maaß als Reihe von Maaßverhältnißen" den Wechsel im zitierten Modell, nämlich den Wechsel des Prozesses, also den Übergang von der Bildung einer Lösung zu den chemischen Reaktionen, xmd den Wechsel des betrachteten Maßes, also den Übergang vom spezifischen Gewicht zum Äquivalentgewicht. Soll der Übergang in der Wissenschafl der Logik begründet sein, müßten beide Übergänge im zitierten Modell begründet werden. Eine solche Begründung gibt es nicht. Damit ist der (logische) Übergang problematisch, er hängt - bildlich gesprochen - in der Luft, d. h. er ist nicht eindeutig auf ein bestimmtes Modell bezogen. Im nächsten Kapitel zieht Hegel einfach das zum fortentwickelten Maß passende Modell heran; das bisherige paßt eben nicht mehr imd wird schlicht deswegen fallen gelassen. Es ist ja auch kein Gnmd dafür anzugeben, daß pc = f(pA/ PB) lediglich formal hingeschrieben imd kein allgemeines Gesetz für den Zusammenhang dieser Funktion mit der Reaktionsgleichung gefimden werden kann, während bei den Äquivalentgewichten allgemeine Naturgesetze ermöglichen, daß ein Maß „seine Bestimmtheit in andern Maaßverhältnißen" hat. Ohne Begründung des Übergangs im zitierten Modell ist der (logische) Übergang also problematisch - so die immanente Kritik an Hegel, die die Übergänge ernst nimmt, die logische Konstruktion auf die materialen Gehalte, ohne die sie zusammenfiele, bezieht und dann zeigt, daß die Übergänge nicht gehen. Für Hegel sind die Übergänge allein aus den aufgeführten Widersprüchen konstruiert, das zitierte Modell ist für die logische Fortbestimmung des Maßes nicht konstitutiv

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und die Begründung des Übergangs zur nächsten Bestimmung des Maßes nicht notwendig auf die Begründrmg des Übergangs im zitierten Modell verwiesen. Hegel fordert gerade umgekehrt, die Naturwissenschaften sollten, angeleitet durch die spekulativ konstruierten Übergänge im Maafi, nach entsprechenden Zusammenhängen der zitierten Modelle suchen. Solch idealistische Postulate waren Antrieb für die Forschung; ohne sie bekommt man in den Naturwissenschaften nichts heraus. Was man herausbekommt, ist aber nicht bloß Bestätigung der im Maafi enthaltenen Konstruktion am Beispiel. Denn häufig - wie auch in diesem besonderen Fall - wird die Sache erst durch das Scheitern der Konstruktion erschlossen, hier nämlich die fundamentale Differenz einer statistischen Theorie der kondensierten Medien von den stöchiometrischen Gesetzen für chemische Reaktionen. Die nur durch das Scheitern der Konstruktion mögliche Erkenntnis verdankt sich der Konstruktion. Aus der Anmerkung zum übernächsten Kapitel Wahlverwandtschaft soll die Passage, die auf die „Verbindung zweyer Maaße" sich bezieht, deswegen noch angefügt werden, weil sie dadurch, daß in ihr das zitierte Modell unmittelbar Gegenstand ist, den Kern der Argumentation des systematischen Kapitels deutlicher macht als dieses selbst, wo das Modell einerseits zum der Möglichkeit nach austauschbaren Zitat zurückgedrängt wird und andererseits doch, werm auch vermittelt imd verschlüsselt, für die logische Konstruktion konstitutiver Gegenstand bleibt (21.362,18 ff; IV. 454 f). Ausser den Formen des Maaßverhältnisses, die sich auf die chemische Affinität und Wahlverwandtschaft beziehen, körmen auch noch andere in Rücksicht auf Quantitäten, die sich zu einem System qualificiren, betrachtet werden. Die chemischen Körper bilden in Beziehung auf Sättigrmg ein System von Verhältnissen; die Sättigrmg selbst beruht auf der bestimmten Proportion, in welcher die beyderseitigen Mengen, die eine besondere materielle Existenz gegeneinander haben, sich verbinden. Aber es gibt auch Maaßverhältnisse, deren Momente untrennbar sind imd nicht in einer eignen von einander verschiedenen Existenz dargestellt werden können.

Unterschieden wird hier zwischen dem ,,eigenthümliche[n] chemische[n] Proceß" (IX. 395), wo die Differenz äußerliche Existenz („eine besondere materielle Existenz gegeneinander") gewonnen hat und die

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gegeneinander negativen und gespannten chemischen Objekte den Prozeß und damit die ihn charakterisierenden Relationen der Maße („bestimmte Proportion") setzen, und der „Modification", die die „innere, an sich seyende Differenz" (IX. 395) erleidet imd die nur solche Bestimmtheiten erfaßt, „die der allgemeinen Besonderheit der Körper angehören „(IX. 393), wie z. B. das spezifische Gewicht. Letzteres ist ein Maßverhältnis, „deren Momente ["Insichseyn" und „Aeusserlichkeit dieses Insichseyns", U. R.] untrennbar sind imd nicht in einer eignen voneinander verschiedenen Existenz dargestellt werden können". In den Kapiteln Das Maaß als Reihe von Maaßverhältnißen und Wahlverwandtschaft wird ausgeführt, daß zunächst die Äquivalentgewichte und dann die Wahlverwandtschaften „sich zu einem System qualificiren". Dies ist hier ungeachtet des Unterschiedes, daß dort der „eigenthümliche chemische Proceß" zugrunde liegt, für die spezifischen Gewichte behauptet. Überdies ist die Reflexivität des Sich-Qualifizierens der Maße problematisch. Diese sind das, was vorhin die unmittelbaren selbstständigen Maaße genannt, und die in den specifischen Schweren der Körper representirt sind. - Sie sind innerhalb der Körper ein Verhältniß von Gewicht zum Volumen; der Verhältnißexponent, welcher die Bestimmtheit einer specifischen Schwere zum Unterschiede von andern ausdrückt, ist bestimmtes Quantum nur der Vergleichung, ein ihnen äusseres Verhältniß in einer äussem Reflexion, das sich nicht auf das eigne qualitative Verhalten zu einer gegenüber stehenden Existenz gründet.

Das „qualitative Verhalten zu einer gegenüber stehenden Existenz" ist als die zvmächst allgemeine Bestimmxmg konstruiert, die darm vermittels des Ins-Verhältnis-Setzens der Maße zu ihren Besonderheiten, nämlich zur Bildung einer Lösung bzw. zur chemischen Reaktion zu Verbindimgen mit definierter Zusammensetzung, differenziert wird. Es wäre die Aufgabe vorhanden, die Verhältnißexponenten der Reihe der specifischen Schweren, als ein System aus einer Regel zu erkennen, welche eine bloß arithmetische Vielheit zu einer Reihe harmonischer Knoten specificirte.

„Es ist ein großes Verdienst, die empirischen Zahlen der Natur kennen zu lernen [hier: die empirischen Zahlen für das spezifische Gewicht

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der verschiedenen Stoffe, U. R.] [..aber ein unendlich größeres, die empirischen Quanta verschwinden zu machen, imd sie in eine allgemeine Form von Quantitätsbestimmungen zu erheben, so daß sie Momente eines Gesetzes oder Maaßes werden" (21.340,14-18; IV. 426). Es ist also „die Aufgabe vorhanden", ein solches Gesetz oder eine „Regel" zu finden und diese als gültig zu erweisen, indem man zeigt, daß ihr „der Umfang der Einzelnheiten der Wahrnehmung entspricht" (21. 340, 21 f; IV. 426). Diese „Regel" macht die „empirischen Quanta" insofern verschwinden, als sie die „bloß arithmetische Vielheit zu einer Reihe harmonischer Knoten" spezifiziert. Somit werden die „empirischen Quanta" als in einem systematischen Zusammenhang stehend erkannt. Das Dritte, das dem Kennenlemen der „empirischen Quanta" und dem Auffinden einer „Regel" oder eines Gesetzes nachfolgen soll, ist das „höhere Beweisen", welches das Empirische an dem Gesetz, nämlich daß es ein Vorgefundener Zusammenhang mit empirisch gegebenen Konstanten ist, verschwinden macht: „Es muß aber noch ein höheres Beweisen dieser Gesetze gefodert werden; nemlich nichts anders als daß ihre Quantitätsbestimmimgen aus den Qualitäten, oder bestimmten Begriffen, die bezogen sind, [zimächst Raum xmd Zeit, dann „Schwere" und Volumen, U. R.] [...] erkarmt werden" (21. 340,22 - 25; IV. 426). Bei den „specifischen Schweren" ist die Wissenschaft noch nicht über das Kennenlemen der „empirischen Quanta" hinausgelangt, wobei Hegel imterstellt, daß Auffinden einer „Regel" und „höheres Beweisen" derselben immer möglich wären. Für die Äquivalentgewichte, das das nächste Maßverhältnis repräsentierende Modell, gelingt es dagegen, ihre Reihe „als ein System aus einer Regel zu erkennen", imd zwar gerade mit der von Hegel bekämpften Atomtheorie. Dieselbe Federung fände für die Erkenntniß der angeführten chemischen Verwandtschaftsreihen statt. Aber die Wissenschaft hat noch weit, um dahin zu gelangen, soweit als dahin, die Zahlen der Entfemxmgen der Planeten des Sonnensystems in einem Maaß-Systeme zu fassen. Die specifischen Schweren, ob sie gleich zunächst kein qualitatives Verhältniß zu einander zu haben scheinen, treten jedoch gleichfalls in qualitative Beziehung.

„Die specifischen Schweren [...] [scheinen, U. R.] zunächst kein qualitatives Verhältniß zu einander zu haben": Das spezifische Gewicht ist ein unmittelbares, selbständiges Maß, das die „qualitative Natur des

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materiellen Etwas" (21. 347, 9; IV. 434) durch ein Quantum ausdrückt. Zwei Metalle sind so als zwei Quanta für das spezifische Gewicht xmterschieden. Ihre „Vergleichimg", die zur Bestimmung der Maße notwendig ist, setzt sie in ein ihnen äußerliches Verhältnis, wo Bestimmtheit xmd quantitative Veränderlichkeit in die äußere Reflexion fallen. Treten zwei solche Maße in „Verbindung", so erhält sich einerseits die an-sich-bestimmte „qualitative Natur" in der Veränderung (die Legienmg bleibt Metall). Der Unterschied der Maße ist ein bloß quantitativer (cindere Quanta für das spezifische Gewicht), und nur als solcher unterliegt er der Veränderung. Weil aber in dem Quantum die qualitative Bestimmung liegt, die Metalle haben, ist das Sich-Erhalten gegen die Veränderung zugleich die Verändenmg eines solchen Maßes imd damit die „Modification" (IX. 393) der an sich bestimmten Natur selbst; also wird andererseits diese „qualitative Natur" modifiziert. Konkreter wird die „qualitative Beziehimg" der beiden Maße dann dadurch ausgedrückt, daß, wiewohl die qualitative Natur erhalten bleibt und die Veränderung in die Quanta für die spezifischen Gewichte fällt, nicht die „Verbindung" „nach der bloß quantitativen Bestimmung" (21. 348, 3; IV. 435) (= das gewichtete Mittel), sondern die „Modification" als die Abweichung von dem gewichteten Mittel gebildet wird. Indem die Körper chemisch verbunden, auch nur amalgamirt oder synsomatisirt werden, zeigt sich gleichfalls eine Neutralisatio n der specifischen Schweren.

„[...] gleichfalls eine Neutralisation": „Modification" imd chemische Reaktion werden hier wieder analog behandelt. Ihre Gleichheit besteht darin, daß sie auf dasselbe bezogen werden können, nämlich darauf, daß zwei Maße sich qualitativ zueinander verhalten oder in „qualitative Beziehung" treten, während ihre Ungleichheit lediglich in der besonderen Art dieser ,,qualitative[n] Beziehung" liegt. Deswegen behauptet Hegel in Analogie zur Neutralisation bei der Säure-Base-Reaktion eine „Neutralisation der specifischen Schweren". So wie dort die an gegeneinander gespannte chemische Objekte gesetzte Differenz neutralisiert werde, so erfahre hier die „innere, an sich seyende Differenz", ausgedrückt in verschiedenen Quanta für das spezifische Gewicht, eine „Neutralisation". In der Ersten Auflage ist das Kapitel Verbindung zweyer Maaße mit „Neutralität", das Kapitel Das Maaß als Reihe von Maaßverhältnißen mit „Specification der Neutralität" überschrieben, was auf eine Fortbestimmung der „Neutralität" von Legienmgsbildimg zu den

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(eigentlichen) Neutralisationsreaktionen hindeutet. Hegel hat wohl eingesehen, daß der Sache nach eine „Specification der Neutralität" nicht vorliegt. Deswegen ist in der Zweiten Auflage die darauf hinweisende Terminologie weitgehend beseitigt und diese Stelle eher ein Relikt. Systematisch hält Hegel jedoch - wie gezeigt - an der Fortbestimmung zum nächsten Kapitel fest. Die Bezeichnimg „Synsomatie" für Lösimg/Legierung hat Hegel von Winterl übernommen (vgl. IX. 393). Es ist vorhin die Erscheinung angeführt worden, daß das Volumen, auch des Gemisches von chemisch gegen einander eigentlich gleichgültig bleibenden Materien, nicht von gleicher Größe mit der Summe des Volumens derselben vor der Vermischung ist. Sie modificiren in dieser gegenseitig das Quantum der Bestimmtheit, mit dem sie in die Beziehung eintreten, und geben sich auf diese Weise als sich qualitativ verhaltend gegen einander kund.

Die „chemisch gegen einander eigentlich gleichgültig bleibenden Materien" treten mit dem Quantum für das spezifische Gewicht „in die [qualitative, U. R.] Beziehung" ein. In dieser Beziehung „modificiren" sie sich gegenseitig und „geben sich auf diese Weise als sich qualitativ verhaltend gegen einander kund." Das Qualitative liegt in der Abweichung vom gewichteten Mittel der spezifischen Gewichte. Hier äussert sich das Quantum der specifischen Schwere nicht blos als eine fixe Vergleichungszahl, sondern als eine Verhältnißzahl, die verrückbar ist; und die Exponenten der Gemische geben Reihen von Maaßen, deren Fortgang von einem andern Princip bestimmt wird, als den Verhältnißzahlen der specifischen Schweren, die miteinander verbunden werden.

Die „Vergleichungszahl", die die äußere Reflexion für ein spezifisches Gewicht ermittelt, ist, wenn ein und derselbe Maßstab genommen wird, eine „fixe" Größe für eine Substanz. Treten zwei durch solche fixen Größen ausgedrückten Maße in „Verbindung", so werden diese Zahlen zu ,,Verhältnißzahl[en], die verrückbar" sind. Diese, „die Exponenten der Gemische", sind je nach Zusammensetzung veränderlich und zudem davon abhängig, mit welchen Stoffen B,C, D etc. der Stoff A ins Verhältnis gesetzt wird. Insofern „qualificiren" die zimächst unmittelbaren selbständigen Maße (jene fixen Größen) „sich zu einem

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System" (21.362,20; IV. 454): „[...] die Exponenten der Gemische geben Reihen von Maaßen, deren Fortgang von einem andern Princip bestimmt wird [...]". Dieses „Princip" ist als anderes zu dem der Bildimg des gewichteten Mittels bestimmt. So könnte es gegenüber den ins Verhältnis gesetzten selbständigen Maßen von heterogenem Urspmng sein. Die Exponenten dieser Verhältniße sind nicht ausschliessende Maaßbestimmungen; ihr Fortgang ist ein continuirlicher, aber enthält ein specificirendes Gesetz in sich, das von den formell fortgehenden Verhältnissen, in denen die Mengen verbxmden werden, verschieden und jenen Fortgang mit diesem incommensurabel macht.

„Ausschliessende Maaßbestimmungen" sind die Wahlverwandtschaften. Diese enthalten die sie bildenden Maße (dann die Äquivalentgewichte, die sich zu dem System der Wahlverwandtschaften „qualificiren") in „bestimmter Proportion", während der „Fortgang" des spezifischen Gewichtes einer Lösung, deren Zusammensetzung irmerhalb gewisser Grenzen variieren kann, „ein continuierlicher" ist. Dieser „Fortgang [...] enthält ein specificirendes Gesetz in sich", das als „verschieden" von der Bildimg des gewichteten Mittels („den formell fortgehenden Verhältnissen") und als dieser Bildimg „incommensurabel" bestimmt ist. Nähme man letzteres wörtlich, dann hätte das „specificirende Gesetz" kein gemeinsames Maß mit den ins Verhältnis gesetzten Maßen. Die Differenz zur Bildung des gewichteten Mittels enthielte ein heterogenes Prinzip, das nicht aus dem Ins-Verhältnis-Setzen der Maße zu entwickeln wäre und das nicht in der bestimmten Negation der Bildung des gewichteten Mittels, d. i. in der Abweichung von demselben, aufginge. Hegel zielt jedoch darauf ab - was hier nicht ausgeführt ist -, das Inkommensurable nicht als heterogenen Ursprungs stehen zu lassen, sondern als das Qualitative, welches hinreichend durch Negation der „Verbindung" „nach der bloß quantitativen Bestimmung" bestimmt sei, in der Fortbestimmung des Maßes einzuholen. b. Das Maaß als Reihe von Maaßverhältnißen. 1. Wenn Etwas, das mit Anderm vereint wird, und ebenso diß Andere nur durch die einfache Qualität bestimmt, das wäre.

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Das Maaß als Reihe von Maaßverhältnißen

was es ist, so würden sie in dieser Verbindung nur sich aufheben, aber Etwas, das Maaßverhältniß in sich ist, ist selbstständig, aber dadurch zugleich vereinbar mit einem eben solchen; indem es in dieser Einheit aufgehoben wird, erhält es sich durch sein gleichgültiges, quantitatives Bestehen, und verhält sich zugleich als specificirendes Moment eines neuen Maaßverhältniße.

Etwas wird mit Anderemi „vereint" zu einer „Verbindung". Indes vereint sich nicht jedes Etwas mit beliebigem Anderen zu einer „Verbindung". Versteckt unter den hier unpräzis gelassenen Termini „vereinigen" und „Verbindung" geht Hegel an dieser Stelle zu besonderen Etwas imd zu einem besonderen Vorgang des Vereinigens über, was weder in der zunächst abstrakten Bestimmtheit der Qualität (des Etwas und Anderen) noch in der des selbständigen Maßes noch in der des „äusserlich in Verbindung" (21. 346, 22; IV. 433) Setzens zweier selbständiger Maße enthalten ist. Der Übergang zur Bestimmung des Maßes als Reihe von Maßverhältnissen, wiewohl von Hegel als logischer Übergang prätendiert, unterstellt einen realen Vorgang - das „Vereinigen", später konkretisiert als „chemischer Proceß" (12. 149, 23 ff; V. 202 ff) - und ein Resultat dieses „Vereinigens" - die „Verbindung", später konkretisiert als „chemisches Object" (12.148, 8 ff; V. 200 ff). Beides wird implizit zitiert vmd geht der Sache nach in die Argumentation ein, wird darin aber nicht explizit, weil „vereinigen" und „Verbindung" nicht aus dem selbständigen Maß begründet werden können. Der Übergang von Kapitel a zu Kapitel b impliziert überdies die Unterscheidung von Lösung und reinem Stoff Deren Oberbegriff, der homogene Stoff, ist dasjenige, wovon Hegel zunächst, d. h. zu Anfang des realen Maaßes, ausgeht. Ein homogener Stoff ist äußerlich (für einen äußeren, womöglich mit einem Mikroskop ausgerüsteten Betrachter) einheitlich; physikalisch-chemisch gesprochen ist ein homogener Stoff eine Phase, die sich an allen Stellen durch denselben Wert physikalischer Größen wie z. B. der Dichte charakterisieren läßt. Mit dem Begriff des „realen Maaßes" hatte Hegel die logische Entwicklung der Bestimmungen des „Seyus" soweit vorangetrieben, daß Etwas als „Maaßverhältniß in sich" bestimmt war - gemeint: ein homogener Stoff mit einem ihn kennzeichnenden spezifischen Gewicht. (Es bleibe hier dahingestellt, ob ,Etwas 1 „Etwas" und „Anderes" werden Hegel folgend und neueren Duden-Regeln entgegen groß geschrieben, um Mißverständnisse zu vermeiden.

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als „Maaßverhältniß in sich'" eine hinreichende Bestinmiung für ,homogener Stoff' ist.) Vom Oberbegriff des homogenen Stoffes ausgehend entwickelt Hegel die beiden darunter subsumierten Begriffe der Lösung (ein homogener Stoff, der aus verschiedenen Molekülarten besteht imd der nur zum Teil die Eigenschaften seiner Bestandteile, zum anderen Teil neue Eigenschaften zeigt; Kapitel a Verbindung zweyer Maaße, welche „Verbindimg" von Hegel durch ein gegenüber dem bloß gewichteten Mittel beider Maße verschiedenes „Maaßverhältniß in sich" bestimmt wird; es bleibe wieder dahingestellt, ob solcherart Abweichung im spezifischen Gewicht eine hinreichende Bestimmung oder nur ein Charakteristikum für ,Lösimg' ist) und des reinen Stoffes (ein homogener Stoff, der aus einer einzigen Molekülart besteht; Kapitel b Das Maaß als Reihe von Maaßverhältnißen). Aus dem Oberbegriff des homogenen Stoffes folgt aber nicht mit logischen Mitteln die sachliche Unterscheidung von Lösung und reinem Stoff; diese setzt vielmehr die von Hegel abgelehnte Atomtheorie voraus (Phasenaufbau aus verschiedenen bzw. aus einer Molekülart). Den Anschein, diese sachliche Unterscheidung sei nicht zitiert, sondern aus dem Verhältnis selbständiger Maße entwickelt, befestigt Hegel mit dem imscharfen Gebrauch des Terminus „Verbindimg", der in Kapitel a Lösungen, in Kapitel b jedoch Verbindungen im präzisen (heutigen) Sinne bezeichnet. Zu Hegels Zeit waren auch für Chemiker die Unterscheidungen weder von Lösung und reinem Stoff noch von Verbindung und Element klar. Die Erkenntnis, daß der Übergang von Kapitel a zu Kapitel b als logisch entwickelter Übergang erschlichen ist, führt darauf, jene Unterscheidungen sachlich zu klären und damit den Terminus „Verbindung" zu präzisieren. Weil dies aber erst mit der später untermauerten und darm nachgewiesenen Atomtheorie gelingt, konnte zu Hegels Zeit jener erschlichene Übergang plausibel erscheinen. „1. Wenn Etwas, das mit Anderm vereint wird, und ebenso diß Andere nur durch die einfache Qualität bestimmt, das wäre, was es ist, so würden sie in dieser Verbindung nur sich aufheben [...]" Hegel zitiert hier die Erfahrung, daß in einer Verbindung die beiden in ihr vereinten Etwas nicht nur aufgehoben sind, und schließt daraus, daß die Bestimmung des Etwas als „einfache Qualität" nicht hinreichend ist. „Das [...], was [Etwas, U. R.] ist", ist in der klassischen Metaphysik Substanz; für Hegel ist Substanz nicht gegeben, sondern er entwickelt das, was Etwas ist, ausgehend von der einfachen Qualität über Maß und Maßverhältnisse im Wesen. Hegels (negative) Beweisführung, die zunächst annimmt, „einfache Qualität" sei Substanz, dann zeigt, daß dies

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auf einen Widerspruch führt, und über die Aufhebung des Widerspruchs zur Bestimmung der Substanz fortschreitet, wird hier am chemischen Modell erläutert: Wären zwei Stoffe, die miteinander zu einem dritten reagieren, nur durch die „einfache Qualität" bestimmt, dann würden sie in ihrem Reaktionsprodukt „nur sich aufheben". (Beispiel: Schwefelsäure und Natronlauge reagieren zu Glaubersalz und Wasser; nähme man die Schwefelsäure lediglich als „einfache Qualität", müßte man sagen, sie verschwände im Glaubersalz als in einem anderen „Etwas"; deshalb ist „einfache Qualität" keine hinreichende Bestimmung des Etwas.) Aber das Etwas (ein Stoff) ist ja schon konkreter bestimmt worden, nämlich „Maaßverhältniß in sich" zu sein. So ist es selbständiges Maß, das im Gegensatz zu den einfachen Qualitäten, welche in der Verbindtmg verschwinden, nicht untergeht; das Reaktionsprodukt ist „Maaßverhältniß in sich" ebenso wie die Ausgangsstoffe. Da das Etwas als „Maaßverhältniß in sich" bestimmt ist, ist es mit dem anderen Etwas „vereinbar". Am chemischen Modell: Sind die beiden reagierenden Stoffe durch ihr jeweiliges spezifisches Gewicht (= „Maaßverhältniß in sich") charakterisiert, dann sind sie als solche vergleichbar imtereinander. Ihnen kommt dieselbe Dimension (Gewicht durch Volumen) zu, sie unterscheiden sich nur durch ein verschiedenes Quantum für dieses „Maaßverhältniß in sich". „In dieser Einheit" (in der neuen Verbindtmg, die gleichfalls durch ein „Maaßverhältniß in sich" charakterisiert werden kann) ist das erste Etwas aufgehoben, aufgehoben im doppelten Sinne: a.) vernichtet, d. h. die besondere Größe des spezifischen Gewichtes des ersten Etwas (der Schwefelsäure) ist vernichtet, b.) aufbewahrt, d. h. die Verbindung (Glaubersalz) kann ebenso wie der Ausgangsstoff durch ein spezifisches Gewicht charakterisiert werden. Insofern erhält sich das erste Etwas, bestimmt als „Maaßverhältniß in sich", „durch sein gleichgültiges, quantitatives Bestehen", also dadurch, daß es als Maßverhältnis durch ein Quantum bestimmt ist, das gleichgültig gegen seine einfache Qualität ist. Während die „einfache Qualität" in der „Verbindung" nur sich aufhebt, ist das (selbständige) „Maaßverhältniß in sich" in einer Einheit aufgehoben, in der das „Maaßverhältniß in sich" wieder vorkommt. „[...] und verhält sich zugleich als specificirendes Moment eines neuen Maaßverhältnißes". Dies ist von Hegel am Modell des Kapitels a, der Lösung, entwickelt worden: Die „Maaßverhältniße in sich" (die spezifischen Gewichte) treten in qualitative Beziehtmg imd spezifizieren sich gegenseitig; das spezifische Gewicht der Lösung hat seine Bestimmtheit in den spezifischen Gewichten der Bestandteile, genauer: in der Abweichung von deren gewichtetem Mittel

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(vgl. 21. 348, 28; IV. 436). Somit stehen die spezifischen Gewichte in einem Zusammenhang, worin das „Maaßverhältniß in sich" des ersten Etwas das „neue Maaßverhältniß" spezifiziert oder dessen „specificirendes Moment" ist. Wird aber nun zum chemischen Modell des Kapitels b, der Neutralisationsreaktion, übergegangen und dabei das bisherige „Maaßverhältniß in sich" beibehalten, dann stimmt der zu kommentierende Satz nicht mehr: Die spezifischen Gewichte der Stoffe stehen in keinem systematischen Zusammenhang (qualifizieren sich nicht zu einem System), welcher aus der die Stoffe verknüpfenden Reaktion zu entwickeln wäre. Erst werm in dem die Argumentation nicht sowohl illustrierenden, als sie vielmehr stützenden chemischen Modell für „Maaßverhältrüß in sich" die spezifischen Gewichte durch die äquivalenten Mengen ausgewechselt werden, stimmt der Satz wieder: Die selbständigen Maße der einzelnen Etwas sind dann nämlich die stöchiometrischen Mengen in der chemischen Reaktion (am Beispiel: 98 g Schwefelsäure werden durch 80 g Natronlauge neutralisiert); das selbständige Maß der Schwefelsäure (98 g) ist gegen den Untergang der einfachen Qualität (Schwefelsäure) selbständig xmd deshalb vereinbar mit dem selbständigen Maß der Natronlauge (80 g), die als einfache Qualität gleichfalls vernichtet wird. Die „Einheit" der als Grammzahlen vereinbaren selbständigen Maße ist deren Verhältnis (98 g : 80 g) - „ein neues Maaßverhältniß". In dieser Einheit sind die ursprünglichen Maße „aufgehoben". Wie das Quantum im quantitativen Verhältnis so „erhält sich" das ursprüngliche Maß (das selbständige Maß der Schwefelsäure) im neu gebildeten Maß (dem Verhältnis 98 g: 80 g), dessen „specificirendes Moment" es zugleich ist. Daß die spezifischen Gewichte der Ausgangsstoffe nicht spezifizierende Momente für die spezifischen Gewichte der Reaktionsprodukte sind, während für die stöchiometrischen Mengen in den chemischen Reaktionsgleichungen ein spezifizierender Zusammervhang gilt, ist nicht aus dem Begriff des spezifischen Gewichts deduzierbar, sondern der Erfahrung entnommen. (Lange Zeit wurde nach einem systematischen Zusammenhang der spezifischen Gewichte in chemischen Reaktionen gesucht. Es gab keinen ersichtlichen Grund, der einen solchen Zusammenhang von vomeherein ausschloß, sondern vielmehr die plausible Vermutung, daß, wenn zwei Stoffe durch ihre chemische Reaktion zu einem dritten gesetzmäßig verknüpft sind, auch die „Maaßverhältniße in sich", die diese Stoffe spezifizieren tmd ihre „qualitative Natur" ausmachen, nach einem Gesetz verknüpft wären.) Der Wechsel des chemischen Modells wäre improblematisch, bestünde die logische Argumentation auch imabhängig

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von den jeweils herangezogenen und von Hegel als Beispiele verstandenen Modellen. Das ist aber, wie noch detailliert gezeigt werden wird, nicht der Fall. Sonüt scheitert Hegels logische Konstruktion des Übergangs von Kapitel a zu b daran, daß das chemische Modell gewechselt werden muß, oder an dem empirischen Befund, daß von dem Verhältnis der spezifischen Gewichte der Reaktionspartner nicht allgemein zu dem Verhältnis der Äquivalentgewichte übergegangen werden kann. Werm zwei Stoffe, die miteinander zu einem dritten reagieren, nur durch die „einfache Qualität" bestimmt, also das wären, was sie sind, dann würden sie im Reaktionsprodukt als in einem anderen Etwas verschwinden. Sind die Stoffe hingegen als selbständige xmd spezifizierte Maße bestimmt, sind sie vergleichbar untereinander und in dem neu gebildeten Maßverhältnis enthalten. Die stöchiometrischen Mengen (imd nicht mehr die spezifischen Gewichte) sind jene selbständigen Maße; das stöchiometrische Verhältnis ist deren Einheit, ein Maßverhältnis. Während die einfachen Qualitäten in der Reaktion verschwinden, erhalten sich die selbständigen Maße in diesem Maßverhältnis imd sind dessen spezifizierende Momente (was für die spezifischen Gewichte nicht gilt). Die Möglichkeit, mathematische Relationen auf qualitativ verschiedene, vergehende imd entstehende Stoffe anzuwenden (d. h. also: Reaktionsgleichungen zu formulieren), liegt darin begründet, daß einem Stoff wesentUch ein spezifiziertes Maß zukommt, das selbständig gegen das vergehende bzw. entstehende Etwas ist. Dies spezifizierte Maß resultiert aus den stöchiometrischen Relationen des betreffenden Stoffes mit allen anderen, welche Relationen ohne chemische Reaktionen und spezifische Qualitäten der Stoffe nicht denkbar sind. Also ist für das selbständige xmd spezifizierte Maß (die stöchiometrische Menge von 98 g) die besondere Qualität (der Schwefelsäure, d. i. ihre Fähigkeit zu reagieren) vorausgesetzt. Wie aber - so fragt Hegel weiter - ist diese Qualität (eines chemischen Objekts) bestimmbar? Das chemische Objekt ist wesentlich durch seine „Beziehung auf anderes, und die Art und Weise dieser Beziehimg" (12.148,13; V. 201) bestimmt; das chemische Objekt setzt den Prozeß. Die chemische Qualität ist die Reaktionsfähigkeit in allen möglichen Prozessen. Diese sind durch stöchiometrische Gesetze bestimmt (nicht hinreichend bestimmt; wie die damaligen Chemiker so trermt auch Hegel nicht die stöchiometrischen Massenrelationen von den Energiegrößen einer Reaktion, s. dazu im folgenden). Aus den stöchiometrischen Verhältnissen ergeben sich die spezifizierten Maße. Dasjenige, was den Prozeß bewirkt (das chemische Objekt, die Schwefelsäure), wird im Prozeß zu einem Maß spezifiziert.

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welches das Ansichbestimmtsein, die chemische Qualität (der Schwefelsäure), ausdrückt. Insofern ist die zunächst noch vorausgesetzte einfache Qualität im spezifizierten Maß aufgehoben und - für Hegel durch es ersetzt. Richtig an der Hegelschen Bestimmung des Verhältnisses von Objekt und Prozeß ist, daß chemische Qualität nur in der Beziehxmg auf andere Substanzen, also in durch diese Qualität bewirkten chemischen Reaktionen, bestimmt werden karm. Hegels Fehler, den er mit Chemikern des 20. Jahrhimderts, die gar nichts von ihm wissen wollen, teilt, liegt darin, die spezifische Qualität einer Substanz vollständig in den Bestimmungen der Reaktionen dieser Substanz - mit dem heutigen Wissen präziser formulierbar: in den Freien Reaktionsenthalpien, den Aktivierungsenthalpien etc. aufgehen zu lassen. Doch können weder aus der Freien Reaktionsenthalpie die spezifischen chemischen Qualitäten der reagierenden Substanzen noch aus den vorausgesetzten chemischen Qualitäten die Freie Reaktionsenthalpie abgeleitet werden. Für eine chemische Reaktion und die Bestimmimg von Reaktionsenthalpien sind spezifisch xmterschiedene Substanzen vorausgesetzt, wiewohl der Unterschied der Substanzen nicht ohne spezifische Reaktionen bestimmbar ist. Resümee: Die für den Prozeß vorausgesetzten Qualitäten der Substanzen sind zwar nur veriiüttels des Prozesses bestimmbar. Daraus folgt aber nicht, was Hegel für den Übergang von der einfachen Qualität über das selbständige Maß zum Maß als Reihe von Maßverhältnissen unterstellt, nämlich daß die vorausgesetzten Qualitäten vollständig in den Bestimmimgen des Prozesses und dessen quantitativen Relationen (und schon gar nicht alleinig in den stöchiometrischen Bestimmungen) aufgingen und dann die einfache Qualität durch ein spezifiziertes Maß ersetzt werden könnte. In dem zu kommentierenden Kapitel b wird vom Etwas, bestimmt als „Maaßverhältniß in sich", übergegangen zum „Maaß als Reihe von Maaßverhältnißen". „Maaßverhältniß in sich" bedeutet: dem „Etwas" kommt ein selbständiges spezifiziertes Maß zu. (Beispiel: Schwefelsäure ist nicht mehr bloß als einfache Qualität, sondern durch die stöchiometrische Menge 98 g bestimmt, wobei man eben wissen muß, daß das spezifische Gewicht als Modell für „Maaßverhältniß in sich" von dieser Stelle an nicht mehr taugt.) Vorausgesetzt für die Bestimmung des Etwas als „Maaßverhältniß in sich" ist die „einfache Qualität" (im Beispiel: die besondere Qualität der Schwefelsäure), die in dem „Maaßverhältniß in sich" aufgehoben ist, und darüber hinaus das bestimmte Verhältnis des Etwas zu anderen Stoffen: der chemische Prozeß. Denn ohne chemischen Prozeß und dessen stöchiometrische Verhältrüsse erzwin-

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gendes Gesetz ist die spezifische Bestimmung des einzelnen Stoffes zum selbständigen Maß unmöglich. Der chemische Prozeß ist also Voraussetzung der stöchiometrischen Relation und damit auch der Relata, der so spezifizierten „Maaßverhältniße in sich" der Reaktionspartner. Der Übergang zum „Maaß als Reihe von Maaßverhältnißen" ist „Fortgang des Begriffs zu seiner Exposition" (21.110,5 f; IV. 139): Mit der Bestimmung des Etwas als „Maaßverhältniß in sich" ist die Relation dieses Etwas mit Anderen erschlossen, oder: mit dem Etwas als selbständigem, spezifiziertem Maß ist die Reihe der Relationen dieses Maßes mit den anderen spezifizierten Maßen gesetzt. Aber das Etwas als „Maaßverhältniß in sich" setzt diese Reihe nicht (wie Hegel ausdrücklich betont, vgl. 21. 109, 27 f; IV 138). Demgemäß gilt für das chemische Beispiel: Ohne den chemischen Prozeß, dessen Gesetz und die Reihe der stöchiometrischen Relationen ist kein einzelnes spezifiziertes Maß möglich. Und umgekehrt: Um das Gesetz der Relation zu erhalten, ist die spezifische Bestimmung der Relata als Maße und als besondere Qualitäten vorausgesetzt. Der Übergang von dem Etwas als selbständigem Maß zum Verhältnis von selbständigen Maßen (imd zur Reihe solcher Maßverhältnisse) ist der Schluß vom selbständigen Maß auf die (notwendige) Bedingung von dessen Möglichkeit. Dieser Schluß impliziert nicht, daß das (erste) selbständige Maß das Verhältnis der Maße (imd die Reihe der Maßverhältnisse) setzt (im Sinne von: hervorbringt), vielmehr ist das Maß mit der Reihe von Maßverhältnissen zugleich gesetzt (21. 109, 26 f; IV. 138). Hegels charakteristischer Fehler jedoch besteht in der Behauptung, das Verhältnis der Maße (in dem chemischen Prozeß) sei hinreichend bestimmt als die Bedingung der Möglichkeit des einzelnen spezifizierten Maßes und deshalb könne vom einzelnen spezifizierten Maß zu dessen zureichendem Grund, der Reihe der Maßverhältnisse, übergegangen werden. Unterschlagen sind damit die besonderen Bedingimgen des Prozesses, die aus diesem und dessen Ausgangssubstanzen sich nicht logisch ableiten lassen - so z. B., daß die Reaktionen eindeutig und vollständig ablaufen, daß Säure und Base bis zum Äquivalenzpunkt titriert werden müssen. Würden die Substanzen sich lediglich mischen oder würden sie nur zum Teil reagieren (für die im folgenden von Hegel herangezogene Neutralisationsreaktion gilt, daß Säure imd Base ohne weiteres - ohne Erwärmung, ohne Katalysator etc. - vollständig abreagieren; dies ist eine Ausnahme bei chemischen Reaktionen), dann wären zwar die „einfachen Qualitäten" in der „Verbindung" aufgehoben (was eben nicht der adäquate Begriff für eine vollständige und eindeutige chemische Reaktion ist), aber ein spe-

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zifisches neues Maßverhältnis, das die ursprünglichen Maße als spezifizierende Momente enthielte, wäre nicht vorhanden. Der Übergang vom einzelnen spezifizierten Maß zum Verhältnis der Maße (und zur Reihe von Maßverhältnissen) ist logisch nicht zwingend, was auch daran offenbar wird, daß das jeweils passende chemische Modell ausgesucht werden muß. Denn finge man mit dem spezifischen Gewicht (von Kapitel a) als dem einzelnen selbständigen Maß an, klappte der Übergang auf dessen Bedingrmg der Möglichkeit, das Verhältnis der spezifischen Gewichte als ein neues Maßverhältnis, nicht. Und vom Verhältnis der spezifischen Gewichte gibt es systematisch keinen Übergang zu den stöchiometrischen Mengenverhältnissen. Der Übergang zur Reihe von Maßverhältnissen gelingt nur, wenn vom ,richtigen' selbständigen Maß ausgegangen wird imd wenn der chemische Prozeß mit den aufgeführten besonderen Bedingungen, die Hegel aus der Wissenschafl der Logik heraushalten und „in die besondem Theile der concreten Naturwissenschaft" (21.353,7 f; IV. 441) verweisen will, in die Argumentation eingeht. Seine Qualität ist eingehüllt in das Quantitative; damit ist sie ebenso gleichgültig gegen das andere Maaß, continuirt sich in dasselbe imd in das neue gebildete Maaß hinein; der Exponent des neuen Maaßes ist selbst nur irgend ein Quantum, äusserliche Bestimmtheit; stellt sich als Gleichgültigkeit darin dar, daß das specifisch-bestimmte Etwas mit andern eben solchen Maaßen eben dergleichen Neutralisinmgen der beyderseitigen Maaßverhältniße eingeht; in nur Einem, von ihm und einem andern gebildeten, drückt sich seine specifische Eigenthümlichkeit nicht aus.

Die einfache Qualität des Etwas war für dessen Bestinunung als „Maaßverhältniß in sich" vorausgesetzt. Diese (vorläufige) Maßbestimmimg des Etwas wird an dieser Stelle der Argumentation durch eine weiter spezifizierte Maßbestimmung, das „neue Maaßverhältniß", ersetzt. Und dafür formuliert Hegel metaphorisch: Qualität ist „eingehüUt" in das Quantitative. Diese Formulienmg kann auf zwei verschiedene chemische Modelle bezogen sein: Ist die (besondere) Qualität der Schwefelsäure „eingehüllt" in deren Maß, dann entweder in ihrem spezifischen Gewicht oder in der für eine Neutralisation benötigten stöchiometrischen Menge. Sowohl das spezifische Gewicht als auch die stöchiometrische Menge ist als Quantum „gleichgültig gegen das andere Maaß" (sie haben jeweils dieselbe Dimension imd unterscheiden sich

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nur quantitativ), „continuiert sich in dasselbe und in das neue gebildete Maaß hinein [...]" etc. Allein das zweite Modell sei ausgeführt: Die Umsetzung der qualitativ verschiedenen Stoffe Schwefelsäure und Natronlauge wird durch eine Massenrelation dargestellt, in der die Gramm-Mengen der Reaktionspartner als Quanta miteinander kompatibel sind. Das Verhältnis der einzelnen spezifizierten Maße der Reaktionspartner ist das „neue gebildete Maaß" für das ursprüngliche Etwas, das ztmächst qualitativ, dann quantitativ, dann als „Maaßverhältniß in sich", d. h. als spezifisches Gewicht, bestimmt war. Dieses „neue gebildete Maaß" für das Etwas wird durch den „Exponenten" bestimmt (die Verhältrdszahl 98 : 80), tmd zwar zunächst - rmter 1. von Kapitel b diuch einen einzelnen willkürlich herausgegriffenen Exponenten (für eine einzelne, eben willkürlich herausgegriffene Neutralisation). Diese für die Neutralisation Schwefelsäure/Natronlauge erhaltene stöchiometrische Verhältrüszahl ist aber nur „äusserliche Bestimmtheit" für das „neue gebildete Maaß". Denn Schwefelsäure kann auch mit Kalk, Magnesia oder Ammoniak neutralisiert werden, imd zwar eine festgelegte Menge Schwefelsäure (98 g, das spezifizierte Maß derselben) mit äquivalenten Mengen dieser Stoffe. Die so gebildeten verschiedenen Maßverhältnisse körmen durch ihre jeweiligen Exponenten, die stöchiometrischen Massenverhältnisse für diese Neutralisationen (98 g: 56 g, 98 g : 40 g, 98 g : 70 g), ausgedrückt werden, wobei diese Exponenten mit dem ersten Exponenten für die Neutralisation durch Natronlauge kompatibel sind. Das „neue gebildete Maaß", welches das Etwas mittels dessen chemischer Reaktion spezifischer bestimmen soll als das spezifische Gewicht, wird durch ein einzelnes Maßverhältnis nur äußerlich bestimmt, weil dasselbe, nämlich Neutralisation des Etwas (für Hegel Neutralität schlechthin), auch mit anderen Basen erreicht imd durch bloß als Quanta verschiedene Maßverhältnisse ausgedrückt wird. Ein insofern herausgegriffenes Maßverhältnis (bezeichnet durch das erste Zahlenverhältnis 98 : 80) soll die Spezifität des „neuen gebildeten Maaßes" für das Etwas darstellen, ist aber als Quantum gleichgültig gegen die anderen Zahlenverhältnisse (98 : 56, etc.) imd drückt danüt die besondere Spezifität des neuen Maßes nicht aus: In nur einem Zahlenverhältnis (enthalten darin die überleitende Frage: in mehreren Zahlenverhältnissen?) drückt sich die „specifische Eigenthümlichkeit" des spezifisch zu bestimmenden Etwas nicht aus; ein Zahlenverhältnis ist nicht adäquate Darstellung für das „neue gebildete Maaß". In dem Verhältnis der spezifizierten Maße (im stöchiometrischen

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Mengenverhältnis, dem Exponenten) ist die in diesen Maßen „eingehüllte" einfache Qualität verschwunden. (Schwefelsäure und Natronlauge sind zunächst einfache Qualitäten und als solche nicht gleichgültig gegeneinander; hingegen sind die spezifizierten Maße, weil von derselben Dimension imd weil nur als Quanta verschieden, gleichgültig gegeneinander; ihr Verhältnis, der Exponent, ist, weil als Quantum bestimmt, ebenfalls gleichgültig gegen die anderen möglichen Exponenten der Neutralisation mit Kalk, Magnesia tmd Ammoniak.) Die auf diese Weise abgeleitete „Gleichgültigkeit" der die Exponenten bestimmenden Quanta gegeneinander soll zugleich - so Hegel - eine chemische Qualität darstellen imd erklären, warum bezogen auf die Bildung des neutralisierten Zustands es gleichgültig ist, welche der Neutralisienmgen erfolgt. Gleiche Geltung beanspruchen die Exponenten bezogen auf den neutralisierten Zustand (imd nicht lediglich bezogen auf ihre Bestimmung, Quanta derselben Dimension gegeneinander zu sein). Und damit ist die Gleichgültigkeit auch an dem „specifisch-bestimmten Etwas" (der Schwefelsäure), das mit anderen spezifizierten Maßen „dergleichen Neutralisirungen" (dasselbe, d. i. den neutralisierten Zustand erreichende Reaktionen) eingehen kann. Die besondere Qualität des „specifisch-bestimmten Etwas", in gleicher Weise neutralisiert zu werden, wird durch das stöchiometrische Mengenverhältnis für eine einzelne Neutralisierung nicht ausgedrückt, sondern vielmehr durch die Gleichgültigkeit dieses Exponenten (als eines Quantums) gegen die anderen möglichen Exponenten, was unter 2. von Kapitel b entwickelt wird. Daß die Gleichgültigkeit der (als Quanta bestimmten) Exponenten gegeneinander auf eine chemische Qualität an dem zugrundeliegenden Etwas bezogen werden karm, gilt nicht generell, sondern nur für das Modell ,Neutralisationsreaktion' und die äquivalenten Mengen, nicht aber für das Modell ,Lösung' imd die spezifischen Gewichte. Denn für letztere gibt es keine „dergleichen Neutralisirungen der beyderseitigen Maaßverhältniße", d. h. es gibt keinen neutredisierten Zustand, vermittels dessen Verhältnisse von spezifischen Gewichten verglichen werden könnten. (In der Ersten Auflage behauptete Hegel genau das Gegenteil, nämHch daß die spezifischen Gewichte der Bestandteile sich zu dem der Lösung neutralisierten; in der Zweiten Auflage ist dies jedoch fast durchweg korrigiert. Grund für diese Behauptung war wohl der darm sich als untauglich herausstellende Versuch, durch einen weiter gefaßten Begriff von „Neutralisation" die logische Entwicklung von der Besonderheit des Modells ,Säure-Base-Reaktion' loszulösen.) Also geht in

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die logische Entwicklung die Besonderheit jenes Modells konstitutiv ein, nämlich daß Neutralisationsreaktionen der Bildxmg neuer Maßverhältnisse zugrundeliegen und daß diese Neutralisationen (und mit ihnen die „Neutralisinmgen der beyderseitigen Maaßverhältniße") vergleichbar sind - es ist für die Argumentation stillschweigend vorausgesetzt, daß die Säure bis zum Äquivalenzpimkt titriert wird imd daß für alle Neutralisationen ein solcher Äquivalenzpunkt (der systematisch für alle Neutralisationen in derselben Weise bestimmt werden kann, aber nicht denselben pH-Wert annehmen muß) existiert. Denn nur dann lassen sich Neutralisationen mit verschiedenen Basen vergleichen und spezifisch bestimmte stöchiometrische Exponenten angeben. 2. Diese Verbindung mit Mehrern, die gleichfalls Maaße an ihnen sind, gibt verschiedene Verhältniße, die also verschiedene Exponenten haben. Das Selbstständige hat den Exponenten seines Ansich-bestimmtseyns nur in der Vergleichung mit andern; die Neutralität mit andern aber macht seine reelle Vergleichung mit denselben aus; es ist seine Vergleichung mit ihnen durch sich selbst.

Die Feststellung, die „Verbindung mit Mehrern" ergebe verschiedene (Maß)verhältnisse, die durch verschiedene Exponenten charakterisiert seien, enthält als sachliche Voraussetzungen erstens, daß chemische Verbindimgen (im heutigen Sinne) und nicht Lösungen gebildet werden (sonst bestünde ein Kontinuum der Mischimgsverhältnisse beider Maße und kein präziser Exponent), und zweitens, daß diese Verbindungen unterscheidbar imd gegeneinander identifizierbar sind. „Das Selbstständige [das selbständige Maß, das als „Maaßverhältrüß in sich" das Etwas bestimmt und das zunächst unmittelbares Quantum ist (der Wert des spezifischen Gewichts); dieses Quantum ist nur in der Vergleichimg mit anderen solchen „Maaßverhältnißen in sich" bestimmbar (vgl. 21.347,20 f; IV 434), U. R.] hat den Exponenten seines An-sich-bestimmtseyns [das „Maaßverhältrüß in sich" (das spezifische Gewicht) wird durch einen Exponenten bestimmt; dieser Exponent ist die Verhältniszahl für den Quotienten aus Gewicht und Volumen für das zu bestimmende Etwas; gemeint ist hier noch nicht der Exponent des neuen Maßes, der voraussetzt, daß die selbständigen Maße ihrerseits in ein sie spezifizierendes Verhältnis gesetzt werden, U. R.] nur in der Vergleichimg mit andern". Nur durch den Vergleich mit den Werten für das spezifische Gewicht anderer Stoffe ist das spezifische „An-sich-be-

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stimmtseyn" des ersten Etwas bestimmbar; es ist ein äußerliches Vergleichen: Das Quantum für einen Exponenten ist allein nicht aussagekräftig für das spezifische „An-sich-bestimmt-se)m"; erst der Vergleich von Exponenten, welcher durch einen Experimentator vorgenommen wird, ermöglicht eine spezifische Bestimmimg der Etwas vermittels dieser Exponenten; der zu vergleichende Exponent steht mit dem Exponenten des Vergleichs in keinem inneren systematischen Verhältnis; somit bleibt der Exponent äußerliche Bestimmtheit für die innerliche Maßbestimmung des Etwas. Dieser dem Etwas äußerlich bleibenden Vergleichimg der spezifischen Gewichte ist die „reelle Vergleichung" der Stoffe entgegengesetzt^: Die Stoffe reagieren miteinander und setzen sich so in ein durch ihre chemische Qualität bewirktes Verhältnis, die chemische Verbindung. Dieses Verhältnis ist quantitativ bestimmt, genauer: es ist durch ein neues Maßverhältnis bestimmt, das die chemische Qualität des reagierenden Stoffes charakterisiert und das dieses Etwas spezifischer bestimmt als zuvor das „Maaßverhältniß in sich" (nämlich das spezifische Gewicht). Derm das neue Maßverhältnis ist durch das zu bestimmende innere Maß des Etwas selbst gesetzt. Die Bildimg des neuen Maßverhältrüsses unterstellt den „chemischen Proceß": Das „chemisches Object" ist wesentlich bestimmt durch seine „Beziehimg auf anderes [seine Reaktivität mit anderen Stoffen, U. R.], tmd die Art und Weise dieser Beziehimg" (12. 148, 12; V. 201). Nach Hegel soll die Reaktivität durch die quantitativen Gesetze der Reaktionen mit diesen Stoffen (formuliert z. B. in den stöchiometrischen Maßverhältnissen) bestimmt sein. Dem Begriffe nach enthält das „chemische Object" die Beziehimg der „gegen einander negativen und gespannten Objectivitäten" (12. 147,11; V. 200) - im Säure-Begriff ist die Beziehung der polar einander entgegengesetzten Säure und Base enthalten; der Begriff der Säure ist so „innere Totalität beyder Bestimmtheiten" (12.148,13; V. 201), weshalb heutige Chemiker vom Säure-Base-Begriff sprechen3. Real ist die zunächst abstrakte Totalität des Begriffs an zwei besonderen „gegeneinander negativen und gespannten Objectivitäten" (12. 147, 11; V. 200). Für ein einzelnes chemisches Objekt ergibt 2 Hegel hat in der Überarbeitung der 1. Fassung ein den Gegensatz unterstreichendes „aber" eingefügt. 3 Erst 100 Jahre nach Hegel wird von der Chemie ein Säure-Base-Begriff formuliert, der den dargestellten logischen Bestimmimgen folgt (Brönsted 1929). Die innere Totalität entgegengesetzter Bestimmtheiten ist in dem Terminus „Säure-Base-Reaktion" ersichtlich, wobei allerdings innere Bindestriche den expliziten Begriff der „inneren Totalität" verdrängt haben.

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sich somit der Widerspruch: Sein Begriff ist Totalität entgegengesetzter Bestimmtheiten; der Existenz nach ist es einseitiges, auf ein anderes bezogenes Objekt. Das Verhältnis der gespannten Objekte gegeneinander ist die immanente Bestimmung eines jeden einzelnen chemischen Objekts, seine Affinität oder „Verwandtschaft“ (12.149,27; V. 202). Weil ün chemischen Objekt sein unmittelbares Gesetztsein als ein einzelnes Objekt imd sein immanenter Begriff, der die Totalität der auf die polaren Objekte verteilten Bestimmtheiten enthält, sich widersprechen, hat dieses Objekt an ihm selbst „ein Streben, die Bestimmheit seines Daseyns aufzuheben, und der objectiven Totalität des Begriffs die Existenz zu geben" (12.149,18-20; V. 202). Sonach ist das chemische Objekt „durch seine Natur selbst gespannt“ (a. a. O.) und fängt den chemischen Prozeß „selbstbestimmend“ (a. a. O.) an. Der chemische Prozeß ist „negatives Verhalten" gegen die „vorherige selbstständige Bestimmtheit“ (12. 150,11 ff; V. 203), wodurch die „realen Unterschiede der Objecte“ in der „dem Begriffe, der in beyden ein rmd derselbe ist, gemäßen Vereinigimg" (a. a. O., d. h. in dem Reaktionsprodukt der Neutralisation, dem Salz) aufgehoben werden. Im Produkt ist der chemische Prozeß erloschen. Und indem der „Widerspruch des Begriffs und der Realität ausgeglichen“ worden ist, haben die gegeneinander gespannten Objekte ihren Gegensatz verloren. „Das Product ist ein neutrales, d. h. ein solches, in welchem die Ingredientien, die nicht mehr Objecte genannt werden können, ihre Spannung und damit die Eigenschaften nicht mehr haben, die ihnen als gespannten zukamen, worin sich aber die Fähigkeit ihrer vorigen Selbstständigkeit und Spanmmg erhalten hat“ (a. a. O.). Die Neutralität ist negative Einheit der polar entgegengesetzten Säure und Base. Diese Einheit ist schon für deren Begriff wesentlich, kommt aber erst durch den chemischen Prozeß in dessen Produkt zur Existenz. Die Neutralität als realisierte negative Einheit setzt also die differenten Objekte voraus. Für die an der zu kommentierenden Stelle notwendige Unterscheidimg zwischen äußerlicher Vergleichimg (der spezifischen Gewichte) und reeller Vergleichimg muß der „chemische Proceß“ aus der Subjektiven Logik zitiert werden: „Die Neutralität mit andern“ (nämlich daß ein Salz gebildet wird) ermöglicht erst eine neue, von der äußerlichen imterschiedene Vergleichung von Maßen. „Reell“ ist diese Vergleichung insofern, als durch den chemischen Prozeß die innere Totalität des Begriffs des chemischen Objekts als „Neutralität“ im Salz realisiert wird imd damit einhergehend Maßverhältnisse, die die „Neutralität“ (das Salz) charakterisieren, realisiert sind - eine Realisierung, welche durch

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das Etwas, genauer: durch den Widerspruch im chemischen Objekt zwischen immanentem Begriff und unmittelbarer Existenz gesetzt ist. „[...] seine Vergleichimg mit ihnen durch sich selbst": Die Maße werden nicht mehr äußerlich in Verbindimg gesetzt, wobei der Vergleich mit dem anderen Maß der inneren Maßbestimmimg äußerlich bleibt, sondern die Maße, die chemische Objekte bezeichnen, setzen den chemischen Prozeß und durch diesen die Verbindung, in der ein neues Maßverhältnis, welches jene Maße spezifiziert, realisiert ist. Insofern ist dies ihre Vergleichung (imd lücht mehr eine ihnen äußerliche) durch sich selbst (als affine chemische Objekte setzen sie Prozesse imd bestimmen durch die so mitgesetzten neuen Maßverhältnisse ihre chemische Qualität). Am Beispiel: Die Schwefelsäure vergleicht sich „durch sich selbst" mit anderen Stoffen. Weil sie dem Begriffe nach die entgegengesetzten Bestimmtheiten Säure und Base enthält, setzt sie den Prozeß ihrer Neutralisation. Das das Reaktionsprodukt (Salz) charakterisierende Maßverhältnis ist dann ein die chemische Qualität der Schwefelsäure ausdrückendes Maß. Hatte die Schwefelsäure zuvor ihr Maß in dem „Exponenten" ihres „An-sich-bestimmtseyns" (ihrem spezifischen Gewicht), so jetzt in dem stöchiometrischen Maßverhältnis ihrer Neutralisation. Es ist der Übergang vom spezifischen Gewicht zur chemischen Qualität. Chemische Qualität ist das chemische Verhalten eines Stoffes, d. i. dessen Verhalten in seinen chemischen Reaktionen. Diese sind durch Maßverhältnisse bestimmbar (für Hegel zimächst nur die stöchiometrischen Mengenverhältnisse der reagierenden Stoffe), die somit bestimmend sind für die chemische Qualität. Ergo wird von einer statischen Maßbestimmung (dem „Exponenten seines An-sich-bestimmtse5ms") zu einer prozessualen (der den chemischen Prozeß charakterisierenden Reihe von Maßverhältnissen) übergegangen. Problematisch für die logische Konstruktion des Übergangs jedoch ist, daß es keinen systematischen sachlichen Zusammenhang zwischen spezifischem Gewicht imd chemischer Qualität gibt. (Es gibt keinen systematischen Zusammenhang zwischen dem spezifischen Gewicht und den stöchiometrischen Mengenverhältnissen bzw. den die Reaktivität bestimmenden Energiegrößen - dies wußte man allerdings zu Hegels Zeit noch nicht.) Im zu kommentierenden Text ist für die „reelle Vergleichimg" und die „Reihe von Maaßverhältnißen" die Entwicklung aus der äußerlichen Vergleichung und dem „Exponenten" des „An-sich-bestimmtseyns" konstitutiv; die vorherige Maßbestimmung ist in der neuen aufgehoben enthalten. In der Hegelschen Formulierung des Übergangs erscheint dies so, daß an ein und demselben Substantiv ,Vergleichung' die Kon-

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kretisierung entwickelt wird: Zunächst ist als Adjektiv,äußerlich' zu ergänzen, dann wird ,Vergleichung' zur ,reellen Vergleichung durch sich selbst' spezifiziert. Allerdings hat, wie gezeigt, der so formulierte Übergang kein Fundament in der Sache, d. h. in dem von Hegel herangezogenen chemischen Modell. Vergleicht man spezifische Gewichte, so könnte man deren Größe auch relativ angeben, d. h. einen Quotienten aus dem spezifischen Gewicht des zu bestimmenden Etwas imd dem spezifischen Gewicht eines verglichenen Etwas bilden. Dies wäre - ebenso wie das stöchiometrische Mengenverhältnis - ein Verhältnis von selbständigen Maßen, welches durch einen Exponenten, ein Quantum, ausgedrückt werden würde. Wenn man mm für die Relationen einer Säure mit verschiedenen Basen die jeweiligen spezifischen Gewichte ins Verhältnis setzte xmd so zu einer Reihe von Exponenten käme imd werm man für die Relationen weiterer Säuren mit denselben Basen in gleicher Weise zu weiteren Reihen von Exponenten käme, darm stünden diese Exponenten untereinander in keinem systematischen Zusammenhang imd stünden auch nicht in einem Zusammenhang mit den entsprechenden Neutralisationsreaktionen. Damit wären diese Exponenten erstens äußerlich zum chemischen Prozeß, zur chemischen Qualität des Etwas und zu dessen spezifischem inneren Maß und wären zweitens einander äußerlich. Hegels Darstellung des Übergangs zum neuen Maßverhältnis enthält keine Erklärung, sondern ist lediglich die Feststellung: Nur durch den chemischen Prozeß, nur durch die „reelle Vergleichung", nur dadurch, daß Salze („Neutralität") gebildet werden, ist ein neues Maßverhältnis gesetzt, welches nicht äußerlich zur inneren Maßbestimmung des Etwas ist. Und Hegel weiß, daß, bliebe man bei den spezifischen Gewichten und deren Verhältnissen untereinander, dann keine Fortbestimmimg des Maßes und kein Übergang zu den Äquivalentgewichten möglich wären. Aber für die Erklänmg des Übergangs, d. i. für die systematische Entwicklung aus dem vorherigen Maß, sind der Wechsel des zugrundeliegenden und sachlich wesentlichen chemischen Modells sowie der Vorgriff auf die Subjektive Logik^ mißlich. Deshalb wird das für den Übergang zum neuen Maßverhältnis notwendige Zitieren des chemischen Prozesses kaschiert imd kann nicht explizit eingestan4 Schon der Vergleich der Überschriften für die Abschnitte a und b (1. Fassung: „Neutralität", „Specification der Neutralität"; 2. Fassung: „Verbindung zweyer Maaße", „Das Maaß als Reihe von Maaßverhältnissen") zeigt, daß Hegel den Vorgriff aus der systematischen Darstellimg zurück- imd ins erläuternde Beispiel hineinzudrängen versucht.

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den werden. Gleichwohl zwingt die genaue, auf den Gegenstand passende Darstellung Hegel zu unübersehbaren Hinweisen: „Neutralität mit andern" wird innerhalb des Satzes vorangestellt; der Gegensatz von äußerer Vergleichung und reeller Vergleichung wird betont; „seine Vergleichung mit ihnen durch sich selbst" ist ohne chemischen Prozeß gar nicht verständlich. Wollte man den Übergang vom selbständigen Maß als „Maaßverhältniß in sich" zum „Maaß als Reihe von Maaßverhältnißen" rein logisch, d. h. ohne Zitieren, konstruieren, müßte die „reelle Vergleichtmg" hinreichend bestimmbar sein als bestimmte Negation der äußerlichen Vergleichtmg. Das ist aber nicht möglich. Aus dem Verhältnis der spezifischen Gewichte allein ist nicht zu begründen, daß es keinen systematischen Zusammenhang zwischen diesen Exponenten gibt, also daß von den spezifischen Gewichten nicht in systematischer Weise zu den Äquivalentgewichten, wo es einen solchen gibt, übergegangen werden kann. Hegel kann nicht begründen, daß der Vergleich der spezifischen Gewichte ein äußerliches Vergleichen bleiben muß und nicht ein reelles Vergleichen durch sich selbst sein kann. Und aus der sachlich richtigen, aber nicht aus dem Begriff des spezifischen Gewichts als „Maaßverhältnis in sich" deduzierbaren Feststellung, daß das Ins-Verhältnis-Setzen der spezifischen Gewichte lediglich ein diesen spezifischen Gewichten äußerliches Vergleichen darstellt, folgt nicht, daß ein dazu negativ bestimmtes Ins-Verhältnis-Setzen von Maßen existieren muß. Durch bestimmte Negation des äußerlichen Vergleichens ist weder das reelle Vergleichen hinreichend bestimmt noch dessen Existenz bewiesen. Allein dadurch, daß selbständige Maße ins Verhältnis gesetzt werden, ist nicht dasjenige gesetzt, was dem neuen Maßverhältnis zugnmdeliegt und dieses erst zum spezifizierenden Maß macht: der chemische Prozeß. Insofern ist der Übergang zum neuen Maßverhältnis mit rein logischen Mitteln (Ins-Verhältnis-Setzen von Maßen, Bestimmimg durch bestimmte Negation des vorherigen Maßes) nicht darstellbar. Gerade diese Nicht-Darstellbarkeit ist das, was man - gegen Hegel - an diesem Übergang herausbekommt. Und dies impliziert: Die logische Entwicklvmg ist auf das zitierte chemische Modell verwiesen. Die Exponenten dieser Verhältnisse aber sind verschieden, und es stellt hiemit seinen qualitativen Exponenten als die Reihe dieser verschiedenen Anzahlen dar, zu denen es die Einheit ist; - als eine Reihe von specifischem Verhalten zu

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Andern. Der qualitative Exponent als Ein unmittelbares Quantum drückt eine einzelne Relation aus. Wahrhaft unterscheidet sich das Selbstständige durch die eigenthümliche Reihe der Exponenten, die es, als Einheit angenommen, mit andern solchen Selbstständigen bildet, indem ein anderes derselben ebenso mit ebendenselben in Beziehung gebracht und als Einheit angenommen, eine Reihe formirt. - Das Verhältniß solcher Reihe iimerhalb ihrer macht mm das Qualitative des Selbstständigen aus.

„Die Exponenten dieser Verhältnisse" sind die Verhältniszahlen der neuen Maßverhältnisse, und zwar der stöchiometrischen Mengenverhältnisse in einer chemischen Verbindung (genauer: in den Salzen als Reaktionsprodukten der Neutralisationsreaktionen). Diese Exponenten sind „aber" verschieden von dem Exponenten zuvor, dem „Exponenten seines An-sich-bestimmtse)ms" (dem Wert für das spezifische Gewicht). Und diese Exponenten sind imtereinander verschieden; es sind überhaupt jetzt mehrere Verhältniszahlen im Vergleich zu dem einen Wert für das spezifische Gewicht. Der neue „qualitative Exponent" ist die „Reihe" dieser verschiedenen Verhältrdszahlen. Durch das Adjektiv „qualitativ" ist der neue Exponent von dem vorherigen Exponenten, dem Wert für das spezifische Gewicht, unterschieden. Letzterer Exponent war lediglich „äusserliehe, gleichgültige Bestimmtheit" (21. 347, 23 f; IV. 434), ausgedrückt durch ein Quantum, welches Spezifität nur im äußerlichen Vergleichen („in der Vergleichimg mit andern") anzeigt. Solch bloßem Zahlenvergleich entgegengesetzt bildet die „reelle Vergleichung" die Gnmdlage für den neuen „qualitativen" Exponenten. Dieser ist eine Reihe von „Anzahlen", die aber nicht bloß äußerlich aufgelistet sind, sondern in einem inneren Zusammenhang stehen - „als eine Reihe von specifischem Verhalten zu Andern". Spezifisches Verhalten besagt: Ein chemisches Objekt, bisher charakterisiert durch ein „Maaßverhältniß in sich", setzt spezifische chemische Prozesse mit anderen Stoffen, was durch eine Reihe von Maßverhältnissen ausgedrückt wird. Mit dem „specifischen Verhalten" ist der chemische Prozeß zitiert, aber nicht aus dem vorigen entwickelt oder begründet. Der chemische Prozeß ist hier bloß mittels bestimmter Negation (also qualitativ) vom äußerlichen Vergleichen (der spezifischen Gewichte) unterschieden, so wie der neue Exponent qualitativ von dem Vorherigen, der „äusserlichen, gleichgültigen Bestimmtheit" des spezifischen Gewichts, imterschieden ist. „Es stellt hiemit seinen qualitativen Exponenten als die Reihe dieser verschiedenen Anzahlen dar, zu denen es die

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Einheit ist"; am oben eingeführten Beispiel der Neutralisationsreaktionen der Schwefelsäure: Nimmt man als Einheit eine festgelegte Menge Schwefelsäure (z. B. 1000 g), dann sind diejenigen Basenmengen, die 1000 g Schwefelsäure neutralisieren, als Anzahlen zu dieser Einheit bestimmt. Und diese Anzahlen drücken den quantitativen Wert des Exponenten aus. Weil dieselbe Dimension (Gramm) in Zähler imd Nenner eines Quotienten auftritt imd so gekürzt werden kann, ist das als Quotient zweier Maße formulierte neue Maßverhältnis dem „directen Verhältniß" (21. 311, 25; IV. 391) zweier Quanta analog. („[...] wenn die eine Seite des Verhältnisses, welche als Einheit genommen wird, als numerisches Eins ausgedrückt ist, und sie gilt nur für solches, so ist die andere, die Anzahl, das Quantum des Exponenten selbst" (21. 312,15-17; rv. 392).) Der Exponent eines Maßverhältnisses drückt „eine einzelne Relation" aus, am Beispiel der Neutralisation von Schwefelsäure nrüt Natronlauge: Maßverhältrds ist 80 g: 98 g oder 816 g: 1000 g; der Exponent lautet, wenn die Einheit „als numerisches Eins ausgedrückt" wird, 0,816. Dieser Exponent ist zunächst lediglich „Ein unmittelbares Quantiun", somit äußerliche Bestimmtheit imd gleichgültig gegen andere Zahlenverhältnisse. Erst werm die Schwefelsäure verschiedene Neutralisationsreaktionen eingeht, ergeben sich verschiedene Maßverhältnisse und damit Exponenten; bezogen auf dieselbe Einheit (1000 g Schwefelsäure) sind es äquivalente Mengen der Basen. Erst die Reihe solcher Exponenten unterscheidet „wahrhaft" ein „Selbstständiges" (Schwefelsäure) von einem anderen (einer anderen Säure). Durch diese „eigenthümliche Reihe" von Zahlen ist das „Selbstständige" qualitativ bestimmt; aus den quantitativen Massenrelationen ist ein Qualitatives zurückgekehrt - diese „Reihe von specifischem Verhalten zu Andern". Am Beispiel: 1000 g Schwefelsäure werden durch 816 g Natronlauge oder 572 g Kalk oder 408 g Magnesia oder 714 g Ammoniak neutralisiert; die Reihe der Exponenten (= Verhältniszahlen zur Einheit 1) 0,816, 0,572, 0,408 und 0,714 stellt den „qualitativen Exponenten" des neuen Maßes dar. Durch diese Reihe ist Schwefelsäure spezifisch bestimmt imd kann von einer anderen Säure und deren eigentümlicher Reihe „wahrhaft" unterschieden werden. Für die Neutralisationsreaktionen von 1000 g Salpetersäure ergibt sich eine andere für Salpetersäure eigentümliche Reihe der neutralisierenden Basenmengen: 635 g Natronlauge, 445 g Kalk, 318 g Magnesia, 556 g Ammoniak oder die Reihe der Exponenten 0,635,0,445, 0,318,0,556. „Das Verhältniß solcher Reihe innerhalb ihrer macht nun das Qualitative des Selbstständigen aus". Ein einzelner Exponent (eine stöchiometrische Massenrelation) drückt das

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Qualitative des „Selbstständigen" nicht aus, weil er als unmittelbares Quantum dem Qualitativen äußerlich bleibt. Hingegen sind in der Reihe der Exponenten diese ins Verhältnis gesetzt, und zwar durch die (chemische) Qualität des „Selbstständigen", mit dem die Reihe der stöchiometrischen Relationen gebildet wird. Damit ist das Verhältnis der Exponenten innerhalb der Reihe nicht mehr dem Qualitativen äußerlich, sondern für es spezifisch. Also ist die Qualität des selbständigen Maßes neu bestimmt: als eine Relation von (stöchiometrischen) Maß-Relationen. Am Beispiel: Das Qualitative der Salpetersäure wird durch das Verhältnis der Exponenten innerhalb ihrer Reihe 0,635,0,445, 0,318, 0,556 ausgedrückt - unterschieden vom Exponentenverhältnis 0,816,0,572,0,408,0,714, dem Qualitativen der Schwefelsäure. Aus den als quantitative Relationen formulierten Maßverhältnissen kehrt ein Qualitatives zurück, welches als Relation von Exponenten, die ihrerseits Relationen ausdrücken, bestimmt ist. (Im Vergleich dazu bleibt der vorherige Exponent, das spezifische Gewicht, bloßes Quantum und dem Qualitativen äußerliche, gleichgültige Bestimmtheit.) Die für Hegel charakteristischen Fehler bestehen darin, erstens dieses Qualitative als hinreichend bestimmt durch diesen Übergang zur Relation der Exponenten zu fassen und zweitens in dem so aus den quantitativen Maß-Relationen entwickelten Qualitativen die bisher für diese Relationen vorausgesetzten Qualitäten als aufgehoben und konkreter bestimmt zu denken. Dann wären die vorausgesetzten Qualitäten begründet, d. h. könnten aus jedem Qualitativen der Relation von Exponenten rekursiv entwickelt imd dann auch durch dieses Qualitative ersetzt werden. Um das (vorausgesetzte) Qualitative in der Relation der Exponenten von Relationen aufgehen zu lassen („das Verhältniß solcher Reihe iimerhalb ihrer macht [...] das Qualitative des Selbstständigen aus"), muß Hegel unterstellen (wie gezeigt eine notwendige UntersteUimg), die als Maße ins Verhältnis gesetzten Selbständigen seien chemische Objekte. Nur diese vergleichen sich durch sich selbst, d. h. setzen chemische Prozesse, in denen sie spezifizierte Maßbestimmungen erhalten. Denn die (chemische) Qualität eines solchen Objekts ist dessen reaktives Verhalten mit anderen Stoffen. Und dieses Verhalten wird durch Gesetze bestimmt, die (zum Beispiel) in den stöchiometrischen Massenverhältnissen der Reaktionspartner erscheinen. Aber selbst wenn die Unterstellimg von chemischem Objekt xmd chemischem Prozeß einmal zugestanden wird, ist dennoch die Annahme falsch, das aus den MaßRelationen zurückgekehrte Qualitative enthielte (aufgehoben) die für diese Maß-Relationen vorausgesetzten Qualitäten und könne sie so er-

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setzen. Denn die quantitativen Maß-Relationen, die Exponenten und deren Relation untereinander haben qualitative Voraussetzungen, die nicht in ihren Begriff eingehen und die deshalb nicht aus dem zurückgekehrten Qualitativen abgeleitet oder begründet werden können: 1. ) Es müssen reine Ausgangssubstanzen vorhanden sein. - wie Chemiker formulieren - ,Dreck' zu ,Dreck', so treten, wenn überhaupt, verschiedene Reaktionen auf; das Massenverhältnis ist unbestimmt. 2. ) Es müssen standardisierte Randbedingungen hergestellt s man bei verschiedenen Temperaturen und Drücken reagieren, dann sind die Resultate nur bedingt vergleichbar. 3. ) Die meisten Reaktionen benötigen Energiezufuhr rmd K ren. Hegel erläutert seine ,Deduktion' des Äquivalentgewichts am Beispiel der Neutralisationsreaktionen, die fast immer spontan ablaufen. Jedoch geht diese besondere Eigenschaft des Beispiels in die systematische Argumentation ein. Hegel unterschlägt die Voraussetzung, daß im allgemeinen chemische Reaktionen ,gemacht' werden müssen. 4. ) Die Ausgangssubstanzen müssen als spezifisch Bestimmt gesetzt sein. Hegel deduziert allein aus dem Ins-Verhältnis-Setzen zweier Maße, daß dieses Maßverhältnis existiert imd daß es als bestimmtes Maßverhältnis mit spezifiziertem Exponenten existiert. Doch das Maßverhältnis ist überhaupt nur definiert, wenn die drei vorangegangenen Voraussetzungen erfüllt sind, die Hegel tmterschlägt, weil sie im bloß logischen Ins-Verhältnis-Setzen zweier Maße nicht Vorkommen. Und dieses spezifizierte Maßverhältnis existiert nur dann, werm die einzelnen selbständigen Maße chemische Prozesse eingehen. Denn stöchiometrische Maß-Relationen beruhen auf Reaktionen, deren Gesetz sie formulieren. Also ist der chemische Prozeß materielle Grundlage für das „Maaß als Reihe von Maaßverhältnißen". Und der Prozeß seinerseits ist nicht möglich ohne vorgängig bestimmte, spezifisch unterschiedene Ausgangssubstanzen. Diese sind für Hegel nur vorläufig vorausgesetzt; der Gang der Wissenschafl der Logik soll beweisen, daß das aus den Maß-Relationen entwickelte Qualitative jene vorausgesetzten Qualitäten vollständig ersetzen kann. Substrat der Maß-Relationen wäre dann ein unbestimmtes Nichts, aus dem spezifische Qualitäten erst hervorgingen - objektiv dmrch den chemischen Prozeß, der Bestimmtheit nach durch die Relation von Exponenten, welche quantitative Maß-Relationen ausdrücken. Hegel übersieht, daß spezifisch unterschiedene Reaktionen an einem vmbestimmten vmd völlig unspezifischen Substrat nicht denkbar sind und daß die aus dem Prozeß hervor-

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gehenden Qualitäten der Reaktionsprodukte nicht sämtliche Qualitäten der Ausgangssubstanzen aufgehoben enthalten. Im chemischen Prozeß ist erstens das spezifisch bestimmt, was konstant bleibt: die Massenbilanz der in den reagierenden Stoffen vorkommenden Elemente. Aus diesem Grund haben Chemiker zu Beginn des 19. Jahrhxmderts erste Substanzen, Elemente angenommen, die gerade diese Eigenschaft haben: als spezifisch Bestimmte im chemischen Prozeß erhalten zu bleiben. (Jeder Wasserstoff der Ausgangsstoffe taucht auf der Seite der Produkte wieder auf.) Zweitens ist spezifisch bestimmt, was sich in der Konstellation der Elemente untereinander verändert: Auflösimg und Bildvmg bestimmter Verbindungen; was insofern spezifisch bestimmt ist, als nicht Alles mit Allem reagiert. Wären Atome bloß als das bestimmt, was nicht weiter zerlegbar ist, und wären sie darüber hinaus qualitätslos bzw. von gleicher Qualität, so wären spezifische Reaktionen nicht zu erklären. Folglich sind qualitative Bestimmungen nötig, die spezifizieren, was im chemischen Prozeß konstant bleibt imd was sich in welcher Weise verändert. Diese Spezifität der Substanzen wird dvurch den Prozeß imd das Gesetz des Prozesses bestimmt und ist (auch) in den stöchiometrischen Relationen ausgedrückt - soweit hat Hegel recht. Sein Fehler liegt darin, die aus den Maß-Relationen zurückgekehrten und aus ihnen entwickelten qualitativen Bestimmtmgen als vollständige Bestimmungen der Spezifität der Substanzen aufzufassen. Damit ist ein bestimmungsloses Substrat der Reaktionen unterstellt: die Gesamtmasse der vorhandenen Substanz vmter Abstraktion von den Besonderheiten der beteiligten Stoffe. Jeder Unterschied soll durch den Prozeß erst hergestellt und durch die Relation von Exponenten der Maß-Relationen bestimmt sein. - So behauptet Hegel, die Aufnahme von Kohlensäure aus der Luft durch kaustisches Kali sei „eine Hypothese"; vielmehr machte das Kali aus der Luft erste Kohlensäure, um sich abzustumpfen (IX. 429). - Hegel kennt weder vorausgesetzte, in den Verbindimgen enthaltene Elemente noch qualitativ oder gar substantiell verschiedene Atome. Vielmehr entwickelt er das Maß als Reihe von Maßverhältnissen, bezieht diese Reihe von Exponenten auf ein System von Maß-Relationen imd erhält das Äquivalentgewicht als spezifische Qualität. Das Äquivalentgewicht ist demgemäß erstens erschlossen als das, was dem System der Maß-Relationen zugnmdeliegt, und ist zweitens nur diuch dieses System bestimmbar. Insofern ist das Vorwärtsgehen in der logischen Entwicklung (von den quantitativen Maß-Relationen zum Qualitativen in der Reihe der Exponenten und über dieses Qualitative zum Äquivalentgewicht) „Rück-

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gang in den Gnmd" (vgl. 21. 57,14 f; IV. 74), wobei dasjenige, was vorläufig vorausgesetzt war (die einfachen Qualitäten), durch den Rückgang in seinen Grund als von diesem abhängig und durch ihn hervorgebracht erkannt wird. Also ist das aus den Maß-Relationen zurückgekehrte Qualitative (das Äquivalentgewicht; in Verlängerung der Hegelschen Argumentation steht hier alles, was die Naturwissenschaften als Maß-Bestimmimgen der Substanz herausbekommen) das „Ursprüngliche und Wahrhafte", welches den zunächst vorausgesetzten imd xmmittelbar angenommenen einfachen Qualitäten zugrundeliegt und deren „innerste Wahrheit" ist, aus welcher die einfachen Qualitäten und ihre Maßverhältnisse untereinander „hervorgehen". Mit der Entwicklimg des Maßes als Reihe von Maßverhältiüssen (tmd dies ist die logische Gestalt sowohl der historischen wie der systematischen Entwicklung der Naturwissenschaften ausgehend von einfachen Qualitäten über das Auf stellen quantitativer Relationen bis hin zu den qualitativen Exponenten von Maß-Relationen) kehren qualitative Bestimmungen zurück, aber jetzt so, daß sie als Resultat dieser Entwicklxmg begründet sind. Damit hat sich das logische Verhältnis von Voraussetzxmg imd Resultat verkehrt: Während zimächst die einfachen Qualitäten vorausgesetzt waren und die imter dieser Voraussetzimg entwickelten Maß-Relationen und qualitativen Exponenten abhängiges Resultat waren, so sind jetzt die qualitativen Exponenten als das zugrundeliegende „Wahrhafte" oder als ursprüngliches Prinzip gefaßt und die zunächst als Voraussetzung angenommenen einfachen Qualitäten sind in von diesem Prinzip Abhängige verwandelt. Resümee: Das Äquivalentgewicht ist in doppelter Weise bestimmt, erstens als erschlossener Gnmd (es ist als das aus dem System der MaßRelationen zurückgekehrte Qualitative dasjenige, was den einfachen Qualitäten imd ihren Maß-Relationen zugrundeliegt) und zweitens als entwickeltes Resultat (es ist nur durch das System der Maß-Relationen bestimmbar und damit als weitere Bestimmimg dessen zu betrachten, was für die Maß-Relationen vorausgesetzt wurde, also als weitere Bestimmung der einfachen Qualitäten, die somit Grundlage für das Äquivalentgewicht sind). Richtig daran ist: Was als wahr über die vorauszusetzenden Substanzen erkannt wird, ist immer Resultat - Resultat experimenteller Arbeit mit diesen Substanzen und aus Maß-Relationen entwickeltes Resultat, wobei es diese Maß-Relationen niur dann gibt, wenn nicht bei der Kontemplation über jene vorauszusetzenden Substanzen stehen geblieben wird, sondern werm vermittels experimenteller Arbeit diese Substan-

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zen kontrolliert Prozesse eingehen. Die zunächst unmittelbar gegebenen Qualitäten erweisen sich nur über die mit ihnen entwickelbaren Maß-Relationen bestimmbar. (Das, was die Naturwissenschaften über die gegebenen Substanzen herausbekommen, bekommen sie nur durch experimentelle Arbeit mit diesen Substanzen, durch deren Prozesse, durch so mögliches Aufstellen von Maß-Relationen und durch Entdekken der darin enthaltenen qualitativen Exponenten heraus.) Und so Rückgang in den Grund - wird das den einfachen Qualitäten Zugrxmdeliegende und Wahrhafte erkannt, das den Qualitäten gegenüber das Erste ist und das im Vergleich mit ihnen weiter bestimmt ist (imd der Tendenz nach deren Wesen ist). Zugleich enthält dieser erschlossene Gnmd den Weg der Bestimmung aus den Maß-Relationen, ist also Resultat, das den Anfang (die vorausgesetzten, unmittelbar gegebenen Substanzen) enthält und nur als eine weitere, nämlich konkretere und reichere Bestimmimg desselben zu betrachten ist. Falsch an Hegels Argumentation ist: A.) Die vorausgesetzten Qualitäten könnten vollständig durch das aus den Maß-Relationen zurückgekehrte Qualitative ersetzt werden. Für Hegel ist das Äquivalentgewicht aus den Maß-Relationen begründete und die gegebenen einfachen Qualitäten begründende Qualität, durch die Stoffe zueinander in Relation stünden. Jede vorausgesetzte Qualität (die spezifisch unterschiedenen Substanzen) sei in den Maß-Relationen aufgehoben und könne ersetzt werden durch das aus dem System dieser Relationen zurückgekehrte Qualitative, einer in sich bestimmten Maßgröße, die immanent Prozesse begründe und darm als gesetzte zum Wesen werde. Daß Qualität in differenten Gestalten von zimächst einfacher gegebener Qualität und dann eines qualitativen Exponenten erscheine, hänge lediglich von der unterschiedlichen Stufe im Prozeß der Bestimmung (dem ein realer Prozeß korrespondiert) ab; was zunächst als ujimittelbare Qualität genommen worden sei, werde dann vollständig durch die Maß-Relationen und deren Exponenten erfaßt. Der Prozeß (sowohl der reale als auch der der Bestimmung) bringe jene differenten Gestalten der Qualität lediglich als unterschiedliche Fassungen ein imd desselben Substrats hervor. Dieses Substrat selbst sei völügbestmummgslos, während jede Bestimmung in den Prozeß der logischen Entwicldung falle, welcher ein Kreislauf sei. „Das Wesentliche für die Wissenschaft ist nicht so sehr, daß ein rein Unmittelbares der Anfang sey, sondern daß das Ganze derselben ein Kreislauf in sich selbst ist, worin das Erste auch das Letzte, und das Letzte auch das Erste wird" (21.57,26-28; IV. 75).

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Resümee: Hegel entdeckt, daß der Fortgang des Erkennens eine in doppelter Weise bestimmte Bewegimg ist, und zwar einmal als das rückwärtsgehende Erschließen des Grundes für die vorausgesetzten Qualitäten und zum anderen als das vorwärtsgehende Weiterbestimmen der zunächst unmittelbar gegebenen Qualitäten. Falsch dagegen ist - und darin liegt die crux des Hegelschen Idealismus, beide Momente der Bewegimg des Erkennens ineinander fallen zu lassen und schlicht als „dasselbe" auszugeben (12.251,18; V. 350). Aus diesem Ineinanderfallen folgert Hegel: a. ) Der Weg der Wissenschaft bestünde in einem in sich gesc Kreis, wo in das zimächst Erste (die vorausgesetzten Qualitäten) das daraus entwickelte Resultat „zurückgeschlimgen" (12.252,19; V. 351) sei. b. ) Die vorausgesetzten Qualitäten könnten vollständig aufg den in oder ersetzt werden durch zunächst aus den Maß-Relationen zurückkehrende qualitative Exponenten, dann durch das Wesen. („[...] dabey ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen; denn jedes einzelne Glied, als Beseeltes der Methode, ist die Reflexion in-sich, die, indem sie in den Anfang zurückkehrt, zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist" (12.252,19 ff; V. 351).) c. ) Substrat sei ein bestimmungsloses Nichts, jede Bestimmun den Prozeß. („[...] erfassen läßt [das Absolute, U. R.] sich nur durch die Vermittlung des Erkennens, von der das Allgemeine und Unmittelbare ein Moment, die Wahrheit selbst aber nur im ausgebreiteten Verlauf und im Ende ist" (12.252,5-7; V. 351).) Hegels Fehler liegt in dem Identisch-Setzen beider Momente des Erkennens, des rückwärtsgehenden Erschließens des Grundes und des vorwärtsgehenden Weiterbestimmens der unmittelbar gegebenen und vorauszusetzenden Qualitäten. Beide sind deshalb nicht identisch, weil erstens das vorwärtsgehende Weiterbestimmen nicht das rückwärtsgehende Erschließen setzt (letzteres bedarf eines heterogenen Moments, nämlich der produktiven Einbildungskraft; die produktive Einbildimgskraft muß die Maß-Relationen in bestimmter Weise ordnen und die Exponenten normieren, um dann auf das Äquivalentgewicht zu kommen; dieses ergibt sich nicht von selbst aus der Stöchiometrie) und weil zweitens das rückwärtsgehende Erschließen nicht das vorwärtsgehende Weiterbestimmen setzt (nicht jeder von der produktiven Einbildungskraft erschlossene Grund findet Maß-Relationen, mit denen er zusammenpaßt; gegenüber der auf solches Zusammenpassen zielenden experimentellen Arbeit gibt es einen Widerstand des Materials dergestalt, daß nicht jede Relation von beliebig herausgegriffenen Maßen

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qualitativen Exponenten führt, die dann noch in einem System zusammenstimmen). Hegel imterschlägt, daß für das Weiterbestimmen der zunächst urunittelbar gegebenen Qualitäten heterogene Bedingungen konstitutiv sind, die nicht auf das bloße Quantifizieren der Qualitäten, Zuordnen von Maßen, Ins-Verhältnis-Setzen zu anderen Maßen etc. zurückgeführt werden können. Diese heterogenen Bedingungen machen artifizielle experimentelle Arbeit erforderlich. Denn spezifische Maß-Relationen sind nur für reproduzierbare Zusammenhänge zu formulieren. Diese gelten nur imter standardisierten Randbedingimgen und bei identischem Versuchsarrangement und sind nur für aus dem universalen Naturzusammenhang partikularisierte Naturverhältnisse zu erreichen. Um diese Partikularisienmg, die nicht in jedem Falle gelingt imd aus aufzeigbaren Gründen auch nicht generell gelingen kann, (erstmalig) herzustellen, bedarf es einer (prinzipiell) rücht formalisierbaren Kunstfertigkeit in der experimentellen Arbeit. Die Notwendigkeit experimenteller Arbeit und deren von vomeherein imd im allgemeinen nicht sicheres Gelingen beweisen somit, daß beide Momente der Bewegung des Erkennens nicht aus demselben Zugrundeliegenden gesetzt sind, sondern daß beide Momente im Fortgang des Erkermens Heterogenes (spekulative Ideen der produktiven Einbildimgskraft, das Artifizielle der experimentellen Arbeit, das sich gegen Partikularisierung von Naturverhältnissen sperrende Material) aufeinander beziehen rmd daß am einzelnen Material geprüft werden muß, ob diese Beziehung überhaupt möglich ist. (Für Hegel steht a priori jener „in sich geschlimgene K r e i s " (12.252,18; V. 351) in der Bewegung der Momente fest.) Demgemäß sind die drei obigen Folgenmgen Hegels falsch; ihre bestimmte Negation führt auf das Richtige: a. ) Wissenschaft ist nicht „in sich geschlungene[r] Momente beziehen Heterogenes aufeinander und sind nicht durcheinander gesetzt. b. ) Die vorauszusetzenden Qualitäten sind nicht v tativen Exponenten auflösbar. (Nur werm beide Momente als identisch gesetzt werden, fallen erschlossene Voraussetzvmg imd begründetes Resultat zusammen. Beide sind vielmehr aufeinander bezogen, imd zwar so, daß dasjenige als qualitative Voraussetzung bestimmbar ist, was nicht vollständig als qualitativer Exponent zurückkehrt.) c. ) Das Verhältnis von Substrat und bestimmendem gestalt, daß in den „ausgebreiteten Verlauf" des Prozesses alle Wahrheit fiele, sondern so, daß durch die Bestimmung (durch die experimentelle Tätigkeit) dasjenige erkannt wird, was nicht im Prozeß aufgeht, sondern ZU

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was als substantiell bestimmtes und gerade nicht bestimmimgsloses Substrat zugrunde liegt. B.) So wie der „Kreislauf" nicht vollständig in sich geschlossen ist, so ist er auch nicht sich selbst bewegend. Bei Hegel geht der „Kreislauf" als logische Bewegimg von selbst; darin liegt der zweite Fehler seiner Argumentation. Denn der „Kreislauf" muß durch qualitative Zusätze in Gang gesetzt werden, d. h. durch chemische Prozesse und durch eine diese Prozesse kontrollierende experimentelle Tätigkeit. Maß-Relationen machen sich nicht von selbst, imd qualitative Exponenten finden sich nicht selbst. Beides existiert allein dann, wenn experimentelle Tätigkeit reproduzierbare Resultate erzielt, was nur imter spezifischen Bedingungen möglich ist, wenn nämlich die Ausgangssubstanzen gereinigt, die Randbedingvmgen standardisiert, die Versuchsarrangements identisch und partikulare Naturverhältnisse herauspräparierbar sind. Für Hegel verschwindet das, was den „Kreislauf" (besser: das Verhältnis beider Momente des Erkennens) erst herstellt, vollständig in der logischen Fassimg des „Kreislaufs", so daß dieser von selbst zu gehen scheint. Für die wissenschaftlichen Resultate imd damit für Maß-Relationen xmd qualitative Exponenten ist jedoch die Heterogenes vermittelnde experimentelle Arbeit konstitutiv. Davon ist der „Kreislauf" der Wissenschaft nicht imabhängig; in ihn gehen mittels der experimentellen Arbeit zusätzliche qualitative Bedingungen ein. Hegels logisches Programm, bei zugrundeliegendem bestimmimgslosem Substrat die Qualitäten durch einen Kreislauf der Bestimmung an diesem Substrat zu begründen, wird von Engels zu einem Weltmodell materialisiert. Dabei übernimmt Engels die angeführten Fehler. Substrat bei Engels ist die letztlich bestimmungslose Materie; Hegels in sich kreisender Prozeß der Bestimmung wird bei Engels zur „Bewegung", die „unzerstörbar" sei und jede Spezifikation der Materie bewirke. „Die Bewegimg der Materie aber, das ist nicht bloß die grobe mechanische, die bloße Ortsveränderung, das ist Wärme und Licht, elektrische und magnetische Spannung, chemisches Zusammengehn und Auseinandergehn, Leben und schließlich Bewußtsein"5. In dem in sich geschlossenen Kreislauf eines an sich bestimmungslosen und also nichtigen Substrats ist im Grunde alles - vom Dunstnebel bis zum menschlichen Bewußtsein - dasselbe: bewegte Materie. Allein der Prozeß er5 F. Engels: Dialektik der Natur. In: K. Marx, F. Engels: Werke. Bd. 20. Berlin 1973. 325; im weiteren zitiert als: MEW 20.325.

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zeugt die Spezifikation; es hängt von der Stufe in diesem kreislaufenden Prozeß ab, ob die Materie sich als Dvmstnebel oder als menschliches Bewußtsein bestimmt. Und wie beim idealistischen Hegel soll dieser Kreislauf von selbst gehen, was der materialistische Engels als dessen „eiserne Notwendigkeit"^ formuliert. „Es ist ein ewiger Kreislauf, in dem die Materie sich bewegt [...] ein Kreislauf, in dem jede endliche Daseinsweise der Materie, sei sie Sonne oder Dunstnebel, einzelnes Tier oder Tiergathmg, chemische Verbindung oder Trennung, gleicherweise vergänglich, und worin nichts ewig ist als die ewig sich verändernde, ewig sich bewegende Materie und die Gesetze, nach denen sie sich bewegt und verändert [...] wir haben die Gewißheit, daß die Materie in allen ihren Wandlungen ewig dieselbe bleibt, daß keins ihrer Attribute je verlorengehn kann, und daß sie daher auch mit derselben eisernen Notwendigkeit, womit sie auf der Erde ihre höchste Blüte, den denkenden Geist, wieder ausrotten wird, ihn anderswo tmd in anderer Zeit wieder erzeugen muß"7. Engels ist der offensichtlich nicht unbeträchtlichen Faszination eines nichtigen Absoluten erlegen, das aus sich mit „eiserner" Notwendigkeit den Geist ausrottet, um ihn dann wieder aus sich selbst erzeugen zu müssen. Hegel setzt rückwärtsgehendes Erschließen des Grundes und vorwärtsgehendes Weiterbestimmen der unmittelbar gegebenen Qualitäten in eins; damit wäre die vorausgesetzte Qualität als Resultat aus Maß-Relationen begründet. Dem ist die chemische Einsicht entgegenzuhalten: Die besonderen Qualitäten (d. h. die spezifischen Eigenschaften von Elementen und Verbindungen) sind Voraussetzimgen, um Maß-Relationen aufstellen und Exponenten bestimmen zu können. Eine Substanz ist nicht direkt durch Anschauung als spezifische bestimmbar, sondern kann nur durch den Prozeß (ihre Reaktionen) charakterisiert werden. Aber diese Charakterisierung im Prozeß erfolgt nicht bloß quantitativ (vermittels Maßgrößen), sondern insbesondere auch qualitativ, und die Charakterisierung mittels Maßgrößen ist auf die qualitative Charakterisierung verwiesen. Maßgrößen (qualitative Exponenten von Maß-Relationen) lassen sich zu Qualitäten zuordnen, aber die Qualitäten verschwinden nicht in den sie bestimmenden MaßRelationen imd Exponenten dieser Relationen. Und die Differenz von Voraussetzung imd Resultat verschwindet nicht im Prozeß der Bestimmung. 6 R Engels: Dialektik der Natur. A. a. 0.327. 7 F. Engels: A. a. O.

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Insofern nun solches Selbstständiges mit einer Reihe von Selbstständigen eine Reihe von Exponenten bildet, scheint es zunächst von einem andern ausser dieser Reihe selbst, mit welchem es verglichen wird, dadurch unterschieden zu seyn, daß dieses eine andere Reihe von Exponenten mit denselben Gegenüberstehenden macht. Aber auf diese Weise wären diese beyden Selbstständigen nicht vergleichbar, insofern jedes so als Einheit gegen seine Exponenten betrachtet wird, xmd die beyden aus dieser Beziehung entstehenden Reihen unbestimmt andere sind. Die beyden, die als Selbstständige verglichen werden sollen, sind zunächst gegen einander nur als Quanta unterschieden; ihr Verhältniß zu bestimmen, bedarf es selbst einer gemeinschaftlichen fürsichseyenden Einheit. Diese bestimmte Einheit ist nur in dem zu suchen, worin die zu vergleichenden, wie gezeigt, das specifische Daseyn ihres Maaßes haben, also in dem Verhältniße, das die Verhältnißexponenten der Reihe zu einander haben. Diß Verhältniß der Exponenten selbst ist aber nur so für sichseyende, in der That bestimmte Einheit, als die Glieder der Reihe dasselbe, als ein constantes Verhältniß unter einander, zu beyden haben; so kann es ihre gemeinschaftliche Einheit seyn. In ihr also liegt allein die Vergleichbarkeit der beyden Selbstständigen, die als sich nicht mit einander neutralisirend, sondern als gleichgültig gegen einander angenommen wurden. Jedes abgesondert ausserhalb der Vergleichimg ist die Einheit der Verhältniße mit den gegenüberstehenden Gliedern, welche die Anzahlen gegen jene Einheit sind, somit die Reihe von Exponenten vorstellen. Diese Reihe ist dagegen umgekehrt die Einheit für jene beyden, die verglichen miteinander, Quanta gegeneinander sind; als solche sind sie selbst verschiedene Anzahlen ihrer so eben aufgezeigten Emheit.

Eine festgelegte Menge Schwefelsäure bildet mit den Basen Natronlauge, Kalk, Magnesia und Ammoniak „eine Reihe von Exponenten" (die Verhältniszahlen für die jeweiligen stöchiometrischen Mengenverhältnisse). Zugnmde liegt jeweils eine bis zum Äquivalenzpunkt durchgeführte Neutralisationsreaktion. Mit „einem andern [Selbständigen, U. R.] ausser dieser Reihe", nämlich mit z. B. Salpetersäure, reagiert das erste Selbständige (die festgelegte Menge Schwefelsäure) nicht in einer Neutralisationsreaktion; beide können lediglich „verglichen" werden. Stillschweigend geht hier als Voraussetzung in die logische Argumentation der chemische Sachverhalt ein, daß die „Selbstständigen"

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„ausser dieser Reihe" (Schwefelsäure und Salpetersäure) nicht miteinander (in einer Neutralisationsreaktion) reagieren, daß sie aber durch ihre Reaktionen mit einer gemeinsamen Reihe von „Gegenüberstehenden" (Basen) verglichen werden körmen. Der im chemischen Verhalten gegründete Unterschied (einmal neutralisiert eine Säure die Basen, zum anderen wird diese Säure mit anderen Säuren mittels ihrer Neutralisationsreaktionen verglichen) erscheint in Hegels logischer Argumentation als nicht weiter begründeter Unterschied von „reeller Vergleichung [...] durch sich selbst" imd schlichtem „Vergleichen". Mit letzterem kehrt das äußerliche Vergleichen des vorherigen Abschnitts (Vergleichen der Quanta für das spezifische Gewicht) zurück, aber jetzt so - und deshalb ist es kein Rückfall -, daß es die „reelle Vergleichimg" als Moment enthält: Nur auf der Gnmdlage der „reellen Vergleichimg" (der chemischen Reaktion) kann verglichen werden. Denn das, was verglichen wird, sind die niu: auf der Grundlage der chemischen Reaktionen formulierbaren Reihen der Exponenten. Ist das Qualitative des Selbständigen (z. B. der festgelegten Menge Schwefelsäure) als die Reihe der Exponenten (und genauer: als „das Verhältniß solcher Reihe innerhalb ihrer") bestimmt, darm besteht der qualitative Unterschied zwischen Salpetersäure imd Schwefelsäure im quantifizierbaren Unterschied ihrer jeweiligen Reihen. (Salpetersäure bildet „eine andere Reihe von Exponenten mit denselben Gegenüberstehenden" - denselben Basen, die den zu vergleichenden Säuren gegenüberstehen.) „Aber auf diese Weise wären diese beyden Selbstständigen nicht vergleichbar", derm beide werden als dieselbe Einheit (als Einheit für das chemische Demonstrationsbeispiel wird im folgenden 1000 g angenommen) gegen ihre jeweilige Reihe der Exponenten betrachtet. Ein Vergleich der beiden Selbständigen setzte voraus, daß sie als Verschiedene auf ein und denselben außer ihnen liegenden Maßstab bezogen werden würden. Hier aber werden die beiden Selbständigen als dieselben 1000 g betrachtet, und dann sind die jeweils auf diese 1000 g bezogenen Reihen „imbestimmt andere". Denn das Selbständige ist noch nicht als fürsichseiende Einheit bestimmt, sondern durch äußerliche Festsetzung willkürlich als dasselbe Quantum angenommen. Und die Zahlenreihen der Exponenten, weil auf ein äußerlich festgesetztes und nicht an sich bestimmtes Quantum bezogen, sind veränderliche Reihen von Quanta: Sie körmen mit beliebigen Faktoren multipliziert werden. So sind diese Reihen nicht bestimmt gegeneinander, sondern „unbestimmt andere"; ihre quantitative Verschiedenheit liegt in einer äußerlichen Festsetzung begründet, nicht aber in dem, was an qualitativer Bestimmung schon

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erreicht ist, nämlich dem Verhältnis der Reihe, das diese in ihr selbst hat. Dieses Verhältnis der Reihe „innerhalb ihrer" ist die neue qualitative (imd nicht mehr äußerlich bestimmte) Einheit, die einen spezifizierenden Vergleich der beiden Selbständigen erst möglich macht. „Die beyden, die als Selbstständige verglichen werden sollen, sind zimächst gegen einander nur als Quanta imterschieden" - die zu vergleichenden Schwefelsäure imd Salpetersäure sind zimächst verschiedene Quanta, und die auf jeweils 1000 g bezogenen Reihen von Exponenten sind ebenfalls verschiedene Quanta. Um das spezifische Verhältnis von Schwefelsäure und Salpetersäure zu bestimmen, „bedarf es selbst einer gemeinschaftlichen fürsichseyenden Einheit"; gemeinschaftlichen Einheit insofern, als ein für alle Säuren gemeinschaftlicher Maßstab vorliegt, der die besonderen Säuren als Anzahlen dieser gemeinschaftlichen Einheit ausdrückt; fürsichseiende Einheit insofern, als der gemeinschaftliche Maßstab als Resultat aus den Relationen von sehr vielen (tendenziell unendlich vielen) besonderen Säuren zur feststehenden Reihe der Basen zurückkehrt. Denn nur der Vergleich der Exponentenreihen für sehr viele Säuren ermöglicht die Entdeckimg, daß diesen Reihen ein konstantes Verhältnis zugrunde liegt: das Verhältnis der Äquivalentgewichte der Basen (40 : 28 : 20 : 35 im Beispiel). Die „zu vergleichenden" Säuren haben ihre „bestimmte Einheit" in dem aus den MaßRelationen zurückgekehrten Qualitativen, dem „specifischen Dase)m ihres Maaßes" (dem Verhältnis der Exponenten). Dieses Verhältnis der Exponenten ist ein „constantes Verhältniß unter einander", und zwar für „beyde" Säuren (für alle Säuren); „so kann es ihre gemeinschaftliche Einheit se)m". Weil dieses Verhältnis ein quantitatives ist, enthält es als Momente (21. 312,6 ff; IV. 392) die Einheit (für alle Säuren existiert dasselbe konstante Zahlenverhältnis der Exponenten; für dieses Verhältnis kann eine Einheit angenommen werden, nämlich das Verhältnis der Äquivalentgewichte der Basen, wobei deren Zahlenwerte nicht absolut bestimmt sind; das bestimmte konstante Zahlenverhältnis für alle Säuren drückt die Qualität ,Säure schlechthin' aus) und die Anzahl (in einer Proportion können Zähler und Nenner mit demselben Faktor multipliziert werden, ohne daß sich ihr Wert ändert; wenn das Verhältnis der Exponentenreihe, das diese innerhalb ihrer selbst hat, das zurückgekehrte Qualitative ausmacht und wenn dieses Verhältnis als direktes quantitatives die „Einheit [seiner, U. R.] beyden Momente, der Einheit und der Anzahl" (21. 313, 23 f; IV. 393) ist, dann macht die Anzahl die spezifische Qualität der besonderen Säure aus, also das, was zu ,Säure schlechthin' hinzukommt; man muß die Einheit (das Verhältnis der

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Äquivalentgewichte der Basen) mit einem Faktor multiplizieren, um die äquivalenten Mengen der Basen zu erhalten, die 1000 g einer besonderen Säure neutralisieren; dieser Faktor (die Anzahl) gibt an, wieviele Male das Äquivalentgewicht der Säure in 1000 enthalten ist). „Abgesondert ausserhalb der Vergleichimg" mit einer anderen Säure „ist die Einheit der Verhältniße mit den gegenüberstehenden Gliedern" (also mit den Basen) die (herausgegriffene) Zahl 1000; die Anzahlen 635,445, 318,556 stellen die Reihe von Exponenten vor, und zwar als „Anzahlen gegen jene Einheit", weil sie abhängig davon (quantitativ veränderlich) sind, welche Zahl als Einheit genommen wird. Bei der Vergleichimg mit einer anderen Säure hingegen fällt die Einheit auf die Seite der gegenüberstehenden Reihe; diese Reihe ist gemeinschaftliche Einheit für beide Säuren imd ermöglicht deren Vergleich als verschiedene „Quanta gegeneinander", „als solche [Quanta, U. R.] sind sie [die jetzt spezifizierten Mengen Salpetersäure bzw. Schwefelsäure, U. R.] selbst verschiedene Anzahlen ihrer so eben aufgezeigten Einheit". Nimmt man als Einheit die Proportion der Zahlenwerte 40 : 28 : 20 : 35 (die Äquivalentgewichte der Basen) an, so lauten die Anzahlen für Salpetersäure 63, für Schwefelsäure 49 (= deren Äquivalentgewichte).

