Hegel und der spätantike Neuplatonismus: Untersuchung zur Metaphysik des Einen und des Nous in Hegels spekulativer und geschichtlicher Deutung 9783787317240, 9783787330720, 3787317244

Einleitung Erstes Kapitel. Die Bedeutung des Neuplatonismus für Hegels Denkentwicklung. §¿1. Erste Begegnungen ¿ §¿2. Eu

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Hegel und der spätantike Neuplatonismus: Untersuchung zur Metaphysik des Einen und des Nous in Hegels spekulativer und geschichtlicher Deutung
 9783787317240, 9783787330720, 3787317244

Table of contents :
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Vorwort zur zweiten Auflage. Von Jens Halfwassen
Vorwort. Von Jens Halfwassen
Inhalt
Einleitung
Erstes Kapitel. Die Bedeutung des Neuplatonismus für Hegels Denkentwicklung
§ 1. Erste Begegnungen
§ 2. Eusebios und der Mittelplatonismus
§ 3. Spuren mittel- und neuplatonischer Metaphysik in Hegels Frankfurter Schriften
A. Das Absolute und seine mystische Erfassung
B. Hegels Rezeption der mittelplatonischen Theologie
C. Das trinitarische Leben des Geistes: Hegels mittelplatonische Logosspekulation
§ 4. Die Bedeutung des Neuplatonismus für Hegels Jenaer Grundlegung seiner Dialektik
Zweites Kapitel. Die geschichtliche und systematische Ortsbestimmung des Neuplatonismus in Hegels Philosophie des absoluten Geistes
§ 1. Die Geschichte der Philosophie als das Zu-sich-Kommen des absoluten Geistes
A. Zum Problem der Textgrundlagen
B. Hegels Konzeption der Geschichte der Philosophie
§ 2. Der Neuplatonismus als Intellektualsystem und Vollendung der antiken Philosophie
A. Die Epochenstruktur der Philosophiegeschichte
B. Der Aufgang des Geistes
§ 3. Neuplatonismus und Christentum: Trinität als Struktur des absoluten Geistes
A. Transzendenz und immanente Trinität der Gottheit
B. Die „Idee des Christentums": Trinität und Inkarnation in Hegels Deutung
C. Die Idee als unendliche Subjektivität: Defizienzen der neuplatonischen Transzendenzmetaphysik
§ 4. Neuplatonismus und griechische Religion: Metaphysik und Mythos
Drittes Kapitel. Der Neuplatonismus und seine Quellen in Hegels Sicht: Spekulative Synthese von Platonismus, Aristotelismus und Pythagoreismus
§ 1. Der synthetische Charakter des Neuplatonismus
§ 2. Die Trinität im „Pythagoreismus": Die spekulative Idee des Absoluten in Platons Prinzipienlehre
A. Hegels Deutung der Zahlenlehre
B. Hegels Deutung der Prinzipienlehre
§ 3. Die einfache Idee des Geistes bei Platon: Hegels spekulative Deutung des Timaios
A. Platons Lehre von der Zusammensetzung der Weltseele
B. Hegels Deutung der Seelenmischung
C. Das Verhältnis von Prinzip, Ideen und Seele in Hegels noologischer „Timaios“-Deutung
§ 4. Der platonische Charakter des Neuplatonismus aus den Perspektiven Hegels und der neueren Forschung
Viertes Kapitel. Die Metaphysik des Einen bei Platon und ihre Deutung durch Hegel
§ 1. Philosophie als Transzendieren; Der dialektische Aufstieg zum Einen
A. Plotin als Begründer des Neuplatonismus
B. Plotins Bestimmung der Dialektik: Der Aufstieg zum absoluten Prinzip
C. Die henologische Reduktion: Der transzendierende Rückgang zum absolut Einen
D. Der antignostische Charakter der Metaphysik Plotins
E. Hegels Deutung der Mystik Plotins
§ 2. Das Eine selbst als absolute Transzendenz bei Plotin und seine Umdeutung durch Hegel
A. Plotins Explikation der absoluten Transzendenz des Einen
B. Hegels Umdeutung des transzendenten Absoluten zum reinen Sein
C. Das Sein und das Absolute bei Hegel und im Platonismus
§ 3. Hegels Auseinandersetzung mit der negativen Theologie
A. Hegels Referat der negativen Theologie Plotins
B. Hegels spekulativ-logische Überwindung der negativen Theologie
Fünftes Kapitel. Konstitution und Struktur der Noushypostase bei Plotin und ihre Deutung durch Hegel
§ 1. Die Paradoxie des absoluten Ursprungs
§ 2. Der Urakt des Denkens; Die Konstitution des Nous
A. Der Hervorgang des Nous aus dem Einen
B. Die Konstitution der Selbstbeziehung des Denkens im Transzendenzbezug zum jenseitigen Einen
§ 3. Der Nous als einheitliche Fülle der Ideen
A. Nous und Ideen bei Plotin und Aristoteles
B. Das Denken als in sich bewegte Einheit der Ideen
§ 4. Die triadische Einheit des Sich-Denkens bei Plotin und bei Hegel
A. Der Nous als Subjektivität in Hegels Plotindeutung
B. Das Selbstbewußtsein als triadische Einheit
Sechstes Kapitel. Dialektik und Triadik: Hegel und Proklos
§ 1. Die Philosophie des Proklos als Vollendung des Neuplatonismus und Erneuerung der Dialektik Platons
§ 2. Das Eine und das Viele: Prinzipienlehre und Parmenides-Interpretation bei Proklos und in Hegels Proklosdeutung
A. Die prinzipientheoretische Grundlegung der Metaphysik des Proklos
B. Die negative Dialektik des Einen bei Proklos und ihre Umdeutung durch Hegel
§ 3. Grundzüge der Triadik des Proklos und ihre Deutung durch Hegel
A. Proklische Triadik und Hegelsche Dialektik
B. Der Nous als Trias der Triaden: Sein - Leben - Denken
Rückblick und Ausblick
Abkürzungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister

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HEGEL-STUDIEN BEIHEFT 40

Hegel-Studien Herausgegeben von Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler

Beiheft 40

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Hegel und der spätantike Neuplatonismus Untersuchungen zur Metapysik des Einen und des Nous in Hegels spekulativer und geschichtlicher Deutung von Jens Halfwassen

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Inhaltlich unveränderter Print-on-Demand-Nachdruck der 2. Auflage von 2005, erschienen im Verlag H. Bouvier und Co., Bonn.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-1724-0 ISBN eBook: 978-3-7873-3072-0 ISSN 0073-1578

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2016. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de/hegel-studien

Meinen Eltern

VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE

Schon nach wenigen Jahren ist eine Neuauflage dieses Buches notwendig geworden. Sie erscheint als unveränderter Nachdruck der ersten Auflage. Dem Felix Meiner Verlag danke ich dafür, daß er die Neuauflage möglich gemacht hat. Die Kritik hat das Buch nach Ausweis der bisher erschienenen Rezensionen durchweg positiv aufgenommen. Seit dem Erscheinen der ersten Auflage bin ich den Verbindvmgen zwischen dem deutschen Idealismus und dem antiken Platonismus in einer Reihe weiterer Arbeiten nachgegangen, die das in diesem Buch gezeichnete Bild unter verschiedenen Aspekten ergänzen können;^ vor allem beziehen sie Schelling in die Diskussion ein. Die im Ausblick angedeutete Perspektive auf Vollendungsgestalten metaphysischen Denkens habe ich an anderer Stelle weitergeführt;^ das Thema wird Gegenstand einer größeren Veröffentlichimg sein, die in Vorbereihmg ist. Meine Beschäftigung mit Hegel und seiner Deuhmg des Neuplatonismus hat mir geholfen, die neuplatonische Philosophie selber in mancher Hinsicht besser zu verstehen. Der Versuch einer Gesamtdeuhmg Plotins ist 2004 in der »Denker«-Reihe des Beck Verlags erschienen.3 Heidelberg, Februar 2005

Jens Haljwassen

1 /. Halfwassen: Geist und Subjektivität bei Plotin. In: Probleme der Subjektivität in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Klaus Düsing zum 60. Geburtstag. Hrsg, von D. H. Heidemann. Stuttgart-Bad Carmstatt 2002. 243-262. - Ders.: Die Einheit des Selbstbewußtseins und der Zirkeleinwand. Zur subjektivitätstheoretischen Bedeutung von Hegels Plotindeutung. In: Selbst - Singularität - Subjektivität. Vom Neuplatonismus zum Deutschen Idealismus. Hrsg, von Th. Kobusch, B. Mojsisch und O. F. Summereil. Amsterdam 2002. 261-277. - Ders.: Hegels Auseinandersetzung mit dem Absoluten der negativen Theologie. In: Der Begriff als die Wahrheit. Zum Anspruch der Hegelschen »Subjektiven Logik«. Hrsg, von A. F. Koch, A. Oberauer und K. Utz. Paderborn 2003. 31-47. - Ders.: Freiheit als Transzendenz. Zur Freiheit des Absoluten bei Schelling und Plotin. In: Pensees de l'»Un« dans Thistoire de la philosophie. fitudes en hommage au Professeur Werner Beierwaltes. fidite par J.-M. Narbonne et A. Reckermann. Paris 2004. 459-481. (Auch erschienen unter dem Titel: Freiheit und Transzendenz bei Schelling und Plotin. In: Platonismus im Idealismus. Die platonische Tradition in der klassischen deutschen Philosophie. Hrsg, von B. Mojsisch und O. F. Summerell. München und Leipzig 2003. 175-193). - Ders.: Metaphysik im Mythos. Zu Schellings Philosophie der Mythologie. In: Philosophie und Religion. Festschrift für Heimo Hofmeister. Hrsg, von M. Wladika. Heidelberg 2005. (Im Druck). 2 /. Halfwassen: Metaphysik als Denken des Ganzen und des Einen im antiken Platonismus und im deutschen Idealismus. In: Heidelberger Jahrbuch 47 (2004), 263-283. 3 /. Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus. München 2004.

VORWORT

Die vorliegende Abhandlung wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln im Wintersemester 1995/96 als Habilitationsschrift angenommen. Ich habe sie seither überarbeitet xmd insgesamt leicht gekürzt. Die Vollendung eines Buches ist mit der angenehmen Pflicht verbunden, denen zu danken, die zu seinem Zustandekommen beigetragen haben. Mein erster Dank gilt meinem Lehrer Klaus Düsing, der mich auf das Thema aufmerksam gemacht und das Entstehen der Schrift von Airfang an durch intensives Interesse und vielfältige Hinweise sehr gefördert hat; meine Thesen und Überlegungen konnte ich in zahlreichen Diskussionen mit ihm klären. Von 1989 bis 1996 war ich Assistent und danach bis 1997 Oberassistent von Professor Düsing; für die außerordentlich fruchtbare und anregende Zusammenarbeit in diesen Jahren danke ich ihm ebenso herzlich wie dafür, daß er mir die nötige Muße für die Ausarbeitung der Schrift gelassen hat. Danken möchte ich ferner Klaus-Erich Kaehler und Clemens Zintzen, mit denen ich zentrale Thesen der Schrift diskutieren konnte. Mein besonderer Dank gilt Karl Bormann und Hans Krämer, die alle Teile der Schrift vorab gelesen und mich durch Diskussionen und Ratschläge vielfältig gefördert haben. Für die Mühen des Korrekturlesens danke ich herzlich Markus Enders, Heinrich Adolph und Mauro Falcioni, die während meiner Lehrstuhlvertretung in München im Wintersemester 1997/98 meine Mitarbeiter waren, sowie Christian Hanewald. Unentbehrliche Hilfe bei Computerproblemen leisteten mir Norbert Baldauf und Roberto Heider, wofür ich ihnen sehr danke. Der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin danke ich für die Genehmigung, die Nachschriften von Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie einsehen und zitieren zu dürfen; beim Lesen der Nachschriften war mir Herr Dr. Helmut Schneider vom Hegel-Archiv der Ruhr-Universität Bochum eine große Hilfe, wofür ihm herzlich gedankt sei.

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Vorwort

Den Herausgebern der Hegel-Studien, Herrn Professor Friedhelm Nicolin und Herrn Professor Otto Pöggeler, danke ich für die Aufnahme der Schrift in die Reihe der Beihefte und ebenso für ihre Geduld angesichts längerer Verzögerungen bei der Fertigstellimg der Druckfasstmg.

Köln, Pfingsten 1998

Jens Halfwassen

INHALT Einleitung

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Erstes Kapitel Die Bedeutung des Neuplatonismus für Hegels Denkentwicklung

27

§1. Erste Begegnungen § 2. Eusebios und der Mittelplatonismus § 3. Spuren mittel- und neuplatonischer Metaphysik in Hegels Frankfurter Schriften A. Das Absolute und seine mystische Erfassung B. Hegels Rezeption der mittelplatonischen Theologie C. Das trinitarische Leben des Geistes: Hegels mittelplatonische Logosspekulation § 4. Die Bedeutimg des Neuplatonismus für Hegels Jenaer Grundlegung seiner Dialektik

27 39 44 44 57 67 78

Zweites Kapitel Die geschichtliche und systematische Ortsbestimmung des Neuplatonismus in Hegels Philosophie des absoluten Geistes § 1. Die Geschichte der Philosophie als das Zu-sich-Kommen des absoluten Geistes A. Zum Problem der Textgrundlagen B. Hegels Konzeption der Geschichte der Philosophie § 2. Der Neuplatonismus als Intellektualsystem xmd Vollendung der antiken Philosophie A. Die Epochenstruktiu: der Philosophiegeschichte B. Der Aufgang des Geistes

99 99 99 101 HO 110 118

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Inhalt

§ 3. Neuplatonismus und Christentum: Trinität als Struktur des absoluten Geistes A. Transzendenz xmd immanente Trinität der Gottheit B. Die „Idee des Christentiuns": Trinität und Inkarnation in Hegels Deutimg C. Die Idee als unendliche Subjektivität: Defizienzen der neuplatonischen Transzendenzmetaphysik § 4. Neuplatonismus imd griechische Religion: Metaphysik imd Mythos

126 126 133 142 150

Drittes Kapitel Der Neuplatonismus und seine Quellen in Hegels Sicht: Spekulative Synthese von Platonismus, Aristotelismus und Pythagoreismus §1. Der synthetische Charakter des Neuplatonismus §2. Die Trinität im „Pythagoreismus": Die spekulative Idee des Absoluten in Platons Prinzipienlehre A. Hegels Deutimg der Zahlenlehre B. Hegels Deutung der Piinzipienlehre § 3. Die „einfache Idee des Geistes" bei Platon: Hegels spekulative Deutung des Timaios A. Platons Lehre von der Zusammensetzung der Weltseele B. Hegels Deutung der Seelenmischung C. Das Verhältnis von Prinzip, Ideen und Seele in Hegels noologischer Timaios-Deutvaig § 4. Der platonische Charakter des Neuplatonismus aus den Perspektiven Hegels und der neueren Forschung ...

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Viertes Kapitel Die Metaphysik des Einen bei Plotin und ihre Deutung durch Hegel

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Inhalt

§ 1. Philosophie als Transzendieren: Der dialektische Aufstieg zum Einen A. Plotin als Begründer des Neuplatonismus B. Plotins Bestimmung der Dialektik: Der Aufstieg zum absoluten Prinzip C. Die henologische Reduktion: Der transzendierende Rückgang zum absolut Einen D. Der antignostische Charakter der Metaphysik Plotins ... E. Hegels Deutung der Mystik Plotins § 2. Das Eine selbst als absolute Transzendenz bei Plotin und seine Umdeutung bei Hegel A. Plotins Explikation der absoluten Transzendenz des Einen B. Hegels Umdeutung des transzendenten Absoluten zum reinen Sein C. Das Sein und das Absolute bei Hegel und im Platonismus § 3. Hegels Auseinandersetzung mit der negativen Theologie ... A. Hegels Referat der negativen Theologie Plotins B. Hegels spekiüativ-logische Überwindung der negativen Theologie

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Fünftes Kapitel Konstitution und Struktur der Noushypostase bei Plotin und ihre Deutung durch Hegel § 1. Die Paradoxie des absoluten Ursprungs § 2. Der Urakt des Denkens: Die Konstitution des Nous A. Der Hervorgang des Nous aus dem Einen B. Die Konstitution der Selbstbeziehxmg des Denkens im Transzendenzbezug zum jenseitigen Einen § 3. Der Nous als einheitliche Fülle der Ideen A. Nous und Ideen bei Plotin imd Aristoteles B. Das Denken als in sich bewegte Einheit der Ideen § 4. Die triadische Einheit des Sich-Denkens bei Plotin xmd bei Hegel A. Der Nous als Subjektivität in Hegels Plotindeutung B. Das Selbstbewußtsein als triadische Einheit

321 321 328 328 340 350 350 357 365 365 373

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Inhalt

Sechstes Kapitel Dialektik und Triadik: Hegel und Proklos

386

§ 1.

Die Philosophie des Proklos als Vollendung des Neuplatonismus und Erneuerung der Dialektik Platons § 2. Das Eine und das Viele: Prinzipienlehre imd Parmen/des-Interpretation bei Proklos und in Hegels Proklosdeutung A. Die prinzipientheoretische Grundlegung der Metaphysik des Proklos B. Die negative Dialektik des Einen bei Proklos und ihre Umdeutung durch Hegel § 3. Grundzüge der Triadik des Proklos und ihre Deutung durch Hegel A. Proklische Triadik und Hegelsche Dialektik B. Der Nous als Trias der Triaden: Sein-Leben-Denken

445

Rückblick imd Ausblick

463

Abkürzungsverzeichnis

471

Literaturverzeichnis

473

Personenregister

499

Sachregister

506

386

399 399 414 432 432

EINLEITUNG

Hegel ist nicht nur der wohl größte Systematiker der neuzeitlichen Metaphysik, er ist auch ein bedeutender Interpret und gelehrter Kenner der Geschichte der Philosophie, insbesondere der Metaphysik. Hegels Auseinandersetzung mit der Geschichte der Philosophie bildet dabei mit seiner eigenen Philosophie eine eigentümliche und charakteristische Einheit, der Hegels Philosophieren sein spezifisches Profil verdankt, da es seine eigene Position in ständigem Blick auf die und in ständiger Auseinandersetzung mit der Geschichte der Philosophie gewinnt. Hegels Deutimg der Philosophie der Antike rmd der Neuzeit - die mittelalterliche Philosophie wird von ihm weithin vernachlässigt - xmd seine Konzeption des Verlaufs der Geschichte der Philosophie als einer in Stufen erfolgenden Höherentwicklung bis zur Vollendung in seiner eigenen absoluten Metaphysik ist darum von Hegels systematischer Philosophie unabtrennbar; umgekehrt wird auch Hegels systematische Philosophie nur von seiner ständigen Auseinandersetzung mit den Positionen der großen Denker der Philosophiegeschichte aus wirklich durchschaubar, denn Hegels Philosophie ist nicht einfach Theorie der Wahrheit, sondern zugleich eine Theorie über philosophische Theorien imd ihren Wahrheitsgehalt. Angesichts seines Konzepts einer Höherentwicklung in der Geschichte der Philosophie ist es nun erstaunlich, daß für Hegel die entscheidenden Anregungen und Vorbildungen seines eigenen Denkens weniger in der Philosophie der Neuzeit liegen als in der antiken griechischen Philosophie. So wichtig Descartes und Spinoza, Leibniz und Kant, Fichte imd Schelling für Hegel auch waren, die größten und wirkxmgsmächtigsten Philosophen der Geschichte imd zugleich diejenigen, auf die er sich für sein eigenes Denken in positiver Aufnahme am stärksten bezieht, sind für Hegel doch Platon und Aristoteles, Plotin und Proklos. Mit Platon hat sich Hegel von seiner frühesten Zeit £m in allen Phasen seiner Denkentwicklung mit einer anhaltenden Intensität auseinandergesetzt wie wohl mit keinem anderen Philosophen; in allen

14

Einleitung

Phasen seiner Entwicklung verdankt Hegel Platon entscheidende Anregungen für seine eigenen philosophischen Konzeptionen, insbesondere für seine Ontologie und Dialektik; in Platons Ideenlehre sieht der reife Hegel den ersten echten, also nicht einseitigen Idealismus, in Platons Dialektik der Ideen imd Prinzipien erblickt er die entscheidende Vorprägung seiner eigenen ontologischen Dialektik. Aristoteles' Konzeption des sich selbst denkenden Denkens - der VöT^OI^ VOTIOSüK; - ist für Hegel der eigentliche spekulative Höhepunkt der Geschichte der Philosophie und geradezu die Vorwegnahme seiner eigenen Konzeption des Absoluten als der sich selbst denkenden absoluten Idee und des sich selbst erkennenden absoluten Geistes; - er zitiert den entscheidenden Passus aus Metaphysik A 7 bekaimtlich unkommentiert am Ende seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaflen als den unüberbotenen Höhepunkt der gesamten Philosophie. Im spätantiken Neuplatonismus Plotins imd Proklos' aber erblickt Hegel die Vereinigimg der Platonischen Ideenlehre imd Dialektik mit der Nouslehre des Aristoteles und zugleich die Ausführung beider Ansätze in einem umfassenden „Intellektualsystem", in dem Hegel nicht nur die abschließende S)mthese der antiken Philosophie sieht, in der alle relevanten spekulativen Einsichten der Antike bewahrt sind, sondern dem er bereits die Erkermtnis der sich in einem System von Ideen selbst denkenden absoluten Idee und der konkreten dialektischen Struktur ihrer Selbstvermittlimg und ihrer rein intellektuellen Selbstbeziehung im Durchgang durch ihre ihr immanenten Momente zugesteht. In diesem neuplatonischen „Intellektualsystem" sieht Hegel darum den Vorläufer seiner eigenen absoluten Metaphysik, dem insbesondere die Vereirdgung von Ontologie, Noologie und spekulativer Theologie schon gelungen ist.^ Dem Neuplatonismus konunt darum für Hegel sowohl historisch als auch systematisch eine Schlüsselstellung zu; insofern er die grundlegenden spekulativen Einsichten Platons und des Aristoteles vereinigt und in einem Intellektualsystem ausführt, in dem für Hegel grundsätzlich schon die Struktur der absoluten Subjektivität erkannt ist,^ zählt er für Hegel zu den wichtigsten und bedeutendsten historischen Gestalten der Metaphysik überhaupt; Im spätantiken Neuplatonismus - imd erst in ihm -

1 Deshalb beruft Hegel sich in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes - die für sein System als ganzes programmatisch ist - erstmals ausdrücklich auf den Neuplatoiüsmus als den historischen Vorläufer seiner eigenen absoluten Metaphysik imd Dialektik: GW. Bd9.48. 2 Freilich nur mit Einschränkimgen; dazu unten Kapitel II § 3.