Diejenigen aber ferner, welche mit den gegenüber stehenden imter sich verglichenen beyden oder vielmehr Vielen überhaupt, die Reihe der Exponenten des Verhaltens derselben abgeben, sind an ihnen selbst gleichfalls Selbstständige, jedes ein specifisches Etwas von einem ihm an sich zuständigen Maaßverhältrüß. Sie sind insofern gleichfalls jedes als Einheit zu nehmen, so daß sie an den erst genannten unter sich bloß verglichenen Beyden oder vielmehr unbestimmt Mehrern eine Reihe von Exponenten haben, welche Exponenten die Vergleichungszahlen der so eben genannten unter sich sind; so wie die Vergleichungszahlen der nun einzeln auch als selbstständig genommenen unter sich gleichfalls umgekehrt die Reihe der Exponenten für die Glieder der ersten Reihe sind. Beyde Seiten sind auf diese Weise Reihen, in denen jede Zahl erstens Einheit überhaupt ist gegen ihre gegenüber stehende Reihe, an der sie ihr Fürsichbestimmtseyn als eine Reihe von Exponenten hat; z w e y t e n s ist sie selbst einer der Exponenten für jedes Glied der gegenüberstehenden Reihe; und drittens Vergleichungszahl zu den übrigen Zahlen ihrer Reihe, und hat als solche Anzahl, die ihr auch als Exponent zukommt, ihre für-sich-bestimmte Einheit an der gegenüber stehenden Reihe.

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„Die Reihe der Exponenten des Verhaltens derselben" - das ist, bezogen auf die Einheit 1000, die Reihe der Anzahlen 816, 572, 408, 714 für das „Verhalten" der Schwefelsäure. Das Verhältnis dieser Anzahlen untereinander macht das Qualitative der Schwefelsäure aus. Für die verglichene Salpetersäure ergibt sich dasselbe Verhältnis, nur eben in den anderen Quanta 635, 445, 318, 556 ausgedrückt. Die Basen, die diese Reihe der Exponenten mit den beiden Säuren bilden, sind „an ihnen selbst gleichfalls Selbstständige, jedes ein specifisches Etwas von einem ihm an sich zuständigen Maaßverhältniß". Chemische Objekte sind wesentlich „gegen einander negative imd gespannte Objectivitäten" (12. 147, 11 f; V. 200). Sie enthalten denselben Begriff, die irmere Totalität der auf die entgegengesetzten Objekte verteilten Bestimmtheiten. Im chemischen Prozeß werden die realen Unterschiede der Objekte in der dem Begriffe (der in beiden Objekten derselbe ist) gemäßen Vereinigung aufgehoben. Dasselbe (nämlich Neutralisation) findet an den polar Entgegengesetzten statt: Dadurch, daß die Base die Säure neutralisiert, wird sie selbst durch die Säure neutralisiert. (Um auszudrücken, daß die Entgegengesetzten durch ein und denselben Prozeß, der an beiden stattfindet, verknüpft sind, sprechen Chemiker von Säure-Base-Reaktion.) Somit folgt für die den chemischen Objekten zugeordneten Maße: Äquivalente neutralisieren einander, d. h. wenn 1000 g Schwefelsäure durch 816 g Natronlauge neutralisiert werden, dann werden auch 816 g Natronlauge durch 1000 g Schwefelsäure neutralisiert. (Unabhängig davon, ob mit der Säure oder mit der Base angefangen wird, ergeben sich dieselben stöchiometrischen Maßverhältnisse.) Und die bisher erreichte Spezifikation des selbständigen Maßes, das zurückgekehrte Qualitative als Verhältnis der Reihe der Exponenten, ist zugleich am Gegenüberstehenden (dem entgegengesetzten chemischen Objekt) gesetzt, d. h. weim die Schwefelsäure durch ihre Maßverhältnisse und Exponenten für die Neutralisationsreaktionen mit verschiedenen Basen charakterisiert werden karm, dann kann auch die Natronlauge durch ihre Maßverhältnisse und Exponenten für die Neutralisationsreaktionen mit verschiedenen Säuren charakterisiert werden. Die bisherige Bestimmimg des selbständigen Maßes durch die Reihe der Exponenten wird rückwärts imd gespiegelt gelesen: Was bisher Exponent war, ist jetzt Selbständiges, das durch eine Reihe von Exponenten bestimmt wird, die bisher die verglichenen Selbständigen waren. Daß die bisherige Bestimmung des selbständigen Maßes durch die gegenüberstehende Exponentenreihe bei diesen Exponenten selbst wie im Spiegel auftaucht, ist durch die angeführte Eigenschaft des

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chemischen Prozesses begründet, dasselbe (Neutralisation) an den Entgegengesetzten zu setzen. Ebenso wie für die Entwicklung des Qualitativen in der Exponentenreihe so hier für den Übergang zum Äquivalentgewicht ist der chemische Prozeß imterstellt. „Sie [die selbständigen Maße für die Basen, U. R.] sind insofern gleichfalls jedes als Einheit zu nehmen" (also 1000 g Natronlauge), und dann bilden die vorher „unter sich bloß verglichenen Beyden [Schwefelsäure imd Salpetersäure, U. R.] oder vielmehr unbestimmt Mehrern [weitere Säuren wie Salzsäure, Oxalsäure, Bemsteinsäure etc., U. R.] eine Reihe von Exponenten" (1225 g Schwefelsäure, 1575 g Salpetersäure, 900 g Salzsäure etc.), deren Verhältnis imtereinander das Qualitative der Natronlauge ausmacht. Nur wenn als Einheit nicht 1000 g, sondern das Äquivalentgewicht der Natronlauge (40) genommen wird, stimmen die Exponenten zu einem System zusammen, was im nächsten Satz schon unterstellt ist. Nur zur Einheit 40 g Natronlauge sind die Quanta, die jetzt die Exponentenreihe für die Natronlauge bilden, zuvor „die Vergleichungszahlen" der Säuren untereinander gewesen (49 für Schwefelsäure, 63 für Salpetersäure, 36 für Salzsäure). Und nur die normierten Quanta 40, 28, 20, 35, die zuvor die Exponentenreihe für die den Basen gegenüberstehenden Säuren bildeten, ergeben sich unmittelbar als die Vergleichimgszahlen von Natronlauge, Kalk, Magnesia und Ammoniak. Jede solche normierte, einem selbständigen Maß zugeordnete Zahl (z. B. 40 zu Natronlauge) ist „erstens Einheit [...] gegen ihre gegenüber stehende Reihe, an der sie ihr Fürsichbestimmtseyn als eine Reihe von Exponenten hat"; die Natronlauge hat ihr „Fürsichbestimmtseyn" in der Reihe der Äquivalentgewichte der Säuren (im Verhältrüs 49 : 63 : 36) und ist zu dieser Reihe Einheit. „Zweytens ist sie [die normierte Zahl, U. R.] selbst einer der Exponenten für jedes Glied der gegenüberstehenden Reihe" (für jede der gegenüber stehenden Säuren, und zwar jetzt deren Äquivalentgewichte als Einheit genommen). „Drittens [ist jene normierte Zahl, U. R.] Vergleichungszahl zu den übrigen Zahlen ihrer Reihe", d. h. zu den übrigen Exponenten in der Reihe der Basen (zu 28, 20, 35). Fallen Einheit, Exponent imd Vergleichungszahl in demselben Quantum zusammen, darm sind die Quanta zu einem System zusammengeschlossen. Bezöge man die neutralisierenden Reihen jeweils auf 1000 g einer besonderen Säure bzw. Base als Einheit, dann gäbe es für denselben Exponenten verschiedene Zahlenwerte in Abhängigkeit von derjenigen Säure bzw. Base, die gerade als Einheit fungierte. Auf diese Weise erhielte man lediglich zu jeweils einer Säure (Base) zugeordnete verschiedene Reihen, die imter-

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einander aber nicht zu einem System zusammenstiimnten. Mit dem Zusammenfallen von Exponent imd Vergleichungszahl gibt Hegel die Normierungsbedingtmg an: Für eine Säure müssen der Zahlenwert in Gramm, der die gegenüberstehende Reihe der Basen neutralisiert, imd diejerüge Menge, die verglichen mit den Mengen anderer Säuren eine herausgegriffene Base neutralisiert, in demselben Quantum zusammenfallen. Daß überhaupt normiert werden kann, folgt nicht von selbst aus dem Aufstellen der Exponentenreihe, sondern läßt vielmehr auf einen logisch nicht deduzierbaren chemischen Sachverhalt schließen, die atomare Struktur der Materie. Hegel verstellt sich die Erkenntnis dieses Sachverhaltes, der den Chemikern seiner Zeit gerade erst klar wurde, dadurch, daß er nicht nach dem Grund für die Möglichkeit der Normienmg fragt. Und er fragt nicht, weil in seiner das chemische Beispiel lediglich als Modell zulassenden logischen Entwicklung Exponent imd Vergleichimgszahl quasi von selbst zusammenzufallen scheinen. In der Geschichte der Chemie ist der von Hegel beschriebene Normierungsschritt 1802 von Fischer für die von Richter vorgelegten Reihen vollzogen worden^. Richter hatte verschiedene Neutralisationsreihen für die Säuren in Bezug auf dieselbe Menge einer bestimmten Base und andere Reihen für die Basen in Bezug auf dieselbe Menge einer bestimmten Säure aufgestellt. Fischers Normierung der Richterschen Messungen ermöglichte die Zuordnung eines einzigen Zahlenwerts zu einer Säure bzw. Base. Die so zugeordneten Zahlenwerte in Gramm geben die Mengen der jeweiligen Säuren bzw. Basen an, die sich neutralisieren. Damit waren die Äquivalentgewichte gefunden^. Anzumerken bleibt, daß Hegels logische Deduktion des Äquivalentgewichts dem historischen Weg von dessen Entdeckung folgt: Es wurde erstmals anhand der (normierten) Neutralisationsreihen aufgefunden. Doch die historischen Gründen geschuldete Beschränkung auf die besondere Neutralisationsreaktion erwies sich systematisch als unnötig. Gerade weil die Stoffe durch vielfältige Reaktionen miteinander vernetzt sind, konnten ihre Äqitivalentgewichte immer genauer ermittelt werden. Für den systematischen Wert von Hegels Argumentation ist es iiüßlich, daß sie den besonderen historischen Weg (= die Neutra* E. G. Fischer: Anmerkung zu CI. L. Berthollet: Über die Gesetze der Verwandtschaft. Berlin 1802.229-235. 9 vgl. H. Kopp: Geschichte der Chemie. Bd. n. Braimschweig 1844 (Reprint Hildesheim 1966). 364.

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lisationsreaktion) wesentlich einbezieht: die polar entgegengesetzten Säure und Base, die gegenüberstehenden Reihen, den Unterschied zwischen Reaktion mit den Gegenüberstehenden (reelle Vergleichung durch sich selbst) und Vergleich der jeweils auf derselben Seite Stehenden (durch den stöchiometrischen Ausdruck ihrer Reaktion mit denselben Gegenüberstehenden). Die Hegels Argumentation vorantreibende Besonderheit der Neutralisationsreaktion wird durch die von Hegel abgelehnte Atomtheorie aufgeklärt: Den verschiedenen Neutralisationsreaktionen liegt dieselbe gemeinsame Reaktion (H+ + OHH2O) zugrunde; die gegenüberstehenden Reihen (der Säuren bzw. der Basen) enthalten dasselbe elementare Teilchen (H+ bzw. OH-); die auf derselben Seite Stehenden (die Säuren oder die Basen) können durch ihre Neutralisationsreaktionen verglichen werden; die sich ergebenden stöchiometrischen Mengen beider Reihen verhalten sich wie die Äquivalentgewichte. 3. In diesem Verhalten ist die Art und Weise wiedergekehrt, wie das Quantum als fürsichseyend, nemlich als Grad gesetzt ist, einfach zu seyn, aber die Grössebestimmtheit an einem ausser ihm seyenden Quemtum, das ein Kreis von Quantis ist, zu haben. Im Maaße aber ist diß Aeusserliche nicht bloß ein Quantum und ein Kreis von Quantis, sondern eine Reihe von Verhältnißzahlen, und das Ganze derselben ist es, worin das Fürsich-bestimmtseyn des Maaßes liegt. Wie beym Fürsichseyn des Quantums als Grad der Fall ist, hat in diese Aeusserlichkeit seiner selbst sich die Natur des selbstständigen Maaßes verkehrt.

Das Quantum ist begrenzte Quantität und durch seine Grenze bestimmt. Diese Grenze enthält das Eins als Moment (insofern ist das Quantum einfache Bestimmt-heit), ist aber zugleich „in sich selbst mannichfaltig gesetzt" (21. 194, 18 f; IV. 243), d. h. ein Vielfaches an ihr selbst (insofern ist das Quantum durch die Anzahl bestimmt). So ist das Quantiun „extensive Größe" (21. 208, 17; IV. 262). Diese umschließt eine Menge von numerischen Eins und hat damit „die Aeusserlichkeit, die Beziehung-auf-anderes innerhalb ihrer selbst" (21. 209, 23; IV. 263). Weil aber die Vielen, die als Grenze die extensive Größe bestimmen, nicht in sich ungleich sind, fallen sie in ihre Ununterschiedenheit zusammen und werden einfache Einheit. Damit ist die Anzahl in einer neuen, fürsichseienden Beziehung auf sich selbst aufgehoben: Die extensive Größe geht in die intensive Größe, den Grad,

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Über. Während die extensive Größe die numerische Vielheit als eine ihr äußerliche Anzahl innerhalb ihrer enthält, ist diese Äußerlichkeit in der einfachen, fürsichseienden Bestimmtheit des Grades verschwunden. Der Grad hat die Anzahl außer ihm „und bezieht sich darauf als auf seine Bestimmtheit" (21.211,8 f; IV. 265). Indem der Grad als Beziehung auf sich selbst gesetzt ist, schließt er die „Gleichgültigkeit und Aeusserlichkeit der Anzahl [in dieser Weise befindet sich die numerische Vielheit in der extensiven Größe, U. R.] aus sich aus, und ist Beziehung auf sich als Beziehung durch sich selbst auf ein Aeusserliches" (a. a. O.). Soweit die Bestimmung des Grades aus dem Zweyten Abschnitt der Wissenschaft der Logik. Hegel hat den Grad in den an der zu kommentierenden Stelle entwickelten Übergang zum „Fürsich-bestimmtse5m des Maaßes" eingearbeitet. In der ersten Fassung (11,209) der Passage fehlt der Hinweis auf die Wiederkehr des Grades (xmd es fehlen alle Formulierungen, die ,Fürsichsein' enthalten). Mit der Wiederkehr des Grades wird die Argumentation ,logischer', d. h. gegen den von Hegel offensichtlich gesehenen Einwand abgedichtet, sie sei lediglich Be- oder Umschreibung des zugrundeliegenden chemischen Modells, des Übergangs zum Äquivalentgewicht. Das Äquivalentgewicht ist „einfaches“, zu einer Substanz zugeordnetes Quantum. Dieses Quantum ist nicht extensives Quantum, nicht „Menge, oderMehreres innerhalb seiner selbst" (21.210,13 f; rV. 264) (das als relative Größe bestimmte Äquivalentgewicht setzt sich nicht als Summe aus numerischen Einzelnen zusammen, sein Zahlenwert ist von der Normierung abhängig), sondern es ist Grad, hat „seine Bestimmtheit in dem Mehrern ausser ihm" (21. 215, 10 f; IV. 269) (das Äquivalentgewicht einer Säure hat ihr „Fürsichbestimmtseyn" in der ihr gegenüberstehenden Reihe von Exponenten für die Basen). Und das Äquivalentgewicht ist wie der Grad „fürsichseyendes" Quantum: Während die extensiven Quanta imtereinander beziehimgslos tmd gegeneinander gleichgültig sind, weil sie die ihnen äußerliche Anzahl innerhalb ihrer enthalten, ist der Grad durch die Beziehung auf die Anzahl anderer außer ihm befindlicher Grade bestimmt. Und analog ist das Äquivalentgewicht „einfaches", „fürsichseyendes" Quantum dadurch, daß es durch sich selbst sich auf die außerhalb seiner gesetzte Anzahl der Exponenten, d. h. auf die gleichfalls als Grade bestimmten Äquivalentgewichte der gegenüberstehenden Reihe, bezieht (vgl. 21. 211; IV. 265). Damit ist der Unterschied von spezifischem Gewicht tmd Äquivalentgewicht richtig beschrieben (die Quanta für das spezifische Gewicht sind gegeneinander gleichgültige Zahlen, ihre Vergleichung fällt

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in die „äusserliche Reflexion" (21.195,18; IV. 245)). Aber das, was den Unterschied ausmacht (das Äquivalentgewicht hat sein Fürsichbestimmtsein durch seine Beziehung auf die Reihe von Exponenten), ist nicht hinreichend durch den Grad gefaßt, denn die das Äquivalentgewicht bestimmende „Beziehung durch sich selbst auf ein Aeusserliches" (21. 211, 14 f; IV. 265) ist nur im chemischen Prozeß spezifizierend, der deshalb konstitutiv für das „Fürsich-bestimmtseyn im Maaße" ist. Als Beispiel für die intensive Größe dient Hegel das Winkelmaß „Grad". Ein Grad ist der 360te Teil des Gesamtwinkels eines Kreises. Insofern der Grad als Teil bestimmt ist, hat er „seine Bestimmtheit in dem Mehrern ausser ihm" imd ist als einer von der „geschlossenen Anzahl" 360 bestimmt (21.215,11; IV. 269). „Im Maaße aber ist dieß Aeußerliche [worin das „Fürsich-bestimmtseyn" liegt, U. R.] nicht bloß ein Quantum und ein Kreis von Quantis, sondern eine Reihe von Verhältnißzahlen [das „quantitative Verhältniß" aus dem dritten Kapitel des Zweyten Abschnitts ist wiedergekehrt, U. R.], und das Ganze derselben ist es, worin das Fürsich-bestimmtseyn des Maaßes liegt". Jede Substanz kann im Prinzip mit allen anderen reagieren. Weil immer noch neue Substanzen als Reaktionspartner hinzukommen können, ist die Reihe der Exponenten nicht abgeschlossen. In dem „Ganzen" der Reihe (die Exponenten aller mit einer Substanz A reagierenden Substanzen bilden einen Kreis; durch die Beziehung auf diesen ist das Äquivalentgewicht von A bestimmt) liegt das „Fürsich-bestimmtseyn des Maaßes", genauer: im Verhältnis der Exponenten in ihrer Reihe untereinander liegt das Fürsichbestimmtsein, oder: dieses Verhältnis ist „für-sich-bestimmte Einheit" für A, welche Einheit außerhalb von A liegt imd auf die bezogen das Quantum für A (das Äquivalentgewicht) eine intensive Größe ist. Etieses das neue Maß ausdrückende Quantum ist einfache Größenbestimmtheit (eine einfache Verhältniszahl, das Äquivalentgewicht wird relativ angegeben) und ist „einfache Größenbestimmtheit unter einer Mehrheit" (21. 211, 18 f; IV. 265) solcher intensiven Größen (das Äquivalentgewicht von A steht in einer „Scale" (a. a. O.) von Äquivalentgewichten). Anzumerken bleibt, daß mit der Bestimmimg des „Fürsich-bestimmtseyns des Maaßes" als Grad die bisher die Argumentation prägende Besonderheit der Neutralisationsreaktion (zwei gegenüberstehende Reihen, wobei die Entgegengesetzten miteinander reagieren, während die auf derselben Seite Stehenden verglichen werden) zurückgedrängt wird. Als intensive Größe bezieht sich das Äquivalentgewicht auf alle möglichen Äquivalentgewichte, auch wenn die

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jeweiligen Stoffe nicht in einer Neutralisationsreaktion verknüpft sind. „Wie beim Fürsichseyn des Quantums als Grad der Fall ist [beim Übergehen vom extensiven zum intensiven Quantum, U. R.], hat in diese Aeußerlichkeit seiner selbst [die Beziehung des Grades auf sich ist zugleich das „Sich-Aeusserlichse5m desselben" (21. 211, 2; IV. 265), U. R.] sich die Natur des selbständigen Maaßes verkehrt [das Äquivalentgewicht hat seine Bestimmtheit in der (durch chemische Reaktion spezifizierten) Beziehung auf andere Äquivalentgewichte, U. R.]". Wie der Grad auf die „geschlossene Anzahl" (21.215,11; IV. 269) von Graden so ist das Äquivalentgewicht auf das System der quantitativen Maß-Relationen verwiesen. Es hat in diesem System seine Bestimmtheit und enthält so implizit die Totalität aller gesetzmäßigen Relationen (d. h. der Maß-Relationen für die Reaktionen der zu bestimmenden Substanz mit allen anderen Substanzen). Das Äquivalentgewicht wird durch ein einfaches intensives Quantum ausgedrückt, das seine Bestimmtheit in dem System der Maß-Relationen imd damit in der Beziehung auf die anderen Äquivalentgewichte hat. Diese Beziehung ist nicht hinreichend durch die Wiederkehr des Grades begründet, sondern setzt den chemischen Prozeß voraus, der seinerseits qualitativ verschiedene Substanzen voraussetzt. Diese Voraussetzung fällt nicht vollständig mit dem aus dem System der Relationen entwikkelten Resultat, dem „Fürsich-bestimmtse)m des Maaßes", zusammen. Gerade in der Bestimmung der Voraussetztmg durch die neue intensive Maßgröße erweist es sich, daß die Differenz von vorausgesetzter Substanz imd resultierender Maßgröße nicht gelöscht werden kann, sondern in dem „in sich geschlungenen Kreis" (12. 252,18; V. 351) von vorwärtsgehendem Weiterbestimmen imter Voraussetzung der Substanzen und rückwärtsgehendem Erschließen von deren Gnmd immer wieder auftaucht. Hegel arbeitet die Wiederkehr des Grades nun nicht in schematischer Weise in den Übergang zum „Fürsich-bestimmtseyn des Maaßes" ein. Denn sonst hätte er die von ihm im Zweyten Abschnitt aufgezeigte (21. 212, 8 ff; rV. 265) „Identität der extensiven und intensiven Größe" mechanisch übertragen, d. h. das intensive Quantum Äquivalentgewicht zugleich als extensives gefaßt. Ein solches enthielte dann eine „Mehreres innerhalb seiner selbst", die Äquivalentgewichte wären interpretierbar als Atom bzw. Molekulargewichte, die sich aus der Summe von Gewichtseinheiten (Protonen) zusammensetzen.

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Seine Beziehung auf sich ist zunächst als unmittelbares Verhältniß, und damit besteht sogleich seine Gleichgültigkeit gegen anderes nur in dem Quantum. In diese Aeusserlichkeit fällt daher seine qualitative Seite, und sein Verhalten zu anderem wird zu dem, was die specifische Bestimmimg dieses Selbstständigen ausmacht. Sie besteht so schlechthin in der quantitativen Art und Weise dieses Verhaltens, und diese Art imd Weise ist so sehr durch das Andere als durch es selbst bestimmt, und diß Andere ist eine Reihe von Quantis, und es selbst gegenseitig ein solches.

Das die Substanz A bestimmende neue Maß hat seine „für-sich-bestimmte Einheit an der gegenüber stehenden Reihe" der Exponenten. Diese Einheit (das Verhältnis der Exponenten der Basen, die dieselbe Menge Säure neutralisieren) ist „gemeinschaftliche Einheit" für alle zu Vergleichenden (für alle Säuren). Das das neue Maß ausdrückende Quantum (oder die Anzahl) ist auf diese außerhalb seiner befindliche Einheit bezogen und durch sie als intensives Quantum oder Grad bestimmt. Dieses so spezifizierte Quantum unterscheidet die vorausgesetzten Substanzen gegeneinander. (Der Unterschied der Substanzen Schwefelsäure imd Salpetersäure karm durch eine spezifizierte Maßgröße, nämlich die Quanta für die Äquivalentgewichte, dargestellt werden; deren Einheit ist dieselbe: das Verhältnis der Exponenten für die Basen.) „In diese Aeusserlichkeit seiner selbst [hat, U. R.] sich die Natur des selbständigen Maaßes verkehrt" - es ist ein intensives Quantum, bestimmt durch die außerhalb des selbständigen Maßes befindliche „für-sich-bestimmte Einheit". Weil diese Einheit, in der das „Fürsichbestimmtse5m" der neuen Maßgröße liegt, für alle zu Vergleichenden (für alle Säuren) dieselbe ist, fällt die qualitative, d. i. die die verschiedenen Säuren unterscheidende Seite in das Quantum für das Äquivalentgewicht. Dieses ist ein „unmittelbares Verhältniß", d. h. die zu einer zunächst willkürlich festgelegten Menge Base ins Verhältnis gesetzte äquivalente Menge der zu charakterisierenden Säure. In diesem Verhältnis wird dies äquivalente Quantum durch die äußerliche Einheit der Basenreihe und vermittels eines Normierungsschrittes zum Äquivalentgewicht spezifiziert. „Seine Gleichgültigkeit gegen anderes [besteht, U. R.] nur in dem Quantum. In diese Aeusserlichkeit fällt daher seine qualitative Seite [...]". Hegel übernimmt hier für das Äquivalentgewicht die Gleichgültigkeit der Bestimmtheit des Grades aus dem Zweyten Abschnitt: „Die Gleichgültigkeit der Bestimmtheit

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macht seine [des Grades, U. R.] Qualität aus; d. i. die Bestimmtheit, die an ihr selbst als die sich äusserliche Bestimmtheit ist" (21.211,16-18; IV. 265). Das als „unmittelbares Verhältniß" (d. h. relativ) angegebene Äquivalentgewicht soll für die Substanz Schwefelsäure spezifizierend sein. Es ist „sich äußerliche Bestimmtheit", weil das Quantum auf die außerhalb befindliche Einheit der Basenreihe bezogen imd damit Grad ist. So ist das „unmittelbare Verhältniß" (die Zahl für das Äquivalentgewicht der Schwefelsäure) gleichgültiges Quantum gegen ein anderes Quantum (die Zahl für das Äquivalentgewicht der Salpetersäure), das gleichfalls als Grad und als bezogen auf dieselbe äußerliche Einheit bestimmt ist. Der Unterschied der Substanzen Schwefelsäure imd Salpetersäure wird durch die neue Maßgröße ,Äquivalentgewicht' spezifisch bestimmt: Es ist der Unterschied der Quanta 49 und 63. Als solche Zahlen sind die neuen Maßgrößen gleichgültig gegeneinander. Mit dem Grad ist dessen Beziehung auf die außer ihm befindliche Einheit und die anderen Grade gesetzt. Deshalb - so Hegel - wird das „Verhalten [des selbständigen Maßes, bestimmter: des Quantums für das Äquivalentgewicht, U. R.] zu anderem [...] zu dem, was die specifische Bestimmung dieses Selbstständigen ausmacht". Gegen die Hegelsche Argumentation muß hier - wie oben schon ausgeführt - eingewendet werden, daß die Beziehvmg des Grades auf die ihm äußerliche Anzahl, worin er als sich äußerliche Bestimmtheit ist, keine hinreichende Bestimmung für das „Verhalten [des selbständigen Maßes, U. R.] zu anderem" ist, sondern daß dieses „Verhalten" den chemischen Prozeß unterstellt. „Sie [kann sich grammatikalisch sowohl auf „auf qualitative Seite" als auch auf „specifische Bestimmung dieses Selbstständigen" beziehen, für Hegel geht die vorausgesetzte „qualitative Seite" vollständig in der hier entwickelten „specifischen Bestimmimg" auf, U. R.] besteht so schlechthin in der quantitativen Art und Weise dieses Verhaltens". Die „qualitative Seite" des Etwas drückt sich in dessen „Verhalten" (gemeint: in dessen chemischem Verhalten) zu anderen Etwas aus. Dieses Verhalten wird durch quantitative Maß-Relationen dargestellt, aus denen sich ein für-sich-bestimmtes Maß, gefaßt als das intensive Quantum des Äquivalentgewichts, ergibt. Dieses, ein Quantum in einer Reihe von Quantis, ist dann „specifische Bestimmimg", als die jede Substanz in das System der quantitativen Maß-Relationen eintritt, die dieses System bestimmt und die durch dasselbe bestimmt wird. Dieses Quantum (das Äquivalentgewicht) ist nicht akzidentelle Bestimmtheit an einer Substanz, sondern „specifische Bestimmimg" der Substanz. In der Wissenschaft der Logik ist der Schritt vom spezifischen Gewicht zum

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Äquivalentgewicht ein Zwischenschritt auf dem Weg hin zum Wesen. Hegel erkannte den Fortschritt, den das damals gerade formulierte Äquivalentgewicht gegegenüber anderen Maßgrößen wie dem spezifischen Gewicht bedeutete, imd erahnte, daß über das Äquivalentgewicht eine wesentliche Bestimmimg chemischer Substanzen möglich sein würde. Also konstruierte er spekulativ den Übergang ins Wesen. Doch seine Ablehnimg der Atomtheorie verstellte ihm, den nächsten Schritt tatsächlich auch in seinem chemischen Modell zu gehen, nämlich aus den Äquivalentgewichten mit Hilfe der Atomtheorie chemische Formeln zu entwickeln, die das „Wesen" einer chemischen Substanz angeben. Das, was Etwas ist (traditionell die Substanz, für Hegel die zunächst vorausgesetzte „qualitative Seite"), drückt sich in dem „Verhalten [des Etwas, U. R.] zu anderem" aus imd ist dadurch charakterisierbar. Dieses Verhalten wird durch ein System von Maß-Relationen dargestellt, aus welchem sich eine neue Maßgröße, formuliert in einem Quantum, ergibt. Dieses ist „specifische Bestimmimg" des ersten Etwas. Als dieses Quantum verhält sich das erste Etwas zu den anderen, bestimmt die Relationen und wird durch diese bestimmt. - Diese hier von Hegel entwickelten Maßbestimmimgen sind logische Bestimmungen der Ware: Das, was die Ware zur Ware macht, ist ihr Wertsein, nämlich daß sie als Wertding produziert wiurde. Diese für die Ware vorausgesetzte „qualitative Seite" drückt sich in ihrem „Verhalten" zu anderen Waren aus; der Wert erscheint im Tausch und ist nur so - als Tauschwert - charakterisierbar. (Das, was der Wert an sich ist, nämlich gesellschaftlich notwendige Durchschnittsarbeit, ist nicht als solche unmittelbar gegeben, sondern auf ihre „Darstellung als ,Tauschwert'„io verwiesen.) Das Verhalten der Waren untereinander wird durch ein System von quantitativen Maß-Relationen dargestellt. (Die Wertform ist eine Maß-Relation; wenn alle Waren sich gegeneinander tauschen, bilden sie ein System, „die Warenwelt"!!.) Aus dem System von Tauschrelationen ergibt sich „als gemeinsames Werk der Warenwelt"!2 eine Maßgröße, der Preis oder die Geldform!3, formuliert in einem Quantum. Der Preis oder die Geldform ist „specifische Bestimmung" des Werts (einer Ware). Als 10 K. Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Berlin 1969.75. 11 K.Marx:A.a.0.77f. 12 K. Marx: A.a. 0.80. 13 K. Marx: A. a. 0.110,84. Zunächst entwickelt Marx aus den Tauschrelationen der totalen Wertform die allgemeine Wertform. In einem historischen Prozeß verwächst die allgemeine Äquivalentfom mit einer besonderen Ware. Und so resultiert die Geldform.

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Preise verhalten sich die Waren gegeneinander; als solche Quanta einer Einheit treten die Waren in das System der Tauschrelationen ein, bestimmen dieses und werden durch dasselbe bestimmt. Nach Hegel könnten die zunächst vorausgesetzten Qualitäten vollständig aufgelöst werden in oder ersetzt werden durch eine aus den Maß-Relationen vmd dem Verhältnis der Exponenten zurückkehrende für-sich-bestimmte Maßgröße. Demgemäß könnte der Wert als die geronnene, gesellschaftlich notwendige Durchschnittsarbeit (eine für den Äquivalententausch vorausgesetzte „Qualität") ersetzt werden durch die aus den Tauschrelationen zurückkehrende Maßgröße, die Geldform oder den Preis. Dem hält Marx entgegen - und damit kritisiert er am Modell den Hegelschen Fehler vom in sich geschlossenen Kreis der Wissenschaft (12. 252,17 f; V. 351), daß die Differenz von Wert vmd Darstellvmg des Werts in den Wertformen nicht gelöscht werden karmi^; Zwar ist der Wert auf den Tausch vmd damit auf seine Erscheinvmg als Tauschwert verwiesen, vmd vimgekehrt ist daraus, daß verschiedene Waren im Tausch qualitativ gleichgesetzt vmd so als Tauschwerte vergleichbar werden, auf eine zugrundeliegende, gemeinsame Substanz (den Wert) zu schließeniS; in Hegelschen Termini: von der Wertform aus kann nach ,rückwärts' auf ihren Grvmd, den Wert, geschlossen werden, wie umgekehrt vom Wert aus ,vorwärts' die dann auseinander entwickelbaren Wertformen als konkrete Bestimmvmgen des als Grundlage sich erhaltenden Werts vmd so als Resultat betrachtet werden körmen. Aber beide Wege des logischen Fortschreitens sind nicht auf anal)dische Schlüsse reduzierbar (sind also nicht deduziert), sondern beziehen jeweils Heterogenes mit ein vmd köimen deshalb nicht - wie der idealistische Hegel behauptet zum Kreis zusammengeschlossen werden. Weder läßt sich allein aus dem Ins-Verhältnis-Setzen von Waren im Tausch (zu welch kontingenten Relationen auch immer) schließen, daß es sich um kapitalistisch produzierte Waren handeln, ihnen Wert zukommen vmd ihre Relationen durch den Wert bestimmt sein müssen. Noch ist die aus dem System von Tauschrelationen zurückkehrende qualitative Maßgröße, die allgemeine Äquivalentform vmd dann die Geldform, durch jene Relationen gesetzt. Vielmehr bedarf es eines willkürlichen Aktes, der nicht weiter theoretisch begründet werden kann, einer „gesellschaftlichen Tat"i6^ durch die eine herausgegriffene Ware zum allgemeinen Äquiva14 K. Marx: A.a. 0.75. 15 K.Marx:A. a.0.64f. 16 K. Marx: A. a. 0.101.

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lent gemacht wird. Und in einem historisch kontingenten Prozeß verwächst das allgemeine Äquivalent mit einer besonderen Ware (Gold). Die Marxsche Formulienmg vom „gemeinsamen Werk der Warenwelt"i2 würde idealistisch mißverstanden, behauptete man, das allgemeine Äquivalent und das Geld wären zureichend aus den Tauschrelationen zu begründen und durch die „Warenwelt" gesetzt (im Sinne von geschaffen): Für die Existenz des Geldes gibt es keinen zwingenden Grund im Tausch. Vielmehr enthält das Geld historisch kontingente Momente, nämlich daß überhaupt eine Ware zum allgemeinen Äquivalent gemacht worden ist und welcher Gegenstand es nun war. Wert (die „qualitative Seite" als Grundlage) und Wertform (insbesondere die aus den Maß-Relationen entwickelte, für-sich-bestimmte Maßgröße Geld) sind wechselseitig aufeinander verwiesen, fallen aber weder ineinander, noch setzen bzw. ersetzen sie einander, noch sind sie zu einem Kreis zusammengeschlossen. Gerade das Aufzeigen ihrer nicht auflösbaren Differenz zwingt, von der Analyse des Tauschs und der Wertformen zu dem überzugehen, was nicht darin aufgeht, dem wertbildenden Produktionsprozeßi7. Damit wird die Quelle des Werts entdeckt: die durch einen vorgängigen historischen Prozeß, welcher gerade nicht aus dem Tausch und den Wertrelationen gesetzt werden karm, von ihren Produktions- xmd Konsumhonsmitteln befreite Arbeitskraft. - Und für eine weitere zentrale Marxsche Stelle ist die Kritik des Hegelschen Fehlers essentiell, für die Bestimmung des Verhältnisses von Durchschnittsprofit bzw. Produktionspreis zu Mehrwert bzw. Wert: Auf der Grundlage der Werttheorie ergeben sich in Produktionszweigen mit verschiedener organischer Zusammensetzung auch verschiedene Profitraten. Dies karm nicht sein. Denn wegen der technischen Vernetzung der Produktion müssen die Produktionszweige zu einem auch durch die technische Arbeitsteilung bestimmten System zusammenstimmen. Aus der Relation des insgesamt angeeigneten Mehrwerts zum insgesamt verauslagten Kapital (Durchschnittsprofitrate) und aus den Relationen der Einzelkapitale zu dem Gesamtkapital ergibt sich eine neue Maßgröße, der Produktionspreis, der als „specifische Bestimmimg" der Ware aus den Maß-Relationen zurückgekehrt ist und den Wert zu ersetzen scheint. Als Produktionspreise treten die Waren in das System der Relationen ein; und das die Austauschverhältnisse „regelnde Naturgesetz"i8, das zimächst den Wert als vorausgesetzte Substanz enthält. K. Marx: A.a.0.180 f. 18 K. Marx: A. a. 0.89. 17

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wird modifiziert oder konkreter bestimmt zum Schwanken der Marktpreise um den Produktionspreis^^. Nach Hegel müßte Mehrwert vollständig in Profit zu übersetzen bzw. aus dem Produktionspreis nach ,rückwärts' eine Ableitung des Werts möglich sein. Marx zeigt, daß das nicht der Fall ist: Die Wesensbestimmimgen (organische Zusammensetzung des Kapitals, Lohnarbeit als Quelle von Wert imd Mehrwert) sind im Produktionspreis verschwunden und nicht mehr aus ihm analytisch herauszuentwickeln20. Daraus folgen weder das Fallenlassen der Werttheorie noch das Leugnen der substantiellen Differenz von aus den Maß-Relationen entwickelter für-sich-bestimmter Maßgröße (Produktionspreis) und der als Grundlage vorausgesetzten Qualität (Wert)2i. Beider Erklänmg ist nur darm möglich, werm diese ihre Differenz nicht gelöscht wird. Und das Schwanken der Marktpreise um den Produktionspreis bleibt auf die vorausgesetzte Substanz des Werts bezogen, insofern als das Wertgesetz die Produktionspreise reguliert22. - In Analogie zum Übergang zur Geldform bleibt hier anzumerken, daß die aus dem System der Relationen der Einzelkapitale zurückkehrende für-sich-bestimmte Maßgröße, der Produktionspreis, nicht diuch jene Relationen gesetzt ist. Der Übergang zum Produktionspreis enthält zusätzliche, nicht aus den ökonomischen Relationen deduzierbare Momente: 1. ) Der von allen Einzelkapitalen erzielte Gesamtmehrwe dem Gesamtprofit gleichgesetzt. 2. ) Die kapitalistische Gesamtproduktion muß nüt dem Sys scher Arbeitsteilung zusammenstimmen, wobei die tmterschiedlichen technischen Sektoren nicht auf dieselbe organische Zusanunensetztmg zu bringen sind. Hegel selbst sieht die Analogie in den Bestimmungen von Preis xmd Äquivalentgewicht bzw. von Warentausch und stöchiometrischen Relationen. Zu § 333 der Naturphilosophie, wo er den „vollständig realen chemischen Proceß" (IX. 431) behandelt, merkt er an, daß das Verhältnis der Preise zweier Waren dasselbe sei unabhängig davon, mit welcher K. Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. Berlin 1969. 188. 20 K. Marx: A. a. 0.177. 21 K. Marx: A. a. O. 178, „die bisherige Ökonomie [abstrahierte, U. R.] entweder gewaltsam von den Unterschieden zwischen Mehrwert imd Profit, Mehrwertsrate und Profitrate [...], um die Wertbestimmimg als Grundlage festhalten zu können, oder aber [gab, U. R.] mit dieser Wertbestimmung allen Grund imd Boden wissenschaftlicher Erklänmg auf [...], um an jenen in der Erscheinimg auffälligen Unterschieden festzuhalten [...]" (a. a. Ö.). 22 K. Marx: A. a. 0.189.

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Geld wäre sie gemessen werden (IX. 435). Im chemischen Beispiel: Mit welcher Base auch neutralisiert wird, das Verhältnis äquivalenter Mengen zweier Säuren ist konstant und gleich dem Verhältnis ihrer Äquivalentgewichte. Und die Basen imtereinander stehen in einem konstanten Verhältnis ebenso wie die verschiedenen Geldsorten. Aber diese Beziehung, in welcher sich zwey specifische zu etwas, zu einem dritten, dem Exponenten, specificiren, enthält ferner diß, daß das Eine darin nicht in das andere übergegangen, also nicht nur eine Negation überhaupt, sondern b e y d e darin negativ gesetzt sind, xmd indem jedes sich gleichgültig darin erhält, seine Negation auch wieder negirt ist.

Mit dieser Passage begründet Hegel den Übergang (vom Äquivalentgewicht) zur Wahlverwandtschaft. In der ersten Auflage von 1812/13 stand davor noch ein Absatz, der hier referiert sei, weil er die zugrundeliegende Schwierigkeit erläutert. Hegel beginnt dort (11. 209, 34 ff) mit der allgemeinen Feststellung: „Im Maaße sind sie [das Qualitative vmd das Quantitative, U. R.] überhaupt in unmittelbarer Einheit; im realen Maaße, in der specifischen Selbstständigkeit sind sie imterschieden, aber um ihrer wesentlichen Einheit willen, wird dieses Unterscheiden zu einem Uebergehen des einen Moments in das andere“. (11. 209, 36-39) Diese generelle These wendet Hegel dann auf den Übergang vom Äquivalentgewicht zur Wahlverwandtschaft an: Indem das selbständige Maß durch ein fürsichseiendes, aus den Maß-Relationen zurückgekehrtes Quantum (das Äquivalentgewicht) bestimmt worden sei, habe der Übergang vom Qualitativen ins Quantitative stattgefunden („in diese Aeusserlichkeit seiner selbst [hat, U. R.] sich die Natur des selbstständigen Maaßes verkehrt"; diese Natur wird durch ein intensives Quantum angegeben). „[...] aber diese Bestimmimg [als Quanta; die Äquivalentgewichte sind als Quanta gleichgültig gegeneinander, U. R.] schlägt um in qualitatives Verhältniß zu andern, in die Neutralisirung. [Hegels Begründimg für das Umschlagen „in qualitatives Verhältniß zu andern“ liegt in der zuvor eingeführten, aber ihrerseits nicht begründeten generellen These, daß aufgnmd der „wesentlichen Einheit“ mit dem Übergang vom Qualitativen ins Quantitative der umgekehrte Übergang gesetzt sei, U. R.] Gegen diese negative Einheit [= „Neutralisinmg“, U. R.] sind sie [die die selbständigen Maße ausdrückenden Quanta, also die Äquivalentgewichte,

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U. R.] gleichgültig, sie [die negative Einheit = „Neutralisirung", ein „qualitatives Verhältniß", U. R.] geht in quantitative Bestinunung über [erneuter Übergang des Qualitativen in das Quantitative, U. R.]; sie [die Äquivalentgewichte, U. R.] sind in dieser Beziehung [dem „qualitativen Verhältniß" = der „Neutralisirung, U. R.] mit Mehrern [eine besondere Säure kann von mehreren Basen neutralisiert werden, das „qualitative Verhältniß" = die „Neutralisirung" (Singular) erweist sich als mehrere (mögliche) Neutralisationen (Plural) und ist insofern in (deren) quantitative Bestimmimg übergegangen, U. R.]; diese Mehrern sind durch die qualitative Beziehimg gegen einander bestimmt; aber ihr Unterschied ist nur die Verschiedenheit des Quantums [der Zahl für das Äquivalentgewicht einer der mehreren Basen, U. R.]. - Aber sie sind somit nur Mehrere [weil die Basen wesentlich durch ihre Beziehimgen auf die ihnen entgegengesetzten Säuren bestimmt sind, sind sie „nur Mehrere [...], U. R.], und verschiedene Quanta überhaupt gegen einander [...]" (11. 210, 2-8). Es fehlt noch der erneute Umschlag ins Qualitative; die „specifische Bestimmtheit, die Rückkehr dieses Verhaltens in sich [aus dem Verhalten einer Säure in ihren mehreren (möglichen) Neutralisationen kehrt das spezifische Verhalten zu einer besonderen Base zurück, die spezifisch ausschließende Wahlverwandtschaft, U. R.], [ist, U. R.] noch nicht vorhanden" (11. 210, 8f). - Und anschließend folgt obige Passage, die Hegel für die zweite Auflage nur noch geringfügig veränderte. Daß Hegel den referierten Absatz ganz strich, kann als Indiz dafür gelten, daß mit der generellen, an dieser Stelle lediglich behaupteten These vom abwechselnden Übergang zwischen Qualitativem und Quantitativem die Entwicklrmg zur Wahlverwandtschaft allenfalls umschrieben, aber rücht gezeigt wird. (In der zweiten Auflage dient der Übergang zur Wahlverwandtschaft und die EntwickIvmg ihrer Momente gerade zur Begründtmg jener generellen These.) Ob allerdings das Aufzeigen mittels „Negation der Negation", auf die Hegel die Argumentation zuspitzt, gelingt, wird im folgenden offenbar werden. „Aber diese Beziehimg [die Beziehung zweier selbständiger Maße, welche durch die stöchiometrisch ablaufende Neutralisationsreaktion spezifisch bestimmt wird, U. R.], in welcher sich zwey specifische [äquivalente Massen z. B. von Schwefelsäure imd Natronlauge, U. R.] zu [...] dem Exponenten [...], specificiren" (in der stöchiometrischen Maß-Relation werden die äquivalenten Massen zu Äquivalentgewichten spezifiziert), enthält die Bestimmung, daß das für ein Etwas stehende „Specifische" (im Beispiel: das Äquivalentgewicht multipliziert mit

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einem konstanten Faktor) nicht in das andere übergegangen ist. Nimmt man die Äquivalentgewichte außerhalb ihrer „Beziehung" aufeinander (in einer bestimmten Reaktion) und stellt sie so lediglich als Quanta, genauer: als Zahlen in eine Reihe von Zahlen, dann sind sie bloß quantitativ unterschieden. Eine solche Zahl ist in Kontinuität mit allen anderen Zahlen „gesetzt" (vgl. 21. 217,15 ff; IV. 272). Sie enthält an sich die Veränderung oder das Übergehen in andere Zahlen. In solchem Übergehen liegt die Bedeutimg von „eine Negation überhaupt". (Das intensive Quantum ist die Negation seiner selbst, weil es seine Bestimmtheit nicht an ihm selbst, sondern in einem anderen Quantum hat; „es repellirt sich von sich selbst" (21. 217, 23; IV 272) und wird so ein anderes Quantum). Doch an der zu kommentierenden Stelle im Maß-Kapitel ist in „eine Negation überhaupt" eine zweite chemische Stimme hineinkomponiert: Säure und Base sind einander entgegengesetzt. Reagieren sie miteinander, dann wird ihr Gegensatz negiert. Im Neutralisationsprodukt, dem Salz, ist die selbständige Bestimmtheit von Säure imd Base aufgehoben, ihr Gegensatz und ihre Sparmung gegeneinander abgestumpft. Somit ist der auf Neutralität zielende chemische Prozeß (die Neutralisation) negatives Verhalten oder Negation von Säure imd Base. „[...] daß das Eine darin nicht in das andere übergegangen, also nicht nur eine Negation überhaupt, sondern beyde darin negativ gesetzt sind". In dem stöchiometrisch ablaufenden chemischen Prozeß sind die spezifizierten Maße (die Äquivalentgewichte), die außerhalb dieser ihrer Beziehung im Prozeß als ineinander übergehende bloße Zahlen bestimmt sind, nicht ineinander übergegangen. Beide spezifizierten Maße sind „darin [in ihrer Beziehimg, aber auch: in ihrer Negation, beide Bedeutimgen von „darin" werden durch die chemische Stimme zusammengehalten: die Säure tmd Base charakterisierenden Maße sind in deren Negation (= in dem chemischen Prozeß, der Säure und Base negiert) in Beziehung gesetzt, U. R.] negativ gesetzt" - sie sind in ein konstantes, beide gegenseitig bestimmendes Verhältnis gesetzt; die (neutrale) Verbindung ist im Verhältnis der Äquivalentgewichte zusammengesetzt, tmd der chemische Prozeß ist dadurch spezifiziert, daß er genau zu diesem bestimmten Zusammensetzimgsverhältnis führt. „[...] indem jedes [spezifizierte Maß, U. R.] sich gleichgültig darin [in ihrer Beziehung, in ihrer Negation, im Neutralisationsprozeß tmd in der durch ihn hergestellten, spezifisch zusammengesetzten Verbindung, U. R.] erhält, [ist, U. R.] seine Negation auch wieder negirt". Seine Negation: Ein Etwas wird durch sein Verhalten zu Anderen bestintmt. Dieses Verhalten wird durch (stöchiometrische) Maß-Relationen beschrieben, aus

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denen ein spezifiziertes Maß (der Exponent der Relationen) zurückkehrt. Dieser Exponent wird durch eine Zahl ausgedrückt, deren spezifische Bestimmung in eine Reihe von Zahlen fällt, die ihrerseits jeweils einen Exponenten ausdrücken und durch ihr Verhalten zum Ausgangsexponenten bestimmt werden. So sind die Exponenten Zahlen. Sie kontinuieren sich oder gehen als Zahlen über in andere Zahlen, jede ist „das Negative [ihrer, U. R.] als eines Begrenzten" (21. 218, 20; IV. 273). Negieren seiner Negation: Das Übergehen der Zahlen ineinander wird negiert. Im (Säure und Base negierenden) chemischen Prozeß gehen die Äquivalentgewichte nicht als bloße Zahlen ineinander über, sondern sind als sich gegenseitig (und den chemischen Prozeß) bestimmend imd als sich erhaltend, d. h. konstant bleibend gesetzt. Bis zu diesem Übergang zur Wahlverwandtschaft hatte Hegel entwickelt: Qualitativ Verschiedene sind für ihre quantitativen Maß-Relationen zimächst vorausgesetzt. In dem Exponenten dieser Relationen (dem Äquivalentgewicht) sind deren Voraussetzungen negiert, imd insofern ist ein Exponent Negation qualitativ Verschiedener. Die Bestimmung des Exponenten (imd damit die spezifische Bestimmung eines Stoffes) fällt in eine Reihe von Quanta. Damit hat die im Exponenten enthaltene Negation der besonderen Qualitäten die Gleichgültigkeit der bloß als verschiedene Quanta gefaßten Exponenten gegeneinander (imd die Gleichgültigkeit dieser Quanta gegen die vorausgesetzten Ausgangsqualitäten) zur Folge. Im Übergang zur Wahlverwandtschaft werden jetzt die Exponenten in ihrer bestimmten Beziehung „negativ gesetzt", sie werden gleichgültig gegen ihre Gleichgültigkeit gegeneinander gesetzt. Wären die Exponenten schlicht gleichgültig gegen die besonderen Qualitäten, würde dies zu beliebigen und unbestimmten Massenrelationen führen und nicht erklären, daß in ihrer Beziehung die Exponenten sich in einem konstanten Verhältnis erhalten - „jedes sich gleichgültig darin erhält". Dieses gleichgültige Sich-Erhalten negiert die Gleichgültigkeit des Exponenten gegen die Reihe der ihn bestimmenden Quanta. Insofern: „Seine Negation [ist, U. R.] auch wieder negirt". Hegel begründet den Übergang vom Äquivalentgewicht zur Wahlverwandtschaft, den Übergang von einer als Zahl ausgedrückten und als Zahl quantitative Veränderlichkeit enthaltenden Maßgröße zu einer neuen qualitativen Bestimmtheit des Maßes, mittels Negation der Negation. Erst im Wesen wird die selbstbezügliche Negation oder die Negation der Kategorie Negation zum Setzen oder Begründen des von der Kategorie Negation Unterschiedenen. Hier im Maaß bedarf es eines Daseienden als eines Trägers der Negation. Insofern ist das chemische Mo-

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dell konstitutiv für die Entwicklung der Argumentation: - „Negation überhaupt" bedeutet dann nicht Kategorie Negation, sondern Negation des Gegensatzes von Säure und Base, also den auf Neutralität zielenden chemischen Prozeß; - „die Beziehung, in welcher sich zwey specifische zu etwas [...] specificiren", ist nur aufgnmd der bis zur exakten Neutralisation geführten Reaktion bestimmbar; - drei Sätze weiter wird zu „Beziehung" „neutral" hinzugefügt werden: ein Hinweis, daß von der Beziehimg der Maße im (neutralen) Salz die Rede ist; - „das Eine darin nicht in das andere übergegangen, [...] sondern beyde darin negativ gesetzt sind" - Säure und Base sind nicht einfach ineinander übergegangen und sind auch nicht völlig verschwunden, vielmehr: Ein chemisches Objekt ist wesentlich nur in seiner Beziehimg auf sein Anderes, das ihm entgegengesetzte und gegen es gespannte andere Objekt. Der chemische Prozeß ist „negatives Verhalten" (12.150, 11; V. 203), wodurch ein chemisches Objekt „sich mit dem Negativen seiner identisch" (IX. 429) setzt. Also wird im chemischen Prozeß die „Beziehung dieser gegen einander negativen imd gespannten Objectivitäten" (12. 147, 12; V. 200) aufgehoben: Die Bestimmtheit von Säure imd Base gegeneinander wird aufgehoben, sie werden in ihre negative Einheit, d. i. die Neutralität, gesetzt, und sie werden darin negativ gesetzt, d. h. die Eigenschaften, die ihnen als gegeneinander gespannten Objekten zukamen, sind in der Neutralität aufgehoben. Das gebildete (neutrale) Salz ist „nicht das abstract Indifferente, sondern die Einheit zweier Existirenden" (IX. 431); - „jedes [erhält, U. R.] sich gleichgültig darin" - im Salz sind Säure und Base nicht einfach verschwunden, sondern als Säure- und Basenrest „gleichgültig" erhalten (Säure und Base sind in ihrer negativen Einheit negativ, d. i. ihre Selbständigkeit und ihre Spannung gegeneinander negierend, gesetzt; und die spezifizierten Maße (die äquivalenten Massen von Säure und Base) gehen weder ineinander über noch sind sie einfach verschwunden, sondern bestimmen Prozeß und dessen Resultat, das Salz; - in das Adjektiv „gleichgültig" (im neutralen Zustand befinden sich die zuvor gegeneinander gesparmten Säure und Base gleichgültig als Säure- und Basenrest in einer Verbindung) ist die zweite (chemische) Stimme „neutral" verschränkt. Den chemischen Kontrapunkt mitgelesen bedeutet Negation der Negation: Die erste Negation steht für Streben nach Neutralität (die Negation

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des gespannten Gegensatzes von Säure und Base, der chemische Prozeß ist negatives Verhalten, welches diesen Gegensatz aufhebt und Neutralität, worin Säure imd Base negiert sind, herstellt) und dafür, daß das Äquivalentgewicht als bloße Zahl genommen das Übergehen und die Veränderlichkeit in andere Zahlen enthält. Dies wiederum chemisch transponiert: Eine Säure kann durch verschiedenerlei Basen neutralisiert werden. Die gemeinsame Gnmdlage dieser Neutralisationen liegt in der Negation des Gegensatzes von Säure und Base, während ihre Verschiedenheit durch die äquivalenten Basen-Mengen, also durch beliebig erscheinende Zahlen, ausgedrückt wird. Der Begriff der Neutralität bzw. des Strebens nach Neutralität (erste Negation) ist gleichgültig dagegen, welche besondere Neutralisation erfolgt. Dem korrespondiert die (scheinbare) Beliebigkeit der in Kontinuität mit anderen stehenden und veränderlichen Zahlen für die äquivalenten Mengen. Negation der Negation formuliert darm negativ gegen diese Beliebigkeit das Besondere einer Neutralisation (imd eines gebildeten Salzes). So wie im festen Verhältnis der Äquivalentgewichte deren Ineinander-Übergehen als bloße Zahlen negiert ist, so ist innerhalb des Strebens nach Neutralität schlechthin und negativ gegen es eine neue qualitative Maßgröße (die Wahlverwandtschaft) gesetzt, die jenes feste Verhältnis begründet. Der logische Fortgang im Kapitel Das Maaß als Reihe von Maaßverhältnißen bis hin zum Übergang in die Wahlverwandtschaft kann den Hegelschen Unterabschnitten 1,2 imd 3 folgend so zusammengefaßt werden: 1. Modell: Zwei Stoffe reagieren miteinander in einem konstanten (stöchiometri sehen) Massenverhältnis. Argumentation: Vorausgesetzt sind qualitativ unterschiedene Etwas. Deren Maße bilden eine Relation, aus der sich ein Exponent, ausgedrückt in einem quantitativen Verhältnis, ergibt. In diesem Exponenten der Relation sind deren Voraussetzimgen negiert; er ist die Negation qualitativ Unterschiedener. 2. Modell: Bestimmimg der Äquivalentgewichte aus den Neutralitätsreihen für die Basen in bezug auf dieselbe Menge einer besonderen Säure und den Neutralitätsreihen für die Säuren in bezug auf dieselbe Menge einer besonderen Base. Argumentation: Die Bestimmimg des Exponenten fällt in eine Reihe von Maßverhältnissen und damit in eine Reihe von Exponenten für die gegenüberstehenden Maße. Diese Exponenten-Reihe zeigt ein konstantes Verhältnis der Exponenten untereinander, wodurch der dieser Reihe gegenüberstehende Exponent spezifisch bestimmt wird - zum Äquivalentgewicht.

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з. Modell: Die Äquivalentgewichte von Säure und Base stehen in deren Salz in einem dieses spezifizierenden, konstanten Verhältnis. Dem liegt eine neue Maßgröße zugrunde, die Wahlverwandtschaft. Argumentation: Die unter 2. spezifizierten Maße (die Äquivalentgewichte) sind intensive Quanta in einer Reihe von solchen. Als Zahlen enthalten sie quantitative Veränderlichkeit. Zwei spezifizierte Maße bilden aber (unter besonderen Bedingungen) ein konstantes Verhältnis und sind darin nicht ineinander übergehend. In dieser ihrer negativen Einheit sind sie negativ gesetzt. So - negativ gegen das quantitative Ineinander-Übergehen imd negativ gegen das unspezifische Streben nach Neutralität schlechthin - ist die neue qualitative Bestimmtheit des Maßes, die Wahlverwandtschaft, gegenüber der als quantitativ veränderliche Zahl ausgedrückten Maßgröße ,Äquivalentgewicht' bestimmt. Anzumerken bleibt, daß die Argumentation im dritten Schritt zum Modell des ersten zurückkehrt und dabei diesen konkretisiert. Dieselbe Maß-Relation, das Massenverhältnis von zwei miteinander reagierenden Stoffen, ist unter 3. spezifisch bestimmt als das Verhältrüs der unter 2. spezifizierten Maße (der Äquivalentgewichte) im Neutralisationsprodukt (dem Salz) und soll als dieses Verhältnis die besondere Affinität der in Beziehung gesetzten Maße ausdrücken. Formal geschieht in allen drei Unterabschnitten dasselbe: Maße werden ins Verhältnis gesetzt. Das qualitative Moment liegt in der sich herausstellenden Konstanz des quantitativen (direkten) Maß-Verhältnisses. Der Exponent dieses Verhältnisses ist selbst ein Quantum. Er tritt wiederum ins Verhältnis zu anderen Exponenten. Die Konstanz des Exponentenverhältrdsses verweist wiederum auf ein qualitatives Moment и. s. w. Formal wäre dies alles auf die Einheit des Übergangs vom Qualitativen ins Quantitative und des umgekehrten Übergangs vom Quantitativen ins Qualitative zu bringen. Wäre jedoch die Argumentation bloß formal und von dem jeweiligen Modell abtrennbar, so liefe sie leer (sie käme über dem permanenten Wechsel zwischen beiden Übergängen nicht vom Fleck). Aber gerade der Fortgang der Argumentation beweist, daß sie die jeweils verschiedenen Modelle nicht lediglich als illustrierende Beispiele, sondern als den Fortgang bestimmendes Material enthält. Damit ergibt sich der Widerspruch: Flegel intendiert eine gegen das herbeizitierte Material selbständige logische Entwicklung. Doch damit verleugnet er dasjenige, was seine Argumentation oft auszeichnet, nämlich den spezifischen Bezug auf das Material, welches für die logische Form konstitutiv ist und welches verhindert, daß sie leerläuft. Gestände er dies hingegen ein, verleugnete er sein idealistisches Ge-

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Samtprogramm. Dieser Widerspruch kann am Übergang zur Wahlverwandtschaft erläutert werden: Getrennt vom Material bliebe lediglich die Negation der „Negation überhaupt" - durch sich auf sich beziehende Negation setzte die Reflexion ihre Bestimmimgen Identität, Unterschied u. s. f. (das Wesen wäre dann hier schon erreicht). Doch so ließe sich der Übergang zu einer spezifischen neuen qualitativen Bestimmtheit, der Wahlverwandtschaft, nicht begründen. Demnach ist das zitierte Material hier für die „Negation der Negation" konstitutiv: „Negation" bedeutet Negieren des Gegensatzes von Säure und Base, es ist das negative Verhalten, welches die entgegengesetzten Maße für Säure und Base in eine negative Einheit setzt, also der auf Neutralität zielende chemische Prozeß. Innerhalb dieses ihres negativen Verhaltens werden die entgegengesetzten Maße negativ gesetzt, d. h. die im chemischen Prozeß vollzogene bloße Negation des Gegensatzes von Säure und Base wird ihrerseits negiert. Damit ist negativ gegen das abstrakt negative Verhalten, welches, gleichgültig gegen das Besondere, bloß auf Neutralität schlechthin zielt, das Spezifische bestimmt, was die „qualitative Einheit" des Verhältnisses einer besonderen Säure zu einer besonderen Base ausmacht und deren festes stöchiometrisches Maßverhältnis im Salz hervorbringt, die Wahlverwandtschaft. Daß aber die „Negation der Negation" hier in konstitutiver und nicht zu beseitigender Weise auf das Material bezogen ist, widerstreitet der idealistischen Generallinie: der Auflösung der qualitativen Bestimmtheiten in die Reflexionsbestimmungen. In der Wissenschaft der Logik ist der Übergang vom Äquivalentgewicht zur Wahlverwandtschaft ein Schritt hin zum Wesen. Chemische Stoffe sind wesentlich durch ihre Beziehungen auf andere bestimmt. Sie existieren so als einseitige, „gegen einander negative und gespannte Objectivitäten" (12. 147, 11 f; V. 200), während ihr Begriff die Totalität der jeweils entgegengesetzten Bestimmtheiten enthält. Das einzelne „chemische Object [ist, U. R.] hiemit der Widerspruch seines unmittelbaren Gesetztseyns und seines immanenten individuellen Begriffs" (12. 149,17 f; V. 202). Es ist ebensosehr gegen sich selbst wie gegen andere gespannt. Dies Verhältnis der gespannten Objekte gegeneinander, welches deren immanente Bestimmung ausmacht, heißt ihre Verwandtschaft oder Affinität. „Indem jedes [chemische Object, U. R.] durch seinen Begriff im Widerspruch gegen die eigene Einseitigkeit seiner Existenz steht, somit diese aufzuheben strebt, ist darin unmittelbar das Streben gesetzt, die Einseitigkeit des andern aufzuheben, und durch diese gegenseitige Ausgleichung und Verbindung die Realität dem Be-

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griffe, der beide Momente enthält, gemäß zu setzen." (12.149,27-31; V. 202) In der Verwandtschaft oder Affinität gründet also der „chemische Proceß", „ein negatives Verhalten", wodurch die „vorherige selbstständige Bestimmtheit" - „die realen Unterschiede der Objecte" - „in der dem Begriffe, der in beyden ein und derselbe ist, gemäßen Vereinigung aufgehoben" (12.150,15; V. 203) wird. Demnach erscheint es plausibel, den Übergang zur Wahlverwandtschaft als Fortschreiten zum Wesen hin zu interpretieren. Denn besser als die physikalische Maßgröße ,Masse', die die Basis für das Äquivalentgewicht bildet, sollte eine auf die Reaktivität eines Stoffes zielende Maßgröße dessen Wesen charakterisieren. Von den physikalischen Kräften wie der Gravitation, der elektrostatischen und magnetischen Anziehung wurde zu Hegels Zeit die chemische Kraft imterschieden, die bewirkt, daß zwei Stoffe eine Verbindtmg bilden. Folgend dem antiken Grundsatz, Gleiches vereirügt sich mit Gleichem23, vermutete man in den reagierenden Stoffen ein ihnen gemeinsames Prinzip, das auf ihre Verbindung ziele. Diese chemische Kraft nannte man Verwandtschaft (oder lateinisch: affinitas), ein Begriff, der metaphorisch die Analogie formuliert: So wie das gemeinsame Blut Menschen zu Verwandten mache und sie als solche verbinde, so sei ein gemeinsames chemisches Prinzip Ursache der Anziehung, welche die Stoffe zur Verbindung abreagieren lasse. (Ein Metall verbrenne deshalb mit dem empirisch vorkommenden Schwefel, weil beide das alchimistische Prinzip ,sulphur' enthielten.) Wenn nun die Verwandtschaft als eine qualitative Bestimmtheit, und zwar als eine konkreter bestimmte, auf das Wesen hin zielende qualitative Bestimmtheit, den vielfältigen chemischen Prozessen zugrunde liegt, darm erscheint als nächster Schritt plausibel, sie als Maßgröße zu fassen. So vermutete Bergman24, die chemische Anziehimgskraft, die zwei Stoffe zueinander haben, könnte in Maßzahlen ausgedrückt werden, und diese wären, änderte man nicht gravierend die Randbedingimgen, konstant rmd spezifisch für diese beiden Stoffe. Reagierten zwei verschiedene Stoffe mit ein und demselben dritten, dann besäßen sie verschieden große Verwandtschaftsstärken. Der mehr verwandte Stoff verdrängte den weniger verwandten aus dessen Verbindung mit dem dritten. Diese spezifische Eigenschaft der chemischen Affinität, daß nämlich bei Konkurrenz zweier Stoffe um einen dritten allein die Verbindung mit der stärkeren Affinität gebildet werden würde, narmte Bergman attractio electiva 23 zitiert nach H. Kopp: A. a. 0.286. 24 H. Kopp: A. a. 0.300.

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(eine mit Auswahl anziehende Affinität), zu deutsch: Wahlverwandtschaft. (Mein hatte zum Beispiel herausgefunden, daß nicht jede Erde aus Salmiak Ammoniak abscheiden kann.) Die Größe der Affinitätsstärke bestimmte Bergman relativ: Zersetzte ein Stoff A die Verbindung BX unter Bildung von AX, dann galt A stärker verwandt mit X als B. Die Verwandtschaftstafel für einen Stoff X listete andere mit ihm reagierende Stoffe A, B, C,... in der Reihenfolge abnehmender Verwandtschaftsstärke auf. Am Ende des 18. Jahrhunderts wurde jeder neu entdeckte Stoff erst dann als spezifisch bestimmt angesehen, wenn man seine Verwandtschaftsreihe angeben konnte25. Bergmans Verwandtschaftstafeln enthielten zunächst lediglich die relative Aussage über die Verwandtschaftsstärke: Je nachdem, ob Stoff A über oder unter B stand, war er stärker oder schwächer verwandt mit dem Stoff X. 1786 unternahm es dann Guyton de Morveau, die Verwandtschaftsstärken der in den Tafeln aufgelisteten Stoffe durch Maßzahlen auszudrücken, welche durch Probieren (Tatonnieren) so gewählt waren, daß die Summe der Verwandtschaftsstärken der Stoffe in den gebildeten Verbindungen größer war als die Summe der Verwandtschaftsstärken der Stoffe in den durch die Reaktion zersetzten Verbindungen^ö. Hegel konstruiert spekulativ den Übergang vom Äquivalentgewicht zur Wahlverwandtschaft. Dabei will er die qualitative Differenz von chemischer Affinität und Äquivalentgewicht (einer Massengröße) bewahren, beide aber nicht als in der Weise unvereinbar begreifen, daß ihre qualitative Differenz nicht zu entwickeln wäre. Und er will systematisch zeigen, daß der chemischen Affirütät eine Maßgröße zukommen muß und von welcher Art diese ist. Heute wissen wir, was damalige Chemiker nicht wußten, nämlich daß stöchiometrische Relationen, Äquivalentgewichte (und dann die Molekulargewichte) auf der einen und die die Reaktion bestimmenden energetischen Größen auf der anderen Seite in keinem systematischen Verhältnis miteinander stehen. Hegels Versuch, spekulativ den Übergang zu konstruieren, sei dennoch im einzelnen kommentiert: Losgelöst von chemischen Reaktionen sind die Äquivalentgewichte zunächst gegeneinander gleichgültige und quantitativ veränderliche Zahlen. Treten die Äquivalentgewichte in eine spezifische Beziehimg (worimter die vollständige chemische Reaktion beider Stoffe zu verstehen ist), daim bilden sie eine Maß-Relation, aus der eine neue Maßgröße (die Wahlverwandtschaft), zurückkehrt. Diese ist - so Hegel - dadurch 25 H. Kopp: A. a. 0.301. 26 H. Kopp: A. a. 0.303.

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bestimmt, daß die beiden Äquivalentgewichte in einem festen Verhältnis stehen, in welchem beide Äquivalentgewichte negativ gesetzt sind. Mit ihrer negativen Einheit (negative Einheit von Säure und Base ist deren Neutralisationsprodukt) ist die neue qualitative Bestimmtheit (die Wahlverwandtschaft) erreicht. Hegels Fehler bestehen darin, - erstens die zurückgekehrte qualitative Maßgröße (hier; die Wahlverwandtschaft) als hinreichend bestimmt durch den Übergang (hier: durch das feste Verhältnis der Äquivalentgewichte) zu fassen; - zweitens die bisher entwickelten Qualitäten (bis hin zum Äquivalentgewicht) als in diesem Verhältnis aufgehoben und konkreter bestimmt zu denken, so daß die Wahlverwandtschaft jene Qualitäten enthielte, die aus ihr rekursiv entwickelt werden könnten. (Der Weg der Wissenschaft bestünde in einem in sich geschlossenen Kreis, wo in das zunächst Erste (die vorausgesetzten Qualitäten) das daraus entwickelte Resultat zurückgeschlungen (12.252,19; V. 351) wäre.) Hegels Fehler entstammen der idealistischen Annahme, allein das InsVerhältnis-Setzen zweier Maße (der Äquivalentgewichte) begründe deren negative Einheit, die als Relationsbegriff das Substrat für eine neue Maßgröße (die Wahlverwandtschaft) bilde und die durch das NegativSetzen der Äquivalentgewichte spezifiziert werde. Doch die bloße „Beziehung" zweier Maße ist keine hinreichende Bestimmimg für die (vollständige) Reaktion beider Stoffe bzw. für deren durch die Wahlverwandtschaft charakterisierte Verbindung. Daß die Äquivalentgewichte in der Verbindung in einem festen Verhältnis stehen, hat eine nicht in diesen Äquivalentgewichten liegende Ursache: Die die Reaktion und dann die Verbindung charakterisierenden Energiegrößen sind heterogener Natur gegenüber dem Verhältnis der Äquivalentgewichte. (Dies wußten weder Hegel noch die damaligen Chemiker). Durch Hegels spekulative Konstruktion, das Negativ-Setzen der Äquivalentgewichte in ihrer negativen Einheit (der neutralen Verbinduung), sind jene Energiegrößen qualitativ nicht bestimmbar - tmd ebensowenig die Differenz von kinetischen und thermodynamischen Größen einer Reaktion, also daß Aktivierungsenthalpien von den Reaktionsenthalpien verschieden und je nach Randbedingungen verschieden sind. (Bei Hegel ist häufig das Besondere der Säure-Base-Reaktion, nämlich daß sie in der Regel imd unter Normalbedingimgen spontan abläuft, Aktivierung also keine Rolle spielt, in die den chemischen Prozeß im allgemeinen behandelnde systematische Argumentation eingeschmuggelt.) Überdies folgt aus dem bloßen Ins-Verhältnis-Setzen der Äquivalentgewichte, weder daß dies ihr Verhältrüs als Wahlverwandtschaft existiert,

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noch daß die Wahlverwandtschaft notwendig als festes Verhältnis existiert. (Manche Reaktionen gehen gar nicht, manche gehen nur unter ganz besonderen Bedingimgen, manche Verbindungen sind in wechselnden stöchiometrischen Verhältnissen zusammengesetzt.) Daß das Verhältnis zweier Maße überhaupt als Wahlverwandtschaft existiert, verweist auf heterogene Voraussetzungen, die der idealistische Hegel imterschlägt, weil sie im bloß logischen Ins-Verhältnis-Setzen zweier Maße nicht Vorkommen. (Für Hegel ist mit dem (festen) Verhältnis der Maße deren darüber spezifizierte negative Einheit und damit die Existenz der Wahlverwandtschaft gesetzt (= begründet).) Denn die Verwandtschaft wirkt nicht „rein", d. h. imabhängig von besonderen Randbedingungen: Substanzen müssen entweder gelöst oder geschmolzen werden, damit sie reagieren, d. h. ihre Verwandtschaft (= Affinität) wirken und dann eine Wahlverwandtschaft bilden imd als durch diese Wahlverwandtschaft spezifisch zusammengehaltene Verbindung festgestellt werden kann. Wahlverwandtschaft gibt es nicht als Wahlverwandtschaft pur, unabhängig von für sie konstitutiven Bedingungen. Sie ist entscheidend von der Temperatur und davon abhängig, ob Substanzen trocken oder in wäßriger Lösung miteinander reagieren. (Deshalb wurde schon 1773 die Verwandtschaftsreihe auf trockenem von der auf nassem Wege unterschieden, für jeden Stoff gab es damit zwei verschiedene Verwandtschaftstafeln.) Eine Erhöhung der Temperatur ruft nicht nur vorher nicht beobachtete Verwandtschaften hervor oder verändert deren Stärke in sehr unterschiedlichem Maße, sondern kann sogar, wenn zwei Stoffe mit demselben dritten verwandt sind, die stärkere Wahlverwandtschaft zur schwächeren verkehren27. Gehen aber heterogene Bedingungen konstitutiv in die Wahlverwandtschaft ein, dann ist deren spekulative Entwicklung bloß aus dem Ins-Verhältnis-Setzen zweier Maße nicht möglich. Der Übergang zur Wahlverwandtschaft ist dem zum Äqitivalentgewicht analog, und deshalb trifft die dortige Kritik mutatis mutandis auch hier. Die im Unterabschnitt 2 spezifizierten Maße (sie waren die in den stöchiometrischen Massen-Relationen spezifizierten Exponenten = die Äquivalentgewichte) bilden ihrerseits neue Maß-Relationen. Aus diesen kehrt eine neue Maßgröße, die Wahlverwandtschaft, zurück, die zunächst durch das feste Verhältnis zweier solcher spezifizierter Maße (der Äquivalentgewichte) in deren negativer Einheit (im Neutraüsati27 H.Kopp:A. a.0.298f.

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onsprodukt) bestimmt wird. Dies logische Vorwärtsgehen ist „Rückgang in den Gnmd" (vgl. 21. 57,14 f; IV. 74); die Wahlverwandtschaft ist als das „Ursprüngliche und Wahrhafte" erschlossen, welches den einfachen Qualitäten, den (stöchiometrischen) Maß-Relationen, den daraus bestimmbaren Exponenten (Äquivalentgewichten) und dem festen Verhältnis dieser Äquivalentgewichte in einer Verbindimg zugnmdeliegt. Und insofern ist die Wahlverwandtschaft erschlossener Grund. Durch das feste Verhältnis der Äquivalentgewichte in einer Verbindung soll - so Hegel im Einklang mit damaligen Chemikern wie Bergman die Stärke der Verwandtschaft (imd damit die Wahlverwandtschaft) bestimmbar sein. Das feste Verhältnis selbst wird als Negation der Negation aus dem vorherigen Maß, dem Äquivalentgewicht, entwickelt: Die zvmächst gegeneinander gleichgültigen und veränderlichen Quanta für die Äquivalentgewichte sind in ihrer negativen Einheit negativ gesetzt. Und insofern ist die Wahlverwandtschaft entwickeltes Resultat. Richtig an Hegels Argumentation ist: Daraus, daß zwei Stoffe im festen Verhältnis ihrer Äquivalentgewichte eine Verbindung bilden, und daraus, daß der mehr verwandte Stoff den weniger verwandten aus dessen Verbindung mit demselben dritten Stoff verdrängt, kann geschlossen werden, daß eine neue Maßgröße, die Wahlverwandtschaft, zugrimdeliegt. Diese Wahlverwandtschaft ist dasjenige, was das feste Verhältnis der Äquivalentgewichte in einer Verbindung hervorbringt xmd was dirigiert, ob ein Stoff aus einer Verbindung verdrängt werden kann oder nicht. Die unmittelbar gegebenen Qualitäten (die vorhandenen Stoffe vor der chemisch-experimentellen Arbeit nüt ihnen) erweisen sich nur über mit ihnen entwickelbare Maß-Relationen, darin auffindbare Exponenten, deren Relationen und diesen Relationen zugnmdeliegende neue Maße bestimmbar: Ein Stoff ist durch seine Verwandtschaftstafel konkreter (imd in seinem chemischen Wesen) bestiimnt. Umgekehrt soll die erschlossene Wahlverwandtschaft den Weg der Bestimmung aus den Maß-Relationen enthalten, also über das feste Verhältnis der Äquivalentgewichte bestimmbar sein. Hegel teilt mit den zeitgenössischen Chemikern die Intention, den Begriff der chemischen Affinität aus der Sphäre geheimnisvoll-nebulöser Qualitäten zu entfernen und sie als quantitativ präzisierbare Maßgröße, bestimmt in Maß-Relationen, zu fassen. Falsch an Hegels Argumentation ist: Beide Schlüsse, das rückwärtsgehende Erschließen der Wahlverwandtschaft als Zugrundeliegendes für die Maß-Relationen wie das vorwärtsgehende Bestimmen der Wahlverwandtschaft als Resultat aus den Maß-Relationen, müssen Heterogenes miteinbeziehen, während Hegel versucht, gerade dieses Heterogene

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idealistisch wegzuerklären. Doch um die Wahlverwandtschaft als das Zugrundeliegende für die in Maß-Relationen faßbaren Affinitätserscheinungen zu erschließen, bedarf es eines Heterogenen, nämlich der produktiven Einbildxmgskraft, die auf die substantielle Differenz von Massen- und Energiegrößen erst kommen imd letztere als ,Antriebskraft' chemischer Reaktionen herausfinden muß. Ebenso verweisen die Versuche, die Wahlverwandtschaft aus den Maß-Relationen zu entwikkeln, auf eine zu den stöchiometrischen Massengrößen heterogene Maßgröße, was schon zu Hegels Zeit hätte auffallen müssen. Denn es gab eben nicht Wahlverwandtschaft pur, sondern für denselben Stoff existierten verschiedene Verwandtschaftstafeln je nach Reaktionsbedingungen („auf nassem Wege" oder „auf trocknem Wege"), es wurden verschiedene Arten von Verwandtschaften (affinitas aggregatorum, appropriata, producta, prädisponierende Wahlverwandtschaft etc.28) angenommen, und insbesondere die auffällige Temperatur-Abhängigkeit erwies die Wahlverwandtschaft als nicht zurückführbar auf Massengrößen, deren (stöchiometrische) Relationen imd dadurch bestimmte Exponenten (Äquivalentgewichte). Diese ihre qualitative Einheit ist somit für sich seyende ausschliessende Einheit.

„[...] qualitative Einheit": Das Äquivalentgewicht war eine als Zahl ausgedrückte und als Zahl quantitative Veränderlichkeit enthaltende Maßgröße. In ihr sind die besonderen Qualitäten (d. h. die Stoffe als vorausgesetzte, spezifisch verschiedene Substanzen) negiert. Werden zwei solche Maße ins Verhältnis gesetzt (Reaktion von Säure xmd Base zu einem im Verhältnis der Äquivalentgewichte zusammengesetzten Salz), dann ist darin nicht nur eine Negation überhaupt (das negative Verhalten, welches den Gegensatz von Säure imd Base aufhebt imd auf Neutralität schlechthin zielt, welches jedoch gleichgültig dagegen ist, welche besondere Neutralisation erfolgt; die äquivalenten Mengen sind zunächst beliebig erscheinende, in Kontinuität mit anderen stehende Zahlen) enthalten, sondern daß beide Maße negativ gesetzt sind. Für beide Maße trifft zu, daß in ihrem festen Verhältnis ihr Ineinander-Übergehen als bloße Zahlen und ihre scheinbare Beliebigkeit negiert sind. So sind sie in ihrer Beziehung aufeinander in einer (negativen) „Einheit".

28 H. Kopp; A. a. 0.301,304 ff.

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Diese ist qualitativ, denn das Maß als ein in eine Reihe von Quanta übergehendes Quantum ist negiert. Negativ gegen das unspezifische, gegen jede besondere Salzbildung gleichgültige Streben nach Neutralität (d. h. negativ gegen Verwandtschaft schlechthin) ist damit - so Hegel eine neue „qualitative Einheit" begründet, die das Spezifische des Zusammenhangs eines besonderen Säure- und eines besonderen Basenrestes kennzeichne und die das feste Verhältnis (das feste stöchiometrische Maßverhältrüs im Salz) hervorbringe. Dies ist sowohl für das chemische Modell als auch für die logische Entwicklung falsch. Denn weder ist das feste Verhältnis der beiden Maße so einfach und ohne weiteres gegeben, noch negieren beide Maße von selbst ihr gleichgültiges Ineinander-Übergehen, um ihre „qualitative Einheit" zu setzen. Umgekehrt: Die vermeintlich begründete „qualitative Einheit" muß vorausgesetzt werden, um das feste Verhältnis in experimenteller Arbeit bestimmen zu können. (Es wird bis zum Äquivalenzpunkt, d. h. dem pHWert des reinen Salzes, titriert. Daß es einen solchen gibt, der zudem spezifisch für jedes Salz ist, hat seinen Grimd in der jeweils besonderen Wahlverwandtschaft. Der Äquivalenzpunkt muß bekannt sein, um einen geeigneten Indikator für die Titration auswählen zu können.) „[...] für sich seyende [...] Einheit": Außerhalb ihrer Beziehung in chemischen Reaktionen und darin gebildeten Verbindungen sind die Äquivalentgewichte untereinander scheinbar beziehungslose und gegeneinander gleichgültige Zahlen. Mit dem Negativ-Setzen der Äquivalentgewichte in ihrem festen Verhältnis wird das scheinbar beliebige Außereinander der Zahlen aufgehoben. Damit ist das Maß, wie schon für das „Fürsichseyn" gezeigt, in die „gesetzte Negation der Negation" (21. 144,15; rv. 175) übergegangen, d. h. durch die Negation der gegen jede besondere Salzbildung gleichgültigen Verwandtschaft schlechthin ist - so Hegel - eine fürsichseiende, qualitative Maßgröße gesetzt, die ebenso wie das „Fürsichseyn" als „Rückkehr in sich, Beziehung auf sich se Ibst" (21.137,21; rv 184) bestimmt ist. Aus den Relationen von Maßen und den gegeneinander gleichgültigen Exponenten kehrt die fürsichseiende Wahlverwandtschaft zurück, die als Grundlage für die Relationen (für das gesamte Kapitel Das Maaß als Reihe von Maaßverhältnißen und also schon für dessen Unterabschnitt 1, das (stöchiometrische) Massenverhältnis von zwei miteinander reagierenden Stoffen) erschlossen und über diesen Weg (das Negativ-Setzen der im Unterabschnitt 2 spezifizierten Maße in deren festem Verhältnis) bestimmt wird. „[...] ausschliessende Einheit": Wenn Etwas als Fürsichseiendes be-

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stimmt ist, dann enthält diese Bestimmung, daß „seine Beziehung und Gemeinschaft mit Anderem [aufgehoben ist, U. R.], sie zurückgestoßen, davon abstrahirt [worden ist, U. R.]" (21. 145, 8 f; IV. 184). Wenn zwei Maße (Äquivalentgewichte) in einem festen Verhältnis stehen, dann ist in dieser ihrer qualitativen, fürsichseienden Einheit enthalten, daß die Beziehungen zu dritten Maßen (Äquivalentgewichten) ausgeschlossen sind. Natronlauge kann durch verschiedenerlei Säuren (Schwefelsäure, Salzsäure, Essigsäure, etc.) neutralisiert werden; um ,Neutralität schlechthin' zu erreichen, ist es gleichgültig, welche Säure dafür genommen wird. Ist aber ein besonderes Salz (Natriumsulfat) entstanden, dann schließt die besondere Affinität dieses Salzes (die durch die Beziehung von Säure- und Basenrest gebildete qualitative Einheit) eine weitere Neutralisation (z. B. durch Essigsäure) aus. Und gibt man Schwefelsäure zu Natritunacetat hinzu, dann verdrängt die Schwefelsäure, ohne daß der Zustand ,Neutralität schlechthin' formal verändert wird, Essigsäure aus diesem Salz, während umgekehrt die Essigsäure aus Natrimnsulfat Schwefelsäure nicht freisetzen kann: Die Wahlverwandtschaft zwischen Schwefelsäure und Natronlauge erweist sich als „für sich seyende ausschliessende Einheit". Durch Negation der Negation (Negativ-Setzen der Äquivalentgewichte in ihrem festen Verhältnis) begründet Hegel die neue, qualitativ bestimmte Maßgröße Wahlverwandtschaft. Richtig wäre, das feste Verhältnis als einen Hinweis auf eine neue zugrundeliegende Qualität zu nehmen, die als Energiegröße spezifisch von den bisher behandelten Massengrößen unterschieden und aus letzteren nicht deduzierbar ist. Der Schluß auf ein Zugrundeliegendes (und substantiell Verschiedenes) ist möglich und in der Geschichte der Naturwissenschaften produktiv xmd vorwärtstreibend gewesen, nämlich aus (empirisch ermittelten) Relationen von Maßen, spezifischen Exponenten imd konstanten Verhältnissen solcher Exponenten auf spezifische, die Maßverhältnisse begründende Qualitäten zu schließen (so wie aus den stöchiometrischen Massenverhältnissen und den daraus ablesbaren Äquivalentgewichten auf die atomare Struktur spezifisch verschiedener Substanzen geschlossen wurde, was gleichwohl kein zwingender Beweis war). Hegel hingegen setzt vermittels Negation der Negation eine neue, qualitativ bestimmte Maßgröße imd behauptet, darin seien sämtliche zimächst vorausgesetzten Qualitäten enthalten, welche daher durch diese Maßgröße ersetzt werden könnten. Diese neue Maßgröße ist negativ sowohl gegen die quantitativ bestimmten Maß-Relationen imd deren Exponenten als auch gegen die diesen zugrundeliegenden Äus-

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gangsqualitäten bestimmt. Aber diese beiden negativen Bestimmungen sind nicht hinreichend für die Wahlverwandtschaft (heute: für den Energieinhalt einer Verbindung). Die Wahlverwandtschaft kann zwar durch quantitative Maß-Relationen charakterisiert werden, geht jedoch nicht im festen Verhältnis von in Maß-Relationen spezifizierten Exponenten auf. Dieses Verhältnis verweist darauf, daß eine spezifisch von den Verhältnis-Maßen unterschiedene Qualität zugrundeliegt, begründet diese aber nicht. Hegel entwickelt innerhalb der Lehre vom Seyn den Übergang in das Wesen. Zunächst waren qualitativ Verschiedene vorausgesetzt worden. Damit wurden Maße, Maß-Relationen, deren Exponenten, Relationen dieser Exponenten (= Relationen von Maß-Relationen) imd weitere Exponenten der neuen Relationen möglich und bestimmbar, in denen jene qualitativen Voraussetzungen aufgehoben waren. Durch Negativ-Setzen der Exponenten in deren festem Verhältnis (durch Negation der Negation) deduzierte (oder setzte) Hegel ein Zugrundeliegendes, das selbst negativ bestimmt ist (nicht vorausgesetzte Ausgangsqualität, nicht Quantität, nicht unmittelbares Maß, nicht Exponent eines Maßverhältnisses, nicht veränderliche Relation solcher Exponenten zu sein), das gleichwohl Substrat (fürsichseiende negative Einheit) für die Maß-Relationen vmd die „Wahrheit" (vgl. 11.241,8; IV. 481) der bisherigen Bestimmtheiten sein soll. Indem das Zugnmdeliegende, gesetzt aus dem festen Verhältnis der Exponenten als ein dazu qualitativ Verschiedenes, dieses quantitative Verhältrüs annimmt, wird es zu einer neuen, von den vorherigen stöchiometrischen Maßgrößen qualitativ verschiedenen Maßgröße spezifiziert. Diese aus (quantitativen) Maßverhältnissen zurückgekehrte Maßgröße tritt an die Stelle der vorausgesetzten Ausgangsqualitäten und begründet sie. Wenn von dem Zugrundeliegenden auch noch dies Armehmen quantitativer Maßverhältrüsse beseitigt sein wird, darm ist ein nicht-qualitatives, nicht-quantitatives, überhaupt alle Bestimmtheiten aus der Sphäre des Seins negierendes Substrat erreicht und der Übergang zum Wesen vollzogen. Dagegen sei der oben formulierte Einwand wiederholt: Die „qualitative Einheit" ist weder gesetzt noch begründet, sondern ist vielmehr vorausgesetzt, um das feste Verhältnis der Exponenten bestimmen zu können. Wenn aber hier ein Heterogenes vorausgesetzt werden muß, darm scheitert der Hegelsche Übergang ins Wesen. Die Exponenten, welche zunächst Vergleichimgszahlen unter sich sind, haben in dem Momente des Ausschliessens erst ihre wahrhaft

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specifische Bestimmtheit gegen einander an ihnen und ihr Unterschied wird so zugleich qualitativer Natur. Er gründet sich aber auf das Quantitative;

Die Exponenten der (stöchiometrischen) Maß-Relationen sind „zunächst Vergleichungszahlen imter sich". Der Experimentator ermittelt solche vergleichbaren Zahlen für z. B. Schwefelsäure und Salzsäure, indem er dieselbe Menge Natronlauge in verschiedenen Versuchsansätzen durch die zu vergleichenden Säuren neutralisiert. Aus den äquivalenten Mengen Schwefelsäure und Salzsäure erhält er mittels Normienmg deren Äquivalentgewichte (49 bzw. 36). Diese sind gegeneinander gleichgültige Zahlen in einer Reihe von Zahlen (in der Reihe aller Äquivalentgewichte). Erst wenn das die übrige Reihe der Exponenten ausschließende Verhältnis zweier Exponenten (40 g Natronlauge reagieren mit 49 g Schwefelsäure zu Natriumsulfat) gebildet worden ist, haben die Exponenten „ihre wahrhaft specifische Bestimmtheit gegeneinander an ihnen". Bezogen auf denselben Ansatz Natronlauge schließt eine durch Schwefelsäure erfolgte Neutralisation eine weitere durch Salzsäure aus. Wenn Salzsäure sich mit Natronlauge verbunden und Kochsalz gebildet hat, dann treibt hinzugefügte Schwefelsäure aus dem Kochsalz Salzsäure aus. Weil die Wahlverwandtschaft der Schwefelsäure mit der Natronlauge stärker sei als diejenige der Salzsäure mit der Natronlauge, werde - so der zu Hegels Zeit geachtete Chemiker Bergman - letztere durch erstere aufgelöst. Mithin liegt für Hegel in dem „Momente des Ausschliessens", welches durch die Maßgröße „Wahlverwandtschaft" charakterisiert werden kann, die „specifische Bestimmtheit" der Schwefelsäure gegen die Salzsäure. „Es macht [...] den Hauptimterschied einer Säure gegen eine andere aus, ob sie zu einer Basis eine nähere Verwandtschaft habe, als eine andere, d. i. eine sogenannte Wahlverwandtschaft" (21.355,11-13; IV. 444). „[...] und ihr Unterschied wird so zugleich qualitatitver Natur". Die zu vergleichenden Säuren sind spezifisch durch den Exponenten, ihr Äquivalentgewicht, bestimmt. Diese sind ztmächst „Vergleichungszahlen xmter sich" (49 bzw. 36). Dieser „ihr Unterschied" (zimächst ein quantitativer) wird „in dem Momente des Ausschliessens" zugleich „qualitativer Natur": Daß 49 g Schwefelsäure im Vergleich zu 36 g Salzsäure dieselbe Menge Natronlauge neutralisieren, ist nicht nur ein stöchiometrischer Massenvergleich von gegeneinander äußerlich bleibenden Zahlen. Sondern die Zahl 49 (verglichen mit 36) stellt zugleich ein neues, qualitativ bestimmtes Maß dar, nämlich die verglichen mit Salzsäure stärkere Wahlver-

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wandtschaft der Schwefelsäure. Die Wahlverwandtschaft ist damit doppelt, d. h. qualitativ und quantitativ, bestimmt und ist als die Einheit beider Bestimmungen Maß: 1.) Durch das Negativ-Setzen der Exponenten in ihrem festen Verhältnis (durch Negation von deren Gleichgültigkeit außerhalb ihrer spezifizierten negativen Einheit) ist die Wahlverwandtschaft als eine von den stöchiometrischen Maßen (zu denen die Exponenten gehören) qualitativ verschiedene Maßgröße gesetzt. 2.) Ihre quantitative Bestimmxmg geht aus dem vorherigen quantitativen Verhältnis der Exponenten hervor. Insofern gründet sich der Unterschied, der „zugleich qualitativer Natur" ist (also der Unterschied der Wahlverwandtschaften), „auf das Quantitative" (auf die zuvor festgestellten stöchiometrischen Massenverhältnisse). Zu Hegels Zeit war die „Wahlverwandtschaft" und damit die Klärung des Grundes für die besondere chemische Attraktionskraft ein Gegenstand chemischer Grundlagenforschung. Man nahm an, daß die chemische Attraktion von der allgemeinen Anziehungskraft zweier Massen, der Gravitation, spezifisch verschieden wäre. Diese Annahme resultierte daraus, daß Chemiker zimächst von dem Entgegengesetzten - die chemische Attraktion wäre dasselbe wie die Gravitation - ausgegangen waren und jegliche chemische Verschiedenheit auf Größe und Gestalt der kleinsten Teilchen und auf aus deren verschiedener gegenseitiger Lage herrührende, verschieden starke Gravitationskräfte zurückgeführt hatten - wie Boyle, Buffon u. a. Dabei war aber die substantielle Differenz von physikalischem Mechanismus und chemischem Prozeß deutlich geworden; letzterer konnte gerade nicht aus ein und derselben zwischen Teilchen von ein und derselben Materie herrschenden physikalischen Gravitationskraft tmd deren mit dem Abstand lediglich quantitativ veränderlicher Größe erklärt werden. (In Hegels Argumentation ist die Differenz von mechanischer und chemischer Attraktion darin enthalten, daß die Wahlverwandtschaft als ein neues, gegen die stöchiometrischen Massenrelationen qualitativ unterschiedenes Maß entwickelt ist.) Weiterhin nahmen die zeitgenössischen Chemiker, dem Newtonschen Kraftbegriff folgend und insofern in Analogie zur Gravitation, an, daß die chemische Attraktion nie einseitig, sondern immer gegenseitig wirke. (Bei Hegel wird deshalb die neue Maßgröße Wahlverwandtschaft aus der Relation zweier selbständiger Maße entwickelt; das Verhältnis zweier gegeneinander gespannter Objekte, welches deren immanente Bestimmung ausmacht, ist deren Verwandtschaft oder Affinität, die den chemischen Prozeß begründet, welcher eine dem Begriffe, der in beiden Objekten derselbe ist, gemäße Verbin-

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düng herstellt - diese Verbindung der beiden Objekte wird durch deren Wahlverwandtschaft charakterisiert.) Eine solche zunächst abstrakte Bestinunung von Verwandtschaft (- Affinität) und Wahlverwandtschaft ermöglicht allerdings lediglich die Aussagen: 1.) Alle Stoffe, die möglicherweise miteinander reagieren können, sind miteinander verwandt. 2.) Wenn aus der Menge der Stoffe A, B, C, D etc. die Verbindung B - C gebildet wird, dann haben diese beiden eine Wahlverwandtschaft; verglichen damit sind alle anderen Kombinationsmöglichkeiten nicht wahlverwandt. Um mm das Verhältnis von Wahlverwandtschaft zu Verwandtschaft genauer zu bestimmen, erschien es den Chemikern plausibel, die Wahlverwandtschaft als Stärke der Verwandtschaft zu interpretieren, d. h. sie spezifizierten die allen Stoffen zukommende chemische Affinität zu einer Maßgröße. (Und dem folgte Hegel, wobei er das logische Problem schärfer sah: Ist Verwandtschaft das Verhältnis zweier gegeneinander gespannter Objekte und ist es derselbe Begriff, welcher aus ihnen ihre Verbindxmg herstellt, dann erscheint ein solcher Begriff als nicht quantifizierbar. Demnach müßten alle Stoffe m gleicher Weise miteinander verwandt sein und sich immerzu nur zu einer agglomerierenden Verbindung aller vorkommenden Stoffe vereinigen. Dem widerstreitet die Erfahrung, daß spezifische Wahlverwandtschaften gebildet, andere hingegen aufgelöst werden. Wird jedoch, um dies zu erklären, die Verwandtschaft zur Verwandtschaftsstärke (oder Affinitätsstärke) quantifiziert (d. i. als Maßgröße interpretiert), dann steht eine solche Quantifizienmg der Verwandtschaft im Widerspruch zum bisherigen Begriff einer generellen Verwandtschaft schlechthin. Die Entwicklung dieses Widerspruchs - so Hegel - macht gerade die Bestimmimg der neuen Maßgröße, der Wahlverwandtschaft, aus. Diese ist nicht eine bloß quantifizierte Verwandtschaft, und doch ist es nur ein Quantum, das die Verwandtschaft zu einer spezifisch ausschließenden und insofern qualitativ neuen Maßgröße entwickelt.) Bergman29 vermutete, alle Stoffe hätten Affirdtät zueinander (oder wären miteinander verwandt), jedoch äußerten sie diese ihre Affinität in einer für die jeweils zusammentretenden Stoffe charakteristischen Stärke. Jeder Verbindung könnte eine Maßzahl zugeordnet werden, welche die Affinitätsstärke der sie herstellenden Komponenten kennzeichnete und welche spezifisch für die jeweilige Verbindung wäre. (Für Hegel ist Verwandtschaft ein Relationsbegriff; sie ist das Verhältnis zweier gegenein29 H.Kopp:A.a. 0.312.

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ander gespannter Objekte. Dies ihr Verhältnis ist in der Verbindung beider Stoffe aufgehoben, welche durch eine Maßzahl charakterisiert werden kann. Deshalb ist die Wahlverwandtschaft fürsichseiende Maßgröße, welche als fürsichseiende „seine Beziehung und Gemeinschaft mit Anderem" (21. 145, 7; IV. 184) negiert, d. i. aufgehoben enthält.) Wenn zwei Stoffe um einen dritten konkurrieren, dann - so Bergman - sollte nach den Maßzahlen für die jeweiligen Affinitätsstärken zu bestimmen sein, welche der beiden möglichen Verbindungen gebildet werden würde - imd zwar sollte diejenige mit der größeren Affmitätsstärke ausschließlich gebildet werden, weswegen Bergman den Begriff ,attractio electiva' oder zu deutsch ,Wahlverwandtschaft' prägte. (Hegel erkannte den Widerspruch, der darin lag, die spezifisch auswählende, d. h. andere ausschließende Wahlverwandtschaft auf eine quantitativ veränderliche Größe, nämlich die Stärke der Verwandtschaft, zurückzuführen, welche allen Stoffverbindungen in bloß quantitativ imterschiedenem Maße zukäme. Deshalb ist für Hegel die Wahlverwandtschaft nicht lediglich quantifizierte Verwandtschaft (= Affinitätsstärke), sondern eine neue, von ,Verwandtschaft schlechthin' qualitativ verschiedene Maßgröße.) Um die Affirütätsstärken näher zu bestimmen, gab Bergman für sie zunächst eine durch ein experimentelles Verfahren definierte Ordnungsrelation an: Der Stoff, der einen zweiten aus dessen Verbindimg mit einem dritten verdrängen kann, galt als stärker verwandt mit diesem dritten als der zweite. Mittels dieser Ordnungsrelation resultierte eine diesen dritten Stoff spezifisch bestimmende Verwandtschaftstafel, in der verschiedene Stoffe in der Reihenfolge ihrer Affinitätsstärken zu diesem Stoff aufgelistet waren. Damit waren Affirütätsstärken zwar streng geordnet, aber nicht quantifiziert. Um die Affinitätsstärke durch eine Maßgröße bestimmen zu können, griff Bergman darauf zurück, daß Verbindungen im festen Massenverhältnis ihrer Bestandteile zusammengesetzt sind, was insbesondere für die Neutralisationsreaktion bekannt war: Die Menge Base, welche erforderlich ist, um eine bestimmte Menge derselben Säure zu neutralisieren (und damit das Salz zu bilden), hatte sich als stets dieselbe erwiesen. Bei Neutralisation einer bestimmten Menge dieser Säure durch verschiedene Basen benötigte man jeweils konstante Mengen dieser Basen. Diese äquivalenten Mengen listete man in der Neutralisationsreihe für jene Säure auf. Bergman verglich diese durch die stöchiometrischen Maße geordnete Neutralisationsreihe mit der durch die Relation ,stärker verwandt' streng geordneten Verwandtschaftstafel für dieselbe Säure und meinte, aus solchen Vergleichen (für mehrere Säuren) einen

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allgemeinen Zusammenhang zwischen der Affinitätsstärke einer Säure imd einer Base untereinander und dem stöchiometrischen Massenverhältnis, in welchem sie sich neutralisieren, ablesen zu können; Je größer die Affinitätsstärke des einen Stoffes (im Beispiel stehen hier die Affinitätsstärken der zu vergleichenden Basen, imd zwar für deren Verbindungen mit ein und derselben Säure als (innerem) Vergleichsmaßstab), desto weniger Masse des entgegengesetzten anderen (im Beispiel der Säure als des Vergleichsmaßstabs) wäre erforderlich. Daraus folgt für die Säure, deren Verwandtschaftstafel mit ihrer Neutralitätsreihe verglichen wurde: Dieselbe Menge Säure benötigte zu ihrer Neutralisation eine um so größere Menge an Base, je größer ihre Affinitätsstärke zu dieser Base wäre^o, d. h. abnehmende Massenzahlen in der Neutralitätsreihe bedeuteten abnehmende Affinitätsstärken. Dieser Bergmanschen Hypothese stand zu Hegels Zeit die genau entgegensetzte von Berthollet3i gegenüber: Je größer die Affinitätsstärke des einen Stoffes (im Beispiel stehen hier wieder die Affinitätsstärken der zu vergleichenden Basen, und zwar für deren Verbindxmgen mit ein und derselben Säure als (innerem) Vergleichsmaßstab), desto weniger Masse dieses Stoffes verbände sich mit dem entgegengesetzten anderen (im Beispiel mit der Säure als dem Vergleichsmaßstab) zum Sättigungs- oder Neutralisationsprodukt. Nach Berthollet benötigte dann dieselbe Menge Säure um so weniger an Base, je größer ihre Affinitätsstärke zu dieser Base wäre, d. h. abnehmende Massenzahlen in der Neutralitätsreihe bedeuteten ansteigende Affinitätsstärken. Obwohl der Streit der Chemiker nicht entschieden war, erschien es allseits als gewiß, daß ein Zusammenhang zwischen Affmitätsstärke imd stöchiometrischer Zusammensetzimg einer Verbindung existierte. Dem folgte Hegel in seiner systematischen Begründimg des Übergangs aus dem quantitativen Verhältnis der Exponenten (der äquivalenten Mengen) zur neuen, qualitativ davon imterschiedenen Maßgröße (der Wahlverwandtschaft), wobei Hegel die qualitative Differenz von Äquivalentgewicht imd chemischer Affinität bewahrte, beide aber nicht in der Weise unvereinbar begriff, daß ihre qualitative Differenz nicht spekulativ zu entwickeln wäre; Die Spezifikation der chemischen Affinität zur Wahlverwandtschaft „gründet sich [...] auf das Quantitative", d. h. das vorhergehende quantitative Verhältnis der Exponenten. Und Hegel erkannte, daß jener von den Chemikern postulierte Zusammenhang zu einem Widerspruch im Be30 H.Kopp:A.a.0.313f. 31 H.Kopp:A.a. 0.323.

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griff der Wahlverwandtschaft führt, wenn man diesen mit Affinitätsstärke gleichsetzt. Denn die Wahlverwandtschaft ist spezifisch ausschließend. Am Beispiel: Schwefelsäure verdrängt aus Kochsalz Salzsäure; Salzsäure kann jedoch nicht aus Glaubersalz Schwefelsäure verdrängen. Dies spezifische Ausschließen ist weder in einen proportionalen noch in einen umgekehrt proportionalen Zusammenhang mit dem (quantitativen) Verhältnis der Äquivalentgewichte von Schwefelsäure und Salzsäure (49 : 36) zu bringen. Beweis: Nimmt man an, die Wahlverwandtschaft wäre hinreichend bloß durch eine quantitativ veränderliche Größe (die Affinitätsstärken) bestimmt, wobei der Zusammenhang mit den stöchiometrischen Massenverhältnissen dahingestellt sein karm. Aus verschiedenen Affinitätsstärken (A sei stärker affin zu X als B zu X) lassen sich lediglich die Bildung von A X B bzw. die Bildung einer gemäß den Affinitätsstärken gewichteten Mischung von AX und BX ableiten, nicht aber das, was die Wahlverwandtschaft charakterisiert, nämlich das spezifisch auswählende Reaktionsverhalten (Stoff A scheidet aus der Verbindimg BX den Stoff B ab, wobei ausschließlich die Verbindung AX gebildet wird). Berthollet hatte dies Argument32 gegen Bergmans Ableihmg der Wahlverwandtschaft alleinig aus Unterschieden der Affinitätsstärke vorgebracht. Dem folgte Hegel und schloß: Zu der bloßen Bestimmung Verwandtschaft (= Affinität) muß etwas hinzukommen, was nicht lediglich Quantifizierimg dieser Affinität, also Affinitätsstärke, ist, sondern was qualitativ das spezifische Ausschließen kennzeichnet - dies ist die aus den vorherigen stöchiometrischen Maßverhältnissen mittels „Negation der Negation" gesetzte „qualitative" resp. „ausschliessende Einheit". Den Erklärimgsversuch BerthoUets für die Wahlverwandtschaft, durch „Cohäsion" (Bildimg schwerlöslicher Salze) imd „Elasticität" (Bildung von gasförmigen Stoffen) würden Verbindungen dem reagierenden System tmd den Wirkungen von Affinität rmd Masse der Stoffe entzogen und so käme es zur ausschließlichen Bildtmg solcher Verbindimgen33, weist Hegel zurück: Dem schon erreichten, spezifisch chemischen Verhalten sei es nicht angemessen, auf abstrakte physikalische Umstände zurückgeführt zu werden. „Indem hiemit die Verwandtschaft auf den quantitativen Unterschied zurückgeführt ist, ist sie als Wahlverwandtschaft aufgehoben; das Ausschliessende aber, das bey derselben Statt findet, ist auf Umstände zurückgeführt, d. i. auf Bestimmxmgen, welche als etwas der 32 H. Kopp: A. a. 0.318. 33 H. Kopp: A.a. 0.318 ff.