Einleitung

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hat für Hegel die Philosophie „den Standpunkt erreicht, daß sich das Selbstbewußtsein in seinem Denken als das Absolute wußte".^ Diesen im Neuplatonismus erstmals erreichten und zugleich paradigmatisch ausgeführten Standpunkt nimmt noch und gerade Hegels eigene Metaphysik ein, die den Neuplatonismus in Hegels Selbstdeutung positiv in sich aufhebt und bewahrt, obwohl sie über die (in Hegels Augen) geschichts- imd weltlose Transzendenzmetaphysik des Neuplatonismus zugleich hinausgeht. Hegels Würdigung der philosophischen xmd historischen Bedeutimg des Neuplatonismus ist zugleich eine philosophiehistorische Leistung ersten Ranges und von bleibender Bedeutung. Denn die Metaphysik des Neuplatonismus, die das philosophische imd theologische Denken nicht nur der Spätantike, sondern weit darüber hinaus auch noch des Mittelalters und der Renaissance weithin bestimmend geprägt hatte und die ihren Einfluß selbst im 17. Jahrhundert noch nicht verloren hatte (Kepler, Grotius, Cambridge Platonists, neuplatonische Einflüsse bei Spinoza tmd Leibniz) war im metaphysikfeindlichen Zeitalter der Aufklärung gründlich in Verruf geraten. Die Neuplatoniker galten der Philosophiegeschichtsschreibung der Aufklärung als Schwärmer und Phantasten, ihre Philosophie als ein irrationaler und unklarer Mystizismus imd als in sich selbst widersprüchlicher Eklektizismus aus griechischen imd orientalischen Elementen unterschiedlichster Provenienz, in dem die philosophische Vernunft durch eine schwärmerische Religiosität überwuchert worden sei. Auch die Platondeutung der Neuplatoniker, insbesondere Plotins und Proklos', die das Bild der Philosophie Platons für mehr als ein Jahrtausend geprägt hatte und die ihre normative Geltung fast unangefochten bis ins 16. und 17. Jahrhundert behalten hatte, war in der Philosophiegeschichtsschreibung der Aufklärung, die sich erstmals um einen vom Neuplatonismus unabhängigen Zugang zum Denken Platons bemühte, in Mißkredit geraten; die Neuplatoniker galten jetzt nur noch als Verderber des Platonverständnisses. Diese Sichtweise des Neuplatonismus prägt die im 18. Jahrhundert maßgebende Darstellung der Geschichte der Philosophie von Jakob Brücker, und sie prägt unverändert noch die in der Zeit des beginnenden Idealismus entstandenen und damals weitverbreiteten Philosophiegeschichten von Dietrich Tiedemann und Wilhelm Gottlieb Tennemann.^ 3 TWA.Bdl9.404. * Vgl. /. Brücker: Historia critica philosophiae. Bd 2. Leipzig 1742. 189-462 („De secta eclectica"). D, Tiedemann: Geist der spekulativen Philosophie. Bd 3. Marburg 1793. 254-567.

16

Einleitung

Hegels Entdeckung der historischen und systematischen Bedeutung des Neuplatonismus und seine entschiedene imd energische Rehabilitation der neuplatonischen Philosophie als einer Metaphysik von höchstem imd klassischem Rang gehört darum zu den bleibenden Verdiensten Hegels um die Philosophie imd ihre Geschichte. Hegel verdankt die Philosophie und die Philosophiegeschichtsschreibimg der Gegenwart die Einsicht in die bleibende Bedeutung und die imvergängliche Aktualität der antiken Philosophie; daß sich diese Aktualität nicht auf Platon und Aristoteles beschränkt, sondern Plotin und Proklos einschließt, ist eine Einsicht, durch die jede gegenwärtige philosophische und philosophiehistorische Beschäftigung mit dem antiken Platonismus Hegel verpflichtet bleibt. Indem Hegel den Zugang zum Verständnis des Neuplatonismus, der weithin verloren gegangen war, erneut öffnete, trug er zugleich ganz entscheidend dazu bei, daß die Wirkungsmacht des neuplatoiüschen Denkens, das sich selbst stets als Auslegung der Philosophie Platons verstanden hatte, über seine Unterscheidung von der (vermeintlich) genuinen Philosophie Platons hinaus erhalten blieb und bis in die Gegenwart sowohl die Bemühungen um die unvergängliche Sache der Metaphysik als auch das neuere Platonverständnis (Robin, Dodds, Merlan, de Vogel, Tübinger Schule u. a.) nachhaltig zu befruchten vermag. Hegels Hochschätzung der neuplatonischen Philosophie und seine Erkenntnis ihres philosophischen Ranges und ihrer Schlüsselstellung in der Geschichte der Philosophie ist zweifellos mitbedingt durch eine deutliche innere Affinität von Hegels eigener Philosophie mit derjenigen von Plotin und Proklos, die ihm ein mitdenkendes Verstehen gerade dort erlaubt, wo Brücker, Tiedemarm und Tennemann nur das befremdend Andere gefunden hatten. Trotz dieser inneren Verwandtschaft seiner eigenen Metaphysik mit derjenigen des Neuplatonismus ist Hegel aber von einer naiven, unbefangenen Neuplatonismusnach-

W. G. Tennetmnn: Geschichte der Philosophie. Bd 6. Leipzig 1807. Vgl. auch /. G. Buhle: Geschichte der neuem Philosophie. Bd 1. Güttingen 1800.670 ff. - Zur Struktur und Bedeutung dieser Philosophiegeschichten vgl. L. Braun: Geschichte der Philosophiegeschichte. Darmstadt 1990.131 ff, 193 ff, 254 ff, 266 ff. - Zur Krise der neuplatonischen Platondeutung vgl. E. N. Tigerstedt: The Decline and Fall of the Neoplatonic Interpretation of Plato. Helsinki 1974; - eine Darstellung, die dem Neuplatonismus gegenüber so feindselig und so polemisch ist, daß man glaubt, noch Brücker zu lesen; vgl. die Rezensionen von Th. A. Sz/ezrffc in: Göttingische Gelelute Anzeigen. 230 (1978), 34 ff imd von H. J. Krämer in: Philosophische Rimdschau. 27 (1980), 21 f.

Einleitung

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folge, wie wir sie etwa bei Nikolaus von Kues oder bei Ficino finden,^ weit entfernt; im Zeitalter des beginnenden Historismus ist Hegel sich vielmehr des geschichtlichen Abstands zur antiken und spätantiken Metaphysik wohl bewußt, ohne darüber jedoch die Kontinuität der Probleme und die nicht-vergangene Wahrheit der grundlegenden Einsichten der antiken Philosophie aus den Augen zu verlieren. Indem er das Bewußtsein des geschichtlichen Abstands mit der Einsicht in die bleibende philosophische Bedeutung und die Wirkungsmacht der neuplatonischen Philosophie verbindet, bleibt Hegel für jede systematisch erhellte historische Beschäftigung mit dieser Philosophie vorbildlich. Daß Hegels Interpretation der neuplatonischen Philosophie von Einseitigkeit nicht frei ist, die Aspekte, in denen sich das neuplatonische Denken mit seinem eigenen berührt, unter Vernachlässigung der Unterschiede überbetont und auch Umdeutungen vomimmt, die nicht immer ohne Gewaltsamkeit erfolgen, ist angesichts des epochalen IXirchbruchs, den Hegels Deutung für das historische Verständnis des Neuplatonismus und die Wiedererschließung des Zugangs zu ihm darstellt, von nachgeordneter Bedeutung. Sowenig diese Einseitigkeit der Hegelschen Deutung des Neuplatonismus und die von Hegel vorgenommenen Umdeuümgen auch vernachlässigt werden dürfen - und die vorliegende Untersuchung wird zeigen, daß Hegel gerade bezüglich der neuplatonischen Konzeption des Absoluten und der Beziehung des Denkens zu ihm grundlegende Umdeutungen vornimmt -, so zeigt doch seine Deutung immer wieder eine tiefdringende Klarsicht der philosophischen und historischen Zusammenhänge und eine Subtilität in der Interpretation zentraler Details, so daß sie die gegenwärtige philosophische und historische Beschäftigung mit dem Neuplatonismus immer noch zu befruchten und zu bereichern vermag; - die Voraussetzung hierfür ist freilich, daß man sich einen von Hegels eigener Metaphysik und Geschichtsphilosophie unabhängigen Zugang zum Neuplatonismus verschafft. Unter Hegels Einfluß steht die Darstellung des Neuplatonismus durch Eduard Zeller, die sowohl durch ihre umfassende Quellenkenntnis als auch durch ihre Bemühung um Objektivität und Ausgewogenheit für lange Zeit kano5 Zu Fidno und zu seiner Anknüpfung an den Neuplatonismus vgl. IV. Beierwaltes: Plotin und Ficino: Der Selbstbezug des Denkens. In: Studien zum 15. Jahrhundert. Festschrift für Erich Meuthen. Hrsg, von J. Helmrath und H. Müller. München 1994. Bd 2. 643-666. Ders.: Marsilio Ficinos Theorie des Schönen im Kontext des Platonismus. Heidelberg 1980. Th. Leinkauf: Platon und der Platonismus bei Marsilio Ficino. ln: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. 40 (1992), 735-756.

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Einleitung

nische Bedeutung erreichte;^ anders als für Hegel ist die neuplatonische Metaphysik für Zeller aber nur noch Geschichte. Die befruchtende Wirkung Hegels auf die Erforschung des Neuplatonismus zeigte sich noch stärker in diesem Jahrhimdert in einigen der besten modernen Interpretationen zu Plotin und Proklos, namentlich in den Arbeiten von KarlHeinz VoUanann-Schluck imd von Werner Beierwaltes/ die - im Gegenzug zu Zeller - gerade die bleibende philosophische Bedeutung des Neuplatonismus imd der in ihm gedachten Wahrheit erneut deutlich gemacht haben. Die besondere Nähe der Hegelschen Philosophie zum Neuplatonismus imd speziell zu Proklos wurde schon von Hegels Zeitgenossen bemerkt, namentlich von Hegels Freunden Friedrich Creuzer und Victor Cousin, denen wir die ersten historisch-kritischen Ausgaben Plotins imd des Proklos verdanken, die bei Creuzer wie bei Cousin durch ihr Interesse an der zeitgenössischen idealistischen Philosophie mitmotiviert sind.® Auch die Hegel-Schule hebt wiederholt die Übereinstimmung des Meisters speziell mit Proklos hervor, am stärksten Karl-Ludwig Michelet, der Herausgeber der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, der im „Intellektualsystem" des Proklos mit seiner triadischen Dialektik geradezu die Vorwegnahme der absoluten ^ Vgl. E. Zeller: Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung dargestellt. Bd 3/2.4. Aufl. Leipzig 1903.468-931. Zu Zellers Darstellung des Neuplatonismus und zu ihrem Verhältnis zu Hegels Wiederentdeckung des Neuplatonismus vgl. W. Beierwaltes: Der Neuplatonismus in Eduard Zellers /Philosophie der Griechen'. In: Annali della Scuola Normale Superiore dl Pisa. Serie IE. Bd 19/3 (1989), 1179-1191. - Deutlich von Hegel, aber auch von Zeller beeinflußt ist die für die erste Hälfte dieses Jahrhunderts repräsentative Plotindeutung von t. Brihier: La philosophie de Plotin. Paris 1928. 7 Vgl. K. H. Volkmann-Schluck: Plotin als Interpret der Ontologie Platos. (1941). 3. Aufl. Frankfurt 1966. - W. Beierwaltes: Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik. Frankfurt 1965. 2. Aufl. 1979. Ders.: Plotin. Über Ewigkeit und Zeit. Text, Übersetzung, Einleitung, Kommentar. Frankfurt 1967. 4. Aufl. 1995. Ders.: Identität und Differenz. Frankfurt 1980. Ders.: Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte. Frankfurt 1985. Ders.: Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit. Plotins Enneade V 3. Text, Übersetzimg, Interpretation, Erläuterungen. Frankfurt 1991. Ders.: Platonismus im Christentum. Frankfurt 1998. - Der befruchtende Einfluß Hegelscher Motive zeigt sich in Aufnahme und in kritischer Abgrenzung auch bei Gerhard Huber und Pierre Hadot: vgl. G. Huber: Das Sein und das Absolute. Studien zur Geschichte der ontologischen Problematik in der spätantiken Philosophie. Basel 1955. P. Hadot: Plotin ou la simplicite du regard. Paris 1963. Ders.: Porphyre et Victorinus. 2 Bände. Paris 1968. Ders.: Plotin. TraitiSS. VI7. Introduction, traduction, commentaire et notes. Paris 1988. 8 Vgl. f. Creuzer: Plotin. Von der Natur, von der Betrachtung und von dem Einen. In: Studien. Hrsg, von C. Daub und F. Creuzer. Bd 1. Heidelberg 1805.59; ebenso im Brief an Caroline von Günderode vom 7.11.1804 (Die Liebe der Günderode. Hrsg, von K. Preisdanz. München 1912.35). - V. Cousin: Prodi Opera inedita. Bd 1. Paris 1821. XLIXf.

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Metaphysik Hegels erblickt und nur Proklos die gleiche Klarheit in der Erkenntnis der Triplizität der Idee zugesteht wie Hegel;® Michelet deutet dabei speziell den Hervorgang der Vielheit und des Seienden aus dem Einen bei Proklos sowie den Dreischritt von povr| - jtQÖoboq fimoTQoipii, der bei Proklos das Verhältnis von Grund und Begründetem auf allen Stufen des Systems bestimmt, ganz von Hegel her. - Die von Michelet hervorgehobene Übereinstimmung der Hegelschen Dialektik mit der triadischen Metaphysik des Proklos wurde dann auch Anlaß zur Hegel-Kritik. So sieht Adolf Trendelenburg gerade in der Hegel und Proklos gemeinsamen Triplizität einen starren Schematismus und ein Verfallsmoment der Philosophie; die Proklische Triadik, deren Übereinstimmung mit der Hegelschen Dialektik auch Trendelenburg annimmt, bezeichnet für ihn nicht den Höhepunkt, sondern den tiefsten Verfall der antiken Philosophie.*® Die besondere Nähe Hegels zu Proklos betont auch Ludwig Feuerbach, und auch er in kritischer Wendimg; der sinnenfeindliche religiöse Spiritualismus der Neuplatoniker lebe in Hegel wieder auf, der nur in Begriffe verwandelt habe, was bei den Neuplatonikem „Phantasie, Vorstellung" sei; Hegel sei daher „der deutsche Proclus. Die ,absolute Philosophie' ist die wiedergeborene alexandrinische Philosophie."^^ - Endlich betont auch Wilhelm Dilthey die besondere Nähe Hegels zu Proklos und hebt zugleich die Anklänge an den Neuplatonismus in den von ihm wiederentdeckten Jugendschriften Hegels besonders hervor.*^ Angesichts dieser in Zustimmung wie Kritik frühzeitig hervorgehobenen und nachdrücklich betonten Verwandtschaft der Hegelschen Metaphysik imd Dialektik nüt dem Neuplatonismus ist es erstaunlich, daß Hegels Deutung der Neuplatoniker und sein Verhältnis zu derjenigen geschichtlichen Gestalt der Metaphysik, zu der Hegel sich

9 Vgl. K. L. Michelet: Geschichte der letzten Systeme der Philosophie in Deutschland von Kant bis Hegel. Berlin 1832. Bd 2. 715. Vgl. zum folgenden dort 727; ders.: Hegel, der unwiderlegte Weltphilosoph. Leipzig 1870.11, auch 2. 10 Vgl. A. Trendelenburg: Logische Untersuchungen. Berlin 1840. Bd 1. 89, vgl. auch 100. Eine ähnliche Kritik an der Triadik äußert E. von Hartmann: Geschichte der Metaphysik. Leipzig 1899. Bd 1. 180; auch für ihn ist „die triadische Dialektik Hegels ... dem imfruchtbaren Scharfsiim und der schablonenhaften Systematisierungswut des Proklos geistesverwandt" (ebd.). 11 L. Feuerbach: Grundsätze einer Philosophie der Zukunft (1843). § 29. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hrsg, von W. Bolin und F. Jodl. 2. Aufl. Stuttgart-Bad Cannstatt 1959. Bd 2.291. 12 Vgl. W. Dilthey: Die Jugendgeschichte Hegels. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd 4. 3. Aufl. Stuttgart, Göttingen 1963. 253; zu neuplatonischen Motiven in den Jugendschriften bes. 154,180.

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selbst in der größten Nähe sah, bis heute nur sehr selten und eher sporadisch untersucht worden ist.^^ Ehe erste und bis heute einzige Monographie zu Hegels Plotindeutung stammt von K. H. E. de Jong, dessen „kritische Studie" sich vor allem durch eine ebenso heftige wie unverhohlene Abneigung sowohl gegen Hegel als auch gegen Plotin auszeichnet. De Jong weist in Hegels Plotindeutimg Fehler imd Umdeutungen nach imd will sie insgesamt als eine spekulative Vergewaltigtmg historischer Gegebenheiten entlarven; er geht dabei jedoch nicht nur nicht auf Hegels eigene Philosophie als Grundlage seiner Plotindeutung ein, sondern besitzt auch selber kein zureichendes, durch Kenntnis der Quellen und Einsicht in die philosophische Problematik fundiertes Verständis Plotins. Sein vollständiger Mangel an Urteilsvermögen zeigt sich auch daran, daß er Hegel die Benutzung der Plotindarstellungen Tiedemanns xmd Tennemanns nachweist, ohne den epochalen Fortschritt, den Hegels Deutung gerade gegenüber diesen Darstellungen bedeutet, zu bemerken. - Im Rahmen seiner monumentalen Untersuchxmg über den Ursprung der Geistmetaphysik, die für die Neubewertimg des Verhältnisses des Neuplatonismus - insbesondere Plotins - zur Philosophie Platons und der Alten Akademie grundlegend wvu"de, hob Hans-Joachim Krämer Hegels Wiederentdeckung des Neuplatonismus hervor imd ging dabei auch auf systematische Berührungspunkte und Unterschiede der Hegelschen Logik und Geistesphilosophie mit der Geistmetaphysik des antiken Platonismus ein;^® die grundlegende systematische Gemeinsamkeit der spekulativen Logik Hegels mit der Nouslehre Plotins erkennt ICrämer darin, daß beide das reine Denken seiner selbst in der Seinsordnimg fundieren, die von beiden als einheitUch-vielheitliches Gefüge aufeinander bezogener Wesenheiten konzipiert wird, das bereits als solches selbstbezügUch und

13 Repräsentativ für diese Situation ist der Umstand, daß der Sanunelband: Hegel und die antike Dialektik. Hrsg, von M. Riedel. Frankfurt 1990, an dem einige der besten Hegelkeimer mitgewirkt haben, außer Beiträgen über Hegels Platon- und Aristotelesdeutung auch solche über den Eleatismus, Anaxagoras und die Sophistik enthält, aber keinen über den Neuplatonismus, obwohl Hegel bei Proklos die deutlichste Vorprägung seiner eigenen Dialektik fand und die Bedeutung der Nouslehre Plotins nachdrücklich hervorhob. Eiiuge allgemeinere Hinweise auf die Bedeutung des Neuplatoiüsmus gibt nur O. Pöggeler in seinem Beitrag: Die Ausbildung der spekulativen Dialektik in Hegels Begegnung mit der Antike. ^2-62. 14 Vgl. K. H. E. de Jong: Hegel und Plotin. Eine kritische Studie. Leiden 1916. 15 Vgl. H. J. Krämer: Der Ursprung der Geistmetaphysik. Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischen Platon imd Plotin. Amsterdam 1964.2. Aufl. 1967. Bes. 419-423 imd 435-445 sowie passim.