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Verwandtschaft äusserliches erscheinen, auf Cohäsion, Unauflöslichkeit der zu Stande gekommenen Verbindimgen u. s. f. [...] Es beginnt mit dem Qualitativen als solchen eine neue Ordnimg, deren Specification nicht mehr nur quantitativer Unterschied ist.“ (21.359,7-20; IV. 449f) Die Bestimmimg der Wahlverwandtschaft enthält also den Widerspruch: Sie ist als Maßgröße entwickelt worden (sie „gründet“ auf dem Quantitativen, auf den vorherigen quantitativen Maßrelationen). Zugleich ist die Spezifität der Wahlverwandtschaft, das spezifische Ausschließen, nicht durch eine bloß quantitativ veränderliche Maßgröße (die Affinitätsstärke) zu begründen. Die Entwicklung dieses Widerspruchs macht gerade - so Hegel - die konkretere Bestimmung der Wahlverwandtschaft aus (vgl. das folgende Kapitel Wahlverwandtschaft). Rekapitulierend sei ein verkürztes Schema der Hegelschen Argumentation angefügt: Verwandtschaft ist das Verhältnis zweier gegeneinander gespannter Objekte, und es ist derselbe Begriff, der aus ihnen ihre Verbindung herstellt. Weil ein solcher Begriff als nicht quantifizierbar erscheint, müßten alle Stoffe in gleicher Weise miteinander verwandt sein und sich unspezifisch zusammenballen. Widerspruch zur Erfahrung. Daraus erschlossen: Verwandtschaft wird als Maßgröße entwickelt. Dies führt auf zwei einander widersprechende Bestimmimgen: Die Wahlverwandtschaft erhält ihr Quantum aus den vorherigen Maßrelationen („gründet [...] auf das Quantitative“) und ist insoweit Verwandtschaftsstärke. Zugleich ist das spezifische Ausschließen der Wahlverwandtschaft nicht aus einer quantitativ veränderlichen Maßgröße erklärbar, und insoweit ist die Wahlverwandtschaft nicht bloß quantifizierte Verwandtschaft. Er gründet sich aber auf das Quantitative; das Selbständige verhält sich erstens nur darum zu einem Mehrern seiner qualitativ andern Seite, weil es in diesem Verhalten zugleich gleichgültig ist; zweytens ist mm die neutrale Beziehung durch die in ihr enthaltene Quantitativität nicht nur Veränderung, sondern als Negation der Negation gesetzt, imd ausschliessende Einheit. Dadurch ist die Verwandtschaft eines Selbstständigen zu den Mehrern der andern Seite nicht mehr eine indifferente Beziehung, sondern eine Wahlverwandtschaft.

Die Exponenten der vorherigen Maßverhältnisse, „welche zunächst Vergleichimgszahlen unter sich“ waren, erweisen sich, wenn sie ein

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ausschließendes Verhältnis eingehen (wenn sie in ihrer negativen, qualitativen, fürsichseienden Einheit negativ gesetzt werden), als qualitativ gegeneinander unterschieden. Hegel läßt für „die besondem Theile der concreten Naturwissenschaft" (21. 353, 8; IV. 441) offen, wie im einzelnen jene Vergleichungszahlen (für die Äquivalentgewichte) mit der neuen Maßgröße „Wahlverwandtschaft" Zusammenhängen. Aber Hegel behauptet, daß aus jenem zunächst quantitativen Unterschied der Vergleichungszahlen ein qualitativer, nämlich der Unterschied der Wahlverwandtschaften, hervorginge. Dieser Unterschied irmerhalb des neuen, qualitativ bestimmten Maßes gründe sich „auf das Quantitative" (die vorherigen stöchiometrischen Maß Verhältnisse). Mit dem Erreichen der Wahlverwandtschaft (bei Hegel: mit der durchs bloße InsVerhältiüs-Setzen der Exponenten begründeten negativen Einheit derselben) hat sich die Argumentation gedreht: Zuvor - d. i. außerhalb ihrer Beziehung (in einer spezifischen chemischen Verbindung) aufeinander - waren die Äquivalentgewichte Zahlen in einer Reihe von Zahlen imd so gleichgültig gegeneinander; negativ gegen diese Gleichgültigkeit war die qualitative, fürsichseiende Einheit der Exponenten gesetzt. Indem diese Einheit jetzt erreicht ist, erweisen sich die zuvor einander ausschließenden Bestimmungen (Gleichgültigkeit und Negation der Gleichgültigkeit) als verändert zu Momenten irmerhalb dieser Einheit, dem quantitativen (unter „erstens") imd dem qualitativen (unter „zweytens"). Vom selbständigen Maß des Ausgangs (z. B. einem Äquivalent Schwefelsäure) aus gesehen sind beide Bestimmimgen einander ausschließende Alternativen. A: Schwefelsäure enthält an sich die Beziehimg auf alle Basen, die möglichen Wahlverwandtschaften unterscheiden sich so lediglich durch die quantitativen Verhältnisse bei der Neutralisation, bezogen auf Neutralisation überhaupt ist Schwefelsäure gleichgültig gegen die Besonderheit der neutralisierenden Basen xmd somit als Möglichkeit bestimmt, Salze schlechthin zu bilden. Oder B: Geht Schwefelsäure eine Wahlverwandtschaft ein, darm schließt diese alle anderen Salzbildimgen von sich aus und damit dasjenige, was der Möglichkeit in der Schwefelsäure enthalten war (nämlich A). Werden beide einander ausschließenden Bestimmungen auf die erreichte Wahlverwandtschaft bezogen, dann sind sie zu Momenten derselben geworden. Diese gründen auf den vorherigen stöchiometrischen Maßverhältnissen, doch innerhalb des neuen Verhältnismaßes gewinnt der zunächst quantitative Unterschied zugleich qualitative Natur (das Umschlagen von Quantität in Qualität innerhalb der „Knotenlinie" wird hier vorbereitet).

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Das erste (quantitative) Moment der Wahlverwandtschaft oder ihre quantitative Seite: „Das Selbstständige [z. B. ein Äquivalent Schwefelsäure, U. R. ] verhält sich erstens nur darum zu einem Mehrern seiner qualitativ andern Seite [zu mehreren Äquivalenten verschiedener Basen, welche eine Reihe von Exponenten bilden und so Mehreres von ,Base schlechthin' sind - „Mehrern" bedeutet nicht Äquivalent einer Base, denn dieses ist intensive Größe, und eine intensive Größe wird bei Hegel nicht als „Mehreres" gefaßt, vgl. 21. 210, 14; IV. 264, U. R.], weil es in diesem Verhalten zugleich gleichgültig ist". Bezieht man die Neutralisationen der Schwefelsäure mit verschiedenen Basen auf Verwandtschaft bzw. Streben nach Neutralität schlechthin als allgemeinen Maßstab des Vergleichens, dann ist es gleichgültig, welche besondere Neutralisation erfolgt und welches besondere Salz dabei gebildet wird. Die Schwefelsäure kann durch verschiedene Basen neutralisiert werden; diese Neutralisationen sind deshalb vergleichbar, weil sie alle auf denselben Prozeß (H+ + OH- H2O) bezogen werden können; jede einzelne Neutralisation enthält diesen Prozeß. Bei Hegel ist dies als Gleichgültigkeit gegen die besondere Neutralisation (darin enthalten die Gleichgültigkeit gegen die spezifische Qualität als besondere Säure, die Gleichgültigkeit gegen das Besondere der Base und gegen das besondere gebildete Salz; wie schon zuvor bemerkt, muß in dem Begriff „Gleichgültigkeit" der chemische Kontrapunkt „Neutralität" mitgelesen werden) gefaßt. Und insofern schließt das besondere Verhalten des einzelnen „Selbstständigen" (der Schwefelsäure in ihrer besonderen Neutralisationsreaktion mit z. B. Natronlauge, also die Wahlverwandtschaft der Schwefelsäure mit der Natronlauge) zugleich die Gleichgültigkeit gegen das Besondere mit ein und ist so Neutralisation schlechthin - die Wahlverwandtschaft enthält Verwandtschaft schlechthin als Moment. Hegels Argumentation ist zxmächst Rückgang in den Grund des Verhaltens eines „Selbstständigen" (z. B. eines Äquivalents Schwefelsäure), nämlich daß es zu „Mehrern seiner qualitativ andern Seite" (zu der Reihe der Äquivalente verschiedener Basen) in Beziehung steht (von jeder Base neutralisiert werden kann). Dies sei nur möglich, weil jedem einzelnen Verhalten (jeder einzelnen Neutralisationsreaktion) Gleichgültigkeit gegen die besondere Neutralisationsreaktion imd damit Verwandtschaft schlechthin zugrunde liege (nämlich daß das Verhältnis zweier gegeneinander gespannter Objekte die immanente Bestimmung jedes einzelnen ausmache, wodurch das Streben nach Neutralität schlechthin tmd dadurch Neutralisation gesetzt sei). Da für Hegel das rückwärtsgehende Erschließen des Grundes zusammenfällt mit

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dem aus den Maßverhältnissen entwickelbaren (gesetzten) Resultat, ist Verwandtschaft nicht nur als Grund für das Verhalten eines Exponenten zur gegenüberstehenden Reihe der Exponenten erschlossen, sondern als neues, qualitativ bestimmtes Maß (genauer: als Moment eines solchen Maßes) aus den bisherigen Maßverhältnissen gesetzt (= begründet). Diese Hegelsche Begründung der Verwandtschaft aus dem Verhalten des Exponenten zu seiner gegenüberstehenden Reihe enthält neben dem schon kritisierten generellen Fehler noch den speziellen: Verwandtschaft ist nicht hinreichend dadurch bestimmt, daß ein Exponent jeweils ein Maßverhältnis mit jedem einzelnen Exponenten der gegenüberstehenden Reihe eingehen kann und es zur Erreichung der Neutralität gleichgültig ist, welches Maßverhältnis er eingeht. Hegels Argumentation benutzt die Verschränkimg von „gleichgültig" nüt „neutral": Ein Exponent könne der Möglichkeit nach auch mit allen anderen gegenüberstehenden Exponenten Maßverhältnisse eingehen. Insofern sei er gleichgültig gegen das gebildete besondere Maßverhältnis. Der Bildimg eines besonderen Maßverhältnisses liege jene Möglichkeit zur Bildung aller anderen Maßverhältnisse zugrunde. Deshalb enthalte ein besonderes Maßverhältnis zugleich die Gleichgültigkeit gegen diese Besonderheit (oder die Negation der Besonderheit, erste Negation). Unter Verwendung der durch die chemische Stimme ermöglichten Gleichsetztmgen Negation der Besonderheit = Gleichgültigkeit gegen die Besonderheit, Gleichgültigkeit = Neutralität und Streben nach Neutralität = Verwandtschaft folgert Hegel, daß jedes besondere Maßverhältnis der Exponenten Verwandtschaft enthalte. Deshalb könne von der Gleichgültigkeit des Exponenten in seinem Verhalten zur gegenüberstehenden Exponentenreihe zur Verwandtschaft übergegangen werden, die selbst zunächst noch nicht quantifiziert und lediglich qualitativ von den bisherigen Maßverhältnissen unterschieden sei. Das zweite (qualitative) Moment der Wahlverwandtschaft oder ihre qualitative Seite: Nachdem imter „erstens" die neue Maßgröße qualitativ von den bisherigen imterschieden worden ist, wird sie unter „zweytens" durch quantitative Bestimmimg spezifiziert, d. h. die Verwandtschaft wird zum spezifischen Ausschließen innerhalb der vielfachen Verwandtschaftsbeziehung, zur Wahlverwandtschaft, entwickelt. Die „neutrale Beziehung" (das Salz) enthält „Quantität!vität". (Die Exponenten sind in dieser ihrer Beziehxmg nicht als ineinander übergehende und quantitativ sich verändernde Zahlen, sondern als konstante, im festen Verhältnis sich gegenseitig begrenzende Zahlen enthalten.) Weil die „neutrale Beziehung" „Quantitativität" enthält, ist sie nicht nur „Verän-

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derung". („Veränderung" bedeutet zunächst: Wenn aus der einen Qualität ,Schwefelsäure' die andere Qualität ,Glaubersalz' gebildet wird, dann hat sich die Qualität verändert. Und des weiteren; Weil die Bestimmung ,Verwandtschaft' gleichgültig gegen die besonderen Neutralisationsreaktionen ist, sind die diese charakterisierenden Exponentenverhältnisse veränderliche Zahlen. Mit Verwandtschaft schlechthin ist erst einmal ein veränderlicher imd beliebig erscheinender Zahlendurchlauf von Exponentenverhältnissen verknüpft.) Die „neutrale Beziehung [...] [ist, U. R.] als Negation der Negation gesetzt". (Die erste Negation ist die Negation des Gegensatzes von Säure und Base, welche - als Verwandtschaft schlechthin - den besonderen Neutralisationsreaktionen zugrundeliegt imd auf welche bezogen die Exponentenverhältrüsse als beliebige und veränderliche Zahlenverhältnisse erscheinen. Negativ gegen diese erste Negation, das abstrakt negative Verhalten, welches, gleichgültig gegen die besonderen Exponentenverhältnisse, bloß auf Neutralität schlechthin zielt, ist das Spezifische bestimmt, was die „neutrale Beziehung" einer besonderen Säure mit einer besonderen Base ausmacht, die Wahlverwandtschaft, die das feste stöchiometrische Exponentenverhältnis im Salz hervorbringt.) Die „neutrale Beziehung" ist somit „ausschliessende Einheit". (Bilden zwei Exponenten ein festes Maßverhältrüs, darm sind Beziehimgen zu dritten Exponenten ausgeschlossen. Ist Natronlauge durch Schwefelsäure neutralisiert worden, dann schließt die besondere Wahlverwandtschaft des gebildeten Glaubersalzes eine weitere Neutralisation durch Salzsäure aus. Salzsäure karm nicht Schwefelsäure aus Glaubersalz vertreiben. Hinzuzufügen ist: „Ausschliessende Einheit" bedeutet nicht lediglich, daß die durch ein festes Exponentenverhältnis gebildete „qualitative Einheit" alle anderen möglichen Exponentenverhältnisse ausschließt (dann wären nämlich zwei durch verschiedene Exponentenverhältnisse gebildete „qualitative Einheiten" gar nicht qualitativ voneinander zu imterscheiden), sondern bedeutet spezifisch ausschließend. Schwefelsäure kann Salzsäure aus Kochsalz verdrängen, während Salzsäure aus Glaubersalz Schwefelsäure rücht verdrängen kann. Die Spezifität dieses Ausschließens soll durch Vergleich der Maßzahlen für die jeweiligen Wahlverwandtschaften bestimmbar sein - so Hegel, folgend den Vermutimgen der damaligen Chemiker.) „Dadurch ist die Verwandtschaft eines Selbstständigen zu den Mehrern der andern Seite nicht mehr eine indifferente Beziehung, sondern eine Wahlverwandtschaft". Unter „erstens" war die Verwandtschaft als „indifferente Beziehung" qualitativ von den bisherigen Maßverhält-

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nissen unterschieden und gleichgültig (indifferent) gegen die Besonderheit einer spezifisch bestimmten Neutralisation. Neutralisationsreaktionen gleichen sich darin, daß immer aus H+ und OH- H2O gebildet wird, daß der allgemeine Gegensatz von Säure imd Base negiert wird und daß eine erfolgte Neutralisation eine weitere nicht mehr zuläßt. Verwandtschaft schlechthin kommt also jeder Säure bzw. Base in gleicher Weise zu. Negativ gegen die insoweit indifferente Verwandtschaft schlechthin ist xmter „zweytens" die „Wahlverwandtschaft" bestimmt. Die Gleichgültigkeit gegen die mehreren Exponenten der anderen Seite ist negiert, die Wahlverwandtschaft charakterisiert ein spezifisch auswählendes Verhalten. Die Wahlverwandtschaft ist als Maß Einheit von Qualität xmd Quantität. Von den vorherigen selbständigen Maßen, die unmittelbar an sich bestimmt sind (wie das spezifische Gewicht oder das Äquivalentgewicht), unterscheidet sie sich dadurch, daß sie ein Verhältnismaß darstellt, genauer: Sie ist die Einheit einer Relation von Maßen und charakterisiert das Verhältnis zweier gegeneinander gespannter Objekte34. Sonüt ist die Wahlverwandtschaft eine von den stöchiometrischen Maßen qualitativ unterschiedene Maßgröße. Und als Maßgröße ist sie quantifiziert; ihr Quantum erhält sie aus dem vorherigen Exponentenverhältnis. Doch die Bestimmung der Wahlverwandtschaft als lediglich quantifizierte Verwandtschaft oder Verwandtschaftsstärke führt auf einen Widerspruch. Denn das spezifische Ausschließen ist nicht aus einer quantitativ veränderlichen Maßgröße erklärbar (s. dazu den Übergang zur „Knotenlinie" Seite 181). In einem unmittelbar an sich bestimmten selbständigen Maß stehen Qualität und Quantität unmittelbar sich gegenüber (wie im spezifischen Gewicht Dimension imd Quantum). In dem Verhältnismaß ,Wahlverwandtschaft' sind dessen quantitative imd qualitative Seite Momente, die ihrerseits wie die Wahlverwandtschaft selbst (die Gleichgültigkeit der Exponenten (als Quanta) außerhalb ihrer Beziehung aufeinander ging über in ihr festes, eine neue Qualität begründendes Verhältnis) Einheiten von Qualität und Quantität dergestalt sind, daß an ihnen selbst Qualität und Quantität ineinander übergehen: 1.) Die Verwandtschaft - das erste Moment - gründet sich „auf das Quantitative". Aus der Gleichgültigkeit des Exponenten in seinem 34 vgl. dazu die erste Auflage: „In der Wahlverwandtschaft hat das specifisch Selbstständige seinen ersten Charakter vollständig verlohren, unmittelbar an sich bestimmt zu seyn; es ist an sich bestimmt, nur als fürsichseyende negative Einheit“ (11.210,28-30).

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(quantitativen) Verhalten zu gegenüberstehenden Exponenten (also aus beliebig erscheinenden, veränderlichen Zahlenverhältnissen) wird auf die Verwandtschaft als qualitativ von den bisherigen Maßverhältnissen unterschiedenes Maß geschlossen. Aber die Verwandtschaft bleibt nicht „rein qualitativer Natur" (21. 354, 25; IV. 443), denn sie ist nicht singulär (wie die Beziehung des Nordpols zum Südpol, wo es nicht verschiedenerlei Arten von Südpolen gibt), sondern sie existiert nur als gemeinsames Moment in den verschiedenen Neutralisationsreaktionen, die durch quantitativ verschiedene Exponentenverhältnisse charakterisiert werden können. Und insofern ist die Verwandtschaft auch „quantitativer Natur [...], [...] jeder dieser Stoffe fähig mit Mehrern sich zu neutralisiren, und nicht auf einen gegenüber stehenden eingeschränkt. Es verhält sich nicht nur die Säure imd das Kali oder Basis, sondern Säuren und Kalien oder Basen zu einander [letzteres ist Verwandtschaft schlechthin, welche dem Verhalten einer besonderen Säure und einen besonderen Base zugnmdeliegt, U. R.]. Sie charakterisiren sich zunächst dadurch gegen einander, je nachdem eine Säure z. B. von einem Kali mehr bedarf um sich mit ihm zu sättigen, als eine andere" (21.355,3-8; IV. 443). 2.) Das spezifisch ausschließende Verhalten - das zweite qualitative Moment - gründet sich ebenfalls „auf das Quantitative". Negativ gegen die indifferente Verwandt-schaftsbeziehung schlechthin (die quantitative Seite der Wahlverwandtschaft) ist das Spezifische eines besonderen Neutralisationsverhältnisses (einer Wahlverwandtschaft) durch eine Maßzahl charakterisiert, welche aus dem quantitativen Exponentenverhältnis herkommt. Also gründet der Unterschied irmerhalb des neuen Verhält-nismaßes „auf das Quantitative". Weil mithilfe dieser Maßzahl das spezifisch ausschließende (xmd auswählende) Verhalten bestimmt werden könne (die „wahrhaft specifische Bestimmtheit" der Exponenten gegeneinander), gewinnt der quantitative Unterschied der Maßzahlen auch qualitative Natur (Übergang von Quantität in Qualität). Im zweiten Band der Enzyklopädie (IX. 431 ff) erläutert Hegel die „Wahlverwandtschaft" an einem Modell, das auch von den damaligen Chemikern (Guyton de Morveau, Richter) verwendet wurde: Die wäßrigen Lösxmgen zweier Salze werden vermischt, unter Austausch der Säure- und Basenreste bilden sich zwei neue Salze; genau besehen handelt es sich um die „doppelte Wahlverwandtschaft"^^, bei der zwei 35 H.Kopp:A.a. 0.302.

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neue Wahlverwandtschaften gebildet und die beiden Ausgangswahlverwandtschaften aufgelöst werden (vgl. auch 21. 355, 15; IV. 444). Könnte man die Wahlverwandtschaft durch eine Maßgröße charakterisieren, dann - so die Vermutung damaliger Chemiker - wäre eine Voraussage möglich, ob die zwei neuen Salze sich bilden können - wenn nämlich die Summe der Maßzahlen für die beiden sich bildenden Wahlverwandtschaften größer wäre als die Summe der Maßzahlen für die beiden aufgelösten Wahlverwandtschaften^^. „Der Proceß ist überhaupt dieser, daß Eine Neutralität aufgehoben, aber wieder eine andere Neutralität hervorgebracht wird. Die Neutralität ist also hier im Kampfe mit sich selbst begriffen, indem die Neutralität, welche das Product ist, durch die Negation der Neutralität vermittelt wird" (IX. 433). Unter „Eine Neutralität" versteht Hegel ein Salz, gebildet durch die Wahlverwandtschaft einer besonderen Base mit einer besonderen Säure. Wird die Beziehimg von Säure imd Base zunächst nur als Verwandtschaft schlechthin (als Streben nach Neutralität schlechthin) bestimmt, dann ist der Austausch der Säure- und Basenreste ein „Kampf" innerhalb der Verwandtschaft (und innerhalb der „Neutralität"). Denn der neutrale Zustand bleibt bestehen, und Verwandtschaft schlechthin bestimmt vor wie nach der Umgruppierung der Salze deren innere Beziehtmg. Daß dennoch überhaupt eine Umgruppierung stattfindet, muß - so schließt Hegel - durch „Negation der Neutralität" vermittelt sein. Oder es muß etwas geben, welches negativ gegen die „Neutralität" (gegen den neutralen Zustand schlechthin, der gleichermaßen für die neuen wie für die Ausgangssalze zutrifft) und negativ gegen das Bestreben von Säureund Basenrest, im Salz zu „Einer Neutralität" zusammenzuhalten, also auch negativ gegen die Verwandtschaft die Umgruppierung hervorruft. In ihrem „Kampf mit sich selbst" fimgiert die „Neutralität" (bzw. die Verwandtschaft) sowohl aktivisch als auch passivisch, d. h. sie negiert und sie wird negiert. Beide Bedeutungen sind in „Negation der Neutralität" zusammengezogen, was sowohl genitivus obiectivus als auch genitivus subiectivus darstellt. Dasselbe gilt für die „Negation der Affinität" im anschließenden Satz des Zitats. Hegel sieht von den Besonderheiten der Salze ab und faßt sie als „Neutralitäten". Nur so kann er einen Kampf der „Neutralität" mit sich selbst und zudem einen durch die „Neutralität" gesetzten Prozeß konstruieren, welcher sowohl Affinität als auch Negation der Affinität enthält und durch den das zugrun36 H.Kopp:A.a. 0.303.

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deliegende Substrat „Neutralität" zu „Neutralitäten" spezifiziert wird. Eine solche „Neutralität" impliziert das Wesen, d. i. die reflexive Bewegung, die aus sich den Unterschied begründet. „Es sind also besondere Neutralitäten von Säuren und Basen im Conflict mit einander. Die Affinität einer Säure zu einer Basis wird negirt; und die Negation dieser Affinität ist selbst die Beziehung einer Säure zu einer Basis, oder ist selbst eine Affinität" (IX. 433). Die Affinität (= Verwandtschaft) einer Säure zu einer Base im Ausgangssalz wird negiert, d. h. deren Beziehung wird aufgehoben. Dasjenige, welches diese Negation bewirkt und deshalb zunächst als „Negation dieser Affinität" bestimmt ist, ist selbst die Beziehung einer Säure zu einer Base (nämlich zu einer anderen Base) und insofern selbst eine Affinität. Dasjenige, welches Affinität negiert oder aufhebt, ist selbst Affinität (wobei Hegel wieder von den Besonderheiten absieht und nur Affinitäten zuläßt). Die Einheit von Affinität (- Verwandtschaft) und Negation der Affinität (was sowohl genitivus obiectivus als auch genitivus subiectivus bedeutet) ist die Wahlverwandtschaft, also: Die Wahlverwandtschaft ist Verwandtschaft und hebt zugleich Verwandtschaft auf (oder negiert diese). Die Wahlverwandtschaft ist Resultat jenes die „Neutralität" spezifizierenden Prozesses, der Affinität und Negation der Affinität enthält imd in dem eine zunächst singuläre Qualität („Neutralität" bzw. Verwandtschaft schlechthin) zu den vielen, qualitativ gegeneinander imterschiedenen Wahlverwandtschaften individuiert wird. Eine Maßgröße, die Affinitätsstärke, soll die Verschiedenheit der Wahlverwandtschaften ausdrücken. - Die aus der Enzyklopädie zitierte Stelle erläutert die zu kommentierende aus der Wissenschafl der Logik: Dort ist negativ gegen die indifferente Verwandtschaft schlechthin die spezifisch ausschließende Wahlverwandtschaft gesetzt; Verwandtschaft und Wahlverwandtschaft imterscheiden sich dann dadurch, daß ein spezifizierendes Quantum hinzutritt; dieser quantitative Unterschied gewinnt jedoch innerhalb des neuen Verhältnismaßes qualitative Natur.) „Diese Affinität ist ebenso die Affinität der Säure des zweiten Salzes zur Basis des ersten, als der Base des zweiten zur Säure des ersten [doppelte Wahlverwandtschaft, U. R.]. Diese Affinitäten, als das Negirende der ersten Affinitäten, werden Wahlverwandtschaften genannt [...]" (IX. 433). Die beiden Salze vor und die beiden Salze nach der Umgruppienmg sind jeweils Affinitäten (d. h. Beziehimgen von Säure und Base bzw. von Säurerest rmd Basenrest). Durch den „vollständig realen chemischen Proceß" (IX. 431) - das ist die Umgruppierung der Salze, wobei Verwandtschaften aufgehoben und zugleich neue geschlossen werden - erweisen sich die Affinitäten

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ZU Wahlverwandtschaften spezifiziert, welche als ihre zwei Momente Affinität und Negation der Affinität enthalten. Und umgekehrt bestimmt die Wahlverwandtschaft durch ihr auswählendes imd ausschließendes Verhalten den „vollständig realen chemischen Proceß“. Von Hegel ist der Übergang von den Affinitäten zur Wahlverwandtschaft als Prozeß der Selbstspezifikation der in der Neutralität aufgehobenen Verwandtschaftsbeziehung gedacht. „Die Neutralität ist [...] im Kampfe mit sich selbst begriffen“. Analog wie beim Magnetismus und der Elektrizität setzt „das Entgegengesetzte, Säure imd Kali, sich identisch [...]. Die existirende, erscheinende, thätige Weise ist dieselbe. Ein Säure treibt eine andere aus einem Basischen aus, wie der magnetische Nordpol den Nordpol abstößt, aber jeder mit demselben Südpol verwandt bleibt. Aber hier vergleichen sich Säuren an einem Dritten mit einander [wenn z. B. Schwefelsäure und Salzsäure um die Natronlauge konkurrieren, und die Wahlverwandtschaft der Schwefelsäure zur Natronlauge sich als stärker herausstellt; die Vergleichung der Säuren enthält sowohl die Beziehimg auf Gleichheit (Verwandtschaft schlechthin) als auch auf Ungleichheit (vgl. 11. 268, 30; IV 519), welch letztere beim chemischen Prozeß - im Unterschied zu Magnetismus und Elektrizität - durch ein Quantum, genauer: durch die die Verwandtschaft schlechthin spezifizierende Maßgröße ,Affinitätsstärke' hereinkommt, U. R.], und jeder Säure ihr Entgegengesetztes ist mehr dieses Basische als das andere: Die Determination geschieht nicht bloß durch die allgemeine Natur des Entgegengesetzten [die Entgegensetzung des Magnetismus (Nord- imd Südpol) imd die der Elektrizität (+ und -) folgen der „allgemeinen Natur des Entgegengesetzten" oder der Wesensbestimmung des Gegensatzes, während für die Entgegensetzung des Chemismus als spezifizierende Bestimmung die als Maßgröße faßbare Stärke der Entgegensetzung („dieses Basische“ ist „mehr“ entgegengesetzt, stärker verwandt, als „das andere“ Basische) hinzukommt, U. R.], weil der chemische Prozeß das Reich der Arten ist, die qualitativ thätig gegen einander sind. [In diesem „Reich der Arten“ ist dasselbe Prinzip, der Chemismus, individuiert in die Einzelexemplare, die einzelnen chemischen Stoffe, die nicht abstrakt gegeneinander wie im Magnetismus, sondern „qualitativ“, d. h. in spezifischer und die einzelnen Stoffe spezifizierender Weise (durch die Stärke der Affinität) gegeneinander „thätig“ sind, vgl. IX. 385,387, U. R.] Die Hauptsache ist also die Stärke der Verwandtschaft [...]“ (IX. 434). Also: Die Wahlverwandtschaft ist Affinität und zugleich Negation der Affinität, und insofern sie sich „auf das Quantitative“ gründet, ist sie „Stärke der Affinität“. Dieses Grün-

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den auf das Quantitative ist in der Wissenschaft der Logik ausgeführt: Erstens enthält die Wahlverwandtschaft die Möglichkeit, Relationen zu mehreren Exponenten der anderen Seite einzugehen, und zweitens werden in einer Relation durch die darin sich erhaltende „Quantitativität" die Relationen zu den mehreren ausgeschlossen. c. Wahlverwandtschaft. Es ist hier der Ausdruck Wahlverwandschaft, wie auch im vorhergehenden Neutralität,Verwandtschaft,gebraucht worden, - Ausdrücke, die sich auf das chemische Verhältniß beziehen. Denn in der chemischen Sphäre hat wesentlich das Materielle seine specifische Bestimmtheit in der Beziehung auf sein Anderes; es existirt nur als diese Differenz.

Hegel suggeriert, die chemischen Begriffe ,Wahlverwandtschaft', ,Neutralität', ,Verwandtschaft' seien lediglich als Demonstrationsbeispiele für tmabhängig von ihnen entwickelbare logische Bestiirunungen angeführt. Jedoch zeigte der Kommentar zum vorherigen Kapitel, daß die Bestimmungen des chenüschen Beispiels wesentlich in die logische Darstellung eingehen. Demnach müssen die chemischen Beispiele zitiert werden. Nicht ausschließlich „in der chemischen Sphäre" (sondern imter anderen auch in der musikalischen) soll gelten, daß „das Materielle seine specifische Bestimmtheit in der Beziehimg auf sein Anderes" hat. Dieses Andere ist nicht sowohl ein mit dem Ersten gegebenes und ihm äußerliches Anderes, als daß es „sein Anderes" ist. „Das Materielle [...] existirt nur als diese Differenz". Chemische Stoffe sind wesentlich durch ihre Beziehungen auf andere bestimmt; sie existieren als einseitige, „gegen einander negative tmd gespannte Objectivitäten" (12.147,11 f; V. 200). Dies Verhältiüs der gespannten Objekte gegeneinander macht die immanente Bestimmung eines jeden einzelnen chemischen Objekts aus xmd ist seine Affinität oder Verwandtschaft. Das chemische Objekt enthält damit das Streben, seine einseitige Existenz imd die des entgegengesetzten Anderen aufzuheben, und setzt so den chemischen Prozeß. Dieser - „ein negatives Verhalten" gegen die „vorherige selbstständige Bestimmtheit" (12. 150,11,14; V. 203) - verwirklicht das, was dem Begriff nach im chemischen Objekt enthalten war. Weil Hegel die Qualität eines chemischen Objekts wesentlich als eine den Prozeß setzende Bestimmimg (als Reaktionsfähigkeit in allen mögli-

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chen Prozessen) faßt, weil diese Prozesse durch Maß-Relationen charakterisiert werden können und weil aus diesen Maß-Relationen eine neue, fürsichseiende Maßgröße (die Wahlverwandtschaft) bestimmbar wird, deshalb ist dasjenige, was den Prozeß bewirkt (die immanente, qualitative Bestimmimg des chemischen Objekts = seine Affinität), im und durch den Prozeß zu einem Maß (nämlich zur Wahlverwandtschaft) spezifiziert, in welchem die zunächst vorausgesetzten Qualitäten aufgehoben sind und durch welches sie ersetzt werden können. Richtig an der Hegelschen Bestimmung des Verhältnisses von Objekt und Prozeß ist, daß chemische Qualität nur in der Beziehimg auf andere Substanzen, also in durch diese Qualität bewirkten chemischen Reaktionen bestimmt werden kann; an sich, d. i. ohne Reaktion, ist chemische Qualität nicht bestimmbar. Doch genausowenig wie von an sich bestimmten Substanzen allein kann von bloßer Reaktion, aus der die qualitativ verschiedenen Substanzen hervorgehen sollen, ausgegangen werden. Denn ohne spezifisch unterschiedene Substanzen ist keine spezifische Reaktion möglich; imd ohne spezifische Reaktionen ist der Unterschied der Substanzen nicht bestimmbar. Jedoch existieren die qualitativ verschiedenen Substanzen tmabhängig davon, ob sie reagieren und ihr Unterschied in spezifischen Reaktionen bestimmt wird oder nicht. Deshalb ist der Prozeß vom chemischen Objekt ontologisch unterschieden: Der Existenz nach ist er abhängig vom chemischen Objekt, während im allgemeinen das Objekt der Existenz nach nicht vom es bestimmenden Prozeß abhängig ist. Darin liegt ein gegen den Prozeß selbständiges Moment der chemischen Qualität (oder in der Sprache der klassischen Metaphysik; die substantielle Bestimmtheit des chemischen Objekts). Hegel löst es vollständig in den Prozeß auf: Jeder Stoff sei durch den Prozeß gesetzt und jede chemische Qualität eines Stoffes ginge vollständig in den von ihr gesetzten Prozeß eini. „In Wahrheit ist aber der Proceß und die Stufenfolge der Processe die Hauptsache; sein 1 Deswegen polemisiert Hegel gegen die Theorie der dem Prozeß vorausgesetzten Element-Atome, die als unveränderte in Ausgangsstoff, Prozeß und Verbindung sich erhalten. Wie alle anderen Stoffe auch so seien die vier von ihm als fundamental angesehenen ,Elemente' Stickstoff, Sauerstoff, Wasserstoff und Kohlenstoff, auf denen die Vielfalt chemischer Stoffe sich gründete (und mit dieser spekulativen Konstruktion nimmt Hegel die kurz nach seinem Tode erfolgte rapide Entwicklimg der Organischen Chemie vorweg), Resultat des „realen Processes" (vgl. IX. 396) xmd durch diesen begründet. Aber von diesen ,Elementen' sind zumindest zwei als bestimmt unterschiedene vorausgesetzt, obwohl auch sie durch chemische Reaktionen dargestellt werden können: Ohne in der Luft vorfindlichen Sauerstoff imd in Stein- bzw. Braunkohle enthaltenen Kohlenstoff wären Chemie imd insgesamt der Lebensprozeß der Gattung nicht möglich gewesen.

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Gang ist das Bestimmende, und die Bestimmtheiten der Körperindividuen [der chemischen Substanzen, U. R.] haben nur in seinen imterschiedenen Stufen ihren Sinn" (IX. 403). Weil Hegel das Verhältnis von Objekt und Prozeß vollkommen symmetrisch bestimmt - es gelte nämlich in gleicher Weise: ,das chemische Objekt begründet (setzt) den Prozeß' wie ,der Prozeß begründet (setzt) das chemische Objekt' (und zwar sowohl der Existenz als auch der Bestimmtmg nach), lehnt er eine ontologische Differenz von Objekt und Prozeß ab. Und die zunächst vorausgesetzte chemische Qualität könnte durch die Bestimmungen des von ihr gesetzten Prozesses (die Maß-Relationen und die daraus zurückkehrenden fürsichseienden Maße) ersetzt werden. Praktisch wird dies durch die Vielfalt neuer synthetisierbarer Substanzen mit in der Natur nicht vorkommenden Eigenschaften widerlegt. Denn wäre die qualitative Bestimmtheit eines chemischen Objekts vollständig im Prozeß (seiner Herstellung) enthalten und wäre dieser Prozeß seinerseits vollständig durch die qualitativen Bestimmtheiten der chemischen Objekte, die in ihn eingehen oder ihn setzen, bestimmt, dann gäbe es keine qualitativ neuen Substanzen. Systematisch ist jene symmetrische Bestimmung des Verhältnisses von Objekt und Prozeß falsch. Qualitativ verschiedene Substanzen sind als in der Natur vorfindliche vorausgesetzt (imd zwar sowohl ihrer Existenz als auch ihrer qualitativ verschiedenen Bestimmung nach); sie begründen die verschiedenen chemischen Prozesse. Dies ist nicht vollständig umkehrbar: Zwar können viele chemische Substanzen nur durch Reaktionen hergestellt werden, aber generell gilt dies nicht (insbesondere nicht für die Rohstoffe, auf denen die chemische Grundstoffindustrie aufbaut). Die von Hegel beseitigte ontologische Differenz von Objekt imd Prozeß ist nun nicht unmittelbar gegeben, läßt sich jedoch negativ daraus erschließen, daß gerade im Prozeß dasjenige des chemischen Objekts erkennbar wird, was nicht in ihm aufgeht: jenes gegen den Prozeß selbständige Moment der chemischen Qualität. Deshalb können die die Struktur einer Substanz charakterisierenden Maßgrößen nicht aus denjenigen für deren Reaktivität abgeleitet werden (imd umgekehrt). Diese specifische Beziehung ist ferner an die Quantität gebunden.

Die immanente Bestimmimg eines chemischen Objekts ist seine Affinität („es existirt nur als diese Differenz"). Sie setzt den Prozeß, welcher durch Maß-Relationen charakterisiert werden kann, aus denen eine für-

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sichseiende Maßgröße (die Wahlverwandtschaft) bestimmbar wird. Diese drückt die spezifische Qualität des „Materielle[n]" aus. „Der Unterschied [der chemischen Stoffe, z. B. der verschiedenen Säuren, U. R.] [...], wodurch sie als selbstständige sind, besteht nicht in dieser unmittelbaren Qualität [in der Verwandtschaft schlechthin, die auf die Neutralisation mit überhaupt einer Base zielt, U. R.], sondern in der quantitativen Art und Weise des Verhaltens" (21.354,16 f; IV. 443). und ist zugleich nicht nur die Beziehung auf ein einzelnes Anderes, sondern auf eine Reihe solcher ihm gegenüberstehenden Differenten; die Verbindungen mit dieser Reihe beruhen auf einer sogenannten Verwandtschaft mit jedem Gliede derselben, aber bey dieser Gleichgültigkeit ist zugleich jede ausschliessend gegen andere; welche Beziehung entgegengesetzter Bestimmungen noch zu betrachten ist.

Die spezifische Bestimmtheit eines „Materielle[n]" - z. B. Ca(OH)2 ist die Reihe seiner Beziehungen auf „ihm gegenüberstehende Differente" - Kohlensäure, Salzsäure, Schwefelsäure, etc. Die jeweilige Säiue ist nicht sowohl ein zum Calciumhydroxid Äußerliches, als vielmehr sein Anderes. Mit jedem Glied der Reihe gibt es eine stöchiometrische Relation und einen Exponenten. „Die Verbindungen mit dieser Reihe" - CaCOa, CaCh, CaS04 - „beruhen auf einer sogenannten Verwandtschaft mit jedem Gliede derselben" - mit CO2, HCl, H2SO4. Das „Materielle" - Ca(OH)2 - enthält die Qualität ,Verwandtschaft schlechthin' zu den aufgezählten Säuren, nämlich die Fähigkeit, der Möglichkeit nach mit allen Säuren Salze bilden zu können. Weil bei dieser Möglichkeit, mit allen zu reagieren, von den Besonderheiten dieser Säuren abgesehen wird, ist ,Verwandtschaft schlechthin' gleichgültig gegen die besonderen Neutralisationsreaktionen. Letztere werden lediglich durch verschiedene stöchiometrische Relationen charakterisiert, deren Exponenten als Quanta gegeneinander gleichgültig sind. Aber das „Materielle" - Ca(OH)2 - enthält zugleich die der Verwandtschaft negativ entgegengesetzte Bestimmrmg, die Wahlverwandtschaft („bey dieser Gleichgültigkeit ist zugleich jede ausschliessend gegen andere"). Die Wahlverwandtschaft des Ca(OH)2 mit HCl schließt diejenige mit CO2 aus. Die spezifische Bestimmtheit eines ,,Materielle[n]" ist damit von der „Beziehimg auf sein Anderes" über die Reihe seiner Beziehungen auf „ihm gegenüberstehende Differente" zur „Beziehung entgegengesetzter Bestimmimgen" entwickelt worden. Im Beispiel:

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Ca(OH)2 ist gleichgültig gegen alle möglichen Salzbildungen mit der Reihe der Säuren und insofern an sich bestimmt als die Beziehung zu den Säuren ungeachtet von deren Besonderheiten (imd enthält somit ,Verwandtschaft schlechthin' als seine Bestimmtheit), und es ist nicht gleichgültig, d. h. es geht eine Wahlverwandtschaft ein und schließt dadurch alle anderen möglichen Wahlverwandtschaften und überhaupt die Möglichkeit, zu allen Säuren eine Verwandtschaft zu besitzen (Verwandtschaft schlechthin), aus. Das „Materielle" schließt von sich aus, was es selbst enthält - ein Widerspruch, der „noch zu betrachten ist". Die Wahlverwandtschaften sind hier von Hegel durch die stöchiometrischen Relationen und durch als Quanta gegeneinander gleichgültige Exponenten bestimmt worden. Doch das chemische Modell taugt nicht als Demonstrationsobjekt. Denn bloß durch Negation der Gleichgültigkeit gegen die besonderen Neutralisationsreaktionen kann das spezifisch ausschließende Verhältnis der Wahlverwandtschaft nicht hinreichend charakterisiert werden - im Beispiel das Spezifische der Wahlverwandtschaft von Ca2+ mit H2SO4, welche die Wahlverwandtschaft des Ca2+ mit CO2 zerstört und letzteres vertreibt2. In der Natur findet man von den insgesamt möglichen Wahlverwandtschaften nur einige besondere vor, nämlich die stabilen Salze. Um aus diesen andere Wahlverwandtschaften zu bilden, benötigt man experimentelle Arbeit und zumeist Energie. Wären Wahlverwandtschaften lediglich durch den quantitativen Exponenten der stöchiometrischen Beziehimg für die Salzbildung unterschieden, dann wäre nicht zu erklären, warum besondere Wahlverwandtschaften in der Natur zusammengekommen sind imd andere nicht.

Dieses Beispiel verwendet Goethe in seinem Roman „Die Wahlverwandtschaften"; ..] was wir Kalkstein nennen, ist eine mehr oder weniger reine Kalkerde, innig mit einer zarten Säure verbunden, die uns in Luftform bekannt geworden ist. Bringt man ein Stück solchen Steines in verdüimte Schwefelsäure, so ergreift diese den Kalk und erscheint mit ihm als Gips; jene zarte, luftige Säure hingegen entflieht. Hier ist eine Trennimg, eine neue Zusammensetzung entstanden, imd man glaubt sich nunmehr berechtigt, sogar das Wort Wahlverwandtschaft anzuwenden, weil es wirklich aussieht, als wenn ein Verhältnis dem andern vorgezogen, eines vor dem andern erwählt würde" (J. W. V. Goethe: Poetische Werke (Berliner Ausgabe) Band 12. Berlin und Weimar 1976. 41) . Bei Goethe folgen Liebesverhältnissse logischen Bestimmimgen, die am c Beispiel demonstriert und erläutert werden. Die (stärkere) Wahlverwandtschaft zwischen Eduard imd Ottilie löst die Verbindung zwischen Eduard und Charlotte. ,„Der Gips hat gut reden', sagte Charlotte; ,der ist nun fertig, ist ein Körper, ist versorgt, anstatt daß jenes ausgetriebene Wesen noch manche Not haben karm, bis es wieder unterkommt'" (a. a. O. 42) . 2

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Es ist aber nicht nur im Chemischen, daß sich das Specifische in einem Kreise von Verbindungen darstellt; auch der einzelne Ton hat erst seinen Sirm in dem Verhalten imd der Verbindung mit einem andern und mit der Reihe von andern;

Ein Ton (gemeint: ein natürlich erzeugter Ton, nicht ein physikalisch reiner Ton, d. i. eine reine Sinus-Schwingung) ist analog wie das chemische Objekt wesentlich bestimmt durch seine „Beziehung auf anderes, und die Art und Weise dieser Beziehung" (12.148,12 f; V. 201); die Beziehung auf andere Töne karm durch (quantitative) Frequenzrelationen charakterisiert werden. Dem Begriff nach ist der Ton innere Totalität von Partialtönen. Ein Ton enthält in sich die Beziehimgen auf alle seine Obertöne imd ist deshalb, weil darunter gegeneinander gesparmte, d. h. dissonierende Töne sind, Totalität verschiedener imd auch entgegengesetzter Bestimmtheiten; „die Töne [sind, U. R.] in sich selbst eine Totalität von Unterschieden [...], die zu den mannigfaltigsten Arten unmittelbarer Zusammenstimmungen, wesentlicher Gegensätze, Widersprüche und Vermittelungen sich entzweien und verbinden können" (XrV. 145). Der Existenz nach ist der Ton einseitiges, auf andere Töne bezogenes Objekt. „Jeder Ton ist eine selbstständige, in sich fertige Existenz [...], indem der Ton kein bloß unbestimmtes Rauschen und Klingen ist, sondern erst durch seine Bestimmtheit und Reinheit in derselben überhaupt musikalische Geltimg hat, steht er unmittelbar durch diese Bestimmtheit, sowohl seinem realen Klingen als auch seiner zeitlichen Dauer nach, in Beziehung auf andere Töne, ja dieses Verhältniß theüt ihm erst seine eigentliche wirkliche Bestimmtheit und mit ihr den Unterschied, Gegensatz gegen andere oder die Einheit mit anderen zu" (XrV. 154 f). Die Beziehung auf „sein Anderes" (einen anderen angeschlagenen Ton, der zugleich in der Obertonreihe des ersten Tons enthalten und insofern „sein Anderes" ist) - und damit die Beziehung der „gegeneinander negativen imd gespannten Objectivitäten" (12.147,12; V. 200) - macht die immanente Bestimmung eines jeden einzelnen Tons aus, d. i. seine Verwandtschaft. Demnach gründet die Verwandtschaft eines Tons zu anderen hinzukommenden Tönen in den dem Ton immanenten Beziehungen auf seine Obertöne. Der einzelne Ton, „hiemit der Widerspruch seines unmittelbaren Gesetztseyns und seines immanenten individuellen Begriffs" (12. 149, 17 f; V. 202), ist ebensosehr gegen sich selbst wie gegen andere gespannt. „Indem jedes [hier: jeder Ton, U. R.] durch seinen Begriff im Widerspruch gegen die eigene Einseitigkeit seiner Existenz steht, somit diese aufzuheben strebt, ist darin un-

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mittelbar das Streben gesetzt, die Einseitigkeit des andern aufzuheben, und durch diese gegenseitige Ausgleichung und Verbindimg die Realität dem Begriffe [...] gemäß zu setzen" (12.149, 27-31; V. 202). Analog wie die Reaktivität des chemischen Objekts auf den (chemischen) Prozeß zielt, so zielt der Ton darauf, seine immanente Bestimmtmg durch die Beziehung auf die Reihe seiner Obertöne („seinen Begriff") zu explizieren - z. B. in einer Tonika-Akkordzerlegung. Und wie zwei verwandte chemische Objekte den Prozeß setzen und dadurch ihrem Begriff in einer Verbindung Realität verschaffen, so bilden zwei (oder mehrere) Töne einen Zusammenklang, der ihre immanente Bestimmung realisiert. Und wie der chemische Prozeß durch quantitative, den stöchiometrischen Gesetzen folgende Massenrelationen so kann das Zusammenklingen durch Frequenzrelationen charakterisiert werden, welche von akustischen Gesetzen (über stehende Wellen, Schwebungen etc.) dirigiert werden. Wiewohl der erste Ton aufgnmd seiner Obertöne mit (fast) allen möglicherweise hinzukommenden Tönen verwandt ist, stellen sich im Zusammenklingen stärkere Verwandtschaften (oder Wahlverwandtschaften) mit einigen besonderen Tönen heraus: die konsonanten Intervalle bzw. Akkorde. Konsonanz oder Dissonanz hängen davon ab, ob die Obertonreihen der angeschlagenen Töne miteinander korrespondieren (gemeinsame Töne haben) oder nicht. Hat der Ton c mit den ihm am nächsten verwandten Tönen e und g eine Wahlverwandtschaft gebildet (die Tonika), dann schließt dieser Akkord den dem Gnmdton c weniger verwandten Ton d als dissonierend aus. Analog wie bei der Hegelschen Bestimmung des Verhältnisses von chemischem Objekt und chemischem Prozeß ist auch hier richtig, daß die musikalische Qualität eines Tons isoliert, d. h. unabhängig von dem Zusammenklingen mit anderen Tönen, nicht bestimmbar ist. Die musikalische Qualität hängt davon ab, als Bestandteil wessen Akkords (eines vorhergehenden oder eines vorgestellten) der Ton aufgefaßt wird. Umgekehrt hängt das konsonierende bzw. dissonierende Zusammenklingen (in Intervallen und Akkorden) von den in den Tönen an sich enthaltenen Verhältnissen zu der jeweiligen Reihe der Obertöne ab. Der musikalische Ton enthält neben der Tonhöhe, welche durch eine einfache, quantifizierte Maßgröße (die Frequenz) bestimmt wird, die Tonqualität oder auch musikalische Qualität, welche in seiner Beziehtmg auf andere Töne liegt. Auch in der musikalischen Sphäre „hat wesentlich das Materielle seine specifische Bestimmtheit in der Beziehung auf sein Anderes; es existirt nur als diese Differenz". Ein musikalischer Ton (g) wird auf einen anderen (c) bezogen. Diese Relation auf „sein

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Anderes" macht seine spezifische Bestimmtheit aus, er existiert als Quinte (zu c) und so als durch ein Maßverhältnis (die Frequenzenrelation 3:2) bestimmtes, selbständiges Maß. Wird derselbe Ton g auf einen dritten (d) bezogen, dann ist er durch diese Relation spezifisch bestimmt; er existiert als Quarte und ist durch das Maßverhältnis 4:3 bestimmt. Der Ton g kann auf weitere Töne und insgesamt auf eine „Reihe von andern" bezogen werden („[...] die Verbindungen mit dieser Reihe beruhen auf einer sogenannten Verwandtschaft mit jedem Gliede derselben", wobei die Verwandtschaft auf der immanenten Bestimmimg der Töne durch deren Beziehungen auf ihre Obertöne gründet) und ist somit durch eine Reihe von Maßverhältnissen bestimmt. Entsprechendes gilt für die anderen Töne. Insofern ist jeder Ton erstens als Quinte, Quarte, große Terz, kleine Terz, etc. zu jeweils verschiedenen anderen Tönen (xmd damit als eine Reihe von Maßverhältrdssen nrüt diesen Tönen) bestimmt. Zweitens ist jeder Ton Einheit gegen eine Reihe anderer Töne, die ihrerseits als Quinte, Quarte, große Terz, kleine Terz, etc. zu dem ersten Ton bestimmt sind. In der „Naturphilosophie" sind die Maßverhältnisse (= Frequenzenverhältnisse der Grundschwingungen) für eine dann schon diatonisch geordnete Reihe, bezogen auf die Einheit c, aufgelistet: „Wenn c Eine Schwingimg macht, so macht d 9/8, e 5/4, f 4/3, g 3/2, a 5/3, h 15/8, ci 2; oder das Verhältniß [das jeden Ton bestimmende Maßverhältnis, U. R.] ist: 24/24, 27/24, 30/24, 32/24, 36/ 24,40/24,45/24,48/24" (IX. 241). Irmerhalb der reinen Stimmimg, die neben den Oktaven auch Quinten und Terzen rein (d. h. nach den einfachen pythagoreischen Proportionen) intoniert imd über Oktaventransposition die Zwischenräume (z. B. d in C-Dur) ausfüllt, lassen sich beide Bestimmungen des Tons nicht durch eine einfache Normierung zu einem System der Töne zusammenschließen (wie im analogen chemischen Fall, wo ein selbständiges Maß (1000 g Schwefelsäure) erstens durch die Reihe von Maßverhältnissen, nämlich die Exponenten der gegenüberstehenden Basenreihe, bestimmt imd Einheit für diese war, wo zweitens dasselbe selbständige Maß auch als Exponent bezogen auf eine gegenüberstehende Base, diese als Einheit genommen, bestimmt war, und wo dann durch drittens einfache Normienmg beide Bestimmungen zu einem System zusammenstimmten, dem System der Äqiüvalentgewichte als einfacher, fürsichbestimmter Maßgrößen, vgl. 21. 351,1-7; rV. 438 f). Denn der Ton d müßte in C-Dur bei einem reinen Quintengerüst F - c - g - di verdoppelt werden, um einerseits als Quinte über G (gestimmt als Oktave unter g), andererseits als Quinte vmter a (gestimmt als große Terz und Oktave über F) fimgieren zu kön-

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nen. Die Anforderung aus der musikalischen Praxis, beide obigen Bestimmungen in einem auf mehrere Oktaven ausgedehnten Tonsystem ohne Tonverdopplimgen zu reaÜsieren, nämlich jeden Ton als Ausgangs- und Endpunkt von verschiedenen Gnmdintervallkombinationen darstellen zu können, führt zu einer besonderen Normierung, der gleichschwebend temperierten Stimmung, die jedem Ton eine von der akustischen Reinheit in seinen Grundintervallbeziehungen abweichende Maßgröße zuordnet. Diese ist nicht mehr das durch ein einfaches, pythagoreisches Maßverhältnis bestimmte, selbständige Maß des Anfangs, sondern eine aus der Entwicklung dieses Maßes als Reihe von Maßverhältnissen und aus den Relationen innerhalb dieser Maßverhältnisse zurückgekehrte, fürsichseiende Maßgröße, die jenes Maß des Anfangs ersetzt. (Im analogen chemischen Fall: Dasjenige, was den (chemischen) Prozeß bewirkt (das chemische Objekt), wird im Prozeß zu einem Maß spezifiziert, welches das An-sich-bestimmt-Sein des Objekts, dessen chemische Qualität, ausdrückt. Hier: Die zxmächst rein gestimmten Töne setzen einen musikalischen Prozeß in Gang, in dem sie zu einer Maßgröße spezifiziert werden, welche die zunächst vorausgesetzte Qualität der Töne aufgehoben enthält imd diese ersetzt.) Der freischwebend temperierte Ton, selbst Resultat aus den Relationen von Tönen imd einer musikalischen Praxis, die das zunächst Gegebene (die reinen Intervalle) zu einem System spezifizierter Maßgrößen umarbeitet, geht nun spezifische Verbindungen mit anderen ein imd bildet Harmonien (analog: das durch eine Maßgröße - das Äquivalentgewicht spezifizierte chemische Objekt bildet mit ausgewählten anderen Objekten Wahlverwandtschaften, die durch das (quantitative) Verhältnis der Äquivalentgewichte charakterisiert werden). Hingegen ist es falsch (d. h. hier: unmusikalisch), von einem sowohl nach außen als auch nach innen beziehungslosen Ton (dem physikalischen Sinus-Ton, der nach Hegel nicht in sich reflektiert ist und der im übrigen nach kurzer Zeit für das menschliche Gehör nervig klingt) auszugehen und dann andere zu diesem ersten äußerliche (Sinus-)Töne hinzuzufügen, um so den Zusammenklang (die Harmonie) zu begründen. Umgekehrt: Der Zusammenklang bestimmt die musikalische Qualität eines Tons, was insbesondere daran offenkimdig wird, daß das Gehör die musikalische Funktion eines Tons innerhalb einer vorhergehenden oder vorgestellten Harmonie (z. B. als Dominante) versteht, obwohl der Ton (im Beispiel die Quinte) unrein (und gemessen an der akustisch reinen Quinte falsch) intoniert ist. Nicht das akustische An-sich-bestimmt-Sein, sondern der Zusammenklang in einer Harmonie entscheidet über die mu-

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sikalische Qualität eines Tons. „[...] der einzelne Ton hat erst seinen Sinn in dem Verhalten und der Verbindung mit einem andern und mit der Reihe von andern [.. die Harmonie oder Disharmonie in solchem Kreise von Verbindungen macht seine qualitative Natur aus, welche zugleich auf quantitativen Verhältnißen beruht, die eine Reihe von Exponenten bilden, und die Verhältniße von den beyden specifischen Verhältnißen sind, die jeder der verbundenen Töne an ihm selbst ist.

Analog wie „das Materielle", das zunächst als spezifisches Gewicht bestimmt und als solches mit anderen spezifischen Gewichten verglichen wurde, ist der einzelne Ton „Maaßverhältniß in sich" (21. 348,33; IV. 436): das Verhältnis von einer „bestimmten Anzahl Schwingungen" imd einer „bestimmten Zeit" (also die Frequenz der Grundschwingung, vgl. XrV. 174). Dieses Maß „macht die Basis für den Unterschied und das Verhältniß der besonderen Töne in Betreff auf ihre Höhe xmd Tiefe aus" (XrV. 173) und macht zimächst deren äußerliche Vergleichung möglich (analog wie bei den spezifischen Gewichten). Ein Ton ist mm aber wesentlich durch seine Beziehimg auf andere bestimmt, und diese seine Bestimmung erscheint „auf objective Weise" (oder hat „sachliche Wirksamkeit") in dem gleichzeitigen Mitklingen der Obertöne. „[...] dieß ist ein immanentes, eigenthümliches Naturverhältniß, eine Thätigkeit der Form in sich selbst [...]" (IX. 245). „[...] die Bestinuntheit des Tones in sich selbst, und die Relation zu andern Tönen" bilden ein ,,objective[s] Verhältniß, wodurch sich das Tönen erst zu einem Kreise ebensosehr in sich, als Einzelner, fest bestimmter, als auch in wesentlicher Beziehung auf einander bleibender Töne ausbreitet" (XFV. 172). Das Anschlägen eines zweiten Tons zum Intervall ist „reelle Vergleichung" (21.349,12; IV. 437) des ersten mit dem zweiten, imd zwar seine „reelle Vergleichimg" mit dem zweiten „durch sich selbst" (a. a. O.). Denn nur weil der erste Ton viele Maßverhältnisse in sich enthält, karm er auf einen zweiten Ton musikalisch bezogen werden. Deswegen stimmt für das musikalische Beispiel der Übergang vom „Maaßverhältniß in sich" zur „Reihe von Maaßverhältnißen", während im chemischen Beispiel von dem spezifischen Gewicht nicht systematisch zur Massenrelation bei Neutralisationsreaktionen übergegangen werden kann. Weil die „qualitative Natur" eines Tons durch dessen Relationen zu anderen Tönen (zunächst in den Intervallen) bestimmt ist und weil diese Relationen als quantitative Verhält-

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nisse von den spezifischen Maßverhältnissen in sich, welche „jeder der verbundenen Töne an ihm selbst ist", formuliert werden können, „beruht" die „qualitative Natur" des Tons auf quantitativen Verhältnissen von Maßverhältnissen. Die musikalischen Intervalle klingen für unser Hörempfinden qualitativ verschieden. Obwohl wir die Intervalle als verschiedene Qualitäten hören, ohne von quantitativen Verhältnissen wissen zu müssen, und obwohl also diese untereinander verschiedenen Qualitäten selbst verschieden sind „von so trocknen Zahlenverhältnissen" (XrV. 173), gründen sie sich „auf das Quantitative" (21. 352, 3; IV. 440); Konsonanz beruht auf einem einfachen Maßverhältnis der Frequenzen (Oktave auf 2:1, Quinte auf 3:2, große Terz auf 5:4), Dissonanz auf ,,verwickeltere[n] Proportionen" (XIV. 174; Sekvmde auf 9:8, Septime auf 15:8). Die Begründung von Konsonanz (des „Wohlklangs" oder der „angenehmen" Empfindimg, vgl. IX. 240) und Dissonanz durch einfache bzw. verwickeltere Zahlenverhältnisse führt auf einen Widerspruch: Konsonanz und Dissonanz sollen qualitativ verschieden oder gar entgegengesetzt sein. Doch der Unterschied zwischen ,einfach' imd ,verwikkelter' (Komparativ) ist lediglich graduell. Absolut läßt sich nicht angeben (auf welcher Skala?), wo ,einfach' aufhört und wo ,verwickelter' (und damit die Dissonanz) beginnt. Zahlenverhältnisse im ,mittleren Bereich' zwischen ,einfach' und ,verwickelter' (z. B. die Quarte mit 4:3, die Sexte mit 5:3) galten zuweilen als Konsonanz, zuweilen als Dissonanz. In der pythagoreischen Reihe der Zahlenproportionen steht die Quarte mit 4:3 vor der großen Terz mit 5:4, wäre also ,einfacher', wurde tradionell aber als weniger konsonant angesehen. Ob ein Intervall konsonant oder dissonant klingt, wird zusätzlich durch dessen musikalische Umgebung bestimmt. Und dieses Bestimmxmgsverhältnis selbst verändert sich historisch mit der Entwicklung der Kompositionstechnik. Werden ihrerseits die Intervalle untereinander ins Verhältnis gesetzt (zunächst wurde der einzelne Ton mit einem angeschlagenen zweiten ins Verhältnis gesetzt, seine selbständige Existenz im Intervall aufgehoben imd durch diese seine Relation bestimmt), so sind sie einerseits (nach ihrer Bestimmung durch kontinuierlich veränderliche, quantitative Maßverhältnisse) gleichgültig gegeneinander. Andererseits aber dürfen „diese Verhältnisse nicht zufällig gewählt seyn [...], sondern [müssen, U. R.] eine innere Nothwendigkeit für ihre besonderen Seiten, wie für deren Totalität enthalten [...], so können die einzelnen Intervalle, welche sich nach solchen Zahlenverhältnissen bestimmen lassen, nicht in ihrer Gleichgültigkeit gegeneinander stehen bleiben, sondern haben sich als eine Totalität zusammen zu

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schließen. Das erste Tonganze, das hieraus entsteht, ist nun aber noch kein konkreter Zusammenklang unterschiedener Töne, sondern ein ganz abstraktes Aufeinanderfolgen eines Systems, eine Auseinanderfolge der Töne nach ihrem einfachsten Verhältnisse zu einander imd zu der Stellung irmerhalb ihrer Totalität. Dieß gibt die einfache Reihe der Töne, die Tonleiter" (XIV. 174 f). Aus dem Ins-Verhältnis-Setzen der Intervalle ist ein neues Verhältnis entstanden, das Verhältnis des Grundtons zu seiner Tonleiter. „Die Verbindxmgen [hier; des Gnmdtons, U. R.] mit dieser Reihe beruhen auf einer sogenannten Verwandtschaft mit jedem Gliede derselben" (analog: das Verhältnis einer Säure mit der Reihe der ihr gegenüberstehenden Basen beruht auf der Verwandtschaft mit jeder einzelnen Base). „[...] der einzelne Ton hat erst seinen Sinn in dem Verhalten rmd der Verbindung [...] mit der [nicht: einer; es ist die zu einem Gnmdton gehörige Tonleiter, U. R.] Reihe von andern; die Harmonie oder Disharmonie in solchem Kreise von Verbindimgen macht seine [des Grundtons, U. R.] qualitative Natur aus". Innerhalb dieser Reihe ist der Unterschied von Konsonanz imd Dissonanz bestimmter anzugeben: Terz xmd Quinte bilden mit dem Gnmdton ein unmittelbares Zusammenstimmen, die Tonika, „bei deren Erklingen die Verschiedenheit nicht als Gegensatz vernehmbar wird" (XrV. 174), während andere Töne gegen den durch die Tonika befestigten Grundton „eine wesentlichere Unterschiedenheit des Klangs, wie die Sekunde und Septime" (XIV 175) haben. Weitere Töne, die nicht zu der Tonleiter gehören, werden von dem „Tonganzen" (der Tonart) spezifisch ausgeschlossen. Die Tonleiter kann durch eine Reihe von Maßverhältnissen ausgedrückt werden: „24/24,27/24,30/24,32/24,36/24, 40/24, 45/24, 48/24" (IX. 241). Die Exponenten dieser Reihe sind als Quanta auf einer quantitativ kontinuierlichen Skala zwischen 24/24 imd 48/24 gleichgültig gegeneinander. Zugleich verhalten sie sich imtereinander spezifisch auswählend, d. h. es werden bevorzugte Verbindungen (jeweils eine „für sich seyende ausschließende Einheit" (21. 351,26; rV. 440)) gebildet, in denen die Gleichgültigkeit der Exponenten als Quanta negiert ist. So gehen sie Wahlverwandtschaften ein, wobei die stärkere die schwächere ausschließt und die gesamte Reihe der Exponenten solche Exponenten ausschließt, welche auf jener quantitativ kontinuierlichen Skala außerhalb der herausgegriffenen der Tonleiter noch möglich sind. Der einzelne Ton ist der Grundton eines Systems, aber ebenso wieder einzelnes Glied im Systeme jedes andern Grundtons.

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Wie die entsprechende Stelle in der Naturphilosophie (IX. 242) mit parallelen Formulierungen zeigt, bezieht Hegel sich hier auf die Kirchentonleitem. Jeder Ton ist wesentlich durch die Beziehung auf „sein Anderes" (durch die Intervalle mit anderen Tönen) bestimmt imd ist so „als Gnmdlage eines Systems [der auf dem Gnmdton aufbauenden Tonleiter, U. R.] darzustellen" (IX. 242). Weil es zufällig ist, mit welchem Ton man beginnt, kann jeder Ton Grundton eines Systems sein. „Im System eines jeden Tons kommen also Tone vor, die auch im System der andern Vorkommen; was aber in einem System die Terz ist, das ist im andern die Quarte oder Quinte" (IX. 242). Weil ein und derselbe Ton „in verschiedenen Tonsystemen verschiedene Funktionen übernimmt imd so Alles durchläuft" (IX. 242) und weil dies für jeden Ton gilt, wird es notwendig, jeden Ton „für sich" herauszuheben, ihn „mit einem neutralen Namen, wie g" (imd nicht durch die Funktion in einem Intervall) zu bezeichnen und „ihm eine allgemeine Stellung" (a. a. O.) zu verleihen. Weil aber dieser Ton durch seine Beziehungen zu anderen Tönen bestimmt ist imd weil diese anderen Töne als Grund töne auf ihre jeweiligen Tonleitern bezogen sind, ergibt sich ein aufeinander bezogenes System von Tonleitern oder Tonarten, deren Verwandtschaft durch die gemeinsamen Töne bestimmt wird. Geht man von dem heutigen Tonsystem und der gleichschwebend temperierten Stimmung aus, dann kann nicht jeder Ton „einzelnes Glied im Systeme jedes andern Grundtons" sein. Denn eine Tonart schließt aus den zwölf Tönen einer Oktave fünf spezifisch aus. Deshalb paßt ein aus den zwölfen herausgegriffener Ton nicht zu den Tonarten von allen möglichen Gnmdtönen - der Grundton c von C-Dur ist seinerseits nicht im Tonvorrat von D-Dur enthalten, obgleich d in C-Dur vorkommt. In dieser Hinsicht stimmt die Analogie zum chemischen Modell nicht. Denn eine herausgegriffene Base hat Verwandtschaft mit jedem Glied in der Reihe der Säuren und ist ihrerseits ein Glied in der Reihe der Basen, wenn von der Verwandtschaft einer bestimmten Säure ausgegangen wird. Die Komposition mit einer Reihe von zwölf Tönen schließt aus den Relationen der zwölf Töne untereinander nicht von vomeherein einige aus, sondern behandelt diese gleichberechtigt. In einer Reihe steht jeder einzelne Ton in bestimmter Relation zu den anderen elf wie umgekehrt einer der elf zum ersten. Allerdings entfällt dann ein „Grundton" bzw. ein „System" zu einem „Grundton". So wie die zunächst selbständige Existenz des Tons im Intervall aufgehoben wird und der Ton durch seine Relation zu anderen bestimmt wird, so können die zunächst selbständig erscheinenden Tonarten ih-

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rerseits ins Verhältnis gesetzt und dadurch bestimmt werden. Und so wie die Töne einer Tonart miteinander verwandt sind tmd zugleich untereinander bevorzugte Verbindungen eingehen, so zeigen die Tonarten „entweder ein näheres Verhältniß der Verwandtschaft [...], und [gestatten, U. R.] deshalb unmittelbar ein Übergehn von der einen in die andere [...], oder [verweigern, U. R.] solch einen imvermittelten Fortgang, ihrer Fremdheit wegen" (XIV. 175 f). Eine Tonart steht im Verhältnis zur Reihe aller anderen Tonarten und ist mit allen diesen schlechthin verwandt. Zugleich verhält sie sich aber auswählend zu einzelnen aus dieser Reihe. Letztere kann mittels des Quintenzirkels geordnet werden; Nähe oder Entfernung auf diesem Zirkel zeigen verschiedene Verwandtschaftsstärken an. Doch um die Tonartverwandtschaft zur „Wahlverwandtschaft" zu spezifizieren, reicht die bloße Negation der zunächst gegeneinander gleichgültigen Verwandtschaften nicht hin. Dazu bedarf es vielmehr eines nicht aus dem Begriff von Verwandtschaft schlechthin entspringenden und von der musikalischen Entwicklung abhängigen Moments, das in der qualitativen Verschiedenheit von Tonartverwandtschaften offenbar wird, welche nicht nur auf Quinten-, sondern auch auf Großterz- und Kleinterzrelationen gründen und welche somit in verschiedene Klassen emgeteilt werden körmen3. Die Harmonien sind ausschliessende Wahlverwandtschaften, deren qualitative Eigenthümlichkeit sich aber ebensosehr wieder in die Aeusserlichkeitbloß quantitativen Fortgehens auflöst.

Das Ins-Verhältnis-Setzen der Intervalle ergab ein Tonganzes oder eine „Totalität", die „sich zunächst in den Skalen [Tonleitern, U. R.] und Tonarten nur zu bloßen Reihen auseinander [breitete, U. R.], in deren Aufeinanderfolge jeder Ton für sich einzeln hervortrat" (XIV. 176). Auf diese Weise waren die zuerst vorausgesetzten Töne spezifischer bestimmt worden, blieben jedoch abstrakt, weil an ihnen als einzelnen und herausgehobenen sich nur „eine besondere Bestimmtheit [z. B. der Ton g im gleichschwebend temperierten System zu sein, U. R.] hervorthat. Insofern aber die Töne nur durch ihr Verhältniß zu einander in der That sind, was sie sind, so wird das Tönen auch als dieses konkrete Tönen selbst Existenz gewinnen müssen, d. h. verschiedene Töne haben sich zu ein und demselben Tönen zusammenzuschließen" (XIV. 176), 3 A. Schoenberg: Die formbildenden Tendenzen der Harmonie. Mainz 1957.67,20.

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dem Akkord. Analog wie die verwandten chemischen Stoffe, die zwar ihrer immanenten Bestimmimg nach schon Totalitäten entgegengesetzter Bestimmtheiten sind, aber als einseitige, gegeneinander gespannte Objekte existieren, erst in ihrer Vereinigimg eine ihrem Begriff gemäße „Existenz gewinnen", so wird die immanente Bestimmimg der Töne erst in deren Zusammenklang realisiert. Das Zusammenstimmen von Verschiedenem oder Entgegengesetztem in einer Einheit ist - so die aus der Antike herrührende Bestimmung des Begriffs - Harmonie. Harmonie fügt einander und in sich Entgegengesetztes so zu einer Einheit zusammen, „daß gerade die einander widerstrebenden Kräfte gezwungen werden, die Einheit zu bilden und zu tragen"4. Heraklit sagt: Das „Widerstrebende zusammenstimmend und aus dem Auseinanderstimmenden entsteht die schönste Harmonie"5. Und: „Sie verstehen nicht, wie das mit sich Entzweite mit sich selbst zusammenstimmt"^. Dies „zusammenstimmen" ist wörtlich „zusammenrechnen"; das einander und in sich Entgegengesetzte stimmt mit sich selbst im ^oyoc; (in der festen Proportion, im Strukturverhältnis) zusammen. Diese antike Fassung von ,Harmonie' begreift schon zwei für Hegel zentrale und einander entgegengesetzte Bestimmungen des Begriffs in sich: a. ) Harmonie ist negative Einheit der Entgegengesetzten schiedenen), und zwar qualitative Einheit, die dadurch hervorgebracht wird, daß Entgegengesetzte oder Verschiedene (Kräfte, Töne) zusammenstimmen - ein Einklang, der auf dem Auseinander - oder Gegeneinanderstimmen beruht. b. ) Harmonie „gründet sich aber auf das Quantitative" (vg rV.440).

Den Begriff der „Harmonie in ihrer einfachsten Form" erläutert Hegel an der Tonika. Mit dieser haben wir „eine Totalität unterschiedener Töne vor uns, welche diesen Unterschied ebensosehr als ungetrübte Einheit zeigen; es ist eine unmittelbare Identität, der es aber nicht an Besondenmg und Vermittlung fehlt, während die Vermittlung zugleich nicht bei der Selbstständigkeit der unterschiedenen Töne stehen bleibt, und sich mit dem bloßen Herüber und Hinüber eines relativen Verhältnisses benügen darf, sondern die Einigung wirklich zu Stande bringt, imd da4 W. Schadewaldt: EHe Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Frankfurt 1978.381. 5 Heraklit: Fragment 8. Übersetzung und Interpretation nach W. Schadewaldt; A. a. O. 6 Heraklit; Fragment 51. Dies Fragment fährt fort: „Eine zurückgespannte Harmonie wie beim Bogen und der Leier"(a. a. O.). Die auseinanderstrebenden Kräfte werden durch die Saite zurückgespannt und bilden eine Harmonie (Fügung).

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durch zur Unmittelbarkeit in sich zurückkehrt" (XIV. 177). Analog; Aus den quantitativen Relationen der Äquivalentgewichte kehrt eine qualitative, die Entgegensetzung der gegeneinander gespannten chemischen Objekte in einer (negativen) Einheit aufhebende Maßgröße, die Wahlverwandtschaft, zurück. An dissonierenden Akkorden (wie Septakkorden imd Nonen-Akkorden) demonstriert Hegel, daß jene die Selbständigkeit der Töne aufhebende Einheit auch Einheit von entgegengesetzten Tönen sein kann, „eine wesentlich in sich zerschiedene, zu Gegensätzen zerfallene Einheit", worin „die eigentliche Tiefe des Tönens" (XFV. 178) liegt. Dissonanzen fordern - so die Hegel gegenwärtige Kompositionslehre ihre Auflösimg. Damit werden die Akkorde ihrerseits ins Verhältnis gesetzt, und zwar in ein zeitliches Nacheinander. Wie schon die Töne, Intervalle und Tonleitern so bleiben „auch die Akkorde nicht vereinzelt und selbständig, sondern erhalten einen innerlichen Bezug aufeinander, imd das Bedürfniß der Veränderung und des Fortschritts" (XIV. 179). Diese „Bewegung von Akkord zu Akkord", zimächst formal bestimmt als das Verhältnis des Ausgangsakkords zur Reihe aller möglichen ihm verwandten Akkorde, zeigt wiederum qualitative Momente (für Hegel als Negation der Gleichgültigkeit gegen die verwandten Akkorde bestimmt), die „Theils in der Natur der Akkorde selbst, Theils der Tonarten, zu welchen dieselben überführen" (XIV. 180), liegen. Die Relationen der Akkorde untereinander stehen imter besonderen Gesetzen und bilden ein „in sich selbst nothwendiges System" (XIV 177), innerhalb dessen wiederum spezifisch ausschließendes Verhalten auftaucht vmd innerhalb dessen die musikalische Qualität der Akkorde erst bestimmbar wird. Von einem Akkord aus gesehen sind viele Akkordfolgen harmonisch möglich (Verwandtschaft schlechthin). Aber wenn der erste Akkord mit einem bestimmten zweiten eine Wahlverwandtschaft realisiert, dann schließt diese Akkordfolge aus oder negiert, was der erste Akkord an sich enthält, nämlich die Möglichkeit, nüt dritten Akkorden sich zu verbinden (Verwandtschaft schlechthin). Diese dritten Akkorde klingen dann dissonant oder werden von besonderen Wahlverwandtschaften wie Kadenzen als harmoniefremd ausgeschlossen. Formales Resümee über die musikalischen Verhältnisse xmd deren Analogie zur chemischen Verwandtschaft: Zunächst wird eine musikalische Ausgangsqualität (sei es der Ton, das Intervall, die Tonart oder der Akkord) als einzelne und abstrakte vorausgesetzt. Sie ist aber nur bestimmbar durch ihre Beziehung auf ihr Anderes. Beide Qualitäten werden ins Verhältnis gesetzt, und ihre Relation ist ein quantitatives Maßverhältnis. Die Ausgangsqualität ist je-

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doch nicht nur auf eine, sondern auf eine Reihe gegenüberstehender Qualitäten bezogen, was durch eine Reihe von Maßverhältnissen ausgedrückt werden kann. Durch Normierung resultieren Exponenten, die an die Stelle der Ausgangsqualitäten treten, xmd insgesamt Reihen von Exponenten, die in quantitativen Relationen stehen. Aus diesem System von Relationen kehrt eine die Ausgangsqualität konkreter bestimmende, qualitative Maßgröße zurück. Diese wird dann ihrerseits wieder abstrakt, d. h. als selbständige Ausgangsqualität genommen, sodann ins Verhältnis gesetzt, etc. Die „qualitative Eigenthümlichkeit [löst, U. R.] sich aber ebensosehr wieder in die Aeusserlichkeit bloß quantitativen Fortgehens“ auf, welches aus quantitativen Relationen besteht, aus denen neue qualitative Maßgrößen zurückkehren. Die Wahlverwandtschaft erweist sich - so Hegel in der ersten Fassimg des zu kommentierenden Abschnitts - „als das in sich zurückgegangene Übergehen des Quantitativen imd Qualitativen“ (11. 210, 31), d. h. die Bestimmung der Relata (- der Wahlverwandtschaften) in und durch deren Relation(en) bedarf des Übergehens oder Umschlagens des Quantitativen (der quantitativen Relationen) ins Qualitative. Falsch daran ist, dies als logischen Mechanismus pur ohne heterogene Momente, die zitiert werden müssen, zu konstruieren und die Beschreibung dieses logischen Mechaiüsmus als dessen Erklärung aufzufassen, während die Erkläixmg doch in der Beziehung des logischen Mechanismus auf die heterogenen Momente liegt. Daß die „qualitative Eigenthümlichkeit“ der Harmonien (der Intervalle, der Tonarten, der Akkorde) sich nicht - genausowenig wie die der chemischen Wahlverwandtschaften - in die „Aeusserlichkeit bloß quantitativen Fortgehens“ (die Frequenzenverhältnisse) auflöst, welches durch Negation seiner quantitativen Gleichgültigkeit wiederum zu Qualitativem (zu aus Maßrelationen zurückkehrenden, fürsichseienden Maßgrößen) übergeht, soll an drei Modellen gezeigt werden: 1.) Die „qualitativen Eigenthümlichkeiten“ der Intervalle Oktave, Quinte, Quarte und Terz beruhen - so Hegel, der darin der pythagoreischen Musiktheorie (vgl. XVII. 278) folgt - auf Frequenzenverhältnissen, die nur einfache natürliche Zahlen enthalten (2:1, 3:2, 4:3, 5:4). Diese einfachen Zahlenverhältnisse sind der „ideelle Gnmd“ für die besonderen Qualitäten der Intervalle. Und so körmen musikalische Qualitäten als eine „Verklänmg der Zahlenverhältiüsse“ (IX. 240) angesehen werden: ein Übergang von den „abstracten Zahlen“ (a. a. O.) ins Qualitative. Wird nun die Verschiedenheit der durch ein Zahlenverhältnis wesentlich bestimmten Intervalle ermittelt, dann ergibt sich.

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daß diese Zahlenverhältnisse durch Addition derselben Eins (zu Zähler und Nenner) ineinander übergehen. Insofern löst sich die „qualitative Eigenthümlichkeit [...] ebensosehr wieder in die Aeusserlichkeit bloß quantitativen Fortgehens" auf, ein Übergang vom Qualitativen ins Quantitative. (Das von Hegel formulierte „ebensosehr wieder" zeigt an, daß er beide Übergänge in einer Einheit sieht.) Der Fehler liegt in der Behauptimg, die „qualitative Natur" eines Intervalls beruhe vollständig auf einem (einfachen) quantitativen Verhältnis (eingeräumt sei reine Stimmung; in der gleichschwebend temperierten hören wir musikalisch Quinten, wiewohl deren Grundschwingimgen in keinem einfachen Frequenzenverhältnis stehen). Werden physikalisch reine Sinus-Töne kombiniert, dann lassen sich weder aus einem einfachen Frequenzenverhältnis (z. B. 2:1) Konsonanz noch aus einem komplizierteren (z. B. V2:l) Dissonanz herleiten. Es gäbe keinen plausiblen Grund, Tonverhältnisse auf rationale Zahlenverhältnisse zu beschränken. Und die „Aeusserlichkeit bloß quantitativen Fortgehens" enthält keinen Grund, die aufgeführten einfachen Zahlenverhältnisse gegenüber z. B. V2:l zu bevorzugen. Die Obertöne eines Naturtons dagegen körmen nicht in einem irrationalen Verhältnis zum Grundton stehen, da bei einer Saite oder einer stehenden Luftsäule an einem Ende, je nachdem ob geschlossen oder offen, entweder ein Schwingungsknoten oder ein Schwingungsbauch auftreten muß. Erst durch die Korrespondenzen dieser Obertöne kann eine Oktave als konsonant bestimmt werden. Die „qualitative Eigenthümlichkeit" der Intervalle ist damit nicht auf die einfachen Frequenzenverhältnisse der Töne zurückführbar oder in solche auflösbar. Weder die pythagoreische „Verklärung der Zahlenverhältnisse" noch das Hegelsche „Übergehen des Quantitativen imd Qualitativen" erklären das Verhältnis von Qualität der Intervalle und quantitativem Maßverhältnis der Grundschwingimgen. Das zu Qualität und Maßverhältnis heterogene Moment liegt in der durch physikalische Gesetze spezifisch bestimmten Beziehung des Tons auf seine Obertöne. Ein Ton ist an sich die Beziehung auf die Obertöne und setzt so eine Akkordzerlegung, also die „reelle Vergleichung" mit anderen Tönen. Aus der Obertonreihe (genauer; aus dem Verhältnis der Obertonreihen) lassen sich Oktave, Quinte und große Terz als Grundintervalle oder natürliche Intervalle begründen, auf die dann alle anderen Tonbeziehungen zurückgeführt werden können. Umgekehrt begründet erst die Harmonie (d. h. die zusammenklingenden Akkorde, die die Realisationen der Verhältnisse zu anderen Tönen darstellen) den Ton, der musikalisch als

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Gmndton ftingiert: Die Kadenz, welche Tonika und das Verhältnis der drei Grundakkorde voraussetzt, legt den Grundton (und damit die Tonart) fest. Die Grundakkorde gehorchen einfachen, quantitativen Relationen. Also ist der Ton durch (quantitative) Maßverhältnisse bestimmt, durch solche, die er an sich enthält, und durch solche, die er im Zusammenklingen mit anderen Tönen setzt und die ihn rückwirkend harmonisch festlegen. Hegel hat darin recht, daß ein Ton nicht zu trermen ist von seinen durch Maßverhältnisse bestimmten Relationen zu anderen Tönen. Er hat aber darin unrecht, daß er diese spezifisch bestimmten Relationen „in die Aeusserlichkeit bloß quantitativen Fortgehens auflöst". Denn aus bloß quantitativem Fortgehen sind die besonderen harmonischen Verhältnisse nicht zu begründen. Und er hat darin unrecht, daß er die heterogenen Momente, die für das Verhältnis von musikalischer Qualität und quantitativem Maßverhältnis konstitutiv sind, vom logischen Mechanismus („in sich zurückgegangenes Übergehen des Quantitativen imd Qualitativen") abtrennt und diesen, der selbst erst erklärt werden müßte (- und zwar in seiner Beziehimg auf jene Momente), als Erklärung ausgibU. 2.) Die „qualitativen Eigenthümlichkeiten" der Tonarten sind durch ihre Beziehxmgen xmtereinander bestimmt, welche sich als einfache Intervallbeziehungen (Quinten) der Gnmdtöne und somit als einfache Maßverhältrüsse ausdrücken lassen. Wird mm die Verschiedenheit der durch Quintenverhältnisse in einen Zusammenhang gebrachten Tonarten ermittelt, darm ergibt sich, daß diese (qualitative) Verschiedenheit in durch natürliche Zahlen angebbare Abstände auf dem Quintenzirkel übersetzt werden kaim. Insofern löst sich die „qualitative Eigenthümlichkeit [...] in die Aeusserlichkeit bloß quantitativen Fortgehens" auf. Doch dieses „Auflösen" ist kein aus dem Begriff der Tonart sich ergebender logischer Automatismus, der ohne zusätzliche Momente auskäme. Denn ausgehend von reiner Stimmung schließen sich die (Quinten-) Relationen der Tonarten imtereinander nicht zu einem System zusammen, sondern führen zu einem unendlichen Fortgang, so daß der Ausgangston über (reine) Quinten oder Terzen nicht wieder erreicht werden karm. Erst durch die Gleichsetzimg his = c der gleichschwe7 Hegel übemiirtmt aus der pythagoreischen Musiktheorie die allgemeine These, musikalische Qualitäten köimten auf einfache Zahlenverhältnisse zurückgeführt werden. Doch über den Versuch, diesen Zusammenhang im einzelnen zu begründen und damit die These erst einzulösen, mokiert sich Hegel: „Das Gesetz a priori des Fortschreitens tmd die Nothwendigkeit der Bewegung in den Zahlenverhältnissen ist etwas, das ganz im Dunkeln liegt, als worin sich trübe Köpfe herumtreiben körmen [...]" (XVll. 280).

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bend temperierten Stimmung werden die Tonarten zum Quintenzirkel zusammengeschlossen. Diese Gleichsetzung - und damit der Zusammenschluß der Relationen zum System - ergibt sich nicht natürlich (es gab Kirchentonarten, es gab mitteltönige Stimmimg) und wird auch nicht durch das bloße In-Relation-Setzen erzwtmgen. Vielmehr ist in das Naturtonsystem, welches aus sich zu jenem unendlichen Fortgang führte, verändernd eingegriffen worden. Die immanente Entwicklung der Musik, die den Anspruch auf freie und häufige Modulation in andere Tonarten herausbildete xmd damit auf das musikalische Material zurückwirkte, stellt jenes zusätzliche, nicht in den Relationen aufgehende Moment dar, welches den Zusammenschluß der Gnmdtöne (bzw. Tonarten) zu einem System herbeiführt. Die Auflösxmg der „qualitativen Eigenthümlichkeit" der Tonarten in die „Aeusserlichkeit bloß quantitativen Fortgehens" auf dem Quintenzirkel und die darin (d. i. in dem System quantitativer Relationen) mögliche qualitative Bestimmung der Tonarten (als nahe verwandt oder entfernt oder entlegen) ist demnach nicht logischer Automatismus, sondern durch den ästhetischen Fortgang hervorgebrachtes Resultat. Aber auch auf der Grundlage des geschlossenen Quintenzirkels (sieht man einmal von jenem darin schon enthaltenen, zusätzlichen Moment ab) ist die qualitative Verschiedenheit der Tonarten nicht vollständig in die „ Ausserlichkeit bloß quantitativen Fortgehens" auf dem Quintenzirkel auflösbar. Denn die Verwandtschaft der Tonarten (und in der Verwandtschaft liegt deren durch ihre Beziehimg auf andere bestimmte Qualität) nimmt nicht bloß quantitativ nach der Anzahl dazwischen liegender Quinten ab, sondern enthält zusätzliche, von der Quintverwandtschaft qualitativ verschiedene Seiten (wie Paralleltonart in Moll, Moll auf der Tonika, Terzverwandtschaft nach oben und nach unten). Wie diese Seiten gewichtet werden und so erst die „qualitative Eigenthümlichkeit" der Tonartenverwandtschaft herausbilden, hängt überdies noch von dem ästhetischen Fortgang im allgemeinen und insbesondere von der Entwicklung der Kompositionslehre ab. 3.) Die „qualitative Eigenthümlichkeit" eines einzelnen Akkords (d. h. seine musikalische Bedeutimg für den Verlauf eines Stücks) wird durch seine Beziehungen auf andere Akkorde bestinunt, zimächst auf die Tonika der Tonart, in der das Stück steht, dann auf nahe verwandte, entfernte oder entlegene Regionen. Diese Beziehimgen stellen zimächst ein Maßverhältnis, dann eine Reihe von Maßverhältnissen dar. Diese Maßverhältnisse werden durch von der jeweiligen Tonart unabhängige (und insofern ,normierte') Funktionsbezeichnungen (,Exponenten')

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ausgedrückt, welche an die Stelle der Ausgangsqualitäten, der absolut bezeichneten Akkorde, treten (z. B. D^, S^). Die so durch ihre harmonische Funktion spezifisch bestimmten Akkorde bilden Relationen mit anderen solchen, welche Relationen durch einen jene Funktionsbezeichnungen verwendenden Formalismus beschrieben werden. Insofern löst sich die „qualitative Eigenthümlichkeit [...] in die Aeusserlichkeit bloß quantitativen Fortgehens" auf. Aus diesem System von Relationen kehren ausgewählte Akkordfolgen zurück (z. B. D^-T oder Si-D), welche bestimmte Tone spezifisch - als „harmoniefremd"« - ausschließen (imd insofern „ausschließende Wahlverwandtschaften" genarmt werden können) und welche die Ausgangsqualität (im Beispiel die Tonika) musikalisch befestigen. Die Abfolge der Akkorde imd damit die Vielfalt des harmonischen Geschehens geht aber nicht in der Beziehung der entgegengesetzten Bestimmungen - „Ausserlichkeit bloß quantitativen Fortgehens" versus Negation der darin liegenden Gleichgültigkeit - auf. Und deswegen hat Hegel an dieser Stelle seine Darstellung der musikalischen Wahlverwandtschaft abgebrochen. Denn hier wird deutlich, daß ein zum Formalismus der Funktionsbeziehungen heterogenes und historisch veränderliches Moment, die Kompositionsentwicklung bis hin zur besonderen harmonischen Handschrift eines Komponisten, dafür bestimmend ist, welche Akkordverbindungen als Wahlverwandtschaften gelten imd ob und welche Töne von solchen Wahlverwandtschaften als harmoniefremd ausgeschlossen werden. Ungeachtet der falschen, weil idealistischen Durchführung trifft Hegels spekulative Bestimmung der Harmonie als Wahlverwandtschaft einen musikalisch bedeutsamen Sachverhalt: Die vorausgesetzten Qualitäten (die wirklich erklingenden Töne) sind durch ihre Relationen (die Tonverhältnisse) bestimmt; aus diesen Relationen kehren Wahlverwandtschaften (ausgewählte Tonverhältnisse, Akkorde) zurück, welche den musikalischen Gehalt der Ausgangsqualitäten ausmachen: Die Töne sind Vertreter von Akkorden. Also ist die Harmonie das Primäre und Zugrundeliegende, woraus die musikalische Bedeutung des wirklich erklingenden Tons erklärbar wird. Hegels logische Entwicklung zielt auf die „Wahrheit des Seyns" (11. 241, 3; IV. 481), das Wesen. Der Weg der Erkenntnis zum Wesen ist „ein vermitteltes Wissen, [...] beginnt von einem Anderem, dem Seyn [hier: dem unmittelbar erklingenden Ton, U. R.]" (11. 241,9 f; IV. 481), dringt durch denselben hindurch imd 8 Zum Widerspruch im Begriff ,harmoniefremd' vgl. A. Schoenberg: Harmonielehre. Universal Edition 1922.374.

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findet als dessen Hintergrund Tonverhältnisse bzw. Wahlverwandtschaften, die die (musikalische) Wahrheit des Unmittelbaren (des einzelnen Tons) ausmachen. Worin aber das Princip eines Maaßes für diejenigen Verwandtschaften, welche (chemische oder musicalische oder andere) Wahlverwandtschaften unter imd gegen die andern sind, liege, darüber wird im Folgenden in Betreff der chemischen noch eine Bemerkung Vorkommen; aber diese höhere Frage hängt mit dem Specifischen des eigentlichen Qualitativen aufs engste zusammen, und gehört in die besondem Theile der concreten Naturwissenschaft.

Hegel konzediert in dieser Nebenbemerkimg, die besondere Spezifität der Wahlverwandtschaften - über die Bestimmung hinaus, daß eine die andere ausschließt - sei eine „höhere Frage", die in der Logik nicht behandelt werden könne und deshalb in die „besondern Theile der concreten Naturwissenschaft" gehöre. Somit räumt er hier ein, was seiner für die Wissenschafl der Logik zentralen Intention widerspricht, nämlich daß das „Specifische des eigentlichen Qualitativen" in der logischen Bestimmimg der Wahlverwandtschaft nicht aufgeht. Insofern das Glied einer Reihe seine qualitative Einheit in seinem Verhalten zu dem Ganzen einer gegenüberstehenden Reihe hat, deren Glieder aber gegeneinander nur durch das Quantum, nach welchem sie sich mit jenem neutralisiren, verschieden sind, so ist die speciellere Bestimmtheit in dieser vielfachen Verwandtschaft gleichfalls nur eine quantitative.

Das „Glied einer Reihe" - das chemische Objekt Ca(OH)2 - verhält sich zu einzelnen Gliedern seiner „gegenüberstehenden Reihe" - es wird durch CO2 oder HCl oder H2SO4 oder... neutralisiert: Ca(0H)2 + C02 Ca(OH)2 + 2HCl Ca(0H)2 + H2S04 etc.

CaCOs + H2O CaCl2 +2H2O CaS04 +2H2O etc.

Die chemische Qualität von Ca(OH)2 ist so zimächst durch die Summe über alle seine Reaktionen (vgl. IX. 446: „[...] der chemische Körper ist nur die Summe seiner Reactionen") bestimmt. Dieser extensiven Totali-

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tät liegt eine intensive Größe (Verwandtschaft schlechthin oder die chemische Affinität) zugrunde, weswegen Hegel formuliert: Das chemische Objekt (Ca(OH)2) hat „seine qualitative Einheit in seinem Verhalten zu dem Ganzen" der gegenüberstehenden Reihe der Säuren. Die Glieder dieser Reihe - die Äquivalentgewichte der einzelnen Säuren - sind „aber [was /Verwandtschaft schlechthin' spezifiziert, ist negativ gegen diese bestimmt, deshalb das entgegensetzende „aber", U. R.] gegeneinander nur durch das Quantum, nach welchem sie sich mit jenem [mit 1 Mol Ca(OH)2, U. R.] neutralisiren, verschieden". Die „speciellere Bestimmtheit in dieser vielfachen Verwandtschaft [dem Verhalten zu „dem Ganzen" der Säuren - zu allen möglichen Säuren - liegt eine und dieselbe /Verwandtschaft schlechthin' zugnmde, welche insofern eine „vielfache" ist, als sie nur wirklich ist in den vielen einzelnen Neutralisationsreaktionen mit jeweils einer Säure; /Verwandtschaft schlechthin' - bezogen auf alle möglichen Säuren - wird zur einzelnen imd besonderen Wahlverwandtschaft mit einer bestimmten Säure durch jenes neutralisierende Quantum, worin die Verschiedenheit liegen soll, spezifiziert, U. R.] gleichfalls eine quantitative". Werden die äquivalenten Säuremengen in die Verwandtschaftstafel für Ca(OH)2 eingetragen, dann stellen sie „gleichfalls" (wie zuvor in den stöchiometrischen Relationen so jetzt innerhalb der/Verwandtschaft schlechthin') ein (quantitatives) Maß (eben jetzt für die Wahlverwandtschaft) dar, wobei offen bleibt, in welcher Weise Wahlverwandtschaft und äquivalente Menge miteinander verknüpft sind (Proportionalität oder umgekehrte Proportionalität oder...). Hegel bestimmt die vorausgesetzten und qualitativ verschiedenen Säuren (die „Glieder" der Reihe CO2, HCl, H2SO4, etc.) im Prozeß ihrer Neutralisation. Ihr qualitativer Unterschied wird durch das Verhältnis der ermittelten Äquivalentgewichte ausgedrückt. Als diese Äquivalentgewichte fimgieren die „Glieder" irmerhalb der Verwandtschaftsbeziehimgen und spezifizieren Verwandtschaft schlechthin zur Wahlverwandtschaft. Das Ersetzen jenes qualitativen Unterschieds durch das Verhältnis der Äquivalentgewichte ist jedoch problematisch. Denn an Hand von Massenverhältnissen allein läßt sich nicht entscheiden, ob es sich um CO2, HCl oder H2SO4 handelt, denn auch eine Mischimg der drei Säuren neutralisierte die Base. Eindeutig sind die quantitativen Verhältnisse nur dann bestimmt, wenn reine Substanzen eingesetzt werden. Deshalb läßt sich aus einem quantitativen Verhältnis nicht auf die Spezifität der verwendeten Substanz und deren Reinheit schließen. Werden dagegen reine Substanzen vorausgesetzt, ist das quantitative Verhältnis Ausdruck von deren Reinheit und Spezifität.

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Ausgangspunkt für die Entwicklung der neuen Maßgröße ,Wahlverwandtschaft' war die Relation zweier Maße (der Exponenten des vorherigen Kapitels = der Äquivalentgewichte). Aus dem festen Verhältnis dieser Exponenten wurde auf dessen Zugrundeliegendes, die qualitative und ausschließende Einheit der Exponenten, geschlossen. Damit ist von einem unmittelbar an sich bestimmten, selbständigen Maß (durch das spezifische Gewicht war ein „Selbstständiges" unmittelbar an sich bestimmt; auch das Äquivalentgewicht, obwohl es die Relationen der „Selbstständigen" in ihren chemischen Reaktionen voraussetzt, war ein solches unmittelbar an sich bestimmtes Maß) zu einem Verhältnismaß übergegangen worden, welches die Relation von „Selbstständigen" (das Verhältnis zweier gegeneinander gesparmter Objekte) durch eine von den stöchiometrischen Maßen qualitativ imterschiedene Maßgröße charakterisiert. Weil die Wahlverwandtschaft als „für sich seyende ausschliessende Einheit" für das Verhältnis zweier Äquivalentgewichte in deren Verbindung bestimmt worden ist, sind auch ihre beiden Seiten in diesem Verhältnis gegründet. Die erste, quantitative Seite besteht darin, daß die äquivalenten Säuremengen für die Neutralisation z. B. von Ca(OH)2 sich lediglich als Quanta imterscheiden imd daß deshalb das Exponentenverhältnis ein Kontinuum von Zahlen durchläuft. Ca(OH)2 enthält an sich die Beziehung auf alle Säuren xmd ist somit durch Verwandtschaft schlechthin (= durch die Fähigkeit zur Säure-Base-Reaktion) bestimmt. Darin liegt die „qualitative Einheit" im Verhalten einer Base „zu dem Ganzen" ihrer gegenüberstehenden Reihe. Diese qualitative Einheit ist gleichgültig gegen die Besonderheit einer einzelnen Neutralisation; die gebildeten Wahlverwandtschaften unterschieden sich so lediglich durch die quantitativen Verhältnisse bei der Neutralisation. Diese Gleichgültigkeit hat ihren Grund darin, daß alle besonderen Neutralisationen dieselbe auf Neutralität schlechthin zielende Reaktion (H+ + OH- H2O) enthalten. So zeigt die quantitative Seite der Wahlverwandtschaft schon das Übergehen des Quantitativen ins Qualitative (vgl. dazu die 1. Fassimg 11. 210, 31) - der gleichgültige Durchlauf der äquivalenten Neutralisationsmengen (ihre Verschiedenheit lediglich als Quanta) verweist auf die zugrundeliegende, qualitative Einheit: Verwandtschaft schlechthin. Negativ gegen die indifferente Verwandtschaft schlechthin und negativ gegen den gleichgültigen Durchlauf der Quanta kommt das Besondere als Quantum (als festes Verhältnis im Kontinuum der Exponentenverhältnisse) in dieses Verhältnismaß, wodurch der zunächst quantitative Unterschied zugleich qualitative Na-

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tur gewinnt und damit das auswählende und spezifisch ausschließende Verhalten (die zweite Seite) innerhalb der vielfachen Verwandtschaftsbeziehimgen charakterisiert. Das Verhältnis von qualitativer und quantitativer Seite innerhalb der Wahlverwandtschaft wird von Hegel zunächst als dasjenige von zugrundeliegender Qualität (Verwandtschaft, eine von den stöchiometrischen Maßen verschiedene Qualität) imd Quantum an dieser Qualität bestimmt. Doch die Bestimmung der Wahlverwandtschaft als quantifizierte Verwandtschaft oder Verwandtschaftsstärke führt auf einen Widerspruch (diesem Widerspruch auf den Grund zu gehen macht Entwicklung der Argumentation in diesem Kapitel und Übergang zum nächsten, zur „Knotenlinie", aus): Einerseits enthält die Wahlverwandtschaft ihr Quantum aus dem vorherigen Exponentenverhältnis, ist insoweit Verwandtschaftsstärke und karm nur als solche Maßgröße bestimmt werden. Andererseits ist das spezifische Ausschließen der Wahlverwandtschaft nicht aus einer quantitativ veränderlichen Maßgröße erklärbar, und insoweit ist die Wahlverwandtschaft nicht bloß quantifizierte Verwandtschaft. In der Wahlverwandtschaft als ausschliessender, qualitativer Beziehung entnimmt das Verhalten sich diesem quantitativen Unterschiede.

Ca(OH)2 ist mit allen möglichen Säuren verwandt. Die speziellere Bestimmtheit innerhalb dieser vielfachen Verwandtschaftsbeziehungen ist die „ausschliessende, qualitative Beziehung", die besondere Wahlverwandtschaft von Ca(OH)2 und H2SO4 im Gips, welche andere Salzbildungen ausschließt. Dieses ausschließende Verhalten „entnirrunt" sich dem „quantitativen Unterschiede", dem Massenverhältiüs bei der Neutralisation von Ca(OH)2 mit H2SO4 im Vergleich mit anderen Neutralisationen. Bis hierher hatte Hegel dargestellt: Die Verwandtschaft ist eine von den stöchiometrischen Maßen imterschiedene Qualität, erschlossen aus den Relationen der Exponenten. Durch Quantifizierung wird die Verwandtschaft zur Maßgröße, dem Verhältnismaß ,Wahlverwandtschaft', entwickelt. Welche Quanta auf welche Weise die Qualität ,Verwandtschaft' spezifizieren, bleibt für die Wissenschaß der Logik ein nachgeordnetes Problem, das in die „besondem Theile der concreten Naturwissenschaft" gehört. Jedoch ist gewiß, daß die Wahlverwandtschaft spezifizierte Verwandtschaft und damit nichts anderes als eine Maßgröße ist (wobei Hegel vermutlich an die Maße in den Verwandtschaftstafeln

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nach Guyton de Morveau^ dachte). Ungeachtet dessen, daß die genauere Bestimmung der Quanta als notwendig erschien und gleichwohl der zukünftigen Naturwissenschaft Vorbehalten bleiben konnte (es war offensichtlich, daß in die Verwandtschaftstafel nicht unmittelbar die Quanta für die Äquivalentgewichte eingetragen werden konnten; die von Guyton de Morveau probierten Zahlen für die Verwandtschaftsstärken galten als Provisorium, das auf den noch zu entdeckenden Zusammenhang von Verwandtschaftsstärke imd Verhältnis der Äquivalentgewichte verwies), behandelte Hegel im weiteren die systematischen Fragen: Kann ein quantifiziertes Maß (die Verwandtschaftsstärke) überhaupt ein Qualitatives (das spezifische Ausschließen) begründen? In welchem Verhältnis stehen innerhalb der Wahlverwandtschaft deren quantitative xmd deren qualitative Seite? In welchem Verhältnis steht die qualitative Seite zu ihrer quantitativen Grundlage? Die nächste Bestimmung, die sich darbietet, ist: daß nach dem Unterschied der Menge, also der extensiven Größe, der unter den Gliedern der einen Seite für die Neutralisinmg eines Gliedes der andern Seite Statt findet, sich auch die Wahlverwandtschaft dieses Gliedes zu den Gliedern der andern Reihe, mit denen allen es in Verwandtschaft steht, richte. Das Ausschließen als ein festeres Zusammenhalten gegen andre Möglichkeiten der Verbindung, welches dadurch begründet wäre, erschiene so umgewandelt in um so viel größere Intensität, nach der früher nachgewiesenen Identität der Formen von extensiver imd intensiver Größe, als in welchen beyden Formen die Größenbestimmtheit eine und dieselbe ist.

„Die nächste Bestimmung, die sich [für die Lösung des Widerspruchs, Wahlverwandtschaft ist quantifizierte Verwandtschaft und ist zugleich nicht quantifizierte Verwandtschaft, U. R.] darbietet": Die „Identität der Formen von extensiver und intensiver Größe" wird auf die vorherige Bestimmung angewandt, welche die Wahlverwandtschaft als dem „quantitativen Unterschiede", d. i. dem Massenverhältnis bei der in Frage stehenden Neutralisation, entnommen vorstellte. Die äquivalenten Mengen der Säuren, welche jeweils 1 Mol Ca(OH)2 neutralisieren, sind „extensive Größen" (an dieser Stelle; die Äquivalentgewichte wurden als intensive Größen (21.351,9; IV. 439) eingeführt; wegen jener „Identität der 9 H. Kopp: A. a. 0.303.

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Formen von extensiver und intensiver Größe" entsteht für Hegel kein Problem). Die Wahlverwandtschaft, „ein festeres Zusammenhalten gegen andre Möglichkeiten der Verbindung" - z. B. die Wahlverwandtschaft des Calciums zur Schwefelsäure im Gips, ist eine intensive Größe. Im Abschnitt Quantität hat Hegel für das Quantum gezeigt (21.212 ff; IV. 265 ff), daß dessen Formen „extensives Quantum" und „intensives Quantum" ineinander übergehen. (Die dortige Argumentation ist jedoch ihrerseits problematisch. Denn obgleich jede intensive Größe zu ihrer Messung auf eine extensive verwiesen ist, bleibt der Unterschied beider vorausgesetzt und ist nicht aus dem schlichten Quantum deduzierbar.) Die Wahlverwandtschaft wird durch eine Maßgröße bestimmt. Das diese kennzeichnende Quantum ist zuerst extensives - die äquivalente Menge (98 g) Schwefelsäure für 1 Mol Ca(OH)2, aber wegen der angeführten Identität zugleich auch intensives Quantum - „festeres Zusammenhalten" (im Gips). „Nach dem Unterschied" der äquivalenten Mengen - 98 g Schwefelsäure verglichen mit 44 g CO2 - „richte" sich auch die Wahlverwandtschaft - die Wahlverwandtschaft des Calciums (genauer: des Calciumions) zur Schwefelsäure verglichen mit der des Calciums zum CO2. (Hegel dachte hier wohl an die Bergmansche H)rpothese, daß die Affinitätsstärke mit den Massenzahlen in der Neutralitätsreihe abnähme.) Die Wahlverwandtschaft wäre so aus den stöchiometrischen Massenverhältnissen „begründet [...], erschiene [aus diesen, U. R.] umgewandelt" - was für das schon erwähnte, auch von Goethe geschätzte Beispiel bedeutet: Ca(0H)2 + C02 ?± Ca(0H)2 + H2S04

CaCOs +H2O CaS04 +2H2O

CaC03 + H2SO4

CaS04 + H2O + CO2

CaS04 + CO2

X

keine Reaktion

Schwefelsäure greift Kalkstein an, vertreibt CO2 imd bildet den stabileren Gips, während „die zarte, luftige Säure" dem „refraktären Gips"io nichts anhaben kann. Das „festere Zusammenhalten" des Gipses (dessen größere Freie Bindtmgsenthalpie verglichen mit der des Kalksteins), der Unterschied einer intensiven Größe, scheint durch den Unterschied der äquivalenten Mengen, von extensiven Größen, begrün-

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J. W. V. Goethe: A. a. 0.41,42.

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det. Weil Affinitätsstärken und äquivalente Mengen nur zwei verschiedene Ausdrucksformen (intensiv/extensiv) ein und desselben Quantums seien, könne durch das Verhältnis der äquivalenten Mengen unmittelbar das Verhältnis der Affinitätsstärken ausgedrückt werden. Diese Schlußfolgerung wird Hegel sogleich widerlegen. (Indiz: Hegel stellt die Passage in den Konjunktiv). Diß Umschlagen der einseitigen Form der extensiven Größe auch in ihre andere, die intensive, ändert aber an der Natur der Grimdbestimmxmg, welche das Eine xmd dasselbe Quantum ist, nichts; so daß hiemit in der That kein Ausschließen gesetzt wäre, sondern gleichgültig entweder nur eine Verbindung oder ebensowohl eine Combination unbestimmt von wie vielen Gliedern, wenn nur die Portionen, die von ihnen einträten, in Gemäßheit ihrer Verhältniße untereinander dem geloderten Quantum entsprechend wären. Statt haben könnte.

Das Quantum war näher bestimmt und unterschieden worden in extensives und intensives Quantum. Deren Ineinander-Umschlagen sollte die Identität beider Formen beweisen (an jener problematischen Stelle 21. 213, 7-14; IV. 266 f). Läge der Wahlverwandtschaft nur „das Eine und dasselbe Quantum" zugrunde, das aus seiner extensiven (der stöchiometrischen Menge) in seine intensive Form (das „festere Zusammenhalten", die Freie Bindungsenthalpie) umschlüge, dann wäre „kein Ausschließen gesetzt", d. h. die Spezifität der Wahlverwandtschaft des Calciums zur Schwefelsäure gegenüber der zum CO2 nicht begründet. Denn das Umschlagen „ändert [...] an der Natur der Grundbestimmung, welche das Eine und dasselbe Quantum ist, nichts"; die intensive Größe schlüge auch in die extensive um, und deshalb wäre es „gleichgültig", ob „entweder nur Eine Verbindung [CaS04, U. R.] oder ebensowohl eine Combination" (z. B. von CaS04 imd CaCOa) in einem Massenverhältnis entstünde, das dem Verhältnis der äquivalenten Mengen von H2SO4 xmd CO2 in ihrer Reaktion mit Ca(OH)2 entspräche, welches Verhältnis nach jener Identität von extensiver xmd intensiver Größe gleich dem Verhältnis der die Wahlverwandtschaften bestimmenden Affinitätsstärken wäre. Das ist chemisch nicht der Fall. (Mit dem heutigen Wissen können wir den Sachverhalt präziser formulieren: Das Verhältnis der Freien Bindxmgsenthalpien von CaS04 xmd CaCOa ist nicht gleich dem Verhältnis der diese Verbindxmgen herstellenden Äquivalente von H2SO4 xmd CO2 (98:44); reagiert Ca(OH)2 mit

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einer Mischung von H2SO4 und CO2, so ist das Gleichgewicht nicht durch jenes Verhältnis der Äquivalentgewichte bestimmt.) Hegel hatte aus der Annahme, Affinitätsstärken und äquivalente Mengen wären nur die intensive imd extensive Form eines vmd desselben Quantums, mittels der (von ihm nicht in Frage gestellten) Identität von intensivem imd extensivem Quantum geschlossen, daß das Verhältnis der Affinitätsstärken durch das der äquivalenten Mengen unmittelbar ausgedrückt werden könnte. Eine solche Bestimmimg der Affinitätsstärke ließe aber auch die Bildung einer Kombination von Produkten gemäß deren Affinitätsstärken zu und kann deshalb gerade nicht erklären, was sie erklären sollte, nämlich die spezifisch ausschließende Qualität der Wcihlverwandtschaft. Also ist die Annahme falsch, Affinitätsstärken und äquivalente Mengen (Massengrößen) seien nur die intensive und extensive Form eines imd desselben Quantums. Wegen des elenktischen Charakters der Argumentation steht die gesamte Passage nach: „Die nächste Bestimmung [...]" im Konjunktiv. Bis zu Hegels Zeit hatten Chemiker versucht, die Affinitätsstärken aus den stöchiometrischen Massenrelationen für die Herstellimg der Wahlverwandtschaften zu begründen. Die Hypothesen über die Art des Zusammenhangs zwischen äquivalenten Mengen und Affinitätsstärken widersprachen sich^. Hegel kann erklären, warum überhaupt diese Versuche unternommen wurden: Wird die Wahlverwandtschaft als Maß aus der Relation der sich verbindenden Stoffe entwickelt, dann muß diesem (Verhältnis)maß auch ein Quantum zukommen. Jene Relation kann durch das Verhältnis der äquivalenten Mengen charakterisiert werden, welches Verhältnis durch ein Quantum ausgedrückt wird. Mit der Identität von extensivem und intensivem Quantum folgte, daß ein Zusammenhang zwischen äquivalenten Mengen imd Affinitätsstärken existieren muß. Überdies entdeckt Hegel den Grund, weshalb jene Versuche zwangsläufig scheiterten: Voraussetzung für den Umschlag der Formen von extensivem und intensivem Quantum ist „das Eine und dasselbe Quantum", d. h. ein und dasselbe Substrat, das nicht weiter bestimmt ist als: Quantum zu sein. Ist aber die Wahlverwandtschaft in bloßem Quantum gegründet, läßt sich daraus nicht deren Spezifität (das Ausschließen) setzen, derm das Quantum ist gleichgültig dagegen, ob entweder eine Verbindung allein oder eine Kombination im entsprechenden Verhältnis entsteht. Hegel steht hier an der Schwelle einer sein

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H.Kopp:A.a. 0.313 ff.

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weiteres Vorhaben sprengenden Erkenntnis. Widerspricht die Annahme, „das Eine und dasselbe Quantum" sei das eine Substrat, aus dem unmittelbar sowohl Massenrelationen als auch Affinitäten abzulesen seien, ihrem Erklänmgszweck, die Affinitäten zu begründen, dann liegt die Verallgemeinerung nahe, daß es überhaupt unmöglich ist, Massenrelationen und Affinitäten in einem Substrat zusammenzuschließen. Dann aber muß eine von den Massenrelationen spezifisch unterschiedene und nicht aus ihnen entwickelbare Qualität existieren, welche die Rangfolge unter den Affinitäten/Wahlverwandtschaften regelt. Diese Qualität kann quantifiziert werden: Die Freie Bindimgsenthalpie ist das Maß, das angibt, welche Reaktionen bevorzugt oder benachteiligt sind und in welchem Ausmaß Bevorzugung bzw. Benachteiligung stattfindet. - Freie Bindxmgsenthalpien sind Energiegrößen und als solche qualitativ unterschieden von den bisher behandelten Maßverhältnissen (spezifisches Gewicht, Äquivalentgewicht), die sich auf Massengrößen beziehen. Hegel ahnt an dieser Stelle, daß ein identisches Substrat, das keine weitere qualitative Bestimmung hätte als diejenige, quantifizierbar zu sein, und das sich in extensive und intensive Größe zerlegte, gerade nicht die spezifische Differenz von Materie und Energie aus sich heraus setzen könntei^. Weil Materie und Energie nicht in einem ge12 Ende des 19. Jahrhunderts wurde postuliert, Strahlung und Materie läge eine gemeinsame Substanz zugrunde, die Energie. Ehe von Einstein 1905 gefimdene Äquivalenzbeziehung E = mc2 verleitete dann (zusanunen mit E = hv) zu philosophischen Interpretationen, welche entweder ein gemeinsames Substrat (wobei Energie nur in anderen Einheiten gemessen werden würde als Masse und beide Formen imbegrenzt ineinander umwandelbar wären) oder Energie (resp. Masse) als primär zugrundeliegend behaupteten. Der physikalische Sachverhalt, auf den jene Äquivalenzgleichimg bezogen ist, besteht in der Beobachtung, daß ein Elektron-Positron-Paar nur dann entsteht, wenn energiereiche Strahlimg auf ein target trifft. Aus sich (also im Vakuum) erzeugt Strahlimg keine Masse. Die Beziehimg E = mc2 setzt somit den Unterschied von Masse imd Energie xmd zum anderen deren Wechselwirkung voraus. Deshalb ist es falsch, diesen Unterschied aus der Äquivalenzbeziehung zu begründen. - Feldgleichimgen allein setzen nicht Singularitäten; erst werm man Randbedingungen voraussetzt - eine davon ist die Einheit eines Teilchens, das Normierungsintegral J rp*xp = 1, werm man also die Existenz von materiellen Teilchen Einnimmt, dann erhält man aus den Feldgleichungen Lösimgen, welche materielle Teilchen beschreiben. - Materie ist nicht aus Energie zu deduzieren - in den Energiebegriff der klassischen Mechanik (kinetische und potentielle Energie) geht der Massenbegriff ein; zur Messung eines Coulomb-Feldes muß eine an Masse gebimdene Probeladung in das Feld gebracht werden; obwohl elektromagnetische Felder imd der Transport von deren Energie ohne materiellen Träger möglich sind, ist die Beziehimg von elektromagnetischen Feldern auf Gegenstände notwendig, denn nur an diesen kann Energie sich äußern; mathematisch ist aus Feldgleichungen nicht das zu deduzieren, worauf die Energie sich bezieht. - Umgekehrt ist Materie nicht von Energie zu trennen oder als primär zu erklären - materielle Gegenstände sind immer bewegt und wegen der

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meinsamen Dritten (ihrer Einheit, in der beide aufgehoben wären) zusammenfallen, bleibt die Thermodynamik eine dem Gegenstand nach von Organischer und Anorganischer Chemie getrennte Wissenschaft. Jeder chemische Stoff ist Resultat experimenteller Arbeit tmd somit Resultat planvoller Zufühnmg von Freier Enthalpie. Er enthält zwei spezifisch unterschiedene Momente: a) seine substantielle Bestimmtheit und b) die in ihn hineingesteckte Freie Enthalpie. Beide Momente sind nicht ineinander oder in ein Drittes aufzulösen: Um spezifisch bestimmte, aggressive Reagenzien - Ausgangsstoffe für den Chemiker herzustellen, muß Freie Enthalpie zu in der Natur vorfindlichen, spezifisch unterschiedenen Substanzen zugeführt werden. Die dafür benötigte Enthalpie stammt letztlich aus der brennenden Sorme, bedarf aber der Vermittlung durch weitere spezifisch unterschiedene Substanzen (Holz, Kohle, Öl, etc.) und durch menschliche Arbeit, die wie jedes Leben (und wie die gerade aufgeführten Stoffe) die Enthalpiedifferenz von Sorme und Erde zu ihrer notwendigen Bedingung hat. Vorausgesetzte, spezifisch unterschiedene Substanzen imd eine vorausgesetzte qualitative Differenz von Materie und Energie widersprechen Hegels Programm der Konstruktion des Wesens: aus einem bestimmungslosen Substrat durch sich auf sich beziehende Negationen die spezifizierenden Bestimmungen zu gewinnen. Allein die Verbindung, die wir auch Neutralisation genannt haben, ist nicht nur die Form der Intensität;

Ausgehend von der Bestimmimg, Wahlverwandtschaft ist quantifizierte Verwandtschaft oder Affinitätsstärke, und ausgehend davon, daß das die Verwandtschaft spezifizierende Quantum aus der stöchiometrischen Relation der äquivalenten Mengen herkommt, hatte Hegel versucht, mittels des Umschlagens von extensivem in intensives Quantum die spezifisch ausschließende Qualität der Wahlverwandtschaft zu begründen. Und Hegel demonstrierte das Scheitern dieses Versuchs. Um mm dem Widerspruch - Wahlverwandtschaft ist quantifizierte Verwechselseitigen Gravitation immer in einem Zustand potentieller Energie zueinander; die Konstellation materieller Teilchen im Raum kann ohne Bewegimg nicht festgestellt werden. - Die Einsteinsche Beziehimg E = mc^ besagt lediglich, daß bei vorausgesetzter, qualitativer Differenz von Masse und Energie mit der Änderung der einen Größe eine proportionale Änderung der anderen einhergeht, was unter bestimmten Versuchsbedingungen und nur in beschränktem Umfang stattfindet - die Vorstellimg einer gemeinsamen Substanz ist ohne physikalische Bedeutung.

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wandtschaft und ist nicht quantifizierte Verwandtschaft - auf den Grund zu gehen (und ihn so aufzuheben), benötigt Hegel die zweite chemische Stimme: Er muß „Verbindung" (gemeint: das besondere Salz) oder, wie Hegel „auch" dafür sagt, „Neutralisation" zitieren - „genannt haben"i3. Denn nur aus der „Form der Intensität" ist die spezifisch ausschließende Qualität der Wahlverwandtschaft nicht begründbar. Das verschämt zurückdrängende „auch" verrät, daß Hegel das für sein logisches Vorhaben Problematische einer vorherrschend werdenden, zweiten chemischen Stimme sah. Darüber hinaus vmterläuft ihm eine folgenreiche Ungenauigkeit: Der Sache nach muß Hegel „Verbindung" (das besondere Salz als Resultat einer Neutralisation) zitieren tmd damit voraussetzen. Denn dem ausschließenden Verhalten liegt nicht „Neutralisation" schlechthin, sondern das besondere Salz (imd dessen besondere Affinität) zugnmde, welches andere „Neutralisationen" von sich ausschließt. Indem Hegel „Verbindfmg" bloß als andere Beneimung für „Neutralisation" ausgibt, kaschiert er sein Zitieren „Neutralisation" war der durch Verwandtschaft schlechthin gesetzte Prozeß, der auf „Neutralität" schlechthin zielt. Für Hegel ist „Neutralisation" (bzw. „Neutralität") aus der Relation der Exponenten gesetzt/ begründet, während bei „Verbindung" der Gedanke naheliegt, daß die Existenz einer solchen besonderen Verbindimg der Exponenten im Salz vorausgesetzt ist, um deren festes Verhältnis bestimmen zu können. der Exponent ist wesentlich Maaßbestimmimg, und damit ausschließend;

Hegel rekurriert hier auf die Passage 21. 351, 22-352, 7; IV. 440. Aus dem festen Verhältnis der Exponenten wurde auf deren „für sich seyende ausschliessende Einheit" als das ihrem festen Verhältnis Zugrundeliegende geschlossen. Diese Einheit enthält als ihre erste Seite Verwandtschaft schlechthin, die den chemischen Prozeß (im vorigen Satz zitiert als „Neutralisation") setzt und, indem sie die durch den Prozeß bestinunten, stöchiometrischen Verhältnisse annimmt, zur Maßgröße, der Wahlverwandtschaft, spezifiziert wird. „Damit" soll dem in die Verwandtschaftstafel eingetragenen Exponenten (Äquivalentgewicht) ausschließende Qualität zukommen. Doch dies „damit" ist lediglich be13 ,Zitieren' verwende ich nicht lediglich in der verblaßten Bedeutung von ,eine Stelle aus einem anderen Text wörtlich anführen', sondern in der diese begründenden stärkeren Bedeutimg von ,in Bewegung setzen, erregen und herbei- und aufrufen' (vgl. lat. citare).

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hauptet, nicht aber erklärt. Erstens setzt (oder begründet) das feste Verhältnis der Exponenten nicht deren fürsichseiende Einheit als zugrundeliegende, neue Maßgröße; vielmehr ist diese Einheit für die Existenz eines festen Verhältnisses vorausgesetzt. Zweitens bedeutet Quantifizierung der Verwandtschaft (ihre Entwicklung als „Maaßbestimmung") nicht unmittelbar spezifisch ausschließende Qualität (Wahlverwandtschaft). die Zahlen haben in dieser Seite ausschliessenden Verhaltens ihre Continuität und Zusammenfließbarkeit mit einander verloren; es ist das Mehr oder Weniger, was einen negativen Charakter erhält, xmd der Vorzug, den ein Exponent gegen andere hat, bleibt nicht in der Größenbestimmtheit stehen.

In der Verwandtschaftstafel des Ca(OH)2 stehen die verschiedenen Säuren (H2SO4, CO2, HCl etc.) in der Reihenfolge abnehmender Affinitätsstärke zum Calciumion. Die jeweils oberhalb stehende Säure bildet mit diesem Calciunüon eine Wahlverwandtschaft, die alle anderen Wahlverwandtschaften mit unterhalb stehenden Säuren ausschließt; umgekehrt wird eine Säure aus ihrer Wahlverwandtschaft (ihrem Calciumsalz) durch oberhalb von ihr stehende Säuren ausgetrieben. In die Verwandtschaftstafel werden dann „Zahlen" (z. B. Äquivalentgewichte) für die jeweiligen Säuren eingetrageni^. Werden diese Zahlen als Maß für das ausschließende Verhalten interpretiert, dann haben sie „ihre Continuität rmd Zusammenfließbarkeit mit einander verloren; es ist das Mehr oder Weniger, was einen negativen Charakter erhält [...]". Wenige Zeilen zuvor hat Hegel richtigerweise ausgeführt, daß das Umschlagen der extensiven in die intensive Größe unter Voraussetzvmg eines lediglich als Quantum bestimmten Substrats die spezifische Qualität der Wahlverwandtschaft, das Ausschließen, nicht begründen kann. Deshalb müssen die Versuche scheitern, das bloße „Mehr oder Weniger" von Massengrößen als unmittelbaren Ausdruck für die Affinitätsstärken/Wahlverwandtschaften zu nehmen. Die qualitative Verschiedenheit von Enthalpie- imd Massenbestimmvmgen als bleibende, nicht auflösbare Voraussetzung kann Hegel jedoch nicht zugestehen. Stattdessen postuliert er ein Umschlagen quantitativer Bestimmungen in qualitative und verwendet dafür drei verschiedene Formulierungen: 14

H. Kopp: A. a. 0.301,303 f.

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A. „[...] das Mehr oder Weniger [...] [erhält, U. R.] einen negativen Charakter". In der Verwandtschaftstafel wird eine bestimmte Säure durch eine Zahl charakterisiert, welche anzeigt, daß die Wahlverwandtschaft dieser Säure mit dem Calciumion durch Säuren, die durch größere bzw. kleinere Zahlen charakterisiert werden, aufgelöst bzw. nicht aufgelöst werden kann. Das „Mehr oder Weniger" solcher Zahlen deutet auf eine Qualität, die negativ gegen die für sich genommen kontinuierlich veränderlichen Zahlen bestimmt ist: Auflösbarkeit zugunsten anderer Wahlverwandtschaften oder Ausschließen anderer Wahlverwandtschaften. Einwände: 1. Hegel erklärt nicht, warum und wodurch das „Mehr oder Weniger [...] einen negativen Charakter" erhält. 2. Durch einen zu dem „Mehr oder Weniger" negativen Charakter ist die spezifische Qualität der Wahlverwandtschaft nicht hinreichend bestimmt. B. „[...] die Zahlen haben in dieser Seite ausschliessenden Verhaltens ihre Continuität und Zusammenfließbarkeit mit einander [als Zahlen innerhalb des Kontinuums der reellen Zahlen, U. R.] verloren". Dies ist eine Beschreibung, keine Erklärung. Das ausschließende Verhalten soll gerade durch jenes Umschlagen aus quantitativer Kontinuität erklärt werden. Hier wird für das Umschlagen (Verlieren der Kontinuität) das ausschließende Verhalten verwendet. C. „[...] der Vorzug, den ein Exponent [das in der Verwandtschaftstafel für eine bestimmte Säure stehende Äquivalentgewicht derselben, U. R.] gegen andere hat, bleibt nicht in der Größenbestimmtheit stehen". Hegel meint damit den folgenden Sachverhalt: Die Enthalpiedifferenz, die zur vollständigen Auflösung des Kalksteins durch Schwefelsäure imd zmn stabileren Gips führt, ist eine von den Massenrelationen, den bisher behandelten Maßverhältnissen, spezifisch unterschiedene Qualität, die ihrerseits quantifizierbar ist. Doch an diesen Sachverhalt reicht Hegels bloß negative Bestimmung nicht hin, der Vorzug, den das größere Quantum für das Äquivalentgewicht (98 g H2SO4 :44 g CO2) darstellt, bleibe nicht in solcher Größenbestimmtheit (als äquivalente Menge) stehen. An der Stelle, die den Übergang zur Wahlverwandtschaft entwickelt (21. 351,25 ff; IV. 440), hatte Hegel die spezifisch ausschließende Qualität durch Negation der Negation begründet. (Die gegen die Besonderheit einer einzelnen Neutralisation indifferente Verwandtschaft schlechthin und der damit verknüpfte gleichgültige tmd beliebig erscheinende Zahlendurchlauf von Exponentenverhältnissen werden negiert; die Exponenten (Äquivalentgewichte) werden gleichgültig/negativ gegen ihre Gleichgültigkeit als bloße Quanta gegeneinander gesetzt, was ihre qualitative und ausschließende Einheit begründen soll, vgl.

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Seite 112 f). An der zu kommentierenden Stelle soll „das Mehr oder Weniger [von Zahlen, U. R.] [...] einen negativen Charakter" erhalten. Wenige Zeilen zuvor imterstreicht Hegel, daß imter Voraussetzung eines lediglich als Quantum bestimmten Substrats das Umschlagen der extensiven in die intensive Größe die spezifisch ausschließende Qualität der Wahlverwandtschaft nicht begründen kann. Diese Qualität ist vielmehr alleinig mittels der von ihr gesetzten Relationen (rekursiv) bestimmbar und so begründet, was nur innerhalb eines konkreter bestimmten Substrats, nämlich des neuen Verhältnismaßes, möglich ist, welches die Relationen der gegeneinander gespannten Objekte (die vielfachen Verwandtschaftsbeziehungen) charakterisiert, welches Hegel der Sache nach zitieren muß (als die durch Verwandtschaft gesetzte „Neutralisation"), weiches er aber aus der Relation der vorherigen Maße begründet zu haben meint. Und Hegel zitiert schief: Denn das Resultat einer Neutralisation, das besondere Salz, das nicht vollständig in dem Prozeß seiner Herstellung aufgeht, ist zugrundeliegende Voraussetztmg für den Übergang zur ausschließenden Qualität, eine Voraussetzung, die erschlossen, aber nicht gesetzt/begründet werden kann. Ebensosehr ist aber auch diese andere Seite vorhanden, nach welcher es einem Momente wieder gleichgültig ist von mehrem ihm gegenüber stehenden Momenten des neutralisirende Quantum zu erhalten, von jedem nach seiner specifischen Bestimmtheit gegen das Andere;

Die qualitative Seite der Wahlverwandtschaft hat ihren Gnmd darin, daß das „Mehr oder Weniger" (der Zahlen für die Äquivalentgewichte) innerhalb des zugnmdeliegenden Verhältnismaßes einen „negativen Charakter" (die Zahlen als gegeneinander gleichgültige, bloß quantitativ veränderliche werden negiert, ihr Unterschied gewinnt „qualitative Natur") bekommt. Diese Qualität, durch Negation des Quantitativen begründet, bleibt dem Quantitativen verhaftet. „Ebensosehr" ist aber in der Wahlverwandtschaft „diese andere Seite [nämlich die quantitative, vgl. Seite 135, U. R.] vorhanden": „Einem Momente" - Ca(OH)2 - ist es „gleichgültig", von welchem der „ihm gegenüber stehenden Momente" es das „neutralisirende Quantum" erhält. An sich enthält ein chemisches Objekt die Beziehung „zu dem Ganzen einer gegenüberstehenden Reihe" (21. 353,10; IV. 441) vmd ist insofern „gleichgültig" gegen die Besonderheiten von deren Gliedern untereinander. Zudem kann Ca(OH)2 gleichzeitig von verschiedenen Säuren nebeneinander

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(„von mehrem ihm gegenüber stehenden Momenten") neutralisiert werden, aber nur dann, wenn diese nicht in ausreichendem Maße vorhanden sind (eine Bedingung, die Hegel verschweigt). Die neutralisierenden Quanta der verschiedenen Säuren richten sich nach deren „specifischer Bestimmtheit gegen das Andere"; d. h. sie smd im Verhältnis der jeweiligen Äquivalentgewichte zu gewichten (heute: als Anzahlen der Mole anzugeben). Jene einem „Momente" zukommende Gleichgültigkeit sieht davon ab, daß die Neutralisationsprodwfcfe qualitativ unterschiedene Salze sind. Bezogen auf den Prozeß Neutralisation schlechthin (H+ + OHH2O) ist es gleichgültig, welche besondere Neutralisation erfolgt. Die das Ca(OH)2 neutralisierenden Säuren CO2, H2SO4, HCl etc. zählen dann jeweils nur als neutralisierende Quanta. Hegel ist von dem selbständigen, an sich bestimmten Maß zu einem Verhältnismaß übergegangen, welches die Relation der Exponenten (die vielfachen Verwandtschaftsbeziehimgen) charakterisiert und welches in den durch diese Verwandtschaftsbeziehungen bewirkten Prozessen (Neutralisationen, Reaktionen von Salzen imd Säuren bzw. Basen, Reaktionen von Salzen imtereinander) bestimmbar ist. Die vorauszusetzenden, qualitativ verschiedenen Säuren (ihre „specifische Bestimmtheit gegen das Andere") waren in die neutralisierenden Quanta imd dann die Äquivalentgewichte, welche an sich bestimmte, selbständige Maße darstellen, überführt worden: Diese erscheinen jetzt als quantitative Bestimmtheiten jenes Verhältnismaßes, innerhalb dessen ein Umschlagen von quantitativem Verhalten in qualitatives gesetzt ist. Angemerkt sei, daß dasjenige, was bisher selbständiges Maß war (im chemischen Modell zxmächst das spezifische Gewicht, dann die äquivalente Menge und spezifischer das Äquivalentgewicht), zum „Moment" changiert - Indiz dafür, daß hier die „Knotenlinie von Maaßverhältnißen" erreicht ist, innerhalb deren die zuvor selbständigen Maße Momente sind. Die vorausgesetzten, qualitativ verschiedenen Substanzen waren durch ihre im chemischen Prozeß spezifisch bestimmten Maße, die Äquivalentgewichte, ersetzt worden. Diese blieben fürsichseiende, selbständige Maße auch in ihrer spezifischen Beziehung aufeinander, welche die konkreter bestimmte Wahlverwandtschaft begründete (weil die Beziehimg der Substanzen in ihrer Verbindimg zugnmde lag). Innerhalb der Wahlverwandtschaft (genauer: irmerhalb der durch verschiedene Wahlverwandtschaften charakterisierbaren Verwandtschaftsbeziehimgen) sind jene selbständigen Maße zu Momenten eines Ganzen geworden - vor Augen hat Hegel wohl die Verwandtschaftsta-

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fei, WO für die einzelnen Säuren Zahlen stehen, die ihre Selbständigkeit (als das für diese Säure stehende Äquivalentgewicht) insofern verloren haben, als diese Zahlen durch die Relationen der Wahlverwandtschaften untereinander bzw. durch einen diese Relationen bestimmenden Zusammenhang hervorgebracht erscheinen. Als quantitative Seite ist die Gleichgültigkeit der Zahlen für die kontinuierliche Maßgröße Affinitätsstärke vorhanden (alle Zahlen sind möglich; bezogen darauf, daß überhaupt eine Wahlverwandtschaft gebildet wird, ist es gleichgültig, welche Zahl). Die qualitative Seite liegt darin, daß nur bestimmte Zahlen Vorkommen; in den Zwischenräumen gibt es keine Wahlverwandtschaften (keine in der Tabelle stehende Säure). Die „Momente" werden zusammen mit ihrem Ganzen dann im „Maaßlosen" versinken. das ausschliessende, negative Verhalten leidet zugleich diesen Eintrag von der quantitativen Seite her.

Zur Bestimmung der qualitativen Seite der Wahlverwandtschaft als ausschließendes Verhalten fügt Hegel das Adjektiv ,negativ' hinzu (vgl.: „das Mehr oder Weniger, was einen negativen Charakter erhält"). Jedoch ist allem durch den Zusatz eines „negativen Verhaltens" der spezifisch ausschließende Charakter der Wahlverwandtschaft nicht hinreichend bestimmbar: Die Wahlverwandtschaft des CaS04 schließt bei Zugabe von CO2 die Wahlverwandtschaft des CaCOs aus, während letztere bei Zugabe von H2SO4 diejenige des CaS04 nicht auszuschließen vermag. Diejenige des CaCb schließt bei Zugabe von CO2 die des CaCOs aus, bei Zugabe von H2SO4 diejenige des CaS04 dagegen nicht. Die Wahlverwandtschaft hat zwei ^iten, ihre qualitative (das spezifisch ausschließende Verhalten) imd ihre quantitative (ein selbständiges Maß/Exponent verhält sich zu mehreren ihm gegenüberstehenden Exponenten; die Exponentenverhältnisse durchlaufen ein Kontinuum von Quanta; eine Wahlverwandtschaft ist ein Exponentenverhältnis und damit ein solches Quantum). Die qualitative Seite erleidet einen „Eintrag von der quantitativen Seite her". Denn das qualitative Verhalten ist nur aufgrund des quantitativen Verhaltens möglich: A. Das qualitative Verhalten ist negativ gegen das quantitative bestimmt (der gleichgültige EHirchlauf der Quanta für die Neutralisationsmengen wird im festen Verhältnis der Exponenten negiert). Das qualitative Verhalten negiert so Verwandtschaft schlechthin, setzt aber das, wogegen es negativ bestimmt ist, als Grundlage voraus. B. Das qualitative Verhalten ist durch ein das Verhältnismaß spezifizierendes Quantum bestimmt, närrüich

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die Maßzahl in der Verwandtschaftstafel. Diese Maßzahl ist eine bestimmte in dem Kontinuum von Maßzahlen. Das anschauliche Bild für die Metapher,Eintrag erleiden' stammt aus der Weberei. Demgemäß ist die qualitative Seite („das ausschließende, negative Verhalten") von der quantitativen durchwirkt, welche als querliegender Faden das Gewebe durchschießt. Der Eintrag ist wesentlich für das Gewebe. Wird aber das Verhältnis der Wahlverwandtschaft zu ihrer quantitativen Seite als eines des gesamten Gewebes zum Eintrag bestimmt, dann ist dies - so Hegel abwertend an einer anderen, sehr exponierten Stelle (11. 261, 2; rV. 508) - ein „Denken, das sich in der äussern Reflexion hält, und von keinem andern Denken weiß, als der äussern Reflexion". Quantitatives und Qualitatives wären äußerlich miteinander verbunden und verschlungen wie Eintrag und Zettel. Die Entwicklimg im Maß zielt auf das Wesen, wo solche die Vernunft auf den Webstuhl bringenden Bestinunungen aufgehoben sind. Dementsprechend treibt Hegel die immanente Analyse der Wahlverwandtschaft zunächst so weit, daß ihre qualitative Seite diuch den Eintrag von der quantitativen durchwirkt erscheint. Um damit implizit zu sagen: So stellt es die äußere Reflexion fest. Und insofern stehen beide Seiten noch in einem äußerlichen Verhältnis wie Eintrag imd Zettel. (Und Hegel wird über die Negation dieses falschen, weil äußerlichen Verhältnisses - so wie Eintrag und Zettel kann das Verhältnis von Qualitativem imd Quantitativem nicht sein entwickeln, was für das Wesen notwendig ist. Dabei dient die Wahlverwandtschaft als Modell, um vom äußerlichen Eintrag-Zettel-Verhältnis ziun Umschlagen von Qualität und Quantität innerhalb einer neuen zugnmdeliegenden Einheit, der Knotenlirde, überzugehen; die zuvor als Seiten der Wahlverwandtschaft Bestimmten sind darm Momente dieser Einheit. Aber das chemische Modell ,Wahlverwandtschaft' ist nicht lediglich austauschbares Beispiel, sondern konstitutiv für die Argumentation.) An beiden Seiten der Wahlverwandtschaft war an sich oder implizit schon ein Übergehen des Quantitativen und Qualitativen enthalten. Die eine, die quantitative Seite lag zimächst in einem (quantitativen) Exponentenverhältnis, welches eines aus einem Kontinuum möglicher Verhältrüsse war. Die Gleichgültigkeit der Exponenten in ihrem (quantitativen) Verhalten zu gegenüberstehenden Exponenten verwies auf eine von den Massengrößen verschiedene Qualität,Verwandtschaft schlechthin'. Diese existierte aber nicht als singuläre Qualität, sondern nur als gemeinsames Moment in den verschiedenen Neutralisationsreaktionen, die durch quantitativ verschiedene Exponentenverhältnisse charakterisiert werden konnten. Die andere, die qualitative Seite der

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Wahlverwandtschaft erwies sich als durchweht von der quantitativen (schon 21. 353, 13; IV. 441: „In der Wahlverwandtschaft als ausschliessender, qualitativer Beziehung entnimmt das Verhalten sich diesem quantitativen Unterschiede") und war zugleich negativ gegen sie bestimmt. So war die Wahlverwandtschaft quantifizierte Verwandtschaft oder Verwandtschaftsstärke, unterschied sich aber zugleich qualitativ von ,Verwandtschaft schlechthin' und war deshalb nicht bloß quantifizierte Verwandtschaft. Widerspruch. Diesem Widerspruch in der Wahlverwandtschaft wird auf den Gnmd gegangen. Es stellt sich heraus, daß, wenn beide Seiten der Wahlverwandtschaft als einander äußerlich wie Zettel und Eintrag gegenübergestellt werden, dies in den Widerspruch führt. Dessen Lösung besteht darin, das Verhältnis von Quantitativem imd Qualitativem selbst in einem spezifizierenden Prozeß zu entwickeln, was darm möglich ist, wenn von dem Verhältnis der Seiten an einer Wahlverwandtschaft zu den Relationen der Wahlverwandtschaften imtereinander übergegangen wird: Die Wahlverwandtschaften, die selbst Verhältnismaße sind, werden ihrerseits ins Verhältnis gesetzt. (Chemisch: Ein Salz (Wahlverwandtschaft A) wird mit einer Säure oder Base versetzt. Durch Verdrängimg des Säure- bzw. Basenrestes wird ein neues Salz (Wahlverwandtschaft B) gebildet (darm karm geschlossen werden, daß Wahlverwandtschaft B stärker ist) oder nicht (dann muß Wahlverwandtschaft A stärker sein). Zu Hegels Zeit wurde dies als „einfache Wahlverwandtschaft"i5 bezeichnet. Tauschen zwei Salze jeweils ihre Säure- imd Basenreste aus, sprach man von „doppelter Wahlverwandtschaft"i6. Durch das Ins-Verhältnis-Setzen der Wahlverwandtschaften untereinander erweisen diese sich erst als solche. Die Relationen der Wahlverwandtschaften können durch ein System organisiert werden, nämlich die Verwandtschaftstafel. In ihr sind Wahlverwandtschaften nach einer durch Maßzahlen bestimmten Reihenfolge geordnet, welche die Relationen der Wahlverwandtschaften untereinander ausdrückt. In diesem System von Relationen der Wahlverwandtschaften sind dann qualitative und quantitative Seite der Wahlverwandtschaft neu (vom Resultat, nämlich den Relationen der Wahlverwandtschaften, her) bestimmt. Die quantitative Seite liegt im kontinuierlichen Durchlauf der Maßzahlen für (mögliche) Wahlverwandtschaften innerhalb der Verwandtschaftstafel. (Dieser kontiniüerliche Durchlauf steht jetzt für Verwandtschaft schlechthin.) Aus diesem 15 H.Kopp:A.a. 0.293 ff. 16 H.KoppiA.a. 0.302.

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Kontinuum sind nur bestimmte Maßgrößen realisiert, welche „nicht in der Größenbestimmtheit stehen" bleiben imd deren quantitatives „Mehr oder Weniger" - verglichen mit anderen - „einen negativen Charakter erhält". So erscheint die qualitative Seite der Wahlverwandtschaft, das spezifisch ausschließende Verhalten, begründet. Wie in den vorherigen Kapiteln das spezifische Gewicht und die äquivalente Menge so wird hier die Wahlverwandtschaft in imd durch ihre Relationen zu anderen (Wahlverwandtschaften) spezifisch bestimmt. Und zwar wird aus den Relationen von Wahlverwandtschaften (genauer: aus dem System der Relationen von Wahlverwandtschaften) nach rückwärts auf die Qualität der Wahlverwandtschaft geschlossen, welche die Relationen erst ermöglicht. Das Vorwärtsgehen - die Entwicklung der Relationen der Wahlverwandtschaft aus deren anfänglicher Bestimmimg - ist Rückgang in den Grund der Wahlverwandtschaft: Die Wahrheit der Wahlverwandtschaft ist die Knotenlinie. Wenn man weiß, nach welchem Gesetz die Verwandtschaftsstärken in der Verwandtschaftstafel Zusammenhängen, dann verfügt man über den Grund für das spezifisch ausschließende Verhalten einer Wahlverwandtschaft und kann deren Relationen zu anderen Wahlverwandtschaften (spezifisches Ausschließen oder Aufgelöstwerden zugunsten stärkerer Wahlverwandtschaften) erklären. Beim Übergang vom Äquivalentgewicht zur Wahlverwandtschaft folgte aus dem bloßen Ins-Verhältnis-Setzen der Äquivalentgewichte, weder daß dies ihr Verhältnis als Wahlverwandtschaft existiert, noch daß die Wahlverwandtschaft als festes Verhältnis existiert (vgl. Seite 120 f) - eine Verbindung (ein besonderes Salz) mußte zitiert werden. Die Wahlverwandtschaft war also nicht durch die Relation der Äquivalentgewichte gesetzt. Jetzt müssen für den Übergang von der Wahlverwandtschaft zur Knotenlinie die Verhältnisse der Salze untereinander in ihren spezifischen Reaktionen zitiert werden. (Z. B. bedarf es für die doppelte Wahlverwandtschaft einer wäßrigen Löstmg, in der der Austausch der Säure- und Baserueste stattfinden kann; es müssen äquivalente Mengen vorhanden sein; ein besonderes experimentelles Arrangement sorgt für solche kontrollierten Bedingungen, imter denen nur die gewünschten Salze auskristallisieren.) Denn die Wahlverwandtschaften setzen sich nicht durch sich selbst in ein sie spezifizierendes Verhältnis. Also wird die Knotenlinie nicht aus dem bloßen Ins-Verhältnis-Setzen der Wahlverwandtschaften verständlich - sie ist nicht durch die Relation der Wahlverwandtschaften gesetzt. Der Übergang enthält das Zitat.

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Es ist hiemit ein Umschlagen von gleichgültigem, bloß quantitativem Verhalten in ein qualitatives und umgekehrt ein Uebergehen des specifischen Bestimmtseyns in das bloß äusserhche Verhältniß gesetzt; - eine Reihe von Verhältnissen, die bald bloß quantitativer Natur, bald specifische und Maaße sind.

Das Verhältnismaß ,Wahlverwandtschaft' war als zugrundeliegende „für sich seyende ausschliessende Einheit" für die Relation zweier selbständiger Maße (der Äquivalentgewichte in einer Verbindung) erschlossen worden. Diese Relation bestimmte beide Seiten der Wahlverwandtschaft, die quantitative (die neutralisierenden Mengen unterscheiden sich lediglich als Quanta) und die qualitative (das spezifisch ausschließende Verhalten gründet im festen Exponentenverhältnis). An diesen Seiten selbst war an sich oder implizit schon ein Übergehen des Quantitativen und Qualitativen, welches jedoch, weim beide Seiten als einander äußerliche an einer Wahlverwandtschaft gegenübergestellt wurden, in den Widerspruch führte: Wahlverwandtschaft ist Verwandtschaftsstärke und zugleich qualitativ von ,Verwandtschaft schlechthin' tmterschieden. Die Lösimg des Widerspruchs wird möglich, werm Wahlverwandtschaften ihrerseits ins Verhältiüs gesetzt imd rekursiv durch diese ihre Relationen bestimmt werden. Was in der Wahlverwandtschaft (ihren Seiten) implizit schon enthalten war, wird in der Wahrheit der Wahlverwandtschaft, der Knotenlinie (= der Gnmdlage für die Relationen der Wahlverwandtschaften), explizit: Das Übergehen von Quantitativem imd Qualitativem irmerhalb eines Verhältnismaßes. Dies kann zimächst am chemischen Modell der Verwandtschaftstafel z. B. von Ca(OH)2 erläutert werden, in welcher die Säuren nach der Reihenfolge abnehmender Wahlverwandtschaft untereinander geschrieben sind. „Es ist hiemit [...] eine Reihe von Verhältnissen" (= eine Reihe von Verhältnismaßen = Wahlverwandtschaften, charakteriesiert durch eine Maßgröße) gesetzt. Irmerhalb dieser Reihe (imd damit irmerhalb der Relationen der Wahlverwandtschaften) kehrt die quantitative Seite der (einzelnen) Wahlverwandtschaft als der kontinuierliche Durchlauf der Maßzahlen für (mögliche) Wahlverwandtschaften zurück (dies ist jetzt das „gleichgültige, bloß quantitative Verhalten") und ist damit die der Verwandtschaftstafel zugrundeliegende, kontinuierlich veränderliche Verwandtschaftsstärke. An bestimmten Punkten ist „ein Umschlagen von gleichgültigem, bloß quantitativem Verhalten in ein qualitatives [...] gesetzt", d. h. zu einer aus dem Kontinuum herausgegriffenen Maßzahl existiert eine Wahlverwandtschaft.

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Wahlverwandtschaft

Diese Maßzahl drückt spezifisches Ausschließen nach unten in der Verwandtschaftstafel und Aufgelöst-Werden durch oberhalb stehende Wahlverwandtschaften aus. Hierin liegt die besondere Qualität (als solche ist die qualitative Seite der (einzelnen) Wahlverwandtschaft zurückgekehrt) dieser Maßzahl, welche so qualitativ von anderen Maßzahlen aus dem Kontinuum unterschieden ist. Hegel fügte für die 2. Auflage „gesetzt" hinter „Verhältniß" ein, um zu betonen, daß der Übergang vom Widerspruch innerhalb der Wahlverwandtschaft zu den Relationen der Wahlverwandtschaften und damit zur BCnotenlinie begründet wäre. Den Vermutimgen damaliger Chemiker folgend nahm Hegel an, es gäbe ein (noch aufzufindendes) Gesetz, das bestimmte, wo und in welchem Abstand auf der kontinuierlichen Skala der Verwandtschaftsstärke sich Wahlverwandtschaften befändeni^. Ein solches Gesetz erklärte/begründete die einzelne Wahlverwandtschaft. „[...] umgekehrt [ist, U. R.] ein Uebergehen des specifischen Bestimmtseyns in das bloß äusserliche Verhältrüß gesetzt". Jene besondere, qualitativ von anderen unterschiedene Maßzahl ist zugleich bloße Maßzahl, die von den Maßzahlen, welche von der ersten Wahlverwandtschaft ausgeschlossene Wahlverwandtschaften charakterisieren, wie von den Maßzahlen, welche die erste Wahlverwandtschaft ausschließende Wahlverwandtschaften charakterisieren, lediglich durch ein Quantum unterschieden ist. Was zuvor die zwei Seiten der (einzelnen) Wahlverwandtschaft waren, welche einander äußerlich gegenübergestellt in den Widerspruch führten imd sich aufhoben, ist jetzt zu zwei Momenten innerhalb der Relationen der Wahlverwandtschaften (genauer: innerhalb der diese Relationen systematisch organisierenden Verwandtschaftstafel) geworden. Das eine (quantitative) Moment, der kontinuierliche Durchlauf von Maßzahlen für die Verwandtschaftsstärke, hat an sich selbst die Bewegung in sein Entgegengesetztes, das qualitative: Das 17 Die Maßzahlen in den Verwandtschaftsreihen von Guyton de Morveau zeigten keinerlei Regelmäßigkeit. Für diese Maßzahlen ebenso wie für die spezifischen Gewichte forderte Hegel von den Naturwissenschaften: „Es wäre die Aufgabe vorhanden, die Verhältnißexponenten [...] als ein System aus einer Regel zu erkeimen, welche eine bloß arithmetrische Vielheit zu einer Reihe harmorüscher Knoten specificirte" (21. 362, 32-3; rv. 454). „Auf diese Weise würden die einfachen Zahlen der specifischen Schweren [bzw. der Verwandtschaftsstärken, U. R.], - Zahlen, welche für sich eine begriffslose Unmittelbarkeit haben, und daher keine Ordnimg zeigen können, - als die letzten Resultate von Verhältnissen erscheinen, in welchen die zu Grunde liegende specificirende Regel erkennbar wäre" (11.214,31-35). „Aber die Wissenschaft hat noch weit, um dahin zu gelangen, soweit als dahin, die Zahlen der Entfernungen der Planeten des Sonnensystems in einem Maaß-Systeme zu fassen" (21.363,4-6; IV. 454).

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„gleichgültige, bloß quantitative Verhalten" (die Maßzahlen, die „bloß quantitativer Natur" sind, weil ihnen keine Wahlverwandtschaften korrespondieren) schlägt in „ein qualitatives" um (in „specifische und Maaße"). Und das qualitative Moment hat an sich selbst „ein Uebergehen [...] in das bloß äusserliche Verhältniß": „Der [qualitative, U. R.] Unterschied der sich ausschliessenden [Wahlverwandtschaften, U. R.] ist [doch nur, U. R.] ein Unterschied des Quantums" (11. 211,11 f). Für die Relation der Wahlverwandtschaften gilt also: 1.) „[...] die Zahlen [die Maßzahlen für die jeweilige Wahlverwandtschaft, U. R.] haben ihre Continuität imd Zusammenfließbarkeit mit einander [als kontinuierlich veränderliche Verwandtschaftsstärke, U. R.] verloren" (das Umschlagen; die eine Wahlverwandtschaft charakterisierende Maßzahl ist qualitativ von denen aus dem Kontinuum unterschieden). 2.) Zugleich und ebensosehr ist „das ausschliessende, negative Verhalten [durchwebt oder, U. R.] leidet [...] Eintrag von der quantitativen Seite her" (das Übergehen; jene sich qualitativ gegeneinander verhaltenden Wahlverwandtschaften sind doch nur durch ein Quantum unterschieden). Die beiden Bewegungen (die „Reihe von Verhältnissen" von „bloß quantitativer Natur" schlägt um zu ,,spedfische[n]" Verhältnissen, imd letztere gehen vice versa über in bloß quantitative), welche die Momente ineinander überführen, sind umgekehrt zueinander und heben wechselseitig ihr jeweiliges Resultat auf. (Das Verhältnis von Qualitativem und Quantitativem wird durch diese Bewegungen konkreter bestimmt werden - und im folgenden Kapitel zum Gegenstand der Untersuchung.) Die „Reihe von Verhältnissen" und jene zueinander inversen Bewegungen müssen an einem der Sache nach zitierten xmd von Hegel stillschweigend vorausgesetzten Substrat sein, dem in der Regel neutralen, wäßrigen Zustand, innerhalb dessen die Salze, dirigiert durch Verwandtschaftsstärken, sich zu neuen Wahlverwandtschaften umgruppieren. Bezogen auf das selbständige Maß des Ausgangs der Betrachtung - bezogen auf Ca(OH)2 - waren die quantitative und die qualitative Seite der Wahlverwandtschaft einander ausschließende Alternativen: Denn entweder geht Ca(OH)2 eine Wahlverwandtschaft ein, reagiert mit H2SO4 (im Überschuß) und schließt damit alle anderen Salzbildtmgen aus, oder es ist gleichgültig gegen die Besonderheiten der neutralisierenden Säuren und somit als Möglichkeit bestimmt, Salze schlechthin zu bilden. Dagegen bestehen jetzt bezogen auf eine Wahlverwandtschaft und deren Relationen bzw. Umgruppierungen zu anderen Wahlverwandtschaften immer wieder sowohl die Möglichkeit, sich in andere Wahlverwandtschaften zu kontinuieren, als auch die ent-

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gegengesetzte Bestimmung des Ausschließens weiterer Wahlverwandtschaften. Damit liegt dem Übergang zur Knotenlinie auch ein Wechsel des zitierten chemischen Modells zugnmde: von ,Säure und Base bilden Salz' zu ,Salze gruppieren sich zu bevorzugten Wahlverwandtschaften um'. Die Wahlverwandtschaft wird - wie im vorigen Kapitel die Säure - durch ihre Relationen zu anderen bestimmt. Während jedoch der Neutralisationsprozeß im Resultat (dem Salz) „erloschen" ist und „sich nicht von selbst wieder" anfacht (12.150,18,35; V. 204), ist mit einer Wahlverwandtschaft ein Prozeß der Kontinuierung in andere Wahlverwandtschaften - wie Hegel meint - gesetzt, und zwar ein in seinem Resultat immer erneut möglicher Prozeß, welcher das Verhältnis des Qualitativen und Quantitativen spezifiziert - im Wechsel von Umschlagen imd Übergehen. Dieser das Substrat ,neutralen Zustand' spezifizierende Prozeß soll dann - so Hegel - die zunächst vorausgesetzten Qualitäten (hier: die Wahlverwandtschaften = Salze) begründen. Damit wäre ein Zwischenschritt beim Übergang zum Wesen, d. h. der sich auf sich beziehenden Negation, die sich zu den Reflexionsbestimmungen spezifiziert, gelimgen. Und mit dem Übergang zur Knotenlinie wären die qualitative Differenz von Materie und Energie imd auch die vorauszusetzenden, spezifischen Qualitäten der Salze gelöscht. Die Hegelsche Argiunentation scheitert daran, daß weder die Affinität (Freie Reaktionsenthalpie) sich auf Massenrelationen noch die qualitative Verschiedenheit der Salze sich auf den spezifizierenden Prozeß ihrer Umsetzungen zurückfuhren lassen. Zwar kann einer bestimmten Qualität ein Maß zugeordnet werden, sie fällt aber nicht, wie Hegel annimmt, mit dem Maß bzw. den Maßverhältnissen und deren Spezifikation in ihren Relationen zusammen. Reduziert man die Argumentation der beiden letzten Kapitel auf ihr formales Gerüst, dann kehrt immer dasselbe Schema (vgl. Seite 116) wieder: selbständiges Maß, Relation zweier selbständiger Maße, Exponent der Relation, Maß als Reihe von Maßverhältnissen (Exponenten) entwickelt, für-sich-bestimmte Einheit = Äquivalentgewicht, Relation der Äquivalentgewichte, zugrundeliegende fürsichseiende Einheit = Wahlverwandtschaft, Wahlverwandtschaft als Maßgröße für eine Verbindung (als Verhältnismaß), Relation zweier Wahlverwandtschaften, Reihe von Wahlverwandtschaften in der Verwandtschaftstafel = Knoten im Durchlauf von Maßverhältnissen, fürsichseiende Einheit dieser Knotenlinie = dessen an sich selbst spezifizierendes, maßloses Substrat. „Auf diese Weise ist es, daß jeder Schritt des Fortgangs im Weiterbestimmen, indem er von dem unbestimmten Anfang sich entfernt.

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durch eine Rückannäherung zu demselben ist [die Wahlverwandtschaft erklärt die Relation der Äquivalentgewichte, die Knotenlinie erklärt die Wahlverwandtschaft, der spezifizierende Prozeß des Umschlagens von Quantität in Qualität (und umgekehrt) erklärt die Knotenlirde vmd das Wesen erklärt das Umschlagen, U. R.], daß somit das, was zunächst als verschieden erscheinen mag, das rückwärts gehende Begründen des Anfangs, und das vorwartsgehende Weiterbestimmen desselben in einander fällt und dasselbe ist [...] die Wissenschaft [stellt sich, U. R.] als einen in sich geschlimgenen Kreis dar, in dessen Anfang, den einfachen Gnmd, die Vermittlung das Ende zurückschlingt; dabey ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen; denn jedes einzelne Glied, als Beseeltes der Methode, ist die Reflexion-in-sich, die, indem sie in den Anfang zurückkehrt, zugleich Anfang eines neuen Gliedes ist" (12.251,14-18 und 252,16-22; V. 350 f). Aber der Kommentar zu den beiden Kapiteln zeigt, daß, genau genommen, das Schema nicht immer dasselbe ist und daß das durch die Durchfühnmg des Schemas angesaugte oder herbeizitierte Material für die Übergänge konstitutiv ist. Deswegen scheitert der Übergang ins Wesen, d. h. die Auflösimg der vorausgesetzten Qualitäten (tmd z. B. das Löschen der qualitativen Differenz von Energietmd Massengrößen) in Reflexionsbestimmungen. In der Undurchführbarkeit des Hegelschen Programms steckt dessen Witz, den derjenige übersieht, der Hegel vorwirft, es sei doch immer dasselbe Schema (,Hegel-Mühle'). Denn ein solcher Vorwurf imterstellt Hegels idealistische Intention, eine vom herbeizitierten Material sich lösende logische Entwicklung zu konstruieren, als widerspruchsfrei durchgeführt imd bestreitet damit die Möglichkeit immanenter Kritik. Doch gerade die Durchführung der idealistischen Intention erzeugt neben dem generellen Widerspruch (nämlich Material herbeizuzitieren, um die logische Entwicklung am Leerlaufen zu hindern, imd dies Material zugleich wieder zu entfernen, um die logische Entwicklvmg gegenüber dem dann zum bloßen Demonstrationsbeispiel gemachten Material selbständig zu erklären) konkretere Widersprüche, durch die hindurch ein Begriff dieses Materials erst möglich wird. Dieser enthält sowohl das Passen (denn es ist nicht beliebig, welches Material von der logischen Entwicklung angesaugt wird) als auch das Nicht-Passen jener logischen Entwicklxmg: Das Scheitern der Auflösimg in Reflexionsbestimmungen klärt erst den Begriff der materialen Voraussetzung.

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Bemerkung zur Anmerkung Abgesehen von den schon vorweggenommenen Passagen ist diese Anmerkung lediglich von chemiehistorischem Interesse. Der fortlaufende Kommentar erforderte ein ausführliches Referat zumindest der zitierten Berthollet, Berzelius imd Ritter. Es wären zu imterscheiden: Berthollets (Berzelius', Ritters) Einsichten von Berthollets (Berzelius', Ritters) Irrtümem, Hegels richtige Kritik an Berthollets (Berzelius', Ritters) Irrtümem von Hegels Irrtümem über deren Einsichten. Solch aufwendiges Unterfangen sprengte den Umfang dieser Arbeit, erbrächte keine weitere Erkenntnis zum systematischen Fortgang des Maßkapitels, diente allerdings zur Widerlegrmg des Vomrteils, die Hegelsche Naturphilosophie wäre damals nicht Wissenschaft, sondern lediglich Räsonnement gegen die (eigentliche) Wissenschaft gewesen. So wie die Positionen von Hegel und Berzelius gegenüberstanden, so hatte keiner recht.

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B. Knotenlinie von Maaßverhältnißen. Zu Beginn des Kapitels Das reale Maaß war das Maß als Quotient von Maßen und somit als selbständiges Maß bestimmt, welches unmittelbar die Qualität verschiedener Etwas charakterisiert (spezifisches Gewicht). Die Fortbestimmung eines solchen Maßes fiel in „Das Verhältniß selbstständiger Maaße". Diese wurden zunächst äußerlich in „Verbindimg" gesetzt (Mischungen, Legierungen). Im chemischen Prozeß brachten die selbständigen Maße dann andere Maße hervor; ihre spezifische Bestimmtheit lag in der „Reihe von Maaßverhältnißen" (der Neutralisationsreihe äquivalenter Mengen). Daraus resultierte das Äquivalentgewicht, noch immer ein selbständiges, einem Etwas unmittelbar zuordenbares Maß. Die Äquivalentgewichte wurden ihrerseits ins Verhältnis gesetzt. Aus ihrem festen Verhältnis wurde auf die Wahlverwandtschaft geschlossen, welche nicht mehr unmittelbar an sich bestimmtes Maß, sondern Verhältnismaß oder fürsichseiende, negative Einheit einer Relation von Maßen war. Die Wahlverwandtschaften wurden nun ihrerseits ins Verhältnis gesetzt imd darin spezifiziert (z. B. zu den probierten Zahlen der Verwandtschaftstafel von Guyton de Morveau). Das so erhaltene, eine Wahlverwandtschaft charakterisierende Maß enthält die Relationen zu allen anderen. Die ausschließende Qualität beruht auf dem Quantum, dem „Mehr vmd Weniger" der Verwandtschaftsstärke, und ist zugleich negativ gegen deren bloß quantitative Zu- oder Abnahme bestimmt. In der hiermit erreichten „Knotenlinie von Maaßverhältnißen" wird das Verhältnis von quantitativer Verändenmg einer Maßgröße und Veränderung der Qualität, die auf dieser Maßgröße beruht, thematisch.

B. Knotenlinie von Maaßverhältnißen. Die letzte Bestimmung des Maaßverhältnisses war, daß es als specifisch ausschließend ist, das Ausschliessen kommt der Neutralität als negativer Einheit der imterschiedenen Momente

Sind zwei selbständige Maße eine Verbindung (Wahlverwandtschaft) eingegangen, dann stehen sie darin in einem festen Verhältnis. Daraus kann auf eine neue, zugrundeliegende Maßgröße geschlossen werden. Für Hegel dagegen war durch das feste Verhältnis der selbständigen Maße (im chemischen Modell ist „Verwandtschaft" das Verhältrüs zweier gegeneinander gespannter Objekte) deren „negative Einheit" gesetzt/begründet (vgl. Seite 125 f). Diese war negativ gegen die bisherigen Maße als ein von diesen qualitativ Verschiedenes imd ihnen Zugrundeliegendes bestimmt, erwies sich als „fürsichseyend" imd „ausschließend" und wurde, indem sie das vorherige quantitative Verhältnis der selbständigen Maße annahm, zu einer neuen Maßgröße (Wahlverwandtschaft) spezifiziert (vgl. Seite 123 ff). An der zu kommentierenden Stelle setzt Hegel „Neutralität" mit „negativer Einheit der unterschiedenen Momente" gleich. Damit changiert das chemische Modell von „Verwandtschaft" zu „Neutralität". „Verwandtschaft" setzt einen Prozeß, die Neutralisation, welche auf „Neutralität" zielt, und ist in xmd durch diesen Prozeß bestimmt worden (Spezifikation des Verhältiüsmaßes). „Neutralität" ist Resultat des durch „Verwandtschaft" gesetzten Prozesses und enthält insofern „Verwandtschaft" (= das Verhältnis zweier gegeneinander gespannter Objekte) aufgehoben als innere Beziehimg „der verschiedenen Momente", zu welchen jene gegeneinander gespannten Objekte (= Säiure und Base) ihrerseits aufgehoben sind. Die einzelnen „Neutralitäten" (Salze) werden in und durch den von ihnen gesetzten Prozeß (durch die Reaktionen der Salze miteinander) bestimmt (Spezifikation innerhalb der Rnotenlinie). War „Verwandtschaft" zxmächst das Zugrundeliegende für das feste Verhältnis der selbständigen Maße (gesetzt dmch Negation der Negation, vgl. Seite 126), so ist jetzt für die Relationen der Wahlverwandtschaften „Neutralität" das Zugrundeliegende. Wahrend „Verwandtschaft" durch ein Quantum zu einer Maßgröße spezifiziert wurde, ist „Neutralität" Zu-

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grundeliegendes für einen spezifizierenden Prozeß. Hegel begreift „Neutralität" als in doppelter Hinsicht „negative Einheit" der Relation von selbständigen Maßen: l.)Negieren der in der Relation enthaltenen Qualitäten. In „Neutralität", bestimmt als Resultat des Neutralisationsprozesses, sind die diesen Prozeß setzenden Säure imd Base und dasjenige, was solche chemischen Objekte wesentlich bestimmte, nämlich ihr Verhältnis der „Verwandtschaft", negiert. „Neutralität" enthält die negierten und so in ihrem gespannten Gegensatz gegeneinander aufgehobenen Säure und Base als „Momente" (Ionen, Säurerest xmd Basenrest) in einer (negativen) Einheit. Und „Neutralität" enthält „Verwandtschaft" (das Verhältnis gegeneinander gespannter imd einander äußerlicher Objekte) aufgehoben als irmere Beziehung und Zusammenhalt der Ionen. 2.) Negieren der die Relation bildenden Maße. In „Neutralität", bestimmt als das Zugnmdeliegende für das feste Maßverhältrüs (das Verhältnis der Äquivalentgewichte von Säure xmd Base), sind die einzelnen, dieses Verhältnis bildenden Maße als selbständige negiert imd als Momente in ihrer negativen Einheit enthalten; Die Äquivalentgewichte von Säure und Base sind im festen Maßverhältnis in einer negativen Einheit. Als gesetzte begründet diese die Wahlverwandtschaft, eine von den stöchiometrischen selbständigen Maßen qualitativ verschiedene Maßgröße, für welche jenes quantitative Maßverhältnis Moment ihrer Bestimmung ist. Hegel zieht im Begriff „Neutralität" eine Substanzbestimmimg - das Resultat des Neutralisationsprozesses, einzelne „Neutralitäten" - und eine Relationsbestimmung - „neutrale Beziehung" (21. 352, 5; FV. 440), in „Neutralität" ist „Verwandtschaft" aufgehoben enthalten - zusammen. Als substantialisierte Relation ist „Neutralität" schon fast das Wesen. Denn „Neutralität" ist Zugrundeliegendes für einen spezifizierenden Prozeß, der Affinität und Negation der Affinität enthält (vgl. Seite 140 ff) und so aus der zunächst singulären „Neutralität" qualitativ verschiedene „Neutralitäten" (Wahlverwandtschaften) hervorbringt. Da Prozeß und Zugnmdeliegendes noch in Gestalt von veränderlichen Maßverhältrüssen und Verhältnismaß vorliegen, muß für den Übergang ins Wesen diese Gestalt durch Negation von (verbliebener) Qualität und Quantität entfernt werden (vgl. Seite 126). Hegels Fehler im Übergang zur Wahlverwandtschaft bestanden darin, erstens aus dem festen Verhältnis der selbständigen Maße deren negative Einheit zu setzen und zweitens diese Einheit durch zwei Negationen - die neue Maßgröße ist negativ sowohl gegen das quantitative Verhältnis der Maße als auch gegen die in diesen Maßen enthaltenen imd

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vorausgesetzten Qualitäten bestimmt, vgl. Seite 125 f - hinreichend zu bestimmen. Mit dem Changieren von „Verwandtschaft" zu „Neutralität" werden diese Fehler in Hegels Begriff der „Neutralität" reproduziert. Für Hegel ist „Neutralität" nichts als „negative Einheit", und zwar 1.) ist „Neutralität" nicht Säure und nicht Base und deshalb deren „negative Einheit", und 2.) ist „Neutralität" jene negativ gegen das stöchiometrische Maßverhältnis gesetzte, ausschließende Qualität: „das Ausschliessen kommt der Neutralität als negativer Einheit der unterschiedenen Momente zu". Und diese ausschließende Qualität gründet in dem Maßverhältnis, das die es bildenden Maße als Momente enthält und so deren negative Einheit ist. Wäre „Neutralität" „negative Einheit" bloß nach Bestimmung 1, dann wäre jeder qualitative Unterschied (der Salze) gelöscht. Denn die negative Bestimmung, nicht die besondere Säure imd nicht die besondere Base zu sein, aus denen durch Neutralisationsreaktion das Salz entstanden ist, trifft für jede besondere Salzbildung zu. Die Spezifikation von „Neutralität" zu einzelnen verschiedenen Wahlverwandtschaften kommt durch Bestimmimg 2 zustande, wobei es ein Widerspruch ist, daß das spezifische Ausschließen auf dem quantitativen Maßverhältnis beruht und zugleich negativ gegen es bestimmt ist. Diesen Widerspruch präsentiert Hegel als Ausgangspimkt für die Lösung des Problems. Das feste Maßverhältnis der Reaktionspartner bei den Neutralisationen war Hinweis auf spezifisch unterschiedene Salze und deren ihre Verbindimg bzw. ihre Reaktivität charakterisierende Energiegrößen. Hegels Bestimmung der „Neutralität als negative Einheit der unterschiedenen Momente" ist schon deshalb nicht zutreffend für die spezifischen Salze (Wahlverwandtschaften), weil die meisten nicht neutral reagieren, sondern hydrolysieren. Ihre Vergleichung als Salze setzt einen Begriff ,Neutralisation' voraus (äquivalente Mengen Säure und Base vereinigen sich ziun Salz, praktisch titriert man bis zum Äquivalenzpunkt, der in der Regel nicht mit dem Neutralpunkt zusammenfällt); die Salze sind aber nicht durch Maßverhältnisse spezifizierte „Neutralität schlechthin", letztere als Substrat genommen.

Für diese fürsichseyende Einheit, die Wahlverwandtschaft, hat sich in Ansehung ihrer Beziehxmg auf die anderen Neutralitäten kein weiteres Prinzip der Specification ergeben; diese bleibt nur in der quantitativen Bestimmung der Affinität überhaupt, nach der es bestimmte Mengen sind, welche sich neutralisiren, und damit

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anderen relativen Wahlverwandtschaften ihrer Momente gegenüberstehen.

„[...] in Ansehung ihrer Beziehung auf die anderen Neutralitäten Hiermit ist der Übergang zur „Beziehimg" der Wahlverwandtschaften (bezeichnenderweise als „Neutralitäten" gefaßt) untereinander, nämlich den Reaktionen der Salze miteinander, vollzogen: Die Wahlverwandtschaft wird durch ihre Relationen zu anderen bestimmt. Vorgestellt ist ein die zugrundeliegende „Neutralität" spezifizierender Prozeß, in dem die Salze, dirigiert durch die Verwandtschaftsstärke („quantitative Bestimmung der Affinität überhaupt"), sich zu neuen Wahlverwandtschaften umgruppiereni. „Kein weiteres Prinzip des Specification [habe, U. R.] sich ergeben", behauptet Hegel, ohne bewiesen zu haben, daß ein zu den bisherigen Maßverhältnissen heterogenes Prinzip der Spezifikation nicht existiert (ein solches sprengte Hegels idealistische Darstellung). Als alleiniges „Princip der Specification" verbleibe demnach die Verwandtschaftsstärke. (Wobei Hegel hier noch hinter Guyton de Morveau zurückfällt, derm es sollen unmittelbar die neutralisierenden, äquivalenten Mengen sein, welche die Verwandtschaft/Affinität quantifizieren.) Diese „Specification" von „Neutralität" enthält einen Widerspruch: a. ) Die Wahlverwandtschaften haben untereinander spezifisc hungen, eine schließt in spezifischer Weise eine andere aus. b. ) Das, was die Wahlverwandtschaft wesentlich bestimm keine spezifische Qualität: ln „Neutralität" als „negativer Einheit" ist die Spezifität der ihr vorausgesetzten Qualitäten gelöscht, denn Neutralität als negative Einheit von Säure und Base ist für alle Wahlverwandtschaften dieselbe. Das spezifizierende Prinzip, die Verwandtschaftsstärke, ist eine lediglich quantitativ veränderliche Maßgröße imd bleibt dem zu spezifizierenden Zugnmdeliegenden, der als negative Einheit von Säure und Base bestimmten „Neutralität", äußerlich. Die in der bisherigen Darstellrmg entwickelte Aussage, „Neutralität" (die Relationen der „Neutralitäten" imtereinander, die im neutralen Zustand ablaufenden Salzreaktionen) werde durch die Verwandt1 Anzumerken bleibt, daß Hegel hier chemische Begriffe (wie „Affinität", „Neutralität") für die logische Argumentation verwendet, ohne dies mit Formulienmgen wie „die chemischen Stoffe sind die eigenthümlichsten Beyspiele solcher Maaße" zu kaschieren. „Affinität überhaupt", die durch die stöchiometrischen Verhältnisse quantifiziert werde, ist das Streben eines Stoffes, mit einem ihm entgegengesetzten zu reagieren (= Verwandtschaft).

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schaftsstärke zur Wahlverwandtschaft spezifiziert, führt auf die Frage: Wie kann ein der „Neutralität" äußerliches, quantitativ veränderliches Maß innerhalb derselben spezifische Qualitäten begründen? An dieser Stelle könnte so weiter argumentiert werden: Spezifisch ausschließende Qualität der Wahlverwandtschaft und deren Bestimmung als negative Einheit der sie bildenden Maße widersprechen sich; dieser Widerspruch verweist darauf, daß es richtig wäre, von vorausgesetzten, spezifisch zusammengesetzten Substanzen und von deren Verbindung und Reaktivität charakterisierenden Energiegrößen auszugehen. Dagegen sagt Hegel: Die Bestimmung der Wahlverwandtschaft, „Neutralität" werde durch Verwandtschaftsstärke spezifiziert, widerspricht sich selbst, weil das behauptete „Princip der Specification" gar nicht (qualitativ) spezifizieren kann. (Denn die spezifisch ausschließende Qualität kann nicht auf ein Maßverhältnis an der „negativen Einheit" zurückgeführt werden.) Mit diesem Widerspruch wird das Verhältnis des Prinzips der Spezifikation zu dem der Spezifikation Zugrundeliegenden („Neutralität") selbst Gegenstand der Darstellung. Ist die Spezifikation - wie gezeigt - nicht unmittelbar an einer Wahlverwandtschaft (Spezifikation des Verhältnismaßes ,Verwandtschaft' durch ein Quantum) möglich, dann ist zu einem Prozeß der Spezifikation überzugehen und damit zu den Relationen, die einzelne und verschiedene Wahlverwandtschaften untereinander eingehen, zum Ausschließen und zum Kontinuieren. Aber ferner um der quantitativen Grundbestimmung willen continuirt sich die ausschließende Wahlverwandtschaft auch in die ihr andern Neutralitäten,

Bisher war „Neutralität" als „negative Einheit der unterschiedenen Momente" im Singular verwendet worden. Die Formulierungen „Beziehung auf die andern Neutralitäten" und „die ihr andern Neutralitäten" verraten, daß spezifisch unterschiedene Salze doch vorausgesetzt werden müssen. Denn aus obiger Spezifikation der „Neutralität" (negative Einheit -i- quantitativ veränderliche Verwandtschaftsstärke) können nicht Singularitäten, d. h. einzelne zur ersten Wahlverwandtschaft andere „Neutralitäten", gefolgert werden. Also müssen den „Neutralitäten" positiv bestimmte Qualitäten zugrundeliegen, die besondere Maßverhältnisse aus dem Kontinuum herausgreifen imd andere ausschließen. Die „Gnmdbestimmung" der Wahlverwandtschaft war ein quantita-

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tives Maßverhältnis - vgl. 21. 352,3; IV. 440: der Unterschied der Wahlverwandtschaften „gründet sich [...] auf das Quantitative"; die negative, fürsichseiende und ausschUeßende Einheit zweier selbständiger Maße war aus den quantitativen Relationen dieser Maße entwickelt worden, und zwar sowohl die quantitative als auch die qualitative Seite dieser Einheit, d. i. der Wahlverwandtschaft (vgl. Seite 135 ff). Aus der „quantitativen Grundbestimmung" der Wahlverwandtschaft folgt jetzt ein Prozeß, das Kontinuieren einer Wahlverwandtschaft in andere Wahlverwandtschaften. Hatte zuvor die (qualitative) Wahlverwandtschaft sich als durch ein quantitatives Maßverhältnis spezifizierte „Verwandtschaft" erwiesen, so ist sie jetzt in den von ihr gesetzten Prozeß übergegangen, der als Durchlaufen quantitativer Maßverhältnisse (an einem Zugrundeliegenden, der „Neutralität" oder der „neutralen Beziehimg") gefaßt ist: Die Qualität (das ausschließende Verhalten der Wahlverwandtschaft) ist in ein quantitatives Maßverhältnis übergegangen (und in einem solchen untergegangen), das gegen quantitative Veränderung offen ist. Die Beziehung einer Wahlverwandtschaft zur (qualitativ) anderen erweist sich damit als Kontinuieren eines quantitativen Maßverhältnisses in ein anderes vmd, weil beide Wahlverwandtschaften ihrer „Grundbestimmung" nach Maßverhältnisse sind, als SichKontinuieren desselben. „Ausschließende Wahlverwandtschaft" hingegen bedeutet: Wahlverwandtschaft ist spezifisch als alle anderen ausschließende bestimmt (wenn ein Salz gebildet ist, kann die neutralisierte Säure nicht nochmals dxirch eine zweite Base neutralisiert werden, was eine andere Wahlverwandtschaft ergäbe). Die ausschließende Qualität der Wahlverwandtschaft ist so als Negation des Kontinuierens in andere Wahlverwandtschaften bestimmt. Und umgekehrt: Kontinuiert sich eine Wahlverwandtschaft (ein ausschließendes Maß) in eine andere, dann ist ihr qualitatives, ausschließendes Verhalten negiert, d. h. im Kontinuieren, dem aus der quantitativen „Grundesbstimmvmg" gefolgerten und in quantitativen Maßverhältnissen bestimmbaren Prozeß, aufgehoben. Bezogen auf den Prozeß der Wahlverwandtschaft, welcher sowohl realer chemischer Prozeß (Umgruppierung der Salze) als auch Prozeß der Spezifikation der Wahlverwandtschaft ist, stehen das Ausschließen aller anderen möglichen Wahlverwandtschaften und das Sich-Kontinuieren in alle anderen möglichen Wahlverwandtschaften („in die ihr andern Neutralitäten") im Gegensatz. Die durch das quantitative Maßverhältnis spezifizierte Verwandtschaft (die bisherige, sich widersprechende Bestimmung der Wahlverwandtschaft) ist in die negativ gegeneinander gesetzten Eigenschaften der

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Wahlverwandtschaft übergegangen, das Ausschließen und das SichKontinuieren, die beide aus deren „quantitativer Grundbestimmung" folgen und beide auf deren chemischen Prozeß bezogen sind. Hegels Argumentation impliziert, daß das Zugnmdeliegende für die Spezifikation durch Maßverhältnisse changiert. Wahrend die Wahlverwandtschaft durch ein Maßverhältnis spezifizierte „Verwandtschaft" war, findet das Kontinuieren, das Durchlaufen von Maßverhältnissen, an der „Neutralität" statt. Dies Changieren ist für Hegel kein Problem, da „Verwandtschaft" vermittels des chemischen Prozesses „Neutralität" setze. Hegel begründet den Übergang von der Wahlverwandtschaft zu ihrem Kontinuieren damit, daß aus der „quantitativen Grundbestimmung" der Wahlverwandtschaft als ein Maßverhältnis folge, daß dieses Maßverhältnis gegen quantitative Veränderung offen und so der quantitative Durchlauf unterschiedlicher Maßverhältnisse gesetzt sei, als welcher Durchlauf die Umsetzung zu anderen Wahlverwandtschaften zunächst bestimmend sei. Für das chemische Modell ist diese Hegelsche Begründimg nicht hinreichend, weil das Kontinuieren zusätzliche materielle Bestimmungen enthält: Kontinuieren bedeutet da nämlich Auflösen eines Salzes (Na2S04) in Wasser, dadurch Bildimg frei beweglicher Ionen, welche sich mit Anionen und Kationen aus anderen Salzen zu neuen Wahlverwandtschaften vereinigen (z. B. mit Clund Ca2+ zu NaCl und dem ausfallenden CaS04). Für dieses Kontinuieren ist experimentelle Arbeit konstitutiv. (Ein Dispositionsprädikat wie ,löslich in Wasser' kann ohne die Beziehung auf eine dvuch einen Zweck dirigierte Tätigkeit gar nicht bestimmt werden. Allein die Deskription dieser Tätigkeit reicht rdcht hin, wie der gescheiterte Versuch des Positivismus zeigt, solche Dispositionsprädikate ,subjektivitätsfrei' - so durch den Wenn-Dann-Satz ,wenn immer x ins Wasser gegeben wird, löst es sich darin auf - zu definieren. Dieser Werm-Dann-Satz ist nämlich auch für alle niemals ins Wasser gegebenen Substanzen wahr2.) Trermimg tmd Neuzusammensetzung sind durch von den Massenrelationen qualitativ imterschiedene Energiegrößen bestimmt, was nicht allem aus einer „quantitativen Grundbestimmung" (den stöchiometrischen Massenrelationen) gefolgert werden kann. Hegel lehnt es ab, von der Voraussetzimg auszugehen, spezifisch unterschiedene Substanzen, stöchiometrische Massenverhältnisse und quantifizierte Energiegrößen seien äXXo ykvoq. Er versucht vielmehr, eine solche voraus2 Vgl. W. Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie Band 1. Stuttgart 1976.462.

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gesetzte Differenz zu begründen - aus jener „quantitativen Grundbestimmung". Zwar konzediert Hegel, das Kontinuieren sei nicht bloß Durchlaufen quantitativer Maßverhältnisse, sondern auch In-Beziehung-Setzen von qualitativ unterschiedenen Wahlverwandtschaften nach spezifischen Regeln. Aber letztere sollen für Hegel aus dem Kontinuieren folgen, das (quantitative) Kontinuieren setze in der „Neutralität" ein qualitatives, das Kontinuieren erst ermöglichendes Moment („Trennbarkeit"). Doch aus dem Kontinuieren, auch wenn man darunter - über Hegel hinaus - chemische Tätigkeit verstünde, folgen nicht die Regeln; man findet sie vermittels des Kontinuierens der Wahlverwandtschaften ineinander. und diese Continuität ist nicht nur äusserliche Beziehung der verschiedenen Neutralitäts-Verhältrüße, als eine Vergleichung, sondern die Neutralität hat als solche eine Trennbarkeit in ihr, indem die, aus deren Emheit sie geworden ist, als selbstständige Etwas, jedes als gleichgültig, mit diesem oder mit andern der gegenüberstehenden Reihe, ob zwar in verschiedenen specifisch bestimmten Mengen sich zu verbinden, in Beziehung treten.

Das Kontinuieren der Wahlverwandtschaften ineinander ist nicht nur äußerliche Beziehung der jeweiligen stöchiometrischen Bildungsverhältnisse als eine Vergleichung von Quanta, die an der „Neutralität" sind, dieselbe aber unverändert lassen, sondern die „Neutralität" hat „als solche“ eine „Trennbarkeit" in ihr. Richtig wäre die Argumentation, würde auf Trennbarkeit als Bedingung der Möglichkeit des Kontinuierens geschlossen: Weil eine vorhandene ausschließende Wahlverwandtschaft in andere Wahlverwandtschaften lungewandelt werden kann, muß sie selbst Trermbarkeit enthalten - das Maßverhältrds muß getrennt werden können, und, dem zugrundeliegend, das Salz muß trennbare Ionen enthaltens. Hegel verwandelt ungerechtfertigterweise die notwendige Bedingung für das Kontinuieren in dessen zureichenden Gnmd. Damit kann er den (zulässigen) Rückgang auf die Bedingung der Möglichkeit des Kontinuierens für den Rückgang in den Grund des Kontinuierens ausgeben imd behaupten, aus dem Kontinuieren dessen Gnmd zu entwickeln (vgl. 21. 57,12 - 58,10; IV. 74 f): Das 3 Eine für Hegels Zeit anachronistische Formulierung, denn die lohenstruktur der Salze war damals noch nicht bekannt.

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Kontinuieren setze innerhalb der zunächst nicht weiter spezifizierten „Neutralität" - der „negativen Einheit der unterschiedenen Momente" - die Möglichkeit, diese negative Einheit in ihre Momente aufzutrennen, Ionen zu bilden. Damit seien „die, aus deren [negativer, U. R.] Einheit sie [die Neutralität, U. R.] geworden ist, als selbstständige Etwas, jedes als gleichgültig" innerhalb der „Neutralität" zurückgekehrt. Aus der bisherigen Bestimmimg des Maßes (die negative, fürsichseiende imd ausschließende Einheit einer Relation von Maßen, Wahlverwandtschaft) hat sich eine neue ergeben: das Kontinuieren der ausschließenden Wahlverwandtschaften ineinander. Das Kontinuieren soll aus der „quantitativen Grundbestimmung" der Wahlverwandtschaft als ein durch diese gesetzter Prozeß folgen. Hegel unterstellt, eine Wahlverwandtschaft kontinuiere sich in eine andere. Aber ein Salz zersetzt sich nicht von selbst in seine Momente (Ionen), die dann mit anderen „in Beziehung" treten (andere Wahlverwandtschaften bilden), sondern notwendig dafür ist eine vom Experimentator kontrollierte Operation (planmäßige, den Stoffen angemessene Versuchsanordnung, Lösen in Wasser imd Kristallisation, evtl. Zuführung von Energie bzw. Entzug von Wärme). Das Kontinuieren ist die Hegelsche Fassung von experimenteller Arbeit. Doch letztere ist spezifisch bestimmt und wäre auf ihre nicht in ihr selbst liegenden Bedingtmgen zu untersuchen. Bei Hegel verschwindet sie im aus der „quantitativen Grundbestimmimg" folgenden Kontinuieren. Das Kontinuieren ist der Prozeß, durch den Hegel aus der „negativen Einheit" die „unterschiedenen Momente", die in ihr negiert sind, quasi von rückwärts setzt und damit begründet. Richtig daran ist, daß „Trennbarkeit" in der „Neutralität" (Hegels Fassung der qualitativen Gnmdlage) vermittels des Kontinuierens herausgefxmden wird, falsch dagegen, diese Reflexion auf die Voraussetzung experimenteller Tätigkeit als Setzen der qualitativen Grundlage durch das Kontinuieren aufzufassen - ein Fehler, der durch das Verbergen der experimentellen Tätigkeit hinter der Formulierimg: ,die Wahlverwandtschaft kontinuiert sich' befördert wird. Aus dem Kontinuieren begründet Hegel im weiteren die Knotenlinie von Maßverhältnissen und über diese (den Umschlag von Quantität in Qualität) die spezifischen Qualitäten. Das Leugnen von vorausgesetzten Substanzen imd das Auflösen der spezifisch bestimmten experimentellen Arbeit in eine logische Bestimmung sind zwei Seiten desselben (idealistischen) Fehlers. Weiter unter wird gezeigt werden, daß die Knotenlinie spezifische Qualitäten nicht zu begründen vermag. Für Hegels Konstruktion erweist sich das als wesentlich (die spezifisch unterschiedenen Substanzen, die spezi-

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fisch bestimmte experimentelle Arbeit), was von ihm lediglich am Beispiel anerkannt wird. Hegel spricht vom Kontinuieren der ausschließenden Wahlverwandtschaft als einem spezifische Maßverhältnisse setzenden Prozeß. An dieser Stelle ist die von Hegel immer betonte Trennung von logischer Argumentation und chemischem Beispiel vollständig eingezogen. Denn offensichtlich ist hier der chemische Prozeß Gegenstand, genauer: der „vollständig reale chemische Proceß [...]. Es tritt hier die Particularisation der allgemeinen Neutralität, imd damit ebenso die Besonderung der Differenzen der chemisch-begeisterten Körper gegeneinander ein" (IX. 431 f). Der Prozeß ist einer innerhalb der „Neutralität" (gruppieren Wahlverwandtschaften - „Neutralitäten" - sich um, erleiden sie „keine Veränderung in Ansehung des Zustandes der Sättigung" (IX. 432)) und ist ein spezifizierender (es werden „besondere Neutralitäten durch Trennimg vorhandener" (a. a. O.) gebildet). In der Wissenschaft der Logik sollen die ausgeführten Bestimmtmgen im bloßen „Kontinuieren" enthalten sein, das seinerseits aus der „quantitativen Gnmdbestimmimg" des ausschließenden Maßes folge. Bisher war „Neutralität" durch den Prozeß ihrer Bildimg und so als die zimächst nicht weiter qualifizierte „negative Einheit" bestimmt, in der sowohl die Spezifität der sie bildenden besonderen Säuren und Basen als auch Säure- bzw. Baseneigenschaft schlechthin negiert waren. Jetzt erweist ein von den „Neutralitäten" gesetzter Prozeß, nämlich das spezifische Maßverhältnisse hervorbringende Kontinuieren, daß „Neutralität" „Trermbarkeit" enthalte; die in der „negativen Einheit" aufgehobenen „Momente" seien als „selbstständige Etwas, jedes als gleichgültig" zurückgekehrt. In die zu kommentierende Stelle geht konstitutiv der „Chemismus" aus der Subjektiven Logik ein: Die Selbständigkeit der chemischen Objekte Säure und Base liegt in der Einseitigkeit ihres „unmittelbaren Gesetztseyns" (12. 149,17; V. 202), dem ihr Begriff, die „innere Totalität beyder Bestimmtheiten" (12. 148, 17; V. 201), widerspricht. Beide Objekte sind nicht „gleichgültig", sondern durch ihre „Natur selbst gespannt" (12.149, 21; V. 202) gegeneinander imd setzen so den Prozeß (Neutralisation). Durch dieses „negative Verhalten" gegen die „vorherige selbstständige Bestimmtheit" (12.150,12,14; V. 203) werden die einseitige Existenz der Objekte und deren reale Unterschiede „in der dem Begriffe, der in beyden ein imd derselbe ist, gemäßen Vereinigimg aufgehoben, ihr Gegensatz und Spannung hiedurch abgestumpft [...]. Das Product istein neutrales, d. h. ein solches, in welchem die Ingredientien, die nicht mehr Objecte genaimt werden

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können, ihre Spannung und danüt die Eigenschaften nicht mehr haben, die ihnen als gespannten zukamen, worin sich aber die Fähigkeit ihrer vorherigen Selbstständigkeit und Spannung erhalten hat" (12.150,15 - 25; V. 203 f). Säurerest imd Basenrest haben nicht mehr die gegeneinander gespannte Existenz von Säure und Base, sondern sind „gleichgültig" - neutrale, der Möglichkeit/Fähigkeit nach selbständige Etwas, die zu anderen solchen „in Beziehung treten" und dadurch dann selbständige chenrüsche Stoffe als Voraussetzung für den Chemismus bilden. Während der die Verwandtschaft begründende Begriff gegenüber der einseitigen Existenz als entgegengesetzte Säure imd Base zunächst abstrakt bleibt, ist die durch den Neutralisationsprozeß hervorgebrachte „Neutralität" realisierte negative Einheit, „mm in sich selbst concret" (12.151,3; V. 204) und Grundlage für einen (neuen) spezifizierenden Prozeß, in dem sie „dirimirt" (12.151,5; V. 204) wird. (Objektive Logik: „[...] die Neutralität hat als solche eine Trennbarkeit in ihr"). „Diese Diremtion kann zunächst für die Herstellung des Gegensatzes der gespannten Objecte angesehen werden, mit welchem der Chemismus begonnen. Aber [so ist es nicht, U. R.] [...] die Diremtion, welche die reale Neutralität der Mitte [...] erfährt, ist, daß sie nicht in gegeneinander differente, sondern indifferente Momente zerlegt wird" (12.151,6 -17; V. 204 f). Hegel bestimmt sowohl die Säure HCl als auch den Säurerest Ch durch deren chemische Prozesse, HCl durch den Neutralisationsprozeß mit Basen, CI- durch das Kontinuieren der Wahlverwandtschaften ineinander. Analog wie „Neutralität" durch den Neutralisationsprozeß, der seine Voraussetzimg, die Verwandtschaft der einander entgegengesetzten Säure und Base, verwirkliche und bestimmte, gesetzt werde, so werde „Trennbarkeit" (für Hegel gleichbedeutend mit: trennbare, qualitativ unterschiedene Etwas) durch das Kontinuieren, das aus der „quantiativen Grundbestimmung" der Wahlverwandtschaft stamme, gesetzt. Für Hegel gilt sowohl: ohne „Trennbarkeit" kein Kontinuieren (der Schluß auf „Trennbarkeit" als Bedingung der Möglichkeit des Kontinuierens ist zulässig) als auch zugleich: ohne Kontinuieren keine „Trennbarkeit" (was lediglich für den Weg des Erkennens richtig ist: Durch das Kontinuieren, welches durch experimentelle latigkeit in Gang gesetzt wird, findet man, daß der Wahlverwandtschaft „Trennbarkeit" zukommt, d. h. daß das Salz aus Ionen aufgebaut ist. Sachlich ist jener Satz aber falsch, denn auch unabhängig von dem Prozeß, xmabhängig davon, ob das Salz sich in andere Wahlverwandtschaften kontinuiert, besteht es aus Ionen). Somit sei die Voraussetzung („Trennbar-

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keit") des Kontinuierens durch dieses selbst gesetzt. (Vgl. die Subjektive Logik: Der Chemismus geht zimächst von „einer vorausgesetzten Differenz" (12.150,25; V. 204), nämlich den einander entgegengesetzten Säure und Base, aus. Aus dem Neutralisationsprozei? resultieren „Neutralitäten", die Ausgangsstoffe für den „realen Proceß" sind, der „die ursprüngliche Grundlage derjenigen Voraussetzung [setzt, U. R.], mit welcher der Chemismus begann" (12.151,29 f; V. 205).) Deshalb betont Hegel, „Trennbarkeit" sei nichts der negativen Einheit Äußerliches (wie das Vergleichen stöchiometrischer Verhältnisse) oder Vorausgesetztes. Sie sei eine von dem Prozeß des Kontinuierens nicht abzulösende Bestimmimg (richtig nur, wenn man unter „Trennbarkeit" die Möglichkeit zur Auftrermung in qualitativ unterschiedene Momente verstünde, Hegel jedoch ninunt die Substantivierung eines Adjektivs (trennbar) für diese Momente selbst). Durch das aus der „quantitativen Gnmdbestimmung" der Wahlverwandtschaft stammende Kontinuieren seien die Momente, die in der „negativen Einheit" („Neutralität") aufgehoben waren, neu gesetzt (die Bewegimg, die in ihren Gnmd zurückgeht, setzt diesen zugleich als Resultat - vgl. 21. 57 f; IV. 75), rmd zwar mit zwei zusätzlichen Bestimmungen - „selbstständige Etwas, jedes als gleichgültig". Säurerest (C1-) imd Säure (HCl) sind in der Tat verschieden, der (in einem Salz vorhandene) Säurerest ist Resultat eines vollzogenen Neutralisationsprozesses der Säure. Aber es ist derselbe Säurerest, der in der Säure deren Spezifität bestimmt und der im Salz enthalten ist (nach Hegel sollen in der „negativen Einheit" - „Neutralität" - die spezifischen Qualitäten der sie bildenden Selbständigen aufgehoben sein) imd der in wäßriger Lösung mit einem weiteren Kation zu einer zweiten Wahlverwandtschaft sich vereinigt, was durch Nachweisreaktion mit Ag+ gezeigt werden kann (nach Hegel sollen durch das Kontinuieren der Wahlverwandtschaften ineinander die in der negativen Einheit aufgehobenen Selbständigen neu - „als gleichgültig" - gesetzt sein). Daß im Neutralisationsprozeß „Neutralität" als Zugrundeliegendes für weitere Spezifikation gesetzt werde, ist bestritten worden (vgl. Seite 191 f). „Neutralität" ist vorauszusetzender Begriff für den Neutralisationsprozeß. Bezogen auf einen solchen Begriff körmen Säuren verglichen werden, und man erhält die zu jeweils derselben Menge Base äquivalenten, neutralisierenden Quanta. Aber die Gleichgültigkeit dieser Quanta gegeneinander - es ist für die Neutralisation gleichgültig, von welcher Säure „das neutralisirende Quantum" (21; 354, 2; FV. 442) kommt - begründet nicht ein Zugrundeliegendes, „Neutralität", worin

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die substantielle Differenz der Salze gelöscht, in eine Maßbestimmtheit an dieser „Neutralität" überführt und qua Umschlagen aus quantitativem Durchlauf in qualitative Verschiedenheit der Salze hergeleitet und erklärt ist. Was durch den Neutralisationsprozeß „gesetzt" wird, ist lediglich die Vereinigimg von H+ und OH- zu H2O. Doch die spezifische Qualität eines Salzes gründet in vorauszusetzenden Substanzen imd läßt sich nicht hinreichend durch „Neutralität" plus stöchiometrisches Verhältnis von Säure und Base bei der Salzbildung bestimmen, als eine „Neutralität" imter anderen „Neutralitäten". Daß im Prozeß des Kontinuierens „Trennbarkeit" (und mit ihr die in der negativen Einheit „Neutralität" aufgehobenen unterschiedenen Momente) gesetzt werde, kann analog kritisiert werden: Für Hegel verwirklicht und bestimmt der Prozeß (das Kontinuieren) seine Voraussetzung („Trermbarkeit"). Aber „Trennbarkeit" (= die Möglichkeit, andere Wahlverwandtschaften zu bilden) ist lediglich vorauszusetzender Begriff für das Kontinuieren und wird durch experimentelle Tätigkeit aufgefunden. „Trennbarkeit" (eine Bestimmung, die für alle Salze zutrifft imd diese rächt hinreichend charakterisiert) ist durch den Prozeß des Kontinuierens rächt gesetzt, sondern hat ihrerseits zur Voraussetzrmg, daß „Neutralität" positiv bestimmte Qualitäten enthält, nämlich spezifisch unterschiedene Ionen (Säure- und Basenrest), die in der Wahlverwandtschaft schon vorhanden sind und die darüber hinaus als Substanzen rmterschieden werden müssen von energetischen Größen wie der Fähigkeit, Prozesse in Gang zu setzen (vgl. Seite 172 f). In Hegels „Trennbarkeit" ist eine solche energetische Größe mit einer Bestimmung der Substanz verschmolzen^, analog wie schon bei der Wahlverwandtschaft, die sowohl Affinität/ Verwandtschaft als auch eine besondere Substanz darstellt (imd gleichfalls analog wie bei „Neutralität", die Zugrundeliegendes und zugleich Relation - „neutrale Beziehimg" - ist, vgl. Seite 191). Die Verschmelzung bewerkstelligt Hegel mit dem Terminus ,negative Einheit einer Relation': Für den Prozeß des Kontinuierens ist die Wahlverwandtschaft vorausgesetzt, in der eine Substanzbestimmimg und eine energetische Größe zusammengezogen und als Maßverhältrüs gefaßt sind. Diese so bestimmte Qualität eines chemischen Objekts setzt den Prozeß. Dieser Prozeß verwirklicht die ihm vorausgesetzte Qualität, die dann als „Trermbarkeit" aus diesem Prozeß, genauer: aus dem diesen Prozeß formulierenden Kontinuieren der Maßverhälträsse, begründet und be4 Darin folgt Hegel den damaligen Chemikern, die energetische Größen wie die Affinität aus stöchiometrischen Massenrelationen zu begründen versuchten.

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stimmt wird. Terminus ad quem ist die Ersetzimg ontologisch vorausgesetzter Substanzen durch Maßbestimmungen. Sie gelänge, wären die dem Prozeß vorausgesetzten Substanzen vollständig in aus dem Prozeß imd dessen Maß-Relationen deduzierbare Bestimmungen aufzulösen was Hegel anhand der chemischen Qualitäten Äquivalentgewicht, Verwandtschaft, Wahlverwcmdtschaft zu demonstrieren versucht. Hegels Argumentation verläuft zweigleisig: Einmal geht er auf die Bedingimg der Möglichkeit des Prozesses zurück; und insoweit aus dem Prozeß des Kontinuierens auf seine qualitative Grundlage, nämlich das Verhältnis der trennbaren Etwas als Verhältnis vorauszusetzender Substar\zen und auf deren Unterschied zu den Energiegrößen geschlossen wird, ist die Argumentation richtig. Aber dieser Rückgang in den Grund ist, weil Hegel notwendige Bedingimg und zureichenden Grund vermengt, immer verschränkt damit - und dies ist das andere Gleis -, daß die Qualität, das Verhältnis der selbständigen Etwas in der Wahlverwandtschaft, durch den Prozeß begründet und als spezifisches Maßverhältnis aus dem quantitativen Durchlauf von Maßverhältnissen bestimmt wird. Dies ist falsch, denn das Salz besteht aus in den Umgruppierungsprozessen sich diurchhaltenden und in spezifischer Verschiedenheit vorhandenen Ionen, deren substantielle Bestimmungen nicht vollständig in den Bestimmimgen der Reaktionen (Kontinuieren) des Salzes aufgehen. Vom Kontinuieren (imd den diesen Prozeß bestimmenden Energiegrößen) ist dessen Voraussetzimg im chemischen Objekt ontologisch unterschieden. Der für Hegels Programm notwendige Fehler besteht - zusammengefaßt - darin, die ontologisch vorausgesetzten Substanzen in deren negativer Einheit, der „Neutralität", aufzuheben, dann aus dieser das Kontinuieren der Wahlverwandtschaften ineinander zu setzen imd dann durch diesen Prozeß „Trennbarkeit" und vermittels dieser unterschiedene Qualitäten innerhalb der negativen Einheit zu begründen. (Deswegen polemisiert Hegel gegen vorausgesetzte Elemente und gegen die unveränderlichen Atome Daltons. Die Annahme, in der Säure HCl, im neutralen Salz NaCl und in der weiteren Wahlverwandtschaft AgCl existiere dasselbe CI-, bedeute den Rückfall in eine „Metaphysik, welche in der Chemie wie in der Physik herrschend ist, nämlich den Gedanken oder vielmehr wüsten Vorstellungen von Unveränderlichkeit der Stoffe unter allen Umständen, wie den Kategorien von der Zusammensetzung und dem Bestehen der Körper aus solchen Stoffen" (IX. 437 f).) Aber „Neutralität" ist iiicht bloß negative Einheit, „Neutralitäten" sind selbst unterschiedene Substanzen,

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für die die besonderen Qualitäten der die „Neutralitäten" bildenden Momente (die spezifischen Säuren xmd Basen) vorausgesetzt sind (ein Salz enthält jeweils einen besonderen Säure- und Basenrest und ist dadurch qualitativ bestimmt). Infolgedessen setzt nicht das Kontinuieren durch das Verhältnis trennbarer Etwas spezifisch bestimmte Wahlverwandtschaften aus der lediglich als negative Einheit bestimmten „Neutralität", vielmehr beziehen sich die Maßbestimmungen (hier; das quantitative Kontinuieren, das spezifische Maßverhältnisse setzt - angelegt ist darin der Umschlag von Quantität in Qualität auf der Knotenlinie von Maßverhältnissen) auf eine empirische Realität (spezifisch unterschiedene Kationen und Anionen, die sich zu qualitativ unterschiedenen Salzen umgruppieren), die selbst nicht in den Maßbestimmimgen aufgeht. Diese passen auf ein nicht aus ihnen deduzierbares Substrat. Weil demzufolge das Maß qualitative Momente enthält, ist die Reflexion auf die qualitativen Voraussetzimgen möglich, die diesem Maß zugrunde liegen. Hegel leugnet nicht, daß das Maß qualitative Momente enthält oder diese voraussetzt. Aber er behauptet, sie seien vollständig durch ein System von Maßverhältnissen bestimmbar und ließen sich deshalb aus diesem deduzieren: Hegel setzt aus dem Maß dessen qualitative Momente. Die Bestimmung der Wahlverwandtschaft als durch ein Maßverhältnis spezifizierte Verwandtschaft erwies sich als widersprechend (vgl. Seite 183). Die Lösung des Widerspruchs wird möglich, wenn Wahlverwandtschaften ihrerseits ins Verhältnis gesetzt werden. Dainit werden zwei die Prozesse der Wahlverwandtschaften untereinander dirigierende Eigenschaften der Wahlverwandtschaft bestimmbar, das ausschließende Verhalten und das Kontinuieren. Beide folgen aus der „quantitativen Gnmdbestimmung" der Wahlverwandtschaft imd sind einander entgegengesetzt: Werm eine Wahlverwandtschaft sich in eine andere kontinuiert, ist das (qualitative) Ausschließen in das (quantitative) Kontinuieren übergegangen und in diesem aufgehoben. Am chemischen Modell erkennt Hegels, daß das Kontinuieren nicht möglich ist ohne „Trermbarkeit" und damit seine qualitativen Voraussetzimgen, von denen es ausgeht: „selbstständige Etwas, jedes als gleichgültig". Das qualitative, ausschließende Verhalten ist in das Kontinuieren über5 Der Übergang zur Knotenlinie von Maßverhältnissen ist von Hegel für die Ausgabe letzter Hand völlig umgearbeitet worden. Gegenüber der früheren Fassung von 1812 ist die spätere ,chetniöCher', der Schlüsselbegriff „Trennbarkeit" taucht in der früheren gar nicht auf.