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damit ein „objektives Denken" ist; die wesentlichen Unterschiede liegen für Krämer einmal darin, daß die Einheits-Vielheits-Strukhir des Seinsxmd Denkgefüges bei Plotin wie im altakademischen Platonismus zahlenhaft bestimmt ist, imd darm in der Geschichtlichkeit imd realen Prozessualität des Zu-sich-selbst-Kommens des Geistes bei Hegel und der konstitutiven Rolle der endlichen Subjektivität in diesem Prozeß. Die erste und bisher einzige detaillierte Untersuchung eines zentralen Aspekts der Hegelschen Neuplatonismusdeutung, nämlich seiner Proklosinterpretation, legte Werner Beierwaltes vor,^^ der dabei auch auf systematische Berührungspunkte und Unterschiede zwischen Hegel und Proklos sowie auf Hegels eigene Philosophie als Voraussetzxmg seiner Proklosdeutung einging. Grundlegende Gemeinsamkeiten sieht Beierwaltes im Gedanken der konkreten Totalität, in der Vermittlung von Endlichkeit (Grenze) und Unendlichkeit, im spekulativen Begriff des Lebens und in der triadischen Selbstentfaltung der Idee xmd des Nous; zugleich aber deute Hegel Proklos auch grundlegend um, indem er die negative Theologie des überseienden Einen bei Proklos ins Positive umdeute und das nicht-denkende Eine selbst als reines Denken seiner selbst auffasse. Hegels Verdienst um die Wiederentdeckung des Neuplatonismus wird dabei von Beierwaltes nachdrücklich hervorgehoben.^^ Beierwaltes untersuchte auch Hegels Plotindeutung, beschränkte sich hierbei aber auf einige wesentliche Grundzüge;^® dabei beurteilt er Hegels Plotindeutung wesentlich kritischer als seine Pro16 Vgl. W. Beierwaltes: Hegel und Proklos (1970). In: Ders.: Platonismus und Idealismus. Frankfurt 1972.154-187. 17 Ebenso schon in Beierwaltes' für die Neuplatonismus-Forschung grundlegendem Buch: Proklos. 4 ff. - Beierwaltes' eigene Deutung speziell der Triadik imd des Kreisdenkens bei Proklos und seine Charakterisierung der Metaphysik des Proklos als eines „ontologischen Identitätssystems" (50, auch 35) sowie der „dynamischen Identität" aller Momente des Nous bei Proklos sind erkeimbar von Hegels Proklosdeutung angeregt, ohne von dieser abhängig zu sein. 18 Vgl. W. Beierwaltes: Plotin im deutschen Idealismus. In: Ders.: Platonismus und Idealismus. 83-153, zu Hegel dort 144-153. - Auf den Ergebnissen von Beierwaltes basiert M. de Gandillac: Hegel et le nioplatonisme. In: Hegel et la pensie grecque. Hrsg, von J. D' Hondt, Paris 1974. 121-131. - Eine wohlinformierte Untersuchung der philosophiehistorischen Hintergründe von Hegels Berufung auf die neuplatonische Deutung des Platonischen Parmenides in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes, die insbesondere auf Hegels Aufnahme der Deutung des Proklos eingeht, hat Chr. ]amme voi^elegt: Platon, Hegel und der Mythos. Zu den Hintergründen eines Diktums aus der Vorrede zur „Phänomenologie des Geistes". In: Hegel-Studien. 15 (1980), 151-169, bes. 161 ff. Jamme verschafft sich aber keinen von Hegel unabhängigen Zugang zu Proklos' Philosophie und Platondeutung, so daß ihm die Unterschiede zwischen Proldos und Hegel entgehen, z. B. versteht er die Proklische Negation der Negation mit Hegel als absolute Affirmation.

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klosdeutung und hebt vor allem die systematischen Unterschiede und die Umdeutungen Hegels hervor; insbesondere erkenne Hegel nicht die absolute Transzendenz des Einen selbst imd deute dieses als reines Sein tmd zugleich als reines Denken, ferner erfasse er auch Plotins ekstatische Mystik nicht als Selbstüberschreitimg des Denkens, sondern sehe in ihr den reinen spekulativen Begriff. Die grundlegende Gemeinsamkeit zwischen Plotin vmd Hegel sieht Beierwaltes in der Selbstbezüglichkeit des Denkens, doch trage Hegel seine eigene Position des selbstbezüglichen absoluten Subjekts in die Philosophie Plotins - wie auch in diejenige des Proklos - hinein imd lasse dadurch das überseiende und übervernünftige Eine selbst mit dem Nous zusammenfallen. - Im Rahmen seiner ertragreichen Untersuchung über Hegel und die Geschichte der Philosophie hat Klaus Düsing die Grundzüge von Hegels Auseinandersetzung mit dem spätantiken Neuplatonismus, insbesondere mit Plotin tmd Proklos, nachgezeichnet.^^ Düsing konzentriert sich dabei auf die wesentlichen systematischen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Hegel auf der einen. Plotin und Proklos auf der anderen Seite und weist auch auf die Bedeutung des Neuplatonismus für die Entwicklungsgeschichte Hegels hin; er unterscheidet stärker als Beierwaltes zwischen Hegels referierender Wiedergabe der zentralen neuplatonischen Lehren und seiner systematischen Wertung dieser Lehren, die in Hegels eigener Philosophie fundiert ist; aufgrund dieser Unterscheidung wird ein stärker differenziertes Urteil über Hegels Deutung des Neuplatonismus möglich, das im Falle der Hegelschen Plotininterpretation deutlich positiver ausfällt als bei Beierwaltes. Auch in seinen zahlreichen Untersuchungen zu Hegels systematischer Philosophie imd zu seiner Platondeutung hat Düsing wiederholt auf Berührungen Hegels mit dem Neuplatonismus aufmerksam gemacht.^“ 19 Vgl. K. Düsing: Hegel und die Geschichte der Philosophie. Ontologie und Oialektik in Antike und Neuzeit. Darmstadt 1983.132-159. 20 Genannt seien besonders K. Düsing: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Systematische vmd entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Prinzip des Idealismus imd zur Dialektik. Bonn 1976.3. Aufl. 1995. Bes. 305 ff. Ders.: Ontologie und Dialektik bei Plato und Hegel. In; Hegel-Studien. 15 (1980), 95-150. Ders.: Ästhetischer Platonismus bei Hölderlin und Hegel. In: Homburg vor der Höhe in der deutschen Geistesgeschichte. Hrsg, von Chr. Jamme und O. Pöggeler. Stuttgart 1981.101 -117. Ders.: Identität und Widerspruch. Untersuchungen zur Entwicklungsgeschichte der Elialektik Hegels. In: Giomale di Metafisica. Nuova Serie. 6 (1984), 315-358. Ders.: Schellings und Hegels erste absolute Metaphysik (1801-1802). Zusammenfassende Vorlesungsnachschriften von I. P. V. Troxler. Hrsg., eingeleitet imd mit Interpretationen versehen. Köln 1988. Spez. HO ff und passim. Ders.: Noesis Noeseos und absoluter Geist in Hegels Bestimmung der „Philosophie". Erscheint in: Hegels enzyklopädisches System. Hrsg, von B. Tuschling. Stuttgart-Bad Cannstatt 1999. (Im Druck).

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Eine Untersuchung zu Hegels Deutung der Metaphysik des Einen und des Geistes bei Plotin und Proklos, welche die Details von Hegels Deutung und seine Umdeutungen im Zusammenhang behandelt imd mit der genuinen Metaphysik der beiden größten Neuplatoniker konfrontiert und dabei zugleich auf Hegels eigene Philosophie als Voraussetzung seiner Plotin- imd Proklos-Deutung eingeht, fehlt bisher; ebenso fehlt bisher eine zusammenhängende Rekonstruktion von Hegels Bestimmung des historischen und systematischen Ortes des Neuplatonismus im Rahmen seiner Philosophie des absoluten Geistes, die auch Hegels Bestimmimg der systematischen imd historischen Stellung des Neuplatonismus zu Platon, Aristoteles und dem P)d:hagoreismus als den maßgebenden Formationen antiker Metaphysik thematisiert, die der Neuplatonismus Hegels Analyse zufolge positiv in sich aufhebt; beides wird hier vorgelegt. Um die Bedeutimg des Neuplatonismus auch für die Entwicklungsgeschichte der Hegelschen Philosophie deutlich werden zu lassen, werden einleitend die neuplatonischen Motive und Einflüsse in Hegels Jugendschriften sowie in seinen Jenaer Schriften untersucht; dabei werden die religionsphilosophischen Entwürfe der Frankfurter Zeit (1797-1800) in den Mittelpunkt gestellt, auf deren Nähe zum Neuplatonismus schon Dilthey hingewiesen hat. Während die bisherige Forschung von einem indirekten Einfluß des spätantiken Platonismus auf das Denken des frühen Hegel ausging, werden hier erstmals Quellen vorgelegt, durch die schon der frühe Hegel auch direkten Zugang zum spätantiken Platonismus hatte; darüber hinaus wird gezeigt, daß und in welcher Weise die Anregungen, die Hegel diesen Quellen verdankt, für Hegels erste Konzeption eines Absoluten in Frankfurt grundlegend sind. Ferner wird gezeigt, daß Hegels eingehende Auseinandersetzung mit der Dialektik des Platonischen Dialogs Parmenides in Jena, der für die Ausbildung seiner eigenen Dialektik in methodischer wie in inhaltlicher Hinsicht vorbildlich war, ebenfalls durch die neuplatonische metaphysische Deutimg dieses Dialogs von Anfang an mitbestimmt wurde. (Kapitel I).^^ - Der Rest der Arbeit untersucht die Deutung des spätantiken Neuplatonismus beim reifen Hegel vor dem Hintergrund seines vollentwickelten Systems und konfrontiert sie zu21 Einzelne Ergebnisse dieses Kapitels sind in zwei Aufsätzen zusammengefaßt, die demnächst erscheinen werden: /. Halfwassen: Die Rezeption des Neuplatonismus beim Frankfurter Hegel: Neue Quellen und Perspektiven. Erscheint in: Hegels Denkentwicklung in der Berner und Frankfurter Zeit. Hrsg, von M. Bondeli. München 1999. Ders.: Die Bedeutung des spätantiken Platonismus für Hegels Denkentwicklung in Frankfurt und Jena. In: Hegel-Studien. 33 (1998).

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gleich mit dem heutigen historischen Kenntnisstand über den Neuplatonismus vmd seine Stellimg innerhalb der griechischen Philosophie. Zimächst wird Hegels Bestimmtmg des systematischen und historischen Ortes der neuplatonischen Metaphysik im Rahmen seiner Philosophie des absoluten Geistes erstmals zusammenhängend imtersucht; dabei wird der Schwerpimkt auf Hegels Deutung des Neuplatonismus als eines „Intellektualsystems" tmd auf seine Bestimmimg des Verhältnisses der neuplatonischen Metaphysik zum Christentum gelegt. (Kapitel II). - Sodarm wird Hegels Bestimmung des Neuplatonismus als spekulative Synthese von Pythagoreismus, Platonismus imd Aristotelismus imtersucht; hierbei ist besonders auf Hegels Deutung der Prinzipienlehre des vermeintlichen Pythagoreismus einzugehen, die in Wirklichkeit die innerakademische Prinzipienlehre Platons ist, - es wird sich zeigen, daß Hegel diese Prinzipienlehre bereits als die systematische Grundlage der neuplatonischen Metaphysik erkannt hat. Ferner wird in diesem Zusammenhang Hegels Deutimg des Platonischen Timaios untersucht, da Hegel die Nähe dieses Platonischen Dialogs, in dem er die „einfache Idee des Geistes" dargelegt findet, zu jener Prinzipienlehre hervorhebt, imd da er im Timaios eine Verbindung von Ideenlehre und Noologie erkennt, an die der Neuplatonismus darm anknüpft. (Kapitel III).^ - Bekanntlich schätzte Hegel Proklos höher als Plotin. Die vorliegende Untersuchung wird aber deutlich zeigen, daß Hegels Deutimg der Metaphysik des Einen und des Nous bei Plotin eingehender, genauer und auch philosophisch ertragreicher ist als seine Proklosdeutung; sie stellt darum Hegels Plotindeutung und ihre Konfrontation mit der genuinen Henologie und Noologie Plotins in den Mittelpunkt. Dabei werden sich grundlegende Gemeinsamkeiten zwischen Hegel und Plotin in der Ontologie und in der Noologie zeigen, und zwar insbesondere in der Weise, in der beide die Selbstbezüglichkeit des Denkens in der in sich relationalen Einheit der Ideen bzw. der Kategorien fundieren; zugleich aber wird sich erweisen, daß der spezifische Zusammenhang von Noologie und Henologie bei Plotin, für den der von Hegel umgedeutete und systematisch kritisierte Gedanke der nur in einer konsequenten theologia negativa umschreibbaren Transzendenz des Absoluten kon-

22 Die Hegels Platondeutung betreffenden Ergebnisse dieses Kapitels liegen dem Beitrag zugrunde: /. Halfwassen: Idee, Dialektik und Transzendenz. Zur Platondeutung Hegels und ScheUings am Beispiel ihrer Deutung des „Timaios". In: Platon in der abendländischen Geistesgeschichte. Neue Forschungen zum Platonismus. Hrsg, von Th. Kobusch und B. Mojsisch. Darmstadt 1997.192-209.

Einleitvmg

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stitutiv ist, auch als systematische Alternative zu Hegels Metaphysik der absoluten Subjektivität bedeutsam ist; - und zwar als eine Alternative, die sich mit den späten Entwürfen Fichtes und Schellings systematisch berührt, dort nur Angedeutetes oder nicht konsequent zu Ende Geführtes, insbesondere hinsichtlich der Transzendenz des Absoluten, seiner Umschreibung in negativer Theologie und des Verhältnisses des Geistes bzw. der Vernunft zum Absoluten, in einer auch methodisch hochdifferenzierten Theorie ausführt. Es wird sich dabei zeigen, daß die immanente Struktur der Selbstbeziehtmg des reinen Denkens und Geistes, die Plotin wie Hegel als eine triadische Einheit konzipiert, bei Plotin zugleich konstitutiv durch den Transzendenzbezug des Denkens zum absolut jenseitigen Einen bestimmt ist, so daß gerade das konkrete Begreifen der selbstbezüglichen Einheit des Geistes für Plotin zu der Einsicht führt, daß diese Einheit nicht aus ihr selbst zureichend begriffen werden kann, sondern ein ihr transzendentes Absolutes voraussetzt. (Kapitel IV und V). - Abschließend wird Hegels Proklosdeutimg thematisiert, wobei Hegels Interpretation und Umdeutung der henologischen Dialektik und der Triadik des Proklos in den Mittelpunkt gestellt und systematisch mit Hegels eigener Dialektik verglichen wird; hierbei wird sich die oftmals konstatierte Verwandtschaft zwischen Hegel und Proklos zugleich bestätigen und modifizieren lassen. Denn es wird sich einerseits zeigen, daß die Proklische Dialektik und Triadik der Hegelschen Dialektik an begrifflicher und methodischer Differenziertheit durchaus ebenbürtig ist xmd sich mit ihr insbesondere im Gedanken der Triplizität als selbstbezüglicher Einheit und konkreter Totalität sachlich berührt; neben anderen Unterschieden im Detail aber wird sich andererseits auch zeigen, daß Proklos speziell die negative Dialektik und Theologie als Anzeige der absoluten Transzendenz des Absoluten in einer Weise entfaltet und methodisch differenziert, die eine bleibende und nicht abgegoltene Alternative zur absoluten Dialektik Hegels darstellt, weil sie nüt deren Mitteln nicht positiv aufgehoben imd in ein ciffirmatives Begreifen des Absoluten als Geist integriert werden kann. (Kapitel VI). - Bezüghch der Bestimmung des spätantiken Neuplatonismus in seinem Verhältnis zu Platon imd zur Alten Akademie werden die Ergebnisse der philosophiehistorischen Untersuchungen yon Hans-Joachim Krämer imd Thomas Alexander Szlezäk sowie eigener Forschungen vorausgesetzt.^ Ferner macht sich die Untersuchimg 23 Vgl. H. J. Krämer: Der Ursprung der Geistmetaphysik. - Th. A. Szlezäk: Platon und Aristoteles in der Nuslehre Platins. Basel, Stuttgart 1979. - /. Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen.

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Eirdeihing

wie auch frühere Arbeiten des Verfassers - das Platonbild der Tübinger Schule zu eigen; vorausgesetzt wird auch, daß der vielumstrittene zweite Teil von Platons Parmenides, der für die Metaphysik und Platondeutung der Neuplatorüker grundlegend ist, eine von der innerakademischen Prinzipientheorie Platons her aufzuschlüsselnde Metaphysik des Einen ist, was der Verfasser anderswo zu zeigen versucht hat."^

Untersuchungen zu Platon und Plotin. Stuttgart 1992. Ders: Speusipp und die Unendlichkeit des Einen. Ein neues Speusipp-Testimonium bei Proklos und seine Bedeutung. In: Archiv für Geschichte der Philosophie. 74 (1992), 43-73. Ders.: Speusipp und die metaphysische Deutung von Platons „Parmenides". In; EN KAI I1AH©02 - Einheit und Vielheit. Festschrift für Karl Bormarm. Hrsg, von L. Hagemaim und R. Glei. Würzburg, Altenberge 1993.339373. Ders.: Das Eine als Einheit und Dreiheit. Zur Prinzipientheorie Jamblichs. In: Rheinisches Museum für Philologie. 139 (1996), 52-83. Ders.: Monismus und Dualismus in Platons Prinzipienlehre. In; Bochumer PhUosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter. 2 (1997), 1 -21. Erscheint auch in: Platonisches Philosophieren. Festschrift für Hans-Joachim Krämer. Hrsg, von Th. A. Szlezäk. Hildesheim 1999. (Im I>ruck). 24 Vgl. /. Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen. 275-405.

ERSTES KAPITEL

DIE BEDEUTUNG DES NEUPLATONISMUS FÜR HEGELS DENKENTWICKLUNG

§ 1. Erste Begegnungen Metaphysischen Motiven neuplatonischer Provenienz begegnet man in Hegels Schriften überall und in allen Phasen seiner Entwicklung von den religionsphilosophisch bestimmten Jugendschriften an bis hin zu den späten BerÜner Vorlesungen. Während sich Hegel aber in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie als gründlicher Keimer und subtiler Interpret der beiden größten und wirkimgsmächtigsten NeuplatonUcer Plotin und Proklos erweist, bleiben die neuplatoiüschen Motive und Anklänge in den religionsphilosophischen Jugendschriften Hegels relativ vage und unspezifisch und lassen noch keine spezifische Kenntnis der Schriften Plotins oder des Proklos erkennen. Gleichwohl gibt es vor allem in den Entwürfen Hegels aus seiner späteren Frankfurter Zeit (1798-1800) deutliche Anklänge an den Neuplatonismus und an die vom Neuplatonismus nachhaltig geprägte mystische Tradition, die bereits Dilthey bemerkte.^ Die Herkunft und die Quellen dieser 1 Vgl. W. Dilthey: Die Jugendgeschichte Hegels. Bes. 154,180. - Aus der kaum noch übersehbaren Literatur zu Hegels Jugendschriften, besonders zu seiner Philosophie während der Frankftirter Zeit, sei verwiesen auf A. Peperzak: Le jeune Hegel et la Vision morale du monde. 2. Aufl. Den Haag 1969.0. Pöggeler: U esprit du christianisme de Hegel. In: Archives de Philosophie. 33 (1970), 719-754. Ders.: Hegels philosophische Anfänge. In: Der Weg zum System. Materialien zum jungen Hegel. Hrsg, von Chr. Jamme und H. Schneider. Frankfurt 1990.68-111. H. S. Harris; Hegel's development. Tozvard thesunlight. 1770-1801. Oxford 1972. K. Düsing: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. 38-74. Ders.: Jugendschriften. In: Hegel. Hrsg, von O. Pöggeler. Freiburg, München 1977.28-42. Ders.: Schellings und Hegels erste absolute Metaphysik. 99-193, bes. HO ff. M. Baum: Zur Vorgeschichte des Hegelschen Unendlichkeitsbegriffs. In: Hegel-Studien. 11 (1976), 89-124. Ders.: Die Entstehung der Hegelschen Dialektik. Bonn 1986.35-75. P. Kondylis: Die Entstehung der Dialektik. Eine Analyse der geistigen Entwickltmg von Hölderlin, Schelling und Hegel bis 1802. Stuttgart 1979. Chr. Jamme: „Ein ungelehrtes Buch“. Die philosophische Gemeinsch2ift zwischen Hölderlin und Hegel in Frankfurt 1797-1800. Bonn 1983. M. Fujita: Philosophie und Religion beim jungen Hegel, unter besonderer Berücksichtigung seiner Auseinandersetzung mit Schelling. Bonn 1985. H. Busche: Das Leben der Lebendigen. Hegels politisch-religiöse Begründung der Philosophie freier Verbundenheit in seinen frühen Manuskripten. Boim 1987. Vgl. ferner den Überblick über die Forschungsgeschichte von Chr. Jamme und H. Schneider: Die Geschichte der Erforschung von Hegels Jugendschriften. In: Der Weg zum System. 7-44.

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1. Kapitel: Der Neuplatonismus in Hegels Entwicklvmg

Anklänge zu bestimmen, ist jedoch außerordentlich schwierig, da mit einer vielfältigen und in den meisten Fällen indirekten Überlieferung zu rechnen ist, durch die metaphysische und mystische Motive neuplatonischer Provenienz zum jungen Hegel gelangten. So läßt sich etwa nicht eimnal nachweisen, daß Hegel die damals vorliegenden Darstellungen der neuplatonischen Philosophie in den Philosophiegeschichten von Jakob Brücker imd Dietrich Tledemann,^ über die er sich in seinen späteren Vorlesimgen außerordentlich kritisch geäußert hat,^ in Frankfurt schon gekannt hat. Aufgrund der imgeheuer breiten und tiefgehenden direkten und indirekten Wirkungsgeschichte des Neuplatonismus, der die metaphysische, mystische und theologische Tradition Europas in einem Maße geprägt hat wie sonst nur noch Platon, konnte Hegel metaphysische Motive, die zuletzt auf den Neuplatonismus zurückgehen, beispielsweise auch aus einem Philosophen wie Spinoza kennenlemen;^ ein sehr wichtiges Motiv neuplatonischer Herkunft, das für Hegel vom Beginn seiner Jenaer Zeit an von zentraler Bedeutung war, tradiert Kant mit seiner Lehre vom intuitiven Verstand.^ Vor allem aber las Hegel schon im Tübinger Stift gemeinsam mit Hölderlin und anderen Jacobis Briefe über die Lehre des Spinoza, die in einer Beilage einen Auszug aus Giordano Brunos Hauptwerk De la causa, principio et um enthalten, den Jacobi ins Deutsche übersetzt hat.® Dieser 2 Vgl. /. Brücker: Historia critica philosophiae. Bd 2. Leipzig 1742. 189-462 („De secta edectica"). D. Tiedemann: Geist der spekulativen Philosophie. Bd 3. Marbiirg 1793.254-567. Daß Novalis seine Kenntnis Plotins ausschließlich der materialreichen, aber ebenso geistwie verständnislosen Plotin-Darstellimg Hedemanns verdankt, zeigte H. /. Mahl: Novalis und Plotin. Untersuchungen zu einer neuen Edition und Interpretation des „Allgemeinen Brouillon". In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts. (1963), 139-250. Informativ ist auch M. Wundt: Plotin und die Romantik. In: Neue Jahrbücher für das Klassische Altertum. 35 (1915), 649-672. 3 Vgl. TWA. Bd 18.62 f, 134. 4 Einigen solcher Verbindungen der platonischen Tradition zum entstehenden Idealismus ist Chr. famme nachgegangen: „Ein ungelehrtes Buch". 99-118. Das von neuplatonischen (Quellen immer noch wesentlich mitbestimmte Platon-Bild, auf das Hegel, Schelling und Hölderlin um 1790 in Tübingen trafen, zeichnet informativ und materialreich nach M. Franz: Schellings Tübinger Platon-Studien. Göttingen 1996. Bes. 9-149. 5 Vgl. I. Kant: Kritik der Urteilskraß §§ 76-77. Dazu und zu Hegels Rezeption dieser Lehre K. Düsing: Ästhetische Einbildungskraß und intuitiver Verstand. Kants Lehre und Hegels spekulativ-idealistische Umdeutung. In: Hegel-Studien. 21 (1986), 87-128. 6 F. H. Jacobi: Werke. Bd 4/1 -2. Leipzig 1819 (Nachdr. Darmstadt 1976). - Die an Moses Mendelssohn adressierten Briefe über die Lehre des Spinoza erschienen in erster Auflage 1785, die 1789 erschienene zweite Auflage ist um mehrere Beilagen vermehrt, von denen die erste den Auszug aus Brunos De la causa enthält (.Werke. Bd 4/2.5-46). - Vgl. zu Hegels Jacobi-Lektüre in Tübingen R 40. Vgl. dazu auch Hölderlins frühes Jacobi-Exzerpt: F. Hölderlin: Sämtliche Werl^. Hrsg, von F. Beißner. Stuttgart 1943 ff. Bd 4/1. 207 ff. - Zur

§ 1. Erste Begegnungen

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Bruno-Auszug bei Jacobi war für Hegel wie für Hölderlin und Schelling die wohl wichtigste Quelle für neuplatonische Motive in ihren frühidealistischen Entwürfen; er enthält eine ganze Reihe von zentralen neuplatonischen Theoremen, die Bruno teils den Enneaden Plotins, teüs der Docta ignorantia des Nikolaus von Kues imd teils beiden Quellen verdankt, die in dem Auszug Jacobis aber in einen pantheistischen und immanentistischen Kontext versetzt sind und zudem meist als bloße Thesen vorgetragen werden ohne die eingehenden argumentativen Begründungen, die sie bei Plotin und bei Cusanus erhalten. Obwohl Bruno in Umkehrung der genuin neuplatonischen Ausrichtung auf die Transzendenz gerade die Immanenz des Absoluten, des unendlichen göttlichen Einen, in allem Seienden auf das Stärkste prononciert, liegt bei ihm trotz starker in diese Richtung weisender Formulierungen wohl kein konsequenter Immanentismus und transzendenzloser Pantheismus vor, der im Stile Spinozas das Absolute mit dem Weltganzen identifiziert.^ Jacobi präsentiert in seinem verkürzenden Auszug Bruno jedoch ganz und gar als Vorläufer Spinozas und stilisiert seine Philosophie zu einem solchen transzendenzlosen Pantheismus, zu einem Spinozismus vor Spinoza; dies zeigt sich insbesondere daran, daß Jacobi Brunos wiederholte Gleichsetzung des allbegründenden xmd darum für Bruno auch allumfassenden Einen mit dem Universum wiedergibt;® die dem entgegenstehenden Aussagen Brunos über die Transzendenz und Überseiendheit des göttlichen Einen,® das für Bruno keineswegs im Wirkungsgeschichte der Spinoza-Briefe im Idealismus vgl. H. Timm: Die Bedeutung der Spinoza-Briefe facobis für die Entwicklung der idealistischen Religionsphilosophie. In: Friedrich Heinrich facobi. Philosoph und Literat der Goethezeit. Hrsg, von K. Hammacher. Frankfurt 1971.35-81. Ders.: Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit. Bd 1; Die Spinozarenaissance. Frankfurt 1974. ^ Zu den neuplatordschen und Cusanischen Motiven imd zu ihrer Verwandlung in Brunos Hauptwerk vgl. W. Beierwaltes: Identität ohne Differenz? Zur Kosmologie und Theologie Giordemo Brunos. In: Ders.: Identität und Differenz. 176-203, spez. 192-203 zur Problematik von Immanenz imd Transzendenz bei Bruno. - Zu Hegels Bruno-Rezeption war mir durch die Freundlichkeit des Autors im Manuskript zugänglich: K. Düsing: Italienische und deutsche Philosophie. 8 Vgl. Bruno bei facobi: Werke. Bd 4/2.34-38 passim; vgl. auch 39.

9 Vgl. etwa die mit entsprechenden Formulierungen des Cusanus übereinstimmende Aussage Brunos: Gott als das Eine „est enim omnia in omnibus, quia dat esse onuiibus: et est nuUum omnium, quia est super omnia, singula et universa essentia et nobilitate et virtute praetergrediens" (Summa terminorum metaphysicorum. In: fordani Bruni Nolani Opera latine conscripta. Rec. F. Fiorentino, F. Tocco et alü. Neapel, Florenz 1879-1891. Bd 1 /3. 86,13 ff). Dazu mit weiteren Belegstellen W. Beierwaltes: Identität ohne Differenz? 196 ff. - Hegel hat in seinen Berliner Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie im Gegenzug zu Jacobis Bruno-Präsentation gerade Brunos Aussagen zur Überseiendheit (superessentia,

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1. Kapitel: Der Neuplatonismus in Hegels Entwicklung

Weltganzen aufgeht, auch wenn es für ihn anders als für den genuinen Neuplatonismus Plotins oder des Proklos zugleich das Ganze des Seins und der sich selbst erkennende Geist ist,^° fehlen dagegen bei Jacobi. Dem Neuplatonismus, den Hegel aus dem Bnmo-Auszug bei Jacobi kennenlemte, fehlt darum von Anfang an das zentrale Motiv der Transzendenz des Absoluten, um das es Plotin wie Cusanus gaijz wesentlich ging, ebenso fehlt die konsequente Form der negativen Theologie. Die wichtigsten Plotinischen und Cusanischen Motive bei Bnmo, die Hegel, Schelüng und Hölderlin durch Jacobi bekannt waren, sind folgende: - die Lehre vom göttlichen Einen als dem absoluten Prinzip aller Wirklichkeit imd aller Möglichkeit, das Vielheit und Zusammensetzung als aller Vielheit und Zusammengesetztheit vorhergehender einfacher Einheitsgrund erst ermöglicht; - die Unendlichkeit und Unbestimmbarkeit des allbegründenden Einen und die Disproportionalität des Unendlichen gegenüber dem Endlichen; - die Lehre, daß das unendliche Eine als das absolute Sein alles, was sein kann, in absoluter Aktualität zugleich und auf einmal ist; - die ungeteilte Allgegenwart des göttlichen Grundes, der als teillose Ganzheit zugleich in allem einzelnen Seienden anwesend imd wirksam ist; - die Alldurchdringung von Ganzem und Teilen im Unendlichen, das zugleich Alles imd Eines ist, so daß in ihm der Teil mit dem Ganzen identisch ist; - die darin liegende Aufhebimg aller Einzelheiten und Verschiedenheiten in dem von jeder Zusammensetzung freien Unendlichen, dem absoluten Sein; - die Einheit und Identität von Erkennendem und Erkaimtem im sich selbst denkenden göttlichen Denken, das sich darin zugleich als das Ganze des Seins und als das höchste Eine begreift; - der Vorrang der negativen Theologie vor allen affirmativen Aussagen über das unendliche und unbestimmbare Absolute und Göttliche und dessen Unbegreifbarkeit durch jeden bestimmten und damit endlichen Begriff;

■ÖTOpoDOia) des Absoluten zitiert und mit dem Neuplatonismus (Proklos) verbunden: TWA.Bd20.34,36,37. 10 Vgl. etwa Bnmo bei Jacobi: Werke. Bd 4/2.45 f.

§ 1. Erste Begegnungen

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- die Koinzidenz von Minimum und Maximum sowie die durchgängige Einheit der Gegensätze, auch der Widersprüche, im unendlichen höchsten Einen; - endlich der Vergleich des unendlichen Seins mit einer Kugel und die Koinzidenz aller geometrischen Dimensionen in der unendlichen Kugel.” Da Jacobi Brunos Quellen fast durchweg übergeht - er selber kannte Plotin kaum dem Namen nach und Cusanus nicht einmal dem Namen nach -, konnten die Stiftler die Plotinische bzw. Cusanische Herkunft dieser Theoreme damals nicht kennen. Für die Lehre von der coincidentia oppositorum beruft Jacobi, der sie durch Hamann kennengelemt hatte, sich nicht auf Cusanus, sondern auf Heraklit.^^ Plotin wird zwar genannt, aber nur als Vertreter der Lehre von einer intelligiblen Materie,^^ während Bruno sich für die Lehre vom unendlichen Einen auf Parmenides, den Begründer der Metaphysik des Einen, beruft.^“* Ferner konnte Hegel damals die genuin Platonische Lehre von der Übervemünftigkeit Gottes oder des göttlichen Einen aus einem Aristoteles-Zitat bei Leibniz kennen, das wiederum Jacobi zitiert.^® n Vgl. Bruno bei Jacobi: Werke. Bd 4/2. Bes. 34-36,36 f, 37 f (mit der Anmerkung Jacobis), 38,39 f, 41,42 f, 43 f, 45 f; vgl. auch Jacobi: Werke. Bd 4/1.56 f (mit Bezug auf Spinoza). 12 Bruno bei Jacobi: Werke. Bd 4/2. 43 f - Die dann folgenden Hinweise Brunos auf mathematische Beispiele (44) und auf das Maximum imd Minimum (45) weisen jedoch eindeutig auf das erste Buch der Docta ignorantia als Quelle Brunos. - Jacobi verdankte den Hinweis auf das principium coincidentiae oppositorum wohl einem Brief Hamanns vom 16.1. 1785, in dem dieser den Koinzidenzgedanken ebenfalls Bnmo zuschreibt. Vgl. /. G. Hamann: Briefwechsel. Bd 5. Hrsg, von A. Henkel. Frankfurt 1965. 327. - In einer später hinzugefügten Fußnote (Werke. Bd 4/1.88 f) zitiert Jacobi nach /. G. Tennemann zwei Aussagen des Cusanus über die Trinität aus der Docta ignorantia (18, n. 22 und 19, n. 24); der 9. Band von Tennemanns Geschichte der Philosophie, dem Jacobi die beiden Stellen verdankt, erschien jedoch erst 1807. - Zur weitreichenden indirekten Wirkungsgeschichte des Nikolaus von Kues vgl. das gründliche Buch von St. Meier-Oeser: Die Präsenz des Vergessenen. Zur Rezeption der Philosophie des Nicolaus Cusanus vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. Münster 1989. 13 Vgl. Bruno bei Jacobi: Werke. Bd 4/2.30, wo Bruno Plotin: Enn. II4,4,2 ff referiert. - In ganz unspezifischem Zusammenhang wird Plotin auch Werke. Bd 4/2. 8 erwähnt (nüt entferntem Anklang an Enn. IV 8,4,39 ff). 1^ Vgl. Bruno bei Jacobi: Werke. Bd 4/2.39 f. - In der Beilage VI findet sich in einem LeibnizZitat die Formulierung: „das Eins und Alles des Parmenides und Plotin: ohne Spinozismus"(Bd4/2.125). 15 Jacobi: Werke. Bd 4/1. 213 Anm. zitiert nach Leibniz: Opp. T. n. p. 264 Aristoteles: EE 1248 b 25 ff: „Wie Gott in allem ist, so ist hinwiederum alles in ihm. C)enn das Göttliche in uns bewegt alles. Nicht die Vernunft selbst ist das Prinzip der Vernunft, sondern etwas höheres: was ist aber, außer Gott, das Erkeimtniß überträfe? ..." - Die Stelle gehört in den Kontext der altakademischen Diskussion des Problems, ob ein überseiendes und übervemünßiges Prinzip über dem Nous anzunehmen ist, was die Lehre Platons und Speusipps

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1. Kapitel: Der Neuplatoiüsmus in Hegels Entwicklung

Zugang zur mystischen Tradition neuplatonischer Provenienz hatte Hegel unter anderem durch die Kirchengeschichte Johaim Lorenz von Mosheims/® mit der er sich in seiner Berner Zeit (1793-1796) intensiv beschäftigte. Aus dieser exzerpierte Hegel sich 7 Sätze, die Mosheim als Exzerpte aus den „geheimen Schriften" (secretioribus libris) der mystischen Sekte der Begarden oder Beginen, der „Brüder und Schwestern vom freien Geist" zitiert/^ in Wirklichkeit handelt es sich jedoch um zentrale Sätze Meister Eckharts aus seinen deutschen Predigten, die 1329 von Papst Joharmes XXII. in der Bulle In agro dominico als ketzerisch oder als zumindest verdächtig verurteilt wurden.'® Die von Hegel exzerpierten war; dies ergibt sich aus dem Vergleich mit Platon: Politeia 508 Eff imd Aristoteles: nepl E'öx'nQ Fr. 1 Ross. - Jacobi zitiert sie indes zur Begründung seines irrationalen Glaubensimd Liebesbegriffs (Werke. Bd 4/1.212 f: „... es giebt einen Frieden Gottes, welcher höher ist derm alle Vernunft; in ihm wohnt der Genuü und das Anschauen einer unbegreiflichen Liebe"). 16 }.L. von Mosheim: Institutionum historiae ecclesiasticae antiquae et recensioris libri quattuor. Helnistadii 1755. Editio altera 1764. - Zu Mosheims DarsteUimg des Platoiüsmus und Neuplatonismus, der ihm insbesondere durch seine kommentierende lateinische Übersetzung des Hauptwerkes des Cambridger Platoiükers Ralph Cudworth (The True Intellectuäl System of the Universe. 1678) gut vertraut war, vgl. M. Franz: Schellings Tübinger Platon-Studien. 47-63. 17 Vgl. GW. Bd 3.215 f: „Der gute Mensch ist der ingebume Sohn Gottes, den der Vater eweclyken geburen hat. Ick sprecke nüt, daß alle Kreaturen s)m etwas kleines, oder daß sie etwas sind, sondern daß sie sind om, (nihil). Es ist etwas in der Seelen, das nüt geschaffen ist - und ungescheffelik; und das ist die Vernünftigkeit. Gott ist noch gut, noch besser, noch allerbest, und ich thue also unrecht, wenn ich Gott gut heisse, rechte ase ob ick oder er etwas wiz weiß, imd ich es schwarz heisse. Der Vater gebiret nock sinen Sohn, und denselben Sun. Want was Gat wirket, das ist ein, durch das so gebirt er auch sinen Sun an allen Unterscheid (idcirco gignit ßlium suum sine omni divisione). Was die heilige Schrift gesprichet von Christo, das wird aUes vor war geseit von jiglichen gottUcken Menschen. Was eigen ist der gottlicken Naturen, das ist alles eigen einem jiglichen gottlicken Menschen." - Die Stelle stammt aus Mosheim: Histor. eccl., saec. Xin, pars ü, caput V § 10, S. 552 Fußnote. Hegel exzerpiert den bei Mosheim mitgeteilten altdeutschen Text unter Auslassung der lateinischen Version der BuUe, die bei Mosheim mit der deutschen Version abwechselt. Nicolin datiert das Exzerpt als „kiuz vor oder während der Arbeit am Leben Jesu (Mai - Juli 1795) geschrieben" (GW. Bd 3.293). 18 Es handelt sich in der Reihenfolge, in der Mosheim sie anführt imd Hegel sie exzerpiert, um die Artikel (20) 21,26, Appendix 1 und 2, dann Artikel 22 und 12 der am 27. März 1329 in Avignon verkündeten BuUe. Daß es sich bei den von Hegel exzerpierten Sätzen um Sätze Eckharts handelt, ist den Herausgebern Hegels entgangen, nicht jedoch Josef Quint, dem Herausgeber der Deutschen Werke Eckharts: vgl. seine Vorbemerkung zu seiner Edition von Predigt 24 in: Meister Eckharts Predigten. Deutsche Werke. Bd 1. Stuttgart 1958. 412 f; Quint weist (413) auch auf das Exzerpt Hegels hin. - Die Behauptung von Rosenkranz: „Schon am Ausgang der Schweizerperiode finden sich unter Hegel's Papieren Exzerpte von Stellen aus Meister Eckhart und Tauler" (R102) ist wohl mit Nicolin (GW. Bd 3.193) zumindest auch auf dieses Exzerpt zu beziehen. - Zum Zusammenhang der Beginen und Begarden mit Eckhart vgl. K. Ruh: Meister Eckhart und die Spiritualität der Beginen. In: Perspektiven der Philosophie. 8 (1982), 323-334. Ders.:Meister Eckhart. Theologe, Prediger, My-