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gegangen, einen als bloß quantitativen Wechsel von Maßverhältnissen bestimmten Prozeß; das Kontinuieren seinerseits setzt in dem Kontinuum der nicht weiter spezifizierten „Neutralität" ein Qualitatives, „Trennbarkeit" (für Hegel gleichbedeutend mit: trermbare, qualitativ unterschiedene Etwas). Damit erscheinen die Qualitäten als aus dem Prozeß des Kontinuierens, dem sie zimächst vorausgesetzt und in dessen Maßbestimmungen sie vollständig ausgedrückt waren, zurückgekehrt und begründet; sie erscheinen als aus dem Prozeß quantitativen Durchlaufens von Maßverhältnissen gesetzte Qualitäten, ln diesen Bestimmungen ist schon der weiter unten explizierte Umschlag von Quantität in Qualität tmd umgekehrt enthalten. - Das dem Ausschließen entgegengesetzte Kontinuieren erweist sich selbst als gedoppelt, nämlich als zwei entgegengesetzte Bewegungen enthaltend: erstens die äußerliche Vergleichtmg der „Neutralitäts-Verhältniße" (ein quantitatives Durchlaufen) xmd zweitens das In-Beziehung-Treten der selbständigen Etwas innerhalb von „Neutralität" (die Wahlverwandtschaften trennen sich in selbständige Etwas, die untereinander zu neuen, qualitativ unterschiedenen Wahlverwandtschaften zusammentreten). Diese zweite Bewegimg, welche aus einem quantitativen Kontinuum (dem Durchlaufen von Maßverhältnissen) ein Qualitatives setzt (oder in ein Qualitatives umschlägt), ist wesentlich durch die chemische Stimme bzw. durch eine Konstellation chemischer imd logischer Begriffe geprägt, wobei Quantität, Kontinuieren, Neutralität, Gleichgültigkeit auf die eine Seite, Qualität, Ausschließen, Wahlverwandtschaft, selbständiges Etwas auf die andere, entgegengesetzte Seite gehören, limerhalb von gleichgültiger „Neutralität" findet das aus der quantitativen Grundbestimmimg stammende Kontinuieren statt. Es setzt in dem Kontinuum „Trermbarkeit" imd vermittels dieser trermbare, qualitativ imterschiedene Etwas, die als „selbstständige Etwas" zurückgekehrt sind, jetzt gleichgültig = neutral im Gegensatz zu ihrer einseitigen, gegeneinander gespannten Existenz vor der Neutralisation. Als gleichgültige treten sie in Beziehimg - das Kontinuieren verbleibt im Zustand von „Neutralität". Als das qualitative Moment im Kontinuum der Zahlvenverhältnisse figurieren die „specifisch bestimmten Mengen", durch „ob zwar" dem gleichgültigen In-Beziehung-Treten der selbständigen Etwas entgegengesetzt. Für Hegel ist dieses qualitative Moment durch das Kontinuieren im Kontinuum gesetzt. Aber die „specifisch bestimmten Mengen" sind lediglich der in Maßverhältnissen gefaßte Ausdruck eines zugrundeliegenden chemischen Prozesses, des Austausches der Ionen in den Wahlverwandtschaften. Das Kontinuieren war daraus her-

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geleitet worden, daß das (qualitative) ausschließende Maß (die Wahlverwandtschaft) quantitatives, der quantitativen Verändening offenes Maßverhältnis war. ln diese (hergeleitete) logische Bestimmung des Kontinuierens wurde von Hegel die chemische Stimme - das chemische Kontinuieren der Wahlverwandtschaften, nämlich „Trennbarkeit" in der „Neutralität", In-Beziehimg-Treten der „selbständigen Etwas" hineinkomponiert. Weil der chemische Prozeß nicht hinreichend durch jenes hergeleitete Kontinuieren bestimmt werden kann, ist er zitiert und wesentlich für die Argumentation, die ohne ihn nicht weiterginge. Für den chemischen Prozeß müssen qualitativ imterschiedene Substanzen innerhalb von „Neutralität" vorausgesetzt werden. Hegel übernimmt dieses qualitative Moment aus dem chemischen Kontinuieren, karm aber innerhalb der Lehre vom Seyn den chemischen Prozeß lediglich als Beispiel zulassen. Es resultiert die logische Konstruktion: Das Kontinuieren setze die Qualität oder schlage in sie um - ein zugleich logischer xmd chemischer Fehler. Dadurch ist diß Maaß, das auf einem solchen Verhältnisse in ihm selbst beruht, mit eigner Gleichgültigkeit behaftet;

„Diß Maaß" - die ausschließende Wahlverwandtschaft - „beruht" auf „Trennbarkeit" in ihm und damit auf dem Verhältnis der trennbaren „selbstständigen Etwas", welches ein Verhältnis in dem Maß selbst ist. (Chemisch gesprochen: Das Salz „beruht" auf dem Verhältnis der Ionen, welches im festen Zustand als Kristallgitter figuriert.) Für Hegel setzt das Kontinuieren der Wahlverwandtschaft das Verhältnis der trennbaren, selbständigen Etwas als ein der Wahlverwandtschaft immanentes Verhältnis; also ist das, worauf die Wahlverwandtschaft „beruht", durch den aus ihr entwickelten Prozeß (das Kontinuieren) begründet. (Chemisch gesprochen: Jede Wahlverwandtschaft ist Resultat der Reaktion, die zu ihr führt, nämlich des Kontinuierens von Wahlverwcmdtschaften ineinander.) Für Hegel ist das Verhältnis der trennbaren „selbstständigen Etwas" rücht eines von vorauszusetzenden Substanzen, sondern diese Etwas sind erst in ihren Reaktionen, d. i. in dem In-Beziehimg-Treten innerhalb der negativen Einheit „Neutralität", verwirklicht imd bestimmbar. (Das Kontinuieren setzte „Trermbarkeit"; „Trennbarkeit" war die Fähigkeit, alle möglichen stöchiometrischen Verhältnisse zu anderen (Kationen und Anionen weiterer Wahlverwandtschaften) zu durchlaufen imd so qualitativ verschiedene Wahlverwandtschaften zu bilden; erst durch solche „Trennbarkeit" waren die „selbstständigen Etwas" (lo-

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nen) vollständig begründet.) Hegel löst das qualitative Moment - die erschlossenen trennbaren Etwas als Gnmdlage der Wahlverwandtschaft auf in den Prozeß (das In-Beziehung-Treten), der durch die Maßverhältnisse der selbständigen Etwas (in ihren Reaktionen untereinander) vollständig charakterisiert werden könne. Das aus dem ausschließenden Maß entwickelte Kontinuieren setzt in diesem Maß die qualitative Grtmdlage, worauf es „beruht", als Verhältnis von Relata, die ihrerseits durch ein System von Relationen konstituiert sind, welches das In-Beziehung-Treten zu allen möglichen anderen („der gegenüberstehenden Reihe") ausdrückt. Das Verhältnis der beiden in der Wahlverwandtschaft enthaltenen selbständigen Etwas, ein Verhältnis in dem Maß selbst (in der Wahlverwandtschaft, die eine Neutralität ist), ist bestimmt durch den Prozeß des In-Beziehung-Tretens, durch Verhältnisse innerhalb des neutralen Zustandes, innerhalb von Neutralität schlechthin. Der Doppelsinn der Formulierung, in der „Neutralität" (= negativer Einheit) werde ein „Verhältnißmaaß" gesetzt, worauf sie beruhe, wird dadurch ermöglicht, daß Hegel vmter „Neutralität" sowohl eine Neutralität (= neutrale Verbindung) als auch Neutralität schlechthin {- neutralen Zustand) versteht. Das Kontinuieren findet in der „Neutralität" (dem neutralen Zustand) statt, welche durch unterschiedliche Maßverhältnisse, die das Kontinuieren setzt, zu qualitativ vmterschiedenen „Neutralitäten" (Wahlverwandtschaften) spezifiziert wird, welche durch das ihr immanente Verhältnis der trennbaren Etwas konkreter bestimmt sind. „Der Proceß ist überhaupt dieser, daß Eine Neutralität aufgehoben, aber wieder eine andere Neutralität hervorgebracht wird. Die Neutralität ist also hier im Kampfe mit sich selbst begriffen, indem die Neutralität, welche das Product ist, durch die Negation der Neutralität vermittelt wird" (IX. 433, vgl. auch Seite 139 ff). In dieser Passage aus der Naturphilosophie, in der das Beispiel aus der Lßgik ausgeführt wird, gibt es sowohl eine und eine andere „Neutralität" als auch die „Neutralität", welche im Kampfe mit sich selbst rmterschiedene „Neutralitäten" hervorbringt. Für Hegel sind die einzelnen Salze („Neutralitäten") nicht substantiell verschieden, sondern durch Maßverhältnisse spezifizierte „Neutralität". Die quantitative Relation, die beim Wechsel der Wahlverwandtschaften die Umsetzimgen zwischen den verschiedenen Anionen und Kationen charakterisiert, ist Verhältnis in dem Maße selbst - es verbleibt innerhalb der nur durch eine quantitatives Verhältnis spezifizierten negativen Einheit „Neutralität". Daß das ausschließende Maß (die qualitative Wahlverwandtschaft) auf einem (quantitativen) Verhältnis in ihm selbst beruhe, bedeutet dann, daß das stöchiometrische Verhältnis bei der Bildung an-

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derer Wahlverwandtschaften (genauer: das System aller dieser möglichen Verhältnisse) die Ausgangs-Wahlverwandtschaft als imterschiedene, nämlich als spezifisch bestimmtes, immanentes Verhältnis von trermbaren Etwas, innerhalb der negativen Einheit/„Neutralität" setzt; eine Wahlverwandtschaft (ein Salz) wäre so duch die Möglichkeit zu quantitativen Relationen mit anderen Anionen und Kationen hinreichend bestimmt. Das ausschließende Maß in seiner „quantitativen Grundbestimmung" setzte das Kontinuieren. Es erweist sich jetzt, daß das ausschließende Maß auf dem Kontinuieren der ausschließenden Wahlverwandtschaften beruht. In der ersten - vom durch die Wahlverwandtschaft gesetzten Prozeß absehenden - Bestimmung (die Wahlverwandtschaft in ihrer „quantitativen Grundbestimmimg") war das quantitative Maßverhältnis, weil quantitatives Verhältnis, der nicht-quantitativen negativen Einheit von Säure und Base {- „Neutralität") äußerlich. Jetzt ist dieses Verhältnis durch den aus der quantitativen Grundbestimmung stammenden Prozeß des Kontinuierens innerhalb der negativen Einheit/ „Neutralität" gesetzt; das ausschließende Maß - eine Neutralität beruht auf diesem Verhältnis, das ihm nicht mehr äußerlich sein kann. Weil quantitative Verhältnisse äußerlich/gleichgültig gegen die negative Einheit/„Neutralität" sind (sie können durchlaufen werden gleichgültig gegen die dabei sich nicht verändernde negative Einheit), ist dem so bestimmten ausschließenden Maß jetzt „Gleichgültigkeit" eigen. Die der „Neutralität als negativer Einheit der unterschiedenen Momente" vorausgesetzten chemischen Objekte waren gesparmt gegeneinander. Die jetzt zurückgekehrten „selbstständigen Etwas" - gesetzt als trennbare imd qualitativ spezifizierte durch den Prozeß des Kontinuierens - sind gleichgültig dagegen, mit welchem anderen (Ion) „der gegenüberstehenden Reihe" sie „in Beziehtmg treten". Eür die einzelne Säure, die mit einer Base aus der gegenüberstehenden Reihe eine Wahlverwandtschaft bildet, ist Gleichgültigkeit (welche Wahlverwandtschaft aus der Vielzahl der Möglichkeiten, die nur auf unterschiedlichen quantitativen Verhältnissen gründeten, gebildet wird) eine Bestimmung der äußeren Reflexion. Den selbständigen Etwas dagegen, gesetzt durch das Kontinuieren in der negativen Eirdieit/„Neutralität", kommt „Gleichgültigkeit" als immanente, gesetzte Qualität zu. - Die Argumentation („[...] ist [...] mit eigner Gleichgültigkeit behaftet") soll die Begründung dafür liefern, daß ein Säureanion im Vergleich mit der Säure ein „gleichgültiges" Etwas ist und daß im Vergleich mit den heftigen Neutralisationsreaktionen die Salzreaktionen mit „Gleichgültigkeit behaftet" sind.

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es ist ein an ihm selbst äußerliches und in seiner Beziehimg auf sich ein veränderliches.

Das Kontinuieren hat sich als gedoppelte Bewegung herausgestellt: einmal als gegenüber der „Neutralität" äußerliche Bewegung - als „äusserliche Beziehung der verschiedenen Neutralitäts-Verhältniße, als eine Vergleichung", quantitative Maßverhältnisse beschreiben das Übergehen der Wahlverwandtschaften ineinander und sind, weil Quantität eine äußerliche Bestimmung ist, äußerlich gegenüber der negativen Einheit/„Neutralität", also Durchlaufen quantitativer Maßverhältnisse an der „Neutralität" - und zum anderen und zugleich als InBeziehung-Treten jener trermbaren Etwas innerhalb von „Neutralität" das Maßverhältnis ist in der negativen Einheit/„Neutralität" gesetzt und ist deren durch den Prozeß begründete qualitative Gnmdlage. (Für das chemische Modell formuliert: Eine „Neutralität" kontinuiert sich in Andere und setzt damit ihr äußerliche andere Maßverhältnisse, diese sind aber Verhältnisse innerhalb von „Neutralität" und bestimmen das Qualitative, worauf eine „Neutralität" (= Wahlverwandtschaft) beruht, nämlich das ihr immanente Verhältnis der gleichgültigen Etwas.) Aus dem Widerspruch - das neue „Verhältnißmaaß", das das Verhältnis der selbständigen Etwas und damit die aus dem Kontinuieren zurückgekehrte und bestimmte Qualität der Wahlverwandtschaft ausdrückt, ist der Neutralität äußerlich und zugleich nicht äußerlich, w 1 in ihr gesetzt - könnte geschlossen werden, „Neutralität" = „neg ve Einheit der tmterschiedenen Momente" sei eine sachlich unzutrefft de Bestimmimg und unter „Neutralität" verbärgen sich objektiv unterschiedene, vorauszusetzende Substanzen. (20 Jahre nach Hegels Tod war für Chemiker offensichtlich, daß von einem spezifischen Salz - und nicht von „Neutralität" oder „Neutralitäten" - auszugehen ist, das in wäßriger Lösung frei bewegliche Ionen bildet, die dem Salz nicht äußerlich, sondern in ihm schon vorhanden sind, und die sich zu anderen Wahlverwandtschaften umgruppieren.) Hegel hingegen nimmt den formulierten Widerspruch als Begründung und hinreichende Bestimmung der Qualität der Wahlverwandtschaft: „Es [ein ausschließendes Maß = eine Wahlverwandtschaft, U. R.] ist ein an ihm selbst äußerliches". Die einem ausschließenden Maß äußerlichen, quantitativen Maßverhältnisse, die es selbst im Kontinuieren setzt, sind in ihm. Dieses ausschließende Maß (- eine Wahlverwandtschaft) „beruht" auf einem solchen ihm äußerlichen, weil quantitativen Verhältnis, das zugleich „in ihm selbst" ist, weil es sich als seine durch den Prozeß begründete, qualitative

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Grundlage herausstellt. Also ist das ausschließende Maß dieses Verhältnis in ihm selbst, welches sich als Verhältnis der gleichgültigen, selbständigen Etwas erweist. Das ausschließende Maß setzt durch sein Kontinuieren „Trennbarkeit" und darüber das Verhältnis der gleichgültigen, selbständigen Etwas - ein „Verhältnißmaaß", welches seinerseits durch das System von Relationen (aller Kontinuierungsreaktionen) bestimmt ist und auf welchem - als qualitativer Grundlage - jenes erste ausschließende Maß beruht. Im Kontinuieren bezieht sich das ausschließende Maß auf sich selbst - es bezieht sich auf das ihm immanente „Verhältnißmaaß", auf seine qualitative Grundlage. Das Kontinuieren ist „seine" (durch das ausschließende Maß gesetzte) Beziehung auf sich, und in dieser Beziehung (im Kontinuieren) ist das ausschließende Maß „ein veränderliches" - es durchläuft quantitativ unterschiedliche Maßverhältnisse (stöchiometrische Relationen) und verändert sich in aridere Wahlverwandtschaften. Einerseits war das Kontinuieren die Beziehung von einander äußerlichen Wahlverwandtschaften („äusserliche Beziehung der verschiedenen Neutralitäts-Verhältniße, als eine Vergleichung"). Und die sie bestimmenden Maßverhältnisse waren der negativen Einheit/ „Neutralität" äußerlich. Dies ist in der anderen Seite des Kontinuierens, dem In-Beziehung-Treten jener trennbaren Etwas, negiert. Dort sind die quantitativen Maßverhältnisse in der negativen Einheit/„Neutralität", und die Wahlverwandtschaften sind nicht mehr einander äußerlich als die eine und die andere, sondern für jede ist die Bestimmung „Fürsichse5m" (vgl. Seite 221) zurückgekehrt, jede ist als „Verhältnißmaaß" Beziehung auf sich und durch diese Beziehung auf sich mit den anderen verknüpft. (Angedeutet ist darin der weiter unten behandelte Übergang zum Sich-von-sich-Abstoßen, welches Maßverhältnisse „an einem imd demselben Substrate" (der „Neutralität") produziert, der dann expliziten Formulierung der Knotenlinie.) Diese Beziehung des Verhältnißmaaßes auf sich ist verschieden von seiner Aeusserlichkeit und Veränderlichkeit, als seiner quantitativen Seite, es ist als Beziehung auf sich gegen diese, eine seyende, qualitative Grundlage;

Das Kontinuieren des ausschließenden Maßes (der Wahlverwandtschaft) ergab die Bestimmung von dessen Grundlage: das Verhältnis der gleichgültigen Etwas, die ihrerseits durch das System von Maßverhältnissen aller Kontinuierungsreaktionen bestimmt sind - das aus-

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schließende Maß ist wesentlich dieses „Verhältnißmaaß". Dies Verhältnis der beiden gleichgültigen (durch das Kontinuieren innerhalb von „Neutralität" gesetzten) Etwas ist nicht eines von einander äußerlichen Etwas, die der Möglichkeit nach mit allen anderen „der gegenüberstehenden Reihe [...] in Beziehung treten"; - dies wäre die einfache Negation: Das eine Etwas (Anion) ist nicht das andere (Kation), beide sind gleichgültig gegeneinander als innerhalb von „Neutralität" Gesetzte und der Möglichkeit nach mit anderen Reagierende. (So liegen sie in wäßriger, „neutraler" Lösung vor.) - Sondern in der einen Wahlverwandtschaft (im festen Salz) sind zwei gleichgültige Etwas ins Verhältnis gesetzt, welches sie gegenseitig bestimmt. Im Kristallgitter {in der Wahlverwandtschaft) ist die Gleichgültigkeit der selbständigen Etwas (die Gleichgültigkeit der Ionen gegeneinander in wäßriger, nicht notwendigerweise neutraler Lösimg und die Gleichgültigkeit, die in der Möglichkeit liegt, mit allen anderen sich verbinden zu können) negiert; - also Negation der Negation: In einer negativen Einheit (d. h. in einer Wahlverwandtschaft), die die einfache Negation (Anion ist nicht Kation) negiert, sind die selbständigen Etwas nicht gleichgültig gegeneinander und nicht äußerlich aufeinander bezogen. Damit ist von der Beziehung der selbständigen Etwas aufeinander, welche Beziehung als Grundlage der Wahlverwandtschaft zunächst erschlossen wurde, zur „B e Ziehung des Verhältnißmaaßes auf sich" übergegangen, welche Beziehung ihrerseits Grundlage für die Beziehung der selbständigen Etwas aufeinander ist. Denn in der negativen Einheit sind die selbständigen Etwas als sich gegenseitig bestimmend gesetzt, was auf ein reflexives Maß als „qualitative Grimdlage" für solches Sich-gegenseitig-Bestimmen schließen läßt. Der Übergang zur Wahlverwandtschaft ist analog konstruiert (vgl. 21. 351, 22 ff; IV. 439 f; vgl. Seite 110 ff): Zwei selbständige Maße (die Äquivalentgewichte von Säure und Base) werden in und durch die Neutralisationsreaktion (zitiert und vorausgesetzt) in ein festes Verhältnis gesetzt. Als Zugrundeliegendes für dieses feste Verhältnis wird eine von den bisherigen stöchiometrischen Maßen qualitativ verschiedene Maßgröße, die Verwandtschaft, erschlossen, welche Verhältrüsmaß, d. i. jenes Verhältnis charakterisierendes Maß, ist. Die selbständigen Maße sind in ihrem festen Verhältnis „negativ gesetzt". Die so durch Negation der Negation erhaltene, fürsichseiende qualitative Einheit ist die Wahlverwandtschaft, die durch das quantitative Verhältnis zur ausschließenden Qualität spezifizierte Verwandtschaft. Die zu kommentierende Stelle - 21. 364; IV. 456 - ist dem analog: Innerhalb

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von „Neutralität" sind trennbare, selbständige Etwas, „jedes als gleichgültig", zurückgekehrt. Sie (die Ionen) werden im und durch das Kristallgitter (zitiert und vorausgesetzt) in ein festes Verhältnis gesetzt. Als Zugrundeliegendes für dieses feste Verhältnis wird eine von den bisherigen Maßen qualitativ verschiedene Maßgröße (Bindungsenergie) erschlossen, welche „Verhältnißmaaß" (zur Unterscheidung von dem vorherigen Verhältnismaß ,Verwandtschaft' in der Hegelschen Schreibweise), d. i. das Verhältnis der trennbaren Etwas innerhalb von „Neutralität" charakterisierendes Maß, ist. Die trennbaren Etwas sind in ihrem festen Verhältnis „negativ gesetzt", ihre möglichen Beziehungen auf andere werden ausgeschlossen. Durch diese Negation der Negation wird die Wahlverwandtschaft - in einem nächsten (nach 21. 351, 22 ff; IV. 439 f) Schritt - weiter qualifiziert. Die so erhaltene qualitative Grundlage, die dann durch einen quantitativen Prozeß spezifiziert wird, ist die „Beziehung des Verhältnißmaaßes auf sich", welch reflexive Beziehung bestimmend für die Beziehung der selbständigen Etwas in der Wahlverwandtschaft ist. Fürsichsein und qualitative Einheit sind zurückgekehrt, hier aus dem Kontinuieren, an der analogen Stelle aus dem Verhältnis der Äquivalentgewichte bei Neutralisationsreaktionen. Hegel hätte recht, wenn er aus der „Beziehung des Verhältnißmaaßes auf sich „ auf eine qualitative Grundlage schlösse. Denn daß die selbständigen Etwas in der Wahlverwandtschaft nicht äußerlich aufeinander bezogen sind (wie als frei bewegliche Ionen in wäßriger Lösimg), verweist auf eine ihr Verhältnis spezifizierende Qualität, nämlich voraußzusetzende Energiegrößen, die jenes „Verhältnißmaaß", d. h. das Verhältnis der selbständigen Etwas im Kristallgitter, bestimmen. Doch Hegel will die besondere Qualität der Wahlverwandtschaft aus deren Prozeß (dem Kontinuieren) begründen; die Reflexivität des „Verhältnißmaaßes" (die sich aus der Beziehung der selbständigen Etwas in der negativen Einheit ergeben hat) ist für Hegel qualitative Grundlage. Nicht die einzelnen trennbaren selbständigen Etwas und auch nicht deren äußerliche Beziehung aufeinander, sondern die Reflexivität des „Verhältnißmaaßes" soll die nun konkreter entwickelte Grundlage, unterschieden von der „quantitativen Seite" (den stöchiometrischen Massenverhältnissen), sein. Richtig daran ist, daß diese Reflexivität auf eine besondere Qualität (Energiegrößen) verschieden von den bisherigen Massenrelationen verweist. Falsch ist, diese Qualität als Reflexivität des „Verhältnißmaaßes" zu beschreiben, um sie als aus dem Kontinuie-

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ren der Wahlverwandtschaften resultierend begründen zu können. Hegel merkt im folgenden Satz, daß solche Reflexivität nicht hinreichende qualitative Grundlage für die quantitative Seite sein kann und postuliert ein „Princip der Specification", das über die Bestimmung ,Reflexivität' hinausgehe und nicht aus ihr deduzierbar sei. Als zwei Seiten einer noch nicht explizierten Einheit haben sich ergeben: die reflexive Beziehung des „Verhältnißmaaßes" und die „Aeusserlichkeit und [quantitative, U. R.] Veränderlichkeit" des „Verhältnißmaaßes" („quantitative Seite"). Quantitative und qualitative Seite sollen in einem notwendigen Zusammenhang stehen, letztere soll „seyende, qualitative Grundlage" für erstere sein. (Am chemischen Modell; Die die Beziehung der trennbaren, selbständigen Etwas im Kristallgitter spezifizierenden Energiegrößen sind „qualitative Grundlage" für die quantitative Seite der Maßverhältnisse.) Nun ist aber sofort einsichtig, daß ,Beziehung auf sich' allein als qualitative Grundlage für die quantitativen Relationen nicht hinreicht. Für Kant stehen alle empirischen Naturgesetze (die quantitativen Relationen bei der Bildimg neuer Wahlverwandtschaften folgen einem Gesetz) unter der ursprünglichsynthetischen Einheit der Apperzeption (einer reflexiven Bestimmung), sind aber nicht aus dieser zu deduzieren^. Der Genesis nach sind sie von komparativer Allgemeinheit, den logischen Prinzipien nach von strenger Allgemeinheit. Kant konstatiert einen logisch nicht zu schlichtenden Bruch zwischen dem Inhalt nach empirischen Naturgesetzen und für diese die Form gebenden logischen Bestimmungen. Hegel referiert diesen Bruch in seiner Bestimmung der reflexiven Beziehung des „Verhältnißmaaßes" als qualitativer Grundlage in folgender Weise: Reflexivität allein reicht als qualitative Grundlage für die quantitativen Relationen nicht hin. Also muß die Reflexivität des „Verhältnißmaaßes" die Beziehung auf vorauszusetzende Substanzen (die trennbaren Etwas) rmd auf eine deren Beziehung bestimmende Qualität (Bindungsenergien im Kristallgitter) enthalten. Also ist die logische Bestinunung der Reflexivität (des „Verhältnismaaßes") notwendig auf vorauszusetzende Substanzen und unterschiedene Qualitäten bezogen. Aber das Umgekehrte gilt nicht. Vorauszusetzende Substanzen und unterschiedene Qualitäten sind nicht notwendig auf die Reflexivität des „Verhältnißmaaßes" bezogen und stellen diesem gegenüber einen nicht in ihm aufgehenden, empirischen Gehalt dar. Und deshalb sind aus der Refle6 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hrsg, von R. Schmidt. Hamburg 1976. B165.

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xivität des „Verhältnißmaaßes" dessen qualitative Voraussetzungen zwar zu erschließen, nicht aber zu entwickeln. Das Maß ist in der Beziehung auf sich selbst nicht die Bestimmung dessen, worauf es bezogen ist - deim dann wäre das Maß Wesen. Hegel dagegen argumentiert: Die Reflexivität des „Verhältnißmaaßes“ ist notwendig auf die äußerlichen, quantitativen Verhältnisse desselben bezogen und spezifiziert diese seine quantitative Seite zu besonderen Maßverhältnissen, spezifiziert also die mathematisch möglichen Relationen zu den physikalisch zutreffenden Gesetzen. (Am chemischen Beispiel: Die Beziehung der trennbaren, selbständigen Etwas aufeinander in der Wahlverwandtschaft ist qualitative rmd spezifizierende Grundlage für die quantitative Seite, das kontinuierliche Durchlaufen von Maßverhältnissen; spezifiziert wird zu den Gesetzen der Reaktionen der Wahlverwandtschaft.) Die Reflexivität des „Verhältnißmaaßes" enthält in sich diese spezifizierende Qualität (und nicht nur die Beziehung auf diese Qualität). Also könne aus der Reflexivität die Spezifikation der quantitativen Verhältnisse zu Naturgesetzen - diese Spezifikation erfolge über den weiter unten ausgeführten Prozeß innerhalb der Knotenlinie - entwickelt werden, und damit wäre der Kantsche Bruch geschlichtet. Interpretiert man das im nächsten Satz postulierte „Princip der Specification" nicht als eine in einem reflexiven Substrat enthaltene, sondern als eine der Reflexivität des Maßes vorausgesetzte Qualität, dann ginge Hegel in diesem nächsten Satz noch mit Kants Bruch konform. - bleibendes, materielles Substrat, welches, zugleich als die Continuität des Maaßes in seiner Aeusserlichkeit mit sich selbst, in seiner Qualität jenes Princip der Specification dieser Aeusserlichkeit enthalten müßte.

Die „Beziehung des Verhältnißmaaßes auf sich" ist „bleibendes, materielles Substrat". Richtig wäre, aus der Reflexivität des „Verhältnißmaaßes" in der Wahlverwandtschaft ein materielles Substrat zu erschließen, auf welches zwar in der logischen Form der Reflexivität hingewiesen wird (die trennbaren selbständigen Etwas sind in ihrer negativen Einheit als sich gegenseitig bestimmend gesetzt), welches aber nicht Reflexivität des „Verhältnißmaaßes" ist. Weil nach Hegel die Reflexivität des „Verhältnißmaaßes" „bleibendes, materielles Substrat" ist und weil das Maß überhaupt nur ist „in seiner Aeusserlichkeit" (im Durchlaufen quantitativer Maßverhältnisse), kommt dem materiellen Substrat, während die quantitativen Maßver-

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hältnisse durchlaufen werden („in seiner Aeusserlichkeit“)/ „Continuität [...] mit sich selbst" zu. Richtig daran ist: Chemiker nehmen dieselbe Energiegröße (Bindungsenergie) für das Verhältnis der jeweiligen selbständigen Etwas in den Wahlverwandtschaften vor wie nach deren Umgruppierung an. Für die insgesamt bei einer Reaktion auftretenden Energien gilt ein Erhaltungssatz. (Und gleichfalls gilt der Massenerhaltungssatz, woran Hegel, der ja Energie und Masse nicht strikt trennt, an dieser Stelle gedacht haben mag: Nur unter Voraussetzimg der Massenerhaltung lassen sich Reaktionsgleichungen und die bisher als Beispiel herangezogenen, stöchiometrischen Massenrelationen formulieren, d. h. der Massenerhaltungssatz ist - wie der Energieerhaltungssatz - zunächst regulative Idee.) Für Hegel ist das Konstant-Bleiben des in den Reaktionen (im Kontinuieren) sich durchhaltenden Substrats begründet} begründet daraus, daß er die Reflexivität des „Verhältnißmaaßes" als materielles Substrat setzt und daß der Reflexivität „Continuität [...] mit sich selbst" zukommen muß. Die Reflexivität ihrerseits war aus dem Kontinuieren des ausschließenden Maßes begründet worden: Werm ein solches Maß (eine Wahlverwandtschaft) sich zu einer anderen umgruppiert, dann kontinuiert ein quantitatives Maßverhältnis in ein anderes, imd dies Kontinuieren war, weil beide Wahlverwandtschaften wesentlich Maßverhältnis sind, als SicE-Kontinuieren desselben bestimmt worden (vgl. Seite 195), also: „Continuität des Maaßes in seiner Aeusserlichkeit mit sich selbst". Die reflexive Beziehung des „Verhältnißmaaßes" macht Hegel an der zu kommentierenden Stelle zum materiellen Substrat, das sich kontinuiert und im SichKontinuieren konstant bleibt. Zulässig wäre lediglich, aus der „Continuität des Maaßes in seiner Aeusserlichkeit mit sich selbst" (also aus dem Energie- oder dem Massenerhaltungssatz) auf ein diese „Continuität" garantierendes Substrat zu schließen. Doch bei Hegel ist das materielle Substrat nicht eine Bedingimg für diese „Continuität", sondern es ist diese „Continuität" selbst. Wiederum ist die Differenz zwischen dem materiellen Substrat imd der reflexiven Maßbestimmxmg, die auf es verweist, eingezogen. Das materielle Substrat - von Hegel als sich durchhaltende Reflexivität und nicht als Bedingimg derselben bestimmt - „müßte" zugleich „in seiner Qualität jenes Princip der Specification dieser Aeusserlichkeit enthalten". Richtig wäre: Die Reflexivität des „Verhältnißmaaßes" verweist auf ein materielles Substrat, das in seiner Qualität jenes Spezifikationsprinzip enthalten müßte. Hegel hingegen postuliert, das materielle Substrat, von ihm gleichgesetzt mit Reflexivität des „Verhältnißmaa-

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ßes", solle das, was die „Aeusserlichkeit" - das bloß quantitative Durchlaufen der Maßverhältnisse - zu besonderen Wahlverwandtschaften spezifiziert, als „seine Qualität" enthalten. Könnte Hegel dieses im Konjunktiv^ formulierte Postulat einlösen, so wäre - gegen Kant - aus der Reflexivität des Maßes die Spezifikation der Vielzahl der mathematisch möglichen Relationen (der quantitativen Äußerlichkeit des Maßes) zu den physikalisch zutreffenden und somit zu den physikalischen Gesetzen abzuleiten; das Maß wäre das Wesen. Die Knotenlinie ist dann die Durchführung des Hegelschen Programms, die an dieser Stelle vorbereitet wird. Einen Satz zuvor waren noch Reflexivität und Äußerlichkeit/Veränderlichkeit als zwei Seiten, die qualitative und die quantitative, gefaßt. Jetzt sind sie im materiellen Substrat (= Reflexivität des „Verhältnißmaaßes") wechselseitig durcheinander bestimmt: Wenn das ausschließende Maß sich in andere Wahlverwandtschaften kontinuiert, durchläuft es ihm äußerliche, quantitative Verhältnisse. Weil das ausschließende Maß wesentlich quantitatives Maßverhältnis ist und deshalb beim Durchlaufen quantitativer Verhältnisse bei sich bleibt, ist „Continuität des Maaßes [...] mit sich selbst" (Reflexivität) in seiner Äußerlichkeit enthalten. Das Umgekehrte steckte schon in der Formulienmg, das Maß sei „in seiner Beziehung auf sich ein veränderliches". Wenn also sowohl mit dem Durchlaufen der äußerlichen, quantitativen Verhältnisse die Reflexivität als auch mit der Reflexivität das Durchlaufen gesetzt ist, dann sind quantitative Äußerlichkeit und Reflexivität nicht mehr zwei einander äußerliche Seiten, sondern wechselseitig durcheinander bestimmt. Also enthält (Indikativ!) die Reflexivität das, was die Äußerlichkeit spezifiziert, als ihre Qualität. Die Begründung des Spezifikationsprinzips der Äußerlichkeit aus der Reflexivität des Maßes wird explizit im Sich-von-sich-Abstoßen der „an sich selbst specificirende[n] Einheit". „Neutralität" war „als negative Einheit der imterschiedenen Momente" (21. 364,4; IV. 455) bestimmt. Unterschiedenes wird durch das Urteil AeB ausgedrückt. ,Negative Einheit der Unterschiedenen' heißt Anwendimg von ,ist nicht' auf das die Unterschiedenen bestimmende Urteil AeB, was gleichbedeutend damit ist, das Schema der sich auf sich beziehenden Negation rückwärts, d. i. von unten nach oben, zu lesen. 7 Der Konjunktiv ist ein materialistischer Stolperstein, der zweifeln läßt, ob die Reflexivität (= materielles Substrat) in ihrer Qualität das Spezifikationsprinzip enthalte oder ob nicht vielmehr ein materielles Substrat der Spezifikation von Maßverhältnissen zugrunde liege. Weiter imten räumt Hegel den Konjxmktiv weg.

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Sich auf sich beziehende Negation bedeutet Anwendung von ,ist nicht' auf die Kategorie ,Negation', wodurch man von dieser Kategorie zu dem Urteil AeB gelangt: Negation ist nicht AeB Resultat des Rückwärts-Lesens ist die Kategorie ^Negation', auf die also die logische Untersuchung von ,negative Einheit der Unterschiedenen' hinfuhrt. Demgemäß heben sich in der negativen Einheit (oder „Neutralität") die gegeneinander selbständigen Momente weg, sie ist bloß als negativ ausschließend bestimmt (—>Wahlverwandtschaft). Läse man ,Kontinuieren der Wahlverwandtschaften' lediglich als Beziehen der negativen Einheit auf sich selbst und höben darin die gegeneinander gleichgültigen, quantitativen Verhältnisse sich weg, so wäre das Kontinuieren eine Bewegung innerhalb der Kategorie ,Negation'. Zu dieser Bestimmung des Kontinuierens paßt die schon herangezogene (vgl. Seite 139 ff und Seite 207) Stelle aus der Enzyklopädie: „Die Neutralität ist [...] im Kampfe mit sich selbst begriffen, indem die Neutralität, welche das Product ist, durch die Negation der Neutralität vermittelt wird" (IX.433). Durch Negation der negativen Einheit/„Neutralität" soll das Kontinuieren der Wahlverwandtschaften zu bestimmen sein. Dem logischen Gehalt nach ist die Reflexion im Wesen auch nicht anders als als Bewegung irmerhalb der negativen Einheit der Unterschiedenen oder der Kategorie Negation bestimmt: „Das Werden im Wesen, seine reflectirende Bewegung, ist daher die Bewegung von Nichts zu Nichts, und dadurch zu sich selbst zurück" (11. 250,4; rV. 493), diese reflektierende Bewegung ist „absoluter Gegenstoß in sich selbst" (11. 252,11; IV. 496). Im Maß-Kapitel jedoch muß Hegel eine solche Konsequenz, nämlich daß das Kontinuieren der Wahlverwandtschaften zu einer Bewegung innerhalb der Kategorie ,Negation' wird, vermeiden: So setzt das Kontinuieren innerhalb der negativen Einheit/„Neutralität" „Trennbarkeit" und die trennbaren, selbständigen Etwas; die reflexive Beziehung (des „Verhältnißmaaßes") ist dann nicht „Bewegung von Nichts zu Nichts", sondern das Sich-gegenseitig-Bestimmen der trennbaren, selbständigen Etwas in ihrer Beziehung aufeinander innerhalb der negativen Einheit; diese reflexive Beziehung selbst ist „bleibendes, materielles Substrat." Ntm ist die

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Gleichsetzung: Beziehung des „Verhältnißmaaßes" auf sich = „bleibendes, materielles Substrat" logisch nicht zwingend; die grammatikalische Konstruktion - die Kombination von Semikolon imd Gedankenstrich als Ersatz für das ausgelassene ,ist'8 - verrät es. Das materielle Substrat ist erschlossene Bedingung für die Reflexivität des „Verhältnißmaaßes", nicht aus ihr zu deduzieren und nicht diese selbst. (Wie am chemischen Beispiel gezeigt wurde: Das Kontinuieren der Wahlverwandtschaften findet auf der Grundlage eines materiellen Substrates statt. Als Voraussetzung der stöchiometrischen Gesetze kann die materielle Geschlossenheit des Systems - und noch weitergehend die Erhaltimg der spezifisch qualifizierten Materie, also der Atomsorten - erschlossen werden. Wenn bei der Reflexivität des „Verhältrdßmaaßes" von den äußerlichen und veränderlichen quantitativen Verhältnissen abgesehen wird, bleibt nicht Nichts, sondern ein Substrat: die trennbaren, selbständigen Etwas (Anionen und Kationen), die in einer Beziehung sind, welche durch eine weitere vorauszusetzende Qualität - Freie Bindimgsenthalpie - bestimmt ist.) Hegel nimmt die Reflexivität, die „Continuität des Maaßes in seiner Aeusserlichkeit mit sich selbst", selbst als Substrat, und zwar als „bleibendes, materielles Substrat", wobei der grammatikalische Stolperstein ein Fragezeichen hinter die logische Zulässigkeit dieser Gleichstellimg setzt, aber zugleich unterstreicht, daß ein materielles Substrat notwendig ist^. Denn Hegel weiß, daß weder „Reflexivität" noch „Beziehung der negativen Einheit auf sich" hinreichende Bestimmimgen für dieses Substrat sind, weil sonst die reflexive Beziehimg von Nichts zu Nichts übrig bliebe. Positive Ein8 Die Suhrkamp-Ausgabe der Hegelschen Logik glättet das Semikolon zum Komma, getreu ihren „allgemeinen Editionsprinzipien": „Orthographie imd Interpimktion wurden durchgehend normalisiert imd modernisiert". Das Semikolon trennt stärker ab als das Komma imd nimmt dem folgenden Satzteil das Verb. Damit wird die Distanz von „bleibendes, materielles Substrat" zu „seyende, qualitative Grundlage" unterstrichen. Gleichzeitig liegt eine besondere Betonung auf „bleibendes, materielles Substrat", was das Gewichtigste ist, das von „Beziehung des Verhältnismaaßes auf sich" ausgesagt wird, ohne Verb aber unselbständig - nach Anbindung suchend - dasteht. Eine solche grammatikalische Unebenheit, sei sie von Hegel gewollt oder nicht, kann ein von Hegel nicht geplantes Stolpern über die zugrundeliegende, logische Subreption verursachen. 9 Die Einführung des „bleibenden, materiellen Substrats" ist logisch gesehen eine Erschleichung, die daraus entspringt, daß Hegel sein idealistisches Gesamtprogramm und die Bestimmung des Konkreten (hier: des chemischen Prozesses) zusammenzuzwingen versucht. Daß „bleibendes, materielles Substrat" hier als Anakoluth der „Beziehung des Verhältnismaaßes auf sich" gegenübersteht, legt Hegels Materialismus wider Willen bloß. Die weitere Argumentation des Maßkapitels - die absolute Indifferenz und der Uebergang in das Wesen - dient dazu, das „bleibende, materielle Substrat" zu löschen. Bei den Reflexions-Bestimmungen ist dann von diesem nicht mehr die Rede.

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heit der Materie wäre eine Bestimmung dieses materiellen Substrats, die Hegel aber vermeiden muß, denn dann wäre das Maß auf ein anderes bezogen, das nicht selbst Maß ist, und der Übergang ins Wesen scheiterte. In der Ersten Analogie der Erfahrung schließt Kant auf die „Beharrlichkeit der Substanz“ im „Wechsel der Erscheinungen“io. Die für Aristoteles metaphysische Kategorie ,Substanz' erweist sich bei Kant als Grundsatz zur Kategorie ,Relation'. Substanz ist „notwendige Bedingung, imter welcher allein Erscheinungen, als Dinge oder Gegenstände, in einer möglichen Erfahrung bestimmbar sind“n. Sie ist letztlich aus der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption erschlossen tmd hat keine weitere Bestimmung als diejenige, die Relation der Akzidenzien und deren Veränderungen zu ermöglichen. Deshalb ist Substanz für Kant regulatives, nicht konstitutives Prinzipi2. Hegel begründet aus dem Wechsel der veränderlichen, quantitativen Relationen einen zugrundeliegenden Träger - analog wie Kant. Dem Kontinuieren der Maßverhältnisse ineinander (den Relationen von Maßverhältnissen) liegt als Bedingung seiner Möglichkeit die Reflexivität des „Verhältnißmaaßes“ zugrunde, tmd diese Reflexivität ist materielles Substrat, dem, während quantitative Maßverhältnisse durchlaufen werden, Kontinuität zukommt - die Einheit der Materie (Massenerhaltungssatz) ist rekursiv aus den Maßverhältnissen erschlossen. Hegel begründet so - zu recht und gegen Kant -, daß die Reflexivität des „Verhältnißmaaßes“ (imd mit derselben die Kontinuität des materiellen Substrats) rücht regulatives, sondern konstitutives Prinzip für die empirischen Naturgesetze sein muß. Aber - und auch das sieht Hegel - schlichte Kontinuität des materiellen Substrates ohne jede weitere Bestimmung reicht als qualitative Gmndlage für die Maßverhältnisse nicht hin. - In chemischen Reaktionen erhalten sich die gegeneinander qualitativ bestimmten Elemente (weswegen Chemiker Reaktionsgleichungen schreiben, in denen rechts imd links dieselben Elemente in derselben Anzahl stehen). - Hegel formuliert deshalb - hier noch als Programm -, aus der Reflexivität des „Verhältnißmaaßes" solle die Spezifität dessen, worauf es bezogen ist, zu entwickeln sein: Das „bleibende, materielle Substrat [...] als die Continuität des Maaßes in seiner Aeusserlichkeit mit sich selbst [...] [müßte, U. R.] in seiner Qualität jenes Princip der Specification dieser Aeusserlichkeit enthalten". Solange Hegel auf die BedingunI. Kant: A. a. O. B 224 ff. 11 I. Kant: A.a.O.B 232. 12 I.Kant:A. a.O.B222. 10

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gen schließt, die von den Maßverhältnissen vorausgesetzt werden und als deren Voraussetzungen in sie eingehen, hat er recht. Unrecht hat er, wenn er aus den Maßverhältnissen deren Voraussetzungen als aus ihnen resultierend entwickelt - so wenn das materielle Substrat das Prinzip der Spezifikation seiner Äußerlichkeit enthalten und eine an sich selbst spezifizierende Einheit sein soll, die Maßverhältnisse produziere. Für Hegel ist die Einheit der Materie hinreichend als in den quantitativen Relationen sich durchhaltende Reflexivität des „Verhältnißmaaßes" bestimmt. Damit ist Einheit der Materie immanente Bestimmung des Maßes selbst (und also konstitutives Prinzip). Aus ihr soll nun - in der Knotenlinie - die Spezifikation der quantitativen Relationen (also die empirischen Naturgesetze) begründet werden. Richtig wäre, die Einheit der Materie, präziser; die Erhaltung der spezifisch unterschiedenen Elemente, als Voraussetzung des Maßes zu bestimmen, welche selber nicht Maß ist. Mit der Behauptung, das Maß selbst sei in der Beziehung auf sich die Bestimmung dessen, worauf es bezogen ist, hat Hegel den Übergang zum Wesen vollzogen: Solches Maß ist Wesen. Das ausschliessende Maaß nach dieser nähern Bestimmung nun, in seinem Fürsichseyn sich äusserlich, stößt sich von sich selbst ab, setzt sich sowohl als ein anderes nur quantitatives, als auch als ein solches anderes Verhältniß, das zugleich ein anderes Maaß ist; ist als an sich selbst specificirende Einheit bestimmt, welche an ihr Maaßverhältnisse producirt.

Das Kontinuieren der ausschließenden Wahlverwandtschaft hatte sich als gedoppelte Bewegimg erwiesen, erstens als äußerliches Vergleichen von Maßverhältnissen an der „Neutralität“ und zweitens als Setzen von „Trennbarkeit“ und als In-Beziehung-Treten der trennbaren, selbständigen Etwas innerhalb der „Neutralität“. Der Wahlverwandtschaft lag so die Beziehung dieser trermbaren Etwas aufeinander und darm konkreter deren Sich-gegenseitig-Bestimmen irmerhalb ihrer negativen Einheit zugrunde. Damit war die Wahlverwandtschaft „näher“ bestimmt durch die Reflexivität des „Verhältnißmaaßes“ (ihre qualitative Grundlage und materielles Substrat) und ihre „Aeusserlichkeit und Veränderlichkeit“ (ihre quantitative Seite). Beide sind nicht sowohl zwei verschiedene Seiten als notwendig miteinander verknüpft; aus der Reflexivität des Maßes soll die Spezifikation der quantitativen Äußerlichkeit des Maßes zu den physikalisch zutreffenden Gesetzen abzuleiten sein. Die notwendige Beziehung von Reflexivität und Äußerlich-

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keit impliziert deren Einheit, die sich von sich selbst abstoßende und dadurch „an sich selbst specificirende Einheit", was im folgenden expliziert wird. Im Kontinuieren, bestimmt als „äusserliche Beziehung der verschiedenen Neutralitäts-Verhältniße, als eine Vergleichrmg", waren die Wahlverwandtschaften als die eine (mit diesem) und die andere (mit jenem Verhältnis) einander äußerlich. Doch als Wahrheit des Kontinuierens hat sich das Sich-gegenseitig-Bestimmen der trennbaren, selbständigen Etwas in ihrer Beziehung aufeinander herausgestellt. Damit ist für die Wahlverwandtschaft die Bestimmimg „Fürsichseyn" zurückgekehrt, konkreter bestimmt (im Vergleich zu 21.351,26; IV. 440) dadurch, daß die trennbaren Etwas in ihrer negativen Einheit nicht äußerlich aufeinander bezogen sind. Jede Wahlverwandtschaft ist als solche fürsichseiende Einheit (der sich gegenseitig bestimmenden Ionen) mit den anderen Wahlverwandtschaften verknüpft. „[...] in seinem Fürsichseyn [ist das ausschließende Maß, U. R.] sich äusserlich" (vgl. „in seiner Beziehung auf sich [ist das ausschließende Maß, U. R.] ein veränderliches" (21. 364,19; IV. 456)). Es ist „Verhältnißmaaß" und als solches gegen quantitative Veränderungen offen, die zu anderen, dem ersten äußerlichen Maßverhältnissen führt. Es „stößt sich von sich selbst ab". Diese - wörtlich genommen in sich gebrochenei^ - Metapher drückt den Prozeß aus, in dem Äußerlichkeit und Reflexivität zusammenfallen. Denn das Sich-von-sich-selbst-Abstoßen ist Reflexivität, die die Äußerlichkeit in sich aufnimmt und dadurch in das Kontinuum der quantitativen Verhältnisse auseinandergezogen wird. Die Reflexivität, zuvor bestimmt als „qualitative Grundlage", „bleibendes, materielles Substrat", ist zu einem Abstoßen, einem Prozeß irmerhalb der Äußerlichkeit, geworden. Dies Sich-von-sich-selbst-Abstoßen ist zugleich auch Projektion der Reflexivität in die Äußerlichkeit, die so zu besonderen, qualitativ unterschiedenen Maßverhältnissen spezifiziert wird und die, zuvor bestimmt als „quantitative Seite", dadurch zum Substrat geworden ist (vgl. weiter unten: Das Substrat der „Knotenlinie" soll als 13 Um sich abzustoßen, bedarf es eines anderen empirischen Körpers, der den entgegengesetzten Impuls aufnimmt. Physikalisch ist ein Sich-von-sich-Abstoßen nicht möglich, ein Körper kann lediglich in zwei Hälften mit entgegengesetzten Impulsen zerfallen. Zur Bestimmimg der setzenden Reflexion im Zweyten Buch. Die Lehre vom Wesen verwendet Hegel eine denselben Bildbruch enthaltende Metaphorik: „Die reflectirende Bewegung ist [...] als absoluter Gegenstoß in sich selbst zu nehmen" (11. 252,12; IV. 496). Die sprachliche Parallele mag ein Hinweis dafür sein, daß in der zu kommentierenden Passage der Übergang in das Wesen vorbereitet wird.

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rein quantitatives darzustellen sein; es ist die „Scale des Mehr und Weniger", die zu den Knoten spezifiziert wird). Waren zuvor Reflexivität als bleibendes Substrat und Äußerlichkeit als dessen quantitative Seite unterschieden, so fallen jetzt in der sich von sich abstoßenden, an sich selbst spezifizierenden Einheit Prozeß (die Reflexivität wird durch das Aufnehmen der Äußerlichkeit zum Sich-von-sich-selbst-Abstoßen) und Substrat (durch die Projektion der Reflexivität in die Äußerlichkeit wird diese zu einer spezifizierbaren „Scale des Mehr und Weniger") zusammen. Damit ist die Knotenlinie von Maßverhältnissen erreicht. Für Hegel ist sie nicht bloß erschlossen als Voraussetzung für das Kontinuieren der ausschließenden Wahlverwandtschaften und die darin enthaltenen entgegengesetzten Bestimmimgen Reflexivität und Äußerlichkeit (Rückgang in den Grund des Kontinuierens), sondern - und darin liegt der Fehler - die Knotenlinie ist aus dem Verhältnis von Reflexivität und Äußerlichkeit im Kontinuieren deduziert; aus Reflexivität und Äußerlichkeit soll deren Einheit, und zwar die zur Knotenlinie von Maßverhältnissen sich spezifizierende Einheit, abzuleiten sein. Mit dem Sich-von-sich-selbst-Abstoßen des Maßes hat Hegel drei für den Übergang ins Wesen entscheidende Bestimmimgen erreicht: 1. ) Endgültig eingezogen ist die Differenz zwisch Substrat. Entfernt ist damit ein der Reflexivität zugrimdeliegendes und von ihr erschlossenes, jedoch nicht in ihr aufgehendes und somit substantiell von ihr unterschiedenes („bleibendes, materielles") Substrat. 2. ) Das Substrat ist rein quantitativ bestimmt. 3. ) Begründet ist ein spezifizierender Prozeß, der hervorgeht. Am chemischen Beispiel: Hegel geht von der „Beziehung des Verhältnißmaaßes auf sich" (der Beziehung der selbständigen Etwas (Anion und Kation) in der negativen Einheit) über zum Sich-von-sichselbst-Abstoßen. Aber von selbst stoßen sich Anion und Kation nicht ab (sie ziehen sich an), gehen nicht in wäßrige Lösung und bilden nicht mit anderen Ionen andere Wahlverwandtschaften. Sondern es bedarf planvoller experimenteller Tätigkeit, die andere Energien ausnutzt, um die zum Aufbrechen des Kristallgitters notwendige Energie aufzuwenden. Hegel camoufliert die experimentelle Arbeit unter einem der Wahlverwandtschaft selbst zukommenden Prozeß (dem Sich-von-sichselbst-Abstoßen); und was konstitutiv ist für die experimentelle Arbeit - die Ausnutzung qualitativ unterschiedener Kräfte in der Natur zur Herstellung unterschiedener Substanzen -, wird zum aus der Reflexivi-

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tat gesetzten Prozeß und zur Produktion von Maßverhältnissen durch eine sich selbst spezifizierende Einheit. Für seine Begründung der Knotenlinie nutzt Hegel die von ihm der „Neutralität" (= negativen Einheit) angeheftete, doppelte Bedeutung, einmal eine Neutralität und dann Neutralität schlechthin zu sein. Die Beziehung des „Verhältnißmaaßes" auf sich war das Sich-gegenseitigBestimmen der trennbaren Etwas in ihrer Beziehung aufeinander in der negativen Einheit, d. h. in einer Neutralität. Kontinuieren war In-Beziehung-Treten der trennbaren Etwas innerhalb von Neutralität schlechthin, welche durch unterschiedliche Maßverhältnisse zu qualitativ unterschiedenen „Neutralitäten" (Wahlverwandtschaften) spezifiziert wurde. Wenn diese im Kontinuieren sich aufeinander bezogen, bezog „Neutralität" sich auf „Neutralität". Das Changieren zwischen beiden Bedeutungen von „Neutralität" geht parallel mit dem Übergang von der reflexiven Beziehung des „Verhältnißmaaßes" (in einer Wahlverwandtschaft bezieht eine Neutralität sich auf sich selbst) zum Sich-vonsich-selbst-Abstoßen (den Salzreaktionen von Wahlverwandtschaften, wo Neutralität schlechthin sich auf sich - in den jeweils anderen Wahlverwandtschaften - bezieht). Wie schon zuvor an verschiedenen Stellen ausgeführt, zitiert Hegels logische Argumentation (hier: der Übergang von der Reflexivität des „Verhältnißmaaßes" zum Sich-von-sich-selbstAbstoßen des ausschließenden Maßes) chemische Beispiele herbei (hier: Salzreaktionen der Wahlverwandtschaften xmtereinander), die als zweite chemische Stimme die Argumentation insbesondere dann befördern, wenn diese aus rein logischen Bestimmungen heraus nicht mehr trägt. Das Sich-von-sich-selbst-Abstoßen ist so nicht zu trennen von dem Kontinuieren der Wahlverwandtschaften „an einem und demselben Substrate" - „Neutralität" - imd damit auch nicht von der mißverständlichen, doppelten Bedeutung von „Neutralität". Am chemischen Modell erläutert bedeutet nämlich das Sich-von-sich-selbst-Abstößen des ausschließenden Maßes: Es ist eine Bewegung - ein Abstoßen - in die quantitative Äußerlichkeit (die Wahlverwandtschaft, bestimmt als negative Einheit/„Neutralität" plus stöchiometrisches Verhältnis, durchläuft andere ihr äußerliche Verhältnisse) und zugleich eine Bewegung von sich zu sich selbst (wenn eine andere Wahlverwandtschaft gebildet wird, gelangt die Bewegung doch nur zu sich, zu der durch das quantitative Verhältnis spezifizierten negativen Einheit/„Neutralität", d. h. die Bewegimg verbleibt innerhalb von „Neutralität"). Das Sich-von-sich-selbst-Abstoßen des ausschließenden Maßes führt zu zwei entgegengesetzten Resultaten:

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1. ) Das ausschließende Maß „setzt sich" als ein ves Maßverhältnis; die quantitative Relation ist äußerlich gegenüber dem Sich-Setzen, der Beziehimg auf sich, die - als „materielles Substrat" - erhalten bleibt und lediglich ihr äußerliche, quantitative Relationen annimmt. 2. ) Das ausschließende Maß „setzt sich" als ei Maßverhältnis, „das zugleich ein anderes Maaß ist". Weil die Wahlverwandtschaft als qualitative, ausschließende Einheit „auf das Quantitative" gründet (vgl. 21.352,3; IV. 440), ist mit dem anderen quantitativen Maßverhältnis eine andere, vom Ausgangsmaß unterschiedene Wahlverwandtschaft gesetzt. Wenn das Maß ihm äußerliche, quantitative Verhältnisse durchläuft, setzt es sich auch als ein anderes, vom Ausgangsmaß qualitativ unterschiedenes Maß. Im ersten Fall bleibt das Maß, während es sich von sich in die ihm äußerlichen, quantitativen Verhältnisse abstößt, bei sich. Im zweiten entgegengesetzten Fall bleibt das Maß, während es genauso wie im ersten die quantitativen Verhältnisse durchläuft, nicht dasselbe, es stößt sich zu einem anderen Maß ab. Der eine Prozeß, das Reflexivität und Äußerlichkeit vereinigende Sich-von-sich-selbst-Abstoßen, hat zwei entgegengesetzte Resultate hervorgebracht. Durch diesen Prozeß wird das Maß zur „an sich selbst specificirende[n] Einheit [...], welche an ihr Maaßverhältnisse producirt" - „Einheit" insofern, als ein Reflexivität und Äußerlichkeit vereinigendes, einheitliches Substrat zugnmdeliegt; „an sich selbst specificirende Einheit", weil die Reflexivität, quantitative Äußerlichkeit aufnehmend, Bewegung in das ihr Äußerliche, in andere quantitative Verhältnisse ist, die zugleich andere ausschließende Maße sein können. Also produziert die - quantitative Äußerlichkeit aufnehmende wie in sich projizierende - Reflexivität die spezifisch unterschiedenen Maßverhältnisse. Sie enthält das „Princip der Specification" der quantitativen Äußerlichkeit, welches zugleich Prinzip ihrer Spezifikation ist, und ist insofern konstitutives Prinzip für die empirischen Naturgesetzei4. Die Reflexivität des „Verhältnißmaaßes" (nicht das „Verhältnißmaaß" selbst) ist nicht weiter qualifiziert, die quantitative Äußerlichkeit sowieso nicht. (In dem Sich-gegenseitig-Bestimmen der trennbaren, selbstän14 „Das ausschliessende Maaß [...] ist als an sich selbst specificirende Einheit bestimmt". Mit dem Indikativ „ist" hat Hegel den Konjimktiv von „bleibendes, materielles Substrat, welches [...] jenes Princip der Specification [...] enthalten müßte", weggeräumt.

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digen Etwas in ihrer Beziehung aufeinander heben sich deren spezifische Qualitäten auf. Die alleinige, begründete Qualität ist dann /Beziehung auf sich', was für alle Kristallgitter zutrifft. Analoges gilt für die vorausgegangene Maßbestimmung, die Wahlverwandtschaft resp. „Neutralität": In der „Neutralität als negativer Einheit der imterschiedenen Momente" waren deren spezifische Qualitäten aufgehoben; „Neutralität" ist negative Beziehxmg auf die qualitativ Unterschiedenen, und in dieser negativen Beziehimg sind die unterschiedenen Qualitäten aufgehoben. Die einzige Qualität, die hereinkommt, ist das feste Verhältnis der Äquivalentgewichte (Negation der Negation), worin aber wiederum deren spezifische Qualitäten aufgehoben sind tmd lediglich das für alle Wahlverwandtschaften zutreffende Ausschließen, das allein negativ gegen andere bestimmbar ist, begründet ist.) Die Reflexivität soll aber dadurch, daß sie die quantitative Äußerlichkeit aufnimmt und sich in diese projiziert, qualifizierend sein - sie soll das Prinzip ihrer Spezifikation enthalten und im Prozeß des Sich-von-sich-selbst-Abstoßens die spezifischen Maßverhältnisse produzieren. Die Argumentation stimmt rücht für das chemische Modell, und zwar weder, wenn für Reflexivität die Energie (vgl. Seite 230 f), noch wenn für Reflexivität die sich erhaltende Materie steht (zu Hegels /Ableitung' des Satzes von der Erhaltung der Materie vgl. Seite 219). Am Beispiel der Materie: Diese (das zugrtmdeliegende, bleibende Substrat) müßte dann „an sich selbst specificirende Einheit" sein, sich von sich selbst abstc "’en imd dadurch sich zu den besonderen Maßverhältnissen spezifizi en, welche die besonderen Qualitäten der Stoffe ausdrückten. Aber « is, was im Wechsel (der verschiedenen, sich ineinander umsetzenden chemischen Stoffe) konstant bleibt, ist nicht bloß die Masse, sondern es sind die spezifisch bestimmten, in Ausgangsstoffen und Endprodukten sich wiederfindenden Elemente. Die Spezifität dieser Elemente kann nicht aus Maßbestimmungen und dem (vermeintlich deduzierten) Satz der Erhalhmg der Materie abgeleitet werden. Führte man die Hegelsche Argumentation konsequent durch, so müßte genau dies, nämlich die Begründung der Spezifität der chemischen Elemente aus dem Substrat einer an sich selbst spezifizierenden Einheit, möglich sein. Engels vollzieht diesen Schritt: Zugrunde liege ein und dieselbe Substanz, Materiell. Das dieser zunächst äußerliche, quantitative Fortschreiten sei die 15 Zu Engels' Zeiten war die Zusammensetzung der Atomkerne unbekannt. Engels' Annahme, die Atomkerne bestünden aus ein und derselben Substanz, kormte sich auf die 1815 von Prout geäußerte Vermutimg stützen, alle chemischen Elemente seien aus dem

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kontinuierliche Zunahme der Materie, also die kontinuierliche Skala nach steigenden Atommassen. Diese Quantität schlage an Knotenpunkten um zur Qualität der Elementei^. Aber weder aus der Auflistung der Elemente nach steigenden Atommassen noch aus der numerischen Auflistung nach Ordimgszahlen ist zu schließen, daß chemische Eigenschaften (Qualitäten) periodisch wiederkehren. Vielmehr war umgekehrt für die Aufstellung des Periodensystems die Beobachtimg vorausgesetzt, daß Qualitäten periodisch in derselben Reihenfolge wiederkehren, eine Beobachtimg, die nur möglich ist, wenn Qualitäten in Beziehung gesetzt werden zu Maßzahlen (relativen Atommassen) und deren quantitativer Auflistungi^. Hegel drückte die spezifische leichtesten Element Wasserstoff als ihrer Urmaterie aufgebaut. Allerdings war die Proutsche Vermutimg schon bald umstritten, derm die auf Wasserstoff als Einheit bezogenen, relativen Atommassen zahlreicher Elemente wichen mit zimehmender experimenteller Genauigkeit definitiv von der Ganzzahligkeit ab. Spätestens mit den Untersuchungen von Stas 1865, also vor Engels' „Dialektik der Natur", war die Proutsche Vermutimg für die Chemiker höchst fragwürdig geworden. Heute weiß man, daß Atomkerne spezifisch unterschieden sind und aus einer bestimmten Anzahl von Protonen imd Neutronen bestehen, wobei nicht begründet werden kann, wieviele Neutronen zu einer vorgegebenen Protonenzahl gehören (es gibt Isotope), die Atommasse also nicht aus der Ordnimgszahl folgt. Darüber hinaus stehen die chemischen Eigenschaften nicht mit den Atommassen, sondern mit der Anzahl der Elektronen in einem Zusammenhang - aber nicht so, daß aus der Anzahl der Elektronen die chemischen Eigenschaften abgeleitet werden könnten. 16 F. Engels: Dialektik der Natur. MEW 20. 353: Die Qualität der Elemente ist „bedingt [...] durch die Quantität ihres Atomgewichts". Die Engels'sche Formulierung „bedingt durch" ist unscharf und deshalb mißverständlich. Richtig ist, daß die periodisch sich ändernden Qualitäten der Elemente bezogen werden körmen auf die quantitative Zunahme ihrer Atommassen. Falsch ist, aus dieser Zimahme mittels des „Hegelschen Gesetzes vom Umschlagen der Quantität in Qualität" (F. Engels. MEW 20. 353) die spezifischen Qualitäten der Elemente zu begründen. Letzteres legt Engels aber nahe: „Qualitative Änderungen [können, U. R.] nur stattfinden durch quantitativen Zusatz oder quantitative Entziehung von Materie oder Bewegung (sog. Energie). Alle qualitativen Unterschiede in der Natur beruhen entweder auf verschiedner chemischer Zusammensetzung oder auf verschiednen Mengen resp. Formen von Bewegimg (Energie) [...]" (MEW 20.349). 17 Aber aus den quantitativen stöchiometrischen Relationen und den daraus sich ergebenden Äquivalentgewichten bzw. relativen Atommassen folgen nicht die spezifischen Eigenschaften der Elemente; am Beispiel: Alkalimetallionen bilden mit Schwefelsäure lösliche Sulfate, Erdalkalimetallionen dagegen unlösliche Sulfate, was ein wichtiges Kriterium zur Unterscheidung der beiden Hauptgruppen ist. Die stöchiometrischen Relationen sind zwar jeweils verschieden, aber daraus läßt sich nicht die qualitative Bestimmimg folgern, daß Erdalkalisulfate sich anders verhielten als Alkalisulfate. Für den Aufbau des Periodensystems muß dieser bestimmte qualitative Unterschied von Alkalimetallen zu den Erdalkalimetallen vorausgesetzt werden und darüber hinaus, daß diese imterschiedene Qualität auf die quantitative Auflistung nach relativen Atommassen bezogen wird. Umgekehrt jedoch wird diese (vorauszusetzende) Qualität ihrerseits erst erklärt und in einen Zusammenhang mit anderen gestellt (imlöslich sind ja viele sehr unterschiedliche Verbindungen) dadurch, daß diese Qualität auf Exponenten von Maßver-

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Qualität einer Substanz durch das Äquivalentgewicht aus, das er aus dem System der stöchiometrischen Relationen als „Fürsich-bestimmtseyn des Maaßes" (21. 351, 13; IV. 439) abgeleitet hatte (vgl. Seite 98). Wird dementsprechendes die relative Atommasse eines chemischen hältnissen (Äquivalentgewichte bzw. relative Atommassen) bezogen wird. Denn erst das Periodensystem ermöglicht die Vorstellung eines für alle Elemente einheitlichen Atombaus und erst dann kann die Qualität der Erdalkalimetalle im Unterschied zu den anderen Hauptgruppen des Periodensystems durch eine charakteristische Auffüllung der Energieterme erklärt werden. 18 Der Übergang von den Äquivalentgewichten zu den relativen Atommassen, betrachtet man lediglich die stöchiometrischen Relationen, ist keineswegs zwingend. Dalton erfand Atome zur Interpretation der Gesetze der konstanten imd multiplen Proportionen, also zur Interpretation eines Systems von Maßverhältnissen (den Massenrelationen, in denen die Stoffe untereinander reagieren). Den Atomen ihrerseits schrieb Dalton Maße zu, nämlich die Äquivalentgewichte der Elemente, die so für,Atomgewichte' standen. Durch diese Maße wurden die Atome spezifiziert, wobei die Spezifikation nicht durch eine absolute Größe, sondern durch eine Relation gelang, das Verhältnis zum als Einheit gesetzten Wasserstoff. Damit war das Maß einer Ätomsorte selber als Exponent einer Relation von Maßen bestimmt. Der Atombegriff, entwickelt zur Interpretation der Massenrelationen von miteinander reagierenden Stoffen, sagte zimächst nichts darüber Hinausgehendes aus. Kant folgend wäre der Atombegriff als transzendentale Idee zu fassen, die „einen vortrefflichen imd unentbehrlich notwendigen regulativen Gebrauch" (I. Kant: K. d. r. V. B 672) hat, nämlich eine Vielzahl von Relationen in einem System zu ordnen. Der bloß regulative Gebrauch sagt noch nichts darüber, ob dem Atombegriff eine Realität korrespondiert; für Kant sind transzendentale Ideen niemals von konstitutivem Gebrauch (I. Kant: d. r. V. B 672). Bis circa 1840 hielten viele Chemiker (so Wollaston, Davy u. a.) die Kenntnis von ,Atomgewichten' sogar für entbehrlich; sie waren unsicher, ob überhaupt die Zahl der Atome in einem Molekül richtig angegeben werden körme. (Und insofern konnte sich Hegels Polemik gegen Dalton und Berzelius die Atomtheorie betreffend auf chemische Argumente stützen). Für die praktischen Aufgaben der Chemiker reichte zunächst die Angabe des einem Stoff in einer Verbindung zukommenden Äquivalentgewichts aus. Es war unnötig, dieses als ,Atomgewicht' oder ,Molekulargewicht' zu interpretieren. Auch störte nicht, daß den Stoffen je nach Verbindimg imterschiedliche Äquivalentgewichte zukamen. Betrachtet man also nur die stöchiometrischen Massenrelationen, dann ist der Übergang von den Äquivalentgewichten zu den relativen Ätommassen logisch nicht zwingend. - Solange der Atombegriff lediglich regulative Idee zur Interpretation von Massenrelationen war, solange ist Hegels Ablehmmg der Atome und seine Darstellimg der relativen Atommassen (= Äquivalentgewichte) als ausgezeichnete Knoten des Maßes auf der „Scale des Mehr imd Weniger" zu halten. Erst nach 1840, als zunehmend isomere Verbindungen aufgefunden wurden (Beispiel: Alkohol CH3 - CH2OH imd Dimethylether CH3 - O - CH3), die, obgleich qualitativ unterschieden, dieselbe Summenformel aufweisen, wurde der regulative Ätombegriff - gegen Kants Behauptung - konstitutiv. Denn die qualitative Differenz von Stoffen derselben quantitativen Zusammensetzung mußte ein fundamentum in re haben; da sie nicht in der Zusammensetzung liegen koimte, blieb die unterschiedliche Konfiguration der Atome im Molekül. Darm muß aber dem Atombegriff eine unsichtbare Realität korrespondieren, weil Konfigurationen von Unterschiedenen nicht im Nichts vorgestellt werden können. Als weiterer Hinweis auf die Realität der Atome kam die Theorie der funktionellen Gruppen hinzu, d. h. die Annahme von identischen Konstellationen bestimmter Atomgruppen, was sich in spezifischen Nachweisreaktionen und charakteristischem Abbau dieser

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Elements als eine spezifische, dessen Eigenschaften charakterisierende Maßzahl genommen, so liegt es nahe, den qualitativen Vergleich der Elemente auf diese für sie spezifischen Maßzahlen zu beziehen, die untereinander dann verglichen werden körmen, werm sie auf eine gemeinsame Einheit (Wasserstoff = 1) normiert sind, ln der Chemie wurde zum ersten Mal 1829 ein Zusammenhang von spezifischer Qualität der Elemente und deren relativer Atommasse postuliert. Döbereiner faßte jeweils drei in ihrem chemischen Verhalten ähnliche Elemente zu Gruppen (Triaden) zusammen (CI, Br, J; S, Se, Te; Ca, Sr, Ba) und stellte fest, daß im Rahmen der erzielbaren Genauigkeit die jeweiligen Differenzen der Atommassen gleich waren (Triadenregel). 1864 entdeckte Newlands, daß bei Auflistung der Elemente nach steigender relativer Atommasse jeweils nach 7 Elementen ein Element folgt, das dem Anfangsglied der Reihe ähnlich ist. 1869 formulierten Mendelejeff und Meyer das Periodensystem, die Anordnung der Elemente in einem zweidimensionalen Schema, welches die Elemente erstens waagrecht nach steigender relativer Atommasse und zweitens senkrecht nach ähnlichen chemischen Eigenschaften auflistet. An einigen Stellen dieses Schemas blieben Plätze leer, wofür Mendelejeff Elemente postulierte und deren Eigenschaften ungefähr voraussagte (Eka-Silizium, EkaAluminium). Wenig später wurden Eka-Silizium {- Germanium) und Eka-Aluminium (= Gallium) gefimden, gerade weil die Voraussage eine gezielte Suche erlaubtei^. Für den Platz Nr. 43 war in der Natur ein funktionellen Gruppen bestätigte. Mit der Lokalisierung der Atome im Molekül war deren Realität mittelbar erschlossen. Erst dann erwies es sich als zwingend, nicht je nach Verbindimg unterschiedliche Äquivalentgewichte, sondern eine Atommasse als die richtige anzimehmen imd dann die Zahl der Atome in der Verbindung zu bestimmen. 19 Engels vergleicht diese Bestätigimg des Periodensystems mit der Bestätigung des Kopernikanischen Systems und der Newtonschen Gesetze durch Galle, der an dem vorausberechneten Ort den postulierten Planeten Neptim gefunden hatte (MEW 20. 353 rmd MEW 21. 276). Zurecht sieht Engels in diesem experimentellen Beweis des kopemikanischen Systems die „theoretische imd praktische Widerlegung" (MEW 21. 276) der Kantschen Erkenntnistheorie. Nur hätte Engels lege artis nachweisen müssen, worin Kant widerlegt wird, nämlich in der Bestimmung spekulativer Begriffe als lediglich regulativer Ideen. Sowohl Kopernikanisches System als auch Periodensystem wurden zuerst spekulativ eingeführt, als regulative Prinzipien, mit denen die Vernunft die vorhandenen empirischen Begriffe und Urteile über deren Zusammenhänge ordnet. Doch mit jenen spekulativen Begriffen konnten reproduzierbare Sachverhalte erzielt werden in Experimenten, die ohne sie nicht denkbar gewesen wären. Damit waren die zimächst regulativ eingeführten spekulativen Begriffe konstitutiv, was darauf verwies, daß sie an den Gegenständen etwas trafen. So wurden die nur aufgrimd des Periodensystems postulierbaren Elemente Eka-Aluminium und Technetium tatsächlich in der Natur gefunden bzw. künstlich hergestellt. Daraus kann geschlossen werden, daß dem zunächst nur als Ordnungssche-

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Element nicht aufzufinden. Als man die Technik der gezielten Elementumwandlung beherrschte, stellte man es künstlich her: Technetium (1937). An einigen Stellen des Periodensystems geraten die beiden Anordnungskriterien ,Auflistung nach steigender relativer Atommasse' und ,Untereinanderschreiben chemisch ähnlicher Elemente' in einen Widerspruch. Schon früh hatte man für diese Fälle das erste Kriterium verletzt und dem zweiten den Vorrang gegeben (Argon kommt vor Kalium und Tellur vor lod, obwohl es der Atommasse nach umgekehrt sein müßte). Erst viel später (1913) war es Moseley experimentell möglich, die Kernladungszahl eines Elements zu bestimmen. Damit war die Vermuhmg bestätigt, daß als ordnendes Prinzip für die Reihenfolge der Elemente letzlich nicht die relative Atommasse taugte. Vielmehr erwies sich die bisher aus dem Schema des Periodensystems lediglich erschlossene Ordnungszahl als eine meßbare physikalische Größe, die Kernladungszahl. Daß sich dennoch bereits mit dem Kriterium der steigenden relativen Atommasse ein Periodensystem aufstellen ließ, welches dann erst die Entdeckung seines eigentlichen Ordnungsprinzips ermöglichte, ist dem Umstand zu verdanken, daß von vier Fällen abgesehen, Kernladung und Atommasse gleichlaufend zunehmende. ma gefaßten Periodensystem ein fundamentum in re entspricht, nämlich, wie man später herausfand, ein gesetzmäßiger Zusammenhang der Energieterme im Atom und deren Besetzung bei steigender Kernladungszahl. Das Periodensystem war somit Voraussetzung, um auf seinen objektiven Grund zu kommen. Zwar werden die experimentellen Beweise spekulativ eingeführter Begriffe von Engels zurecht gegen Kant ins Feld geführt. Aber sie können nicht als Bestätigung des vermeintlich universellen „Hegelschen Gesetzes vom Umschlagen der Quantität in Qualität" (MEW 20.353) dienen, sondern sind Hinweis darauf, daß ein spezifisches Gesetz existiert, das Elektronenstruktur imd Eigenschaften in einen Zusammenhang bringt. 20 Wendete man das „Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität" (F. Engels: MEW 20. 348) an auf das Verhältnis von Kernladungszahlen zu chemischen Elementen (und nicht wie Engels (a. a. 0.353) auf das von ,Atomgewichten' zu chemischen Elementen), so müßte die Kernladungszahl durch Zunahme um eine Einheit jeweils in eine spezifisch andere Qualität Umschlagen. Aber die Spezifität des Elements mit der Kernladungszahl X ist nicht aus der des Elements X-1 plus quantitativem Zusatz von einer Einheit zu deduzieren. Aus der bloß numerischen Auflistung der Elemente (nach Atommassen oder Kernladungszahlen) folgt nicht, daß deren Eigenschaften periodisch wiederkehren. Vielmehr ist umgekehrt die Periodizität der chemischen Eigenschaften für die Aufstellung des Periodensystems vorausgesetzt, dessen Formulierung erst zur Entdeckimg seines eigentlichen Ordnungsprinzips ,Kemladungszahl' führte. Engels' „Gesetz" kennt kein Kriterium der Auswahl, welche Quantität (ob relative Atommasse oder Kernladungszahl) Umschlagen soll. Selbst unter Annahme der,richtigen' Quantität (der Kernladungszahl) behauptet das „Gesetz" lediglich den Umschlag von Qualität schlechthin für die Zunahme der Kernladungszahl um eine Einheit, nicht aber bei welcher Kernladungszahl welche Qualitäten auftreten. Faßt man Engels' „Gesetz" aber so - aus dem numerischen Fortschreiten der Ordnungszahl sei auf qualitativ unterschiedene Elemente zu

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Die Vorgehensweise der Chemiker folgt derjenigen Hegels: zuerst ein Maßverhältnis (Äquivalentgewicht bzw. die aus diesem mittels einer Normierung resultierende relative Atommasse); dann das System von Maßverhältnissen (Periodensystem); daraus wird dessen Grundlage erschlossen, die Ordungszahl. Diese ist nicht bloß regulatives Prinzip, sondern ihr liegt (Hegel: sie ist) ein materielles Substrat zugrunde (Protonen im Kern), welches in sich das Spezifikationsprinzip enthält (die Zahl dieser Protonen - eine Maßzahl, die für die qualitativ unterschiedenen Elemente jeweils spezifisch ist). Im Unterschied zu Hegel sagen aber die Chemiker: Die Ordmmgszahl verweist auf (nicht: ist) die qualitative Voraussetzung des Periodensystems (die verschiedenen Elemente) imd ist ein diese spezifisch bestimmendes Maß. Jene qualitative Voraussetzung geht nicht auf in aus dem System von Maßverhältnissen zurückgekehrte (imd begründete) Maßgrößen. Zudem bedarf der Moseleysche Nachweis, daß der Ordnungszahl ein „materielles Substrat" korrespondiert, experimenteller Arbeit, in die über das bisherige System von Maßverhältnissen hinausgehende theoretische Voraussetzungen (Aufbau der Atome, Elektronenschalen) eingehen. Hegels Versuch, ausgehend von einem nicht weiter bestimmten Substrat durch dessen Selbst-Spezifikation (Sich-von-sich-Abstoßen) spezifische Maßverhältnisse und damit besondere Qualitäten zu begründen, ist von Chemikern des 20. Jahrhunderts nachgeahmt worden: Substrat ist für sie die Energie. Die Lösung der Schrödinger-Gleichung für das Wasserstoffatom, welche Quantenzahlen, Eigenfimktionen und Energierüveaus ergibt, wird von ihnen fälschlich als Selbst-Spezifikation der Schrödinger-Gleichung interpretiert. Damit wäre im 1. Element des Periodensystems das Prinzip des Ordnungsschemas ,Periodensystem' enthalten; aus der Schrödinger-Gleichung für das Wasserstoff-Atom könnte das Periodensystem und somit die Spezifität der Elemente deduziert werden2i. Historisch waren für die Entdeckung der Ordnung der Elemente (also des Periodensystems) nicht nur deren Auflistung schließen - so ist dies ein analytisches Urteil, denn - und das zeigt die Wissenschaftsgeschichte - es liegt ein Zirkel vor: Nur unter der Voraussetzung chemisch imterscheidbarer Elemente und der Beobachtimg von deren periodischen Eigenschaften konnte das Periodensystem auf gestellt werden, woraus erst die Ordnungszahl sich ergab. Aus dieser wird dann wieder zurück auf qualitativ unterschiedene Elemente geschlossen. (Engels macht es wie Hegel.) Aber auch systematisch gesehen ist es unmöglich, allgemein imd ohne weitere Annahmen anzugeben, wie aus der Zunahme der Kernladungszahl um eine Einheit die Spezifität der Elemente abgeleitet werden körmte. 21 Eine solche Interpretation der Schrödinger-Gleichung mutet als epigonaler Zusammenschnitt von Prout und Engels an, vgl. die Anmerkimgen (15) und (20).

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nach steigenden Atommassen, sondern insbesondere die Beobachtung notwendig, daß bestimmte Qualitäten periodisch in derselben Reihenfolge wiederkehren. Für die Aufstellung des Periodensystems waren also die spezifischen Qualitäten der Elemente tmd deren Kenntnis vorausgesetzt. Systematisch stecken im Separationsansatz physikalische Voraussetzimgen, die selbst nicht aus der Schrödinger-Gleichung folgen; Die Aufteilung in zeitabhängige und zeitunabhängige Schrödinger-Gleichung wäre ohne die Existenz von in der Zeit stabilen Atomen bedeutungslos; die Einführung von Polarkoordinaten, ohne die die Differentialgleichung nicht lösbar ist, impliziert ein kugelsymmetrisches Feld; in den Hamilton-Operator geht das Coulomb-Anziehungsgesetz und damit die Konstellation Proton-Elektron ein. Für die Lösung der Schrödinger-Gleichimg werden also vorauszusetzende Qualitäten benötigt. Aus dem Begriff der Materie läßt sich nicht das dieselbe spezifizierende System der Elemente deduzieren - für das chemische Modell trifft es nicht zu, daß das eine bleibende, materielle Substrat in sich das Prinzip seiner Spezifikation enthielte oder daß es an sich selbst spezifizierende Einheit wäre, die imterschiedene Maßverhältnisse produzierte. Vielmehr ist nur unter Voraussetzrmg der Verschiedenheit der Substanzen die Einheit des Systems (z. B. das Periodensystem) möglich. Jede Maßbestimmung ist davon abhängig, daß spezifische Substanzen bekannt sind und unterschieden werden können; nur imter dieser Voraussetzung können stöchiometrische Relationen festgestellt werden. Die Spezifität der Substanzen, die sich in empirischen Gesetzen folgenden Reaktionen ausdrückt, enthält ein Moment von komparativer Allgemeinheit, das nicht vollständig in die Deduktion aus den die Spezifität beschreibenden Maßbestimmungen aufzulösen ist. Umgekehrt kann dieses Moment - die vorausgesetzte Spezifität der Substanzen rücht für sich tmd außerhalb des Prozesses quantitativer Bestimmung erkannt werden. Nur durch experimentelle Arbeit bekommt man heraus, daß der Wahlverwandtschaft „Trennbarkeit“ (genauer: trennbare Ionen) zugrunde liegt. Die (systematisch) vorauszusetzende Spezifität der Substanzen ist auf ihre Bestimmung in Maßverhältnissen bezogen. Letztere ermöglichen Auffinden, künstliche Darstellung bzw. Synthese neuer spezifischer Substanzen. Die hier vorgebrachte Kritik - aus der Reflexivität des Verhältnismaßes bzw. aus einem materiellen Substrat läßt sich nicht das Prinzip ihrer bzw. seiner Spezifikation deduzieren - findet unterstützende Hinweise sogar in Hegels eigenen Formulierungen der vorangegangenen Passage; Vor „bleibendes, materielles Substrat" fehlt jeglicher Artikel, also

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auch ,ein'. Damit könnte dieses „Substrat" als Vielfalt der Substanzen gelesen werden, die jeweils in ihrer besonderen „Qualität jenes Princip der Specification [...] enthalten müßte[n]", Qualitäten, die als Voraussetzungen für die Knotenlinie erschlossen wären. Falsch wird Hegels Argumentation dadurch, daß er von jenem materiellen, eine vorauszusetzende Spezifikation noch enthaltenden Substrat übergeht zu dem Prozeß der Produktion von Maßverhältnissen durch die „an sich selbst specificirende Einheit" - einem Prozeß, der an „einem imd demselben Substrate" stattfindet. Dieses Substrat ist nicht mehr materielles, auf die Vielfalt qualitativ unterschiedener Substanzen verweisendes, sondern ist lediglich als ein und dasselbe und als „Neutralität" bestimmt, wobei Hegel die Äquivokation im Begriff „Neutralität" nutzt und jetzt ,Neutralität schlechthin' versteht. Wenige Zeilen später ist das Substrat dann lediglich noch die „Scale des Mehr und Weniger", auf der die „Knotenlinie von Maaßen" sich ausbildet. Diese Verhältnisse sind von der obigen Art der Affinitäten, in welchen ein Selbstständiges sich zu Selbstständigen anderer Qualität und zu einer Reihe solcher verhält, verschieden; sie finden an einem und demselben Substrate, innerhalb derselben Momente der Neutralität statt; das Maaß bestimmt sich von sich abstossend zu andern nur quantitativ verschiedenen Verhältnissen, welche gleichfalls Affinitäten und Maaße bilden abwechselnd mit solchen, welche nur qantitative Verschiedenheiten bleiben. Sie bilden auf solche Weise eine Knotenlinie von Maaßen auf einer Scale des Mehr und Weniger.

„[...] von der obigen Art der Affinitäten [eine Säure hat eine Affinität oder Verwandtschaft zu der ihr entgegengesetzten Base, U. R.], in welchen ein Selbstständiges sich zu Selbstständigen anderer Qualität und zu einer Reihe solcher verhält" - im Kapitel Das Maaß als Reihe von Maaßverhältnißen (21. 348 ff; IV. 436 ff) wurden diejenigen Maßverhältnisse betrachtet, die sich bei stöchiometrischer Umsetzimg einer Säure mit der Reihe der unterschiedlichen Basen ergeben -, sind die in dieser Passage behandelten Maßverhältnisse verschieden; „sie finden an einem und demselben Substrate, innerhalb derselben Momente der Neutralität statt" - im chemischen Modell sind es die stöchiometrischen Verhältnisse, die die Reaktionen der Wahlverwandtschaften untereinander (wie oben anhand von Na2S04 + CaC^ ^ CaS04 i -i- 2 NaCl

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dargestellt) beschreiben. Ausgeführt hat Hegel das die systematische Argumentation der Wissenschaft der Logik wesentlich bestimmende und zugleich als bloßes Beispiel zurückgedrängte chemische Modell in der Enzyklopädie: Salze (die ausschließenden Maße, Wahlverwandtschaften) seien „als neutral für sich, [...] in keiner Differenz gegen einander" (IX. 431). Wenn sie, vermittelt durch das Wasser als das „abstracte Medium der Neutralität", zueinander „in Beziehimg" treten, bildeten sie „den vollständig realen chemischen Proceß" (IX. 431) - in der Logik: Die ausschließenden Wahlverwandtschaften kontinuieren sich ineinander und bilden ein neues „Verhältiüßmaaß". - Durch den chemischen Prozeß trete „die Particularisation der allgemeinen Neutralität, und damit ebenso die Besonderung der Differenzen der chemisch-begeisteten Körper gegen einander ein" (IX. 431 f) - in der Logik: „Die Beziehung des Verhältnißmaaßes auf sich" (nicht das „Verhältnismaaß" selbst), welche selbst nicht weiter qualifiziert ist, enthält das Prinzip ihrer Spezifikation und damit der äußerlichen, quantitativen Verhältnisse; die „an sich selbst specificirende Einheit" produziert an ihr die besonderen Maßverhältnisse. - Reagieren zwei Salze dergestalt, daß Säure- und Basenreste sich austauschen und zwei neue Wahlverwandtschaften entstehen („Particularisation der allgemeinen Neutralität" und „Besonderung der Differenzen"), so erlitten sie während und nach Abschluß der Reaktion „keine Veränderung in Ansehimgdes Zustandes der Sättigung" (IX.432) in der Logik: Die produzierten Maßverhältnisse finden an „einem und demselben Substrate, innerhalb derselben Momente der Neutralität statt"22. Hegel erweckt den Anschein, als ob er zu einem anderen Fall überginge, wo nämlich ein und dasselbe Substrat da sei. (In der Lehre vom Seyn muß Hegel so formulieren.) Dieses Substrat wurde aber schon eingeführt - die Reflexivität des „Verhältnißmaaßes" war „bleibendes, materielles Substrat". Sie erwies sich als „an sich selbst specificirende Einheit", welche an ihr Maßverhältnisse produzieren soll. Damit wird von rückwärts die reflexive Beziehung des „Verhältnißmaaßes" (die zuvor noch die der selbständigen Etwas in deren negativer Einheit war und 22 Sowohl in der 'Enzyklopädie' als auch in der Logik macht Hegel denselben Fehler: Weil alle Wahlverwandtschaften als „Neutralitäten" vergleichbar seien, liege ihnen als Substrat ein und dasselbe zugnmde (in der Enzyklopädie die „allgememe Neutralität", in der Logik die sich von sich abstoßende, an sich selbst spezifizierende Einheit), während lediglich die quantitativen Verhältnisse an diesem Substrat verschieden seien.

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auf vorausgesetzte Qualitäten - eben die der selbständigen Etwas - verwies) interpretierbar als Beziehung von „Neutralität'' auf „Neutralität". Hegel hat so ein Substrat begründet, das im aus ihm folgenden Kontinuieren sich zu verschiedenen Wahlverwandtschaften spezifiziert, das selbst nicht weiter bestimmt ist als negative Einheit zu sein und das durch lediglich quantitative Maßverhältnisse zu spezifischen Wahlverwandtschaften qualifizierbar ist. Der den Übergang zur Knotenlinie entscheidende Schritt - xmd entscheidende Fehler - ist die Ableitung der an sich selbst spezifizierenden und so Maßverhältnisse produzierenden Einheit („das Maaß bestimmt sich von sich abstossend [...]") aus der Reflexivität, die nicht weiter bestimmt war, als „bleibendes, materielles Substrat" zu sein. Wie gezeigt, scheitert Hegels Ableitung im Maßkapitel. Somit ist über die „an sich selbst specificirende Einheit" das Wesen eingeschmuggelt, nicht aber begründet. In der Subjektiven Logik bzw. in der Enzyklopädie, wo qua Systematik das Wesen enthalten ist, konstruiert Hegel die analogen Übergänge, nämlich den vom Chemismus zur Teleologie bzw. den vom chemischen Prozeß zum Organismus, konkreter und verwendet dazu dieselben schon in der Lehre vom Seyn herangezogenen, chemischen Sachverhalte. Diese sind in der Enzyklopädie (Analoges gilt für die Lehre vom Seyn) lediglich Beispiele für den Gegenstand der Naturphilosophie, die Selbstbestimmimg des Begriffs nach dessen immanenter Notwendigkeit (IX. 37). Empirische Sachverhalte können dem, was aus der Begriffsbestimmung hervorgeht, zugeordnet werden und dasselbe illustrieren, beweisen es aber nicht (IX. 38). Demnach kann die (ausführliche) Deduktion des Übergangs am chemischen Modell (in der Naturphilosophie) nicht durch Hinweis auf nicht dazu passende Seiten des chemischen Modells, welche darm der Unzulänglichkeit der Empirie geschuldet sind, widerlegt werden. Die nachfolgende Darstellimg der mit chemischen Sachverhalten angereicherten Übergänge aus der Subjektiven Logik bzw. der Enzyklopädie ersetzt also nicht die Widerlegimg der Ableitimg im Maßkapitel, sondern illustriert, weil näher am Gegenstand, den zentralen Fehler, das In-eins-Setzen von zutreffendem Rückgang in den Grund (das Erschließen eines materielles Substrats oder besser: einer Vielfalt von Substanzen als Voraussetzung des Kontinuierens der ausschließenden Wahlverwandtschaften; einer Vielfalt, die sich in Maßverhältnissen ausdrückt und erst durch das Kontinuieren und die das Kontinuieren bewerkstelligende experimentelle Tätigkeit herausgefunden imd erkannt wird) und vermeintlicher Deduktion des Grundes (der Ableitung von „Affi-

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nitäten und Maaße[n]", welche qualitativ unterschiedene Substanzen ausdrücken, aus der „an sich selbst specificirenden Einheit", die an einem besonderer Spezifikation fortschreitend beraubten Substrat (erst „Neutralität", dann „Scale des Mehr und Weniger") Maßverhältnisse produziert); Am Anfang des Chemismus ist ein sich selbst spezifizierendes Substrat nicht vorhanden. Die „Neutralität", die negative Einheit der gegeneinander gespannten chemischen Objekte (Säure und Base), geht von einer „vorausgesetzten Differenz" (12. 150, 25; V. 204) aus; die Bestimmtheit des chemischen Objektes, das seinem Begriff nach Totalität entgegengesetzter Bestimmtheiten ist, der Existenz nach einseitiges, auf sein ihm Entgegengesetztes bezogenes und gegen es gespanntes Objekt, ist „identisch mit seiner Objectivität, sie ist ursprünglich" (12.150,27; V. 204). Durch den Neutralisationsprozeß wird diese Differenz „nur erst unmittelbar aufgehoben"; im Produkt, dem neutralen Salz, ist „die Spannung des Gegensatzes und die negative Einheit als Thätigkeit des Processes erloschen [...]. Der Proceß facht sich nicht von selbst wieder an, insofern er die Differenz nur zu seiner Voraussetzung hatte, nicht sie selbst setzte" (12. 150, 31 ff; V. 204). Die neutralen Verbindungen (Salze) sind Ausgangspunkt für die zweite Stufe des chemischen Prozesses, welche die Salze in die „abstracten Körper" (IX. 440 und IX. 395 f), die ursprünglich vorausgesetzten chemischen Elemente, zerlegt. Zwar hat „die Neutralität [...] als solche eine Trennbarkeit in ihr" (21. 364,14; IV. 456; vgl. auch VIII. 412), aber „das begeistende Prinzip der Differentiirung" (VIII. 412) existiert außerhalb der „Neutralität" (12.150, 34; V. 204). „Soll der Proceß weiter geführt werden, so müssen die Salze, weil sie gleichgültig imd unbedürftig sind, wieder äußerlich an einander gebracht werden. Die Thätigkeit ist nicht in ihnen, sondern wird erst durch zufällige Umstände wieder zur Erscheimmg gebracht [...]" (IX. 433). Beide Stufen des chemischen Prozesses sind endlich imd bedingt - die erste, die Aufhebimg jener Differenz zum Neutralen, erlischt in ihrem Produkt, sie ist „bedingt durch eine unmittelbare Voraussetztmg [die gegeneinander gespannten Säure und Base, U. R.]" und „ erschöpft [...] sich in ihr" (12.152,36 ff; V. 207); die zweite, die Differentiierung des Neutralen zu den abstrakten Elementen, bedarf „äusserlich hinzukommende[r] Bedingungen und Erregungen der Thätigkeit" (12. 153, 3; V. 207). Beide haben die „unmittelbare Selbstständigkeit" (VIII. 412) der chemischen Objekte zu ihrer Voraussetzimg. Indem aber der zweite Prozeß die „ursprünglich bestimmte[n] Element[e]" (12.151,26;

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V. 205) hervorbringt, ist „die ursprüngliche Grundlage derjenigen Voraussetzung, mit welcher der Chemismus [der erste Prozeß, U. R.] begann, durch den realen Proceß [den zweiten Prozeß, U. R.] gesetzt worden" (12. 151, 30; V. 205). Doch noch sind die Endprodukte des zweiten Prozesses andere Substanzen als die Ausgangsstoffe des ersten. Und die mit jenen möglichen Reaktionen sind andere als der Neutralisationsprozeß des Anfangs (12. 153, 9-13; V. 207 f). Um den Übergang in die Teleologie als im Chemismus objektiv angelegt aufzuzeigen, zitiert Hegel eine weitere besondere chemische Reaktion (die Disproportionierung) als dritte Stufe des chemischen Prozesses. Aus dem zweiten Prozeß resultieren „elementarische Objecte [...] von der chemischen Spannung befreyt" (12.151,28; V. 205). Ilu ,,einfache[s] gleichgültige [s] Bestehen" (12. 151, 32; V. 205) - hierin unterscheiden sich diese Ausgangsobjekte des dritten chemischen Prozesses von denen des ersten, welche der Existenz nach einseitige, gegen andere gespannte Objekte sind - stehen im Widerspruch zu ihrer Bestimmtheit, dem Begriff nach Totalität entgegengesetzter Bestimmtheiten zu sein. Insofern enthalten diese Ausgangsobjekte des dritten Prozesses ,,ein[en] Trieb nach aussen [...], der sich dirimirt [vgl. das Sich-vonsich-Abstoßen aus der Lehre vom Seyn, U. R.], und an ihrem Objecte und an einem Andern die Spannung setzt, um ein solches zu haben, wogegen es sich als differentes verhalten, an dem es sich neutralisiren und seiner einfachen Bestimmtheit die daseyende Realität geben körme [...]. Die gewöhnliche Chemie schon zeigt Beyspiele von chemischen Verändenmgen, worin ein Körper z. B. einem Theil seiner Masse eine höhere Qxydation zutheilt, und dadurch einen andern Theil in einen geringem Grad derselben herabsetzt, in welchem er erst mit einem an ihn gebrachten andern differenten Körper eine neutrale Verbindung eingehen kann, für die er in jenem ersten unmittelbaren Grade nicht empfänglich gewesen wäre" (12.151, 33 ff; V. 205 f; parallel dazu IX. 444). Mit diesem dritten Prozeßes ist „der Chemismus in seinen An23 Das die systematische Argumentation hier stützende chemische Beispiel ist vermutlich die Umsetzimg von Mennige mit Salpetersäure (Pb304 + 4 HNO3 2 Pb(N03)2 -1Pb02 + 2 H2O), die Berzelius so erklärt: „Die Säure zerlegt die Meimige auf die Art, daß sie einen Theil davon zu Oxyd reducirt, während der Sauerstoff, welcher sich dabei abscheiden sollte, sich mit dem anderen Theil zu braunem Superoxyd verbindet" (J-1- Berzelius: Lehrbuch der Chemie. Übersetzt von F. Wöhler. Zweiten Bandes erste Abtheilung. Dresden 1826. 291; Pbll-nitrat geht in Lösimg, zurück bleibt Pb02 als ein in Wasser unlösliches ,,dunkelbraime[s] Pulver"). Ursache für die Disproportionierung ist hier die Säure, während an anderer Stelle in einer besonderen chemischen Eigenschaft der Mennige selbst der Gnmd für deren Disproportionienmg liegen soll: „Sie [Pb304, U. R.] verbindet

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fang zurückgegangen, in welchem gegeneinander gespannte Objecte einander suchen [...]. Auf der andern Seite hebt der Chemismus durch diesen Rückgang in seinen Begriff sich auf [...]" (12. 151, 37ff; V. 206). Denn was im dritten Prozeß „geschieht, ist, daß sich das Object nicht nach einer unmittelbaren, einseitigen Bestirmntheit auf ein anderes bezieht, sondern nach der Innern Totalität eines ursprünglichen Verhältnisses die Voraussetzung, deren es zu einer realen Beziehung [einem realen chemischen Prozeß, U. R.] bedarf, setzt [...]" (12. 152, 12-15; V. 206). Der Chemismus insgesamt ist „noch mit der unmittelbaren Selbständigkeit des Objects imd mit der Aeusserlichkeit behaftet. Er ist daher für sich noch nicht jene Totalität der Selbstbestimmung, welche aus ihm hervorgeht, und in welcher er sich vielmehr aufhebt" (12. 152, 22-25; V. 206 f). Die „Aeusserlichkeit und das Bedingtseyn" des chemischen Prozesses werden durch diesen selbst aufgehoben: in der ersten Stufe die vorausgesetzte chemische sich mit keinem anderen oxydierten Körper, ohne zugleich zu Oxyd [PbO, U. R.] reducirt zu werden" (J. J. Berzelius: A. a. O. 290). Es kann extrapoliert werden, daß Hegel gegen die Unklarheit Berzelius' so argumentierte: Weder körme die Säure allein Ursache sein, zumal Berzelius von dem Oxidationsmittel Salpetersäure annehme, es reduziere erst einen Teil der Mermige, während dann der dadurch freigewordene Sauerstoff den verbliebenen anderen Teil oxidiere. Noch disproportioniere die Mennige von selbst; also könne nicht eine ursprüngliche, vorausgesetzte Qualität der Mermige Gnmd für deren Disproportionierung sein. Erst die Verbindimg mit dem „oxydirten Körper" (und nicht dieser selbst, der ja oxidiere), also der chemische Prozeß, ein zeitlich Späteres, bewirke die teilweise Reduktion zum Bleioxid, womit der Prozeß anfange. Nun habe jeder chemische Prozeß eine chemische Differenz zu seiner Bedingrmg; Mennige könne unmittelbar nicht mit Salpetersäure reagieren (als Mennige habe sie unmittelbar keine vorausgesetzte chemische Differenz). Deshalb müsse die Mennige - dem Begriff nach Totalität entgegengesetzter Bestimmtheiten tmd so die Beziehung zur Säure enthaltend, der Existenz nach aber nicht einseitiges, auf diese bezogenes Objekt - an sich die Spannung gegen die Salpetersäure erst setzen, um sich gegen diese als differentes chemisches Objekt zu verhalten (um Pbn-nitrat zu bilden). Die chemische Differenz sei somit nicht als ursprüngliche vorausgesetzt wie in der ersten Form des chemischen Prozesses - also weder ursprüngliche Qualität der Salpetersäure noch der Mennige, sondern sei gesetzt. Der Prozeß (die Reaktion von zweiwertigem Blei mit Salpetersäure) sei „sich realistrende[r] Begriff, der sich die Voraussetzung setzt, durch welche der Proceß seiner Realisirimg bedingt ist" (12.152, 30f; V. 207). Damit sei dieser Prozeß schon Zweck, der mit der Disproportionierimg der Mennige seine Voraussetzung herstelle. - Gegen die Formulierungen Berzelius' hat Hegel recht imd auch darin, daß der Kontakt mit dem „oxydirten Körper" für die Disproportionierung wesentlich ist. Aufgrund des heutigen Wissens karm Hegels Fehler genau angegeben werden: Er setzt zwei trennbare Prozesse (die Disproportionierimg der Mennige in salpetersaurer Lösung und die Vereinigung von Pb2+ imd NO3 zu Pb(N03)2) in einen - allerdings war 1830 der Reaktionsmechanismus undurchschaut, und es gab keinen adäquaten Begriff der Katalyse. Doch nachdem die Disproportionierung durchschaut ist, taugt sie nicht mehr als Demonstrahonsbeispiel dafür, daß im Chemismus der Übergang in die Teleologie objektiv angelegt sei.

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Differenz, d. i. „die Unterschiedenheit des an sich seyenden bestimmten Begriffes von seiner daseyenden Bestimmtheit"; in der zweiten das Produkt der ersten, „die Vereinigung als bloß neutrale [...]" (12. 153,15 ff; V. 208). Resultat des sich aufhebenden chemischen Prozesses ist „die in sich gegangene, absolute Thätigkeit, als an ihr selbst sich realisirend [...], d. i. die in sich die bestimmte[n] Unterschiede s e t z t, xmd durch diese Vermittlung sich als reale Einheit constituirt, - eine Vermittlung, welche somit die eigene Vermittlung des Begriffs, seine Selbstbestimmung, und in Rücksicht auf seine Reflexion daraus in sich, immanentes Voraussetzen ist" (12.153,23-28; V. 208). Analog wie der Chemismus in die Teleologie übergeht - via des Sich-selbst-Aufhebens zum „sich realisirende[n] Begriff [dem Zweck, U. R.], der sich die Voraussetzung setzt, durch welche der Proceß seiner Realisirung bedingt ist" (12.152,30; V. 207) -, so geht das Kontinuieren der ausschließenden Wahlverwandtschaften in die „an sich selbst specificierende Einheit [...], welche an ihr Maaßverhältnisse producirt", über - via der reflexiven Beziehung des „Verhältnißmaaßes" zum Sichvon-sich-selbst Abstoßen. Heute ist die Disproportionierungsreaktion soweit durchschaut, daß sie nicht mehr zum (entscheidenden) Beweisstück für den ersten Übergang taugte, was Hegel mit dem Hinweis auf den bloß illustrierenden Charakter des chemischen Modells nicht als Widerlegimg seiner Begründung des Übergangs angesehen hätte (IX. 38). Hegel ist zuzustimmen, wenn er die Vorstellvmg des natürlichen Hervorgehens24 des Organismus aus dem chemischen Prozeß kritisiert (vgl. IX. 58 f), wenn er „Evolution", das Hervorgehen des Vollkommeneren aus dem Unvollkommeneren, und gegenläufige „Emanation" gleichermaßen als „einseitig und oberflächlich" (IX. 61) bestimmt und wenn er den Vorteil der „Emanation" allein darin entdeckt, daß mit ihr gegen die „Evolution" argumentiert werden kann; Um die unvollkommenere Stufe zu verstehen, seien sowohl der Begriff als auch die Existenz der vollkommeneren vorausgesetzt (vgl. IX. 61). - In der Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen, und erstere gäbe es nicht ohne die Existenz des Menschen. - Hegel ist aber, wie am Beispiel des Übergangs Chemismus-Teleologie geschehen, zu widerle-

24 „Solcher nebulöser im Grunde sinnlicher Vorstellimgen, wie insbesondere das sogenannte Hervorgehen z. B. der Pflanzen und Thiere aus dem Wasser und dann das Hervorgehen der entwickeltem Thierorganisationen aus den niedrigem u. s. w. ist, muß sich die denkende Betrachtung entschlagen" (IX. 59).

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gen, wenn er qua Bewegung des Begriffs aus dem Unvollkommeneren das Vollkommenere zu begründen versucht. Die vom sich von sich abstoßenden Maß produzierten, quantitativen Relationen erweisen sich einmal als vom Ausgangsmaß (einer ausschließenden Wahlverwandtschaft) unterschiedene Maße und Affinitäten und zum anderen als „nur quantitative Verschiedenheiten" am zugnmdeliegenden Substrat. Qualitativ unterschiedene „Affinitäten" (= Wahlverwandtschaften, ausschließende Maße) und bloß quantitative Verschiedenheiten wechseln sich ab, sie bilden eine „Knotenlinie von Maaßen auf einer Scale des Mehr und Weniger". Unter der Voraussetzung, die Wahlverwandtschaft wäre hinreichend als durch ein Maßverhältnis spezifizierte Verwandtschaft (als Affinitätsstärke, vgl. 21. 352, 3 ff; IV. 440, vgl. Seite 133: Die Bestimmimg der Wahlverwandtschaft als Affinitätsstärke führt auf einen Widerspruch) bestimmt, könnten Maßrelationen sich als imterschiedliche Maße und Affinitäten erweisen. Selbst werm man Hegel dies einräumte, so fehlt doch ein systematischer Grund dafür, wanun die quantitativen Relationen einmal imterschiedene Maße und Affinitäten bilden, das andere Mal bloß quantitative Verschiedenheiten bleiben und warum ein fortwährender Wechsel beider Möglichkeiten stattfindet. Ohne eine Begründimg aus dem sich spezifizierenden Maß ist die Knotenlinie von Maßverhältnissen lediglich Beschreibimg einer Gesetzmäßigkeit, nicht das von Hegel geforderte „höhere B e w e i s e n " (21. 340, 22; FV. 426). MißHngt aber die schlüssige Deduktion der Knotenlinie aus der sich von sich selbst abstoßenden, an sich selbst spezifizierenden Einheit, der Einheit von Reflexivität und quantitativer Äußerlichkeit, dann bedarf Hegels Argumentation, die ja dennoch den Übergang vollzieht, wesentlich einer zweiten physikalischen Stimme. Die Physik am Anfang des 19. Jahrhimderts kennt ,Knotenlinien'; diese werden durch eine stehende Welle z. B. auf einem longitudinal schwingenden Stab gebildet imd können durch auf dessen Flächen gestreuten Sand sichtbar gemacht werden - der Sand lagert sich zu Linien zusammen, die die Knoten der Welle anzeigen25. Hegel verwendet den physikalischen Begriff ,Knotenlinie', um auszudrücken, daß Maßverhältiüsse bei bestimmten quantitativen Relationen Knoten (d. h. verschiedene Maße und Affinitäten) bilden analog wie die stehende Welle auf dem Stab. Werm nun die Knotenlinie von Maßverhältnissen nicht aus dem Substrat, der an sich 25 F. Rosenberger; Die Geschichte der Physik. Bd. 3. Braiinschweig 1965 (Reprint Braunschweig 1887 -1890). 265.