§ 1. Erste Begegnungen

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Sätze enthalten die für Eckhart zentrale Lehre von der Unerschaffenheit und Unerschaffbarkeit der Vernunft und ihrer Untrennbarkeit von ihrem göttlichen Grund, dem bestimmtmgslosen Etnen.^® Eckhart folgert hieraus, jeder gute, also moralisch und intellektuell vollkommene Mensch sei kraft seiner unerschaffenen Vernunft der eingeborene Sohn Gottes und die Aussagen der Bibel und des christologischen Dogmas über den Sohn Gottes und die Menschwerdung Gottes sowie über die Einheit von Gottvater und Gottsohn seien als Aussagen über den Menschen als moralisches Vemunftwesen zu verstehen, dessen Aufgabe die Gottwerdung durch moralische und intellektuelle Vervollkommnung ist. Eckharts Lehre berührt sich in diesem Punkt auffallend mit Kants Religionsphilosophie, speziell mit Kants Lehre von dem personifizierten Ideal des Guten Prinzips-^° Eckhart unterscheidet sich von Kant aber darin, daß er die Verwirklichung moralischer und intellektueller Vollkommenheit und die Transformation des Menschen in die göttliche Vernunft ausdrücklich für möglich erklärt, sie also nicht wie Kant nur für ein anzustrebendes, aber unerreichbares Ideal hält. Diese Übereinstimmimg mit Kant, die Hegel aufgefallen sein muß, ist wohl auch der Grund dafür, daß er sich die Sätze aus Mosheim exzerpierte; denn Hegel war damals in Bern noch Kantianer, und er deutete in seinen damaligen religionsphilosophischen Entwürfen den Glauben an Christus von Kant her als Glauben an ein personifiziertes Ideal.^^ In dem von 1795/96 stamstiker. München 1985.95-114. Zum Hintergrund vgl. auch!?. E. Lemer: TheHeresyoftheFree Spirit in the Later Middle Ages. Berkeley 1972. 19 Eckhart verbindet damit die Aristotelischen Lehren vom aktiven Nous, der als solcher göttlich und zugleich als Denkprinzip in jedem Denkenden anwesend ist (De an. III5), und von der Erfüllung der menschlichen Glückseligkeit durch Mitvollzug des Lebens des göttlichen Nous im bios theoretikos (NE X 7-8) mit der auf dem Hintergrund der neuplatonischen Nouslehre zu verstehenden Lehre des Boethius (De consolatione philosophiae m, pr. 10, 85-95), da die Glückseligkeit mit der Gottheit selbst identisch sei, werde der Mensch durch Erlangen der Glückseligkeit Teilhaber der Gottheit und damit selber Gott (bes. 93-95: „Omnis igitur beatus deus. Et natura quidem unus; participatione vero nihil prohibet esse quam plurimos"). 20 Vgl. I. Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. 1. Abschnitt, (a) Personifizierte Idee des Guten Prinzips {Werke. Hrsg, von W. Weischedel. Bd 4. Darmstadt 1963). Bes. 712 f: „Das, was allein eine Welt zum Gegenstände des göttlichen Ratschlusses und zum Zwecke der Schöpfung machen kann, ist die Menschheit (das vernünftige Weltwesen überhaupt) in ihrer moralischen Vollkommenheit... Dieser allein Gott wohlgefällige Mensch ,ist in ihm von Ewigkeit her'; die Idee desselben geht von seinem Wesen aus; er ist insofern kein erschaffenes Ding, sondern sein eingeborener Sohn, ,das Wort' (das Werde!), durch welches alle anderen Dinge sind... ,in ihm hat Gott die Welt geliebt' und in ihm und durch Annehmung seiner Gesinnungen können wir hoffen, ,Kinder Gottes zu werden'." 21 Vgl. etwa GW. Bd 1.160 und f; vgl. auch GW. Bd 1.148 ff. - Zum Kontext von Hegels Berner Denken vgl. M. Bondeli: Hegel in Bern. Bonn 1990.

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1. Kapitel: Der Neuplatonismus in Hegels Entwicklung

menden Entwurf, dem Nohl den Titel: Die Positivität der christlichen Religion gegeben hat, interpretiert Hegel die auf Eckhart zurückgehende Lehre der Begarden ausdrücklich im Sinne der Kantischen Lehre vom personifizierten Ideal, wenn er die „Beginen bei Mosheim" als Beispiel dafür nennt, daß es im Verlauf der Kirchengeschichte immer wieder Menschen geben mußte, die in der kirchlichen Legalität und der kirchlichen Form der Askese, also in der positiv gewordenen Religion, „die Forderungen ihres eigenen Herzens nicht befriedigt fanden und sich befähigt fühlten, ein Gesetz der Moralität sich zu geben, das aus Freiheit hervorginge."“ Auch Hegels berühmtes Diktum: „Außer früheren Versuchen bheb es unseren Tagen vorzüglich aufbehalten, die Schätze, die an den Himmel verschleudert worden sind, als Eigentum der Menschen, wenigstens in der Theorie, zu vindizieren",“ enthält mit dem Hinweis auf „frühere Versuche" einen deutlichen Verweis auf die mystische Lehre Eckharts und der Begarden. - Von dieser Eckhartschen Mystik aus, die dem Menschen die Fähigkeit zur Transformation in die Natur Gottes durch intellektuelle und moralische Vervollkommnung zuspricht, kritisiert Hegel wenig später im Geist des Christentums Kants Deutung des Gebots der unbedingten Gottes- und Nächstenliebe als eines Ideals der Heiligkeit, das von keinem Menschen erreicht werden kann. Denn nach Kant ist der Mensch als endliches Vermmftwesen oder als „vernünftiges Geschöpf" nur fähig zu fallen, aber unfähig, das Ideal zu erreichen; - wenn Hegel in seiner Kritik hieran bemerkt, Kants Formulierung vom „vernünftigen Geschöpf" sei eine „sonderbare", eigentlich in sich widersprüchliche „Zusammenstellung",^^ so setzt er dabei ganz offensichtlich Eckharts Lehre von der Unerschaffbarkeit der Vernunft voraus. Gerade diese Kant-Kritik beweist aber, daß Hegel jene Lehre auch noch in Frankfurt im Lichte der Kantischen Moralphilosophie versteht, welche die Würde und Gottförmigkeit des Menschen in seiner moralischen Selbstgesetzgebung aus Freiheit begründet sieht; Hegel dürfte die These Eckharts von der Unerschaffenheit und Gött22 GW. Bd 1.349 mit Fußnote. 23 GW. Bd 1.372. - Unmittelbar vorher erwähnt Hegel Porphyrios und Jamblich, die „ihre Götter mit einem Reichtum, der das Eigentum der Menschen nicht mehr war," ausstatteten, um „dann von ihnen durch Zaubereien einen Teil davon als Geschenk zurückzuerhalten." Im Hintergrund könnte eine ähnliche Aussage bei Edward Gibbon stehen, dessen berühmte History of the Decline and Fall of the Roman Empire Hegel in Bern eifrig studierte. Vgl. E. Gibbon: V^all und Untergang des Römischen Reiches. Gekürzte Ausgabe von D. A. Saunders in der Übersetzung von J. SporschU (1837). Hrsg, von H. M. Enzensberger. Nördlingen 1987.195. Gibbon nennt hier allerdings nur Porphyrios, nicht Jamblich. 24 Vgl. TWA.Bd 1.325.

§ 1. Erste Begegnungen

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lichkeit der Vernunft darum damals so gedeutet haben, daß in ihr die beiden Kantischen Postulate der praktischen Vernunft, die Ideen von Gott und der Freiheit, vereinigt sind. Dadurch erscheint auch die Feststellung zu Anfang des sogenannten Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus in einem neuen Licht, daß „die ganze Metaphysik künftig in die Moral fällt", ist doch auch sie mit der kritischen Bemerkung verbunden, daß Kant mit seinen Postulaten „nur ein Beispiel gegeben, nichts erschöpft“ habe.^ Außer durch derartige indirekte Einflüsse hatte Hegel jedoch schon frühzeitig auch direkten Zugang zu Schriften antiker Platoniker. In der von 1800 stammenden Neufassung des Anfangs der Positivitätsschriß spricht Hegel von der „Aufhellung des Judentums durch schönere Blüten der tieferen menschlichen Natur im PlatonismusGemeint ist mit Sicherheit Philon von Alexandria, den Hegel seit seiner Studienzeit im Tübinger Stift kannte. Denn Hegels damaliger Zimmergenosse und enger Freund Schelling zitiert in seiner 1792 - also noch während der gemeinsamen Studienzeit mit Hegel - entstandenen Magisterdissertation De malorum origine aus Phiions Leben des Moses'Ä^ es ist darum sehr wahrscheinlich, daß auch Hegel zumindest diese Schrift Phiions bereits in Tübingen gekannt hat. Wir wissen ferner aus den Themen der Dissertationen und Specimina der Stiftler, daß die Beschäftigung mit Philon zu Hegels Studienzeiten im Tübinger Stift offenbar durchaus üblich war.^® - In seinen späteren Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie 25 TWA. Bd 1.234. Vgl. zur Kantrezeption K. Düsing: Die Rezeption der Kantischen Postulatenlehre in den frühen philosophischen Entwürfen Schellings und Hegels. In: Das älteste Systemprogramm. Hrsg, von R. Bubner. Bonn 1973.53-90. - Zu Hegels damaliger Kantkritik vgl. A. Peperzat Lejeune Hegel et la vision morale du monde. 147-161. K. Düsing: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. 39 ff. C. Cesa: Tra Moralität und Sittlichkeit. Sul confronto di Hegel con laßlosofia di Kant. In: Hegel interprete di Kant. Hrsg, von V. Verra. Neapel 1981. Bes. 153-162. 26 TWA. Bd 1.227. Eine ähnliche Formulierung findet sich bereits in der ersten Fassung der Positivitätsschriß: „Bekanntschaft mit fremden Nationen lehrte einige [sc. Juden] die schöneren Blüten des menschlichen Geistes kennen" (GW. Bd 1.283). 27 Vgl. Schelling: Werke. Bd 1. Hrsg, von W. G. Jacobs,]. Jantzen und W. Schieche. Stuttgart 1976. 68, 73. - Schelling zitiert Philon: De vita Mosis I 23-24. - Schelling benutzte vermutlich die Frankfurter Folio-Ausgabe von 1691, auf die auch Hegel später verweist (TWA. Bd 19.419). 28 1788 verfaßte Magnus Friedrich Zeller eine Arbeit In librum Philonis de mundi opißcio annotationes; sicher auf Philon verweisen auch die Arbeiten von Karl Heinrich Gros: De philosophia Mosaica (1785) und von Gotthold Friedrich Christian Moerz: Super Philosophia Mosis de Deo (1788). Vgl. W. G. Jacobs: Zwischen Revolution und Orthodoxie? Schelling und seine Freunde im Süß und an der Universität Tübingen. Texte und Untersuchungen. Stuttgart-Bad Cannstatt 1989.259,271,274.

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1. Kapitel; Der Neuplatonismus in Hegels Entwicklung

und über die Philosophie der Religion erweist sich Hegel als exzellenter Philon-Kenner.^® Hegel gehörte ferner schon im Tübinger Stift zusammen mit Hölderlin imd anderen zu den Subskribenten einer Plutarch-Ausgabe;^ aus Plutarchs philosophischen Schriften, besonders aus den Abhandlungen Über Isis und Osiris, Über die Erschaffung der Weltseele in Platons Timaios imd Über das E in Delphi kormte Hegel wesentliche philosophische Positionen des den eigentlichen Neuplatonismus vorbereitenden mittleren Platonismus kennenlemen, außerdem wichtige Lehrstücke der Alten Akademie, die Plutarch referiert, - speziell für Xenokrates ist Plutarch die wichtigste Quelle?' Ein (fast) wörtliches Zitat aus Plutarchs Schrift Über Isis und Osiris findet sich in der Einleitungspassage des Fragments Der Geist des Christentums von 1798/99?^ Da Schelling Plutarchs De Iside bereits in De malorum origine zitiert,^ ist es sehr wahrscheinlich, daß auch Hegel diese Schrift bereits in Tübingen kannte. Eine dritte und in der bisherigen Forschung völlig imbeachtet gebliebene (Quelle, durch die der junge Hegel wahrscheinlich bereits seit 29 Vgl. TWA. Bd 19.418-425,426,428,445 f, 524; Bd 17.237 ff und GW. Bd 17.228 f. 30 Vgl. Briefe von und an Hegel. Bd 4, T. 1.48 f; ferner U. Hötzer: Hölderlin als Subskribent auf eine Plutarch-Ausgabe. In: Hölderlin-Jahrbuch. (1950), 120-126. - Die Plutarch-Ausgabe ist im Versteigerungskatalog von Hegels Bibliothek als Nr. 470-483 aufgeführt; es handelt sich um die von /. G. Hutten zwischen 1791 und 1804 in 14 Bänden herausgegebene Tübinger Ausgabe: Plutarchus Chaeronensis Quae supersunt omnia. Cum adnotationibus variorum adjectaque lectionis diversitate. 31 Vgl. dazu immer noch R. Heinze: Xenokrates. Darstellung der Lehre und Sammlung der Fragmente. Leipzig 1892 (Nachdr. Hildesheim 1965); ferner H. ]. Krämer: Der Ursprung der Geistmetaphysik. 93 ff. - Zmn Mittelplatonismus vgl. die ausgezeichnete Gesamtdarstellung von /. M. Dillon: The Middle Platonists. 89 B. C. to A. D. 220. London 1977.2., erw. Aufl. Ithaca, New York 1996 (instruktiv auch Dillons kritische Würdigimg der neueren Forschung zum Mittelplatoiüsmus im Nachwort 1996; 422-452). Vgl. ferner den Sammelband: Der Mittelplatonismus. Hrsg, von C. Zintzen. Darmstadt 1981 sowie die kommentierte Testimoniensammlung von H. Dörrie und M. Baltes: Der Platonismus in der Antike. Bd 4. Stuttgart-Bad Caimstatt 1996. 32 Vgl. TWA. Bd 1. 283 Fußnote: „Die Priester der Kybele, der erhabenen Gottheit, die alles ist, was ist, was war und was sein wird, und ihren Schleier hat kein Sterblicher aufgedeckt, - ihre Priester waren verschnitten, an Leib und Geist entmaimt." Bis auf die Verwechslung von Isis mit Kybele entspricht diese Charakterisierung der Göttin genau Plutarch: De Iside 354 C. Die beiden Göttinnen sind leicht zu verwechseln, beider Priester waren verschnitten. Isis wird von Plutarch als die Weltseele gedeutet: vgl. De Iside 372 A, 375 C, 376 B und dazu H. J. Krämer: Der Ursprung der Geistmetaphysik. 95 f. Zu der ausgebreiteten Rezeption von Plutarchs Isis-Deutung in der Goethezeit vgl. Chr. Harrauer: „Ich bin, was da ist..." Die Göttin von Sais und ihre Deutung von Plutarch bis in die Goethezeit. In: Wiener Studien. 107 (1994), 337-355. 33 Vgl. Schelling: Werke. Bd 1.73. Schelling zitiert dort Plutarch: De Iside 354 BC, und zwar noch nach der alten Ausgabe des Henricus Stephanus von 1572.

§ 1. Erste Begegnungen

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seiner Tübinger Zeit direkten Zugang zum antiken Platonismus hatte, ist die Praeparatio Evangelica des Bischofs Eusebios von Cäsarea. Diese Schrift des gelehrtesten unter den griechischen Kirchenvätern ist nämlich nicht nur eine ungeheuer reichhaltige Fundgrube an historischen und religionsgeschichtlichen Informationen, sondern sie enthält vor allem auch eine Fülle von Exzerpten aus philosophischen Texten, vor allem seitenlange wörtliche Auszüge aus Platon und platonischen Autoren, darunter Philon, Plutarch, Attikos, Numenios, Plotin, Amelios und Porphyrios. Hegel konnte somit aus Eusebios in erheblichem Umfang mittel- und neuplatonische Texte kennen, darunter den größten Teil der Fragmente des wohl bedeutendsten Mittelplatonikers Numenios, die bei Eusebios erhalten sind.^ Hegel zitiert die Praeparatio Evangelica gleich zu Anfang des Fragments Der Geist des Christentums. Hegel bringt dort die biblische Geschichte von Noah und der Sintflut in einen Zusammenhang mit der von Flavius Josephus berichteten Geschichte von Nimrod, der Josephus zufolge der Erbauer des Turms von Babylon war.^^ An dieser Stelle ergänzt Hegel die Angabe des Josephus durch den Hinweis: „nach einer anderen Sage, EupoUemos] bei Eusebios, sollen von der Flut selbst Übriggebliebene den Turm gebaut haben. Der Verweis auf Eupolemos, einen jüdischhellenistischen Historiker der Mitte des 2. Jahrhunderts vor Christus, der ein bei Eusebios und Clemens von Alexandrien fragmentarisch erhaltenes Buch Über die Könige in Judäa geschrieben hat, führt auf eine Stelle der Praeparatio Evangelica,an der Eusebios sich für diese Nachricht über den Turmbau auf den ihm nur indirekt, nämlich aus Alexander Polyhistor (um 100 v. Chr.) bekarmten Eupolemos beruft; in Wirklichkeit stammt die Nachricht jedoch von einem samaritanischen Historiker und wurde von Alexander irrtümlich Eupolemos zugeschrieben.^ - Sehr wahrscheinlich hat Hegel die Praeparatio Evangelica des Eusebios nicht erst in Frankfurt, sondern schon im Tübinger Stift kennengelemt. Denn Schelling zitiert sie in De malorum origine mehrfach, und da er weit auseinanderliegende Stellen aus verschiedenen Büchern 34 Vgl. dazu E. des Places: Numinius et Eusebe de Cisaree. In: Studia Patristica. 13 (1975), 19-51. 35 TWA. Bd 1.274 ff. Hegel zitiert dort (275) Josephus: Antiquitates 14. 36 TWA.Bd 1.276. 37 Eusebios: Praep. ev. IX17. Hegel verweist selber in einer Fußnote (TWA. Bd 1.276) auf diese Stelle. 38 Vgl. P. Dahlbert: Die Theologie der hellenistisch-jüdischen Missionsliteratur. Hamburg 1954.35-42.

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1. Kapitel; Der Neuplatonismvis in Hegels Entwicklung

der Praeparatio zitiert, dürfen wir armehmen, daß er sie aus eigener Lektüre kannte.^® Schelling zitiert dabei ebenfalls ein Eupolemos-Exzerpt des Eusebios, in dem Eupolemos behauptet, Moses habe in Ägypten die Hieroglyphenschrift gelernt;^ - offenbar waren die Eupolemos-Exzerpte bei Eusebios also für Schelling ebenso wie später für Hegel eine gerne benutzte Quelle für die alte jüdische Geschichte. Keine Informationen über nüttel- imd neuplatonische Philosophie enthält dagegen die berühmte Schrift Hepl utpouq, die damals als Werk des Platonikers Longinos galt und die Hegel als Gymnasiast 1786/87 übersetzt, also sehr frühzeitig gekannt hat.^^ Wahrscheinlich stammt diese Schrift jedoch aus der ersten Hälfte des 1. nachchristlichen Jahrhunderts - ist also zwei Jahrhunderte älter als Longinos (ca. 210-273) -, und ihr Inhalt ist rein literarästhetisch, nicht philosophisch: es geht um die Bestimmimg und die Merkmale literarischer Größe.^ - Bevor wir uns den durch Philon und Eusebios vermittelten Spuren mittel- und neuplatonischer Metaphysik beim Frankfurter Hegel zuwenden, sei mm vorab die theologische und philosophische Position des Eusebios in ihrem Verhältnis zum Mittelplatonismus, insbesondere zu Numenios, skizziert.