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selbst spezifizierenden Einheit von Reflexivität und Äußerlichkeit, deduziert werden kann, dann ist der physikalische Begriff „Knotenlinie" nicht anschauliches Modell für logische Strukturen, sondern mit dem physikalischen Begriff wird ein physikalischer Sachverhalt der logischen Argumentation implantiert, die darm - als Knotenlinie von Maßverhältnissen - für alle Maßverhältrdsse gelten soll und damit universeller Schlüssel für die Erklärung von Naturgesetzen zu sein beansprucht. Eine solche Vermutung war für Hegel rücht unplausibel angesichts der großen Faszination, die zu seiner Zeit die Chladnischen Klangfiguren ausübten26. Werm allerdings Engels ein halbes Jahrhrmdert später in 26 Die Chladnischen Klangfiguren präsentieren anschaulich - um Hegels Faszination nachzuvollziehen, schaue man sich nur einmal die bei Rosenberger auf einer Seite zusammengestellten Abbildungen an (F. Rosenberger: A. a. 0.130) - verschlungene Kombinationen von Knotenlinien. Obwohl hervorragende Mathematiker und Physiker sich daran versuchten, scheiterte bis 1833 jede analytische Lösimg auch nur für die einfachsten Figuren. Auch in einem anderen Bereich, den Beugimgs- imd Interferenzerscheinungen des Lichts (Yormg, Fresnel) fand die Wellentheorie spektakuläre Aufmerksamkeit, so daß Hegel den Begriff „Knotenlinie" aus einer damals hochaktuellen und avancierten Theorie herausgriff imd eine fundamentale Bedeutimg für bis dato getreimte physikalische Disziplinen (wie Optik imd Akustik) vermuten konnte. Physiker wie Savart hatten 1820 für die Akustik verallgemeinernd angenommen, daß „alle Vibrationen, die transversalen, longitudinalen imd rotatorischen, nur als blosse Umstände einer allgemeinen und allen Körpern gemeinsamen Bewegimgsart zu bestimmen seien, die durch Molecularoscillationen erzeugt, welche nach der Richtung der einwirkenden Kräfte modificirt werden" (F. Rosenberger: A. a. O. 262). Zu diesem Postulat einer allgemeinen oszillierenden Bewegungsart in den Körpern paßt die Hegelsche Bestimmung des Klangs in der Naturphilosophie: Dieser sei „das innere Erzittern des Körpers in ihm selbst" (IX. 231), eine innere Bewegung, die in nur quantitativen Unterschieden existiere (IX. 237) und sich im Schwingen, (einer Saite, einer Luftsäule, eines Stabes), also einer sichtbaren ,,gewöhnliche[n] eigentlichejn] Bewegung" (IX. 237) äußere, welche Ortsveränderung sei im Unterschied zu der sie hervorrufenden inneren Bewegung. Dies „irmere Erzittern" köime „sich selbst" (IX. 238) anderen physikalischen Hächen mitteilen und dort Knotenlinien bilden, was Chladni anschaulich gemacht habe (IX. 238). Analog den „Erzittenmgen der Materie in sich selbst, die sich als klingend in dieser Negativität erhält" (IX. 238), ist die an sich selbst spezifizierende Einheit konstruiert, die sich in die äußerlichen quantitativen Verhältnisse abstoße und so die Knotenlinie von Maßverhältnissen bilde (wofür die Chladnischen Figuren anschauliche Demonstrationen). Aber an dem physikalischen Beispiel, das entgegen Hegels Absicht die systematische Argumentation trägt, die gleichwohl das Besondere des physikalischen Sachverhalts meint streichen zu können, läßt sich deren Fehler aufzeigen: Die physikalische Knotenlinie ist nicht aus oder durch ein qualitätsloses Substrat gesetzt, sondern ist entscheidend abhängig von der Spezifität der Schwingung, die die Chladnischen Flächen in Resonanz bringt. Bei gleicher anregender Schwingung körmen auf der resonierenden Saite oder in der resonierenden Luftsäule Oberschwingungen erzeugt werden (durch äußerliche Eingriffe wie Berühren der Saite oder Öffnen der Löcher einer Flöte an Stellen, an denen dcirm Schwingungsknoten sich ausbilden - IX. 421). Das Spezifische einer erzeugten Schwingung ist darüber hinaus abhängig von vorausgesetzten Größen wie Dicke der Saite, Elastizität des Materials etc., was Hegel für das physikalische Beispiel sogar betont: „Das Qualitative des Klanges [...] hängt von der Dichtigkeit,

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der Knotenlinie von Maßverhältnissen die Panazee oder Weltformel schlechthin sieht, kann er zumindest nicht die Begeistenmg Hegels für ein zu dessen Zeit avanciertes physikalisches Gebiet für sich geltend machen. Abstrahiert man von allen Bestimmtheiten eines Gegenstandes - in den Begriffen der klassischen Metaphysik: von allen Akzidenzien und der Substanz, darm verbleibt die prima materia. Diese ist Nicht-Bestimmtheit, Bestimmungsloses, Nichts. Von Nichts läßt sich nichts aussagen. Also enthält jede Definition der prima materia notwendig den Widerspruch: Die prima materia ist als das jeder Bestimmung Zugrundeliegende erschlossen und soll zugleich das jeder Bestimmtheit Beraubte sein. Daraus resultieren die Aporien, daß für jede Bestimmung ein völlig Bestimmungsloses notwendig ist und daß dasjenige, was in jedem Prozeß der Bestimmimg dasselbe ist (wäre die prima materia nicht dieselbe, müßte ein Unterschied angegeben werden können, dann aber wäre die prima materia dadurch bestimmt und nicht mehr bestimmungslos), Grund für die Unterschiede ist (principium individuationis). Für den die Entwicklimg der neuzeitlichen Naturwissenschaften zur Kermtnis nehmenden Hegel sind die Bestimmtheiten eines Gegenstandes ausschließlich Maße bzw. Maßverhältnisse. Das „Verhältnißmaß" war noch auf einen Unterschied der Qualitäten bezogen, nämlich die trennbaren selbständigen Etwas, die in der Wahlverwandtschaft vorhanden sind, in Beziehung treten und durch diese üu Beziehrmg bestimmt werden. Als das den Maßverhältnissen Zugn. deliegende („seyende, qualitative Grundlage; - bleibendes materielk Substrat") ergab sich dann die „Beziehung des Verhältnißmaaßes auf sich", die Reflexivität - ein allgemeines Substrat, welches noch als materiell und bleibend bestimmt war und welches „in seiner Qualität" ein vorauszusetzendes Spezifikationsprinzip „enthalten müßte". Von diesem Substrat ging Hegel über zum Maßverhältnisse produzierenden Prozeß, der Selbst-Spezifikation einer Einheit von Reflexivität imd quantitativer Cohäsion und weiter specificirten Cohäsionsweise des klingenden Körpers ab, weil die Idealität oder Subjektivität, welche das Erzittern ist, als Negation jener specifischen Qualität, sie zum Inhalte und zur Bestimmtheit hat; hiermit ist dieß Erzittern und der Klang selbst danach specificirt, imd haben die Instrumente ihren eigenthümlichen Klang imd timbre" (IX. 232 f). In der Wissenschaft der Logik streicht Hegel dasjenige des physikalischen Beispiels, was als dessen Besonderheit erscheint - daß die vorauszusetzenden Größen die Spezifität der physikalischen Knotenlinie bestimmen -, um dann für den allgemeinen Fall die Knotenlinie von Maßverhältnissen aus einem qualitätslosen Substrat zu setzen.

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Äußerlichkeit. In dieser Einheit sind die Materialität des Substrats und der in dessen „Qualität" enthaltene Verweis auf vielfältig spezifizierte Substanzen gelöscht. Für das Substrat der Selbst-Spezifikation verbleibt allein die Bestimmung, ein und dasselbe zu sein- die „Scale des Mehr und Weniger", welche ein und dieselbe für alle möglichen auf ihr sich ausbildenden Knotenlinien von Maßverhältnissen sei. Analog zur prima materia ist das Hegelsche Substrat aller Spezifität beraubt; die besonderen Qualitäten sind als Knoten beim Durchlaufen von Maßverhältnissen begründet, d. h. alle Spezifität gründet in einem Prozeß der aus der Reflexivität entspringenden Selbst-Spezifikation. Dieser gegenüber ist das Substrat nicht weiter bestimmt als quantifizierbare Skale zu sein, denn nur auf einer solchen Skale körmen Maßverhältnisse durchlaufen werden. Analog zur prima materia ist die Skale das alle möglichen Maßverhältnisse Aufnehmende (oder diesen Zugrundeliegende), das selbst kein besonderes Maßverhältnis enthält. Dadurch, daß Hegel sein Substrat mit dem physikalischen Begriff ,Skale' bezeichnet, karm er der Aporie der prima materia ausweichen: In der Physik muß eine Skale so gewählt und eingeteilt sein, daß die jeweiligen Knotenlinien überhaupt auf ihr darstellbar sind. Eine Skale karm logarithmisch oder linear sein, muß den Meßbereich enthalten etc.; „Scale des Mehr imd Weniger" ist keine hinreichende Bestimmung für eine physikalisch sirmvolle Skale. Und insofern ist jede Skale auf ihre Spezifikation bezogen. Hegel versteht stillschweigend unter „Scale des Mehr und Weniger" eine durch Auswahl imd Einteilung schon spezifizierte Skale, obwohl die Argumentation in der Wissenschaft der Logik gerade nicht zulassen karm, daß die Skale durch ihr heterogene Voraussetzungen schon bestimmt ist. Der Übergang von der Reflexivität des „Verhältnißmaaßes" (dem Sich-gegenseitig-Bestimmen der trermbaren Etwas in ihrer Beziehung aufeinander irmerhalb der Wahlverwandtschaft) zur „an sich selbst specificirenden Einheit", die an einem und demselben Substrat Maßverhältnisse und - spezifischer - die Knotenlinie produziert, hat sich als logisch nicht schlüssig herausgestellt. Doch nur mithilfe dieses Fehlers karm Hegel im Übergang vom „bleibenden, materiellen Substrat" zur „Scale des Mehr und Weniger" ein Entscheidendes beseitigen: die Beziehung des Maßes auf seine qualitativen Voraussetzungen. (Für Hegel produziert die „an sich selbst specificirende Einheit" die Knotenlinie auf einer nicht weiter qualitativ bestimmten Skale. Damit könnten aus allen möglichen quantitativen Relationen (der „Scale des Mehr und Weniger") diejenigen quantitativen Relationen herausgegriffen wer-

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den, die qualitativ unterschiedene Wahlverwandtschaften (Affinitäten) bilden - aus den mathematisch möglichen Zusammenhängen diejenigen, die Naturgesetze darstellen. So wäre aus der Reflexivität des Maßes die Beziehung des Maßes auf den Gegenstand (die qualitativen Voraussetzungen des Maßes) begründet, eine Beziehimg, die sich in den besonderen, qualitativ unterschiedenen Maßverhältnissen (den empirischen Naturgesetzen) ausdrückt. Die qualitativen Voraussetztmgen des Maßes wären in den qualitativ unterschiedenen Maßverhältnissen auf der Knotenlinie aufgegangen und aus der Reflexivität des Maßes begründet; das Maß ginge ins Wesen über.) Erweist sich dagegen der Hegelsche Übergang zur Knotenlinie als logisch nicht schlüssig, dann ist die Knotenlinie in sich bezogen auf den Unterschied der Qualitäten genauso wie zuvor die Reflexivität des „Verhältnismaaßes" auf den Unterschied der trermbaren Etwas bezogen war, welche in der Wahlverwandtschaft vorhanden sind und in ihrer Beziehung aufeinander sich gegenseitig bestimmen. Also enthält das Maß, hier bestimmt als Knotenlinie von Maßverhältnissen, in sich die Beziehung auf seine Voraussetzungen. Hegel verkehrt die dem Maß immanente Beziehung auf ihm heterogene Voraussetzungen zu einem Setzen: Die Voraussetzimgen würden durch das Abstoßen des Maßes von sich selbst begründet bzw. erzeugt werden27. Demgegenüber sei unterstrichen: Das, worauf Erkenntnis sich bezieht, ist selbst nicht aus dem Maß zu entwickeln; Naturgesetze können erkannt, aber nicht - ihrem empirischen Inhalt nach - begründet werden. Der Kommentar zum Übergang von der „Wahlverwandtschaft“ zur „Knotenlinie von Maßverhältnißen“ ist damit abgeschlossen und soll in Grundzügen rekapituliert werden: Die Wahl verwandt sch aft war durch das feste Verhältnis zweier eine Verbindung eingehender, selbständiger Maße bestimmt worden. So war sie erstens eine „Neutralität", negative Einheit der in ihr aufgehobenen Momente (Säure und Base), xmd war zweitens durch das Maßverhältnis der sie bildenden Momente (das Verhältnis der Äquivalentgewichte von Säure und Base) spezifizierte Verwandtschaft. Diese Bestimmung der Wahlverwandtschaft führt auf den Widerspruch, die 27 Jede kosmologische Theorie über die Entstehimg des Weltalls argumentiert analog wie Hegel mit einer „an sich selbst specificirenden Einheit [...], welche an ihr Maaßverhältnisse producirt"; Am Anfang sei das Plasma gewesen; dieses habe sich in sich unterschieden imd so Elemente, Planeten u.ä. gebildet. Es ist deshalb kein Zufall, daß der Hegelianer Engels die Kant-Laplace-Theorie feiert, die das Sonnensystem aus einem nicht weiter bestimmten, rotierenden Nebel entstehen läßt (MEW 20. 52 und MEW 20. 358).

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allen Wahlverwandtschaften zugrundeliegende „Neutralität" würde durch ein ihr äußerliches, quantitatives Maßverhältnis zur die Wahlverwandtschaften gegenseitig kennzeichnenden, ausschließenden Qualität spezifiziert. Dieser Widerspruch konnte gelöst werden, indem zu den Prozessen der Wahlverwandtschaften untereinander übergegangen wurde, welche Prozesse zugleich einen Prozeß der Spezifikation dieser Wahlverwandtschaften darstellten. Bezogen auf diese Prozesse standen das Ausschließen anderer möglicher Wahlverwandtschaften und das Kontinuieren in andere mögliche Wahlverwandtschaften im Gegensatz. Das Kontinuieren war zimächst als bloß quantitatives Durchlaufen von Maßverhältnissen bestimmt. Kontinuierte sich eine Wahlverwandtschaft in eine andere, darm war die Qualität (die Wahlverwandtschaft als ausschließendes Maß) in einen als bloß quantitativen Wechsel von Maßverhältnissen bestimmten Prozeß übergegangen. Doch das Kontinuieren seinerseits setzte innerhalb der zunächst nicht weiter spezifizierten „Neutralität" ein Qualitatives, Trennbarkeit, und - konkreter - trennbare, selbständige Etwas. Das der Wahlverwandtschaft immanente Verhältnis dieser trennbaren, selbständigen Etwas wurde als qualitative Grundlage der Wahlverwandtschaft erschlossen. Demnach erschienen die Qualitäten als aus dem Prozeß des Kontinuierens, dem sie zunächst vorausgesetzt und in dessen Maßbestimmungen sie vollständig ausgedrückt und aufgegangen waren, zurückgekehrt und begründet. Also setzte das aus dem ausschließenden Maß entwickelte Kontinuieren innerhalb desselben dessen qualitative Gnmdlage als Verhältnis von Relata, die ihrerseits durch ein System von Maßverhältnissen konstituiert waren, welches das In-Beziehung-Treten (die Reaktionen) der selbständigen Etwas untereinander ausdrückte. Damit erwies sich auch das Kontinuieren selbst genauer bestimmt als gedoppelte Bewegung, nämlich einmal als gegenüber der „Neutralität" äußerliche Bewegvmg (als Durchlaufen und Vergleichen von quantitativen Maßverhältnissen an der „Neutralität") und zum anderen und zugleich als In-Beziehung-Treten jener trennbaren Etwas irmerhalb von „Neutralität". Und deshalb war die aus dem Prozeß (dem Kontinuieren) zurückgekehrte und begründete Qualität, das Verhältnis der trennbaren Etwas, sowohl der „Neutralität" äußerliches (da quantitatives) Maßverhältnis als auch zugleich in der „Neutralität" gesetzt. Die Wahlverwandtschaft beruhte auf diesem ihr immanenten „Verhältnißmaaß",das seinerseits durch das System von Maßverhältnissen aller Kontinuierungsreaktionen bestimmt war. In dem „Verhältnißmaaß" waren die selbständigen Etwas nicht gleich-

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gültig gegeneinander und nicht äußerlich aufeinander bezogen, sondern negativ gesetzt; sie waren in dieser ihrer negativen Einheit als sich gegenseitig bestimmend gesetzt. Damit war die Beziehung des „Verhältnißmaaßes" auf sich neue qualitative Grundlage und unterschieden von der Äußerlichkeit und quantitativen Veränderlichkeit des „Verhältnißmaaßes". Hegel zieht dann die Differenz zwischen materiellem Substrat und reflexiver Maßbestinummg, die auf es verweist, ein, setzt Reflexivität des „Verhältnißmaaßes" gleich mit „materiellem Substrat" und postuliert, sie (es) müsse das, was die quantitative Äußerlichkeit zu besonderen Wahlverwandtschaften spezifiziere, als ihre (seine) Qualität enthalten. Wäre dieses Postulat einzulösen, könnte aus der Reflexivität des Maßes die Spezifikation der quantitativen Äußerlichkeit des Maßes (der mathematisch möglichen Relationen) zu den physikalisch zutreffenden Gesetzen abgeleitet werden. Da die „Rnotenlinie von Maaßverhältnißen" die spezifizierten Maße in besonderer Anordnung enthält, muß zur Verwirklichung des Hegelschen Programms zu dem die Knotenlinie Hervorbringenden übergegangen werden. Beide Seiten des „Verhältnißmaaßes", Reflexivität und quantitative Veränderlichkeit, fallen in eine Einheit, mit der das neue Maß erreicht ist: die „an sich selbst specificirende Einheit [...], welche an ihr MaaßVerhältnisse producirt". Dieses neue Maß ist nicht mehr wie die von Hegel zuvor entwickelten Maßbestimmungen Verhältnis von selbständigen Maßen (spezifischen Gewichten, Äquivalentgewichten, Wahlverwandtschaften) und als solche Verhältnisse von Maßen bezogen auf eine vorauszusetzende, qualitative Vielfalt von Substanzen, sondern es ist Einheit von Prozeß und Substrat, von Reflexivität und quantitativer Äußerlichkeit - eine reflexive Einheit, die in einem Prozeß der Selbst-Spezifikation Maßverhältnisse setzt, und zwar abwechselnd solche, die nur quantitative Verschiedenheiten bleiben, mit solchen, die spezifische Maße bilden, durch welche die Qualitäten vollständig bestimmt und in welchen sie aufgegangen sind. In der Transzendentalen Deduktion B hatte Kant gezeigt, weshalb die reinen Verstandesbegriffe, vermittels derer die Naturgesetze in der ursprünglichen Einheit der Apperzeption zusammenstimmen, auf die Wirklichkeit passen28. Für Hegel liegt den Naturgesetzen jene Einheit von quantitativ-äußerlicher Skale von Maßverhältnissen und reflexivem Maß zugrunde, welche durch Selbst-Spe28 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft B 164.

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zifikation Knoten produziert. Weil Hegel diesen Prozeß der Selbst-Spezifikation in die Lehre vom Seyn verlegt und als dem Wesen vorangehend xmd ihm vorausgesetzt konstruiert, ist von vornherein garantiert, daß die Verstandesbegriffe auf die Wirklichkeit passen. Die der Kantschen ursprünglichen Einheit der Apperzeption entsprechende an sich selbst spezifizierende Einheit enthält schon in sich Reflexivität (bei Hegel im Maß-Kapitel „eine seyende, qualitative Gnmdlage") und quantitative Äußerlichkeit (weil sie ja deren Einheit ist). Mit dieser Einheit ist das Substrat, ein „bleibendes, materielles", schon da und deswegen für alle Etwas bestimmend - dies Hegels ,Vorteil' gegenüber Kants Argumentation. Nur wird dieses Substrat beim Übergang von der Knotenlinie ins „Maaßlose" seiner qualitativen und quantitativen Bestimmungen beraubt (und beim Übergang ins Wesen als daseiendes entfernt) dies umgekehrt wie bei Kant. Weil die Qualitäten vollständig in Maßbestimmimgen aufgehen sollen, diese durch die an sich selbst spezifizierende Einheit produziert werden sollen und letztere im Wesen gegründet sein soll, wird das „bleibende, materielle Substrat", welches noch die Spur eines Hinweises auf qualitativ verschiedene imd dem Maß vorausgesetzte Substanzen enthält, über „Neutralität" schlechthin zur bloß quantitativen „Scale des Mehr und Weniger" entleert, während die spezifischen Bestimmungen Maßverhältnisse auf dieser Skale sind, und zwar solche, die dmch die sich selbst spezifizierende Einheit produziert werden. Naturgesetze sind spezifische Maßverhältnisse oder genauer: spezifische Verhältnisse von Maßverhältnissen, spezifiziert als die physikalisch relevanten aus den mathematisch möglichen. Die Knotenlinie von Maßverhältrdssen karm als allgemeine Beschreibung von Naturgesetzen aufgefaßt werden. Und weil das zur Knotenlinie spezifizierte Maß qualitative Momente enthält, ist die Reflexion auf seine qualitativen Voraussetzungen möglich, d. h. es kann auf seine qualitative Grundlage, ein „materielles Substrat", geschlossen werden, auf das die spezifizierten Maßverhältnisse passen, das aber nicht vollständig in ihnen aufgeht: qualitativ verschiedene Substanzen und aufeinander nicht reduzierbare Gnmdgrößen wie Masse, Energie usw. In diesem „materiellen Substrat" sind Reflexivität und quantitative Äußerlichkeit aufeinander bezogen, xmd es enthält „in seiner Qualität" das Prinzip der Spezifikation der mathematisch möglichen Maßverhältnisse. Für Hegel fällt dieses rückwärtsgehende Erschließen des Grimdes mit dem vorwärtsgehenden Weiterbestimmen des sich spezifizierenden Maßes zusammen; der Grund wäre dann als Resultat der Bewegung des sich spezifizierenden

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Maßes gesetzt. (Hegel folgerte aus den entgegengesetzten Prozessen der Wahlverwandtschaft, Kontinuieren und Ausschließen, die Trennbarkeit, dann das „Verhältnißmaaß" der trennbaren Etwas, daraus Reflexivität und Äußerlichkeit dieses „Verhältnißmaaßes", dann deren Einheit und mit dieser Einheit ihre Selbst-Spezifikation zur Knotenlinie.) Damit behauptet Hegel, die im Maß enthaltenen, qualitativen Momente wären vollständig durch das System von Maßverhältnissen bestimmt und deshalb ließen sich die vorausgesetzten Qualitäten durch aus der Selbst-Spezifikation des Maßes hervorgehende, spezifizierte Maßverhältnisse ersetzen - oder in der das Wesen vorwegnehmenden Formulierung: Das Maß setzte in der Beziehung auf sich die Bestimmung dessen, worauf es bezogen ist, des materiellen Substrats. Falsch an dieser idealistischen Subreption ist, das materielle, substantielle Verschiedenheit enthaltende Substrat als „Einheit" (denn sowohl die Verschiedenheit der besonderen Substanzen als auch der Unterschied von Massen- und Energiegrößen ist nicht auf eine „Einheit" reduzierbar das maßlose Substrat wird von Hegel als ein und dasselbe gesetzt werden) und darüber hinaus als „an sich selbst specificirende Einheit" zu fassen (denn damit ist das unlösbare Problem, wie aus einer Einheit jeweils spezifisch angeordnete Knotenlinien folgen können, lediglich umschrieben). Doch erst die (falsche) Fassimg des materiellen Substrats als eine an sich selbst spezifizierende Einheit ermöglicht es Hegel, diese aus dem Prozeß der ineinander sich kontinuierenden wie ausschließenden Wahlverwandtschaften zu deduzieren, um die so deduzierte darm als gesetzte in Reflexionsbestimmungen auflösen zu können. Damit hat Hegel drei für den Übergang ins Wesen entscheidende Bestimmungen erreicht: 1. ) Entfernt ist ein vorauszusetzendes, materielles Substrat, w der Reflexivität zugrundeliegendes, jedoch substantiell von ihr unterschiedenes und deshalb nicht in ihr aufgehendes imd zudem in sich verschiedenes Substrat erschlossen werden kann, welches Maßverhältnisse spezifiziert und in welchem Reflexivität und quantitative Äußerlichkeit aufeinander bezogen sein müssen. 2. ) Was als Substrat verbleibt, ist bloß noch rein quantitativ u als ein und dasselbe bestiiiunt: die „Scale des Mehr und Weniger". 3. ) Begründet ist ein Prozeß (das „Specificiren"), welcher aus heit von Reflexivität und quantitativer Äußerlichkeit hervorgeht. In diese Einheit ist das ihr vorausgesetzte materielle Substrat vollständig aufgegangen, welches nun, in der Gestalt der spezifizierten Knotenlinie, aus dem der Einheit entspringenden Prozeß der Selbst-Spezifikati-

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on entwickelt und abgeleitet sein soll - wobei Hegels Fehler darin liegt, das im vorwärtsgehenden Weiterbestimmen Entwickelte, das in Wahrheit lediglich eine notwendige Bedingimg für die Bestimmung des materiellen Substrats ist, in dessen zureichenden Grund zu verwandeln, damit den (zulässigen) Rückgang auf eine notwendige Bedingung für den Rückgang in den Grund auszugeben und dann diesen (vermeintlichen) ,Grund' als Resultat der Bewegung des sich spezifizierenden Maßes zu setzen. Nur so kann Hegel von einem in seiner Qualität das Spezifikationsprinzip enthaltenden Substrat zum Prozeß übergehen, dem spezifischen Durchlaufen von Maßverhältnissen auf der Knotenlinie; nur so ist das dem Maß zunächst vorausgesetzte Prinzip der Spezifikation durch die Bewegung innerhalb der Knotenlinie gesetzt. Diese Bewegung von bloß quantitativen Maßverhältnissen zu qualitativ unterschiedenen Affinitäten (Umschlag von Quantität in Qualität) wird im nächsten Absatz expliziert. Es ist ein Maaßverhältniß vorhanden; eine selbstständige Realität, die qualitativ von andern unterschieden ist.

„Selbstständige Realität" ist hier das einzige Charakteristikum für unterschiedene Qualitäten - was nicht ausreichend ist, denn „selbstständige Realität" muß allen Qualitäten zukommen. Hegel rekurriert auf seine, wie gezeigt nicht hinreichende Bestimmung einer Qualität durch ein Maßverhältnis, genauer: durch den Exponenten einer Relation von Maßen (so in den Kapiteln: Das Fürsichseyn im Maaße und Wahlverwandtschaft). „Selbstständige Realität" (eine bestimmte Wahlverwandtschaft, also ein Salz) und deren qualitativer Unterschied zu anderen (die Besonderheiten von Wahlverwandtschaften gegeneinander, die eine schließt die andere aus bzw. wird bevorzugt gebildet) sollen durch ein „Maaßverhältniß" (das stöchiometrische Verhältnis der die Wahlverwandtschaft bildenden Säure xmd Base) hinreichend bestimmt sein. Ein solches Fürsichseyn ist, weil es zugleich wesentlich ein Verhältniß von Quantis ist, der Aeusserlichkeit und der Quantumsveränderung offen; es hat eine Weite, innerhalb deren es gegen diese Veränderung gleichgültig bleibt und seine Qualität nicht ändert. Aber es tritt ein Punkt dieser Aenderung des Quantitativen ein, auf welchem die Qualität geändert wird, das Quantum sich als specificirend erweist, so daß das veränderte quantitative Verhältniß in ein

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Maaß und damit in eine neue Qualität, ein neues Etwas, umgeschlagen ist.

Ausgangspunkt ist eine besondere Wahlverwandtschaft, die „wesentlich ein Verhältniß von Quantis" („ein Maaßverhältniß") ist. Dies ausschließende Maß ist in seiner Beziehung auf sich oder in seinem Fürsichsein „sich äusserlich", es ist gegen quantitative Veränderung des Maßverhältnisses offen. Damit ist sein Sich-von-sich-selbst-Abstoßen zu zwei entgegensetzten Resultaten gesetzt (vgl. 21. 364,27; IV. 456; Seite 223 f): 1. ) Das ausschließende Maß setzt sich als ein anderes, nur qu Maßverhältnis. Die Qualität ändert sich nicht. Begründimg; Weil ein bloß quantitatives Verhältnis äußerlich gegenüber der reflexiven Beziehung, dem Fürsichsein der Wahlverwandtschaft, ist und weil in diesem Fürsichsein die „selbstständige Realität", die unterschiedene Qualität von anderen, liegt, bleibt dieses Fürsichsein gleichgültig gegen die Veränderung des quantitativen Verhältnisses, d. h. das Fürsichsein bleibt in seiner Qualität erhalten, während lediglich das ihm äußerliche quantitative Verhältnis geändert wird. 2. ) Das ausschließende Maß setzt sich als ein solches andere hältnis, „das zugleich ein anderes Maaß ist" (21. 364, 28; FV. 456). Die Qualität ändert sich. Begründung: Weil die Wahlverwandtschaft wesentlich als Maßverhältnis bestimmt ist und weil die spezifische Qualität einer Wahlerwandtschaft sich auf das Quantitative (das als Maßverhältnis angegeben wird) gründet (21. 352,3; IV. 440), muß mit einer bestimmten Verändenmg des quantitativen Verhältnisses eine Änderung der Qualität gesetzt sein. Der eine Prozeß, das Sich-von-sich-selbst-Abstoßen, wobei quantitative Veränderungen des Ausgangs-Maßverhältnisses durchlaufen werden, produziert zwei einander entgegengesetzte Resultate: die Qualität ändert sich, die Qualität ändert sich nicht. Beide Resultate höben sich gegenseitig auf, träten sie zugleich ein. Zur Lösung dieses Widerspruchs bedarf es eines Dritten, der „Scale des Mehr imd Weniger", innerhalb deren beide Resultate vereinbar sind, aber beide jeweils eingeschränkt durcheinander: Wenn das eine statt hat, dann nicht das andere. Analog argumentiert Fichte im 3. Grundatz seiner Wissenschaftslehre29: Ich und Nicht-Ich sind einander entgegengesetzt und höben sich 29 J. G. Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794). In; Fichtes Werke. Hrsg. V. J. H. Fichte. Band I. Berlin 1971.105 ff.

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gegenseitig auf, wären sie zugleich in einer Einheit. Durch einen „Machtspruch der Vernunft", der nicht aus den vorangegangenen Gundsätzen zu entwickeln ist, werden Ich sowohl als Nicht-Ich „theilbar gesetzt". Dadurch heben sie sich nicht mehr „gänzlich" auf, „sondern nur zum Theil". Der „Machtspruch der Vernunft" ist ein „Einschränken beider Entgegengesetzter durch einander": Ich setzt „im Ich dem theilbaren Ich ein theilbares Nicht-Ich entgegen"30. Bei Fichte ist der 3. Grundsatz (das Teilbar-Setzen) ein vorauszusetzendes, „besonderes Gesetz unseres Geistes"3i, während Hegel, indem er Prozeß und Substrat in der (vermeintlich deduzierten) „an sich selbst specificirende[n] Einheit" vereinigt, sowohl die Skale als auch die Spezifikation der Skale setzt; Das Dritte, in dem beide entgegengesetzten Resultate vereinbar sind, ist aus der diese Resultate hervorbringenden „an sich selbst specificirende[n] Einheit" begründet. Und zwar lautet die Begründung dafür, daß es auf der Skale ein Intervall der Veränderung des Maßverhältnisses („es hat eine Weite") gibt, irmerhalb dessen die Qualität unverändert bleibt: Das ausschließende Maß in seiner spezifischen Qualität ist gleichgültig gegen die quantitative Änderung des Maßverhältnisses. Und die Begründimg dafür, daß es auf der Skale der Änderung quantitativer Maßverhältnisse Punkte gibt, auf welchen die Qualität geändert wird: Da die spezifische Qualität der Wahlverwandtschaft hinreichend durch ein quantitatives Maßverhältnis bestimmt ist und da es qualitativ unterschiedene Maße gibt, muß das Durchlaufen quantitativer Maßverhältnisse auch zu veränderten Qualitäten führen. Zusammengefaßt: Hegel erkermt, daß die zwei entgegengesetzten Resultate der an sich selbst spezifizierenden Einheit nicht zugleich sein können. Er breitet jene auf der Knotenlinie aus: zuerst eine „Weite", innerhalb derer nur das eine Resultat, darm ein Ptmkt, an welchem das andere. Warum mal das eine, warum mal das andere und in welcher Weise sie sich abwechseln, dafür bedarf es einer zusätzlichen Begründung. Der Sache nach ist der physikalische Gehalt von ,Knotenlinie' unterstellt \md damit ein Substrat vorausgesetzt, in dem „quantitative Äeußerlichkeit" und spezifische Qualität aufeinander bezogen sind. Eine solche Voraussetzung sucht Hegel jedoch zu vermeiden. Und deshalb sollen in demselben, der an sich spezifizierenden Einheit, die die beiden entgegengesetzten Resultate produzierte, auch der Grund für deren Ausbreitung und die spezifisch abwechselnde Art der Ausbrei30 J. G. Fichte; A. a. 0.110. 31 J. G. Fichte; A. a. 0.108.

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timg in einem Dritten (der Skale) imd der Grund für die Skale selbst gegeben sein. Die Bestimmung der Wahlverwandtschaft enthielt schon den Widerspruch; Ein quantitatives Maßverhältnis wurde zur von den in ihm enthaltenen Maßen verschiedenen Qualität entwickelt. Als Seiten des Widerspruchs ergaben sich: Die Wahlverwandtschaft war quantitatives Maßverhältnis und somit quantitativ veränderliche Maßgröße. Zugleich war die Wahlverwandtschaft in ihrer Spezifität (dem spezifischen Ausschließen) nicht durch eine solche bloß quantitativ veränderliche Maßgröße (die Affinitätsstärke) zu begründen, die spezifische Qualität war negativ gegen das quantitative Maßverhältnis bestimmt (vgl. Seite 133 f). Dieser Widerspruch pflanzte sich fort - das Kontinuieren war der „Neutralität" äußerliche Bewegung von durchlaufenden Maßverhältnissen und zugleich In-Beziehimg-Treten der trennbaren Etwas innerhalb von „Neutralität" - und wurde über die zunächst einander äußerlichen Seiten des „Verhältnißmaaßes" - Reflexivität und quantitative Veränderlichkeit - bis zur „an sich selbst specificirenden Einheit" verfolgt. Erst auf der „Scale des Mehr imd Weniger" können beide Seiten des Widerspruchs als „theilbar gesetzt" (Fichte) werden und sind dann als durch- und gegeneinander eingeschränkte vereinbar: In der Kontinuität des Durchlaufens quantitativer Maßverhältnisse gibt es ein Intervall, innerhalb dessen die Qualität sich nicht ändert; darm gibt es einen Punkt, an dem die Qualität umgeschlagen ist, gefolgt von einem weiteren Intervall, innerhalb dessen die neue Qualität sich nicht ändert. Um beide Seiten der sich widersprechenden Bestimmimg der Wahlverwandtschaft (ist bloß quantitatives Maßverhältnis, ist als spezifische Qualität zugleich negativ gegen das quantitative Maßverhältnis bestunmt) ausbreiten zu körmen, ist das, worin ausgebreitet wird, die „Scale des Mehr und Weniger" vorausgesetzt - so hätte Fichte argumentiert. Dagegen ist für Hegel der Widerspruch - eiranal ändert sich die Qualität mit der quantitativen Veränderung des Maßverhältnisses, eirnnal ändert sie sich nicht - notwendig auf die quantitative Veränderung bezogen. Dies Durchlaufen der Maßverhältnisse ist durch die quantitative Grundbestimmung der Wahlverwandtschaft gesetzt. Also ist das Dritte, worin beide einander widersprechenden Seiten der Wahlverwandtschaft als durch- tmd gegeneinander eingeschränkt vereinbar sind, durch die Wahlverwandtschaft selbst gesetzt. Was über die bloße Skale durchlaufender Maßverhältnisse hinaus vorauszusetzen wäre, die spezifische Weise der Abfolge von Knoten auf dieser Skale, war von Hegel als das „materielle Substrat, welches [...] in seiner Qualität" das

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Spezifikationsprinzip enthielte, eingeführt worden und dort (21. 364, 23; IV. 456) der Sache nach vorausgesetzt. Denn für die physikalischen Knotenlinien muß ein Träger vorausgesetzt werden, auf dem sich eine stehende Welle in spezifischer Weise ausbildet (und eben Knoten mit für Anregung und Träger charakteristischen Abständen bildet). Es ist gezeigt worden (vgl. Seite 239), daß Hegel den spezifischen Wechsel von Knoten (qualitativ verschiedenen Maßen) und bloß quantitativen Verschiedenheiten nicht aus der „an sich selbst specificirende[n] Einheit" ableiten kann, sondern aus der Physik die Knotenlinie zitieren xmd deren physikalischen Gehalt der logischen Argumentation implantieren muß. An der zu kommentierenden Stelle dreht die Argumentation sich um: Weil für Hegel das - zunächst vorausgesetzte - materielle Substrat keine weitere Qualität besitzt als das Spezifikationsprinzip zu enthalten, ist es durch nichts weiter bestimmt als durch seine Funktion in der „an sich selbst specificirende[n] Einheit". Und deshalb ist es im Prozeß des Spezifizierens von quantitativ durchlaufenden Maßverhältnissen vollständig aufgegangen und verschwunden. Damit ist Hegel zum Durchlaufen quantitativer Maßverhältnisse übergegangen, welcher Prozeß selbst spezifizierend sein soll („das Quantum sich als specificirend erweist"). Legte man jene Stelle (21.364,23-25; IV. 456) zugrunde, an der das materielle Substrat eingeführt wurde, könnte man die Knotenlinie noch als beschreibendes Modell für den Zusammenhang von einerseits quantitativ veränderlichen und durchlaufenden Maßverhältnissen und andererseits sprunghaft sich ändernden Qualitäten auffassen, wobei der Zusammenhang in einem vorausgesetzten, materiellen Substrat gegründet wäre, das in seiner Qualität diesen Zusammenhang spezifizierte. Mit der Auflösung dieses Substrats in den Prozeß durchlaufender (imd zwar in spezifischer Weise, nämlich mit Knoten, duchlaufender) Maßverhältnisse, wird dieser Prozeß selbst spezifizierend. Also nicht mehr: eine durch ein vorauszusetzendes Substrat bestimmte Konstellation von kontinuierlich veränderlichen, quantitativen Maßverhältnissen imd sprunghaft umschlagenden Qualitäten, sondern: der kontinuierliche Durchlauf quantitativer Maßverhältnisse, der mit deren quantitativer Grundbestimmung gesetzt ist, erweist sich „als specificirend [...], so daß das veränderte quantitative Verhältniß [...] in eine neue Qualität, ein neues Etwas, umgeschlagen ist". Hegels Fehler läßt sich wiederum am chemischen Modell, hier: den Farbumschlägen bei Titrationen, erläutern. Und wie mit dem Begriff ,Knotenlinie' ein pysikalischer Gehalt, der nicht aus der Wissenschaft der Logik deduzierbar ist, der Argumentation implantiert wird, so transpor-

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tiert das Verb ,umschlagen' auch die besondere Bedeutung, die es innerhalb der Chemie hat; die Farbumschläge bei Titrationen sind ja eindrucksvoll: ein kontinuierliches Zutropfen - plötzlich schlägt die Farbe um. Als Beispiel diene die Titration von Phosphorsäure mit Natronlauge. Dabei können zwei sprunghafte Umschläge des pH-Werts - Chemiker benutzen ,umschlagen' als terminus technicus - beobachtet werden: der erste zwischen pH 3 und 6 (hat man wenige Tropfen des Indikators Bromkresolgrün hinzugefügt, dann schlägt im Verlauf der Titration die Farbe von Gelb nach Blau um), der zweite zwischen pH 9 und 12 (hat man Thymolphthalein hinzugefügt, schlägt die Farbe von Farblos nach Blau um). Während der gesamten Titration wird das quantitative Massenverhältnis von Phosphorsäure und Natronlauge durch gleichmäßiges Zutropfen letzterer kontinuierlich verändert. Eine Zeitlang ändert sich die Farbe („Qualität") nicht, wiewohl das quantitative Maßverhältnis Konzentration von Säure : Konzentration der Lauge durch das Zutropfen kontinuierlich verändert wird („es hat eine Weite"). Es „tritt ein Punkt dieser Aenderung des Quantitativen ein [der Äquivalenzpuivkt, der auf der Skale des Massenverhältnisses von Säure : Lauge genau angegeben werden kann, nämlich wenn eine äquivalente Menge Lauge für das erste bzw. zweite Proton zugetropft ist, U. R.], auf welchem die Qualität geändert wird [auf welchem die Farbe umschlägt, U. R.]". Diese Wahrnehmung verallgemeinert Hegel. Der plötzliche Farbumschlag ist ihm qualitativer Sprung, die neue Farbe steht für das Eintreten einer neuen „Qualität". Doch der Augenschein täuscht. Es muß imterschieden werden zwischen dem Färb- Umschlag des Indikators (mißt man sehr genau, erweist sich dieser Umschlag als ein zwar schneller, aber kontinuierlicher Übergang zwischen den Farben), der pH-Kurve in Abhängigkeit von hinzugefügter Menge Natronlauge (sie ist keine Sprungfunktion am Äquivalenzpunkt, sondern zeigt ein zwar schnelles, aber kontinuierliches, nämlich logarithmisches Ansteigen) und neu eintretender „Qualität". (Beim ersten Äquivalenzpimkt liegt vollständig NaH2P04, beim zweiten Na2HP04, jeweils in dissoziierter Form, vor. Die neue „Qualität" tritt nicht plötzlich ein - da sitzt Hegel dem Augenschein des plötzlichen Farbumschlags auf. Denn die neue „Qualität" H2PO4- bildet sich kontinuierlich schon während imd mit dem Zutropfen von NaOH bis zum ersten Umschlag. Bei Eindampfen könnte man feststellen, daß schon vor dem Farbumschlagspunkt = Äquivalenzpunkt NaH2P04 vorhanden ist.) Für das Beispiel stimmt überdies nicht, daß „das veränderte quantitative Verhältniß [...] in eine neue Qualität [...] umgeschlagen ist". Vielmehr sind unterschiedene

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Substanzen (Indikator, Ausgangsstoffe H3PO4 und NaOH, die sich bildenden NaH2P04, Na2HP04) in einer Konstellation, genauer: die Konzentrationen dieser Stoffe sind durch das Massenwirkungsgesetz miteinander verknüpft. Das „veränderte quantitative Verhältniß" (die Veränderung des Maßverhältnisses [H3PO4] : [NaOH]) ist nicht der zureichende Grund für das Auftreten der neuen „Qualität", sondern Bedingimg: Wenn mittels des Zutropfens eine Konzentration ([H+]) verändert wird, dann verschiebt sich das Gleichgewicht. Deswegen karm das Umschlagen aus dem ,,veränderte[n] quantitative[n] Verhältniß" zwar als eine richtige Beschreibung (bezogen auf das „veränderte quantitative Verhältniß" [H3PO4] : [NaOH] treten neue „Qualitäten" wie Farben, neue Stoffe ein) angesehen werden, ist aber nicht die Erklänmg des Grundes für deren Eintreten. Das Verhältniß, das an die Stelle des ersten getreten, ist durch dieses bestimmt theils nach der qualitativen Dieselbigkeit der Momente, die in Affinität stehen, theils nach der quantitativen Continuität. Aber indem der Unterschied in dieses Quantitative fällt, verhält sich das neue Etwas gleichgültig gegen das Vorhergehende, ihr Unterschied ist der äusserliche des Quantums.

Die Passage sei wieder am Beispiel der Titration von Phosphorsäure mit Natronlauge erläutert: „[...] qualitative Dieselbigkeit der Momente, die in Affinität stehen" - die trennbaren Etwas, Säurerest der Phosphorsäure und Basenrest der Natronlauge, wobei für Hegel imd die damaligen Chemiker rdcht bekannt war, daß zur Phosphorsäure verschiedene Säurereste je nach pH-Wert gehören; „quantitative Continuität" - das kontinuierlich sich ändernde Mengenverhältnis von Phosphorsäure und Natronlauge während der Titration; „das Verhältrdß, das an die Stelle des ersten getreten" - die „neue Qualität" nach dem Farbumschlag. Doch der dem Augenschein nach sprunghaft eingetretenen, neuen Farbe läßt sich unmittelbar keine neu imd sprunghaft eintretende Qualität oder Substanz wie H2PO4- zuordnen. Denn dieses ist schon zu Anfang der Titration in gewissem Ausmaß vorhanden tmd seine Konzentration steigt mit dem Zutropfen von Natronlauge an, während der Augenschein noch für die Konstanz der alten Qualität (die Farbe Gelb als Qualität oder Indikator für Qualität genommen) spricht. Beim Umschlagspunkt liegen darm z. Teil noch die alte Qualität (H3PO4), die neue Qualität (H2PO4-) und eine weitere (HPO42-) vor. Während bei weiterer Zugabe von NaOH die Farbe Blau und die da-

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durch vermeintlich angezeigte, neue Qualität als konstant erscheint, verschwindet H2PO4- schon wieder kontinuierlich zugunsten von HPO42-. Selbst wenn man „neue Qualität" mit NaH2P04 (bezogen auf den ersten Umschlag, die alte Qualität wäre dann H3PO4) gleichsetzte und den Zeitpunkt des Eintretens bzw. die vollständige Bildtmg dieser Qualität einmal außer Acht ließe, könnte der Unterschied der Qualitäten nicht hinreichend durch das veränderte quantitative Maßverhältnis bestimmt werden - ebensowenig wie der Unterschied von Na2HP04 zu NaH2P04 (beim zweiten Umschlag) durch einen weiteren Knoten auf der Skale des stöchiometrischen Mengenverhältnisses von Phosphorsäure und Natronlauge. Denn aus dem stöchiometrischen Mengenverhältnis folgen weder die spezifischen Eigenschaften von NaH2P04 bzw. Na2HP04 noch deren Energiegrößen, pKg-Werte etc. Aus dem Kapitel Wahlverwandtschaft schleppt Hegel den Fehler mit, daß die spezifische Qualität der Wahlverwandtschaft bzw. die qualitativen Unterschiede der Wahlverwandtschaften untereinander auf dem quantitativen Maßverhältnis gründeten oder aus ihm zu entwickeln wären. Aber - für das behandelte Beispiel formuliert - die Unterschiede der Stoffe H3PO4, NaH2P04, Na2HP04 imd deren besondere Qualitäten, wiewohl nur durch Maßverhältnisse bestimmbar, lassen sich nicht auf den Unterschied eines durchlaufenden quantitativen Maßverhältnisses bringen. Nur werm es so wäre, erwiese sich der Hegelsche Schluß als richtig, und dann verhielte sich „das neue Etwas [NaH2P04 bzw. Na2HP04, U. R.] gleichgültig gegen das Vorhergehende [H3PO4 imd NaOH bzw. NaH2P04 und NaOH, U. R.]". Sachlich stimmt das wiederum nicht: Die neu eintretende Qualität (NaH2P04) ist spezifisch mit der vorhergehenden (H3PO4) verknüpft - durch eine chemische Reaktion. „Ihr Unterschied" ist nicht ein ihnen bloß äußerlicher, sondern an ihnen selbst ist der chemische Prozeß (eine Protonenübertragrmgsreaktion) in die jeweils andere gesetzt. Es ist also nicht aus dem vorhergehenden, sondern unmittelbar aus sich hervorgetreten; d. i. aus der innerlichen, noch nicht ins Daseyn getretenen specificirenden Einheit.

Dies der korrekte Schluß aus einer falschen Prämisse: Wenn der Unterschied von NaH2P04 imd Na2HP04 bloß in der Verschiedenheit eines quantitativen Maßverhältnisses (des Mengenverhältnisses von H3PO4 und NaOH bzw. genauer: des Mengenverhältnisses der „Momente, die in Affinität stehen") läge und wenn demzufolge die

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„neue Qualität" (Na2HP04) „gleichgültig" gegen die vorhergehende (NaH2P04) wäre, dann ginge Na2HP04 nicht „aus dem Vorhergehenden" (NaH2P04 und NaOH als zu Na2HP04 verschiedene Qualitäten genommen), sondern „unmittelbar aus sich" hervor. (Es selbst ist besonderes Maßverhältnis an einem Substrat, das dieselben in Affinität stehenden „Momente" wie zuvor enthält, wo NaH2P04 nur durch eine anderes Maßverhältnis an diesem Substrat unterschieden wird.) Die „neue Qualität" kaim zuvor noch nicht als solche vorhanden gewesen sein (denn zuvor war die alte Qualität imd eine bloß quantitative Verändenmg von deren Maßverhältnis an dem Substrat) und muß deshalb sprunghaft, durch Umschlag, ins Dasein treten. Für Hegel bleibt das Substrat für den Durchlauf der Maßverhältnisse (allgemein gefaßt als die „Scale des Mehr und Weniger") ein und dasselbe während des gesamten Prozesses (für das chemische Beispiel stimmt das nicht: das eine in Affinität stehende „Moment" (der Säurerest der Phosphorsäure) niirunt je nach pH-Wert qualitativ verschiedene Formen an) imd kann deshalb nicht Umschlagen. Dasjenige, was umschlägt, ist „das veränderte quantitative Verhältrüß", d. h. das Maßverhältnis im Prozeß seiner Veränderung. In diesem Prozeß bleiben die qualitativen „Momente, die in Affinität stehen" (die trennbaren Etwas, Säurerest der Phosphorsäure und Basenrest der Natronlauge), dieselben; neue (Na2HP04) imd alte (NaH2P04) Qualität, da bestimmt als Maßverhältnisse derselben qualitativen Momente, stehen in einem Verhältnis quantitativer Kontinuität. Weil der Unterschied von neuem zu altem Maßverhältnis „der äusserliche des Quantums" ist, ist das neue Etwas „gleichgültig gegen das Vorhergehende" und kann als diskontinuierliche, neue Qualität nicht aus einem ihr gleichgültigen, vorhergehenden Maßverhältnis hervortreten, welches dieselben qualitativen Momente enthält imd im Verhältnis „quantitativer Continuität" mit dem Maßverhältrds der neuen Qualität steht. Dafür, daß die Qualität im Verlauf der kontinuierlichen Veränderung des Maßverhältrüsses mal umschlägt und mal nicht umschlägt, bedarf es einer über den quantitativen Durchlauf hinausgehenden Begründung. Daß die neue Qualität aus der vorhergehenden, und zwar aus den als vorauszusetzende Substanzen verstandenen NaH2P04 und NaOH hervorgeht, hat Hegel ausgeschlossen. Denn die neue Qualität ist gleichgültig/äußerlich gegen die vorhergehende gesetzt. Übrig bleibt: Die neue Qualität tritt „unmittelbar aus sich" hervor, und dies bedeutet, da sie duch einen Sprung ins Dasein tritt und vor dem Sprung noch nicht „wirklich vorhanden" (vgl. 21.368,14; IV 461) war: „aus der innerlichen, noch nicht ins Dase)m getretenen specificirenden Einheit".

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Diese Einheit ist negativ bestimmt: Sie ist nicht das quantitativ veränderliche Maßverhältnis (sie soll vielmehr dieses „specificiren"), sie ist nicht vorauszusetzende Qualität (die besonderen Substanzen NaH2P04 und NaOH, aus denen, wie heute Chemiker sagen, die neue Substanz hervorgeht), sie ist auch nicht das „bleibende, materielle Substrat, welches [...] in seiner Qualität jenes Princip der Specification [der quantitativen Maßverhältnisse, U. R.] enthalten müßte" (21. 364, 24; IV. 456). Deim dieses materielle Substrat war bleibend und also daseiend. (Hegel schloß an der zitierten Stelle auf eine der Sache nach vorauszusetzende Qualität, wiewohl schon der Konjunktiv „müßte" ein Fragezeichen setzte, ob dieses Substrat die entscheidende, spezifizierende Qualität enthielt oder nicht.) Demgegenüber ist die „innerliche [...] Einheit" „noch nicht ins Daseyn" getreten und scheidet deshalb als vorausgesetzte Qualität oder als materielles, bleibendes Substrat aus. Diese Einheit, aus der die neue Qualität hervortritt, ist selbst nicht Qualität, nicht quantitatives Maßverhältnis, nicht vorausgesetzt und noch nicht ins Dasein getreten - und ist so schon Wesen. „Im Maaß war an sich schon das Wesen und sein Proceß besteht nur darin, sich als das zu setzen, was es an sich ist" (VIII. 259; vgl. 21.326,18; IV. 409). Irmerhalb einer Seite geht Hegel von dem materiellen Substrat, das in seiner Qualität das Spezifikationsprinzip für die Maßverhältnisse enthalten müßte, zu der „innerlichen, noch nicht ins Daseyn getretenen specificirenden Einheit" über. Für Hegel ist die neue t lalität hinreichend durch bestimmte Negationen bestimmbar: Die n re Qualität ist nicht aus dem Vorhergehenden hervorgetreten; sie st^ it nicht im Verhältnis quantitativer Kontinuität zum Vorhergehenden. So ist sie den quantitativ-kontinuierlichen Durchlauf negierender, qualitativer Sprung. Genau in dieser Behauptung, die bestimmte Negation des Verhältnisses quantitativer Kontinuität zum Vorhergehenden ist das neue Qualitative, liegt Hegels Fehler. (Richtig wäre: Diese bestimmte Negation ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bestirrunimg des neuen Qualitativen.) Ist diese bestimmte Negation alleiniges spezifizierendes Prinzip für die Qualitäten, kann auf das diese bestimmte Negation Hervorbringende oder ihren Gnmd geschlossen werden: die noch nicht ins Dasein getretene, spezifizierende Einheit. Die neue Qualität tritt darm also letztlich aus einer nicht daseienden Einheit vermittelt über die bestimmte Negation quantitativ-kontinuierlicher Verändenmg hervor dies die Hegelsche Variante der creatio ex nihilo; nihil: die noch nicht ins Dasein getretene, an sich selbst spezifizierende Einheit, die erstens reflexiv ist und zweitens Negation der Negation enthält tmd so an sich

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schon sich auf sich beziehende Negation ist - vgl. Seite 211: Die trennbaren Etwas (Ionen) sind (im Kristallgitter) in ein festes Verhältnis, d. i. negativ gesetzt. Solche Negation der Negation ergibt eine negative Einheit, innerhalb derer die trennbaren Etwas als sich gegenseitig bestimmend gesetzt sind, was auf Reflexivität (Reflexivität des „Verhältnißmaaßes") als qualitative Grundlage oder Substrat für einen Spezifikationsprozeß schließen läßt. Die Einheit bezieht sich negativ auf sich, d. i. sie stößt sich von sich ab; creatio: die noch nicht ins Dasein getretene Einheit erschafft aus sich dadurch, daß sie an sich selbst spezifiziert; Mittel der creatio oder Spezifikationsprinzip ist die bestimmte Negation quantitativer Kontinuität (d. h. des kontinuierlichen Durchlaufes von Maßverhältnissen); Produkt dieser creatio ist der qualitative Sprung, als der ein spezifiziertes Maß bestimmt ist. Insofern ist die neue Qualität „aus sich" hervorgetreten, d. i. aus einer innerlichen, selbst „noch nicht ins Daseyn getretenen" Einheit, die die bestimmte Negation und über die qualitativen Sprünge die Spezifikation zu Qualitäten hervorbringt. Hegels Fehler, die neue Qualität mit der bestimmten Negation quantitativer Kontinuität gleichzusetzen, erweist sich damit für Hegels Programm als notwendig. Derm nur eine so bestimmte Qualität kann aus der sich selbst spezifizierenden Einheit, die an sich schon das Wesen ist, gesetzt und begründet werden. Die neue Qualität oder das neue Etwas ist demselben Fortgange seiner Veränderung unterworfen und sofort ins Unendliche.

Ein Vorgriff in das nächste Kapitel C. Das Maaßlose (21. 369,15 ff; IV. 462 ff). Insofern der Fortgang von der Qualität in stätiger Continuität der Quantität ist, sind die einem qualificirenden Punkte sich nähernden Verhältiüsse quantitativ betrachtet, nur durch das Mehr und Weniger unterschieden. Die Veränderung ist nach dieser Seite eine allmählige. Aber die Allmähligkeit betrift bloß das Aeusserliche der Verändenmg, nicht das Qualitative derselben; das vorhergehende quantitative Verhältniß, das dem folgenden unendlich nahe ist, ist noch ein anderes qualitatives Daseyn. Nach der qualitativen Seite wird daher das bloß quantitative Fortgehen der Allmählichkeit, das keine Grenze an sich selbst ist, absolut abgebrochen; indem die neu eintretende Qualität nach ihrer bloß quantitativen Beziehung eine gegen die verschwindende unbestimmt andre, eine

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gleichgültige ist, ist der Uebergang ein Sprung; beyde sind als völlig äußerliche gegeneinander gesetzt. Der „Fortgang" beginnt mit einer „Qualität" (im Beispiel: NaH2P04), die hinreichend durch ein spezifisches Maßverhältnis bestimmt sein soll (das Mengenverhältnis von Phosphorsäure und Natronlauge bzw. der in Affinität stehenden „Momente"). Der „Fortgang" von dieser Qualität weg, wobei sie zunächst erhalten bleibt, ist die kontinuierliche Veränderung des Maßverhältnisses, welche durch die kontinuierliche Zugabe von Natronlauge bei der Titration bewirkt wird. Die sich dem Umschlagspunkt (= Äquivalenzpunkt für das 2. Proton) nähernden Maßverhältnisse sind „nur durch das Mehr und Weniger unterschieden", auch der Umschlagspunkt („qualificirende Punkt") läßt sich auf dieser Skale angeben und beliebig annähem. Die quantitative Veränderung des Maßverhältnisses, aufgetragen gegen die Zugabe an NaOH (dies der „Fortgang" der Titration), ist eine stetige Funktion: „die Veränderung ist [...] eine allmählige", „in stätiger Continuität der Quantität"; „das vorhergehende quantitative Verhältniß" ist dem des Äquivalenzpunktes „unendlich nahe"; das „quantitative Fortgehen der Allmähligkeit" hat „keine Grenze an sich selbst", d. h. gibt man eine beliebig kleine, positive Zahl (Grenze) vor, so kann die Differenz des Maßverhältnisses am Äquivalenzpimkt zu einem vorhergehenden Maßverhältnis diese Zahl immer unterschreiten (oder jede vorgegebene „Grenze" negieren), was gleichbedeutend mit der Formulierung ist: das vorhergehende Maßverhältnis kommt dem des Äquivalenzpunktes „unendlich nahe". Von dieser „Allmähligkeit" ist die Änderung der Qualität unterschieden - und zwar durch bestimmte Negation: Die Änderung der Qualität ist nicht „Allmähligkeit" (= stetige Verändertmg des quantitativen Maßverhältnisses), ist also (am Äquivalenzpunkt) nicht stetig oder „absolut abgebrochen": eine Sprungstelle in der Funktion, die den Maßverhältnissen Qualitäten, zuerst die alte, darm die neue, zuordnet. Die „Veränderung" selbst - der Fortgang auf der Knotenlinie - hat zwei Seiten, eine äußerliche (den stetigen Durchlauf der Maßverhältnisse) und eine qualitative (die unstetigen Sprünge für die Qualität). War zuvor (21. 364,20-22; IV. 456) von der quantitativen Äußerlichkeit deren qualitative Gnmdlage, ein materielles Substrat unterschieden, welches eine diese Äußerlichkeit spezifizierende und systematisch vorauszusetzende Qualität „enthalten müßte", so ist jetzt der Prozeß der Veränderung von Maßverhältnissen gesetzt, ein Prozeß, in dessen zwei Seiten das Verhältnis von Substrat zu quantitativer Äußer-

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lichkeit aufgelöst ist. Beide Seiten stehen im Verhältnis der bestimmten Negation: Ist der stetige Durchlauf der Maßverhältnisse „das Aeusserliche der Veränderung", so ist demgegenüber die Qualitätsänderung nicht äußerlich und nicht stetig. Als bestimmte Negation der äußerlichen und „allmähligen" Seite ist die qualitative Verändenmg auf die quantitative bezogen und durch diese wesentlich bestimmt: Das „quantitative Fortgehen der Allmähligkeit" bricht ab. Damit hat Hegel die bisherige, einen Widerspruch enthaltende Bestimmung der Qualität in der Wahlverwandtschaft (das spezifische Ausschließen sei aus einem quantitativen Maßverhältnis entwickelbar und durch ein solches bestimmt) in eine Bestimmung des Prozesses transponiert, nämlich das Abbrechen des stetigen, quantitativen Fortgehens von Maßverhältnissen „nach der qualitativen Seite" hin. Qualität ist endgültig nicht mehr Voraussetzimg und Zugnmdeliegendes für eine Maßbestimmung, sondern resultiert aus dem Prozeß: Sie ist als bestirmnte Negation (als Abbrechen) von dessen einer Seite, des stetigen Durchlaufens quantitativer Maßverhältnisse, gesetzt/begründet. Die „neu eintretende Qualität", bisher bestimmt als quantitatives Maßverhältnis imd damit als eine gegen die vorherige Qualität, die sich nur durch ein anderes quantitatives Verhältnis unterscheidet, „unbestimmt andere, eine gleichgültige"32, ist jetzt insoweit spezifisch bestimmt, als der äußerliche, bloß quantitative Unterschied der Maßverhältnisse (ein Unterschied des „Mehr und Weniger" und deshalb auf der Skale angebbar) negiert wird. Die Qualität ist als „Sprung", als Abbruch der „Allmähligkeit" oder bestimmte Negation der quantitativen Äußerlichkeit, positiv gesetzt. Das, was diese quantitative Äußerlichkeit spezifiziert, ist dessen bestimmte Negation. Aber diese Spezifikation enthält keine über die bestimmte Negation der „Allmähligkeit" hinausgehende Bestirrmumg - der qualitative „Sprung" ist Unstetigkeit ohne weitere Bestimmung. Beide Qualitäten, die neu eintretende und die verschwindende, „sind als völlig äußerliche gegeneinander gesetzt". Während es in der Fassung von 1812/13 hieß: „die verschwundene und die neu eintretende sind völlig äusserliche" (11.217,23 f), betont Hegel in der Überarbeitung von 1832, daß sie gegeneinander „gesetzt" sind, gesetzt durch einen „Sprung" (= durch das Abbrechen des stetigen Durchlaufes quantitativer Maßverhältnisse). Und beide Qualitäten sind „als völlig äußerliche gegenein32 vgl. 21. 364,15; IV. 456. Dort ist die Bestimmung der „Gleichgültigkeit" eingeführt worden. Die selbständigen Etwas waren in der „Neutralität" als „gleichgültig" gegeneinander zurückgekehrt (vgl. Seite 208).

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ander gesetzt", d. h. die Bestimmung der Qualität durch ein äußerliches, quantitatives Maßverhältnis (in der „Wahlverwandtschaft") setzt sich in der jetzt gewonnenen Bestimmimg der Qualität durch die Negation des „allmähligen" Durchlaufes von Maßverhältnissen fort - der Sprung erweist sich als einer zwischen völlig äußerlichen und nicht weiter spezifisch oder durcheinander bestimmten Qualitäten. Dieser Sprung (und die durch ihn gesetzte Qualität) enthält beide Seiten des Prozesses (des Fortgangs von Maßverhältnissen auf der Knotenlinie), die äußerlich „allmählige" und die diese negierende, unstetige (= die „qualitative") Seite. Daß die (neue) Qualität durch den „Sprung" und dieser durch die bestimmte Negation der „ Allmähligkeit" erklärt wird, erhellt im nachhinein den Satz aus 21.365,10 f; IV. 457: „[...] das Quantum [erweist, U. R.] sich als specificirend". Der stetige, quantitative Durchlauf erweist sich dadurch als spezifizierend, daß er in der bestimmten Negation seiner „Allmähligkeit" sich auf sich bezieht, so zur qualitativen Seite abbricht und den Umschlag in die (neue) Qualität setzt. Also muß für den Umschlag Reflexivität vorausgesetzt werden, welche Hegel dann auch im Verhältnis der trermbaren, selbständigen Etwas als an sich vorhanden entdeckt hat: die „Beziehung des Verhältnißmaaßes auf sich" (21. 364, 20; IV. 456). Die Reflexivität erscheint in der Gestalt des sich von sich selbst abstoßenden, ausschließenden Maßes, wodurch ein Durchlauf quantitativer Maßverhältnisse imd dessen negative Beziehimg auf sich selbst begründet ist. Die bestimmte Negation der kontinuierlichen Veränderung setzt dann den qualitativen Sprung. Und ebenfalls wird der Begriff „qualificirender Punkt" (21. 365, 22; IV. 457) erhellt: Nach Euklid33 ist ein Punkt das, „was keine Teile hat". In dieser Definition ist Punkt negativ auf Teilbarkeit oder Kontinuität bezogen. Werm nun Punkt negierte Kontinuität ist und wenn der qualitative Spnmg hinreichend durch die bestimmte Negation des kontinuierlichen Durchlaufes von quantitativen Maßverhältnissen bestimmt ist, dann fallen Prmkt und qualitativer Sprung zusammen, d. h. ein Punkt jenes Kontinuums durchlaufender Maßverhältnisse müßte dieses „qualificiren" (aktivisch). Aber an diesem Begriff des „qualificirenden Punktes" wird zugleich deutlich, daß Hegels Argumentation problematisch, d. i. keineswegs zwingend ist: Solches Qualifizieren der Kontinuität träfe für jeden Punkt zu; das von Hegel gemeinte - und logisch erschlichene - weiter33 Euklid: Die Elemente. Übersetzt imd hrsg. von C. Thaer. Darmstadt 1975 1.

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gehende „Qualificiren" soll jedoch nur wenigen, besonderen Punkten auf der Knotenlinie zukommen.

Das Resultat der Hegelschen Argumentation sei fixiert: Veränderung - imd jeder Vorgang in der Natur ist Verändenmg und kann als Veränderung von Maßverhältnissen auf der Knotenlinie gefaßt werden - hat zwei Seiten, „allmähliger" Durchlauf quantitativer Maßverhältnisse und qualitativer „Sprung“. Letzterer ist bestimmte Negation der „Allmähligkeit“. Durch den Sprung sind Qualitäten gesetzt - während zuvor als Gnmd der widersprechenden Bestimmxmg der Wahlverwandtschaft noch eine vorausgesetzte Qualität hätte erschlossen werden können - und sind nicht weiter bestimmt als „als völlig äußerliche gegeneinander“. Während noch eine Seite vorher die Knotenlinie als (richtige) Beschreibung der Konstellation von quantitativ kontinuierlichen Maßverhältnissen und qualitativen Sprüngen zu lesen wäre, aus der auf vorausgesetzte, unterschiedene Substanzen als materielles Substrat für eine solche Konstellation hätte geschlossen werden können^^, ist jetzt das Abbrechen des „allmähligen“ Durchlaufes eine vermeintlich hinreichende Begründung für den qualitativen „Spnmg“. Die Einwände gegen Hegels Entwicklimg des qualitativen „Sprungs“ aus dem „allmähligen“, quantitativen „Fortgehen“ lassen sich am behandelten chemischen Beispiel des Farbumschlages bei einer Titration erläutern: Dort sind ein „allmähliger“ Durchlauf quantitativer Maßverhältnisse (durch kontinuierliche Zugabe von Lauge verändert sich das Konzentrationsverhältnis der Anionen HPO42- und H2PO4-) und „neu eintretende“ Qualität (der Sache nach ist das Anion HPO42mit einem spezifischen pKs-Wert, verschieden von dem des „verschwindenden“ Anions H2PO4-, die „neu eintretende“ Qualität, dem Augenschein nach schlägt die Farbe des Indikators um) in einem Zusammenhang. Diesen Zusammenhang formuliert Hegel als Veränderung von Maßverhältnissen auf der Knotenlinie; dort stünden quantitative und qualitative Seite im Verhältnis, imd zwar wäre das „bloß quan34 An der Stelle 21. 364, 22-25; IV. 456 war als Grund für die Spezifikation der Äußerlichkeit (und damit für den Sprung auf der Knotenlinie) eine Qualität angegeben worden, die, enthalten in einem materiellen Substrat, systematisch vorausgesetzt werden muß. Dieses Substrat wurde seiner qualitativen Bestimmungen beraubt bis hin zur bloß quantitativen „Scale des Mehr imd Weniger". Als Gnmd für deren Spezifikation zu Knoten wurde dann (21. 365,18; IV. 457) eine „innerliche, noch nicht ins Daseyn getretene specificirende Einheit" postuliert. Vermittels dieser kann jetzt (21.366,1-3; fV. 458) der qualitative Sprung durch Negation des stetigen Durchlaufs quantitativer Maßverhältnisse begründet werden.

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titative Fortgehen der Allmähligkeit" nach der qualitativen Seite „absolut abgebrochen"; an einem nicht weiter bestimmten, im Verlauf der Veränderung unveränderlichen Substrat träte duch diesen Abbruch des Durchlaufes von Maßverhältnissen eine neue Qualität als „völlig äußerliche" gegen die alte ein. Für das Beispiel stimmt das nicht: Die neue Qualität HPO42- tritt nicht erst am Umschlagspunkt ein. Der Unterschied von neu eintretender (HPO42-) und verschwindender (H2PO4-) Qualität ist hinreichend weder durch das quantitativ verschiedene Maßverhältnis (die stöchiometrisch verschiedene Zusammensetzung, also die Summenformel) noch durch einen nicht weiter bestimmten und so die Qualitäten äußerlich gegeneinander setzenden „Sprung" charakterisierbar. (Denn beide Qualitäten sind in spezifischer Weise unterschieden, so z. B. durch pKg-Werte, die zwar in Maßverhältnissen angegeben werden können, welche aber verschieden von den stöchiometrischen Maßverhältnissen sind.) Neu eintretende und verschwindende Qualität sind nicht „als völlig äußerliche gegeneinander gesetzt", weil sie erstens von einem gemeinsamen Grundkörper H3PO4 stammen und weil sie zweitens durch eine chemische Reaktion, die Abdissoziation eines Protons, verknüpft sind. Diese chemische Reaktion, die einen Zusammenhang zwischen beiden Qualitäten (Substanzen) herstellt, wird durch eine dritte Qualität, nämlich durch von stöchiometrischen Maßverhältnissen verschiedene Energiegrößen (die Freie Enthalpie der Reaktion, woraus sich die Gleichgewichtskonstante ergibt), spezifiziert. Im Massenwirkungsgesetz sind die Maßverhältnisse (Konzentrationen) in einem - quantitativ bestimmbaren und durch Energiegrößen spezifizierten - Zusammenhang, aus dem aber nicht auf die Qualitäten HPO42- und H2PO4-, auf die er sich bezieht und die ihm vorausgesetzt sind, zurück - oder übergegangen werden kann. Durch jenen Zusammenhang ist vielmehr das Maßverhältnis beider Qualitäten, das Verhältnis von deren Konzentrationen, mit dem pH-Wert verknüpft, welcher dem Augenschein nach, zumindest wenn man dem Farbumschlag des Indikators folgt, einen qualitativen Sprung macht. Trägt man den pH-Wert gegen das Maßverhältnis [HPO42-] : [H2PO4-] auf pH = pKs -h lg

[HPO4 (Henderson—Hasselbalch —Gleichung), [H2PO4 -]

so gibt es einen Bereich, in dem sich das quantitative Konzentrationsverhältnis „allmählig" ändert und der pH-Wert in etwa konstant bleibt; nimmt man die Farbe des pH-Indikators als das Qualitative, so ändert

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dieses sich nicht. Die „allmählige" Veränderung des quantitativen Konzentrationsverhältnisses (bewirkt durch das zu beobachtende, kontinuierliche Zutropfen der Lauge) wird zu einem Punkt hin „absolut abgebrochen", an dem obige Funktion eine Unstetigkeitsstelle hat, nämlich für [H2PO4-] = 0. Dieses Abbrechen wird als pH-Umschlag beobachtet: Die Farbe des Indikators (für Hegel die Qualität) schlägt um. Folgt man ausschließlich dem Augenschein dieser Titration, so paßt darauf Hegels Modell. Die naturwissenschaftliche Erkermtnis des der Titration zugrundeliegenden Gesetzes ist davon jedoch unterschieden. Die Maßverhältnisse sind rdcht an einem nicht weiter bestimmten, im Verlauf der Titration unveränderlichen Substrat, sondern sind auf besondere Qualitäten (Substanzen) bezogen. Diese sind nicht äußerlich gegeneinander gesetzt, sondern spezifisch miteinander - wie in der HendersonHasselbalch-Gleichrmg - über Maßverhältnisse verknüpft. Auch die anscheinend sprunghaft sich ändernde Qualität (der durch den umschlagenden Indikator angezeigte pH-Wert, der, wenn man eine Titration in praxi genau ausmißt, am Äquivalenzpimkt keine Unstetigkeitsstelle hat, sondern zunächst logarithmisch ansteigt und dann zum Dissoziationsgleichgewicht der nächsten Stufe wieder abflacht) ist Maßverhältnis nicht an einem bestimmungslosen, sondern an einem gegen andere Stoffe spezifisch bestimmten Substrat, nämlich den H+-Ionen. Kontinuierlich veränderliche Maßverhältnisse und qualitative diskontinuierliche Größen sind in den Naturwissenschaften in einer Konstellation, welche durch eine Relation von Maßverhältnissen ausgedrückt werden kann und welche ihrerseits durch weitere Qualitäten (wie im Beispiel die Freie Enthalpie) spezifiziert wird. In Hegels Modell für jene Konstellation, in der Knotenlinie, wird der quantitativen „Allmähligkeit" schematisch ein qualitativer „Sprung" entgegengesetzt; Hegel bestimmt den Zusammenhang zwischen kontinuierlich veränderlichen Maßverhältnissen und diskontinuierlichen Qualitäten als Abbruch (bestimmte Negation) der kontinuierlichen Verändenmg von Maßverhältrdssen und begründet durch diesen Zusammenhang die Qualität; Die kontinuierliche Veränderung des quantitativen Maßverhältnisses schlage in die (neue) Qualität um; die Qualitäten seien als „völlig äußerliche gegeneinander gesetzt". Da die neue Qualität bloß Maßverhältnis imd als solches der quantitativen Veränderung offen sei, gehe sie erneut in quantitatives Kontinuieren über, schlage also ihrerseits in einen Prozeß quantitativer Verändenmg um. Hegels Modell der Knotenlinie ist als Universalerklänmg für das Verhältnis von quantitativ kontinuierlichen und qualitativ diskontinuierlichen Größen konzipiert.

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geht aber, wie am Beispiel der Titration gezeigt, an den besonderen Konstellationen solcher Größen in den Naturwissenschaften vorbei. In jeder Erkenntnis ist neben dem, was durch Maße und Relationen von Maßen ausgedrückt wird, ein Moment enthalten, das sich nicht in Maßverhältnisse auflösen läßt. Dieses Moment verweist auf die - vorauszusetzende - Bestimmtheit des Gegenstandes der Erkenntnis. An dieser Bestimmtheit ist etwas Nicht-in-Maßverhältnisse-Aufzulösendes, das Opake des Gegenstandes. Ohne Opazität sind quantitative Maßverhältnisse nicht möglich. Derm diese wären ohne ein nicht vollständig in Maßverhältnisse aufzulösendes Substrat Maßverhältnisse von Nichts; Nichts ist aber nicht zu erkennen; also bliebe etwas NichtErkennbares gerade dann, wenn angenommen wird, Erkenntnis ließe sich vollständig in Maßverhältnisse auflösen. Umgekehrt ist Opazität nicht gegen die Maßverhältnisse zu vereinseitigen und für sich zu nehmen. Denn ohne Maßverhältnisse ist Opazität als das nicht in ihnen Aufgehende nicht bestimmbar. Auf knappem Ramn demonstriert Hegel Auflösung und das Problematische der Auflösimg von Opazität in Maßverhältnisse: War 21. 364,22-25; IV. 456 noch eine Qualität vorausgesetzt, die, enthalten in einem materiellen Substrat, als Grund für die Spezifikation der Maßverhältnisse erschlossen werden konnte, so soll 21. 365, 17 f; IV. 457 das, was nicht in Maßverhältnissen aufgeht, „unmittelbar aus sich hervorgetreten [sein, U. R.]; d. i. aus der innerlichen, noch nicht ins Daseyn getretenen specificirenden Einheit." 21.366,5; IV. 458 ist dann das Opake vollständig verschwunden. Stattdessen wird duch rationale Konstruktion, nämlich durch bestimmte Negation der Kontinuität von Maßverhältnissen (durch den „Sprung"), Qualität gesetzt. Doch diese gewinnt keine weitere Bestimmung als eben sprunghaft (= nicht-kontinuierlich) zu sein. Beide - quantitative „Allmähligkeit" imd qualitativer „Sprung" - bleiben starr und schematisch gegeneinander, sei es, daß sie sich als äußerliche imd innerliche Seite der Veränderung gegenüberstehen, sei es, daß sie schlicht ineinander Umschlagen. Die Verschränkrmg von qualitativer und quantitativer Bestimmtheit ist so nicht zu fassen. Am chemischen Beispiel wurde oben gezeigt, daß Maßverhältnisse nicht, wie Hegel annimmt, an einem bestimmimgslosen Substrat, sondern auf spezifisch unterschiedene Qualitäten (Substanzen) bezogen sind. Die eine ist der anderen nicht schlechthin äußerlich, sondern sie bilden zusammen (H2PO4-, HPO42-, H+) ein spezifisch bestimmtes Substrat der Reaktion (die Massenbilanz der spezifisch gegeneinander bestimmten Atome bleibt konstant, bei chemischen Reaktionen verändern die Atomkerne sich nicht), und sie sind in

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einer (durch das Massenwirkungsgesetz) spezifisch bestimmbaren Konstellation, die diskontinuierliche und kontinuierliche Veränderungsprozesse verknüpft. Man sucht sich gern durch die Allmähligkeit des Uebergangs eine Veränderung begreiflich zu machen; aber vielmehr ist die Allmähligkeit gerade die bloß gleichgültige Aenderung, das Gegentheil der qualitativen. In der Allmähligkeit ist vielmehr der Zusammenhang der beyden Realitäten, - sie werden als Zustände, oder als selbstständige Dinge genommen, - aufgehoben; es ist gesetzt, daß keine die Grenze der andern, sondern eine der andern schlechthin äusserlich ist; hiemit wird gerade das, was zum B e greiffen nöthig ist, werm auch noch so wenig dazu erfodert wird, entfernt.

Eine „Veränderung", d. i. der Übergang zwischen zwei Qualitäten, läßt sich durch „die Allmähligkeit des Uebergangs" nicht begreiflich machen, weil „die Allmähligkeit gerade die bloß gleichgültige Aenderung, das Gegentheil der qualitativen" ist. (Und vice versa ist die qualitative Änderung das Gegenteil der quantitativ kontinuierlichen.) Hegel zeigt, daß die Annahme eines allmählichen Übergangs zwischen zwei Qualitäten sich widerspricht und deshalb begriffslos ist: Das „bloß quantitative Fortgehen der Allmähligkeit" hat „keine Grenze an sich selbst". Gäbe es einen quantitativ kontinuierlichen Übergang zwischen zwei Qualitäten, dann wäre für diese beiden „gesetzt, daß keine die Grenze der andern" ist. Haben sie keine Grenze gegeneinander, dann sind sie einander „schlechthin äusserlich". Damit wäre der Zusammenhang als einer zweier Qualitäten aufgehoben und mithin auch der allmähliche Übergang zwischen solchen schlechthin äußerlichen Qualitäten unmöglich und in sich widersprechend (nihil negativum). Gegenüber der Fassung von 1812/13 ist in der Überarbeitung von 1832 „begreiflich" gesperrt gedruckt und der letzte Satz hinzugefügt, der denjenigen „Begreiffen" (nochmals gesperrt) abspricht bzw. gegen die Begriffslosigkeit derjenigen polemisiert, die den qualitativen Sprung durch einen quantitativ kontinuierlichen Übergang erklären. Hegel betont mit der Sperrung, was für den Begriff notwendig ist und hier in der Objective[n] Logik. Die Lehre vom Seyn als seine Voraussetzimgbegründet wird: den qualitativen Sprung. In Hegels Naturphilosophie findet sich eine parallele Polemik, und zwar gegen die Theorie der „Evolution", die „vom Unvollkommenen, Formlosen anfängt" und dann behauptet, daraus seien durch all-

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mähliche Verändenmg „Pflanzen, Polypen, Molusken, dann Fische hervorgegangen [...]; dann Landthiere, aus dem Thiere sey endlich der Mensch entsprungen. Diese allmählige Veränderung nennt man Erklären und Begreifen, imd diese von der Naturphilosophie veranlaßte Vorstellung grassirt noch; aber dieser quantitative Unterschied, wenn er auch am leichtesten zu verstehen ist, so erklärt er doch nichts" (IX. 60). In der Naturphilosophie kann Hegel den Begriff voraussetzen. Und weil die Bestimmung des Begriffs nicht so beschaffen ist, „eben nur immer wieder durch einen neuen gleichförmig bestimmten Zusatz sich zu vermehren" (IX. 62), der Begriff also „nach qualitativer Bestimmtheit unterscheidet", deshalb macht die Natur Sprünge. In der Objective[n] Logik. Die Lehre vom Seyn versucht Hegel den qualitativen Sprung, der mit dem Begriff gesetzt ist, aus dem Prozeß der Veränderrmg von Maßverhältnissen zu begründen und zieht dafür Beispiele aus der Natur heran, die diese Bestimmung des Begriffs schon enthalten. Hegels These - eine qualitative Verändenmg ist nicht hinreichend durch eine quantitativ allmähliche, „die bloß gleichgültige Aenderung", erklärbar - ist richtig. Hegels Beweis erfolgt indirekt: Nimmt man einen kontinuierlichen Übergang zwischen zwei Qualitäten an, dann hätten diese keine Grenze gegeneinander und wären als zwei einander schlechthin äußerliche Qualitäten gesetzt. Zwischen ihnen wäre ein kontinuierlicher Übergang unmöglich. Widerspruch zur Annahme. Die Widerlegtmg eines kontinuierlichen Überganges zwischen zwei Qualitäten beweist, daß es nicht-kontinuierliche Übergänge oder Sprünge geben muß. Als Bedingung der Möglichkeit der Argumentation mit Qualitäten kann so die Existenz von qualitativen Sprüngen in der Natur erschlossen werden. Weil aber Hegel den (zulässigen) Rückgang in eine notwendige Bedingung für den Rückgang in den Gnmd ausgibt und diesen (vermeintlichen) ,Grund' darm im vorwärtsgehenden Weiterbestimmen entwickelt, fällt für ihn die Widerlegung des kontinuierlichen Übergangs zusammen mit dem Setzen der Qualität durch das Abbrechen (oder: die bestinunte Negation) der quantitativen „Allmähligkeit". Engels kopiert diesen Fehler: „Bloß quantitative Steigerung oder Abnahme [verursacht, U. R.] an gewissen bestimmten Knotenpunkten eine qualitativen Sprung" (MEW 20.42); „[...] quantitative Verändenmg Zufuhr oder Entziehimg von Bewegtmg [rufl, U. R.] qualitative Ändenmg im Zustand des betreffenden Körpers hervor" (MEW 20.351). Hegels zweiter Fehler liegt darin, den qualitativen Spnmg aus der kontinuierlichen Verändenmg von quantitativen Maßverhältnissen allgemein zu setzen (die Knotenlinie als Universalerklärrmg für das Ver-

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hältnis von quantitativ kontinuierlichen und qualitativ diskontinuierlichen Größen), die Besonderheit dieses Verhältnisses aber in die „besondem Theile der concreten Naturwissenschaft" (21. 353, 8; IV. 441) zu verweisen, in welcher Weise nämlich Knoten/Sprünge und quantitative „Allmähligkeit" innerhalb der Knotenlinie abwechseln. Deshalb finden sich die Besonderheiten der Knotenlinie, aufgelistet als ihre speziellen Realisationen in den verschiedensten Bereichen, in der Anmerkung. Auch diesen Fehler kopiert Engels, allerdings in eigentümlich materialistischer Manier: „Das Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität und umgekehrt" (MEW 20.348) sei eines der drei „Gesetze der Dialektik", die aus der „Geschichte der Natur wie der menschlichen Gesellschaft [...] abstrahiert werden" und „eben nichts andres [sind, U. R.] als die allgemeinsten Gesetze dieser beiden Phasen der geschichtlichen Entwicklimg sowie des Denkens selbst" (MEW 20. 348). Für diese „allgemeinsten Gesetze" listet Engels einige Anwendimgsbeispiele, darunter auch die Hegelschen vom gefrierenden bzw. verdampfenden Wasser, auf. Im Gegensatz zu Hegel, der jene Gesetze „in seiner idealistischen Weise als bloße Denkgesetze entwickelt" (a. a. O.) habe, meint Engels, er könne dadurch, daß er die „dialektischen Gesetze" in Beispielen auffindet oder aus solchen abliest, ihre allgemeine Gültigkeit nachweisen (MEW 20. 349). Hegels Argumentation auf dem Weg hin zum Umschlag auf der Knotenlinie wird von Engels nicht immanent kritisiert, sondern als idealistisch demmziert. Die „in der idealistischen Philosophie äußerst geheimnisvoll aussehenden dialektischen Gesetze werden sofort einfach imd sonnenklar" (MEW 20. 348), wenn man nur viele Beispiele („Einzelbelege") zu geben verstünde, und da habe Hegel in der Anmerkung gut vorgearbeitet. Beide Hegelschen Fehler sind nicht unabhängig voneinander. Im zu kommentierenden Absatz hat Hegel die Argumentation des gesamten Kapitels zu dem Resultat fixiert: Gegenüber stehen sich stetige Veränderung von Maßverhältnissen und qualitativer Sprung, hn Resultat sind die auf dem Weg dahin unternommenen Erklärungsversuche für den Sprung (eine vorauszusetzende Qualität im materiellen Substrat (21. 3M, 22-25; IV. 457) bzw. die innerliche, spezifizierende Einheit (21. 365,18; rV. 458) entfernt. Hegel nimmt den Beweis dafür, daß diskontinuierliche Qualitäten nicht durch einen allmählichen Übergang zu begreifen sind, als Bestimmung des Verhältnisses von diskontinuierlicher Qualität und kontinuierlicher Veränderung: Der qualitative Sprung ist Abbruch der „Allmähligkeit". Ist die Qualität als bestimmte Negation „allmähliger" Veränderung von Maßverhältnissen gesetzt, dann sind

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kontinuierlich veränderliche Maße und diskontinuierlichen Qualitäten in einer Einheit: der Knotenltnie. Weil Hegel für die Qualität keine weitergehende Bestimmung (als die der bestimmten Negation quantitativer „Allmähligkeit") zuläßt, kann er diese Einheit auch nicht spezifischer bestimmen: Die Knotenlinie verbleibt als Universalerklärimg abgetrennt von ihren speziellen Realisationen. Die Einheit von kontinuierlichen und diskontinuierlichen Größen ist jedoch genauer zu bestimmen: als Konstellation von vorauszusetzenden Substanzen, bestimmt durch von diesen unterschiedenen Qualitäten und formulierbar in mathematischen Zusammenhängen (Relationen von Maßverhältnissen). Und gerade auch in der Mathematik gibt es Modelle, die genauer als die Knotenlinie das Verhältnis von kontinuierlichen und diskontinuierlichen Größen bestimmen. Exkurs: Pimkt und Gerade sind als diskontinuierliche und kontinuierliche Größen einander entgegengesetzt. „Kontinuität" der Gerade bedeutet prima vista, daß zwischen zwei Punkten imendlich viele Punkte liegen (oder arithmetisch formuliert: daß zwischen zwei Zahlen imendlich viele Zahlen liegen). „ Kontinuität" karm zur Stetigkeit verschärft werden, welcher eine diskontinuierliche Größe, in der arithmetischen Fassung: der Dedekindsche Schnitt, entgegengesetzt ist. Doch erst durch die Definition dieser diskontinuierlichen Größe wird Stetigkeit hergestellt: Jedem Punkt der „kontinuierlichen" Geraden karm dann eine reelle Zahl zugeordnet werden^s. Der Dedekindsche Schnitt - ein Diskontinuierliches, das „Kontinuität" (Stetigkeit) definiert - enthält ein offenes und ein geschlossenes Intervall und ist so Einheit von Kontinuität und Diskontinuität. Die beiden Qualitäten, das offene und das geschlossene Intervall, grenzen aneinander; das „allmählige" Fortgehen des offenen Intervalls, „das keine Grenze an sich selbst ist", bricht nach der qualitativen Seite hin ab; es gibt keinen „allmähligen" Übergang zwischen offenem und geschlossenem Intervall. Aber beide Qualitäten sind nicht „als völlig äußerliche gegeneinander gesetzt", sondern im Dedekindschen Schnitt sind Kontinuität und Diskontinuität aufeinander bezogen. Beide sind als unterschiedene Qualitäten vorausgesetzt und stehen im Schnitt in einem Zusammenhang, einer Einheit, die ein Diskontinuierliches definiert, mittels dessen die „Kontinuität" erst (arithmetisch) bestimmt werden kann. Das Begreifen von Kontinui35 R. Dedekind: Stetigkeit und irrationale Zahlen. In: R. Dedekind; Gesammelte mathematische Werke. Hrsg, von R. Fricke, E. Noether, Ö. Ore. Dritter Band. Braimschweig 1932.325 imd R. Dedekind: Aus den Briefen an R. Lipschitz. Ebd. 470 f.

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tät und Diskontinuität ist nicht aus der „AUmähligkeit des Uebergangs" möglich (soweit hat Hegel recht). Vielmehr setzt das Begreifen sowohl Kontinuität und Diskontinuität als unterschiedene Qualitäten voraus als auch die notwendige Beziehung beider im Dedekindschen Schnitt, einer Einheit, durch die die sie bestimmenden Momente genauer bestimmbar werden. Nach Hegel dagegen sollten Kontinuität und Diskontinuität jeweils auseinander hervorgehen und wären durch den spezifizierenden Prozeß auf der Knotenlinie (Umschlagen resp. Übergehen) gesetzt.

Anmerkung. Das natürliche Zahlensystem zeigt schon eine solche Knotenlinie von qualitativen Momenten, die sich in dem bloß äusserlichen Fortgang hervorthim. Es ist einestheils ein bloß quantitatives Vorund Zurückgehen, ein fortwährendes Hinzuthun oder Wegnehmen, so daß jede Zahl dasselbe arithmetische Verhältniß zu ihrer vorhergehenden und nachfolgenden hat, als diese zu ihrer vorhergehenden und nachfolgenden u. s. f. Aber die hiedurch entstehenden Zahlen haben auch zu andern vorhergehenden oder folgenden ein specifisches Verhältniß, entweder ein solches vielfaches von einer derselben als eine ganze Zahl ausdrückt, oder Potenz und Wurzel zu seyn.

Die natürlichen Zahlen lassen sich nach Peano aus fünf Axiomen aufbauen. Die beiden ersten lauten: a.) Es existiert ein Eins-Element (heute die Zahl 0, bei Peano die Zahl 1). b.) Es existiert eine Operation zur Herstellimg des Nachfolgers einer Zahl, so daß es zu jeder natürlichen Zahl einen Nachfolger gibt. Weil das Eins-Element nicht in die Operation auflösbar ist (vgl. dazu die Notwendigkeit des dritten Axioms: Das Eins-Element ist nicht Nachfolger einer natürlichen Zahl) und weil demnach dasjenige, worauf die Operation bei ihrer ersten, für alle weiteren grundlegenden Anwendimg geht, als ein von der Operation unterschiedenes, diskretes Element vorausgesetzt werden muß, liegt den natürlichen Zahlen nicht bloß ein „äusserlicher Fortgang" zugrunde was Hegel implizit einräumt, insofern er im Unterschied zum Absatz zuvor vermeidet, „quantitatives Fortgehen" mit „Allmähligkeit" in eins zu setzen. Explizit jedoch beschreibt Hegel Konstruktion (und Konstitution) der Zahlen als einen „bloß äusserlichen Fortgang" (was eben nicht korrekt ist, da das nicht bloß quantitative Eins-Element für diesen Fortgang vorausgesetzt ist) und stellt richtig fest, daß im „natürlichen Zahlensystem" „qualitative Momente" enthalten sind („sich aus dem bloß äusserlichen Fortgang hervorthim"), die aus dem Konstruktionsgesetz der natürlichen Zahlen (der bei Hegel als bloß äußerliches, quantitatives Fortgehen beschriebenen Operation b, angewandt auf das diskrete Eins-Element) nicht abzuleiten sind: Einige der natürlichen Zahlen sind durch besondere Eigenschaften (Quadratzahlen, Primzahlen etc.) ausgezeichnet, obwohl die Zahlen, betrachtete man sie lediglich als jeweilige Nachfolger der vorigen Zahl, dann keine besonderen Eigenschaften haben dürften. Also ist die Zahl nicht bloß durch das Ge-

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Anmerkung

setz ihrer Konstruktion bestimmt, sondern enthält Qualitäten, die gegenüber der die Konstruktion bestimmenden, äußerlich quantitativen Operation selbständig sind. Denn sonst ergäben sich alle Sätze der elementaren Zahlentheorie analytisch aus dem Konstruktionsgesetz (bzw. den fünf Axiomen). Richtig ist also erstens Hegels Gegenüberstellung von auf der einen Seite Konstruktion der Zahlen nach der Operation b und auf der anderen Seite „qualitativen Momenten", eine Gegenüberstellimg, die durch die Sperrung imterstrichen wird: „[...] jede Zahl [hat, U. R.] dasselbe arithmetische Verhältniß zu ihrer vorhergehenden [...] als diese zu ihrer vorhergehenden [...]. Aber die hiedurch entstehenden Zahlen haben auch zu andern vorhergehenden oder folgenden ein specifisches Verhältniß [...]". Zweitens stimmt das negative Urteil: Aus dem quantitativen Fortgehen sind die in den Zahlen enthaltenen Qualitäten nicht abzuleiten - das Resultat der Konstruktion hat mehr Bestimmtheiten, als analytisch aus dem Gesetz der Konstruktion herauszuholen sind. Jedoch ist drittens das Setzen oder die Begründimg des qualitativen Spnmgs durch das Abbrechen des quantitativen Fortgehens auch für die Zahlen falsch. Zwar ist richtig, daß der quantitative Übergang von n zu n+l‘ nicht die eintretende Qualität von n+1 (sei es eine Quadratzahl, Primzahl etc.) begreiflich macht. Aber diese eintretende Qualität ist nicht hinreichend als bestimmte Negation oder Abbruch des quantitativen Fortgehens nach der qualitativen Seite hin bestimmbar. Das in den Zahlen enthaltene Moment ideeller Objektivität wird von Hegel zu einem Qualitativen transformiert, das durch Spnmg aus quantitativem Fortgehen eintrete. Hegel sieht darin eine Erklänmg, der Sache nach ist es aber lediglich eine - im Detail zudem mit Mängeln behaftete - Beschreibimg. Im Abschnitt Quantität behandelt Hegel die Zahl und bestimmt als deren Momente „Anzahl und Einheit" (21. 194, 24; IV. 244); die Zahl ist dort Resultat der Operation: Füge die Einheit hinzu! imd enthält somit die Einheit (bei Hegel die Eins) und die Anzahl, wievielmal die Operation ausgeführt werden muß. Hegel weiß, daß jenes platonische Moment ideeller Objektivität nicht in dem Gesetz der Konstruktion (dem äußerlich quantitativen Fortgehen) aufgeht. Deshalb folgen die „qualitativen Momente" (die Hegelsche Fassimg des platonischen Moments) nicht aus Einheit und Anzahl und werden also nicht unter Quantität (wo die logischen Probleme der Mathematik sich finden), sondern - auf den ersten Blick verblüffenderweise - im Abschnitt Das Maaß behandelt, in welchen Physik und Chemie fallen. Damit transformiert Hegel jenes platonische Moment ideeller Objektivität zum qualitativen Sprung aus quantitativem Fortgehen,

Anmerkung

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woran das Problem nur noch deutlicher hervortritt: Das quantitative Fortgehen selbst bricht nicht ab;,Abbruch nach der qualitativen Seite hin' setzt das, wonach abgebrochen wird, voraus und ist deswegen keine Erklänmg der eintretenden Qualität, sondern der metaphorische und beschreibende Ausdruck dafür, daß aus dem Gesetz der (quantitativen) Konstruktion der Zahlen nicht deren Qualitäten folgen. Überdies enthält diese Beschreibung des natürlichen Zahlensystems durch die Knotenlinie im einzelnen Fehler: Die aus dem „bloß äusserlichen Fortgang" sich hervortuenden Qualitäten sind nicht „als völlig äußerliche gegeneinander gesetzt", sondern sind ihrerseits in spezifisch bestimmten Konstellationen (z. B. gibt es Primzahlzwillinge). Und auch der bloß äußerliche Fortgang (der die Menge der natürlichen Zahlen konstruiert) und die eintretende Qualität (z. B. Primzahl zu sein) sind nicht einander äußerlich, sondern in einem Zusammenhang (wie die Beweisidee des Standardbeweises zur Unendlichkeit der Primzahlen anzeigt). Das Gesetz der Konstruktion („quantitatives Fortgehen") und das Moment ideeller Objektivität („qualitative Momente") sind nicht auseinander ableitbar; sie stehen in einer Konstellation, in der die Qualität nicht hinreichend durch Abbrechen der quantitativen Seite bestimmt werden kann. War das quantitative Fortgehen selbst auf ein qualitatives Moment (das diskrete Eins-Element, auf das die Operation der Konstruktion des Nachfolgers geht) bezogen, so ist die im Resultat der Operation enthaltene und aus dieser nicht deduzierbare, nt e Qualität Ausgangspimkt, um quantitative Kontinuität erst herzu? llen - am Beispiel der von Fiegel genannten Qualität „Potenz": Die t aerationen nach vorwärts lassen sich in der Menge der natürlichen Zahlen ausführen, Addition, Multiplikation {- abgekürzte Addition), Potenzierung (= abgekürzte Multiplikation). Aber die Umkehroperationen sind im Bereich der natürlichen Zahlen nicht unbeschränkt möglich. Nur ein Teil der natürlichen Zahlen ist radizierbar (werm wieder eine natürliche Zahl herauskommen soll). Damit ist diese Teilmenge (die Quadratzahlen 1,4, 9,...) durch eine besondere Qualität ausgezeichnet. Diese aus dem Gesetz der Konstruktion nicht deduzierbare, aber nur durch die Durchfühnmg der quantitativen Operation erkennbare Qualität ist Ausgangspunkt, um neue Zahlen zu schaffen, so daß jede Zahl des Zahlenkörpers im Zahlenkörper radizierbar ist. Gerade mittels jener aus den natürlichen Zahlen hervortretenden Qualität (Quadratzahlen) wird quantitative Kontinuität (das, was Flegel zuvor als „Allmähligkeit" der quantitativen Veränderimg voraussetzte, die Stetigkeit der reellen Zahlen) erst synthetisch hergestellt. Jene aus dem quantitativen

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Anmerkung

Fortgehen nicht deduzierbare Qualität ist durch ihre bestimmte Negation konstitutiv für die „Allmähligkeit" des quantitativen Fortgehens im Kontinuum der reellen Zahlen ist die innerhalb der natürlichen Zahlen besondere Qualität ,Quadratzahl' aufgelöst. Ergo: Quantitatives Fortgehen und qualitative Momente sind in einer Konstellation. Nur ist diese nicht hinreichend dadurch bestimmt, daß die eine Seite die bestimmte Negation der jeweils anderen ist: Die Knotenlinie ist kein zureichendes Modell für das Verhältnis von kontinuierlicher Veränderung und diskreten qualitativen Sprüngen. In den musikalischen Verhältnissen, tritt ein harmonisches Verhältniß in der Scale des quantitativen Fortgehens durch ein Quantum ein, ohne daß dieses Quantum für sich auf der Scale zu seinem vorhergehenden und nachfolgenden ein anderes Verhältniß hätte, als diese wieder zu ihren vorhergehenden und nachfolgenden. Indem folgende Töne vom Grundtone sich immer mehr zu entfernen oder Zahlen durch das arithmetische Fortgehen nur noch mehr andere zu werden scheinen, thut sich vielmehr auf einmal eine Rückkehr, eine überraschende Uebereinstimmunghervor, die nicht durch das unmittelbar vorhergehende qualitativ vorbereitet war, sondern als eine actio in distans, als eine Beziehung zu einem entfernten, erscheint; der Fortgang an bloß gleichgültigen Verhältnissen, welche die vorhergehende specifische Realität nicht ändern oder auch überhaupt keine solche bilden, unterbricht sich auf einmal, und indem er in quantitativer Rücksicht auf dieselbe Weise fortgesetzt ist, bricht somit durch einen Sprung ein specifisches Verhältniß ein.

Unter „musikalischen Verhältrdssen" versteht Hegel zunächst die Verhältrdsse der Töne zueinander (XVII. 278). „Im Reiche [...] der Töne beruht [...] ihr weiterer Unterschied gegen einander, ihre Harmonie und Disharmonie, auf Zahlenverhältnissen und deren einfacherem oder verwickelterem und entfernterem Zusammenstimmen" (IX. 237 f). Beruht das Verhältrds zweier Töne zueinander auf einem Zahlenverhältnis (genauer: Maßverhältnis, da Schwingungen pro Zeiteinheit = Frequenzen ins Verhältrüs gesetzt werden), dann ist das Qualitative des Hörens - „Einklang und Dissonanz" - mathematisch bestimmbar, „ein mathematisches Vergleichen" (XVII. 278): Das musikalische „Zusammenstimmen", die „Harmonie", beruht darauf, daß einfache Zah-

Anmerkung

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len zusammenstimmen. Das Maßverhältnis zweier Töne kann kontinuierlich verändert werden. Wenn es das Kontinuum der reellen Zahlen durchläuft, darm hört man ein Glissando. „Die Verändenmg ist nach dieser Seite eine allmählige. Aber die Allmähligkeit betritt bloß das Aeusserliche der Veränderung, nicht das Qualitative derselben" (21. 365, 23-25; IV. 458). Das „quantitative Fortgehen" ist die „bloß gleichgültige Aenderung" (21. 366,8; IV. 458), das verändernde Quantum hat „für sich auf der Scale zu seinem vorhergehenden imd nachfolgenden" kein „anderes Verhältniß [...], als diese wieder zu ihren vorhergehenden und nachfolgenden". Dem „quantitativen Fortgehen" gegenübergestellt ist die Veränderung der Qualität: Jeweils ein spezifisches, vom vorigen unterschiedenes „harmonisches Verhältniß" tritt ein. Weil das Qualitative im Verhältnis der Töne (Konsonanz/Dissonanz eines Intervalls) auf Maßverhältnissen beruht, bewirkt - so Hegel - die äußerliche quantitative Veränderung des Zahlenverhältnisses eine sprunghafte Veränderung der (harmonischen) Qualität - das spezifische „harmonische Verhältniß" (z. B. eine Quarte) tritt „durch ein Quantum ein", dessen Änderung für sich genommen gleichgültig gegen die spezifische harmonische Qualität ist. Im nächsten Satz ist dann explizit von der Tonleiter die Rede: Die Töne „entfernen" sich „immer mehr" vom Grundton; das quantitative Fortgehen ist diskretes, „arithmetisches Fortgehen" (also Sekundschritte); „die arithmetische Bestimmung der Gleichförmigkeit waltet hier allein, und das hat für sich keine Grenze" (IX. 242). Die bloß quantitative Veränderung des Maßverhältnisses zeitigt Knoten, an welchen ein jeweils spezifisches „harmonisches Verhältniß" eintritt (Sekunde, Terz, Quarte, Quinte, Sexte, Septime, Oktave) - also sind gegenübergestellt auf der einen Seite ein äußerlicher quantitativer Fortgang (wobei Hegel hier von „arithmetischem Fortgehen" der Zahlen spricht; zusammen mit dem vorigen Satz bedeutete dies, daß das Frequenzenverhältnis von jeweils aufeinander folgenden Ganztönen dasselbe wäre^ö) und auf der anderen Seite spezi36 Im vorigen Satz hieß es: „[...] ohne daß dieses Quantum für sich auf der Scale zu seinem vorhergehenden imd nachfolgenden ein anderes Verhältniß hätte [..Wörtlich genau genommen bedeutete dies gleichschwebend temperierte Stimmimg. Zieht man jedoch die Naturphilosophie dafür zu Rate, was Hegel unter „arithmetischem Fortgehen" versteht, darm ist dort unter „Gleichförmigkeit" der Ausfüllimg des Oktavenraums mit einer Tonleiter erst einmal eine reine Stimmimg behandelt: „Um nun jene Gleichförmigkeit [zuvor S. 242: „arithmetische Bestimmimg der Gleichförmigkeit", U. R.] hervorzubringen, muß man in den harmonischen Dreiklang Töne einschieben, die imgefähr das Verhältniß zu einander haben die die Quarte zur Quinte [...]" (IX. 243).

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Anmerkung

fische harmonische Qualitäten. Die Ändenmg des Harmonischen (der Übergang von einem zum nächsten Intervall) ist jeweils ein qualitativer Sprung und nicht aus dem quantitativen Fortgang auf der Skale der Frequenzen ableitbar: vom Einklang zur dissonanten Sekimde, darm zu den jeweils konsonanten, aber xmtereinander spezifisch unterschiedenen Terz, Quarte, Quinte, Sexte (wobei verminderte bzw. übermäßige Intervalle weggelassen sind), darm zur dissonanten Septime und schließlich zur konsonanten Oktave. Letztere steht, während die Töne zuvor „sich immer mehr [vom Grundton, U. R.] zu entfernen [...] scheinen", für „Rückkehr" zum Grundton, weil der Oktavton in gleicher Weise Grundton ist (für die Tonleiter derselben Tonart, nur eine Oktave höher) und weil die Oktave von allen konsonanten Intervallen am eintönigsten klingt. „Überraschend" soll die „Übereinstimmung" („der Grundton [stimmt, U. R.] in seiner Oktav unmittelbar mit sich zusammen [...]" (XIV. 175)) deshalb sein, weil sie „nicht durch das unmittelbar vorhergehende qualitativ vorbereitet war" (zuvor die Septime oder - bei kontinuierlichem Durchlauf der Frequenzenverhältnisse ein noch härter dissonierender Ton im Frequenzenkontinuum neben der Oktave). Das Verhältnis des Grimdtons zu dem eine (oder mehrere) Oktave(n) höheren Ton erscheint als „actio in distans", weil der Grundton aus dem Kontinuum der von ihm sich entfernenden Frequenzen eine von der dissonierenden Umgebung sprunghaft imterschiedene Konsonanz herausgreift. „[...] der Fortgang an bloß gleichgültigen Verhältnissen [...] unterbricht sich auf einmal" - das Frequenzenverhältnis durchläuft Zahlen, dieser Durchlauf wird „in quantitativer Rücksicht auf dieselbe [vgl. Anmerkung 36, U. R.] Weise fortgesetzt". Und analog wie bei den natürlichen Zahlen37 „bricht", während arithmetisch fortgeschritten wird, „durch einen Sprung ein specifisches Verhältniß ein". Richtig daran ist - wie bei den natürlichen Zahlen -, daß aus dem bloß 37 Wegen dieser Analogie werden die musikalischen Verhältnisse zusammen mit den natürlichen Zahlen in einem Absatz getrennt von den chemischen, physikalischen und politischen Beispielen für die Knotenlinie behandelt. Sind die Quadratzahlen als besondere Zahlen innerhalb der Menge der natürlichen Zahlen, so sind die spezifischen Harmonien als „durch die einfachen Zahlen 2,3,4,5" (IX. 241) auszudrückende Frequenzenverhältnisse bestimmt. „[...] der ideelle Grund des Harmonischen in den Tönen" sind „die leichteren Zahlenverhältnisse", weil diese vom Ohr „leichter aufzufassen sind" (IX. 240): „Ist die Saite durch Zwei getheilt, so ist keine Differenz und Harmonie, weil es zu eintönig ist. Durch 2 imd 3 getheilt, giebt die Saite aber Harmonie, als Quinte [...]" (IX. 241 f). „Die Quarte hat schon ein schwierigeres Verhältniß: die Saite macht 1 Va Schwingimg, was schon verwickelter ist, als 11/2 [Quinte, U. R.] und 11/4 [große Terz, U. R.]; darum ist die Quarte auch ein frischerer Ton" (IX. 241).