39 Vgl. Schelling: Werke. Bd 1. 67, 68, 73, 77. - Schelling zitiert Praep. ev. IX 26 und 110. Schelling zitiert die Praeparatio in der Kölner Ausgabe von 1688; es handelt sich dabei um die Neuauflage der zuerst 1628 in Paris erschienenen Ausgabe von F. Vigier. Diese Ausgabe dürfte auch Hegel benutzt haben. * Schelling: Werke. Bd 1. 67 und 68 zitiert Eupolemos bei Eusebios: Praep. ev. IX 26. - Die andere von &:helling zitierte Stelle Praep. ev. 110 enthält das berühmte Exzerpt aus Philon von Byhlos, in dem dieser die Kosmogonie des angeblichen phönizischen Weisen Sanchunjaton übersetzt, die Ähnlichkeiten sowohl zu Hesiods Theogonie als auch zu dem altbabylonischen Weltschöpfungslied Enuma elisch und dem Schöpfungsbericht der Genesis aufweist. - Hegel hat sich offenbar zumindest später für Sanchimjaton interessiert, er zitiert Teile von dessen Kosmogonie TWA. Bd 18.107. Eine Verbindung Sanchunjatons nicht nur mit Hesiod, sondern vor allem mit Anaximander sieht U. Hölscher: Anaximander und die Anfänge der Philosophie, ln: Um die Begriffswelt der Vorsokratiker. Hrsg, von H. G. Gadamer. Darmstadt 1968.95-176, bes. 139 ff; vgl. auch ders.: Anfängliches Fragen. Studien zur frühen griechischen Philosophie. Göttingen 1968. 41 Vgl. R10; GW. Bd 1.414; vgl. dazu ebd. 30. 42 Vgl. M. Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles, Horaz, „Longin". 2. Aufl. Darmstadt 1992.162-202. - Die falsche Zuschreibimg an Longin ist durch eine Notiz Aiovuaiou ii AoYyivon auf fol. 1 v der HSS bedingt.

§ 2. Eusebios und der Mittelplatonismus

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§ 2. Eusebios und der Mittelplatonismus Der wohl um 260 bis 265 geborene Eusebios war Schüler und Sekretär des Presbyters Pamphylos, der in Cäsarea die umfangreiche - angeblich 30 000 Buchrollen umfassende - Bibliothek des Kirchenvaters Origenes verwaltete. Dieser Bibliothek verdankte Eusebios seine vielseitige Belesenheit, die insbesondere auch die Vertrautheit mit der mittel- und neuplatonischen Literatur einschloß,^^ - war doch Origenes der eigentliche Begründer der patristischen Synthese von Platonismus und Christentum, von dessen Konzepten die für die christliche Dogmatik grundlegenden theologischen Auseinandersetzungen des 4. Jahrhunderts ausgingen und von denen sie in starkem Maße bestimmt blieben. Bekannt ist Eusebios als Verfasser einer umfangreichen Kirchengeschichte und einer extrem triumphalistischen Biographie Konstantins des Großen; ferner geht auf Eusebios das politisch-theologische Konzept des Heiligen Römischen Reiches zurück, das als der Vorschein des Reiches Gottes auf Erden den Antichrist und das Weitende aufhält.“*^ Auf dem Konzil von Nikäa stand Eusebios, der seit 313 Bischof von Cäsarea war, der arianischen Minderheit nahe, deren subordinative Auffassung des Verhältnisses von Gott-Vater und Gott-Sohn bzw. göttlichem Logos er teilte.^® Die in den Jahren vor dem Konzil entstandene Praeparatio Evangelica dient dem Nachweis, daß die geoffenbarte Wahrheit des Evangeliums nicht nur durch das Judentum und das Alte Testament, sondern durch die gesamte vorchristliche Religionsgeschichte vorbereitet ist, deren Mythen Eusebios mit den Mitteln der mittel43 K. Mras schreibt in der Einleitung zu seiner Ausgabe: Eusebius Pamphili: Praeparatio Evangelica. 2 Bde. Berlin 1954/56. Bd 1. LVll f über die bischöfliche Bibliothek von Cäsarea: „ln dieser fehlten zwar Tragiker, Komiker und Lyriker, desgleichen wohl auch die Originalschriften der Stoiker imd Epikureer, dafür aber war sie sehr reich an Werken der Historiker und späterer Platoniker." - Zu Eusebios' ausgebreiteter Kenntnis des Platonismus könnte auch der gelehrte Aristoteles-Kommentator Anatolios, der Schüler des Longinos und erste Lehrer Jambüchs, beigetragen haben, der 270 Bischof von Cäsarea wurde. 44 Über Eusebios als Historiker, sein Verhältnis zu Konstantin und sein geschichtstheologisches Konzept vgl. T. D. Barnes: Constantine and Eusebios. Cambridge Mass. 1981. Zur politischen Theologie des Eusebios ist wichtig E. Peterson: Der Monotheismus als politisches Problem, ln: Ders.: Theologische Traktate. München 1951.45-147. Vgl. ferner W. Kinzig: Novitas Christiana. Die Idee des Fortschritts in der Alten Kirche bis Eusebios. Göttingen 1994. F. Winkelmann: Eusebios. Berlin 1991. 45 Zur Theologie des Eusebios vgl. H. Berkhof: Die Theologie des Eusebios von Caesarea. Amsterdam 1939. A. Weber: APXH. Ein Beitrag zur Christologie des Eusebios von Cäsarea. Rom 1965. H. Strutwolf: Demonstratio evangelica. Die Trinitätstheologie und Christologie des Eusebios und die Auseinandersetzung mit dem Platonismus in seiner apologetischen Theologie. Habil.Schrift Münster 1996.

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1. Kapitel: Der Neuplatonismus in Hegels Entwicklung

platonischen Allegorese deutet.“*^ Das Christentum ist für Eusebios aber mcht nur der legitime Erbe der Weisheit der Juden sowie der Ägypter, Babylonier, Meder, Perser und Brahmanen, sondern darüber hinaus auch der griechischen Philosophie, speziell von deren göttlich inspiriertem Teil, dem Platonismus, dem Eusebios im Anschluß an Philon von Alexandria einen hebräischen Ursprung unterstellt, da Platon mit seiner Ideenlehre wie nüt seinem Seins- und Gottesbegriff von Moses abhängig sein soll;'*^ dem Nachweis der Übereinstimmung des Platonismus mit der vermeintlichen „Philosophie der Hebräer" und der Priorität der letzteren dient das ganze 11. Buch der Praeparatio, in dem sich die meisten und wichtigsten der Platonikerexzerpte bei Eusebios finden, die in diesen apologetischen Kontext gehören.'** Eusebios nennt Platon denn auch mit Numenios „einen attisch redenden Moses'"*® und nimmt mit Clemens und Origenes die inhaltliche Übereinstimmung von philosophischer und geoffenbarter religiöser Wahrheit an, und zwar in der Weise, daß die wahre Bedeutung der Offenbarung beider Testamente durch die wahre und das bedeutet: die platonische Philosophie zu explizieren sei - er faßt also die Gleichsetzung von vera phüosophia und vera religio von Seiten der Philosophie aus.*** Der von Eusebios hauptsächlich in seinen mittelplatonischen Ausformungen rezipierte *6 Zur Charakterisierung der Praeparatio vgl. die Einleitung von K. Mras zu seiner Ausgabe (s. Anm. 43). - Die Hauptvertreter der allegorischen Mythendeutung, die in den Mythen eine symbolische Verhüllung oder „Verrätselung" metaphysischer Wahrheiten sieht, sind Philon, Plutarch und Numenios. Vgl. zu ihrer Mythenallegorese L. Brisson: Einführung in die Philosophie des Mythos. Bd 1: Antike, Mittelalter und Renaissance. Darmstadt 1996.78-99. *7 Vgl. bes. Eusebios: Praep. ev. VH 8,38-40; XI proem.; XI1; XI9; XI12-14; ferner IX 7,1 (Numenios: Fr. 1 a des Places), wo sich Eusebios für die Übereinstimmung von Platon und „Pythagoras" mit der Weisheit der „berühmten Völker" (Tö eOvT) tä EÜÖoxiiioijvTa) des Alten (Ments auf Numenios beruft. Zu dieser „orientalischen Spiegelung" vgl. C. Colpe: Heidnischer und christlicher Hellenismus in ihren Beziehungen zum Buddhismus. In: Jahrbuch für Antike und Christentum. Erg.-Bd 11 (1984), 57-81. ^ Zu diesem Umgang mit dem philosophischen und religiösen Erbe der Antike vgl. Chr. Gulka: XPH2I2. Die Methode der Kirchenväter im Umgang mit der antiken Kultur. Bd 1: Der Begriff des „rechten Gebrauchs". Basel, Stuttgart 1984. ■*9 Numenios: Fr. 8 des Places bei Eusebios: Praep. ev. XI10,10. Vgl. dazu /. Whittaker: Moses Atticizing. In: Phoenix. 21 (1967), 196-201. 50 Zum Platonismus bei Eusebios vgl. A. Dempf: Der Platonismus des Eusebios, Victorinus und Pseudo-Dionysius. München 1962. F. Ricken: Die Logoslehre des Eusebios von Caesarea und der Mittelplatonismus. In: Theologie und Philosophie. 42 (1967), 341 -358. Ders.: Zur Rezeption der platonischen Ontologie bei Eusebios von Kaisarea, Areios und Athanasios. In: Theologie und Philosophie. 53 (1978), 321-352. H. Dörrie: Die andere Theologie. Wie stellten die frühchristlichen Theologen des 2.-4. Jahrhunderts ihren Lesern die „Griechische Weisheit" (= den Platonismus) dar? ln: Theologie und Philosophie. 56 (1981), 1 -46, bes. 31 -40.

§ 2. Eusebios und der Mittelplatonismus

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Platonismus als Hermeneuticum der Offenbarung bewährt sich nach Eusebios insbesondere an den folgenden Punkten: 1. der Erschaffung der sichtbaren Welt durch einen transmimdanen Schöpfergott, den Demiurgen, wobei Eusebios abweichend von der mittel- und neuplatonischen Orthodoxie die mythische Weltschöpfung des Platonischen Timaios mit Philon imd Plutarch als einmaligen realen Schöpfungsakt, ja sogar mit Attikos als zeitlichen Vorgang deutet;^^ 2. der ontologischen Abhängigkeit der veränderlichen Welt des Werdens tmd Vergehens vom intelligiblen Sein der unveränderlich seienden Ideen, die Eusebios mittelplatonisch als die Gedanken des weltbegründenden Gottes faßt; 3. der Unsterblichkeit und Geistigkeit der Seele und ihrer Wesensverwandtschaft mit Gott; 4. der unaussprechlichen Transzendenz des höchsten Gottes, der das seinsbegründende Gute und Eine und zugleich das allein wahrhaft Seiende ist, wobei Eusebios mit den meisten Mittelplatonikern das höchste Prinzip Platons, das Gute selbst, mit dem „Schöpfer und Vater des Alls" aus dem Timaios (28 C) gleichsetzt; 5. der Ansetzung des göttlichen Logos als eines zwischen dem transzendenten Ersten Gott und der Welt vermittelnden zweiten Prinzips und zweiten Gottes, der als das eigentlich schöpferische Prinzip in der Welt ordnend wirksam und anwesend ist, von Eusebios also ganz im Sinne der Weltseele Platons und der Platoniker gedeutet wird.“

51 Vgl. Eusebios: Praep. ev. XI29; zur zeitlichen Gewordenheit des Kosmos zitiert Eusebios XV 6,1 -17 einen langen Passus aus Attikos, in dem dieser die vermeintlich Platonische Lehre von der zeitlichen Erschaffung der Welt gegen die Aristotelische Lehre von der zeitlichen Anfangslosigkeit der Welt verteidigt. Zur Weltentstehungslehie von Philon, Plutarch und Attikos und zu ihrer Tinwios-Deutung vgl. M. Baltes: Die Weltentstehung des Platonischen Timaios nach den antiken Interpreten. Teil 1. Leiden 1976.32-63; speziell zu Attikos ders.: Zur Philosophie des Platonikers Attikos. In: Jahrbuch für Antike und Christentum. Erg.-Bd 10 (1983), 38-57. 52 Vgl. im einzelnen die zahlreichen Belege bei F. Ricken: Die Logoslehre des Eusebios von Caesarea. 343-353, der vor allem die beiden letzten Punkte als zentral hervorhebt, in denen Eusebios mit dem mittelplatonischen Hypostasensystem übereinstimmt; vgl. auch Rikkens Resümee: „Wir finden in der Theologie des Eusebios von Caesarea ein System vor, das einen obersten, transzendenten, die Ideen denkenden Gott keimt, dem ein zweiter Gott zugeordnet ist, der zwischen dem jenseitigen Gott und der gestaltlosen Materie vermittelnd diese durchdringt, formt tmd ordnet. Es zeichnen sich also in der Theologie des Caesarensers die Grundlinien der mittelplatonischen Hypostasenlehre ab. Ihre Anwendung auf das christliche Vater-Sohn-Verhältids bringt notwendig die Gleichsetzvmg von Logos und Weltseele nüt sich." (353 f). - Zur Gleichsetzung der Weltseele mit dem Logos oder nüt dem Heiligen Geist im christlichen Platonismus H. Ziebritzki: Heiliger Geist und

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1. Kapitel: Der Neuplatoidsmus in Hegels Entwicklung

Dem Nachweis der Übereinstimmung von Platonismus und Christentum in diesen Punkten dienen die Platorükerexzerpte im 11. Buch der Praeparatio. Außer den schon genannten Platonikem und (vermeintlich) mit ihren Lehren übereinstimmenden Bibelstellen (vor allem aus Genesis, Weisheitsliteratur und Johannesevangelium) zitiert Eusebios dort ausgiebig auch Platon selbst; dessen Autorität ist für Eusebios immerhin so groß, daß er das Sormengleichnis, speziell die Aussage über die Seinstranszendenz des Guten selbst iPoliteia 509 B) als Beleg gegen die Homoousie des Logos mit dem Ersten Gott anführt;^ denn wenn der Erste Gott fcnexeiva XTi(; o'öotaq ist, dann kann ihm nichts ö^oonoiov sein, auch nicht die von Eusebios an dieser Stelle nüt dem Logos gleichgesetzte voT|Tfi oöokx.®^ Auch die von Eusebios aus Plotins Schrift Über die drei ursprünglichen Hypostasen (Enneade V 1) zitierten Stehen sollen belegen, daß der Nous, für Eusebios der Logos xmd das zweite Prinzip, dem überseienden Einen selbst als dem ersten Prinzip mcht nur untergeordnet ist, sondern von ihm abhängt und aus ihm hervorgegangen ist; Eusebios zitiert daher gerade solche Stellen, an denen Plotin von dieser ontologischen Abkünftigkeit des Nous vom Absoluten spricht,®® darunter die berühmten Emanationsmetaphem aus V1,6, die Hegel offenbar besonders beeindruckt haben, wie seine Berliner Vorlesimgen beweisen.®® Eusebios' eigene Konzeption des Verhältnisses von Gott als erstem Prinzip, Logos als zweitem Prinzip vmd Welt entspricht mm im wesentlichen dem metaphysischen Stufensystem des Numenios.®^ Für diesen Weltseele. Zum Problem der dritten H)rpostase bei Origenes, Plotin und ihren Vorgängern. Tübingen 1994. 53 Vgl. Eusebios: Praep. ev. XI21,5. 54 Vgl. Eusebios:Praep. ev.Xlll,6-7. 55 V^. Eusebios: Praep. eu. XI17,1 -10 mit Zitat von Plotin: Enn. Vl,4,l-9;5,3-7;6,2744; 6,50-7,2; 8,1-14. 55 Vgl. Plotin: Enn. V1,6,27-44; zitiert bei Eusebios: Praep. ev. XI17,3-7. - Hegel zitiert diese Stelle ausführlich IWA. Bd 19.449. 57 Den Nachweis führte F. Ricken: Die Logoslehre des Eusebios von Caesarea. 354 ti. - Zur Bedeutung des Numenios als höchster Autorität in Sachen Platonismus bei Eusebios vgl. H. D. Saffrey: Un lecteur antique des oeuvres de Numinius: Eusibe de Cisaree. In: Forma futuri. Festschrift M. Pellegrino. Turino 1975.145-153. - Vgl. zu Numenios: R. Beutler: Numenios. In: RE. Suppl.-Bd VH (1940), 664-678. E. R. Dodds: Numenios und Ammonios (zuerst 1960). In: Der Mittelplatonismus. 488-517. H. J. Krämer: Der Ursprung der Geistmetaphysik. 63-92. /. H. Waszink: Porphyrios und Numenios (zuerst 1966). In: Die Philosophie des Neuplatonismus. Hrsg, von C. Zintzen. Darmstadt 1977.167-207. Ph. Merlan: Greek Philosophy from Plato to Plotinus. In: The Cambridge History of Later Greek and Early Medieval Philosophy. Hrsg von A. H. Armstrong. Cambridge 1967. 96-106. M. Baltes: Numenios von Apamea und der Platonische Timaios. In: VigiUae Christianae. 29 (1975), 241 -270. /. M. Dillon: The Middle Platonists.

§ 2. Eusebios und der Mittelplatonismus

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bedeutendsten Philosophen des mittleren Platonismus ist das transzendente erste Prinzip, das die Ideen begründet, sie aber zugleich als seine Gedanken in sich hat imd in ihnen offenbar sich selbst denkt, das Gute selbst und die Einheit (povdu;), zugleich aber auch das Sein selbst (aÖTOÖv) xmd der erste Nous.^® Dieser Erste Gott ist zufolge seiner Transzendenz ohne aktiven Weltbezug; der Demiurg, der den Kosmos nach dem Vorbild des Ersten Gottes und der in ihm enthaltenen Ideen gestaltet, ist für Numenios nur der Zweite Gott; dieser ist nicht mehr transzendent, sondern als Weltseele im geformten Kosmos anwesend und wirksam.^® Diese göttliche Weltseele ist nun „doppelgesichtig", gerichtet einmal auf den transzendenten Ersten Gott und zum anderen auf den Kosmos, den sie eint und formt;“ in ihrem Transzendenzbezug gewinnt sie ihre eigene Einheit, in ihrem Weltbezug dagegen wird sie gespalten imd tritt in den Zweiten und den Dritten Gott auseinander.^^ Der Dritte Gott aber ist der geformte Kosmos, insofern die göttliche Welt361 -379. /. Whittaker: Numenius and Alcinous on the First Principle. In: Phoenix. 32 (1978), 144-154. W. Deuse: Untersuchungen zur mittelplatonischen und neuplatonischen Seelenlehre. Mainz, Wiesbaden 1983. 62-80. M. Frede: Numenius. In: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt. T. 2. Bd 36/2. Berlin 1987.1034-1075. F. P. Hager: Gott und das Böse im antiken Platonismus. Würzbui^, Amsterdam 1987. 132-143. K. Alt: Weltflucht und Weltbejahung. Zur Frage des Dualismus bei Plutarch, Numenios, Plotin. Mainz, Stuttgart 1993. }. Halfwassen: Geist und Selbstbewußtsein. Studien zu Plotin imd Numenios. Mainz, Stuttgart 1994. 36-55. 58 Der Erste Gott, der zugleich das Gute selbst (Fr. 16,20 des Places) und das Eine (Fr. 19 des Places) ist, ist das Prinzip des Seins und der Ideen, das der Zweite Gott nur nachahmt: „Wenn das Sein und die Idee intelligibel sind, und weim ihr Geist zugestandenermaßen ursprünglicher als sie und ihr Grund ist, dann ist es allein dieser selbst, der als das Gute gefunden wird. Denn wenn der Schöpfergott (8T|HIOUQYö? Oeöq) das Prinzip des Werdens ist, genügt es, daß das Gute das Prinzip des Seins ist. E)er Schöpfergott aber steht zu dem Guten, das er nachahmt, in dem gleichen Verhältnis wie das Werden zum Sein, dessen Abbild und Nachahmung es ist. Wenn also der Schöpfer des Werdens gut ist, so muß zweifellos der Schöpfer des Seins das Gute selbst (ttürodYaOov) sein, da er nüt dem Sein zusammengewachsen ist (ovpqwrov rfj cröauf)." (Fr. 16 des Places bei Eusebios: Praep. eo. XI 22,3-5). 59 In der Forschung ist umstritten, ob Numenios neben dem Ersten Gott auch den Demiurgen für eine transzendente Wesenheit hält, was u. a. Dodds, Dillon und Frede annehmen, oder ob man mit Krämer, Deuse, des Places, Hager u. a. eine Transzendenz des Demiurgen bei Numenios verneint und diesen mit der Weltseele identifiziert; mir scheinen die Texte entschieden für diese zweite Lösung zu sprechen (vgl. Fr. 12: TöV 8T)(uoueYi’töv 8e 0eöv f|YepoveXv 8i’ oügavoü lövca. Fr. 15:6 8e Seiitegog reeplxa voT)Tä xal al^Tixd - was beides strenggenommen nur von der Weltseele gelten kann, vgl. Platon: Phaidr. 246 E; Tim. 34 B, 37 B f). 80 Vgl. Numenios: Fr. 12,15,16 des Places bei Eusebios: Praep. eo. XI18,6-10; 18,20-21; 22, 3-5. 81 Vgl. Numenios: Fr. 11, Z. 13 ff und Fr. 12, Z. 17 ff des Places bei Eusebios: Praep. eo. XI18, 3-5 und 10 und dazu H.}. Krämer: Der Ursprung der Geistmetaphysik. 71.

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1. Kapitel; Der Neuplatonismus in Hegels Entwicklung

Seele in üim gegenwärtig ist.“ Diesen Seinsaufbau übernimmt Eusebios weithin unverändert, ohne allerdings die Welt als Dritten Gott zu bezeichnen. Die Stellung des Logos bei Eusebios, der als öenxepo«; Beöq zwischen der Transzendenz Gottes imd der Welt vermittelt, entspricht jener der Weltseele bei Ntimenios.“ Dieses Verhältnis von Gott, Logos und Welt fand Eusebios biblisch im Prolog zum Johannesevangelium ausgesprochen. Der im Johannesprolog nicht erwähnte Heilige Geist tritt dagegen bei Eusebios ganz zurück, da er in dessen mittelplatonischem Hypostasensystem kaum unterzubringen ist.“ - Eine Eigentümlichkeit der Ontologie des Numenios, die gerade in den bei Eusebios erhaltenen Texten besonders stark hervortritt, liegt darin, daß er die Kontinuität im ontologischen Zusammenhang der einander subordinierten Seinsstufen betont und in ausdrucksstarken Bildern veranschaulicht; insbesondere der unzerstörbare Zusammenhang der Seele mit Gott wird dabei von Numenios prononciert.“

§ 3. Spuren mittel- und neuplatonischer Metaphysik in Hegels Frankfurter Schriften A. Das Absolute und seine mystische Erfassung Nach der Wiederbegegnung mit Hölderlin in Frankfurt (1797) konzipiert Hegel in Aufnahme und Weiterentwicklung der Vereinigungsphilosophie Hölderlins erstmals eine Metaphysik des Absoluten, die in Hegels Frankfurter Entwürfen eindeutig frühidealistischen Charakter hat. Hegel konzipiert das Absolute damals mit Hölderlin als das reine Sein und das reine Leben, das aller Mannigfaltigkeit der Welt und allen Trennungen und Entgegensetzungen der endlichen Reflexion als die

62 Vgl. Numenios: Fr. 21 d. PI.: 6 yÖLQ xdopoi; xat’ atxöv ö te TQITOI; SOTI 0eö-257 C; Tim. 30 C ff. Da jede Idee ihr bestimmtes Wesen aufgrund ihrer Inklusions- und Exklusionsbeziehimgen zu den anderen Ideen hat, an denen sie teilhat, die sie als ihre Unterarten in sich lunfaßt oder die sie von sich ausschließt, ergibt sich, daß die vollständige Bestimmung eines einzelnen Eidos strenggenommen die Explikation aller seiner positiven und negativen Beziehungen zu allen anderen Eide und Gene voraussetzt und sein Wesen damit durch seine Stellung im systematischen Beziehungsganzen aller Ideen derart bestimmt ist, daß dieses Ideenganze in jeder Idee gespiegelt und mitanwesend ist. Die gnoseologische Konsequenz, daß dann jede vollständige Definition die Erkeimtnis des Seinsganzen voraussetzt, hat Speusipp ausgesprochen: Fr. 38-44 Isnaidi Parente = Fr. 63 a-e Taran. Vgl. dazu /. Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen. 74,81 ff, 231 ff, 239 ff, 320,331 ff, 372-392. 109 TWA. Bd 18.126. 110 TWA. Bd 18.72.

§ 2. Der Neuplatonismus als Intellektualsystem

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d. h. die konkrete Gotteserkenntnis: „Gott, der Geist an und für sich ist, ist jetzt der Gegenstand, der absolute reine Geist in sich und dessen Tätigkeit in sich. Gott wird aber nun nicht mehr als das Abstrakte gewußt, sondern als das Konkrete in sich selbst, und dieses Konkrete ist eben der Geist. Gott ist lebendig, tätig in sich, das eine und das andere und die Einheit der unterschiedenen Bestimmungen; denn das Abstrakte ist nur das Einfache, das Lebendige hat aber den Unterschied in ihm selbst und ist darin doch bei sich."“' Hegel faßt damit treffend das Wesentliche des neuplatonischen Begriffs des Geistes zusammen, der als das seiende Eine (im Sinne der zweiten Hypothesis des Platonischen Parmenidesf^^ oder als die ursprüngliche Einheit des Seins sich in sich selbst unterscheidet, sich in die Vielheit der Ideen hinein entfaltet vmd darin Lebendigkeit ist, aber geistige, intellektuelle Lebendigkeit, die sich in der entfalteten Ideenvielheit als deren umgreifende und übergreifende Einheit selbst anschaut und so als Denken seiner selbst die in sich konkrete, erfüllte Einheit seiner selbst mit sich ist.“^ ln dieser Erkenntnis der „konkreten Natur"““' Gottes im Neuplatonismus erfaßt das Denken die reinen Wesenheiten und Wesensgründe alles Seienden - die Ideen - als göttliche, geistige und intelligible Welt in Gott selbst: „Auf diese Weise sind denn also die Bestimmungen, Besonderungen einerseits seine Bestimmungen, Ideen in ihm selbst, eigene Erzeugnisse in ihm, so daß das, was nachher endlich erscheint, noch in ihm selbst ist - die Welt in Gott selbst, also eine intellektuelle, göttliche Welt ... Darin, daß Gott als konkret vorgestellt wird, haben wir unmittelbar eine göttliche Welt in ihm selber."“^ Diese im Neuplatoiüsmus erreichte spekulative Erkenntnis der Idee als konkreter Totalität und Inbegriff alles Seienden und die Entfaltung ihrer Bestimmungen in einer idealen Intellektualwelt, einem xöojroq voT]TÖ(; der Ideen, in dem das Denken sein eigenes Wesen erkennt, unterscheidet sich nach Hegel von der neuzeitlichen Erkenntnis des AbTWA. Bd 19. 414. Vgl. 508: „Das Absolute als konkret gefaßt, Einheit der absolut unterschiedenen Bestimmungen, ist der wahrhafte Gott." Vgl. zu diesem Begriff von Gott schon die Nürnberger Rechts-, Pflichten- und Religionslehreßr die Unterklasse § 76 (TWA. Bd 4. 273). 112 Zur neuplatonischen Deutung der zweiten Hypothese und zu ihrer Affinität zu Hegels Logik vgl. W. Beienmltes: Das seiende Eine. In: Ders.: Denken des Einen. 193-225. 113 Dazu im einzelnen unten Kapitel V §§ 3-4. 114 Vorlesungen. Bd 8,166; TWA. Bd 19.416. 115 Vorlesungen. Bd 8.166 f; ebenso TWA. Bd 19. 416. Vgl. 414: „Diese ewige Ruhe des Geistes in sich selbst macht nun seinen Gegenstand aus... alles andere außer dem Geiste ist nur endlich und sich auflösend."

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2. Kapitel: Hegels Ortsbestimmung des Neuplatonismus

soluten als Geist aber noch dadurch, daß sie in der idealen, logischen Sphäre der Idee und des Allgemeinen bleibt: die neuplatonische Intellektualwelt bleibt in der Welttranszendenz der reinen Idee selber weltlos, sie ist - wie Hegel seine eigene Logik charakterisiert - „die Darstellung Gottes ... wie er in seinem ewigen Wesen vor Erschaffung der Natur imd eines endlichen Geistes ist".”® Was ihr nach Hegel noch fehlt, ist einmal das Moment der Realisierung in der Geschichte, die Bestimmimg des geschichtlich realen Subjekts zwr Einheit mit der Idee, und damit zugleich die unendliche imd freie Subjektivität als Prinzip der Philosophie: „Der Schluß der griechischen Philosophie in den Neuplatonikem ist ein vollendetes Reich des Gedankens, der Seligkeit, eine an sich seiende Welt der Ideale, die aber unwirklich ist, weil das Ganze nur im Elemente der Allgemeinheit überhaupt steht. Dieser Welt fehlt noch die Einzelheit als solche, die ein wesentliches Moment des Begriffs ist.'”” Die neuplatonische Philosophie ist „die zur Totalität entwickelte Idee; die Subjektivität, das imendliche Fürsichsein fehlt".”® Denn noch nicht in der Idee als der inteUigiblen Struktur der absoluten Subjektivität als solcher, sondern erst in ihrer geschichtlichen Realisierung in der existierenden, freien Subjektivität ist der absolute Geist als unendliches Anundfürsichsein realisiert; die absolute Idee als ursprüngliche, die Totalität aller reinen Bestimmimgen in sich enthaltende Einheit realisiert sich aber dadurch, daß sie sich in die Natur und den endlichen, den subjektiven wie den objektiven Geist als in ihre Erscheinungen teilt und aus dieser „Ur-teilung" wieder mit sich zusammenschließt in die wahrhaft unendliche, alles - die reine Idee und ihre Erscheinungen - umfassende Einheit, in der sie sich als absoluter Geist selbst erkennt und besitzt.”® Ferner fehlt dem Neuplatonismus, der das unbestimmbare, absolut transzendente Eine als das absolute Prinzip ansetzt, aus dem der

116 GW.Bdll.21;Bd21.34. 117 TWA. Bd 18. 126. Vgl. Bd 19. 511: „Denn eben dies hatte die intelligible Welt der Philosophie noch nicht an sich vollendet, sich ebenso zur wirklichen Welt zu machen, - in der wirklichen die intelligible, in der inteUigiblen die wirkliche zu erkennen. Es ist etwas anderes, die Idee der Philosophie zu haben, das absolute Wesen als absolutes Wesen zu erkennen, und es als System des Universums, der Natur und des eigenen Selbstbewußtseins, als die ganze Entwicklung seiner Realität zu erkeimen." 118 TWA. Bd 18.188. Vgl. Bd 20.457f und Bd 19.511. 119 Vgl. Enz. §§ 575-577 (GW. Bd 20.569-571). - Zu den drei Schlüssen der Philosophie, in denen die Idee sich mit ihren Erscheinungen zusammenschließt und sich so als absoluter Geist realisiert, vgl. die Deutungen von M. Theunissen: Hegels Lehre vom absoluten Geist. 309-322 und von A. Peperzak: Selbsterkenntnis des Absoluten. 125-157, der besonders den trinitätsmetaphysischen Sinn der drei Schlüsse hervorhebt.

§ 2. Der Neuplatoidsmus als Intellektualsystem

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Nous als die entfaltete Einheit aller Ideen allererst hervorgeht, auch der voU entwickelte Begriff der unendlichen Subjektivität noch, die ihre eigenen Bestimmungen aus ursprünglicher, reiner Spontaneität und Selbstmacht selber hervorbringt, also selbst Prinzip imd nicht Prinzipiat ist. Die vollendete Bestimmung der unendlichen Subjektivität als Prinzip, das zugleich geschichtlich wirklich ist, imd damit die Erkeimtnis des Absoluten nicht nur als Idee, sondern als Geist, gehört darum erst der neuzeitlichen Philosophie an: „Aber das Werk der modernen Zeit ist, diese Idee zu fassen als Geist, als die sich wissende Idee. Um dazu fortzugehen, von der wissenden Idee zum Sichwissen der Idee, gehört der imendliche Gegensatz, daß die Idee zum Bewußtsein ihrer absoluten Entzweiung gekommen ist."^^° Hegel gelangt von hier aus zu einer weiteren Bestimmung der geschichtlichen Stellung des Neuplatonismus: Zu dem erwähnten „Bewußtsein ihrer absoluten Entzweiung" kommt die Idee nämlich offenbar gerade durch die spätantike, Neuplatonismus, Gnosis und Christentum gleichermaßen bestimmende Entdeckung der Transzendenz, vor der die welthafte Wirklichkeit als Unwesentliches und eigentlich Unwirkliches, nicht wahrhaft Seiendes versinkt, also durch die Einsicht, daß nichts in der Welt, nichts Natürliches und nichts Politisches das Göttliche und Absolute, das allein wahrhaß Seiende ist, sondern einzig der Geist oder die reine Idee selbst in ihrer Überweltlichkeit. In dieser Einsicht geht die Transzendenz des Göttlichen auf; der von ihr wesentlich bestimmte Mensch der Spätantike setzt darum sein ganzes Interesse nicht mehr in die Gestaltung der diesseitigen Welt, sondern in das transzendente Göttliche als das allein Wahre, zu dem er nur aufsteigt, wenn er diese Welt transzendiert; die spätantike Metaphysik besitzt darin eine unmittelbar soteriologische Komponente - und zwar im heidnischen wie im christlichen Neuplatonismus gleichermaßen daß sie mit der Erkeimtnis der Transzendenz des Absoluten die Befreiung des Menschen aus der Unwahrheit und Nichtigkeit der Welt als des Endlichen und Diesseitigen verbindet. Hegel beschreibt eindringlich die spätantike Verneinung der endlichen Welt im Namen der Transzendenz, die zugleich die Bejahimg der Wirklichkeit des Geistes als einer transzendenten, jenseitigen Welt ist, zu der aber der Mensch als denkendes Wesen selbst gehört: „Der Zustand, den man das Leben des Menschen in der Einheit mit der Natur nennt und in welchem der Mensch Gott mit der Natur hat, weil er darin

120 TWA.Bd20.458.

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2. Kapitel: Hegels Ortsbestimmung des Neuplatonismus

seine Befriedigung findet, hat aufgehört. Diese Gestaltungen des Wahren, Göttlichen ab Natürliches und Politisches haben sich getrennt von dem Wahren; imd die zeitliche Welt ist dem Menschen erschienen als das Negative, als das Nichtwahre. Der Mensch hat sie von dem Wahren, dem Gott getreimt imd hat so Gott im Geist erkaimt; er hat erkaimt, daß die natürlichen Dinge imd der Staat nicht die Weise sei, in der Gott dasei, sondern die Weise sei in ihm selbst, eine intelligible Welt. Die Einheit des Menschen mit der Welt ist so gebrochen, damit sie auf höhere Weise wieder gesetzt werde, daß die Welt in Gott aufgenommen werde als intelligible Welt... Das Verhältnis des Menschen zu Gott bestimmt sich nun als Ordnung des Heils, Kultus, besonders aber auch als Philosophie, mit dem ausdrücklichen Bewußtsein, daß der Zweck ist, dieser inteUigiblen Welt anzugehören, daß das Individuum sich dazu fähig, angemessen machen soll."^^^ Die neuplatonische Philosophie ist gerade darin „ihre Zeit in Gedanken erfaßt",'^ daß sie das denkende Begreifen dieses spätantiken Aufgangs des Geistes in seiner Transzendenz ist; sie nimmt den Menschen als denkendes Subjekt aus der natürlichen und politischen Welt heraus, bleibt aber nicht - wie die Gnosis - bei der weltflüchtigen Ausrichtung auf ein bloßes Jenseits stehen, sondern denkt das Sichbestimmen Gottes, der reinen, transzendenten Idee, in einem artikulierten mundus intelligibilis aus. Dieses neuplatonische Intellektualsystem ist mm die historische Voraussetzung für das Sichwissen der Idee als Geist, das ihm selber aber noch fehlt und sich erst in der von der Subjektivität als Prinzip ausgehenden Philosophie der Neuzeit erfüllt; es bildet die reinen Bestimmungen der Idee in einem systematischen Zusammenhang als den inteUigiblen Kosmos der reinen Wesenheiten aus, setzt diesen aber jenseits der natürlichen und geschichtlichen Welt an. Diese Zwei-Weltenlehre des Platonismus, die Transzendenz der an sich selbst seienden Ideen, bildet den aufzuhebenden Ausgangspunkt für die absolute Versöhnung in der Selbsterkenntnis der Idee als Geist, da sie den Geist von seiner Endlichkeit imd Weltüchkeit allererst zu sich selbst, zu seinem wahren, überzeitlichen Wesen befreit; die absolute Versöhnung aber besteht für Hegel erst darin, daß das wirkliche Selbstbewußtsein sich selbst, sein

121 TWA. Bd 19.417; ebenso Vorlesungen. Bd 8.167 f. Vgl. TWA. Bd 19.418; Vorlesungen. Bd8.168. 122 TWA. Bd 7.26. - Zur geschichtsphilosophischen Bedeutung dieser Aussage vgl. K. R. Meist: Zur Rolle der Geschichte in Hegels System der Philosophie. In: Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels. Bonn 1983. Bes. 54 ff.

§ 2. Der Neuplatonismus als Intellektualsystem

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eigenes Wesen in seinen Bestimmungen in jenem transzendenten mundus intelligibilis erkennt, der damit freilich aufhört, ein jenseitiger zu sein, womit zugleich der Dualismus jener Zwei-Weltenlehre aufgehoben ist. Die spätantike Einsicht in die Transzendenz des Geistes, deren denkende Ausarbeitung der Neuplatonismus ist, ist somit für Hegel keine absolute Wahrheit, kein Letztes, über das nicht hinauszukommen ist,'^ sondern nur die allerdings notwendige Unterscheidung der absoluten Idee von ihren Erscheinungen in Natur und Geschichte, aus welcher Selbst-Unterscheidung die Idee als absoluter Geist zur Einheit mit sich selbst zurückkehrt. In dieser Weise aber ist das antike Intellektualsystem, das die reine Intellektualwelt der Bestimmungen der Idee in einer von Endlichkeit und Zeitlichkeit freien Sphäre reiner Geistigkeit ausbildet, die Basis für die absolute Vollendung der Philosophie im absoluten Ideahsmus der Neuzeit, d. h. in Hegels eigener Philosophie, die jene Jenseitigkeit des Geistes durch die Einsicht wieder aufhebt, daß das Selbstbewußtsein in jener Intellektualwelt als seinem Gegenstand sich selbst, sein eigenes ewiges Wesen erfaßt: „Die Arbeit des Geistes bestand nun darin, dies Jenseits zurück zur Wirklichkeit und ins Selbstbewußtsein zu führen. Dies ist darin geleistet, daß das Selbstbewußtsein sich selbst denkt und das absolute Wesen als das sich selbst denkende Selbstbewußtsein erkennt. Diese Arbeit des Geistes leistet die neuzeitliche Metaphysik der Subjektivität, imd ihre Vollendung ist das Hegelsche System; erst in ihm wird die im Neuplatonismus schon erreichte Erkenntnis der Idee als konkreter Totalität eingeholt und zugleich über123 Programmatisch z. B. TWA. Bd 19.494: „Die Intellektualwelt ist nicht jenseits, sondern das sogenannte Endliche ein Element darin; es ist nicht ein Hüben und Drüben. Das Konkrete in Ansehung Gottes, der absoluten Idee, ist: das Weltliche, das Andere in Gott sehen, es als an sich göttlich wissen, göttlich machen, - auf geistige Weise, d. h. nicht auf unmittelbare Weise." Vgl. 495: „Es kommt eben darauf an, daß das Weltliche überhaupt lücht in seiner Unmittelbarkeit, Natürlichkeit gelassen wird, sondern daß es an sich als das Besondere, nämlich als Allgemeines, intellektuelle Welt, als in Gott seine VVurzel, seine Wahrheit habend betrachtet wird, somit Gott als konkret gedacht wird." (Ähnlich Vorlesimgen. Bd 9. 2, 3). - Wie diese Aussagen deutlich zeigen, wird die Transzendenz der göttlichen Idee von Hegel also keineswegs aufgehoben; Hegel denkt vielmehr die Transzendenz der Idee mit ihrer Weltimmanenz, die vielmehr die Immanenz der Welt in der Idee ist, zusammen in einer Einheit von Transzendenz und hnmanetfz, die man - in Anlehnung an Hegels eigene Formulierung der absoluten Subjektivität als über die Objektivität „übergieifende" (Enz. § 215) - als eine die Immanenz übergreifende Transzendenz verstehen kaim, welche die Immanenz als ihr eigenes Moment enthält, sich dadirrch freilich vom Platonisch-Plotinischen Begriff der Transzendenz grundlegend unterscheidet; sie entspricht aber dem Transzendenzbegriff der Mittelplatoniker imd besonders des Numenios (s. oben Kapitel I § 3 B-C). 124 TWA. Bd 20.458.