Anmerkung

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quantitativen Fortgehen die harmonische Qualität nicht abgeleitet werden kann. Jedoch ist die Harmonie nicht hinreichend durch das SichUnterbrechen des quantitativen Fortgangs oder als „Verklärung der [leichteren, U. R.] Zahlenverhältnisse" (IX. 240) bestimmt. Vielmehr hat die Beschreibung der Harmonie durch diese „leichteren Zahlenverhältnisse" (eine Beschreibung, die Hegel, Pythagoras folgend, mit einer Erklärung gleichsetzt) einen nicht in den „einfachen Zahlen" selbst liegenden Grund: Bei der Oktave gibt es mehr gemeinsame Obertöne als bei jedem anderen Intervall. Und ebenfalls parallel zu obiger Kritik an der Anwendimg der Knotenlinie auf die natürlichen Zahlen: Die harmonischen Qualitäten (Quinte, Oktave, Quarte etc.) sind nicht „als völlig äußerliche gegeneinander gesetzt", sondern in spezifischen musikalischen Konstellationen. Und: „Der Fortgang an bloß gleichgültigen Verhältnissen" und die einbrechenden, spezifischen harmonischen Verhältnisse sind nicht äußerlich gegeneinander. Denn die durch Sprung eintretende besondere Qualität (die Oktave) bestimmt das „arithmetische Fortgehen" vor ihrer „Rückkehr", die nur für den „überraschend" ist, der die Gnmdlagen für das „arithmetische Fortgehen" nicht verstanden hat. Nach der temperierten Stimmung ist die rückkehrende Qualität, die Oktave, vorausgesetzt, um überhaupt ein gleichförmiges „Fortgehen" der Töne herzustellen; nach der reinen Stimmimg müssen zusätzlich zur Oktave noch Quinten und große und kleine Terzen als harmonisch reine, d. h. nach den Proportionen 3:2, 5:4 und 6:5 vorausgesetzt werden, was dazu führt, daß zwei natürliche Intervalle, die reine große Terz und die reine Quinte, in Widerspruch geraten, daß deshalb Töne verdoppelt werden müßten und daß die Ganztonschritte nicht gleichförmig sind (IX. 243). Für jede Stimmung, sei sie rein oder temperiert, muß also die reine natürliche Oktave vorausgesetzt werden, was ein weiteres Argument dagegen ist, die Knotenlinie als Erklärung nach folgendem Muster zu lesen: Ausgangspunkt sei das quantitative Fortgehen, an einem Pimkt der Änderung des Quantitativen erweise sich das Quantum als spezifizierend, „durch ein Quantum" trete eine harmonische Qualität sprunghaft und „das bloß quantitative Fortgehen der Alhnähligkeit" abbrechend ein. Vielmehr ist das, was vermeintlich durch dieses Abbrechen des quantitativen Fortgehens gesetzt sei, nämlich die harmorüsche Qualität, schon im Ton (dessen Obertonreihe) enthalten imd bestimmt gerade das „arithmetische Fortgehen", d. h. die Abstände in der diskreten Sukzession der Töne (der Tonleiter). Die Behauptimg, die „Rückkehr" zum Grundton eine Oktave höher sei „nicht durch das unmittelbar vorhergehende qualitativ vorbereitet", ist eben-

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Anmerkung

falsch wie die äußerliche Gegenüberstellung von „Fortgang an bloß gleichgültigen Verhältnissen" (solche Verhältnisse gäbe es nur bei physikalischen Sinus-Tönen; die musikalischen Töne sind aus harmonischen Gründen so gemacht worden und enthalten deshalb qualitative Momente) und plötzlichem Sich-Unterbrechen des Fortganges. Daß „durch einen Spnmg ein spezifisches [harmonisches, U. R.] Verhältniß" einbreche, ist eine eher verunklärende Beschreibimg, die über das spezifische Verhältnis von harmonischer Qualität und quantitativen Maßverhältnissen hinweggleitet. Die von Hegel darm noch angedeutete Erklärimg für den Sprung - „actio in distans" - nimmt die „innerliche, noch nicht ins Daseyn getretene specificirende Einheit" (21. 365,18; IV. 457) zurück, denn eine solche actio wäre die einer schon vorhandenen Qualität, nämlich des Grundtons. Die Konstellation von Veränderung des Frequenzenverhältnisses und Harmonie der Intervalle wird von Hegel als Modell für die Knotenlinie von Maßverhältnissen vorgestellt. Systematischer und auch historischer Ausgangspunkt sind die zu einem Grundton (zum Beispiel c) natürlich erzeugten Obertöne (im Beispiel ci, gi, c2, e2,...). Hegel folgt Pythagoras darin, daß „das Harmonische" (IX. 240) eines Intervalls auf einem Maßverhältnis beruhe (wobei entweder abgegriffene Strecken einer Saite oder deren Spannungen erzeugende Gewichte ins Verhältnis gesetzt werden) und aus diesem sich vollständig erklären ließen. Die Obertöne stehen in ganzzahligen Verhältnissen zum Grund ton: c:ci = 1:2, c:gi = 1:3, c:c2 = 1:4, c:e2 = 1:5. Das Harmonische (die musikalische Qualität) der Oktave „beruht" (D(. 240) demgemäß auf dem Maßverhältnis 2:1 (c^:c), das Harmonische der Quinte auf 3:2 (gi:ci), das der Quarte auf 4:3 (c2:gi), das der großen Terz auf 5:4 (e2:c2). Und die Dissonanzen von Sekunde bzw. Septime beruhten darauf, daß deren Maßverhältnisse sich nicht durch „die einfachen Zahlen 2,3,4,5" (IX. 241) ausdrücken ließen. Daß die harmonischen Qualitäten der natürlichen Intervalle in Maßverhältnisse übersetzt werden können, ermöglicht erstens die Gegenüberstellimg von äußerlich quantitativer Veränderung dieser Maßverhältnisse und sprunghaft eintretender, durch solche quantitative Verändenmg nicht begreiflicher Qualität und ermöglichst zweitens die Feststellung: „Die harmonische Grundlage und die Gleichförmigkeit des Fortschreitens bilden [...] [einen, U. R.] Gegensatz" (IX. 244). Gerade mithilfe der Skale des Maßverhältnisses kann gezeigt werden, daß die natürlichen reinen Intervalle imd das gleichförmige Fortschreiten in einer Tonleiter sich widersprechen. (Anhand der Zahlenverhältnisse beweist Hegel, daß bei reiner Stimmung die Ganztonschritte nicht gleich sein können (IX. 243).) SO

Anmerkung

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Erst nachdem das System der Töne über die Grundintervalle hinaus zur Tonleiter erweitert imd jeder Ton einer Tonleiter wiederum als Grimdton für neue Tonleitern angesehen wurdet», kann gezeigt werden, daß die natürlichen Intervalle untereinander, zuerst Voraussetzimgen für ihre Umsetzung in Maßverhältnisse, im entwickelten System von Maßverhältnissen untereinander in Gegensatz geraten: Derselbe Ton karm nicht gleichzeitig im Verhältnis der reinen Terz, reinen Quarte und reinen Quinte zu den jeweiligen Gnmdtönen stehen (IX. 244). Die Musik bleibt aber nicht bei der Feststellung des Gegensatzes von harmonischer Grundlage und Gleichförmigkeit des Fortschreitens stehen (wie Hegel weiß, vgl. IX. 245), sondern hebt den Gegensatz dadurch auf, daß nur ein einziges Intervall (Oktave) als reines vorausgesetzt bleibt und alle anderen Töne durch Gleichverteilung so gemacht werden mit der Konsequenz, daß die natürlichen Intervalle nicht ganz rein sind (gleichschwebend temperierte Stimmimg). In der Wissenschaft der Logik bleibt Hegel bei dem (zu) schlichten Modell der Entgegensetzung - der qualitative harmonische Sprung ist nicht die quantitative Veränderung des Maßverhältnisses - stehen. Doch gerade die Erkenntnis des Gegensatzes ermöglicht die Korrektur seiner beiden Seiten: die Herstellung eines erst wirklich arithmetischen Fortgehens der Töne (damit wird die Modulation in entferntere Tonarten möglich und der Quintenzirkel geschlossen) und die Übertölpelung des Ohrs, das, obwohl es unrein intonierte Quinten, Terzen etc. hört, dennoch den einfachen Tonbeziehungen der Grundintervalle folgt. „[...] das Ohr weicht den irmern überwiegenden harmonischen Verhältnissen" (IX. 244). In chemischen Verbindungen kommen bey der progressiven Aenderung der Mischimgsverhältnisse solche qualitative Knoten und Sprünge vor, daß zwey Stoffe auf besondem Punkten der Mischungsscale, Producte bilden, welche besondere Qualitäten zeigen.

Hegel geht von dem Fall aus, daß zwei Stoffe sich zu mehreren, spezifisch unterschiedenen Produkten umsetzen. Als stöchiometrische Massenverhältnisse treten nun nicht alle mathematisch möglichen Verhält38 Mit der Formulierung der Grundintervalle als Maßverhältnisse wird die Frage nach gleichförmiger Einteilimg des Oktavenraums möglich imd also die Konstruktion von Tonleitern. Auf der Skale fortschreitender Frequenzen ist mm kein Ton ausgezeichnet, imd deshalb karm jeder Ton „Grundlage eines Systems" (IX. 242), d. h. Grimdton für neue Tonleitern werden.

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Anmerkung

nisse auf, sondern es sind spezifische Proportionen („auf besondem Punkten der Mischungsscale"), die eineindeutig den Reaktionsprodukten zugeordnet werden können. Hegel entscheidet sich hier gegen Berthollet (zwei miteinander reagierende Stoffe haben „ihr Maximum und Minimum, über welches hinaus sie sich nicht verbinden können; aber zwischen diesen beiden Grenzen können sie es in allen Proportionen"39) und für Proust und dessen Gesetz der konstanten Proportionen (das Massenverhältnis zweier sich zu einem dritten Stoff vereinigenden Stoffe ist konstant, chemische Verbindungen weisen „bestimmte und unveränderliche Proportionen"40 auf). Und Hegel anerkennt das Gesetz der multiplen Proportionen (die Massenverhältnisse zweier sich zu verschiedenen chemischen Verbindungen vereinigender Stoffe stehen im Verhältnis einfacher ganzer Zahlen^i). Beide experimentell erhärtete Gesetze waren damals die stärksten Argumente für die Annahme von Atomen. Hegel konzediert Dalton dessen experimentelle Befunde, die dieser aber „in die schlechteste Form einer atomistischen Metaphysik eingehüllt" (IX. 435) habe. Letztere könne durch Erfahrung unmittelbar nicht aufgezeigt (vgl. 21. 357, 5-358, 3; IV. 446 f) werden darin hat Hegel recht - und unterliege so der logischen Kritik (12. 357, 8; IV. 446). An die Stelle der weder durch logische Reflexion noch durch Erfahrung bestätigten (21. 358, 3; IV. 447) atomistischen Metaphysik setzt Hegel seine Erklärung jener beiden Gesetze: Das der konstanten Proportionen ergebe sich aus der Bestimmung der Wahlverwandtschaft durch ein spezifisches Maßverhältnis42. Das der multiplen Proportionen sei Modell für die Knotenlinie von Maßverhältnissen43. 39 vgl. Berzelius' historischen Abriß über die „Entwicklung der Lehre von den chemischen Proportionen", den Hegel kannte (21. 357, 9; IV. 446). In: J. J. Berzelius: Lehrbuch der Chemie. Übersetzt von F. Wühler. Dritten Bandes erste Abtheiltmg. Dresden 1827.21. 40 J. J. Berzelius: A. a. 0.22. 41 In der Naturphilosophie zitiert Hegel zustimmend sowohl Richters stöchiometrische Befimde als auch das am Beispiel der Zinnoxide erläuterte Gesetz der multiplen Proportionen (IX. 435). 42 Trotz entgegengesetzter Auffassimg über die Daltonsche Atomhypothese stimmen Berzelius und Hegel darin überein, daß die spezifischen Eigenschaften einer Verbindung auf das Maßverhältnis der sie bildenden Stoffe zurückzuführen seien. Berzelius zitiert zustimmend Richters Motto „Gott hat Alles nach Maaß, Zahl imd Gewicht geordnet" (PhiIon V. Alexandria) imd schreibt über die „aus einfachen Elementen" zusammengesetzten Körper: „[...] gleiche äußere Charaktere und gleiche innere Eigenschaften [zeigen, U. R.] eine Verbindung aus denselben Elementen in denselben Proportionen an [...]" Q. J. Berzelius: A. a. 0.16). 43 Berzelius hat also unrecht mit der Behauptung, für die „speculative Philosophie gewisser deutscher Schulen" seien „die Erscheinungen der bestimmten Proportionen zu keiner Zeit imvorhergesehener" gewesen „als damals, wie man anfing sie zu bemerken

Anmerkung

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Diese Producte unterscheiden sich nicht bloß durch ein Mehr und Weniger von einander, noch sind sie mit den Verhältnissen, die jenen Knotenverhältnissen nahe liegen, schon vorhanden, etwa nur in einem schwächem Grade, sondern sind an solche Punkte selbst gebunden.

Verbinden sich zwei Stoffe zu verschiedenen Produkten, so sind diese durch Maßverhältnisse („auf besondern Punkten der Mischungsscale") charakterisierbar dergestalt, daß es zwischen den Produkten keinen dem kontinuierlichen Durchlauf des Maßverhältnisses korrespondierenden Übergang gibt. Wiewohl der Unterschied der Substanzen durch das Maßverhältnis bestimmbar ist, beschränkt sich das Vorkommen der Substanzen auf wenige ausgezeichnete und fixe Pimkte der Mischungsskale. Hegel - und darin folgt er Berzelius - lehnt Substanzen „in einem schwächem Grade" oder „Zwischenstufen"44 ab. Die die Substanzen charakterisierenden stöchiometrischen Verhältnisse stehen untereinander im Verhältnis von einfachen ganzen Zahlen. Deshalb führt Hegel dieses an der zu kommentierenden Stelle angesprochende Gesetz der multiplen Proportionen direkt im Anschluß an die Beispiele ,natürliche Zahlen' und ,pythagoreische Musiktheorie' auf^s. tmd zu erweisen; sie wären selbst für immer imbekannt geblieben unter der Herrschaft dieser Philosophie" (J. J. Berzelius: A. a. O. 29 f). Hegel anerkennt die „Entdeckungen über die chemischen Proportionen" (J. J. Berzelius: A. a. O. 29), weist aber zurecht darauf hin, daß aus ihnen nicht zwangsläufig die Atomtheorie Daltons folgt. 44 „[...] die Elemente, vorzüglich in der unorganischen Natur, [vereinigen sich mit einander, U. R.] in gewissen einfachen und bestimmten Proportionen, zwischen welchen keine Zwischenstufen statt finden [...]" (J. J. Berzelius: A. a. O. 29). Bei Berzelius ist das Fehlen von „Zwischenstufen" ein Argument für die Atomtheorie: „ein Atom eines Elements karm sich mit 1, 2, 3, etc. Atomen eines anderen Elementes, aber nicht mit Zwischenstufen oder Brüchen von Atomen, verbinden" (J. J. Berzelius: A. a. 0.24). Für Hegel ist das Fehlen von „Zwischenstuffen" ein Demonstrationsbeispiel für die Knotenlinie. Weiter unter - „ohne durch Zwischenstuffen durchgegangen zu seyn" (21. 367, 21; IV. 460) - übernimmt Hegel den terminus „Zwischenstuffen", den er an die Stelle der in der ersten Auflage enthaltenen „Zwischenverhältnisse" (11.218,35 f) setzt. 45 Das Gesetz der multiplen Proportionen wurde zu Hegels Zeit an den unterschiedlichen Sauerstoffverbindungen bzw. Oxidationsstufen demonstriert. Berzelius sprach von „Sprüngen" und davon, daß die auf dieselbe Menge Metall bezogenen Sauerstoffmengen in den höheren Oxiden zur Sauerstoffmenge des niedrigsten Oxids sich wie die Zahlen 2, 3, 4 u. s. w. verhalten, obwohl bei den damals bekannten Oxiden Zahlen ausfielen: „Alle diese verschiedenen Oxydationsstufen erzeugen sich unter bestimmten Sprüngen von einer Stufe zur andern, ohne Zwischenstufen. Diese Sprünge geschehen gewöhnlich nach gewissen Gesetzen, so daß die Sauerstoffmenge, welche das Oxyd anfänglich enthielt, sich um 1/2 oder 2 oder 3 Male vermehrt. Überhaupt kennen wir noch nicht alle Oxydationsstufen der brennbaren Körper; oft werden neue entdeckt, und es ist wahrscheinlich, daß alle brennbare Körper eine gewisse Anzahl Oxydationsstufen besitzen, in welchen

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Anmerkung

Z. B. die Verbindungen von Sauerstoff und Stikstoff geben die verschiedenen Stikstoffoxide und Salpetersäuren, die nur an bestimmten Quantitäts-Verhältnissen der Mischung hervortreten und wesentlich verschiedene Qualitäten haben, so daß in dazwischen liegenden Mischungsverhältnissen keine Verbindungen von specifischen Existenzen erfolgen.

Bekannt waren „Stickstoffoxydul", „Stickstoffoxyd", „Salpetrichte Säure" und „Salpetersäure". Für diese Verbindungen listet Berzelius die Maßverhältnisse Stickstoff zu Sauerstoff auf und schließt (unter der sich später als richtig herausstellenden Annahme, daß Stickstoff selbst keinen Sauerstoff enthält): „Wir sehen demnach hieraus, daß die Progression [Hegel: „progressive Aenderung der Mischungsverhältnisse", U. R.], in welcher der Stickstoff sich mit dem Sauerstoff verbindet, sich verhält, wie die Zahlen [...] 2 zu 1,2,3 und 5"46. Hegels Formulierimgen enthalten Ungenauigkeiten, mit denen Mißverhältnisse angelegt sind, die Hegels generelles Programm begünstigen: „[...] bey der progressiven Aendenmg der Mischungsverhältnisse [kommen, U. R.] solche qualitative Knoten imd Sprünge vor [...]". Dies suggeriert ein zugrundeliegendes, bestimmimgsloses Substrat; die entstehenden unterschiedlichen Qualitäten rührten dann allein von den unterschiedlichen (quantitativen) Mischungsverhältnissen. Oder: „Diese Producte [...] sind an solche Punkte selbst gebunden". Hegel verwischt den Unterschied zwischen den stöchiometrischen Verhältnissen der reinen Stickstoff-Sauerstoff-Verbindungen und den Mischungsverhältnissen der Ausgangsstoffe Stickstoff und Sauerstoff bei einer stattfindenden Reaktion. Falsch ist die Behaupümg, daß Stoffe, werm ihr Mischungsverhältnis dem stöchiometrischen Verhältnis ihrer Verbindung nicht gleich ist, nicht miteinander reagierten. Auch bei nichtstöchiometrischen Mischimgsverhältnissen entsteht Reaktionsprodukt, die Reaktion selbst ist nicht an die „besondern Punkte der Mischungsskale" gebimden. In der Regel laufen mehrere Reaktionen ab, fast nie setzen sich 100 % um, die Ausbeute hängt von den Reaktionsbedingimgen ab. Darüber hinaus ist sie zwar auch abhängig von den Mischxmgsverhältnissen der Reaktionspartner, aber nicht so, daß die Ausbeute 0 % beträgt, werm das Verhältnis nicht-stöchiometrisch, und 100 %, wenn es sich die Sauerstoffmengen, wie die Zahlen 1,2,3,4 u. s. w. verhalten [...]“ (J. J. Berzelius: Lehrbuch der Chemie. Übersetzt von F. Wöhler. Ersten Bandes erste Abtheilung. Dresden 1825.182). 46 J. J. Berzelius: A. a. O. Ersten Bandes zweite Abtheilimg. Dresden 1825 494 f.

Anmerkung

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stöchiometrisch ist. „[...] so daß in dazwischen liegenden Mischungsverhältnissen keine Verbindungen von specifischen Existenzen erfolgen". Dies ist explizit falsch. Weil Hegel den Unterschied zwischen den Mischungsverhältnissen der Ausgangsstoffe, welche Mischungsverhältnisse bei einer wirklichen Reaktion ein Kontinuum durchlaufen können, und den stöchiometrischen Zusammensetzimgen der Endprodukte, wobei nur an ausgewählten Pimkten der Skala Verbindungen - sprunghaft - auftreten, verwischt, kann er den nur auf dem Papier formulierbaren Durchlauf der stöchiometrischen Zusammensetzung als realen Prozeß der Herstellung der Verbindungen mißverstehen, der dann lediglich als quantitativer Durchlauf von Maßverhältnissen bestimmt wäre. Dieser in Wirklichkeit bloß papieme Durchlauf zeigt - und dies ist die einzige hinzukommende Bestimmung - Knoten, an denen die besonderen Qualitäten (Stickstoffoxide) eintreten. Mit der Verwechseltmg dieses bloß konstruierbaren und deswegen in die äußere Reflexion fallenden Durchlaufs mit tatsächlichen Reaktionsmischungen wäre dann die Qualität (Substanz) durch den Abbruch des quantitativen Durchlaufs von Maßverhältnissen gesetzt. Die Metalloxide, z. B. die Bleyoxide bilden sich auf gewissen quantitativen Piurkten der Oxidation, und unterscheiden sich durch Farben und andere Qualitäten.

Hegel bezieht sich auf den damals bekannten rmd von Berzelius beschriebenen Sachverhalt, daß durch fortlaufende Oxidation aus dem „rothgelben" Oxid das „rothe Superoxyd" (Mermige) und daraus das „braune Superoxyd" (Pb02) gebildet wird47. Sie gehen nicht allmählig in einander über, die zwischen jenen Knoten liegende Verhältnisse geben kein Neutrales, kein specifisches Dase5m. Ohne durch Zwischenstuffen durchgegangen zu se5m, tritt eine specifische Verbindung auf, die auf einem Maaßverhältnisse beruht, imd eigene Qualitäten hat.

Richtig daran ist, daß die Oxide nicht allmählich ineinander übergehen imd daß zwischen ihnen keine spezifisch imterschiedenen Verbindungen existieren. Aber - gegen Hegel - was da „Verbindung" eingeht, das sind Atome von unterschiedener Qualität, eine Sorte Pb und eine 47 J. J, Berzelius: A. a. O. Zweiten Bandes erste Abtheilung. Dresden 1826.288 ff.

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Anmerkung

andere Sorte 0. Diese Atome sind unmittelbar keine Erscheinung, aber dennoch spezifisch bestimmt. Sie bilden Moleküle mit von den Ausgangsatomen wiederum unterschiedenen Qualitäten. Die Atome waren zunächst spekulative Ideen, mit denen Verhältnisse von Maßverhältnissen (die Gesetze der konstanten und multiplen Proportionen) organisiert werden konnten. Sie erwiesen sich aber dann nicht als hypothetische Dinge, die bloß zur Beschreibung von Maßverhältnissen dienen. Hegel wendet sich gegen die „atomistische Metaphysik" (IX. 435), für ihn „tritt eine specifische Verbindung auf", hervorgebracht durch den chemischen Prozeß und beruhend „auf einem Maaßverhältnisse" - imd nicht auf den durch spezifische Qualitäten imterschiedenen Atomen. Mit der Knotenlinie liefert Hegel eine verallgemememde Beschreibung dessen, was passiert, wenn zwei Elemente mehrere Verbindungen eingehen. Aber es bleibt bei der Beschreibimg (des Gesetzes der multiplen Proportionen); die imterschiedlichen stöchiometrischen Verhältnisse und deren in einfachen ganzen Zahlen auszudrückendes Verhältnis untereinander sind ihm Grund genug - ein pythagoreischer Rest bei Hegel? vgl. seine Bestimmung des „Wohlklangs" durch „leichtere Zahlenverhältnisse" (IX. 240) - für die Spezifität der Verbindimgen. Daß hinter den Maßverhältnissen nicht wahrnehmbare Atome mit bestimmt unterschiedenen Qualitäten stehen und daß diese prinzipiell unsichtbaren Atome die experimentell ermittelbaren Verhältnisse von Maßverhältnissen dirigieren, ist für Hegel Metaphysik, gegen die er, den Positivisten des 20. Jahrhunderts vorgreifend, polemisiertes. Oder das Wasser, indem es seine Temperatur ändert, wird damit nicht blos mehr oder weniger warm, sondern geht durch die Zustände der Härte, der tropfbaren Flüssigkeit und der elastischen Flüssigkeit hindurch; diese verschiedenen Zustände treten nicht allmählig ein, sondern eben das bloß allmählige Fortgehen der Temperatur-Aenderung wird durch diese Pimkte mit einemmahle unterbrochen xmd gehemmt, und der Eintritt eines andern Zustandes ist ein Sprung.

Ohne trennenden Absatz und damit in einem Zuge mit den chemi48 Dalton habe seine experimentellen Befunde in die „schlechteste Form einer atomistischen Metaphysik eingehüllt" (IX. 435), eine Metaphysik, „welche in der Chemie wie in der Physik herrschend ist, nämlich den Gedanken oder vielmehr wüsten Vorstellungen von Unveränderlichkeit der Stoffe unter allen Umständen, wie den Kategorien von der Zusammensetzimg und dem Bestehen der Körper aus solchen Stoffen [...]" (IX. 437 f).

Anmerkung

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sehen Reaktionen behandelt Hegel die Aggregatzustände des Wassers. Die beim Erwärmen des Eises auftretenden Sprünge - in den flüssigen xmd dann in den gasförmigen Zustand - werden so in Analogie zu denjenigen Sprüngen bei der fortlaufenden Oxidation des Bleis - zu den verschiedenen Oxiden - gesetzt. Verständlich wird dies auf dem Hintergrund der damaligen Vorstellungen über die die Materie zusammenhaltenden Kräfte. Berzelius bezeichnet die „eigenthümlichen Kräfte", durch welche die Stoffe „in mannigfaltigen Verhältnissen mit einander vereiniget sind", als „Verwandtschaften [...]. Diese Verwandtschaften sind von doppelter Art. Die eine, kraft welcher die kleinsten Theilchen (Moleculen) der Körper imter einander Zusammenhängen, nennt man Zusammenhangs-Verwandtschaft oder Cohaesionskraft "49. Auf dieser Verwandtschaft gründeten die Aggregatzustände und die verschiedenen Kristallisationsformen. „Die andere Art der Verwandtschaft heißt Vereinigungs-Verwandtschaft. Sie findet nur bei zusammengesetzten Körpern, imd zwar zwischen den einfachen Stoffen statt, woraus dieselben zusammengesetzt sind. Durch sie körmen zwei Körper sich zu einem neuen dritten vereinigen, der oft keine von den Eigenschaften derjenigen Körper behält, aus welchen er zusammengesetzt ist"50. Die Wahlverwandtschaft ist nach Berzelius nur eine Spezifikation dieser Vereinigungs-Verwandtschaft. Wenn Berzelius dem Augenschein nach vollkonunen verschiedene Vorgänge als die beiden grtmdlegenden Arten derselben Verwandtschaft in einen Zusammenhang bringt, darm ist es plausibel, daß Hegel sein allgemeines Schema des Verhältnisses von quantitativer Veränderung und qualitativem Spnmg, die Knotenlinie, unmittelbar nach den Bleioxiden auf das gefrierende Wasser anwendet. Hegel stellt auf die eine Seite „das bloß allmählige Fortgehen der Temperatur-Aenderung" (erzwungen durch kontinuierliche Zufuhr bzw. Entzug von Wärme) und auf die andere Seite Eigenschaftsveränderungen des Wassers (z. B. der Dichte, des Brechungsindexes, etc.), die nicht überall kontinuierlich mit der „alhnähligen" Temperaturändeixmg erfolgen, sondern bei bestimmten Temperaturen sich sprunghaft ändern. (Weil diese sprunghaften Änderungen einfach feststellbar sind, können Thermometer geeicht werden: Die Sprünge definieren zu reproduzierbaren Sachverhalten eindeutig zuordnenbare Punkte auf der Temperaturskala, den Eispimkt imd den Kochpunkt.) Mit der Ge49 J, J. Berzelius: A. a. O. Ersten Bandes erste Abtheilung. 3. 50 J. J. Berzelius: A. a. 0.4.

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Anmerkung

genüberstellung hat Hegel recht, jedoch ist der Sprung in den Eigenschaften Dichte, Brechungsindex etc. nicht hinreichend bestimmt als Abbruch (oder bestimmte Negation) des „allmähligen Fortgehens der Temperatur-Aenderung". Überdies verwechselt Hegel - wie schon in der Anmerkung 21. 335, 10 ff; IV. 420 f - Warme und Temperatur. Wird der Wärmeinhalt des Systems (Wasser in einem Behälter) gegen die Zeit aufgetragen, so resultiert bei kontinuierlicher Wärmezufuhr eine Funktion, die streng monoton wachsend ist. Hingegen zeigt die Temperaturkurve in Abhängigkeit von der Zeit einen Knick (eine nicht differenzierbare Stetigkeitsstelle) am Kochpunkt, jedoch keinen Sprung, während andere Eigenschaften wie Dichte, Brechungsindex etc. dort eine Unstetigkeitsstelle besitzen. Die drei Funktionsverläufe sind aufeinander verwiesen; die zugnmdeliegenden Qualitäten sind in einer Konstellation, die durch das Verhältnis dieser verschiedenen Fimktionsverläufe beschrieben werden kann. Die kontinuierliche Wärmezufuhr ist Ursache für die Temperaturzunahme bzw. für den Übergang in den gasförmigen Zustand; ohne die kontinuierliche Wärmezufuhr ist weder der eine Knickstelle aufweisende Temperaturverlauf noch die Sprungfimktion für Dichte, Brechungsindex etc. bestimmbar. Aber das Verhalten der Größen Temperatur, Dichte, Brechungsindex ist nicht durch Abbruch des „bloß quantitativen Fortgehens der Allmähligkeit" (21. 366, 2; IV. 458), also der kontinuierlichen Wärmezufuhr, erklärbar. Hegel sagt, die Qualität (flüssiger Zustand) ändere sich erst einmal nicht, irmerhalb einer „Weite" (21. 365, 8; IV. 457) bleibe sie gegen die „Quantumsveränderung" (Erhöhung des Wärmeinhalts) gleichgültig, sei ihr gegenüber aber „offen". „[...] es tritt ein Punkt dieser Aenderung des Quantitativen ein, auf welchem [...] das Quantum sich als specificirend erweist, so daß das veränderte quantitative Verhältniß [...] in eine neue Qualität [...] umgeschlagen ist" (21.365,9-12; IV. 357). Doch auch schon unterhalb von 100°C verdampfen Wassermoleküle; es ist nicht so, daß bei „Quantumsveränderung" (hier: Zufuhr von Wärme) die Qualität (flüssiger Zustand des Wassers) sich zuerst nicht ändere imd darm an einem Punkt diese „Quantumsveränderung" in die neue Qualität (gasförmiger Zustand) umschlage. Sondern schon vor dem Umschlagspunkt (= Kochpunkt) gibt es ein Verhältnis von sprunghafter Änderung einer Qualität (die Form der Bewegung eines Moleküls im Flüssigkeitsverband und diejenige im Gaszustand sind durch einen Sprung unterschieden) und kontinuierlicher Änderung des Wärmeinhalts des Systems. Dieses Verhältnis wird durch die Dampfdruckkurve beschrieben, die kontinuierlich (exponentiell) mit der Tempera-

Anmerkung

287

tur steigt. Das Verdampfen am Kochpunkt unterscheidet sich vom Verdampfen bei niedrigeren Temperaturen lediglich dadurch, daß beim Sieden die Wassermoleküle nicht nur von der Flüssigkeitsoberfläche aus in den Gaszustand übergehen. Die „neue" Qualität (der gasförmige Zustand) resultiert nicht daraus, daß die alte Qualität (der flüssige Zustand) an einer ihr erst einmal gleichgültigen Größenveränderung (kontinuierliche Wärmezufuhr) angegriffen werden würde und daß dann an einem Punkt die kontinuierliche „Quantumsveränderung" abbräche und in die neue Qualität umschlüge. Vielmehr muß die Differenz der beiden Qualitäten für die Messimg der kontinuierlichen Veränderung vorausgesetzt werden - die Maßgröße ,Temperatur'und ihre „Scale des Mehr und Weniger" ist ohne einen Fixpunkt wie den Kochpunkt nicht bestimmbar. Die kontinuierliche Verändenmg selbst (die Zufuhr von Wärme und dadurch verursacht das kontinuierliche Ansteigen des Dampfdrucks) enthält schon die beiden Qualitäten (die neue Qualität, der gasförmige Zustand, tritt eben nicht erst am Kochpunkt ein). Die neue Qualität ist nicht durch Abbruch der kontinuierlichen Veränderung oder Umschlag aus dieser Veränderung erklärbar - molekular betrachtet: Die Bewegung eines Moleküls im Flüssigkeitsverband ist durch seine kinetische Energie und die Van-der-Waals-Kräfte zu den umgebenden Molekülen bestimmt. „Allmählige" Verändenmg, die den Flüssigkeitsverband erst einmal nicht auflöst, ist die Zufuhr von Wärme, was kontinuierliche Erhöhung der kinetischen Energie der Moleküle bedeutet, die noch statistisch verteilt ist, so daß einige Moleküle austreten können. Die „neue" Qualität, die Form der Bewegung der Moleküle im Gaszustand, ist also schon immer vorhanden. Sie steht im Gleichgewicht mit der alten, der Form der Bewegung der Moleküle im flüssigen Zustand. Beide Qualitäten sind in einer makroskopischen (und kontinuierlichen) Funktion, dem Dampfdruck, miteinander verknüpft. Wächst durch Zufuhr von Wärme die kinetische Energie der Moleküle, bis deren Durchschnitt die Van-der-Waals-Kräfte überwindet, dann siedet die Flüssigkeit. Die Auflösung des Flüssigkeitsverbandes ist der „Sprung". Dieser ist nicht hinreichend durch den „Abbruch" (der kontinuierlichen Zunahme der kinetischen Energie, welche Zunahme im übrigen gar nicht abbricht) bestimmt, sondern für den qualitativen Sprung ist das vorausgesetzt, was durch kontinuierliche Zunahme überwunden wird, die Van-der-Waals-Kräfte, die in ihrer Größe noch von einem äußeren Parameter, nämlich dem Außendruck, abhängig sind, welcher nicht aus der immanenten Zunahme der kinetischen Energie erklärbar ist. Hegels Programm, die neue Qualität als Produkt

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Anmerkung

des Umschlags aus der immanenten, quantitativ „allmähligen" Veränderimg der alten zu bestimmen, versagt an dem exponierten Beispiel. Engels hat das idealistische Hegelsche Programm keineswegs vom Kopf auf materialistische Füße gestellt, sondern schlicht abgeschrieben. „Alle qualitativen Unterschiede in der Natur beruhen entweder auf verschiedner chemischer Zusammensetzung oder auf verschiednen Mengen resp. Formen von Bewegung (Energie) oder, was fast immer der Fall, auf beiden" (MEW 20. 349). - Bei Hegel lautet dies: Die traditionell vorausgesetzten Substanzen beruhen auf Maßen und Verhältnissen von Maßen. Deshalb ist der Übergang von der Bestimmung der Qualität zu den Maßbestimmimgen ein notwendiger und entscheidender Schritt auf dem Weg zum Wesen. -„[...] bloß quantitative Steigenmg oder Abnahme [verursacht, U. R.] an gewissen bestimmten Knotenpunkten einen qualitativen Sprung" (MEW 20. 42; parallel dazu 351). Und Engels interpretierend spricht Rüben vom dialektischen „Grundgesetz", nach dem Qualität „infolge quantitativer Änderungen"5i umschlage, wobei Rüben von Engels (MEW 20. 351) sowohl das „infolge" als auch die Ausnutzung von dessen zweifacher Bedeutung übernimmt: „infolge" in der Bedeuhmg ,im Gefolge von' wäre richtig, aber es ist immer auch die Bedeutung ,durch' mitenthalten, was hinzugesetzte Verben wie ,hervorrufen' und ,verursachen' (MEW 20.351.42) noch unterstützen. Ganz Hegel-konform bestimmt Rüben die neue Qualität als Negation der alten: Der Zustand der Moleküle in der Gasphase sei die „dialektische [Hegels bestimmte Negation ist bei Rüben, der darin Engels (MEW 20.132) folgt, in eine „dialektische" umgeschlagen, U. R.] Negation" desjenigen in der flüssigen Phase, denn die die flüssige Phase bestimmenden Van-der-Waals-Kräfte würden „in ihrer realen Existenz aufgehoben"52. Das stimmt nicht, die Van-der-WaalsKräfte sind im Gaszustand nach wie vor vorhanden, sie verursachen die (gerade beim Wasserdampf erheblichen) Abweichungen von idealen Gasgesetz. Ergo: Die Knotenlinie erklärt den Qualitätsumschlag flüssig-gasförmig nicht. Weder ist die neue Qualität hinreichend als Negation der alten bestimmbar. (Der Gaszustand ist nicht das Nicht-Realisieren der Van-der-Waals-Kräfte wie bei RubenSS.) Noch ist der Umschlag als Abbruch oder bestimmte Negation der „Verändenmgsten51 P. Rüben: Die materialistische Dialektik und ihre Grundgesetze. In: P. Rüben: Dialektik imd Arbeit der Philosophie. Köln 1978. 88. 52 p Rüben: A. a. 0.89. 53 p. Rüben: A. a. O.

Anmerkung

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denz"54 bestimmbar. (Die kontinuierliche Zunahme der kinetischen

Energie der Moleküle bricht weder ab noch schlägt sie um, sondern überwindet ab einer bestimmten Größe die Van-der-Waals-Kräfte.) Alle Geburt und Tod, sind, statt eine fortgesetzte Allmähligkeit zu seyn, vielmehr ein Abbrechen derselben, und der Sprung aus quantitativer Veränderung in qualitative.

Die Korrektur gegenüber der 1. Auflage (dort: „Sprung aus dem Quantitativen in das Qualitative" (11. 219,9), hier: „Sprung aus quantitativer Veränderung in qualitative") unterstreicht die in Das reale Maaß gewonnene Bestimmung der Qualität durch einen spezifizierenden Prozeß des sich von sich selbst abstoßenden Maßes. Qualität sei „ein Abbrechen" „fortgesetzter Allmähligkeit" und der „Sprung" aus der kontinuierlichen Veränderung eines Maßverhältnisses. (Im Unterschied dazu - und deshalb korrigierte Hegel - die abstraktere Bestimmung des Übergangs der Quantität in die Qualität (imd umgekehrt) zu Beginn des Abschnitts Das Maaß (21. 320,14-29; IV. 402), vgl. auch den Kommentar zur nächsten Passage). Weil kontinuierliche Veränderungen von Maßverhältnissen in neue Qualitäten umschlügen, seien letztere hinreichend durch den sie hervorbringenden Prozeß (die zu ihrem „Abbrechen" sich fortsetzende „Allmähligkeit") bestimmt: Neu eintretende Qualitäten »Am Beispiel Geburt und Tod) „sind" „ein Abbrechen", sind der „Sprung ms quantitativer Veränderung" (von Maßverhältnissen), oder wenig ' metaphorisch ausgedrückt: sind die bestimmte Negation dieser Veränderung. Der Fehler liegt in dem „sind". Das Verhältnis von kontinuierlichen Verändenmgsprozessen und sprunghafter Änderung der Qualität ist vielmehr das einer Konstellation, in der die qualitative Ändenmg nicht aufgeht in dem Sprung aus der kontinuierlichen Verändenmg von Maßverhältnissen. Hegel hat seine Beispiele hier geschickt gewählt; „Geburt und Tod" sind Begriffe des „Abbrechens" (eines Prozesses) und weniger der eintretenden Qualität. Doch auch an diesem Beispiel kann das Versagen der Knotenlinie aufgezeigt werden: Sowohl vor wie nach der Geburt gibt es ein kontinuierliches Wachstum. Dieser kontinuierliche Veränderungsprozeß ist verschränkt mit sprunghaften Ändertmgen. Aber die eintretenden Qualitäten sind nicht „ein Abbrechen" der „Allmähligkeit". 54 R Rüben: A. a. O. 88.

290

Anmerkung Es gibt keinen Sprung in der Natur, wird gesagt; und die gewöhnliche Vorstellung, wenn sie ein Entstehen oder Vergehen begreifen soll, meynt, wie erinnert, es damit begriffen zu haben, daß sie es als ein allmähliges Hervorgehen oder Verschwinden vorstellt.

Hegel hat recht: Es gibt (qualitative) Sprünge in der Natur; solche diskontinuierlichen Änderungen von Qualitäten sind nicht durch eine kontinuierliche Änderung von Maßverhältnissen begreiflich zu machen (Parallelstelle zu 21.366,6-10; IV. 458). Es hat sich aber gezeigt, daß die Veränderungen des Seyns überhaupt nicht nur das Uebergehen einer Größe in eine andere Größe, sondern Uebergang vom Qualitativen in das Quantitative und umgekehrt sind, ein Anderswerden, das ein Abbrechen des Allmähligen und ein Qualitativ-Anderes gegen das vorhergehende Daseyn ist.

Die Qualität war die erste, unmittelbare Bestimmtheit. Die Entwicklung der Qualität führte in den Prozeß der „Repulsion" der vielen Eins und zu deren „Attraction": Qualität ging in Quantität über (vgl. 21.165, 11-27; rV. 209). Die so erreichte quantitative Bestimmtheit erschien zunächst äußerlich gegenüber der qualitativen des Anfangs (vgl. 21. 173, 17; IV. 219). Aber die Entwicklimg der Quantität erweist diese selbst als „eine Qualität, sich auf sich beziehende Bestimmtheit überhaupt, unterschieden von der ihr andern Bestimmtheit, von der Qualität als solcher. Allein sie ist nicht nur eine Qualität, sondern die Wahrheit der Qualität selbst ist die Quantität; jene hat sich als in diese übergehend gezeigt" (21. 320,15-18; IV. 402). Umgekehrt geht Quantität in Qualität über: Im „Potenzenverhältniß" ist „das Quantum gesetzt [...], wie es seinem Begriffe gemäß ist [...]; es ist zu seinem Andern, der Qualität, geworden [...]" (21. 320, 5-11; IV. 401). Also ist die Quantität „in ihrer Wahrheit die in sich selbst zurückgekehrte, nicht gleichgültige Aeusserlichkeit [das, was sie, abstrakt genommen, zunächst nicht ist, U. R.]. So ist sie die Qualität selbst, so daß außer dieser Bestimmung nicht die Qualität als solche noch etwas wäre" (21. 320,18-21; IV 402). Indem die äußere Reflexion demnach zeigen konnte, sowohl daß in der Quantität die Qualität aufgehoben enthalten ist, als auch daß die Quantität in die Qualität zurückkehrt, erhellt sich ihr der „gedoppelte Übergang" (21. 320, 21; rV. 402). Und damit ist das Maß, die unmittelbare Einheit von

Anmerkung

291

Qualität und Quantität, erreicht. Das Maß als solches ist „die s e y e n d e Einheit des Qualitativen und Quantitativen, seine Momente sind als ein Daseyn, eine Qualität und Quanta derselben, die nur erst an sich untrennbar [...]. Die Entwicklung des Maaßes, enthält die Unterscheidimg dieser Momente, aber zugleich die Beziehung derselben, so daß die Identität, welche sie an sich sind, als ihre Beziehung aufeinander wird, d. i. gesetzt wird" (21.326,19-25; IV. 402). Der zuvor abstrakte, von der äußeren Reflexion lediglich aufgezeigte, gedoppelte Übergang Qualität-Quantität und Quantität-Qualität wird in der Entwicklung des Maßes, im realen Maß, durch den Prozeß des sich von sich abstoßenden Maßes gesetzt - und ist so gedoppelter Umschlag: 1.) Die Wahlverwandtschaft, ein spezifiziertes Maßverhältnis, schlägt in das Kontinuieren, das quantitativ kontinuierliche Durchlaufen von Maßverhältnissen, um. 2.) Die kontinuierliche Veränderung des Maßverhältnisses bricht ab (oder: schlägt um) in die neue Qualität. Beim Übergehen fällt die Form der Beziehung von Qualität und Quantität in die äußere (d. i. unsere) Reflexion, während das, was im Übergang zu anderem geworden ist, verschwunden ist (vgl. VIII. 259). Beim Umschlagen ist die Beziehung von quantitativer Veränderung und qualitativem Sprung gesetzt: Die quantitative Veränderung bewirkt eine sprunghafte Änderung der Qualität, mit der neuen Qualität ist eine erneute kontinuierliche Veränderung des Maßverhältnisses gesetzt (Fortschreiten auf der Knotenlinie). - Soweit Hegel. Was er unterschlägt, ist, daß für den Umschlag im realen Maß der chemische Prozeß vorausgesetzt werden muß. Qualität ist nicht lediglich Spnmg aus quantitativer Veränderung, der Umschlag im realen Maß ist nicht gesetzt. Also bleiben qualitative Bestimmimgen vorausgesetzt und können nicht in die durch die an sich selbst spezifizierende Einheit erzeugte Knotenlinie von Maßverhältnissen aufgelöst werden - der entscheidende Zwischenschritt für den Übergang ins Wesen scheitert. Das Wasser wird durch die Erkältung nicht nach und nach hart, so daß es breyartig würde und allmählig bis zur Consistenz des Eises sich verhärtete, sondern ist auf einmal hart;

Die kontinuierliche Wärmeabgabe („Erkältimg") und die stetige, an der Knickstelle nicht differenzierbare Temperaturabnahme sind mit der diskontinuierlichen Änderung der Härte verknüpft - soweit trifft Hegels Polemik gegen eine „allmählige" Änderung der Konsistenz zu. Aber ähnlich wie oben Hegel den auf dem Papier formulierbaren

292

Anmerkung

Durchlauf stöchiometrischer Zusammensetzungen mit wirklich reagierenden Mischungen verwechselte, so mißversteht er hier die in einem Diagramm ,Härte gegen Temperatur' aufzuzeichnende Sprungfunktion als unmittelbares Abbild eines realen Prozesses. Denn es ist nicht so, daß bei Erreichen von 0°C Wasser „auf einmal hart" wäre. Vielmehr sind bei 0°C Wasser und Eis für eine gewisse Zeit koexistent. Der Eispimkt ist gerade deshalb stabil (und möglicher Eichpunkt für Thermometer), weil, wenn Wärme entzogen bzw. zugeführt wird, Wasser gefriert bzw. Eis abschmilzt. Insofern ist ein kontinuierlicher Prozeß (Abschmelzen bzw. Neugefrieren, auszudrücken im kontinuierlich veränderbaren Maßverhältnis Masse Wasser : Masse Eis) auf eine sprunghafte Änderung der Qualität bezogen. Analog beim Verdampfen: Bei 100°C ist das Wasser nicht plötzlich weg, sondern die kontinuierliche Zufuhr von Wärme bewirkt ein kontinuierliches Verdampfen (= Übergang in die Gasphase), solange flüssiges Wasser noch vorhanden ist. Der kontinuierliche Prozeß (der Wärmezufuhr) ist mit dem sprunghaften Phasenübergang dergestalt verschränkt, daß eine Maßgröße (100°C) stabil bleibt. Es ist aber nicht so, daß der Abbruch des kontinuierlichen Prozesses den qualitativen Sprung setzt. schon mit der ganzen Temperatur des Eispimktes, werm es ruhig steht, kann es noch seine ganze Flüssigkeit haben, imd eine geringe Erschütterung bringt es in den Zustand der Härte.

Hegel beschreibt hier einen anderen Vorgang, nicht das Gefrieren bei 0°C, sondern den metastabilen Zustand einer unterkühlten Flüssigkeit. „Eine geringe Erschüttenmg" bringt ein solches System in den Gleichgewichtszustand. Bey der Allmähligkeit des Entstehens liegt die Vorstellung zu Grimde, daß das Entstehende schon sirmlich oder überhaupt wirklich vorhanden, nur wegen seiner Kleinheit noch nicht wahrnehmbar, so wie bey der Allmähligkeit des Verschwindens, daß das Nichtseyn oder das Andre anseine Stelle tretende gleichfalls vorhanden, nur noch nicht bemerkbar sey;- und zwar vorhanden nicht in dem Sirme, daß das Andre in dem vorhandenen Andern an sich enthalten, sondern daß es als Daseyn, nur vmbemerkbar, vorhanden sey. Es wird damit das Entstehen und Vergehen überhaupt aufgehoben, oder das An - sich, das Irmere, in welchem etwas vor seinem

Anmerkung

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Daseyn ist, in eine Kleinheit des äusserlichen Das e y n s verwandelt, und der wesentliche, oder der Begriffsunterschied in einen äusserlichen, bloßen Größeunterschied. Hegel kritisiert die der „Allmähligkeit des Entstehens" zugrundeliegende Vorstellung, daß das Entstehende „als Dase5m" schon wirklich vorhanden, nur wegen seiner Kleinheit (noch) nicht wahrnehmbar sei. Gemeint ist die zeitgenössische Theorie von prinzipiell der Wahrnehmung entzogenen Atomen, die, selber unveränderlich, durch ihr Zusammentreten bzw. Auseinandergehen Verändenmgsprozesse zu qualitativ unterschiedenen Substanzen begründeten^s. In solcher Theorie würde das „ An-sich, das Innere, in welchem etwas vor seinem Daseyn ist, in eine Kleinheit des äusserlichen Daseyns verwandelt, und der wesentliche, oder der Begriffsunterschied in einen äusserlichen, bloßen Größeunterschied". Hegel setzt dagegen: Die neue Qualität oder das neue Etwas ist „nicht aus dem vorhergehenden, sondern unmittelbar aus sich hervorgetreten, d. i. aus der innerlichen, noch nicht ins Daseyn getretenen specificirenden Einheit" (21. 365, 18; IV. 457). Diese sich selbst spezifizierenden Einheit („das An-sich, das Irmere") ist schon das Wesen. „Im Maaß war an sich schon das Wesen imd sein Proceß besteht nur darin, sich als das zu setzen, was es an sich ist" (VIII. 259). Die durch einen Sprung ins Dasein tretende neue Qualität ist so ein Unterschied, gesetzt aus dem „An-sich" oder dem Wesen. Weil das Maß „an sich oder im Begriffe das Wesen" (21. 326, 18; IV 409) ist, ist der „wesentliche" Unterschied auch „Begriffsimterschied". Hegel polemisiert gegen die Atomtheorie, weil diese Entstehen imd Vergehen auf „eine Kleinheit des äusserlichen Daseyns"[= Atome, U. R.] zurückführe und damit den „wesentlichen oder [...] Begriffsunterschied in einen äusserlichen, bloßen Größeunterschied" verwandele. 55 In der Naturphilosophie polemisiert Hegel gegen eine „Metaphysik, welche in der Chemie wie in der Physik herrschend ist, nämlich den Gedanken oder vielmehr wüsten Vorstellungen von Unveränderlichkeit der Stoffe unter allen Umständen, wie den Kategorien von der Zusaixunensetzimg imd dem Bestehen der Körper aus solchen Stoffen [..(IX. 437 f). Weil die Stoffe durch chemische Reaktionen bestimmte Eigenschaften verlieren und andere qualitativ verschiedene hinzugewinnen, sei die Vorstellung ungereimt, unabhängig von hinzugewonnenen bzw. verlorenen Eigenschaften lägen „dieselben Dinge" (= Atome), vor wie nach der Reaktion unverändert, zugrunde und allein ihre räumliche Anordnung („Zusammensetzung") änderte sich. Für Hegel sind die Stoffe mit ihren qualitativ verschiedenen Eigenschaften Produkt des chemischen Prozesses imd deshalb wesentlich durch diesen bestimmt, nicht aber durch eine bloß äußerliche Anordnung von unveränderlichen Atomen.

294

Anmerkung

Sachlich ist Hegels Gegenposition falsch, was an dem in den letzten Kapiteln verwendeten Beispiel der Neutralisation demonstriert werden kann: Hegel keimt nur Säure/Base/Neutralität als qualitativ unterschiedene Begriffe (wobei er den sprunghaften Farbumschlag des Indikators bei einer Titration vor Augen hat), nicht aber das, was diesen Erscheinimgen auf der molekularen Ebene als prinzipiell unsichtbarer Prozeß zugrundeliegt, die Vereinigung der Ionen H+ und OH- zu H2O. Für Hegel ist Etwas dem Begriffe nach entweder sauer, basisch oder neutral. Diese Unterscheidimg unterstellt einen qualitativen Sprung, und dieser qualitative Sprung soll unmittelbar faßbares, sinnliches Dasein haben (Hegel denkt an die Titration Salzsäure mit Natronlauge und einem Indikator), nicht aber selber mittelbar erschlossen sein. Doch es ist gerade so, wie Hegel es bestreitet: Der Begriffsimterschied (sauer/basisch/neutral) ist nicht an sich selbst, sondern durch einen „äusserlichen, bloßen Größeunterschied", und zwar den an einer dritten molekularen ,Qualität', bestimmt: durch die Protonenkonzentration (pH 7, pH = 7). Und die Neutralität (im Beispiel der Neutralpunkt) ist nicht für sich zu bestimmen und auch nicht durch eine noch nicht ins Dasein getretene, spezifizierende Einheit gesetzt, sondern ist die Protonenkonzentration pH = 7, welche nur indirekt über einen Indikator sichtbar gemacht werden kann, dessen Farbumschlag durch die kontinuierliche Konzentrationsänderung jener molekularen ,QuaUtät' (Protonen) dirigiert wird. Hegels Begriffe (sauer, basisch, neutral) gehen nur auf die Erscheimmgen, nicht auf die Substanzen. Deshalb ist auch seine Erklärung des Entstehens bzw. Verschwindens von ,Qualitäten' in chemischen Prozessen falsch. Obwohl der Augenschein für ein sprunghaftes Eintreten der Qualität ,Neutralität' spricht (Farbumschlag), beginnt die Neutralisationsreaktion allmählich und mit dem Anfang der Titration. Schon zu Anfang bildet sich Neutralisationsprodukt; „das Entstehende" ist schon „wirklich vorhanden, nur wegen seiner Kleinheit noch nicht wahrnehmbar" - jedoch wahrnehmbar zu machen, wenn man eindampfte und das Neutralisationsprodukt (das Salz) auskristallisierte; es ist also nicht erst am Äquivalenzpunkt vorhanden, wie Hegel entsprechend dem unmittelbar ins Dasein tretenden Begriff des Neutralen vermutet. Hegel verwischt den Unterschied zwischen dem sinnlich Wahrnehmbaren (dem Farbumschlag des Indikators, welcher nur mittelbar mit der die Qualität bestimmenden Maßgröße, der pH-Änderung, zusammenhängt) und dem wesentlichen oder Begriffsunterschied (sauer/neutral/basisch) und leugnet jedes Dasein jenseits des

Anmerkung

295

Wahrnehmbaren. Die Behauptung eines solchen Daseins sei die „eigenthümliche Metaphysik einer unkritischen Reflexion" (21. 357, 3 f; IV. 446). Die Chemie dagegen trennt zwischen der makroskopischen, erscheinenden Farbänderung und dem molekularen Prozeß (der Rekombinationsreaktion von H+ und OH- zu H2O), der wegen seiner „Kleinheit des äusserlichen Daseyns" zwar nicht wahrnehmbar, dermoch aber „wirklich vorhanden" ist und als objektiver Prozeß den Erscheinungen (Farbumschlägen, makroskopischen Konzentrationsänderimgen) zugrundeliegt. Insofern Hegel die ,Substanz' als auf spezifischer molekularer Struktur beruhend ablehnt und stattdessen aus den Erscheinungen ,Qualitäten' abliest (und so die Earbänderung unmittelbar für eine Qualitätsänderung nimmt), antizipiert er positivistische Thesen: Der Begriff (bei den Positivisten heißt das dann ,Beobachtungsprädikat') gehe nur noch auf die Erscheinungen (das, was der Fall ist); explizit nichtempirische, erschlossene Begriffe wie ,Substanz', ,Atome' ect. entstammten einer „eigenthümlichen Metaphysik einer unkritischen Reflexion" und behinderten die Wissenschaft. Doch für Chemiker ist ,Substanz' (im Beispiel: Protonen) als bestimmtes, qualitativ unterschiedenes Dasein vorhanden. Metaphysischen und deshalb nur spekulativ einzuführenden Begriffen wie den Atomen korrespondiert, so zeigen mit diesen Begriffen mögliche Experimente, eine spezifische Realität. Diese Atome sind Dinger mit spezifischen, qualitativen und quantitativen Eigenschaften, und zwischen diesen Dingern laufen objektive Prozesse ab. Atome und ihre Prozesse sind nicht unmittelbar wahrztmehmen, doch vermittels Erscheinungen kann auf ihr Dasein geschlossen werden. Die unterschiedlichen Quanta der Substanz (im Beispiel: die Konzentration der Protonen) können durch erscheinende Qualitäten und qualitative Sprünge (Farben des Indikators) sichtbar gemacht werden. Wie bei der Neutralisationsreaktion, so geht auch bei dem vorherigen Beispiel, dem Phasenübergang flüssiges Wasser - Wasserdampf, Hegels Begriff nicht auf die Substanz und deren molekulare Prozesse, sondern auf Erscheinimgen. Aus letzteren gewinnt Hegel die anschaulichen ,Qualitäten' ,flüssig' und ,gasförmig' imd die Vorstellung von deren Umschlagen, einem Prozeß, durch den ein nicht bestimmtes Substrat zu jenen Qualitäten spezifiziert werde. Daß diesen Qualitäten und dem Phasenübergang (dem Verdampfen) eine Substanz, d. h. spezifisch bestimmte Moleküle, und deren durch ihre Wechselwirkung bestimmte, jedoch nicht sichtbare Bewegrmgen zugrundeliegen, lehnt Hegel ab. Oder am Beispiel der Kristallisation von Eis: Hegel würde sagen, das

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Anmerkxing

Auskristallisierende sei vorher nicht „als Daseyn, nur unbemerkbar" in der Lösung vorhanden. Es sei als Festes durch einen Sprung vom Flüssigen unterschieden; zwischen Flüssigem und Festem könne es keinen kontinuierlichen Übergang geben; das Feste trete deshalb nicht aus dem Flüssigen hervor, sondern aus sich oder der „innerlichen, noch nicht ins Daseyn getretenen specificirenden Einheit" (21. 365, 18; IV. 457). Hegels Begriffe bleiben unmittelbar den Erscheinungen verhaftet: Der Unterschied der Qualitäten ,flüssig' und ,fest' ist sinnlich wahrnehmbar; vor der Kristallisation ist das Eis nicht im Wasser wahrnehmbar; also habe das Feste - Hegel lehnt an sich bestimmte Substanzen ab - vorher kein Dasein, sondern trete erst durch den Prozeß ins Dasein. Auf die Erscheinungen bezieht sich also unmittelbar der „wesentliche, oder der Begriffsunterschied" (flüssig - fest). Erst durch den Prozeß (das Abkühlen) werde das zunächst nicht weiter bestimmte Substrat zu den Qualitäten spezifiziert, welche zuvor nicht vorhanden, sondern eben sprunghaft ins Dasein treten. Doch Hegel hat unrecht: Die auskristallisierende Substanz ist in der Lösung schon vorhanden, „in eine Kleinheit des äusserlichen Daseyns verwandelt", ehe sie ein sinnlich faßbares Dasein in Form von Kristallen hat. Die die Polemik gegen die Atomtheorie transportierende Gegenüberstellung ,Begriffsunterschied versus äußerlicher, bloßer Größeunterschied' dient dazu, ersteren als durch einen Umschlag von letzterem zu bestimmen und dadurch an sich bestimmte, wenn auch nicht wahrnehmbare Substanzen (= Atome) zu beseitigen, deren Maßbestimmungen („Größeunterschied") gerade die erscheinenden sprunghaften Qualitäten erklären. Die Entwicklung des realen Maßes bis zu dieser Stelle sei rekapituliert: Hegel fing mit den spezifischen Schweren an; es ergab sich ein System von Maßverhältnissen; als Bedingung dieser quantitativen Relationen erschloß die (äußere) Reflexion eine qualitative Bestimmtheit, das Äquivalentgewicht. Damit enthalten die Relationen etwas, was mehr ist als aus Erscheimmgen ablesbare Maßverhältnisse und was auch mehr ist als ein zur systematischen Ordnung dieser Relationen von Maßen notwendiger regulativer Begriff. Es ist etwas, was die Sache trifft, die somit ontologisch bestimmt ist: an sich bestimmte, spezifisch unterschiedene Atome. Aber Hegel lehnt Atome ab, stattdessen postuliert er einen „wesentlichen, oder [...] Begriffsunterschied", der dem „äusserlichen, bloßen Größeunterschied" gegenüberzustellen sei. Und um ersteren Unterschied zu begründen, gibt Hegel die aus dem System der quantitativen Maßrelationen erschlossene notwendige Bedingung für den aus diesem System entwikkelbaren zureichenden Grund des-

Anmerkung

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selben aus: Er löst die wesentlichen Unterschiede auf in den Umschlag aus den Relationen von Maßverhältnissen; die Qualitäten sollten vollständig durch dieses Umschlagen bestimmt sein. Deshalb ist für Hegel die Neutralität durch den Prozeß der Neutralisation bestimmt und nicht eher vorhanden, bevor am Neutralpimkt die ,Qualität' umschlägt. An seinem Beispiel stimmt es nicht: Das Salz (die aus dem Prozeß der Neutralisation resultierende Substanz) ist schon vor dem Umschlagspunkt „vorhanden, nur noch nicht bemerkbar". Die Wissenschaft Chemie geht von qualitativ und quantitativ bestimmten Atomen und deren Prozessen aus, die wegen ihrer Kleinheit nicht wahrgenommen werden können. Und die nicht unmittelbar wahrnehmbaren, aber doch zu erkermenden qualitativen Eigenschaften der Atome stehen im Verhältnis zu den makroskopischen Qualitäten (wie basisch-sein), die dann durch den Farbumschlag eines Indikators angezeigt werden. Das Begreiflichmachen eines Entstehens oder Vergehens aus der Allmähligkeit der Verändenmg hat die der Tavtologie eigene Langweiligkeit; es hat das Entstehende oder Vergehende schon vorher ganz fertig und macht die Veränderung zu einer bloßen Aenderung eines äusserlichen Unterschiedes, wodurch sie in der That nur eine Tavtologie ist.

Hegel hätte recht, wenn ein allgemeines und nicht weiter bestimmtes Substrat unterstellt wird und wenn Entstehen und Vergehen dann „Veränderung" an diesem einen Substrat wären. Denn „Veränderung" an einem solchen nicht an sich bestimmten und nicht spezifizierten Substrat wäre, akzeptierte man nicht Hegels an sich selbst spezifizierende Einheit und den Umschlag aus dem kontinuierlichen Durchlauf von Maßverhältnissen, die bloße „Aenderung eines äusserlichen Unterschieds". Dann aber wäre die Erklänmg des Entstehens und Vergehens „aus der Allmähligkeit der Veränderung" tautologisch, weil man „das Entstehende oder Vergehende schon vorher ganz fertig" haben müßte. Für Hegel ist ein Objekt nichts als die Synthesis von Eigenschaften, die sich in Maßen imd Relationen von Maßen ausdrücken lassen; es gibt keinen objektiven Träger der Eigenschaften, der nicht die absolute Negativität wäre. Unter dieser Voraussetzimg wäre die Zurückführimg des qualitativen Sprungs beim Entstehen vmd Vergehen („der wesentliche, oder der Begriffsunterschied") auf einen „äusserlichen, bloßen Größeunterschied" in der Tat eine tautologische, d. h. gar keine Erklärung. Jedoch hat die angegriffene Atomtheorie mit ihrer Voraussetzung

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recht: Das Substrat ist spezifisch bestimmt, es gibt qualitativ unterschiedene Atomsorten. Diese an sich bestimmten Atome verändern sich nicht in einer chemischen Reaktion, sondern nur deren Konfiguration. Diese Konfiguration und deren Veränderung lassen sich durch „einen äusserlichen, bloßen Größeunterschied“ (durch Maße imd Verhältnisse von Maßen) beschreiben. „Das Begreiflichmachen“ des Entstehens einer neuen Substanz (einer makroskopischen Qualität) durch die „Allmähligkeit der Veränderung“ der Konfiguration spezifisch bestimmter Atome (einer molekularen Qualität, die von der erscheinenden makroskopischen Qualität verschieden ist) ist nicht tautologisch. Der entscheidende Punkt: Hegel lehnt die nicht sichtbaren, aber dennoch realen, an sich bestimmten Atome als falsche, einer angeblich unkritischen Metaphysik entnommene Behauptimg ab und nimmt stattdessen ein an sich bestimmimgsloses Substrat an, die im und durch den Prozeß sich spezifizierende, innerliche Einheit. Für Kant gab es noch einen objektiven Träger resp. eine objektive Ursache der Erscheinungen: das Ding-an-sich, das nicht in Raum und Zeit bestimmt sein und dem eine über den Begriff hinausgehende Bestimmtheit zukommen soll. Hegel argumentiert dagegen, daß dann etwas, was erschlossen ist, mehr Bestimmtheit hätte als das, woraus es erschlossen ist, was nicht sein könne. Deshalb sei das Substrat als bestimmungsloses und nicht als objektiver, an sich bestimmter Träger der Erscheinungen zu denken. Die Schwierigkeit für solchen begreiffen wollenden Verstand liegt in dem qualitativen Uebergang von Etwas in sein Anderes überhaupt und in sein Entgegengesetztes; dagegen spiegelt er sich die Identität imd die Veränderung als die gleichgültige, äusserlichedes Quantitativen vor.

Hegel kritisiert am „begreiffen wollenden Verstand“ (gemeint sind z. B. die zeitgenössischen Chemiker), daß dieser sich „die Identität und die Veränderung als die gleichgültige äusserliche des Quantitativen“ (= die Veränderung der Atome in Raum und Zeit) vorspiegele. Hegel dagegen nimmt an, daß in der Reflexionsbestimmung ,Identität' die Bestimmungen des Quantitativen und des Maßes aufgehoben seien und daß insofern Identität für sich und ohne Rekurs auf vorausgesetzte Qualitäten, Quantitäten und Maße vorgespiegelt werden könne (und müsse). Nim spiegelt sich in der Tat der Naturwissenschaftler Identität und Veränderung von Substanzen als Bestimmtheit dessen vor, was nicht unmittelbar greifbar ist, nämlich der qualitativ unterschiedenen

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Atome, deren unterschiedlichen Konstellationen und der Veränderungen dieser Konstellationen. All dies kann durch Maßverhältnisse beschrieben werden. Also sind Identität und Veränderung (von Substanzen) auf die quantitative Veränderung von Maßverhältnissen bezogen. Diese Vorspiegelung (des Naturwissenschaftlers) ist kein einfaches Abbildungsverhältnis. Denn der als Ding vorgestellte spekulative Vernunftbegriff (Atom) ist nicht unmittelbar Abbild von Gegenständen (Atome sind unmittelbar nicht wahrnehmbar). Wahrnehmbar sind lediglich die (makroskopischen) Qualitätsänderungen bei chemischen Reaktionen; aus diesen Wahrnehmungen können Maßverhältnisse (stöchiometrische Verhältnisse) und ein System dieser Verhältnisse bis hin zu den Äquivalentgewichten gewonnen werden - soweit stimmt Hegel mit den zeitgenössischen Chemikern überein. Spekulativ werden dann von den Chemikern regulative Ideen (Atome) eingeführt, mit denen die Maßrelationen interpretiert werden können und die eine systematische Ordnung der Erscheinungen leisten: Die Äquivalentgewichte werden als relative Atom- bzw. Molekülmassen interpretiert. Regulativen Ideen korrespondiert nach Kant keine Realität, und auch Hegel läßt die Äquivalentgewichte lediglich als Ordmmgsbegriffe zu, die die Erscheinungen organisieren, die aber nicht mehr enthalten als zur systematischen Ordnung der Maßverhältnisse notwendig ist. Und insofern argumentiert Hegel wie ein Positivist, der nur Erscheinungen, deren Beschreibimgen, die daraus gewonnenen Maße und Relationen von Maßen imd erklärende Begriffe kennt, denen kein fundamentum in re über die wahrgenommenen Erscheinungen hinaus korrespondiert. Doch der Atombegriff ist nicht nur regulativ, sondern konstitutiv, was sich Mitte des 19. Jahrhimderts herausstellte. Für die Erklärung der Gesetze der konstanten und multiplen Proportionen, für die die Atome ausgedacht waren, wäre es ausreichend gewesen, die Atome als regulative Ordnungsbegriffe aufzufassen. Werden sie jedoch als Dinger im Raum angesehen, dann wird dem Atombegriff mehr zugesprochen als in den Erscheinungen enthalten ist, für deren Erklärung (genauer: für die Erklärung der aus den Erscheinungen gewonnenen Maßrelationen) er erfunden wurde. So war zu seiner Zeit Hegels Polemik gegen eine unkritische „eigenthümliche Metaphysik" verständlich. Die Chemiker sprachen - von den Erscheimmgen nicht gedeckt - den Atomen Realität zu, nahmen sie also als (prinzipiell) unsichtbare Dinger im Raum. Sind die Atome Dinger im Raum, muß ihnen eine bestimmte Konfiguration im Raum zukommen. Damit war der Gedanke möglich, daß dieselben Dinger (Atome) sich im Raum in verschiedenen Konfigurationen befin-

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den können - und prompt fand man isomere Verbindungen. Wenn zu Anfang der organischen Chemie Eigenschaften eines bekannten Stoffes auf eine unsichtbare Konfiguration (Strukturformel) und die Differenz von zwei Stoffen derselben stöchiometrischen Zusammensetzung auf den Unterschied der räumlichen Konfiguration zurückgeführt wurden, so ließ sich dieses Verhältnis von wahrnehmbarer makroskopischer Realität und unsichtbarer molekularer Realität später auch in umgekehrter Richtimg verwenden: Auf dem Papier wurden Strukturformeln erdacht, die postulierte unsichtbare Konfiguration ging konstitutiv in das praktische Syntheseverfahren ein, und die danach hergestellten Stoffe mit der erdachten Struktur zeigten dann die Eigenschaften, die man aufgrund dieser Struktur und des Wissens um andere Stoffe und deren ähnliche Strukturformeln voraussagte. Strukturformeln (d. h. bestimmt unterschiedene, räumliche Konfigurationen) setzen die Realität der Atome voraus. Denn käme den Atomen keine Realität zu, dann wäre die Vorstellung einer Konfiguration von Atomen im Raum gegenstandslos. Weil die Konfiguration, wenn nach einer erdachten Strukturformel ein Stoff synthetisiert wird, technisch praktisch wirksam ist und weil gegenstandslose Begriffe technisch nicht wirksam sein können, beweist der Erfolg der synthetischen Organischen Chemie die Realität der Atome. Wären die Atome bloß regulative Ordnungsbegriffe, dann gäbe es nur analytische Chemie. Die polemische Formulierung - „für solchen begreiffen wollenden Verstand" - deutet darauf hin, daß Hegel sich mit Kant darin einig weiß, daß einem spekulativen Vemunftbegriff (wie dem Atom) keine Realität angedichtet werden dürfe. „Vernunftbegriffe dienen zum Begreifen "56 - so Kant, der zwischen konstitutiven reinen Verstandesbegriffen und regulativen Vermmftbegriffen scharf imterscheidet. Und so nennt Hegel denjenigen, der mit Vernunftbegriffen wie mit Dingern hantiert, sie abzählt und dann auch noch in räumlicher Anordnung jenseits jeglicher Wahrnehmung vorstellt, einen lediglich „begreiffen wollenden Verstand". Hegels Pech, das ihm dann auch noch einen schlechten Ruf bei den Naturwissenschaftlern einbrachte, lag nun darin, daß gerade das, was er angriff und was damals ungedeckt war, nämlich einen spekulativen Vernunftbegriff wie das Atom als (unsichtbaren) Gegenstand vorzustellen und also einen nach Kant regulativen Vernunftbegriff wie einen konstitutiven reinen Verstandesbegriff zu behandeln. 56 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft. B 367.

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den bahnbrechenden Erfolg der Chemie im 19. Jahrhundert begründete. Heute läßt sich zeigen, daß nur durch den konstitutiven Vemunftbegriff ,Atom' die Wissenschaft Chemie möglich ist. Wenn allerdings heutige Chemiker sich gegen Hegel auf den metaphysische Spekulation ablehnenden Positivismus berufen, dann streiten sie in Wahrheit mit Hegel gegen ihre (bessere) Tradition. Neben dem Einwand, die Atomtheorie verdingliche einen Vernunftbegriff, mag noch ein weiteres Argument Hegels Polemik bestimmt haben: Die dem konstitutiv gefaßten Vernunftbegriff entsprechenden Gegenstände sind als spezifisch beschaffene und untereinander unterschiedene Atome gegeben und vorausgesetzt; diese sind aber nicht gesetzt, d. h. man kann nicht begründen, warum einige Vemunftbegriffe als Dinger existieren und andere nicht. Der Erweis, welche Vernunftbegriffe konstitutiv sind und Naturerkenntnis ermöglichen, ist an die experimentelle Arbeit gebunden, die ihrerseits durch solche Vernunftbegriffe dirigiert wird. Am Beispiel: Die ausgedachte Strukturformel ist vorausgesetzt und orientiert die Bearbeihmg bestimmter Materialien mit bestimmten Methoden, d. h. dirigiert die experimentelle S)mthese. Gelingt diese, darm ist die zunächst bloß erdachte und vorausgesetzte Konfiguration realisiert worden. Daraus muß geschlossen werden, daß der unsichtbaren Konfiguration eine Realität korrespondiert. Die experimentelle Arbeit zeigt, daß nicht jeder Vernunftbegriff realisiert werden karm. Also kann nur vermittels der durch Vernunftbegriffe dirigierten experimentellen Arbeit herausgefunden werden, ob diese konstitutiv sind oder nicht. Im Moralischen, insofern es in der Sphäre des Seyns betrachtet wird, findet derselbe Uebergang des Quantitativen ins Qualitative statt; und verschiedene Qualitäten erscheinen, sich auf eine Verschiedenheit der Größe zu gründen. Es ist ein Mehr und Weniger, wodurch das Maaß des Leichtsinns überschritten wird, imd etwas ganz anderes, Verbrechen, hervortritt, wodurch Recht in Unrecht, Tugend in Laster übergeht.

Prima vista ist unklar, weshalb, werm „das Maaß des Leichtsinns überschritten wird, [...] Verbrechen hervortritt", imd nicht etwa Besonnenheit, die zum Leichtsinn im Gegensatz steht, oder auf welcher „Scale des Mehr und Weniger" die quantitative Veränderung des Maßes stattfindet, „wodurch Recht in Unrecht, Tugend in Laster übergeht". Schafft die quantitative Vermehrung der Tugend die Tugend ab?

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Ist das Verhältnis von Recht und Unrecht auf eine Veränderung von Maßverhältnissen zu beziehen? Gegen solche Fragen hervorbringende Einwände hat Hegel die Kautele formuliert; ..] insofern [das Moralische, U. R.] in der Sphäre des Seyns betrachtet wird", wobei Hegel den Einwänden recht geben würde, daß das „Moralische" nicht begriffen werden kann, wenn es „in der Sphäre des Se)ms" belassen und darin wesentlich bestimmt wird. In der Bildungsgeschichte des Geistes ist die Beziehung des „Moralischen" auf das Maß eine in der Antike schon erreichte und dann in der weiteren Entwicklung aufgehobene Stufe. „Im religiösen Bewußtseyn der Griechen finden wir die Göttlichkeit des Maaßes, in näherer Beziehung auf das Sittliche, als Nemesis vorgestellt. In dieser Vorstellung liegt dann überhaupt, daß alles Menschliche - Reichthum, Ehre, Macht und eben so Freude, Schmerz u. s. w. - sein bestimmtes Maaß hat, dessen Überschreitung zum Verderben imd zum Untergang führt" (VIII. 254; vgl. auch 21. 325, 34 ff; IV. 408). Im Unterschied zu den Göttern ist den Sterblichen ein Maß zugeteilt. Überschreiten sie das ihnen zugeteilte Maß, das nur irmerhalb einer (geringen) „Weite" gegen Quantumsveränderungen „gleichgültig bleibt" (21. 365, 8; rV. 457), tritt das Verhängnis in Gestalt der göttlichen Nemesis (Zuteilerin, Vergelterin) auf den Plan und rächt die Maßlosigkeit der überheblichen Sterblichen mit deren Vernichtung. So erhalten auch Staaten durch ihren Größenunterschied, wenn das übrige als gleich angenommen wird, einen verschiedenen qualitativen Charakter. Gesetze und Verfassung werden zu etwas Anderem, wenn der Umfang des Staats und die Anzahl der Bürger sich erweitert. Der Staat hat ein Maaß seiner Größe, über welche hinausgetrieben er haltungslos in sich zerfällt, unter derselben Verfassung, welche bey nur anderem Umfange sein Glück und seine Stärke ausmachte.

Wurde in den vorherigen Beispielen das „Moralische" als „in der Sphäre des Seyns" bestimmt und deshalb schief betrachtet, so wird jetzt der Staat als Organismus angesehen. Wie Spinnen aufgrund des besonderen Aufbaus ihres Chitin-Panzers eine gewisse Größe nicht überschreiten können, so soll die Verfassung als die orgardsche Haut eines Staates durch eine Verändenmg von dessen Maßen zugrunde gehen. „Betrachten wir z. B. einen Staat mit einem Gebiet von tausend Quadratmeilen und einer Bevölkerung von vier Millionen Einwohnern, so wird man zunächst unbedenklich zuzugeben haben, daß

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ein Paar Quadratmeilen Gebiet oder ein Paar Tausend Einwohner mehr oder weniger auf die Verfassung eines solchen Staates keinen wesentlichen Einfluß haben können. Dahingegen ist dann aber auch eben so wenig zu verkennen, daß in der fortgesetzten Vergrößerung oder Verkleinerung eines Staats endlich ein Punkt eintritt, wo, abgesehen von allen anderen Umständen, schon um dieser quantitativen Veränderung willen, auch das Qualitative der Verfassung nicht mehr unverändert bleiben kann" (VIII. 257). Der bundesdeutsche Staat ist am 3. Oktober 1990 trotz erheblicher Ausweitung von Staatsgebiet und Staatsbürgeranzahl nicht „haltungslos" in sich zerfallen. Anscheinend besitzt er eine große „Weite, innerhalb deren" sein Maß gegen Quantumsverändenmg „gleichgültig bleibt". Woraus zu erkennen ist, daß die Anwendung der Knotenlinie auf das Verhältnis von Staatsgröße zu Qualität der Verfassung immer so getrimmt werden karm, daß es paßt. Folglich erklärt sie nichts. Im letzten Abschnitt widerstand Hegel nicht ganz der Versuchung, der von ihm selbst als schwierig angesehenen systematischen Darstellimg mit sinnfälligen imd (vermeintlich) ohne weiteres verständlichen Beispielen aufzuhelfen, vielleicht auch in der Absicht, über die mathematischen, musikalischen, chemischen und physikalischen Beispiele hinaus dem gesimden Menschenverstand die allgemeine Gültigkeit der Knotenlinie für alle Etwas, die hinreichend durch Maße bestimmbar sind, zu illustrieren. Vor dem Vorhaben, politische Vorgänge durch ein Gesetz des dann als dialektisch apostrophierten Umschlagens der Quantität in Qualität zu erklären, hätte die Hegelsche Kautele: „insofern [das Politische, U. R.] in der Sphäre des Seyns betrachtet wird" zusammen mit der Erkenntnis, daß, wenn es darin wesentlich bestimmt, es falsch bestimmt wird, Warnung genug sein müssen. Doch vergebens. Der „Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus und Kommunismus" wurde als „empirische Verdeutlichimg des zweiten Grundgesetzes ["der Dialektik", d. i. „das Gesetz des Umschlagens von der Quantität in Qualität", U. R.]"57 betrachtet. Dieses „Grundgesetz" gebe „das Wesen [sic, U. R.] des Übergangs von einem historisch bestehenden System zu seinem notwendigen Folgesystem an"58, und zwar liege das Wesen in der Entwicklimg des Verhältiüsses von wachsenden Produktivkräften und umschlagenden Produktionsverhältnissen, einer Entwicklung, die gesetzmäßig, d. i. nach jenem für „die Geschichte der Na57 P. Rüben: A. a. O. 87. 58 P. Rüben: A. a. 0.90.

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tur wie der menschlichen Gesellschaft"59 gleichermaßen gültigen Gesetz verlaufe^o. In dieses Gesetz werden an die Stelle der quantitativ veränderlichen Maßverhältnisse die Produktivkräfte eingesetzt. Die Maßverhältnisse (= die Produktivkräfte) bestimmen nach Hegel zunächst eine „selbstständige Realität" (21. 365, 5; IV. 457), nämlich ein qualitativ bestimmtes Produktionsverhältnis - Privateigentum an den Produktionsmitteln. Wobei der erste Fehler schon darin liegt, daß die Produktivkräfte als Grund und das Produktionsverhältnis als das daraus Begründete gefaßt werden^i. Denn dann enthielte der Grund nichts, was nicht im Begründeten wäre, und umgekehrt. Man hätte dieselbe Bestimmung doppelt gesehen, „das einemal [hier: Produktionsverhältnis, U. R.] in der Form des Gesetzten, das anderemal [hier: Produktivkräfte, U. R.] in der des in sich reflectirten Dase}ms, der Wesentlichkeit" (11.303,38 f; IV. 570), und hätte der ganzen vermeintlichen Erklänmg nur den Anschein von Notwendigkeit verpaßt. Überdies provoziert die Bestimmung, die Produktivkräfte seien der Grund für das Produktionsverhältrds, die Frage „nach dem Gnmd des Grundes und damit den regressus in infinitum, der nur durch dogmatische Setzimgen abgebrochen werden könnte, oder sie läuft in ein zirkuläres Begründungsverhältnis, in dem der Gnmd des Grundes das zu Begründende ist"62. Jenen Fehler hat Hegel in dem Modell, an dem er die Knotenlinie demonstriert, vermieden: Gerade die vollständige Bestimmimg der Wahlverwandtschaft durch das quantitative Maßverhältnis der sie bildenden Maße entfernt die spezifisch ausschließende Qualität (der Wahlverwandtschaft); dieser Widerspruch zwingt zum Übergang in den Prozeß der Wahlverwandtschaften untereinander. Der Fortgang auf der Knotenlinie bei Hegel: Die „selbstständige Realität" (= das Produktionsverhältnis) ist „der Quantumsveränderung offen; es hat eine Weite, innerhalb deren es gegen diese Veränderung gleichgültig bleibt und seine Qualität nicht ändert" (21. 365, 7-9; IV. 457). Innerhalb 59 F. Engels: Dialektik der Natur. In: MEW 20.348. 50 Zur Kritik der Auffassung, der Übergang vom Feudalismus „zu seinem notwendigen Folgesystem" (P. Rüben: A. a. O.) sei zwingend aus den die gesellschaftliche Entwicklung antreibenden Produktivkräften zu entwickeln, vgl. P. Bulthaup: Zum Problem des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus. In: P. Bulthaup: Zur gesellschaftlichen Fimktion der Naturwissenschaften. Frankfurt 1973.53 ff (Neudruck Lüneburg 1996). 51 vgl. z. B. F. Engels: Herrn Eugen Eiührings Umwälzung der Wissenschaft. In: MEW 20. 262: „Die Spaltung der Gesellschaft in eine ausbeutende imd eine ausgebeutete, eine herrschende imd eine unterdrückte Klasse war die notwendige Folge der frühem geringen Entwicklung der Produktion". 52 P. Bulthaup: A. a. 0.55.

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der kapitalistischen Produktionsweise entwickeln sich - so Engels - die von ihr beförderten Produktivkräfte „in bisher unerhörtem Maßstab"^^. Aus zersplitterten Produktionsmitteln Einzelner werden gesellschaftliche Produktionsmittel, die innerhalb der technischen Arbeitsteilung aufeinander bezogen sind. Was innerhalb der unverändert bleibenden Qualität, des Produktionsverhältnisses, quantitativ kontinuierlich wachse, sei der gesellschaftliche Charakter der Produktivkräfte64. Wobei der zweite Fehler darin liegt, daß das Wachstum der Produktivkräfte zu einem nach Naturnotwendigkeit zwangsläufig expandierenden Prozeß (des kontinuierlichen Fortschreitens auf der „Scale des Mehr imd Weniger" der Knotenlinie) gemacht wird. Dann würden die Produktivkräfte „zum Unbedingten, und die Kritik der politischen Ökonomie reduzierte sich auf eine anthropologische Entwicklungstheorie, in der die Produktivkräfte als das Unabhängige, selbständig sich Entwickelnde eine andere Bezeichnung für den in der Geschichte selbsttätig sich entfaltenden absoluten Geist wären. Die Produktiv-

es F. Engels: A. a. 0.249. 64 F. Engels: A. a. O. 258. Es gibt drei Seiten im Kapital, die der zitierten Passage des Anti-Dühring als Vorlage dienten (K. Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Berlin 1969. 789 - 791). Bei Marx ist das Wachstum des gesellschaftlichen Charakters der Produktivkräfte konkreter und konziser bestimmt: „[...] die kooperative Form des Arbeitsprozesses auf stets wachsender Stufenleiter, die i ^wußte technische Anwendimg der Wissenschaft, die planmäßige Ausbeutung der Erd die Verwandlung der Arbeitsmittel in nur gemeinsam verwendbare Arbeitsmittel, c Ökonomisienmg aller Produktionsmittel durch ihren Gebrauch als Produktionsmitt« kombinierter, gesellschaftlicher Arbeit [...]" (790). Diese Konkretisierung des Inhalts des ,gesellschaftlichen Charakters der Produktivkräfte' hätte schon ein Fragezeichen hinter deren angeblich unbedingten, nach Naturnotwendigkeit zwangsläufig expandierenden Wachstumsprozeß setzen müssen. Allerdings geht auch Marx selbst darüber hinweg: „Die Zentralisation der Produktionsmittel imd die Vergesellschaftimg der Arbeit erreichen einen Pimkt [der Hegelsche Punkt 21. 365,9; IV. 457; U. R.], wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. [...] die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigne Negation. Es ist Negation der Negation" ( 791). Der „mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses" erfolgende Umschlag in das neue Produktionsverhältnis wird vom Hegelianer Marx hier mit der abstrakten Bestimmung des Wesens als Reflexion in ihm selbst erklärt: Der Abbruch quantitativer Veränderung auf der Knotenlirue erzeuge den qualitativen Sprung; dem Wechsel von kontinuierlicher Veränderimg und sprimghaft eintretender Qualität liege die an sich selbst spezifizierende Einheit zugrunde; diese sei an sich schon das Wesen, und ihr Prozeß bestehe nur darin, sich als das zu setzen, was sie an sich schon sei. Das so hervorgegangene Wesen ist im unmittelbar anschließenden Satz dann schon aktives Subjekt. „Negation der Negation [...] stellt nicht das Privateigentum wieder her, wohl aber das individuelle Eigentum [...]" (a. a. O.). An dieser Stelle ist für Marx die Hegelsche Entwicklung des Maßes zmn Wesen das als selbstverständlich angesehene logische Argument, um den bisherigen Geschichtsverlauf zu erklären und den zukünftigen zu prognostizieren.

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kräfte wurden in der Geschichte hervorgebracht in der Auseinandersetzung der Menschen mit der ersten Natur, sie sind als Emanzipation von der ersten Natur aus dieser nicht zwingend abzuleiten"65. Gerade die Konkretisierung des ,gesellschaftlichen Charakters' der Produktivkräfte und der Gründe für deren vermeintlich naturgesetzliche Entwicklung (z. B. „die bewußte technische Anwendxmg der Wissenschaft"66) offenbart, daß die Entwicklung der Produktivkräfte ein deren jeweiligem Stand gegenüber selbständiges, aus diesem Stand nicht ableitbares, antreibendes Moment enthält, welches nicht der Naturnotwendigkeit, sondern der Kausalität aus Freiheit geschuldet ist. Der weitere Fortgang auf der Knotenlinie bei Hegel: „[...] es tritt ein Punkt dieser Aenderung des Quantitativen ein, auf welchem die Qualität geändert wird, das Quantum sich als specificirend erweist, so daß das veränderte quantitative Verhältniß in ein Maaß und damit in eine neue Qualität, ein neues Etwas, umgeschlagen ist" (21. 365,9-12; IV. 457). Für den Engels'schen dem Gesetz der Knotenlinie folgenden Geschichtsverlauf ist „dieser Punkt [...] jetzt [1878, U. R.] erreicht [...]. Die Expansionskraft der Produktionsmittel sprengt die Bande, die ihr die kapitalistische Produktionsweise angelegt [...]. Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit"67. Die so erreichte neue Qualität ist dann ihrerseits die „einzige Vorbedingung einer ununterbrochenen, stets rascher fortschreitenden Entwicklimg 65 p. Bulthaup: A. a. 0.54. 66 K. Marx: Das Kapital. A. a. 0.790. 67 F. Engels; Anti-Dühring. A. a. O. 263 f. Schon im Manifest der Kommunistischen Partei von 1848 wird die Geschichte der Menschheit durch ein der Hegelschen Knotenlinie folgendes, naturgesetzliches Umschlagen erklärt: „Die Produktions- und Verkehrsmittel, auf deren Grundlage sich die Bourgeoisie heranbildete, wurden in der feudalen Gesellschaft erzeugt. Auf einer gewissen Stufe der Entwicklung dieser Produktions- und Verkehrsmittel entsprachen die Verhältnisse, worin die feudale Gesellschaft produzierte und austauschte, die feudale Organisation der Agrikultur imd Manufaktur, mit einem Wort die feudalen Eigentumsverhältnisse den schon entwickelten Produktivkräften nicht mehr. Sie hemmten die Produktion, statt sie zu fördern. Sie verwandelten sich in ebenso viele Fesseln. Sie mußten gesprengt werden, sie wurden gesprengt. An ihre Stelle trat die freie Konkurrenz mit der ihr angemessenen gesellschaftlichen imd politischen Konstitution, mit der ökonomischen und politischen Flerrschaft der Bourgeoisklasse. Unter unsern Augen geht eine ähnliche Bewegung vor. Die bürgerlichen Produktions- imd Verkehrsverhältnisse, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse, die moderne bürgerliche Gesellschaft, die so gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor. Seit Dezennien ist die Geschichte der Industrie imd des Handels nur die Geschichte der Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse, gegen die Eigentumsverhältnisse, welche die Lebensbedingungen der Bourgeoisie und ihrer Herrschaft sind“ (MEW 4.467).

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der Produktivkräfte und damit einer praktisch schrankenlosen Steigerung der Produktion selbst"68. Zwar kann der Punkt erreicht sein, an dem „das veränderte quantitative Verhältniß [...] in eine neue Qualität [...] umgeschlagen ist", aber durch den Umschlag allein ist noch nicht hinreichend bestimmt, von welcher Art diese Qualität ist. ln der überarbeiteten Fassung des Anti-Dühring schlägt denn auch „die freie Konkurrenz [erst einmal, U. R.] ins MonopoP'^s urn, diesem folgt als nächster Knoten „die Leitung der Produktion" durch den „offiziellen Repräsentanten der kapitalistischen Gesellschaft, den Staat"70. ,Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus"7i. Und erst das quantitative Fortschreiten dieses Prozesses, der „Verwandlung der großen vergesellschafteten Produktionsmittel in Staatseigentum"72, bewirkt, daß diese letzte Qualität, der Staat als wirklicher Gesamtkapitalist, umschlägt: „Der Staat wird nicht ,abgeschafft', er stirbt ab "73. Es kann allerdings passieren, daß die quantitative Veränderung von Maßverhältnissen nicht zum Sprung in eine neue Qualität, sondern ins „Maaßlose" (vgl. den nächsten Abschnitt bei Hegel), physikalisch-chemisch gesprochen in einen kritischen Zustand, treibt, daß nämlich der bisher letzte Knoten, die kapitalistische Produktionsweise, an ihrer quantitativen Veränderlichkeit (der schrankenlosen Akkumulation von Mehrwert) „mit dem Scheine von Unverfänglichkeit ergriffen" (21.369, 21) und jede Qualität so zerstört wird. „[...] ihre [der Bourgeoisie, U. R.] eignen Produktionskräfte sind ihrer Leitung entwachsen und treiben, wie mit Naturnotwendigkeit, die ganze bürgerliche Gesellschaft dem Untergang oder der Umwälzung entgegen"74. Als ob das Geschichtsmodell aus dem Anti-Dühring noch nicht schematisch genug gewesen wäre, Rüben gelingt dessen Petrifizierung: Die „wesentliche Qualität"75 der bürgerlichen Gesellschaft, das Privateigentum an Produktionsmitteln, werde zunächst quantitativ verändert, „ln der Konkurrenz verringern die Kapitalisten durch ihr eigenes Systemverhalten 68 F. Engels: Anti-LXihring. A. a. 0.263. 69 E Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. In: MEW19.220. 70 F.Engels:A.a. 0.221. 71 F. Engels: A. a. 0.222. 72 F. Engels: A. a. 0.223. 73 F. Engels: A. a. 0.224. 74 F. Engels: Anti-Dühring. A. a. 0.153. 75 P. Ruhen: A. a. 0.90.

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Anmerkung

ihre eigene Anzahl und vergrößern ihr Privateigentum an Arbeitsbedingungen (in Gestalt der Akkumulation von Kapital)"76. „Das zweite Grundgesetz der Dialektik" bestimme und erkläre den Zusammenhang zwischen der innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft stattfindenden quantitativen Veränderung und dem in der sozialistischen Revolution erfolgenden Qualitätsumschlag, „der die wesentliche Qualität des historischen Vorgängers [der bürgerlichen Gesellschaft, U. R.] dialektisch negiert"77. „Das Gemeineigentum ist die dialektische Negation des Privateigentums"78, wobei die „dialektische Negation", die nicht die bestinunte Negation, sondern ein anderer Ausdruck für die Hegelsche sich auf sich beziehende Negation isF?, sicherstellen soll, daß der Umschlag nicht zu x-beliebigen Qualitäten führt. Damit ist für Rüben der Übergang von dem historisch früheren zu dem historisch späteren System zwangsläufigso imd aus Prinzipien, den dialektischen Grundgesetzen, begründet: 1.) Nach dem zweiten Grundgesetz bewirkt quantitative Veränderung der „wesentlichen Qualität" deren Umschlag. 2.) Nach dem dritten Grundgesetz ist die durch den Umschlag erreichte Qualität spezifisch bestimmt.

76 R Rüben: A. a. 0.87. 77 R Rüben: A. a. 0.90. Das Verhalten der Arbeiter in der kapitalistischen Rroduktionsweise unterliege gleichfalls dem Umschlagsgesetz von Quantität in Qualität: Wenn sie als Träger imd Verkäufer der Ware Arbeitskraft für dieselbe einen bestimmten Rreis heraushandeln, verhalten sie sich innerhalb und gemäß der kapitalistischen Rroduktionsweise. Wenn dieses Verhalten quantitativ vermehrt wird, wenn die Einzelnen zu einer „Gemeinschaft von Arbeitern" sich zusammenschließen, wobei diese Gemeinschaft immer noch dasselbe macht, nämlich über den Rreis der Arbeitskraft zu verhandeln, so sei auch hier ein Umschlag, nämlich „aus der rein gewerkschaftlichen Aktion zur Bildung ihrer politischen Rartei" (R. Rüben: A. a. 0.87), vorhanden. 78 R Rüben: A. a. 0.87. 79 vgl. F. Engels: Anti-Dühring. A. a. 0.132 und R. Rüben: A. a. 0.92 f. *0 R. Rüben: A. a. O. 90. Rubens Text enthält überdies innerhalb weniger Zeilen eine aufschlußreiche Zurücknahme. Zimächst: Das zweite dialektische Grrmdgesetz gibt das „Wesen des Übergangs" an. Der Zusammenhang des historisch früheren Systems A zum historisch späteren System B ist als Übergang von A „zu seinem notwendigen Folgesystem" bestimmt. Dann: Aus A folge lediglich die „objektive Möglichkeit" von B, dies jedoch durch Gesetz festgelegt, also notwendig. Werm nun durch Gesetz das Wachstum, genauer: das einen bestimmten Runkt erreicht oder überschritten habende Wachstum der Rroduktivkräfte in A mit der „objektiven Möglichkeit" von B verknüpft ist, dann muß, soll das Gesetz nicht leer sein, auch ein imgenügendes Wachstum (unterhalb des Runktes) mit der ,objektiven Unmöglichkeit' von B verknüpft sein. Wie kann das Wachstum als noch ungenügend beurteilt bzw. der Runkt herausgefimden werden? Ganz einfach: Es ist darm imgenügend, wenn die sozialistische Revolution nicht erfolgt ist. Ergo: Ist sie nicht wirklich, ist sie objektiv unmöglich.

c. Das Maaßlose. Das ausschließende Maaß bleibt in seinem realisirten Fürsichseyn selbst, mit dem Momente quantitativen Dase3ms behaftet, darum des Auf- und Absteigens an der Scale des Quantums fähig, auf welcher die Verhältnisse sich ändern. Etwas oder eine Qualität als auf solchem Verhältniße beruhend, wird über sich hinaus in das Maaßlose getrieben, und geht durch die bloße Aenderrmg seiner Größe zu Grunde. Die Größe ist die Beschaffenheit, an der ein Daseyn mit dem Scheine von Unverfänglichkeit ergriffen und wodurch es zerstört werden kann.

Im Fortgang auf der Knotenlinie tritt „die Maaßlosigkeit überhaupt, und bestimmter die Unendlichkeit des Maaßes ein [...]" (21.346,10 f; IV. 433). Der Übergang in die „Unendlichkeit des Maaßes" oder „das Maaßlose" enthält, da das Maß Einheit des Qualitativen und Quantitativen ist, sowohl den Übergang des (qualitativen) Endlichen in das (qualitative) Unendliche - „es ist die Natur des Endlichen selbst, über sich hinauszugehen, seine Negation zu negiren und imendlich zu werden" (21.125,10-12; IV. 158) - als auch den Übergang des Quantums in die quantitative Unendlichkeit - „ein Quantum ist [...] seiner Qualität nach in absoluter Continuität mit seiner Äusserlichkeit, mit seinem Andersse3m, gesetzt. Es kann daher nicht nur über jede Größebestimmtheit hinausgegangen, sie kann nicht nur verändert werden, sondern es ist diß gesetzt, daß sie sich verändern muß. Die Größebestimmung continuirt sich so in ihr Andersseyn, daß sie ihr Seyn nur in dieser Continuität mit einem andern hat; sie ist nicht eine s e y e n de, sondern eine werdende Grenze" (21.217,15-20; FV. 272). Insofern das „ausschließende Maaß" auf einem quantitativen Maßverhältnis beruht, ist es dem Übergang in die quantitative Unendlichkeit ausgesetzt. Insofern das „ausschließende Maaß" eine spezifisch ausschließende Qualität (die Wahlverwandtschaft) bestimmt, vergeht diese Qualität beim Übergang ins „Maaßlose". Aber dieser Übergang in die „Unendlichkeit des Maaßes" negiert zugleich jene beiden Übergänge und enthält sie so als aufgehobene. Denn der Übergang des (qualitativen) Endlichen in das (qualitative) Unendliche liegt, da diese sich „absolut, d. h. abstract" gegenüber stehen, „nur im An-sich,in ihrem Begrif-

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fe" (21. 219, 20 ff; IV. 274), während durch das Kontinuieren der Wahlverwandtschaften, einen realen Prozeß, der Fortgang auf der Knotenlinie gesetzt ist. Und das quantitative Unendliche enthält gleichermaßen die Bestimmimg des Quantums wie dasjenige, aus dem es durch dessen Über-sich-hinaus-Schicken geworden ist (21. 218, 6 f; IV. 272), während „das Maaßlose" nicht gleichermaßen ausschließendes Maß ist, das ja durch das Über-sich-hinaus-Getrie-benwerden „zu Grunde" gegangen ist. Es gibt Modelle dafür, daß „Etwas oder eine Qualität" allein durch die „Änderung seiner Größe zu Grunde" geht, nämlich die kritischen Zuständei in der Physik. Ist ein solcher erreicht, karm das, was zuvor vmterscheidbar war, nicht mehr imterschieden werden. Beispiel; In einem geschlossenen System befinde sich eine Flüssigkeit unter ihrem Dampfdruck. Bei einer bestimmten Temperatur ti hat die Flüssigkeit eine bestimmte Dichte di, der durch eine Phasengrenze von der Flüssigkeit geschiedene und so von ihr qualitativ unterschiedene Dampf die Dichte di . Wird die Temperatur erhöht, steigt der Dampfdruck, damit wächst d^, während df abnimmt. Der Prozeß kontinuierlicher Veränderung von t (und damit einhergehend von d^i imd dO erreicht einen bestimmten, nämlich den kritischen Pimkt, bei dem d^ = dk: Flüssigkeit und Dampf haben dieselbe Dichte. Am kritischen Punkt endet die Dampfdruckkurve, die Phasengrenze verschwindet abrupt. Weil Flüssigkeit und Dampf plötzlich nicht mehr unterscheidbar sind, ist ihr qualitativer Unterschied „zu Grunde" gegangen. Die den kritischen Pimkt bestimmenden Maße bezeichnet man als kritische Temperatur, kritischen Druck, kritische Dichte. Zur Illustration der Knotenlinie hatte Hegel den Zusammenhang zwischen den qualitativ verschiedenen Aggregatzuständen des Wassers und der quantitativen Veränderung einer Maßgröße, der Temperatur, herbeizitiert (21. 367, 23-28; FV. 460): Wird die Temperatur kontinuierlich verändert, gehen Veränderungen von Eigenschaften des Wassers wie z. B. der Dichte einher, welche nicht überall kontinuierlich, sondern bei bestimmten Temperaturen sprunghaft erfolgen. Und zwar ändert sich die Qualität (z. B. der flüssige Zustand) bei Veränderung jener Maßgröße (der Temperatur) zunächst nicht. An einem Punkt der Temperaturskala erweist - so Hegel „das Quantum sich als specificirend [...], so daß das veränderte quantitative Verhältniß [...] in eine neue Qualität [hier: in den gasförmigen 1 Der Begriff des kritischen Zustands leitet sich von Kpivco, wörtlich: scheiden, sondern, sichten, unterscheiden, her.

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Zustand, U. R.] [...] umgeschlagen ist“ (21.365,10-12; IV. 457). Zur Illustration des „Maaßlosen“ kann das zitierte Modell fortgeführt werden: Die Temperatur werde weiter erhöht. Nach dem Schema der Knotenlinie ändert sich die Qualität (der gasförmige Zustand) zunächst nicht. Die Annahme, die „Quantumsveränderung" (21. 365, 7; IV. 457), hier: die Temperaturerhöhung, könne über jedes Quantum hinaus getrieben werden und ließe dabei die spezifische Bestimmtheit (Qualität) des Systems unberührt, ist falsch. Ebenso die Annahme von möglicherweise unendlich vielen Knoten. Am kritischen Punkt wird die Qualität „über sich hinaus in das Maaßlose getrieben [...]. Die Größe ist die Beschaffenheit, an der ein Daseyn mit dem Scheine von Unverfänglichkeit ergriffen tmd wodurch es zerstört werden kann". Ist einmal der kritische Punkt überschritten, die Unterscheidbarkeit beider Qualitäten (des flüssigen und gasförmigen Zustandes) negiert und so die Qualität „zu Gnmde" gegangen, darm ist diese Unterscheidbarkeit und damit die eine Qualität im Unterschied zur anderen mit keinen Mitteln wiederzuerlangen: Oberhalb des kritischen Pimktes kann nicht verflüssigt werden. Weiteres Beispiel: Man setzt mehrere Klötzchen Uran 235 zusammen. Mit einer bestimmten Größe des Uranblocks ist die kritische Masse erreicht. Er explodiert in einem prinzipiell untechnischen und so maßlosen Prozeß (Atombombe; in einem Atomkraftwerk wird der von vorneherein widersprüchliche Versuch unternommen, einen prinzipiell untechnischen, maßlosen Prozeß technisch beherrschen zu wollen). Die kontinuierliche Veränderung des Maßverhältnisses liegt hier in der durch die Vergrößenmg des Blocks möglichen Verringerung des Verhältnisses von Oberfläche zu Volumen, wodurch der Neutronenverlust nach außen so klein wird, daß der Multiplikationsfaktor k größer als 1 wird. Der Umschlag in den maßlosen Prozeß hat also spezifische, in dem besonderen Material liegende Gründe, die über das bloß beschreibende, nicht erklärende Schema (kontinuierliche Verändenmg eines Maßverhältnisses bis zum Pixnkt des Umschlags) wesentlich hinausgehen. Denn die Vergrößerung von x-beliebigem Material führt nicht zu dessen Umschlag ins Maßlose bzw. zu einer Kettenreaktion. Weiteres Beispiel: Schwarze Löcher. Weim Massen imter bestimmten Bedingungen zu groß werden, geschieht ein Schwerekollaps. Für die Beobachtung ist ein schwarzes Loch nicht vorhanden (keine unmittelbar gegebene Qualität), denn es kommt keine elektromagnetische Strahlung heraus. Es gibt also qualitativ bestinamte Maße, die allein durch Veränderung

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ihrer Größe zu einem Punkt getrieben werden, jenseits dessen die zuvor unterscheidbare Qualität nicht mehr bestimmbar und zugrunde gegangen ist. Diese Modelle für kritische Größen sind alle singulär, d. h. sie beziehen sich auf ein spezifisch Bestimmtes, das wächst. Und von diesem Bestimmten gilt, daß man es nicht über jedes beliebige Quantum anwachsen lassen kann, ohne daß das, was wächst, zerstört wird. Hegel aber sagt nicht problematisch: „Etwas oder eine Qualität" kann aufgrund ihrer besonderen Beschaffenheit „durch die bloße Aenderung seiner [ihrer, U. R.] Größe zu Grunde" gehen, sondern assertorisch „geht [...] zu Grunde". Hegel unterstellt Verallgemeinerbarkeit der Modelle für kritische Größen. Diese Unterstellung der Verallgemeinerbarkeit liegt darin begründet, daß für Hegel das Über-sich-hinaus-indas-Maaßlose-Getriebenwerden nicht mit dem jeweiligen besonderen Material und mit der besonderen Konstellation von Maßgrößen zusammenhängt, sondern an einem völlig unbestimmten, allen Maßgrößen zugrundeliegenden und für alle identischen Substrat (der „Indifferenz", die dem Über-sich-hinaus-in-das-Maaßlose-Getriebenwerden zugrundeliegt und aus diesem Prozeß resultiert, vgl. das dritte Kapitel) erfolgt. An diesem Substrat können Zustandsänderungen sowohl so verlaufen, daß qualitative Unterschiede (wie flüssig-gasförmig) nicht mehr unterscheidbar sind (damit wird die Erscheinung des überkritischen Zustands für alle Qualitäten verallgemeinert), als auch umgekehrt aus dem Maßlosen zurück zu den Qualitäten. Dann ließen sich über den Zustand des Maßlosen von jeder Maßgröße alle anderen Maßgrößen und - wegen der Ersetzung der Qualitäten durch Maßgrößen von jeder Qualität alle anderen Qualitäten erreichen. Physikalisch stimmt das nicht. Denn erstens ist die Rückführbarkeit^ der in das „Maaßlose" führenden Prozesse nicht generell möglich (Beispiel: Atombombe, Beispiel: die angebliche ,Entsorgung' der Atomkraftwer2 Das progressive Wachstum des Kapitals ist prinzipiell imbeschränkt (maßlos). Da es notwendig auf materielle Voraussetzungen (die natürlichen Ressourcen der Produktion) verwiesen ist, die prinzipiell beschränkt sind, treibt es in einen überkritischen Zustand mit der Zerstörung der natürlichen Ressourcen. Die Rückführbarkeit einzelner solcher in das „Maaßlose“ führender Prozesse steht dahin (point of no retum). Staatskunst liegt heute darin, maßlose Prozesse durch Maße zu begrenzen. Zum Beispiel: Die Mittel für die Vernichtung sind soweit angewachsen, daß die Zerstörung der gesamten Erde möglich wird, was zweifelsohne ein überkritischer Zustand wäre. Staatsmänner erproben sich daran, das den überkritischen Zustand möglich machende Waffenpotential so einzusetzen und auf ein Maß zu begrenzen, das Erfolg garantiert, d. h. daß der Erfolg des Krieges nicht so total ist, daß die gesamte Erde zerstört wird. Den Krieg wieder denkbar und führbar machen, darin hat Staatskunst ihr Maß gefunden.

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ke). Zweitens ist ein kritischer Zustand ein solcher eines bestimmten, unterscheidbaren Substrats und nicht schlechthin maßlos oder ein Zustand der „Indifferenz", in dem jede Bestimmtheit negiert ist. Die Negation der bestimmten Substanzen (Hegel: Qualitäten) läßt sich physikalisch sehr weit vorantreiben: Erzeugt man sehr hohe Temperaturen, werden sämtliche chemischen Verbindungen zerstört, und man erhält ein ionisiertes Gas (Plasma). In diesem ungeordneten Gemisch aus Atomkernen und Elektronen ist aber nicht jede Bestimmtheit negiert. Kosmologen behaupten - und das ist ähnlich zu Hegels „Indifferenz" -, am Anfang der Welt sei nur im Raum lokalisiertes Plasma gewesen. Erst durch Unterscheidung des Plasmas sei die Welt - bei Hegel: unterschiedliche Zustände an ein imd derselben bestimmungslosen „Indifferenz" - entstanden. Das abstracte Maaßlose ist das Quantum überhaupt als in sich bestimmungslos, und als nur gleichgültige Bestimmtheit, durch welche das Maaß nicht verändert wird.

Das ausschließende Maß wird über sich hinaus in das „Maaßlose" getrieben. Das „Maaßlose" ist an sich oder seinem Begriffe nach durch die Negation des Maßes bestimmt (maß-los). Wird von dem Prozeß der Aufhebung des Maßes, durch welchen das „Maaßlose" entstanden ist, abstrahiert, darm steht das „Maaßlose" dem ausschließenden Maß so gegenüber wie das „abstracte Unendliche" (21. 141, 21; IV. 180) oder „Schlecht-Unendliche" (21.127,2; IV. 161) dem Endlichen, „beyde an einen verschiedenen Platz gestellt" (21.127,23; IV. 161) imd beide auf ihrer jeweiligen Seite „stehen bleiben sollend" (21.141,21; IV. 180). Das so vereinseitigte, „abstracte Maaßlose" oder das Unendliche des Maßes schlechthin (vgl. 21.124,13; IV. 157) ist aber, weil seinem Begriff widersprechend, das Unwahre (vgl. 21.136, 21; IV. 173 xmd 21. 141,11 ff; IV. 180). Und dieses unwahre, imendliche Maß ist „das Quantum überhaupt als in sich bestimmungslos", d. h. es ist in die Kategorie der bloßen Größenbestimmtheit zurückgefallen und steht so „als nur gleichgültige Bestimmtheit, durch welche das Maaß nicht verändert wird", dem spezifisch bestimmten, ausschließenden Maß gegenüber. In der Knotenlinie der Maaße ist sie zugleich als specificirend gesetzt; jenes abstracte Maaßlose hebt sich zur qualitativen Bestimmtheit auf; das neue Maaßverhältnis, in welches das zuerst vorhandene übergeht, ist ein Maaßloses in Rücksicht auf dieses, an ihm

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Das Maaßlose selbst aber ebenso eine für sich-seyende Qualität; so ist die Abwechslung von specifischen Existenzen miteinander imd derselben ebenso mit bloß quantitativbleibenden Verhältnißen gesetzt, sofort ins Unendliche.

An der im vorherigen Satz präsentierten Bestimmrmg des „abstracten Maaßlosen", daß es, dem spezifisch bestimmten, ausschließenden Maß gegenüber auf die andere Seite gestellt, „gleichgültige Bestimmtheit, durch welche das Maaß nicht verändert wird", sei, wird ihre Unwahrheit erkannt. Und das Aufzeigen dieser Unwahrheit ergibt die weitere Entwicklung: „In der Knotenlinie der Maaße ist sie [gleichgültige Bestimmtheit, Quantmn überhaupt, U. R.] zugleich als specificirend gesetzt" - vgl. 21.365,10 f; IV. 457: „[...] das Quantum sich als specificirend erweist, so daß das veränderte quantitative Verhältniß in ein [spezifisch bestimmtes, U. R.] Maaß imd damit in eine neue Qualität, ein neues Etwas, umgeschlagen ist". Der Prozeß des Über-sich-hinaus-Getriebenwerdens des spezifischen Maßes verbleibt irmerhalb der Knotenlinie. Das Resultat des Prozesses, das „abstracte Maaßlose", ist Quantum überhaupt imd spezifiziert als solches. Also enthält das spezifische Maß das ihm gegenübergestellte „abstracte Maaßlose", in dem es zugrunde gegangen war. „[...] jenes abstracte Maaßlose hebt sich zur qualitativen Bestimmtheit auf" - weil auf der Knotenlinie von knotenfreien Abschnitten (jetzt = dem Maßlosen) zum nächsten Knoten fortgeschritten wird. Die Unendlichkeit des Maßes (die Negation des Maßes oder das Maßlose) wird ihrerseits negiert und geht ins spezifische Maß über. Dieses kehrt so aus dem, worin es untergegangen war, zurück. Die Rückkehr ist durch den Prozeß des Fortschreitens auf der Knotenlinie gesetzt. Damit hat sich aus der abstrakten Gegenüberstellimg von spezifischem Maß und Maßlosem deren Wahrheit ergeben: Sie gehen wechselseitig ineinander über. Was bezogen auf ein einzelnes spezifisches Maß widersprechend war, nämlich seine Bestimmung durch ein quantitatives Verhältnis, das spezifizierend sein soll (vgl. schon 21. 352, 3 ff; IV. 440 und hier „die gleichgültige Bestimmtheit", die zugleich „als specificirend gesetzt" ist), wird als unendlicher Progreß auf der Knotenlinie gesetzt. „[...] das neue Maaßverhältniß, in welches das zuerst vorhandene übergeht, ist ein Maaßloses in Rücksicht auf dieses". Das erste Maßverhältnis ging ins Maßlose über und ist darin zugrunde gegangen. Doch mit dem Maßlosen (genauer: mit dessen Gegenüberstellung zum spezifischen Maß) ist ein zweites Maßverhältnis entstanden, das vom ersten qualitativ verschieden ist. Es ent-

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hält zwar die Bestimmimg des Zugrundegehens des ersten Maßverhältnisses und ist demnach „in Rücksicht" auf dessen qualitative Bestimmtheit maßlos. „[...] an ihm selbst aber ebenso eine für-sich-seyende Qualität". Also ist an diesem zweiten Maßverhältnis der Widerspruch: Es ist Maßloses und zugleich fürsichseiende Qualität. Damit ist die „schlechte Unendlichkeit des unendlichen Progresses vorhanden" (11. 220,26): Ausgangspunkt ist ein ausschließendes Maß. Weil es „mit dem Momente quantitativen Daseyns behaftet" ist, geht es im Maßlosen zugrunde. Dieses spezifiziert sich zu einem neuen, spezifisch ausschließenden Maß, das wiederum im Maßlosen zugrunde geht. Es ist der perennierende Wechsel von Knoten und „quantitativbleibenden Verhältnißen gesetzt", aber außereinander und nur als eine aufeinander folgende „Abwechslung" auf der Knotenlinie. Das abstrakte Maßlose, das als Unendlichkeit des Maßes jenseits der Knotenlinie zu sein beanspruchte, setzt den unendlichen Progreß auf der Knotenlinie. Was also in diesem Uebergehen vorhanden ist, ist sowohl die Negation der specifischen Verhältnisse, als die Negation des quantitativen Fortgangs selbst;dasfürsichseyende Unendliche.

„Specifische Existenzen" (qualitativ bestimmte, ausschließende Maße) wechseln mit „bloß quantitativbleibenden Verhältnißen" (dem „Maaßlosen") ab und bilden ein System von Knoten und dazwischen liegenden maßlosen Abschnitten, das nicht überschaubar ist tmd nicht abbricht. Darin sind sowohl die „specifischen Verhältnisse" negiert (die Knotenlinie endet nicht mit einem spezifischen Verhältnis; welche Knoten auch immer hinzukommen, sie gehen zugrunde und erweisen sich im Fortgang der Knotenlinie ins Unendliche als nichtig) als auch der „quantitative Fortgang selbst" (die Knotenlinie endet auch nicht im „Maaßlosen"). Was in dem „Uebergehen [der Knotenlinie ins Unendliche, U. R.] vorhanden ist", ist - näher bestimmt durch die beiden gerade ausgeführten Negationen - das „fürsichseyende Unendliche". Der Fehler liegt im „vorhanden". Die äußere Reflexion stellt fest, daß im Progreß der Knotenlinie ins Unendliche die „specifischen Verhältnisse" inuner wieder im „Maaßlosen" zugrunde gehen und daß das „Maaßlose" inrmer wieder sich zur qualitativen Bestimmtheit spezifiziert, also seinerseits zugrunde geht. Und die äußere Reflexion kann beide Übergänge vergleichen, diese sowohl als einander entgegengesetzt als auch als auf demselben (Negation der Negation) beruhend bestimmen, dann

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herausfinden, daß die Übergänge, wenn sie abwechselnd hintereinander auf der Knotenlinie gesetzt sind, ihrem Begriff widersprechen, und so schließlich die schlechte Unendlichkeit des Progresses auf der Knotenlinie erkennen. Aber was in die äußere Reflexion fällt, muß weder als Substrat der Knotenlinie vorhanden noch durch den Fortgang auf der Knotenlinie gesetzt sein. Schon zuvor bei der Knotenlinie verwechselte Hegel den bloß auf dem Papier konstruierbaren, in die äußere Reflexion fallenden Prozeß des Durchlaufens von Maßverhältnissen mit dem realen Prozeß (vgl. Seite 283). Hier soll die in die äußere Reflexion fallende Einheit beider Übergänge vorhanden, im weiteren: als Substrat der gesamten Knotenlinie vorhanden sein, und schließlich: durch den unendlichen Progreß der Spezifikation von Maßen gesetzt sein. Damit ist der terminus ad quem der Entwicklimg des „Maaßlosen" angegeben. Hegel begann mit der Gegenüberstellung von „abstractem Maaßlosen" und spezifisch ausschließendem Maß. Deren Unwahrheit ist in der gerade erreichten schlechten Unendlichkeit des unendlichen Progresses (der ins Unendliche gehenden Knotenlinie) nur explizit geworden. Daraus soll sich die wahrhafte Unendlichkeit (vgl. den Übergang zum „Fürsichseyn", 21. 136, 27; IV. 173) oder das „fürsichseyende Unendliche" ergeben. Als Modell für die schlechte Unendlichkeit des Progresses auf der Knotenlinie kann das Fortschreiten in der heutigen Organischen Chemie genommen werden^: Dieser Prozeß ist unendlich. Denn man kann ausgehend von den schon vorhandenen Substanzen durch geringfügige Ändenmg der Strukturformel („verändertes quantitatives Verhältniß") immer eine neue Substanz synthetisieren. Die früher als natürlich angesehene Grenze der Stabilität der Substanzen (bei gewöhnlichen Bedingungen) konnte aufgrund technischer Möglichkeiten (kurzzeitige Erfassung, tiefe Temperaturen, etc.) aufgehoben werden. Und die wissenschaftlichen Bemühungen richten sich in nicht geringem Ausmaß darauf, die zwangsläufig wieder entstehenden, wenn auch immer weiter hinausgeschobenen Grenzen ihrerseits aufzuheben, damit der Progreß ins Unendliche nicht durch ihm fremde, empirische Randbedingimgen eingeschränkt, sondern diesen gegenüber selbständig werde. Werm nun der Prozeß des Fortschreitens von Substanz zu Substanz bloß durch das „veränderte quantitative Verhältniß" bestimmt ist, wo3 Das Modell lehnt sich an Engels' Anwendung der Knotenlinie auf die „homologen Reihen der Kohlenstoffverbindungen" (F. Engels: Dialektik der Natur. MEW 20. 351 f) an und verlängert diese Knotenlinie ins Unendliche.

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bei die Quantumsveränderxmg der Qualität gegenüber äußerlich und „gleichgültige Bestimmtheit" bleibt, dann ist dieser Prozeß maßlos. Er hat kein Maß in qualitativ bestimmten, spezifischen Fragen - da ist ein so und so bestimmtes Problem, hinter das man kommen will -, sondern zielt lediglich darauf: Wie kann man überhaupt etwas Neues machen, gleichgültig was es ist? Dieser Prozeß ist Synthetisieren um das Synthetisierens willen, gewinnt aber nicht, wie die blinde Übertragimg der Hegelschen Bestimmungen vermuten ließe, fürsichseiende Selbständigkeit, sondern schafft gerade durch sein Fortschreiten die Voraussetzung für die Unterwerfimg unter ihm äußerliche Zwecke (Wissenschaftspolitik). Denn um den Progreß des S5mthetisierens um des S5mthetisierens willen gegen jene Randbedingimgen selbständig zu machen, bedarf es eines progressiv wachsenden Instrumentariums, das von den Wissenschaftlern selbst nicht finanziert werden kann und so ihre politische Unselbständigkeit begründet. Der maßlose Prozeß geht ins „Maaßlose". Doch - xmd darin liegt die schlechte Unendlichkeit - er erreicht dieses nie, sondern immer nur neue Substanzen. Und dieses „Zurückkehren aus der leeren Flucht" (21. 133, 26; IV. 169) ist nur der Start für das erneute Fliehen. Die gerade erhaltenen Substanzen verschwinden, oder genauer: ein wie auch immer qualitativ bestimmtes Interesse an ihnen verschwindet im Augenblick der gelungenen S)mthese. Sie selbst sind nichtig und interessieren nur als Ausgangspunkte für neue Synthesen. „Der Progreß ist [...] nicht ein Fortgehen und Weiterkommen, sondern ein Wiederholen von einem und eben demselben, Setzen, Aufheben, und Wiedersetzen und Wiederaufheben; eine Ohnmacht des Negativen, dem das, was es aufhebt, durch sein Aufheben selbst als ein continuirliches wiederkehrt" (21.222, 7-11; IV. 276 f). Weil das „Maaßlose" (und nicht etwa eine besondere Qualität) die „Abwechslung von specifischen Existenzen" auf der Knotenlinie begründet (das „abstracte Maaßlose hebt sich zur qualitativen Bestimmtheit auf"), haben diese fürsichseienden Dinger nur noch sehr begrenzt Qualitäten. Im Fortgang der Knotenlinie ins Unendliche sind sowohl die „specifischen Verhältnisse" negiert (gerade durch den Fortgang erweisen sich jene Dinger als nichtig) als auch der „quantitative Fortgang selbst". Denn weil es eine vollkommen qualitätslose Substanz nicht geben kann, endet die Knotenlinie nicht im „Maaßlosen". Deshalb ist der aufwendige Versuch des Wissenschaftsbetriebs, Nihilit zu synthetisieren, vergeblich und parodiert allenfalls das vormalig höchste Bestreben der Wissenschaft, den Stein der Weisen, Panazee, zu finden. Die jenseitige, schlechte Unendlichkeit ist nicht zu erreichen. Ein Prozeß, in dem so-

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wohl Qualität als auch quantitative Vermehrung ins „Maaßlose" negiert sind, erstarrt in „Indifferenz". Die historische Entwicklung der Chemie scheint ein völlig indifferentes Substrat, die „absolute Indifferenz", die Hegel fälscherlicherweise als Gegenstand der Chemie unterstellt, als Gegenstand zu realisieren. - Ich habe formuliert: ,scheint', derm Gegenstand der Chemie bleiben die in ihrer Zahl über alle Grenzen wachsenden „specifischen Existenzen" (Einzelsubstanzen). Wenn auch diese „specifischen Existenzen" schon an sich maßlos und nur noch dazu da sind, in andere solche und in den maßlosen Prozeß insgesamt, das Fortschreiten über alle Einzelsubstanzen hinaus, überzugehen und darin zugrunde zu gehen, und wenn auch umgekehrt der maßlose Prozeß nur im Hervorbringen solcher „Existenzen" besteht imd seinerseits in deren sehr beschränkter, fürsichseiender Einzelheit zugrunde geht, so fällt doch die Einheit beider Übergänge in die äußere Reflexion, die da urteilt, daß Fortgehen ins Maßlose und Rückkehr aus der leeren Flucht in die langweilige Fülle des Belanglosen ein und dasselbe sind. Zwar ist dieser von der äußeren Reflexion hervorgebrachte Begriff nicht von der Sache zu trennen, auf die er geht, fällt aber nicht mit dieser zusammen. Die Sache verbleibt in der schlechten Unendlichkeit; das „fürsichseyende Unendliche" dagegen ist in der chemischen Forschung weder vorhanden, noch wird es durch sie gesetzt oder begründet. Die qualitative Unendlichkeit, wie sie am Daseyn ist, war das Hervorbrechen des Unendlichen am Endlichen, als unmittelbarer Uebergang und Verschwinden des Disseits in seinem Jenseits.

Im Begriff des endlichen Etwas ist enthalten (vgl. „Die Schranke und das Sollen", 21.118,18 ff; IV. 150), daß es über die ihm immanente und seine Qualität ausmachende Grenze hinausgeht. „[...] das Endliche [ist, U. R.] zwar als bestehendes Daseyn aber zugleich auch als das an sich nichtige also sich nach seiner Bestimmung auflösende bestimmt [...]" (21.128,4-6; IV. 162). So tritt, wenn Etwas nicht weiter bestimmt ist als ein endliches Etwas, das Unendliche an dem Endlichen nur hervor. Es ist ein „unmittelbares Enstehen" (21. 128, 23 f; IV. 163) des Unendlichen am Endlichen. Das Umgekehrte, das Hervortreten des Endlichen am Unendlichen, ist gleichfalls ein „unmittelbarer Uebergang".

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Die quantitative Unendlichkeit hingegen ist ihrer Bestimmtheit nach schon die Continuität des Quantums, eine Continutät desselben über sich hinaus. Das Qualitativ-Endliche wird zum Unendlichen; das Quantitativ-Endliche ist sein Jenseits an ihm selbst,imd weißt über sich hinaus.

„[...] im Quantitativen [schickt, U. R.] sich die Grenze an ihr selbst in ihr Jenseits fort [.. (21. 220, 6 f; IV. 274). Umgekehrt hat das „quantitativ-Unendliche [...] das Quantum an ihm selbst [...], denn das Quantum ist in seinem Aussersichseyn zugleich es selbst; seine Aeusserlichkeit gehört seiner Bestimmung an" (21. 220, 8-10; IV. 274 f). Wahrend „der Gegensatz des Endlichen und Unendlichen qualitativ ist, und der Uebergang des Endlichen in das Unendliche, oder die Beziehung beyder auf einander nur im An-sich,in ihrem Begriffe liegt" (21. 219, 19-21; rV. 274), „bezieht sich [hingegen das quantitative Endliche, U. R.] an ihm selbst in sein Unendliches" (21.219,28 f; IV. 274). Erläuterrmg am Modell der natürlichen Zahlen: Mit einer natürlichen Zahl (z. B. 7) ist die Folge aller natürlichen Zahlen gegeben. Denn die Zahl 7 enthält schon das Bildimgsgesetz der Zahlen und damit sowohl das Eins-Element als auch die Operation zur Herstellung des Nachfolgers einer Zahl. Mit dem Bildungsgesetz (zusammen mit dem dritten Peano-Axiom: Das Eins-Element ist nicht Nachfolger einer natürlichen Zahl) ist die Folge der natürlichen Zahlen als unendliche bestimmt, denn jedes Aufhören mit dem Zählen (Abbruch der Folge) stünde im Widerspruch zum Bildungsgesetz. Damit ist „das Quantitativ-Endliche [hier: die Zahl 7, U. R.] [...] sein Jenseits an ihm selbst, und weißt über sich hinaus [ins Quantitativ-Unendliche, U. R.]". Während das „Qualitativ-Endliche" verschwindet und zum Qualitativ-Unendlichen wird, das ihm abstrakt gegenübergestellt ist, verschwindet das „Quantitativ-Endliche" nicht in seinem Jenseits. Weil das Quantum darin besteht, „das Andre seiner selbst, sich selbst äusserlich zu seyn, [...] ist diß Äusserliche eben so sehr nicht ein Anderes als das Quantum; das Jenseits oder das Unendliche ist also selbst ein Quantum" (21. 221, 1-3; rV. 275). Deswegen steht das „Quantitativ-Endliche" seinem Jenseits nicht abstrakt gegenüber, sondern „in Continuität" (21. 220,21; rV. 275) mit demselben. Deswegen ist eine (natürliche) Zahl nur in der nicht abschließbaren, unendlichen Folge von Zahlen: Diese unendliche Folge enthält eben auch die Zahl 7, die nicht in ihrem Jenseits verschwunden ist.

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Aber diese Unendlichkeit der Specification des Maaßes setzt ebensowohl das Qualitative wie das Quantitative als sich in einander auf hebend , und damit die erste, unmittelbare Einheit derselben, welche das Maaß überhaupt ist, als in sich zurückgekehrt und damit selbst als gesetzt.

Die „Unendlichkeit der Specification des Maaßes [= der Progreß ins Unendliche auf der Knotenlinie von Maßverhältnissen, U. R.] setzt [...] das Qualitative" als sich aufhebend ins „Quantitative" - das ausschließende Maß, beruhend auf einem quantitativen Maßverhältnis, wird über sich hinaus ins Maßlose getrieben - und „das Quantitative" als sich aufhebend ins „Qualitative" - das Maßlose hebt sich zur qualitativen Bestinuntheit auf. Beide Übergänge fallen nicht disparat auseinander, sondern sind durch den unendlichen Progreß in einen Zusammenhang - nämlich das Diesseits des einen ist das Jenseits des anderen - gesetzt, also: der unendliche Progreß „setzt [...] das Qualitative wie das Quantitative als sich in einander aufhebend". Zimächst war das Maß unmittelbare Einheit des Qualitativen imd Quantitativen; diese seine Momente waren darin ungetrennt; und so war das Maß unmittelbares, spezifisches Quantum. Auf der Knotenlinie sind Qualitatives (die „specifischen Existenzen") und Quantitatives (die „quantitativbleibenden Verhältniße") außereinander, imd zwar abwechselnd aufeinander folgend gesetzt; somit geht die Bewegung der Momente des Maßes ins Unendliche (in die schlechte Unendlichkeit des unendlichen Progresses). Doch mit der Rückkehr des spezifischen Maßes aus dem Maßlosen ist das Sich-ineinander-Aufheben der Momente gegeben. Damit ist deren Bewegung, die zunächst als eine ins Unendliche auf der Knoten/inie (in indefinitum) erschien, in Wahrheit in sich geschlossen. In dieser Kreisbewegung ist die anfängliche Bestimmung des Maßes, unmittelbare Einheit des Qualitativen und Quantitativen zu sein, als fürsichseiende unendliche Einheit zurückgekehrt, und zwar - wie Hegel behauptet - aus dem Maß selbst entwickelt und so gesetzt. „Die Entwicklung des Maaßes, enthält die Unterscheidung [seiner, U. R.] Momente [nämlich des Qualitativen und des Quantitativen, U. R.], aber zugleich die Beziehung derselben, so daß die Identität, welche sie an sich sind, als ihre Beziehung aufeinander wird, d. i. gesetzt wird. Die Bedeutung dieser Entwicklung ist die Realisation des Maaßes, in der es sich zu sich selbst ins Verhältniß, und damit zugleich als Moment setzt [...] (21. 326, 22-26; IV. 409). Der Fehler liegt in demjenigen, das da „setzt" (aktivisch). Hegel behauptet: die „Unend-

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lichkeit der Specification des Maaßes". Aber es ist die äußere Reflexion, die beide Übergänge auf der Knotenlirüe vergleicht, die das keineswegs automatische Fortschreiten auf der Knotenlinie bewerkstelligt (experimentelle Arbeit) und die dann darin jene zurückgekehrte Einheit des Qualitativen und Quantitativen feststellt. Nur werm das Fortschreiten auf der Knotenlinie durch das Maß selbst gesetzt wäre (wie Hegel behauptet, vgl. das Sich-von-sich-Abstoßen des ausschließenden Maßes, 21. 364, 26 ff; FV. 456; Hegel verwechselt die auf dem Papier mögliche, in die äußere Reflexion fallende Verlängerung der Knotenlinie, wobei die Verlängerung ins Unendliche nur in der äußeren Reflexion möglich ist, mit einem realen Prozeß), wäre die „Unendlichkeit der Specification des Maaßes" begründet, die dann das Zusammengehen des Maßes mit sich selbst, also dessen fürsichseiende Einheit, diese fürsichseiende Einheit als in sich kontinuierende und zugleich sich von sich abstoßende Bewegung und damit das Maß selbst als Zustand (letztlich dann als Moment) dieser seiner Bewegung setzte. Das Qualitative, eine specifische Existenz, geht in eine andere so über, daß nur eine Veränderung der Größebestimmtheit eines Verhältnißes vorgeht; die Veränderung des Qualitativen selbst in Qualitatives ist damit als eine äusserliche und gleichgültige, und als ein Zusammengehen mit sich selbst gesetzt; das Quantitative hebt sich ohnehin als umschlagend in Qua^hatives, das an- und für-sichbestimmtseyn, auf.

Jene „erste unmittelbare Einheit" des Qualitativen und Quantitativen war statisch und durch ein herausgegriffenes, spezifisches Quantum darstellbar. Jetzt ist das Maß aus dem nicht abbrechenden Prozeß des wechselseitigen Übergehens von Knoten (dem Qualitativen) und bloß „quantitativbleibenden Verhältnißen" zurückgekehrte Einheit, die in und durch die Bewegung seiner Momente (in deren Übergängen) bestimmt imd dargestellt wird: 1.) Geht eine Qualität („specifische Existenz") in eine andere über, so geht „eine Veränderung der Größebestimmtheit eines Verhältnißes vor [...]; die Veränderung des Qualitativen selbst in Qualitatives ist damit als eine äusserliche und gleichgültige [.. .J gesetzt". Der qualitative Übergang ist in Einheit mit quantitativer Veränderung, und diese Einheit ist durch den Progreß auf der Knotenlinie gesetzt. Mit dieser Einheit des Qualitativen und Quantitativen ist der Übergang von einer Qualität („specifischen Existenz") zur anderen „als ein Zusammengehen mit sich selbst gesetzt".

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Während bei der qualitativen Veränderung von Etwas überhaupt - diese abstrakt, d. i. ohne Knotenlinie von Maßverhältnissen betrachtet - das (endliche) Etwas verschwindet und lediglich seinem Begriff nach oder an sich mit sich zusammengeschlossen ist (das entstandene Etwas ist gleichfalls Etwas, doch das erste Etwas ist verschwimden), ist im Progreß auf der Knotenlinie das Zusammengehen mit sich selbst gesetzt: Die Bewegung, die von einer „specifischen Existenz" ausging, kehrt zu einer solchen zurück. Insofern „specifische Existenzen" allesamt spezifizierte Maßverhältnisse sind, geht das Maß, Einheit des Qualitativen und Quantitativen, mit sich selbst zusammen. 2.) In der quantitativen Veränderung ist dieselbe Einheit des Qualitativen und Quantitativen enthalten: „[...] das Quantitative [die quantitative Veränderung von Maßverhältnissen auf der Knotenlinie, U. R.] hebt sich ohnehin als umschlagend in Qualitatives [...] auf" - quantitative Veränderung ist in Einheit mit dem qualitativen Sprung (vgl. 21. 365, 5-20; IV. 457). Während quantitative Veränderung eines Quantums - dieses abstrakt, d. i. nicht für ein Maßverhältnis stehend betrachtet - immer nur weitere Quanta ergibt. Und analog zur in sich geschlossenen Bewegung, die von einer „specifischen" Existenz ausging, läßt sich ergänzen: Das Maßlose hebt sich auf zur qualitativen Bestimmtheit. Diese, auf einem Maßverhältnis beruhend, geht durch die bloße Änderung von dessen Größe zugrunde und wird so ins Maßlose getrieben, demselben Maßlosen, das sich zur qualitativen Bestimmtheit aufhob. Derm es ist nicht ein Maßloseres als das erste Maßlose entstanden. Also ist das Maßlose in dieser Bewegung bei sich angekommen oder mit sich selbst zusammengegangen - der zunächst anscheinend in indefinitum verlaufende unendliche Progreß der Knotenlinie ist zum Kreis geschlossen. Beide Bewegungen, die von einer „specifischen Existenz" ausging und die vom Maßlosen ausging, sind eine und dieselbe an einem und demselben, im folgenden bestimmten Substrat. In dem Fortschreiten auf der Knotenlinie sind die Momente des Maßes, das Qualitative und das Quantitative, spezifischer bestimmt zu den „specifischen Existenzen" und dem ins Maßlose treibenden „quantitativen Fortgang". Die „specifische Existenz" ist einerseits eine solche nur, insofern sie den „bloß quantitativbleibenden Verhältrüßen" gegenübersteht. Sie ist da, wo diese nicht sind, und ist insofern nicht das Maßlose. Andererseits ist an ihr selbst das Zugrundegehen ins Maßlose gesetzt. Der „quantitative Fortgang" ist einerseits dasjenige, was nicht „specifische Existenz" ist, und treibt so nicht nur ins Maßlose, sondern ist an sich selbst maßlos. Andererseits ist er der Abschnitt der „bloß

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quantitativbleibenden Verhältniße" zwischen den Knoten, ist so durch diese begrenzt und hat darin sein Maß. Und er schlägt in spezifizierte Maße um. Mithin sind beide, die „specifischen Existenzen" und der „quantitative Fortgang", das Negative des andern und stehen ihm gegenüber; zugleich enthalten sie die Bewegimg in dies ihr Gegenüber. Durch den unendlichen Progreß der Knotenlirde ist diese Bewegung zum Kreis geschlossen, so daß beide vermittels des zu ihnen Negativen und vermittels des Aufhebens (der bestimmten Negation) dieses Negativen zu sich zurückkehren. Deswegen sind beide nicht mehr bloß - wie zu Anfang im Kapitel Knotenlinie von Maaßverhältnißen - gegeneinander getrennt und aufeinander folgend als Knoten und dazwischen liegende Abschnitte mit „bloß quantitativbleibenden Verhältnißen" bestimmt, sondern beide sind durch das zu ihnen Negative vermittelt und - bestimmter - als Resultat der dieses Negative aufhebenden Bewegimg, des „Zusammengehens mit sich selbst", gesetzt. Diese Bewegung, die spezifizierende Bewegung des Maßes, ist für beide eine und dieselbe, weil es völlig gleichgültig ist, ob mit einer „specifischen Existenz" oder mit „bloß quantitativbleibenden Verhältnißen" angefangen wird. Damit sind beide zu Zuständen oder Momenten dieser mit sich selbst zusammengehenden Bewegung herabgesetzt, welche sich so als neue Einheit für die spezifischer bestimmten Momente des Maßes ergeben hat. Der Übergang vom Maß als der „ersten, unmittelbaren Einheit" des einfach bestimmten Qualitativen und Quantitativen zur fürsichseienden Einheit der mit sich selbst zusammengehenden Bewegung, im folgenden: der „in sich selbst continuirenden Einheit", ist vollzogen. Diese so sich in ihrem Wechsel der Maaße in sich selbst continuirende Einheit ist die wahrhaft bestehenbleibende, selbstständige Materie, Sache.

Hiermit ist die „absolute Indifferenz" erreicht. Zuvor soll die Entwicklung aus dem Übergang ins Maßlose rekapituliert werden: Das ausschließende Maß wird über sich hinaus ins Maßlose getrieben und geht darin zugrunde - Übergang in die Unendlichkeit des Maßes. Das Maßlose hebt sich zur qualitativen Bestimmtheit eines spezifizierten Maßverhältrdsses auf - das unendliche Maß setzt den imendlichen Progreß der Knotenlinie. Die Knotenlinie von Maßverhältnissen geht so ins Unendliche. Was ist in dieser „Unendlichkeit der Specification des Maaßes" vorhanden? Zunächst die „Negation der specifischen Verhältnisse" und die „Negation des quantitativen Fortgangs selbst". Beide

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Übergänge fallen nicht auseinander, sondern sind durch den unendlichen Progreß in einen Zusammenhang gesetzt; Die „specifischen Existenzen" (die jetzt erreichte Bestimmung des qualitativen Moments des Maßes) und die „bloß quantitativbleibenden Verhältniße" (die Gestalt des quantitativen Moments) heben sich ineinander auf. Damit sind diese weiter bestimmten Momente des Maßes nicht mehr nur gegeneinander getrennte und aufeinander folgende Punkte und Strecken auf der Knotenlinie (ein in indefinitum verlaufender unendlicher Progreß), sondern sind durch ihre Bewegung ineinander zum Kreis zusammengeschlossen. Darin sind sie Momente oder Zustände eines neuen Ganzen, der mit sich selbst zusammengehenden Bewegung. Als solche ist das Maß zurückgekehrt, jetzt fürsichseiende Einheit des Qualitativen und Quantitativen. Und diese seine Momente sind ihrerseits Einheiten des Qualitativen und Quantitativen, was sich in ihrer Veränderung, der Bewegimg ineinander, zeigt: Der qualitative Übergang ist in Einheit mit quantitativer Veränderung. Durch den unendlichen Progreß der Knotenlinie ist die Veränderungsbewegung der selbständigen Maße, wenn nämlich ein spezifiziertes Maß (eine durch ein spezifisches Maßverhältnis bestimmte „specifische Existenz") in ein anderes solches übergeht, als „Zusammengehen mit sich selbst" gesetzt. So ist das Maß neu bestimmt, als „in sich selbst continuirende Einheit [des Qualitativen und Quantitativen, U. R.]" fürsichseiende Einheit in der Bewegung der Maßverhältnisse, das Analogon zum „Fürsichseyn" im Abschnitt „Qualität". Weil der Übergang von einer „specifischen Existenz" zur anderen sich als „ein Zusammengehen mit sich selbst" herausgestellt hat, sind die besonderen „specifischen Existenzen" als Resultat dieser mit sich selbst zusammengehenden Bewegung gesetzt und somit zu bloßen Zuständen an einem und demselben, eben der „in sich selbst continuirenden Einheit", herabgesetzt. Sind die „specifischen Existenzen" bloße Zustände und also nicht mehr selbständig, kann geschlossen werden, daß dasjenige, woran sie sind, die „in sich selbst continuirende Einheit", zugnmdeliegendes Substrat ist, das in solchem „Wechsel der Maaße" wahrhaft bestehen bleibt und deswegen „selbstständige Materie, Sache" ist. Geschlossen wird aus der mit sich selbst zusammengehenden Bewegung der spezifizierten Maße auf das Substrat für diese Bewegung, die Materie. Diese ist als Zugrundeliegendes für den Wechsel aller möglichen Maße selbst ohne Maß, also maßlos, ist aber Daseiendes. Denn ohne daseiendes Substrat wäre die in sich geschlossene Bewegung der Maße eine Bewegung von Nichts, was für eine Maß-Bewegung wider-

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sprechend ist. Das jetzt erreichte maßlose Substrat verhält sich zur anfänglichen Bestimmung des Maßlosen wie das „wahrhaft Unendliche" zum „Schlechtunendlichen" (21. 135, 32 ff; IV. 173): Das (anfängliche) Maßlose, in dem die „specifische Existenz" zugrimde ging, war seinerseits durch Maße auf der Knotenlinie begrenzt und hob sich zu dem spezifizierten Maß einer „specifischen Existenz" auf, die erneut im Maßlosen zugrunde ging. In dieser schlechten Unendlichkeit des Progresses auf der Knotenlinie ist aber das wahrhaft Maßlose vorhanden, nämlich die „in sich selbst continuirende Einheit" als eine Bewegung, in welcher „es [hier: das Maßlose, U. R.] sich herabsetzt, nur eine seiner Bestimmimgen [hier: die „bloß quantitativbleibenden Verhältniße", die von den spezifischen Maßen getrennt maßlose Abschnitte auf der Knotenlinie darstellen und die damit doch durch Maße begrenzt sind, U. R.] zu seyn, und diesen Unterschied seiner von sich selbst zur Affirmation seiner aufzuheben" (21. 135, 36-136, 1; IV. 172): Das (anfängliche) Maßlose, das sich zu einem spezifizierten Maß aufhob, wird zum wahrhaft Maßlosen aufgehoben, das nicht mehr den Mangel hat, durch Maße begrenztes und in Maße umschlagendes Maßloses zu sein, sondern das in der in sich kontinuierenden Bewegung wahrhaft unendlich ist und jenes anfängliche, durch Maße begrenzte Maßlose nur als einen seiner Zustände hervorbringt. So ist das wahrhaft Maßlose (= „in sich continuirende Einheit" = „Materie") „wesentlich nur als Werden, aber das nun in seinen Momenten weiter bestimmte Werden" (21.136,6 f; IV. 173)^. Es ist insofern weiter bestimmt, als nicht bloß Sein und Nichts, sondern alle qualitativen, quantitativen und alle Maßbestimmungen und auch das diesen bloß gegenüberstehende Maßlose in ihm negiert sind. Und die schlechte Unendlichkeit des Progresses auf der Knotenlinie, d. i. das fortwährende Zugrundegehen (Zugrundege4 die wahrhaft bestehenbleibende, selbstständige Materie", die „wesentlich nur als Werden" - dieses Hegelsche Substrat hat Engels nicht vom Kopf auf materialistische Füße gestellt, sondern einfach übernommen: „Es ist ein ewiger Kreislauf, in dem die Materie sich bewegt, [...] worin nichts ewig ist als die ewig sich verändernde, ewig sich bewegende Materie und die Gesetze, nach denen sie sich bewegt und verändert [...] wir haben die Gewißheit, daß die Materie in allen ihren Wandlimgen ewig dieselbe bleibt" (F. Engels: Dialektik der Natur. MEW 20. 327). Identität der Materie, ihre Ewigkeit imd Selbständigkeit, die spezifischen Existenzen als bloße Zustände („Wandlimgen") an dieser Materie, die Fähigkeit der Materie, diese Zustände aus sich selbst zu erzeugen (MEW 20.325) - all dies findet sich schon bei Hegel. Engels' Substrat, die Materie und ihre Bewegung, enthält demnach nicht zwei heterogene Prmzipien, nämlich Masse und Energie (wenn man es physikalisch formuliert), sondern es ist die Hegelsche „in sich selbst continuirende Einheit", „perermitendes Substrat", das „an ihm selbst die Bestimmung seyender Unendlichkeit" hat.

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hen der „specifischen Existenzen" im Maßlosen, Aufheben des Maßlosen zu spezifizierten Maßen), ist negiert. Und es ist affirmativ gegen dies fortwährende Zugrundegehen und gegen sämtliche Maßbestimmimgen als deren nicht zugrundegehendes, wahrhaft maßloses Substrat gesetzt, das deswegen „die Realität in höherem Sinn" ist, d. i. Realität, die „einen concreten Inhalt erhalten" (21.136, 28 f; IV. 174) hat. So ist es „wahrhaft bestehenbleibende, selbstständige Materie", während die Maßbestimmungen „nicht selbstständig seyend" (21. 137, 6; rV. 174), sondern bloße Zustände an der Materie sind. Was hiemit vorhanden ist, ist a) eine und dieselbe Sache, welche als Grundlage in ihren Unterscheidungen und als perennirend gesetzt ist. Schon im Quantum überhaupt beginnt diß Abtrennen des Seyns von seiner Bestimmtheit; groß ist etwas, als gleichgültig gegen seine seyende Bestimmtheit. Im Maaße ist die Sache selbst bereits an sich Einheit des Qualitativen imd Quantitativen, - der beyden Momente, die innerhalb der allgemeinen Sphäre des Seyns, den Unterschied ausmachen, imd wovon das Eine das Jenseits des Andern ist; das perermirende Substrat hat auf diese Weise zunächst an ihm selbst die Bestimmung seyender Unendlichkeit.

Der „Wechsel der Maaße" hat sich durch den unendlichen Progreß der Knotenlinie als mit sich selbst zusammengehende Bewegimg herausgestellt. Damit ist zur neuen Bestimmung des Maßes als „in sich selbst continuirende Einheit [des Qualitativen tmd Quantitativen, U. R.]" übergegangen. „Was hiemit vorhanden ist": 1. ) In dieser Einheit sind sämliche qualitativen, q bestimmungen negiert. 2. ) Diese Einheit ist selbst nicht endlich und insb beschränkt („perennirend"). 3. ) Diese Einheit ist „Materie, Sache" imd ist so D „Sache" verweist darauf, daß das Wesen noch nicht erreicht ist, und soll zugleich verhindern, daß an dieser Stelle „Seyn, reines Seyn, - ohne alle weitere Bestimmimg" (21. 68, 19; IV. 87) angeschlossen werden muß, die Wissenschaft der Logik von vorne begänne und das Wesen nie erreicht werden würde. 4. ) Diese Einheit ist „eine und dieselbe Sache" lose Substrat ist als identisches gesetzt. Die Pimkte 3 imd 4 bedürfen der Erläuterung (für 4 unteres). Allein aus

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der Negation sämtlicher qualitativer, quantitativer und Maßbestimmungen folgt nicht zwingend ein Daseiendes, eine Sache, sondern erst einmal nur „Seyn [...] ohne alle weitere Bestimmimg". Doch weil im Progreß auf der Rnotenlinie der Übergang von einer „specifischen Existenz" zur anderen als „ein Zusanunengehen mit sich selbst gesetzt" ist, kann auf ein daseiendes Substrat für diese in sich zurückkehrende Bewegung der Maße geschlossen werden (mittels negativen Beweises; ohne daseiendes Substrat wäre diese Maß-Bewegung nicht möglich). Schon im Kapitel Knotenlinie von Maaßverhältnißen fand sich ein Hinweis auf ein Substrat derselben: Die „Beziehung des Verhältnißmaaßes auf sich ist [...] eine seyende, qualitative Gnmdlage; - bleibendes, materielles Substrat" (21. 364, 20-23; IV. 456). Überdies konnte die „Scale des Mehr und Weniger" (21.365,4; IV. 457) als Grundlage oder Substrat der Knotenlinie aufgefaßt werden. Aber dort war jene Bewegung der spezifizierten Maße noch nicht zum Kreis geschlossen, das „Zusammengehen mit sich selbst" nicht gesetzt und das Substrat nicht als während dieser Bewegung beharrliche, „perennirende" Sache begründet. Dazu ist der Weg über den schlecht-unendlichen Progreß der Knotenlinie notwendig. Nur so wird jede qualitative und quantitative Bestimmtheit eines möglichen Substrates gelöscht - auch jene quantitative „Scale" ist noch nicht wahrhaft maßloses Substrat. „Schon im Quantum überhaupt beginnt diß Abtrennen des Se5ms von seiner [quantitativen, U. R.] Bestimmtheit; groß ist etwas, als gleichgültig gegen seine seyende Bestimmtheit [die qualitative Bestimmtheit, an der die quantitative Bestimmtheit = Größe ist und die nicht von dieser Größe abhängig ist, U. R.]". In der Entwicklung des Maßes wird diese „seyende Bestimmtheit" in ein Maßverhältnis („Fürsichseyn im Maaße") imd dann in die aus der „Reihe von Maaßverhältnißen" zurückgekehrte, fürsichseiende und ausschließende „Wahlverwandtschaft" aufgelöst. Als konkretere Bestimmimg jener gegen jede quantitative Bestimmtheit gleichgültig bleibenden „seyenden Bestimmtheit" hat sich jetzt die (negative) Einheit des Qualitativen und Quantitativen ergeben, die materielles Substrat für alle Bestimmtheiten (qualitative, quantitative und Maße) ist. In dieser Einheit sind das Qualitative (in der Knotenlinie spezifischer bestimmt zu den „specifischen Existenzen") und das Quantitative (der ins Maßlose treibende „quantitative Fortgang") negiert. „Beyde Momente" machen im Maß (hier bestimmter: in der Knotenlinie von Maßverhältnissen) „den Unterschied aus"; in der schlechten Unendlichkeit des unendlichen Progresses auf der Knotenlinie ist noch „das Eine das Jenseits des Andern". Dieser „in-

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nerhalb der allgemeinen Sphäre des Seyns" bestimmende Unterschied ist im Substrat aufgehoben (und damit ist zur „absoluten Indifferenz" übergegangen). Weil das Substrat die Negation des Qualitativen (hier: die Negation aller möglichen „specifischen Existenzen") enthält, ist es unvergleichlich, d. h. nicht durch den Unterschied zu einer „specifischen Existenz" bestimmbar, und so wahrhaft maßlos. Weil es die Negation des Quantitativen (hier: die Negation des ins Maßlose treibenden „quantitativen Fortgangs") enthält, ist es nicht das unerreichbare Jenseits von allen Maßen - als solches könnte es nicht Träger der Maße sein. Und weil der Unterschied des Qualitativen und Quantitativen in deren negativer Einheit negiert ist, enthält das Substrat die Negation des wechselseitigen Übergehens bzw. des fortwährenden Zugrundegehens im Gegenüber (Zugrundegehen der „specifischen Existenzen" im Maßlosen, Aufheben des Maßlosen zu spezifizierten Maßen). So ist es „perennirend" - das Substrat aller Veränderung ist selbst unveränderlich. „[...] das perennirende Substrat hat [...] an ihm selbst die Bestimmung seyender Unendlichkeit". „Das Unendliche ist diese Negation beyder Momente", nämlich „nicht nur die Negation des specifischen Verhältnisses [der Übergang ins Maßlose, U. R.], sondern auch die Negation des quantitativen Fortgangs selbst [das Aufheben dieses Maßlosen zu spezifizierten Maßen, U. R.]" (11. 220, 30-32). In der schlechten Unendlichkeit des unendlichen Progresses fällt die Einheit beider Negationen in die äußere Reflexion. Denn diese stellt fest, daß dasjenige, worin ein spezifiziertes Maß zugrunde geht, das zu diesem Maß Maßlose ist, welches so Maßloses für die äußere Reflexion ist. (Das Entsprechende gilt für den umgekehrten Übergang.) Und die Einheit beider Übergänge liegt zunächst in der Vorstellung, der „perennirenden Wiederholung eines und desselben Abwechselns, der leeren Unruhe des Weitergehens über die Grenze [hier: das spezifizierte Maß, U. R.] hinaus zur Unendlichkeit [hier: zum Maßlosen, U. R.], das in diesem Unendlichen eine neue Grenze findet, auf derselben aber sich so wenig halten kann, als in dem Unendlichen" (21. 130, 7-10; IV. 165). Somit bleibt die Triebfeder des unendlichen Progresses diesem äußerlich. Das erreichte, wahrhaft maßlose Substrat dagegen enthält die Triebfeder, es ist „in sich selbst continuirende Einheit". Die Unendlichkeit ist dann weder unerreichbares Jenseits noch bloße Vorstellung der äußeren Reflexion, sondern affirmativ gegen die schlechte Unendlichkeit des unendlichen Progresses gesetzt, ist deswegen „seyende Unendlichkeit" und macht die Bestimmung des Substrates aus. Das als „perennirend gesetzte" und zur „seyenden Unendlichkeit"

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bestimmte wahrhaft maßlose Substrat ist Träger aller Bestimmtheiten und aller Verändenmg. In ihm sind alle Bestimmungen und das fortwährende Übergehen negiert. So ist es maßlos und selbst unveränderlich. Insofern es die „Grundlage" aller „specifischen Existenzen" ist, kommt ihm „Se)^" zu („s e y e n d e Unendlichkeit") und ist die konkretere Bestimmung des von seiner Bestimmtheit abgetrennten „Seyns". Insofern in ihm alle Bestimmungen negiert sind, ist es Unendlichkeit (bzw. Maßloses), und ihm kommt Negation der Negation zu, welche zunächst (im unendlichen Progreß) in die äußere Reflexion (ins Denken) fällt. In der „seyenden Unendlichkeit" sind „Seyn" und (zunächst gedachte) Negation der Negation zum wahrhaft maßlosen, materiellen Substrat zusammengezogen und darin nicht unterschieden. Dasjenige, worin Sein/Existenz und Denken nicht unterschieden sind, ist bei Kant das transzendentale Objekt. Weil dieses transzendentale Objekt allen Gegenständen der Erscheinung zugrtmde liegt und weil es mit der ursprünglich-s3mthetischen Einheit der Apperzeption zusammenfällt, stimmen die Bestimmungen des Denkens mit Bestimmungen der Gegenstände überein. Aber bei Kant sind die (transzendentalen) Bedingungen des Denkens und der Anschauung nicht identisch mit allen (transzendentalen) Bedingimgen der Gegenstände der Erfahrung: „die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung" (K. d. r. V. B 197). Im ersten Fall stehen die Bedingungen mit bestimmtem Artikel, im zweiten dagegen ohne jeden Artikel: Die ersten Bedingimgen sind auch die zweiten, aber die ersten sind nicht vollständig die zweiten. Ausdruck dieser nicht vollständigen In-eins-Setzimg ist das Ding-an-sich, das nicht in den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung aufgeht. Hegel streicht dieses Ding-an-sich, für ihn sind die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrimg vollständig identisch mit den Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung. Die Grundlage dafür setzt Hegel mit dem allgemeinen Substrat für alle Maßbestimmimgen, in welchem Sein/Existenz und Reflexion ununterschieden zur „seyenden Unendlichkeit" zusammengezogen sind. Einem solchen Substrat hat Kant gleichwohl vorgearbeitet - in den „Antizipationen der Wahmehmimg" (K. d. r. V. B 207 ff). Dort trennt Kant das Reale (realitas phaenomenon), „was den Empfindimgen überhaupt korrespondiert" (B 217), von der „Qualität der Empfindung", die „jederzeit bloß empirisch" (B 217) ist - analog dazu Hegels „Abtrennen des Se3ms von seiner Bestimmtheit [von der quantitativen, dann von den Maßen, U. R.]". Nun ist jede gegebene „Empfindung einer Verrin-

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gerung fähig, so daß sie abnehmen, imd so allmählich verschwinden kann" (B 210); damit karm das Reale derselben kontinuierlich bis zur reinen Anschauung = 0 abnehmen. In dem empirischen Wahrnehmungsvermögen gibt es jedoch Reizschwellen, die zwar durch Meßinstrumente weiter hinausgeschoben werden können, die aber immer wieder als endliche Grenze =1= 0 auftauchen. Damit fällt in die äußere Reflexion der imendliche Progreß: Jede gegebene endliche Empfindung kann unterschritten werden. Spiegelbildlich zur Abnahme nach 0 kann das Reale von 0 (= der reinen Anschauung) bis zu einer beliebigen Größe anwachsen, d. h. die äußere Reflexion ist einer „Synthesis der Größenerzeugimg einer Empfindung" (B 208) fähig. Damit wird ein Grad (des Realen) gesetzt (Kant: antizipiert), welcher „durch unendliche Stufen abnehmen kann" (B 214). Deswegen muß es „unendlich verschiedene Grade, mit welchen Raum und Zeit erfüllt sei, geben" (B 214). Kant schließt also daraus, daß jede endliche Grenze der Rezeptivität der Empfindungen in der äußeren Reflexion imterschritten werden kann, auf ein den Empfindungen zugrundeliegendes Substrat, den Grad des Realen, der im Unterschied zu den bestimmten endlichen Empfindimgen unendlich und kontinuierlich ist - analog dazu Hegels Übergang von der schlechten Unendlichkeit des unendlichen Progresses zur affirmativ gesetzten „seyenden Unendlichkeit". Bei Kant enthält der „Begriff [des Realen, U. R.] an sich ein Sein [...] und bedeutet nichts als die Synthesis in einem empirischen Bewußtsein überhaupt" (B 217). „Synthesis" (negative Einheit bzw. Negation der Negation) wird mit „Sein" zum antizipierten (gesetzten) Substrat aller Wahrnehmungen zusammengezogen, für Kant ein konstitutiver Gnmdsatz. Diesem Substrat spricht Kant „a priori nur eine einzige Qualität, nämlich die Kontinuität" (B 218) zu - analog: „in sich selbst continuirende Einheit [...] Materie [...] eine und dieselbe Sache, welche als Grundlage in ihren Unterscheidungen und als perennirend gesetzt ist". Und an diesem als kontinuierlich bestimmten Substrat körme „nichts weiter a priori, als die intensive Quantität" (B 218) erkannt werden - analog: ,,ß) [...] die qualitativen Selbstständigkeiten, in welche die maaßbestimmende Einheit abgestossen ist, [bestehen, U. R.] nur in quantitativen Unterschieden [...], so daß das Substrat sich in diß sein Unterscheiden continuirt". Bei Kant wird dieses Substrat dann durch einen (regulativen) Grundsatz noch weiter bestimmt, den „Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz" (B 224 ff): „Die Zeit [...] in der aller Wechsel der Erscheinungen gedacht werden soll, bleibt und wechselt nicht [...]. Nun kann die Zeit für sich nicht wahrgenommen werden. Eolglich muß in den

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[...] Erscheinungen das Substrat anzutreffen sein, welches die Zeit überhaupt vorstellt, und an dem aller Wechsel oder Zugleichsein durch das Verhältnis der Erscheinungen zu demselben in der Apprehension wahrgenommen werden kann [bei Hegel: Schluß aus dem „Wechsel der Maaße" auf die ihnen zugrundeliegende „in sich selbst continuirende Einheit", in der die „Maaße" aufeinander bezogen sind, U. R.]. Es ist [...] das Substrat alles Realen [...], die Substanz, an welcher alles, was zum Dasein gehört, nur als Bestimmimg kann gedacht werden. Folglich ist das Beharrliche [bei Hegel: die „als perennirend gesetzte" „Sache", Kant erläutert wenig später (B 228) „Beharrlichkeit" als „Dasein zu aller Zeit", U. R.], womit in Verhältnis alle Zeitverhältnisse der Erscheinungen [bei Kant wird aus den Zeitverhältnissen auf das Substrat aller Zeitbestimmtmg imd, weil die Zeit allen Erscheinungen zugrunde liegt, auf das Substrat aller Gegenstände der Wahmehmimg geschlossen, bei Hegel weniger umständlich, einfach generell aus den Maßverhältnissen, U. R.] allein bestimmt werden können, die Substanz in der Erscheinung, d. i. das Reale derselben, was als Substrat alles Wechsels immer dasselbe bleibt [bei Hegel: Die „Dieselbigkeit des Substrats ist [...] gesetzt", U. R.]" (B 225). Allerdings ist Kants Annahme ungereimt, daß diesem Substrat ein zwar weder zu vermehrendes noch zu verminderndes, aber doch immerhin bestimmtes Quantum zukäme. (Frage: An welcher Qualität ist dieses Quantum und welche Dimension hat denn dann das Substrat?) Bei Hegel ist dann konsequenterweise jedes Quantum und jedes Maß von dem Substrat selbst entfernt. Bei Aristoteles findet sich eine widerlegende Argumentation, die für das Hegelsche zur „seyenden Unendlichkeit" bestimmte Substrat, den Träger aller qualitativen, quantitativen xmd Maßbestimmtmgen, konstitutiv ist. Aristoteles geht von der Annahme aus, die Materie sei das Zugrundeliegende (vjioxELfiEvov). „Das Zugrundeliegende ist [...] dasjenige, von dem das übrige [bei Hegel: alle qualitativen, quantitativen und Maßbestimmimgen, U. R.] ausgesagt wird, das selbst aber nicht wieder von einem anderen ausgesagt wird [bei Hegel: das selbst weder qualitative noch quantitative noch Maßbestimmtmg ist, U. R.]"5. Wenn alle Bestimmimgen qualitative, quantitative und Maße sind und wenn sie Bestimmungen an dem Zugnmdeliegenden (dem materiellen Substrat) sind, dann ist, wenn alle Bestimmungen weggenommen werden und nach dem Zugrundeliegenden gefragt wird, dieses ohne jede Be5 Artistoteles: Metaphysik. VII. Buch. 1028 b 36. Übersetzung v. H. Bonitz. Bearbeitet von H. Seidl. Hamburg 1980.

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Stimmung. Denn alles, was von dem Zugmndeliegenden ausgesagt wird, soll dieses selbst nicht bestimmen, sondern Bestimmimg an diesem sein. Von einem völlig Unbestimmten ist aber nichts auszusagen - Hegel: „Seyn, reines Seyn, - ohne alle weitere Bestimmung [...] ist in der That Nichts" (21. 68, 21-69, 7; IV. 87 f). Damit ist die Ausgangsannahme, die Materie sei das 1. Subjekt aller Prädikationen bzw. das Zugrundeliegende für alle Bestimmxmgen, auf den Widerspruch geführt, daß von der Materie nichts ausgesagt werden kann. Ergo - so Aristoteles' Schluß - ist die Materie nicht das Zugrundeliegende. Dem stimmt Hegel zu: „Seyn [...] ohne alle weitere Bestimmung" kann nicht Träger aller qualitativen, quantitativen und Maßbestimmimgen sein. Überdies nimmt Hegel den Hinweis von Aristoteles auf, jene zugrundeliegende Materie könne schon deshalb nicht Wesen sein, weil dem Wesen „selbständige Abtrennbarkeit"^ zukomme, ein völlig Bestimmungsloses aber nicht selbständig sein könne. Als affirmativ gesetzte, fürsichseiende Unendlichkeit gewinnt das Hegelsche Substrat Selbständigkeit, wohingegen die Maßbestimmimgen zu unselbständigen Zuständen an demselben herabgesetzt werden. ß) Diese Dieselbigkeit des Substrats ist darin gesetzt , daß die qualitativen Selbstständigkeiten, in welche die maaßbestimmende Einheit abgestossen ist, nur in quantitativen Unterschieden bestehen, so daß das Substrat sich in diß sein Unterscheiden continuirt; Die Annahme, Träger aller Bestimmimgen sei ein völlig bestimmungsloses Substrat, führt - wie schon von Aristoteles gezeigt - in die Aporie, daß die Bestimmimgen dann Bestimmungen von Nichts wären, von Nichts aber nichts Bestimmtes ausgesagt werden kann. Also muß das Substrat der Knotenlinie verglichen mit „reinem Seyn" konkreter bestimmt sein: Zunächst wurde aus der mit sich selbst zusammengehenden Bewegung der spezifizierten Maße auf ein perennierendes, zur „seyenden Unendlichkeit" bestimmtes Substrat geschlossen. Jetzt (unter ß) ist dessen „Dieselbigkeit" gesetzt, wobei Hegel die Reflexionsbestimmung 'Identität' vermeidet - wohl deshalb, weil das Substrat ein Daseiendes ist, dem „Dieselbigkeit" als Eigenschaft zukommt. (Wenn allerdings die „Dieselbigkeit" gesetzt ist, wird die Abgrenzung zur Identität hinfällig.) Die „Dieselbigkeit" ist insofern gesetzt (= begründet), als sie 6 Aristoteles: Metaphysik. VII. Buch. 1029 a 27.

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aus dem Progreß ins Unendliche resultiert, und zwar: Ein ausschließendes Maß (eine „qualitative Selbstständigkeit") stößt sich von sich selbst ab; auf einem quantitativen Maßverhältnis beruhend geht es durch dessen (quantitative) Veränderung im Maßlosen, seinem Negativen, zugrunde; aus dem Maßlosen kehrt eine neue „qualitative Selbstständigkeit" zurück, welche auf einem anderen quantitativen Maß Verhältnis beruht; da während des gesamten Prozesses allein das Maßverhältnis quantitativ verändert wird, ist das Maßlose nicht das unerreichbare Jenseits des Maßes und die neue „qualitative Selbstständigkeit" nicht das zur vorhergehenden Andere oder Heterogene. Die durch den unendlichen Progreß hergestellte Beziehimg des ausschließenden Maßes auf das Maßlose wie auf ein anderes ausschließendes Maß ist in sich zurückkehrende Bewegimg oder (negative) Beziehung auf sich selbst (vgl. 11. 221,21-23). Das Sich-von-sich-Abstoßen ist aufgehoben und zum Kreis geschlossen. Damit ist die „Dieselbigkeit des Substrats" gesetzt, während zuvor (vgl. 21. 352,3; IV. 440) zwei „qualitative Selbstständigkeiten" lediglich an sich dasselbe waren, insofern als ihr Unterschied bloß im Quantum eines Maßverhältnisses lag. Sowohl der Unterschied verschiedener „qualitativer Selbstständigkeiten" als auch der Unterschied eines solchen spezifizierten Maßes zum Maßlosen sind in dem in sich kontinuierenden Substrat aufgehoben. Darin ist alles ein und dasselbe. Jene Unterschiede sind in dem zur „Knotenlinie von Maaßverhältnißen" spezifizierenden Prozeß hervorgebracht worden, ln dessen unendlichem Progreß zeigen sie sich nur um zu verschwinden. Wird diese Bewegung von dem daseienden Substrat gelöst, ist die Reflexionsbestimmimg 'Identität' erreicht: „ein [...] Unterschied, der in seinem Entstehen verschwindet, oder ein Unterscheiden, wodurch nichts unterschieden wird [...] Identität ist die Reflexion in sich selbst, welche diß nur ist, als innerliches Abstossen, und diß Abstossen ist es als Reflexion in sich, unmittelbar sich in sich zurücknehmendes Abstossen" (11.261,27-262,5; IV. 509 f). in dem unendlichen Progresse der Knotenreihe ist die Continuirung des Qualitativen in das quantitative Fortgehen, als in eine gleichgültige Veränderung, aber ebenso die darin enthaltene Negation des Qualitativen, imd zugleich damit der bloß quantitativen Aeusserlichkeit, gesetzt. Das quantitative Hinausweisen über sich zu einem Andern, als anderem Quantitativen geht unter in dem Hervortreten eines Verhältnißmaaßes, einer Qualität, imd das qualitative Uebergehen hebt sich eben darin auf, daß die neue Qualität selbst nur ein quantitatives Verhältniß ist. Diß Uebergehen des Y)

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Das Maaßlose Qualitativen und des Quantitativen in einander geht auf dem Boden ihrer Einheit vor, und der Sinn dieses Processes ist nur das Daseyn,das Zeigen oder Setzen , daß demselben ein solches Substrat zu Grunde liegt, welches ihre Einheit sey.

In dem „unendlichen Progresse der Knotenreihe" ist „gesetzt": 1. ) „die Continuirtmg des Qualitativen [einer „qu digkeit" oder „specifischen Existenz", U. R.] in das quantitative Fortgehen, als in eine gleichgültige Veränderung" (vgl. 21.365,8; IV. 457), 2. ) die „Negation des Qualitativen" (dessen Zugru sen) und die „Negation [...] der bloß quantitativen Aeusserlichkeit" (das Maßlose hebt sich in ein spezifiziertes Maß, eine „specifische Existenz", auf). Die Momente des Maßes, das Qualitative und das Quantitative, sind innerhalb der Knotenlinie spezifischer bestimmt zu den „qualitativen Selbstständigkeiten" und zu dem quantitativen Fortgang ins Maßlose (vgl. Seite 322 f). An diesen Momenten ist ihr Übergehen ins jeweilige Gegenüber gesetzt: „Das quantitative Hinausweisen über sich zu einem Andern, als anderem Quantitativen [das Hinausweisen in die quantitative Unendlichkeit, U. R.] geht unter in dem Hervortreten eines Verhältnißmaaßes, einer Qualität". Und dieses Qualitative geht gleichfalls unter resp. über in das quantitative Fortgehen, denn es ist nicht ein Anderes, Heterogenes zu dem Maßlosen und zu den verschiedenen „qualitativen Selbstständigkeiten", sondern von ihnen bloß durch ein quantitatives Verhältnis unterschieden. 3. ) In diesem Übergehen der Momente ineinander sich selbst auf (vgl. 11. 222,7). Eine „qualitative Selbstständigkeit" geht nämlich über in das Maßlose zunächst als in ihr Anderes, das Negative des Maßes. Dieses Andere, das maßlose quantitative Fortgehen, ist aber an sich Übergehen in eine „qualitative Selbstständigkeit" und hebt damit an sich selbst auf, daß es ein Anderes ist. Und entsprechend ist die erreichte „qualitative Selbstständigkeit" zunächst das Andere des Maßlosen. Aber dies Qualitative ist durch ein quantitatives Maßverhältnis bestimmt, hat an sich das Übergehen ins Maßlose imd hebt gleichfalls an sich selbst auf, daß es ein Anderes (zum Maßlosen) ist (vgl. 11. 222,2630). Weil in der unendlichen spezifizierenden Bewegung auf der Knotenlinie aufgehoben ist, daß deren Momente, das Qualitative und das Quantitative, jeweils Andere gegeneinander sind, geht jedes Moment während der Veränderung des quantitativen Maßverhältnisses nur mit sich selbst zusammen. Das Übergehen ist zur in sich zurückkehrenden Bewegung, zur Beziehung auf sich, aufgehoben. Somit ist die in sich konti-

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nuierende, fürsichseiende Einheit des Qualitativen und Quantitativen erreicht, welche als „Boden" oder „Substrat" für das „Uebergehen des Qualitativen und des Quantitativen in einander" figuriert. „[...] der Sinn dieses Processes ist nur das Dase5m, das Zeigen oder Setzen, daß demselben ein solches Substrat zu Grunde liegt [...]". In der Apposition zu „Daseyn" steht, wie Hegel zu dem „Dase5m" des Substrats kommt: Es werde gezeigt oder gesetzt. „Zeigen",£7ray(ü7?7 bzw. demonstratio, bedeutet: An einem herausgegriffenen Exemplar (z. B. einem hingezeichneten Dreieck) wird gezeigt, daß das Fragliche (z. B. der geometrische Satz) für alle (Exemplare) gilt. Die demonstratio an einem Einzelnen setzt voraus, daß dieses Einzelne durch ein Allgemeines (bei Aristoteles durch ein eldoq) bestimmt ist, von dem dann etwas gezeigt werden karm. Die Übergänge in der Lehre vom Seyn werden gezeigt, d. h. in diesem Fall: An der mit sich selbst zusammengehenden Bewegung eines spezifizierten Maßes wird gezeigt, daß diese nicht sein kann ohne vorausgesetztes, daseiendes Substrat, das Zugrundeliegendes für alle möglichen Maße ist. Das Zeigen ist so Rückgang in den Grund, der als vorausgesetztes Erstes verbleibt imd von dem demonstriert wird, daß er ist. „Setzen" bedeutet: Der aufgezeigte Grund wird als Resultat der zu ihm führenden Argumentation entwickelt und durch diese begründet (= gesetzt). Doch der Gnmd wäre nur dann gesetzt, wenn das Substrat hinreichend durch „Dase5m" („seyende Unendlichkeit"), „Dieselbigkeit" (Identität) und „Negation" der Momente des Maßes (Maßlosigkeit) bestimmt werden könnte oder in diesen Bestimmungen aufginge. Beim Zeigen dagegen ist das Aufgezeigte nicht gesetzt. Das „oder" in obiger Apposition behauptet „Zeigen" und „Setzen" als austauschbar. Hegel benötigt beides, mit dem „Zeigen" das Übergehen zu dem daseienden Substrat, mit dem „Setzen" das Begründen von dessen (hinreichenden) Bestimmungen. Und wenn Hegel in jener vermengenden Apposition die Differenz von „Zeigen" imd „Setzen" als belanglos löscht, ist dies ein Hinweis darauf, daß das „Zeigen" im „Setzen" aufgehoben werden, das „Dase3m" gesetzt werden und sämtliche Bestimmtheiten des „Daseyns" in Reflexionsbestimmungen aufgehen sollen. Das „Daseyn" des Substrats, weiter unten dessen Selbständigkeit und die Herabsetzung der bisherigen selbständigen Maße zu Zuständen, führt auf einen unendlichen Progreß: Ist das Substrat ein selbständiges Daseiendes, müssen ihm qualitative, quantitative und Maßbestimmungen zukommen. Weil das Substrat aber als maßlos bestimmt ist, muß es ein weiteres zugrundeliegendes Substrat für das erste Substrat und alle Maße geben, und so fort ins Unendliche. Das Festhalten

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an einem selbständigen, daseienden Substrat ist dann das Festhalten an der schlechten Unendlichkeit, nämlich das Aufzeigen eines Substrats, das verschwindet um aufzutauchen und im Auftauchen immer wieder verschwindet. Daraus schließt dann Hegel - analog zu Aristoteles' Widerlegung des dritten Menschen durch dessen Zurückführung auf einen unendlichen Progreße -, daß dem maßlosen Substrat kein selbständiges, abgetrenntes Dasein zukommen kann. In den Reihen selbstständiger Maaßverhältnisse sind die einseitigen Glieder der Reihen unmittelbare qualitative Etwas, (die specifischen Schweren, oder die chemische Stoffe, die basischen oder kalischen, die sauren z. B.), und dann die Neutralisationen derselben, (- worunter hier auch die Verbindungen von Stoffen verschiedener specifischer Schwere zu begreiffen sind -) sind selbstständige imd selbst ausschliessende Maaßverhältnisse, gegeneinander gleichgültige Totalitäten fürsichseyenden Daseyns. Nun sind solche Verhältnisse nur als Knoten eines und desselben Substrats bestimmt. Damit sind die Maaße und die damit gesetzten Selbstständigkeiten zu Zuständen herabgesetzt. Die Veränderung ist nur Aenderungeines Zustandes und das Uebergehende istalsdarin dasselbe bleibend gesetzt.

Die die Maße spezifizierende Bewegung auf der Knotenlinie hat sich als „ein Zusammengehen mit sich selbst" herausgestellt. Aus solcher Bewegung wurde auf ihr Substrat, die „wahrhaft bestehenbleibende, selbstständige Materie" geschlossen. Diese ist „Sache", hat an ihr „die Bestimmung seyender Unendlichkeit", ist als dieselbe gesetzt und als fürsichseiende Einheit des Qualitativen tmd Quantitativen der „Boden" für das Übergehen des Qualitativen und Quantitativen ineinander. Die „selbstständigen und selbst ausschliessenden Maaßverhältnisse [die Wahlverwandtschaften, U. R.] [...] sind [...] nur als Knoten eines und desselben Substrats bestimmt. Damit sind die Maaße und die damit gesetzten Selbstständigkeiten zu Zuständen herabgesetzt". Weil das Übergehen von einer „qualitativen Selbstständigkeit" zur anderen in Wahrheit eine mit sich selbst zusammengehende Bewegung und ein sich selbst spezifizierender Prozeß des Maßes ist, ist das Übergehen von selbständigen, gegeneinander heterogenen Maßen aufgeho7 Aristoteles; Metaphysik. VII. Buch. 1031 b 28 -1032 a 4.

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ben und viel mehr Rückkehr in sich. In demjenigen, was bei dieser Bewegimg sich ändert, liegt deswegen dann keine Selbständigkeit mehr (vgl. 11. 222, 33-35). „Die Verändenmg ist nur Aenderung eines Zustandes" ausgedrückt durch die quantitative Änderung des Maßverhältnisses. Das Substrat, das wahrhaft Maßlose, „ist als darin dasselbe bleibend gesetzt". Ihm - einem Prozessualen, der „in sich selbst continuirenden Einheit" (deswegen das substantivierte 1. Partizip „das Uebergehende") - kommt die Selbständigkeit zu, die die Maße verloren haben. Mit dem Herabsetzen der selbständigen Maße zu Zuständen eines Substrats ist ein entscheidender Schritt bei der Auflösung der Qualitäten in Reflexionsbestimmungen vollzogen. Einem qualitativen Etwas können zunächst unmittelbar Maße, im weiteren dann Maßverhältnisse (wie z. B. das spezifische Gewicht, aber auch das Äquivalentgewicht) zugeordnet werden. Spezifischer kann eine Qualität dann durch ihre Relationen zu anderen - z. B. Tonrelationen (Harmonien), chemische Reaktionen („die Neutralisationen [der unmittelbaren qualitativen Etwas, U. R.] [...], worunter hier auch die Verbindungen von Stoffen verschiedener specifischer Schwere [Synsomatien, U. R.] zu begreiffen sind") bestimmt werden, und der Weg dieser Bestimmung ist der Weg der Entwicklung von der unmittelbaren, vorausgesetzten Qualität hin zum Wesen. Jene Relationen der qualitativen Etwas werden durch Relationen von Maßen ausgedrückt, aus denen sich Verhältnismal; (Wahlverwandtschaften) ergeben, die die zunächst vorausgesetzte Qualitäten ersetzen. Die Wahlverwandtschaften sind selbständige, ei ander ausschließende Maße. Doch sie bleiben nicht einander äußerlich, sondern werden durch ihr Kontinuieren aufeinander bezogen, was durch den quantitativen Durchlauf von Maßverhältnissen (auf der „Scale des Mehr und Weniger") und das Umschlagen aus der bloß quantitativen Veränderung des Maßverhältnisses ausgedrückt werden kann. Die selbständigen Maße sind so von einem spezifizierenden Prozeß hervorgebracht, als (bestimmte) Negation des quantitativ-kontinuierlichen Durchlaufs von Maßverhältnissen, d. i. als qualitativer Sprung, bestimmt und in einer Ordnimg auf der Knotenlinie hintereinander gereiht. (Und insofern die selbständigen Maße hervorgebracht und als quantitativen Durchlauf negierende, qualitative Sprünge bestimmt sind, ist eine Zwischenstufe bei der Ersetztmg vorausgesetzter Qualitäten durch Reflexionsbestimmxmgen erreicht.) Geschlossen wird dann auf den Grund für jene bestimmte Negation (oder den qualitativen Sprung): die „innerliche noch nicht ins Daseyn getretene specificirende Einheit" (21. 365,18; IV. 457),

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womit das Wesen an sich vorhanden, aber noch nicht gesetzt ist (vgl. Seite 256 f). Denn die bestimmte Negation ist auf ein daseiendes Substrat bezogen, nämlich die quantitative „Scale des Mehr und Weniger", die von den Maßverhältnissen durchlaufen wird. Und die „qualitativen Selbstständigkeiten" sind von jener Einheit hervorgebrachte Knoten auf dieser Skale. Durch den Übergang ins Maßlose werden dann die (quantitative) Skale zum maßlosen Substrat und die als qualitative Sprünge aus quantitativ-kontinuierlichem Durchlauf von Maßverhältnissen hervortretenden Knoten zu Zuständen an diesem Substrat. Denn aufgrvmd der einen in sich kontinuierenden Bewegung des perennierenden Substrats ist es völlig gleichgültig, ob mit einer „qualitativen Selbstständigkeit" oder den „bloß quantitativbleibenden Verhältnißen" angefangen wird. Im unendlichen Progreß auf der Knotenlinie sind beide „mit gleichem abwechselnden Vorkommen vorhanden" (21. 135, 23; IV. 172). Damit ist der eminente Unterschied zwischen „specifischen Existenzen" imd „bloß quantitativbleibenden Verhältnißen" gelöscht; beide sind gleichermaßen Zustände geworden. Sind so spezifiziertes Maß und Maßloses auf gleiche Stufe, d. i. auf einen formalen Unterschied, gebracht worden, dann ist der Vorrang von qualitativem Sprung und jenen aus quantitativem Durchlauf hervortretenden Knoten eingeebnet. Der qualitative Sprung wurde durch die bestimmte Negation der bloß quantitativen Veränderung von Maßverhältnissen begründet. Werm das quantitativ bestimmte Substrat (die Skale) im Maßlosen untergegangen ist, fehlt der bestimmten Negation das Bestimmte, das sie negiert, nämlich jene quantitative Veränderung. Und so ist der qualitative Sprung im gleichgültigen Wechsel von Zuständen an dem neuen, maßlosen Substrat untergegangen. Wird dann noch von dem maßlosen Substrat die Bestimmung des Daseins (der „s e y e n d e n Unendlichkeit") weggenommen, ist die bestimmte Negation jedes bestimmten Daseienden beraubt. So ist sie bestimmte Negation von Nichts, was dem Begriff der bestimmten Negation, der negativen Beziehung auf ein Bestimmtes, widerspricht. Damit ist die bestimmte Negation ihrerseits negiert. Negation der bestimmten Negation ist sich auf sich beziehende oder absolute Negation (= Wesen). Das Wesen enthält, weil in ihm die bestimmte Negation negiert ist, die bestimmte Negation aufgehoben in sich. Das Hervorgehen des Wesens ist deswegen mit dem Aufzeigen verknüpft, daß die Bestimmung eines daseienden, maßlosen Substrates widersprechend ist (bzw. an der schlechten Unendlichkeit festhält). Das Wesen ist die Wahrheit der umschlagenden Bewegung von Quantität in Qualität (imd umgekehrt) auf der Knotenlinie. Diese Wahrheit tritt dann hervor.

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wenn deren daseiendes Substrat aufgehoben ist und die Bewegung der sich auf sich beziehenden Negation übrig bleibt. Oben (Seite 329 ff) wurde gezeigt, daß das Hegelsche Substrat in dem Kantschen Grad aus den Antizipationen der Wahrnehmung und in dem Gnmdsatz der Beharrlichkeit der Substanz schon vorgebildet ist. Dort: „Beharrlichkeit" = „Dasein zu aller Zeit", „Identität des Substratum, als woran aller Wechsel allein durchgängige Einheit hat", die „Beharrlichkeit ist [...] doch weiter nichts, als die Art, uns das Dasein der Dinge (in der Erscheimmg) vorzustellen" (B 228 f). Hier: „in sich selbst continuirende Einheit", „ein und dieselbe Sache [...] als perennirend gesetzt", Setztmg dieser „Dieselbigkeit", das „Uebergehen des Qualitativen und des Quantitativen in einander [der Wechsel aller Maßverhältnisse und das Entstehen und Vergehen von spezifizierten Maßen aus bzw. in dem Maßlosen, U. R.] geht auf dem Boden ihrer Einheit vor". Daß „alles, was zum Dasein gehört", (B 225) als Zustand an diesem Substrat bestimmt werden kann, ist bei Kant gleichfalls schon an sich enthalten: „Auf dieser Beharrlichkeit [der Substanz, U. R.] gründet sich [...] die Berichtigung des Begriffs von Veränderung [...] alles, was sich verändert, [ist, U. R.] bleibend, und nur sein Zustand wechselt" (B 230). Bei Hegel: „Die Veränderung ist nur Aenderung eines Zustandes und das Uebergehende ist als darin dasselbe bleibend gesetzt". Um die Fortbestimmung, welche das Maaß durchloffen hat, zu übersehen, so fassen sich die Momente derselben so zusammen, daß das Maaß zunächst die selbst unmittelbare Einheit der Qualität und der Quantität ist als ein gewöhnliches Quantum, das aber specifisch ist. Hiemit als nicht auf Anderes, sondern auf sich beziehende Quantitätsbestimmtheit ist es wesentlich Verhältn i ß. Daher ferner enthält es seine Momente als aufgehobene imd ungetrermte in sich; wie immer in einem Begriffe, ist der Unterschied in demselben so, daß jedes von dessen Momenten selbst Eirüieit des Qualitativen und Quantitativen ist. Dieser hiemit reale Unterschied ergibt eine Menge von Maaßverhältnissen, die als formelle Totalitäten in sich selbstständig sind. Die Reihen, welche die Seiten dieser Verhältnisse bilden, sind für jedes einzelne Glied, das als einer Seite zugehörig sich zu der ganzen gegenüberstehenden Reihe verhält, dieselbe constante Ordnung.

Em selbständiges Maß (eine bestimmte Menge einer Base) „verhält sich" in Neutralisationsreaktionen zu ihm gegenüberstehenden Maßen

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(Säuren) und ist so durch eine Neutralisationsreihe (die ihm gegenüberstehenden Exponenten) bestimmbar (vgl. Seite 97 f). Diese Exponenten (die äquivalenten Säuremengen) stehen untereinander in einem konstanten Verhältnis (dem Verhältnis der Äquivalentgewichte), welches für alle möglichen Basen dasselbe ist. „Die Reihen [...] sind für jedes einzelne Glied [...] dieselbe constante Ordnung". Ein einzelnes Glied hat sein „Fürsichbestimmtseyn" (21. 351, 2 f; IV. 439) in der gegenüberstehenden Reihe (der Äquivalentgewichte). Diese, als bloße Ordnung, noch ganz äusserliche Einheit, zeigt sich zwar als immanente specificirende Einheit eines fürsichseyenden Maaßes unterschieden von seinen Specificationen;

Weil die Quanta für die Äquivalentgewichte nicht systematisch Zusammenhängen (dies der Stand der Wissenschaft zu Hegels Zeit, als es noch keine (richtigen) Strukturformeln, kein Periodensystem und keine (richtigen) Reaktionsgleichimgen gab), ist die Reihe der Äquivalentgewichte „noch ganz äusserliche Einheit", die auf einer Seite stehenden selbständigen Maße (die Äquivalentgewichte) sind in einer „bloßen Ordnung". Doch das Glied einer Reihe (z. B. eine Base) hat „seine qualitative Einheit in seinem Verhalten zu dem Ganzen einer gegenüberstehenden Reihe" (21. 353,9 f; IV. 441). So ist es an sich auf alle Säuren bezogen imd durch Verwandtschaft schlechthin (- die Fähigkeit zur Säure-Base-Reaktion) bestimmt. „Diese [Ordnung der gegenüberstehenden Äquivalentgewichte der Säuren, U. R.] [...] zeigt sich [...] als immanente specificirende Einheit eines fürsichseyenden Maaßes [der Wahlverwandtschaft, U. R.]". So karm also aus dem „Verhalten zu dem Ganzen einer gegenüberstehenden Reihe" und der Gleichgültigkeit gegen die Besonderheit der einzelnen Neutralisation die eine Seite der Wahlverwandtschaft, Verwandtschaft schlechthin, entwickelt werden (vgl. Seite 166). Die andere Seite, das aus wählende und spezifisch ausschließende Verhalten innerhalb der vielfachen Verwandtschaftsbeziehungen, kommt durch ein Quantum an dieses „fürsichseyende Maaß", wodurch Verwandtschaft zur Wahlverwandtschaft spezifiziert wird. aber das specificirende Princip ist noch nicht der freye Begriff, welcher allein seinen Unterschieden immanente Bestimmimg gibt, sondern das Princip ist zimächst nur Substrat, eine Materie, für deren Unterschiede, mn als Totalitäten, zu se)m, d. i. die Natur des

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sich selbst gleich bleibenden Substrats in sich zu haben, nur die äusserliche quantitative Bestimmung vorhanden ist, die sich als Verschiedenheit der Qualität zugleich zeigt.

In der Verwandtschaftstafel für eine herausgegriffene Base stehen die verschiedenen Säuren in der Reihenfolge abnehmender Affinitätsstärke zu dieser Base. Der Tafel liegt eine quantitativ-kontinuierliche Skale für die Affinitätsstärke zugrunde. Doch nur einige Maßgrößen aus dem kontinuierlichen Durchlauf sind realisiert. So begründet ein gewisses Quantum in der Verwandtschaftstafel eine Wahlverwandtschaft, und deren spezifisches Verhalten zu anderen Wahlverwandtschaften (Ausschließen bzw. Aufgelöstwerden) wird durch die Reihenfolge der Quanta in der Tafel bestimmt (vgl. Seite 175,178 f, 181 f). Es ist „nur die äusserliche quantitative Bestimmung vorhanden [...], die sich als Verschiedenheit der Qualität zugleich zeigt". Die in der Verwandtschaftstafel offenbar werdende Knotenlinie von Maßverhältrdssen verweist auf ihr Substrat, „welches, zugleich als die Continuität des Maaßes in seiner Aeusserlichkeit mit sich selbst, in seiner Qualität jenes Princip der Specification dieser Aeusserlichkeit enthalten müßte" (21. 364, 2325; IV. 456). Das „specificirende Princip [für die Knoten in der Verwandtschaftstafel, U. R.] ist noch nicht der freye Begriff", sondern die bestimmte Negation oder der Umschlag aus der quantitativ-kontinuierlichen Veränderung von Maßverhältnissen, die auf ein in dieser Weise und nur in dieser Weise bestimmbares Substrat bezogen sind. Daß „das specificirende Princip [...] noch nicht der freye Begriff" ist, bedeutet aber nicht, daß die Zahlen in der Verwandtschaftstafel „eine begriffslose Unmittelbarkeit haben, imd daher keine Ordmmg zeigen können" (11. 214,32 f). Vielmehr wären sie - so forderte Hegel - „als ein System aus einer Regel zu erkennen, welche eine bloß arithmetische Vielfalt zu einer Reihe harmonischer Knoten specificirte" (21.363,1-3; IV. 454). Die Maaßbestimmimg ist in dieser Einheit des Substrats mit sich selbst eine aufgehobene, ihre Qualität ein durch das Quantum bestimmter, äusserlicher Zustand. - Dieser Verlauff ist ebensowohl die realisirende Fortbestimmung des Maaßes, als sie das Herabsetzen desselben zu einem Momente ist.

Auf der Knotenlinie wechseln spezifizierte Maße mit „bloß quantitativbleibenden Verhältnißen". Der Übergang ins Maßlose oder der unendliche Progreß auf der Knotenlinie erweist deren Wahrheit, die mit

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sich selbst zusammengehende, spezifizierende Bewegung des Maßes. In dieser Bewegimg ist ihr Substrat, eine und dieselbe perennierende Materie, in „Einheit [...] mit sich selbst". Die selbständigen Maße sind von dieser spezifizierenden Bewegung hervorgebracht, d. i. als deren Resultat gesetzt und sind für diese „realisirende Fortbestimmung des Maaßes" zugleich vorausgesetzt. Damit ist „die Maaßbestimmung [...] eine aufgehobene"; die selbständigen Maße sind zu Zuständen oder Momenten des neu erreichten Ganzen herabgesetzt. „[...] das Aufgehobene (das Ideelle) [...] ist ein Vermitteltes, es ist das Nichtseyende, aber als Resultat, das von einem Seyn ausgegangen ist; es hatdaherdie Bestimmtheit aus der es herkommt, noch an sich" (21. 94,12-18; IV. 120) „Etwas [hier: ein selbständiges Maß, die spezifisch ausschließende Wahlverwandtschaft, U. R.] ist nur insofern aufgehoben, als es in die Einheit mit seinem Entgegengesetzten [hier: den „bloß quantitativbleibenden Verhältnißen", U. R.] getreten ist; in dieser nähern Bestimmimg als ein reflectirtes karm es passend Moment heißen" (21.95,3-5; IV 121). „[...] das Ideelle [= das Aufgehobene, U. R.] ist das Endliche [hier: das selbständige Maß, die Wahlverwandtschaft, U. R.], wie es im wahrhaft Unendlichen [hier: im wahrhaft Maßlosen oder der „in sich selbst continuirenden Einheit", U. R.] ist, - als eine Bestimmung, Inhalt, der unterschieden, aber nicht selbständig seyend, sondern als Moment ist" (21.137,4-6; IV 174). In den bisherigen Kapiteln wurde, was in Wahrheit Moment ist, abstrakt genommen: Die Wahlverwandtschaften wurden als selbständige Maße betrachtet. „Sie haben so isolirt den Schein, als ob sie als solche wären; aber wie sie nur Momente oder verschwindende Größen sind, zeigte ihre Eortwälzung und Rückgang in ihren Grund und Wesen; und dieß Wesen eben ist diese Bewegimg und Auflösung dieser Momente" (II. 337). Der eminente Unterschied zwischen „specifischen Existenzen" (die „als solche" sind, d. i. als vorausgesetzte Substanzen) und „bloß quantitativbleibenden Verhältnißen" wurde im „Verlauff" der „realisirenden Fortbestimmung des Maaßes" gelöscht (vgl. Seite 338), wobei die erreichte absolute Indifferenz „Realität in höherem Sinn" (21. 136, 28; rV. 174) ist, die ihren „concreten Inhalt" (a. a. O.) durch die „Fortwälzung" der selbständigen Maße und deren Rückgang in ihren Gnmd erhält. Beide, „spezifische Existenzen" und „bloß quantitativbleibende Verhältniße", sind in dieser spezifizierenden Bewegung ideell - zu Momenten der „in sich selbst continuirenden Einheit" herabgesetzt. Sie sind einander entgegengesetzt (das Negative des andern) und enthalten zugleich an sich die Bewegung in ihr Entgegengesetztes (sind also

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in Einheit mit ihrem Entgegengesetzten). Diese Bewegung, da im imendlichen Progreß zum Kreis geschlossen, ist in Wahrheit in sich zurückkehrend: Die Momente kehren vermittels des zu ihnen Negativen und vermittels des Aufhebens (der bestimmten Negation) dieses Negativen zu sich zurück (vgl. Seite 322 f). Als Bewegimg von Maßen ist sie noch auf ein daseiendes, materielles Substrat bezogen, und das Bestimmte, das die bestimmte Negation negiert, ist ein selbständiges Maß. Wird vom materiellen Substrat die Bestimmimg des Daseins weggenommen und damit die bestimmte Negation ihrerseits negiert, ist in den Grund oder das Wesen der spezifizierenden, Zustände (= Momente) ebensowohl hervorbringenden wie auflösenden Bewegung zurückgegangen: die sich auf sich beziehende Negation. In einem Satz hat Hegel hier verknüpft, was das „Werden des Wesens" ermöglicht: Die Aufhebung des selbständigen Maßes (= dessen Herabsetzung zum Moment) und die Beziehung des maßlosen Substrates auf sich (dessen „Einheit [...] mit sich selbst"). In der „realisirenden Fortbestinamung des Maaßes" setzte das zunächst vorausgesetzte selbständige Maß sich zu sich ins Verhältnis und wurde dann über die Reihe von Maßverhältnissen und die Knotenlinie als Resultat der aus ihm entwickelten spezifizierenden Bewegung gesetzt. So wurde das Maß aufgehoben imd als Moment einer neuen Einheit oder - was für Hegel an dieser Stelle der Wissenschaft der Logik gleichbedeutend ist - als Zustand eines imd desselben materiellen Substrats gesetzt. Dieses Substrat ist durch die Negation aller Bestimmtheiten des Seins, der Qualität, der Quantität und des Maßes, bestimmt, deswegen in „Einheit [...] mit sich selbst" und als „in sich selbst continuirende Einheit" mit sich vermittelt. Insofern ist es nicht mehr unbestimmte Unmittelbarkeit oder „reines Seyn". Das Verhältnis von Zuständen und Substrats ist daraufhin zu imtersuchen, was es enthält: Die Wahrheit der Zustände ist die sie ebensowohl hervorbringende wie auflösende Bewegung. Da die Zustände Zustände des Substrates sind, ist ihre Bewegung zugleich die des Substrates. Das Substrat, dessen Bewegimg so an sich schon Wesen ist, wird von der äußeren Reflexion dieser Bewegung als deren materielles Substrat gegenübergestellt, daseiend, beharrlich imd unaufgelöst, das alle Bestimmtheit „als Zustand d. i. als ein qualitatives Aeusserliches" (21. 373, 12 f; IV. 466) an sich hätte, selbst aber völlig gleichgültig - absolute Indifferenz - wäre. Diese Gegenüberstellung von Substrat und Zustand widerspricht sich; sie ist eine falsche Abstraktion der äußeren Reflexion, welche ihrerseits aufgehoben wird. Die Indifferenz erweist sich nämlich als gleichgültig gegen ihre eigene Gleichgültigkeit

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und hebt sich auf. Sie stellt sich als jene hervorbringende und auflösende Bewegung heraus, die sich als Wahrheit der Zustände ergeben hat. In der Indifferenz sind alle Bestimmtheiten negiert und alle Unterschiede aufgehoben; verblieben ist allein der äußere von Substrat und Zustand des Substrats. Durch die „realisirende Fortbestimmung des Maaßes" wurde das sie Antreibende, das als ihr unaufgelöster Gegenstand erschien (die in der äußeren Reflexion vorausgesetzten Substanzen und insgesamt das Opake), fortlaufend reduziert (Qualitäten waren durch Maße ersetzt worden, diese wurden auf ein maßloses Substrat reduziert) und schließlich aufgelöst. An der Indifferenz als der letzten Bestimmung des Seins wird abschließend und unwiderruflich vollzogen, was die „realisirende Fortbestimmung" ausmachte, d. h. der letzte unaufgelöst erscheinende Gegenstand, das maßlose materielle Substrat und seine ihm äußerlichen Zustände, wird aufgelöst. Ist jede Bestimmtheit verschwunden und keine falsche Abstraktion der äußeren Reflexion mehr möglich (die Einsicht, daß die Abstraktion falsch ist, treibt gerade voran), dann ist nicht zu erklären, wie es aus der erreichten reinen Vermittlung mit sich selbst überhaupt weitergehen kann. Wie - so ist zu fragen - kann die Reduktion und Auflösung im indifferenten Substrat rückgängig gemacht werden, ohne daß die „realisirende Fortbestimmung" rückgängig gemacht und wieder bei „reinem Seyn" angefangen wird? Für Hegel sind jene unaufgelöst erscheinenden, gegenständlichen Voraussetzungen aufgehoben und als Ideelles oder Moment einer neuen Einheit gesetzt und, da diese sich auf sich beziehende Negation ist, insgesamt in Reflexionsbestimmxmgen aufgelöst. Es erscheint paradox, daß als der letzte unaufgelöst erscheinende Gegenstand („die wahrhaft bestehenbleibende, selbstständige Materie") gerade das maßlose Substrat der Knotenlinie oder die absolute Indifferenz auftritt. Sie soll dasjenige darstellen, was nicht in den Maßbestimmungen aufgeht und was aufschlußreicherweise bloß als Maßloses gefaßt ist, und soll zugleich Substrat für alle Maßbestimmimgen sein. Bliebe es dabei, daß ein nicht in den Maßbestimmungen Aufgehendes in den Prozeß der Bestimmimg des Maßes einginge, wäre dieser Spezifikationsprozeß nicht in jene mit sich vermittelte, in sich kontinuierende Einheit aufzulösen. Doch weil das nicht in den Maßbestimmimgen Aufgehende als maßloses Substrat oder absolute Indifferenz (= Negation aller Bestimmtheiten) bestimmt ist, karm es durch nochmalige Negation (Negation der Gleichgültigkeit) zur sich auf sich beziehenden Negation aufgehoben werden. Jene Paradoxie ist gerade so gestellt, daß das Wesen aus ihr hervorgehen karm.

Anhangi Der Übergang in das „reale Maaß" Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist das „reale Maaß". Die kritische Darstellung des Übergangs in das „reale Maaß" erfordert den vollständigen Kommentar zur vorherigen Bestimmung des Maßes, der „specifischen Quantität", welcher anderswo erscheinen wird. Hier seien Gnmdzüge daraus lediglich skizziert - und auch nur insoweit, als für das Verständnis der Entwicklung im „realen Maaß" nötig ist. Hegel setzte zunächst zwei Maße derselben Dimension (z. B. zwei Längen) ins Verhältnis, imterschied sie als Maßstab und zu Messendes und bestimmte (spezifizierte) das zu Messende durch diese Relation (den Meßprozeß). Dann setzte er zwei qualitativ verschiedene Maße (Raum und Zeit) ins Verhältnis. Die diese beiden Maße spezifizierende Relation ist ein Gesetz. „Im Falle der Körper stehen die durchloffenen Räume im Verhältnisse des Quadrats der verflossenen Zeiten; s = at2; - diß ist das specifisch-bestimmte, ein Potenzenverhältniß des Raums und der Zeit; das andere, das directe Verhältniß [das noch im Meßprozeß, dem Vergleich zweier Maße derselben Dimension, bestimmend war, U. R.], käme dem Raum und der Zeit, als gegeneinander gleichgültigen Qualitäten, zu;" (21. 342,28-32; IV 429) die gleichförmige geradlinige Geschwindigkeit (s/t = konstant) ist für Hegel lediglich formelle, äußerlich hervorgebrachte und „nicht durch den Begriff specifisch bestimmte Geschwindigkeit" (21.342,36 f; IV. 429). Das Gesetz seinerseits wird durch den „Exponenten" (für das Fallgesetz die Konstante a) spezifisch bestimmt. „Als Negation der unterschiedenen qualitativbestimmten Seiten ist dieser Exponent ein Fürsichse5m, das Schlechthinbestimmtseyn" (21. 342, 23 f; FV. 428). Die Konstante ist nicht unmittel1 Vorliegende Arbeit kommentiert mit dem realen Maaß die zentrale Passage für den Übergang ins Wesen. Prima vista mag es verwundern, daß das Kapitel, das den Übergang in das „reale Maß“ behandelt, nicht zu Anfang steht, sondern als Anhang beigegeben wird. Doch die Darstellimg in diesem Kapitel genügt nicht dem Anspruch auf Durchsichtigkeit, dem die Arbeit sonst sich verpflichtet weiß. Dies ist der äußeren Notwendigkeit geschuldet, auf wenige Seiten zusammenzudrängen, was Resultat einer umfangreichen Kommentierung und was abgetrennt von Begründungen imd Erläuterungen wohl nur für den Hegel-Spezialisten verständlich ist. So entstand innerhalb der Arbeit ein Argument dafür, daß die eingehende exemplarische Kommentierung durch die Zusammenfassimg von deren Resultaten nicht zu ersetzen ist.

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Der Übergang in das „reale Maass"

bar Zeit und nicht unmittelbar Raum, sie ist vielmehr deren negative Einheit. Sie hat in dem, was sie nicht ist (nämlich Raum und Zeit), ihre Wirklichkeit. Denn sie ist nur in der Relation von Raum und Zeit und ist durch sie bestimmt. Die negative Einheit ist gegenüber ihren beiden Seiten, Raum und Zeit, selbständig: Während s imd t veränderliche Werte annehmen, ist a (die halbe Erdbeschlexmigimg) konstant und bestimmt im gesamten Verlauf der Fallbewegimg die Geschwindigkeit (das Verhältnis von s und t). Die Größe der Konstanten ist nicht aus dem Weg-Zeit-Gesetz ableitbar und kann bei ausschließlich kinematischer Vorgehensweise deswegen nur empirisch bestimmt werden. So ist die Konstante ein „unmittelbares Maaß" (21. 342,13; IV. 428), die in der Weg-Zeit-Relation „empirisch erscheinende Einheit", „als Daseyn ein einfaches, unmittelbares Quantum, Quotient oder Exponent als eines Verhältnißes der Seiten des Maaßes, diß Verhältniß als directes genommen" (21. 342,25-27; IV. 428 f) - während die spezifizierende Relation durch ein Potenzenverhältnis ausgedrückt wird, ist die Konstante selbst ein direktes. Diese Konstante kann als Bestimmung der „Schwere" (21. 343,22; IV 430) aufgefaßt werden. Der - so Hegel - begründete Übergang von der spezifizierenden Relation zweier qualitativ verschiedener Maße zum Exponenten oder „Fürsichseyn im Maaße" bedeutet dann die Begründung der „Schwere" aus der Weg-Zeit-Relation. Die „Schwere" ist damit doppelt bestimmt: Einerseits ist sie „als eine Naturkraft anzusehen, so daß durch die Natur der Zeit und des Raums ihr Verhältniß bestimmt ist, und daher in die Schwere jene Specification, das Potenzenverhältniß, fällt" (21.343,24-26; IV. 430). Andererseits und zugleich ist die „Schwere" ein „munittelbares Maaß" (21. 343, 13; IV. 429) mit einem empirisch erscheinenden Quantum, nämlich (zunächst) der Exponent a. Dieser „empirische Coefficient" macht „das Fürsichseyn in der Maaßbestimmimg aus [...], aber nur das Moment des Fürsichseyns, insofern dasselbe an sich und daher als unmittelbares ist" (21. 343,19-21; IV. 430). Mit dem darm „realen Fürsichse5m" (der „specifischen Schwere") ist das „reale Maaß" erreicht. Es ist die Einheit zweier qualitativ verschiedener Maße (jetzt: des Gewichts und des Volumens) xmd bestimmter deren direktes Verhältnis, in welchem beide „durch die Natur der Qualitäten bestimmt imd different gesetzt sind, und dessen Bestimmtheit daher ganz immanent und selbstständig, zugleich in das Fürsichseyn des unmittelbaren Quantums, den Exponenten eines directen Verhältnißes, zusammen gegangen ist;" (21. 344, 6-9; IV. 431) als „unmittelbares Bestimmtseyn [ist er, U. R.] ein unveränderlicher Exponent" (21. 343,32 f; IV 430). Und das „reale Maaß"

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ist negative Einheit, weil es in dem, was es nicht ist (nämlich Gewicht und Volumen), seine Wirklichkeit hat. „Diese negative Einheit ist r e a 1 es Fürsichseyn, die Kategorie eines E t w a s, als Einheit von Qualitäten, die im Maaßverhältniße sind; - eine volle Selbstständigkeit" (21. 344, 12-14; IV. 431). Die spezifische Schwere ist gegenüber Gewicht und Volumen, die veränderliche Werte annehmen, selbständig und eher als diese eine Bestimmxmg der qualitativen Natur eines Etwas. Im Unterschied zur Relation von Raum und Zeit (dem Weg-Zeit-Gesetz, das eine Bewegung, und zwar die von (ausgedachten) Massenpunkten, darstellt) charakterisiert das „reale Fürsichseyn" die Materialität eines Etwas. „Unmittelbar geben [...] zwey verschiedene Verhältniße [zwei verschiedene Werte für die spezifische Schwere, U. R.] [...] auch ein zweyfaches Daseyn" (21.344,14 f; IV. 431). (Allerdings bedeutet derselbe Wert für die spezifische Schwere nicht notwendig dieselbe Substanz.) Die Fortbestimmimg des „realen Maaßes" ist der Prozeß der Spezifikation desselben. Dieser Prozeß ist „ein Abstoßen [des erreichten „realen Fürsichseyns", der „specifischen Schwere"; U. R.] in sich selbst in unterschiedene Selbstständige, deren qualitative Natur und Bestehen (Materialität) in ihrer Maaßbestimmtheit liegt" (21. 344, 16-18; IV. 431). Die Entwicklimg des „realen Maaßes" liegt dann darin, daß es sich zu sich selbst ins Verhältnis setzt und sich in den gebildeten Relationen von Maßen spezifiziert. In der Klassischen Mechanik werden Örter und Zeiten für einen bestimmten, identifizierbaren Gegenstand angegeben. Die Relation der beiden Veränderlichen Ort und Zeit ist die Geschwindigkeit des Gegenstandes, die durch Gesetz, gemäß den einwirkenden Kräften, bestimmt ist. Die Relation ist physikalisch sinnvoll nur dann, wenn Ort imd Zeit in einem Gegenstand verbunden oder in einer Einheit sind. Es bedarf also überhaupt eines materiellen Etwas, in dem Ort und Zeit in einer Einheit sind. Hegels Argumentation unterscheidet sich von der der Klassischen Mechanik. Hegel setzt Ort imd Zeit in Relation, nimmt dabei ein besonderes Gesetz für diese Relation als Modell (das Fallgesetz), schließt auf das Spezifizierende der Relation, die Naturkonstante a (halbe Erdbeschlexmigimg), transformiert damit das Potenzenverhältnis von s = at2 in das direkte der Konstanten (deren Dimension durch den Quotienten cm/sec2 bestimmt ist), interpretiert dasjenige an der Konstanten, was nicht zur Fortbestimmimg des „realen Maaßes" taugt, als dem herausgegriffenen Modell und der Empirie geschuldet (der „empirische Coefficient" ist schon das „Fürsichseyn in der Maaßbestimmimg", aber nur insofern es an sich imd daher als un-

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mittelbares ist), kommt so zur „Schwere" und darüber zur „specifischen Schwere" (dem „realen Fürsichseyn"), um dann solche selbständigen und fürsichseienden Maße ins Verhältnis zu setzen, sie dadurch weiter zu spezifizieren und somit die „qualitative Natur des materiellen Etwas" (21. 347, 9; IV. 434) zu bestimmen. Richtig ist Hegels Argumentation, insoweit sie aus der Relation von Ort und Zeit auf die Voraussetzung der Relation, nämlich das materielle Etwas, schließt. Hegel versucht jedoch zugleich, die Voraussetzung aus der Relation zu entwickeln, d. h. das, was sich in Raum und Zeit bewegen kann, soll aus der Relation von Raum und Zeit begründet werden, und insgesamt: von der Mechanik köime zu ihrer Voraussetzung, der Materie, übergegangen werden. Hegels Beweisführung in Kurzfassung: Aus der Raum-Zeit-Relation köime der Exponent oder das „Fürsichseyn im Maaße" entwickelt werden, das seiner Begriffsbestimmtheit nach nicht mehr als die Spezifikation der Relation und deswegen nicht ein der Relation Heterogenes und Vorauszusetzendes sei. Dem so in der Relation begründeten „Fürsichseyn" komme Selbständigkeit gegenüber den (veränderlichen) Relata zu. Als selbständiges imd unveränderliches Maß bestimme es die qualitative Natur eines Etwas. Der Übergang ins „reale Maaß" ist also der Übergang von der Raum-Zeit-Relation zur Materialität des Etwas2. Um zu verdeutlichen, worin Hegels Argumentation falsch und was dennoch an ihr dran ist, soll skizziert werden, wie die richtige Beweisführung geht: Angefangen wird, wie oben, mit einer Relation von Örtern imd Zeiten, einem kinematischen Gesetz. Diese Relation setzt eine Einheit, in der beide Qualitäten enthalten und negiert sind, voraus. Es wird so auf den bestimmten, identifizierbaren Gegenstand als Voraussetzung der Relation, und zwar eine nicht in der Relation aufgehende Voraussetzung, geschlossen. Dieser Gegenstand muß einen bestimmten Ort einnehmen. Wie nimmt er diesen ein? Nicht als einfache Bestimmtheit im Raum oder geometrische Figur. Denn eine geometrische Figur karm nicht als solche im Raum abgetrennt werden. Das bestimmte Volumen muß durch Materie (einen Gegenstand) erfüllt und damit abgrenzbar sein. Also können extensive Größen (Modell: der Raum) nicht als solche getrennt werden, dazu bedarf es einer intensiven Größe. Insofern kann aus jener Relation über die Einheit der Qualitäten und den einen bestinamten 2 vgl. dazu die Naturphilosophie. Dort wird von Raum und Zeit zur Einheit von Raum und Zeit, zunächst der Bewegung, imd von dieser zur Materie übergegangen (IX. 88).

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Ort einnehmenden Gegenstand erschlossen werden, daß eine intensive Größe nötig ist, bestimmter: daß der Raum imterschiedlich dicht erfüllt ist. Die so erschlossene „Dichte" ist eine gegenüber der RaumZeit-Relation heterogene, eben nicht aus ihr ableitbare oder gesetzte Maßgröße.