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2. Kapitel: Hegels Ortsbestimmung des Neuplatonismus

holt in der Erkenntnis des absoluten Geistes als der sich wissenden wirklichen Idee, die aus ihrem Anderssein in Natur und Geschichte in sich selbst zurückgekehrt ist und sich darin als unendliche und freie Subjektivität selbst weiß. Im Sich-Wissen der in sich zurückgekehrten Idee als Geist aber erreicht die Philosophie überhaupt für Hegel ihre absolute, rdcht mehr überbietbare Vollendung.

§ 3. Neuplatonismus und Christentum: Trinität als Struktur des absoluten Geistes A. Transzendenz und immanente Trinität der Gottheit Hegel bestimmt die geschichtliche imd systematische Stellung des Neuplatonismus mm genauer aus seinem Verhältnis zur offenbaren christlichen Religion einerseits und zur religiösen und philosophischen Tradition der Antike andererseits, speziell zum Platonismus, Aristotelismus und Pythagoreismus, als deren spekulative Synthese er den Neuplatonismus ansieht, worauf später noch genau einzugehen sein wird (Kapitel III). - Für Hegel ist der spätantike Neuplatonismus „die Gestalt der Philosophie, die mit dem Christentume, mit dieser Revolution, die sich in der Welt gemacht hat, auf das engste zusammenhängt. Dieser Zusammenhang besteht zunächst einmal in der Ausrichtung auf die Transzendenz des wahrhaft Seienden imd Göttlichen, die Platonismus und Christentum gemeinsam ist. Hegel beschreibt sie so, daß das infolge des Rückgangs in die eigene Innerlichkeit „subjektiv gewordene Bewußtsein das Absolute als das Wahre wieder sich zum Gegenstand macht, daß es das Freie, Wahre aus sich heraussetzt und das Anundfürsichseiende so als Gegenstand - als einen Gegenstand, der ihm das Wahrhafte ist - aufnimmt, d. h. daß es zum Glauben an Gott kommt ... es ist das Verhältnis des Menschen zu dem Wahren, zu Gott."^^® Der Glaube als das spezifisch spätantike und christliche Verhalten des Menschen zu Gott setzt gerade die Transzendenz Gottes als überweltlichen Geist voraus, zu dem sich das religiöse Bewußtsein einerseits als zu einem Jenseitigen, ihm selbst schlechthin Überlegenen verhält, den es aber zugleich als in sich selbst gegenwärtig weiß, sofern

125 TWA. Bd 19.404; Vorlesungen. Bd 8.159. 126 Vorlesungen. Bd 8.164; ähnlich TWA. Bd 19.414 f.

§ 3. Neuplatonismus und Christentum

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es seiner glaubend gewiß ist.^^^ Das antik-heidnische Verhalten zum Göttlichen in seinen vielfältigen diesseitigen, innerweltlichen Erscheinungsformen ist dagegen nicht der Glaube, sondern die sinnliche Anschauung; die antike, griechische Religion ist für Hegel darum wesentlich Kimstreligion, die das Göttliche im diesseitigen, gestalthaft-sinnlichen Scheinen der Idee erfährt.^^® Dagegen hat das Christentum mit seinem glaubenden Bezug auf Gott als überweltlichen Geist für Hegel „die inteUigible Welt der Philosophie zur Welt des gemeinen Bewußtseins gemacht".^^® Im glaubenden, aber zugleich auch im denkenden und betrachtenden Verhältnis zum transzendenten Gott als der alles Endliche und Zeitliche übersteigenden absoluten Fülle des Seins gewinnt das Subjekt nun auch jene Freiheit und Weltüberlegenheit, die es in der stoischen und epikureischen Verabsolutierung der Endlichkeiten ebenso vergeblich gesucht hatte wie in dem skeptischen Rückzug in die eigene Innerlichkeit.^®“ Der innere Zusammenhang von Neuplatonismus und Christentum liegt aber Hegel zufolge keineswegs primär oder gar ausschließlich in der Beseligung des Menschen durch seine Ausrichtung auf die Transzendenz der Gottheit. Sie liegt vielmehr vor allem anderen in der Neuplatonismus und Christentum gemeinsamen Einsicht in das in sich konkrete Wesen Gottes als Geist und d. h. für Hegel: als sich trinitarisch auf sich selbst beziehendes Denken: „Die Grundidee dieser neupythagoreischen - auch neuplatonischen oder alexandrinischen - Philosophie war: das Denken, das sich selbst denkt, der voüq, der sich selber zum Gegenstände hat. Es ist also erstens das Denken; dieses hat zweitens ein voT]TÖv; drittens diese beiden sind identisch, das Denken hat in seinem Gegenstände sich selbst. Das sind drei, das eine und das andere und die Einheit beider. Diese konkrete Idee ist wieder hervorgekonunen imd in der Ausbildung des Christentums, als das Denken auch in ihm aufging, als die Dreieinigkeit gewußt; imd diese Idee ist das Wesen an

127 Vgl. hierzu TWA. Bd 16. 203 ff, wo sich Hegel für diese Bestimmung des Glaubens auf Meister Eckhart beruft (209). 128 Vgl. TWA. Bd 13. 111 f sowie Enz. §§ 556-557 (GW. Bd 20. 543 f). Vgl. dazu im einzelnen die zuverlässige Darlegung von M. Theunissen: Hegels Lehre vom absoluten Geist. 148-170. 129 TWA. Bd 19. 498 (Hegel zitiert dort Tertullian). Vgl. auch 510: „Im Christentum ist dies Anundfürsichsein der Intellektualwelt, des Geistes, allgemeines Bewußtsein geworden." Ähnlich Vorlesungen. Bd 9.5,6. 130 Vgl. Vorlesungen. Bd 8.165; TWA. Bd 19.415.

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2. Kapitel: Hegels Ortsbestimmung des Neuplatonismus

und für sich."^^^ Für Hegel ist also die „Grundidee" des Neuplatonismus die Lehre vom sich selbst denkenden Nous, nicht die Lehre vom absolut jenseitigen, über das Sein und das Denken hinausliegenden Einen selbst. Hegel erblickt mm in der Weise, in der der Neuplatonismus den Nous als die höchste Einheit in der Vielheit denkt, dieselbe spekulative Wahrheit wie im christlichen Grunddogma von der Dreieinigkeit Gottes: die Einsicht in die konkrete, sich in sich selbst unterscheidende und im Unterschied mit sich selbst identische Totalität der absoluten Idee. Tatsächlich unterscheidet der Neuplatonismus seit Plotin nicht nur wie Aristoteles zwischen dem Denkenden und dem Gedachten oder zwischen Denken und Sein, sondern darüber hinaus auch zwischen diesen beiden und dem Denkakt (vÖT]au;), der als ihr immanentes Vereinigungsprinzip ein eigenes drittes Strukturmoment des reinen Denkens seiner selbst, des selbstbezüglichen voüq bildet, und zwar jenes Moment, das allererst die Einheit der beiden anderen Momente vermittelt. Hegel hat diese triadische Struktur des Nous bei Plotin sehr klar erkannt: „Er imterscheidet im voü^ das Denken (den voüq), das Gedachte (VOT]XöV) und den Gedanken (vÖT]au;), so daß der voüq Eins und zugleich Alles ist; die VöTIöU; ist aber die Einheit der Unterschiedenen."'^^ Die VöTIOU; ist die Einheit in der Zweiheit von Denken und Sein, Denkendem und Gedachtem, in der und durch die beide allererst identisch sind. Die grundsätzlich gleiche Struktur haben auch alle anderen Triaden, durch die die Neuplatoniker das Wesen des Geistes als dreifältige Einheit begriffen: das dritte Moment ist immer die Einheit der beiden vorangehenden Momente, von denen das erste jeweils einfache, unentfaltete Einheit imd das zweite deren Selbstentfaltung in die Vielheit ist; das dritte Moment ist somit die 131 TWA. Bd 19.413. - Zu Hegels Trinitätslehre sei verwiesen auf: /. Splett: Die Trinitätslehre G.W. F. Hegels. L. Oeing-Hanhoff: Hegels Trinitätslehre. Zur Aufgabe ihrer Kritik und Rezeption. In: Theologie und Philosophie. 52 (1977), 378-407. W. Kern: Dialektik und Trinität in der Religionsphilosophie Hegels. Ein Beitrag zur Diskussion mit L. Oeing-Hanhoff. In: Zeitschrift für katholische Theologie. 102 (1980), 129-155. W. Jaeschke: Die Vernunß in der Religion. Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels. Stuttgart-Bad Cannstatt 1986.314-360. Vgl. ferner R. Heede: Die göttliche Idee und ihre Erscheinung in der Religion. Untersuchungen zum Verhältnis von Logik und Religionsphilosophie bei Hegel. Diss. Münster 1972. Einen ausgezeichneten Überblick über die vielfältige Forschungsdiskussion zu diesem Thema vermittelt W. Jaeschke: Die Religionsphilosophie Hegels. Darmstadt 1983.83-110. 132 TWA. Bd 19.453. Hegel paraphrasiert hiermit den entscheidenden Passus aus Plotin: Enn. V 3,5,43 ff (Detailinterpretation unten Kapitel V § 4). Zur dreigliedrigen Struktur des Sich-Denkens bei Plotin und zu den Quellen bei Aristoteles (Metaph. A 7, 9) und Platon (Soph. 248 E ff) ist grundlegend Th. A. Szlezdk: Platon und Aristoteles in der Nuslehre Plotins. 120 ff. bes. 126-135.

§ 3. Neuplatonismus und Christentum

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Rüc/c/ce/jr der Einheit in sich selbst durc/z ihre Entfaltung. Hegel deutet nun die christliche Dreifaltigkeit - abweichend von der theologischen Orthodoxie, aber durchaus in Übereinstimmung mit christlichen Neuplatonikern wie Marius Victorinus oder Nikolaus von Kues - als exakt die gleiche Struktur, indem er den Heiligen Geist als die Perichorese oder die wechselseitige Einheit von Gottvater und Gottsohn auslegt. Für Hegel kommt im Trinitätsdogma in seiner nachnicänischen, homousianischen Gestalt mit der wechselseitigen Perichorese der Hypostasen die Struktur der Idee als sich in sich selbst unterscheidende und darin zugleich zu sich selbst zurückkehrende Einheit denkender Selbstbeziehung zum Ausdruck.^^ Ihrer begrifflichen Struktur nach ist die Idee für Hegel die Einheit von Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit, wobei die drei Momente dieser Einheit einander in der Weise durchdringen, daß jedes Moment die beiden anderen in sich selbst enthält und so selber das Ganze als die sich selbst bestimmende und darum an und für sich bestimmte Einheit von Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit ist;^^® dieses wechselseitige Ineinandersein der Momente, in deren untrennbarer Einheit sich das Ganze denkend auf sich selbst bezieht und so Geist ist, bezeichnet Hegel als „konkrete Totalität".^^^ In ihr unterscheiden sich die drei Momente nur dadurch, daß sie ein und dieselbe Totalität denkender Selbstbeziehung unter verschiedenen Formen setzen, also durch die Struktur ihrer Anordnung im Ganzen: so ist die Allgemeinheit der Idee oder des sich denkenden Begriffs nicht die abstrakte Allgemeinheit des diskursiven Begriffs, der seine Besonderungen, die nicht zu seiner eigenen Bestimmtheit gehören, unter sich hat, sondern sie enthält als konkrete, in sich bestimmte und erfüllte Allgemeinheit ihre

133 Vgl. z. B. TWA. Bd 12.392; TWA. Bd 17.221 ff (GW. Bd 17.221 ff). Hegel weist die von der neuplatonischen Triadik abweichende kirchliche Vorstellung vom Geist als von Vater und Sohn „ausgehender" eigener dritter Person ausdrücklich als einen durch die Vorstellungsform bedingten Irrtum zurück (TWA. Bd 10.410). 134 Vgl. Enz. §§ 566-570 (GW. Bd 20. 551 -553); vgl. auch TWA. Bd 17. 221 -240 (GW. Bd 17.221 -229). Vgl. dazu - auch zum folgenden - die knappe, aber vorbildlich klare Interpretation von A. Peperzak: Selbsterkenntnis des Absoluten. 97 ff. 135 Vgl. Enz. § 160 (GW. Bd 20.177): „Der Begriff ist... Totalität, mdem jedes der Momente das Ganze ist, das er ist, und als ungetreimte Einheit mit ihm gesetzt ist; so ist er in seiner Identität mit sich das an und für sich Bestimmte." - Denselben Sachverhalt formuliert Hegel stärker theologisch im Zusatz zu § 247 (TWA. Bd 9. 24). - Zu den historischen Bezügen in Hegels Begriff des Begriffs vgl. A. Doz: La Logique de Hegel et les problhnes traditionnels de T ontologie. 178 ff, der besonders Hegels Anlöiüpfung an den Neuplatonismus betont (194 ff). 136 GW. Bd 12.252; TWA. Bd 19.488; vgl. auch Bd 16.391,392 u. ö.

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2. Kapitel; Hegels Ortsbestimmung des Neuplatonismus

Besonderheit als Moment ihres eigenen Wasseins in sich selbsf^^ und ist so als Einheit von Allgemeinheit und Besonderheit selber Einzelheit; die Besonderheit ist als die Selbstbesonderung dieses Allgemeinen, das in ihr „ungetrübt sich selbst gleich bleibt", in sich selbst ebenso Einheit von Allgemeinheit imd Besonderheit und als solche Einzelheit; die Einzelheit endlich ist die in sich reflektierte Einheit von Allgemeinheit und Besonderheit und damit das in seiner Bestimmtheit zu sich selbst zurückgekehrte und so an und ßr sich selbst bestimmte Allgemeine.^^ Hegel formuliert diese Drei-Einheit der Begriffsmomente der Idee auch durch die wechselseitige Implikation der Reflexionsbestimmungen der Identität, des Unterschieds und des Grundes als der Einheit von Identität und Unterschied.^^® Diese begriffliche Struktur der Idee, die sich in spekulativen Urteilen und Schlüssen weiter bestimmt und in der Dialektik als der absoluten Methode vollendet, findet Hegel in der nicäno-constantinopolitanischen Fassung des Trinitätsdogmas ausgedrückt: in Gottvater als dem schöpferischen Ursprung der Wirklichkeit sieht Hegel das Moment der Allgemeinheit, in Gottsohn als dem Logos und d. h. als Inbegriff der idealen Strukturen der Wifklichkeit das Moment der Besonderheit und im Heihgen Geist als der Einheit von Vater und Sohn das Moment der Einzelheit als in sich reflektierter Einheit von Allgemeinheit und Besonderheit.^'*“ Diese Momente sind als Hj^ostasen der Einen Wesenheit Gottes wechselseitig ineinander (|xia o'öoia ßv xgioiv löJiooTotaeaiv), und zwar in einer zeitlos prozessualen Einheit, deren H)^ostasen einander ganz und gar durchdringen, ohne sich miteinander zu vermischen (öcnjYX'b'toq öü^iq), so daß ihre Einheit sich im Unterschied selbst erhält und sich im Sich-Unterscheiden mit sich selbst

137 Vgl. Hegels eigene Erläuterung im Zusatz 1 zu Enz. § 163 (TWA. Bd 8. 312): „Nun aber ist das AUgemeine des Begriffs nicht bloß ein Gemeinschaftliches, welchem gegenüber das Besondere seinen Bestand für sich hat, sondern vielmehr das sich selbst Besondemde (Spezifizierende) und in seinem Anderen in imgetrübter Klarheit bei sich selbst Bleibende." 138 Enz. § 163 (GW. Bd 20.179). - Für eine genauere Darstellung der Hegelschen Konzeption des Begriffs als konkreter Allgemeinheit und denkender Selbstbeziehung vgl. K. Düsing: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. 244 ff; zum Jenaer Hegel auch 160 ff und 179 ff. 139 Enz. §§ 164 und 121 (GW. Bd 20.180,152). Vgl. zur Dialektik der Reflexionsbestimmungen, mit der Hegel umformend an Platons Dialektik der nsY''03:a YEVTI anknüpft, K. Düsing: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. 213-227. 1« Vgl. z. B. Enz. §§ 567-569 (GW. Bd 20.551 f); TWA. Bd 13.101; Bd 17.214 ff (vgl. GW. Bdl7.212 ff).

§ 3. Neuplatonismus und Christentum

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zusammenschließt und bei sich selbst bleibt. Diese Struktur der absoluten Idee als sich selbst ganz und gar durchdringende imd durchlichtende Drei-Einheit, deren Momente jeweils selbst wieder Drei-Einheit und damit konkrete Totalität sind, findet Hegel in der neuplatonischen Triadik, besonders in ihrer höchsten spekulativen Entfalümg bei Proklos schon denkend begriffen, also nicht bloß in natürlichen Verhältnissen wie dem von Vater imd Sohn vorgestellt: „Diese Trinität ist überhaupt bei den Neuplatonikern interessant; besonders bei Proklos, weil er sie nicht in ihren abstrakten Momenten gelassen. Sondern diese drei abstrakten Bestimmungen des Absoluten betrachtet er dann wieder jede für sich als eine solche Totalität der Dreieinigkeit, wodurch er eine reale Totalität erhält; so daß es drei Bestimmungen sind, die die Totalität ausmachen, aber so, daß jede wieder als in sich erfüllt und konkret zu betrachten ist. Und dies muß als ein vollkommen richtiger Gesichtspunkt betrachtet werden, zu dem er fortgeschritten ist. Diese Unterschiede in der Idee, als in der Einheit mit sich bleibend, werden, weil es ihre Momente, ihre Unterschiede sind, wesentlich auch als Ganzes bestimmt; so daß die Einheit in ihren Unterschieden ganz ist, was es ist, so daß jeder dieser Unterschiede in der Form der Totalität ist und das Ganze der Prozeß ist, daß die drei Totalitäten ineinander sich identisch setzen."^'*^ Dies ist für Hegel die höchste spekulative Einsicht des Neuplatonismus und zugleich der gesamten griechischen Philosophie;^'*^ deshalb ist Proklos für ihn „der wahre Wendepunkt, der Übertritt der alten Zeit in die neue, der alten Philosophie in das Christentum".*'** Hegels spekulatives Verständnis der immanenten Trinität der Gottheit knüpft sachlich an ihre Auslegung durch den christlichen Neuplatonismus (besonders Marius Victorinus) mittels der Platonisch-Plotinischen Trias Sein-Leben-Denken (öv - ^(jof| - voü^) an,*'*® welche die 141 Vgl. Hegels eingehende Deutung der H)^ostasen-Perichorese TWA. Bd 17.227-236 (vgl. GW. Bd 17.220 ff). 142 TWA. Bd 19.474 (belegt in der Nachschrift Griesheims T. 2, S. 81 f); vgl. Vorlesungen. Bd 8.187. - Zur Triadik des Proklos ist grundlegend W. Beierwaltes: Proklos. 24-164. Zu Hegels Deutung der Proklischen Triadik im einzelnen imten Kapitel VI § 3. 143 Vgl. TWA. Bd 19.488. 144 Brief an Creuzer vom Mai 1821. Briefe von und an Hegel. Bd 2.114 f. 145 Vgl. z. B. TWA. Bd 17.236 f. Hegel beruft sich dafür außer auf Proklos (TWA. Bd 19. 478 ff, bes. 483 f) des öfteren auf Philon, bei dem sich eine Vorform dieser Trias findet (Enz. § 247 Zusatz. TWA. Bd 9. 24; Bd 12. 399; bes. Bd 17. 237-39 bzw. GW. Bd 17. 228 f; TWA. Bd 19.421 -23). - Zur Trias ^in-Leben-Denken vgl. P. Hadot: ttre, vie, pensie chez Plotin et avant Plotin. In; Les Sources de Plotin. Entretiens sur 1' Antiquitö classique V. VandoeuvresGenfeve 1960.107-141. Ders.: Die Metaphysik des Porphyrios (zuerst 1966). In; Die Philosophie des Neuplatonismus. Hrsg, von C. Zintzen. Darmstadt 1977.208-237.

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2. Kapitel; Hegels Ortsbestimmung des Neuplatonismus

Selbstbezüglichkeit des reinen Seins als sich selbst denkendes Denken und als Geist auf den Begriff bringt: die Einheit des Seins zeigt sich selbst als absolute Wesensfülle und Totalität aller reinen Bestimmungen, indem sie sich in die geeinte Vielheit der Ideen entfaltet; diese Selbstentfaltung der Einheit des Seins in die \üelheit der Ideen ist Leben, denn Leben bedeutet die Selbstartikulation der Einheit durch ihre Entfaltung in die Vielheit;^*^ da jede Idee als Selbstentfaltimg des Seins aber in sich selbst zugleich das Ganze aller Ideen ist, bleibt die Einheit des Seins in ihrer Entfaltung in die Ideen bei sich selbst und ist darin Denken oder Geist (voüq), denn Denken ist die Rückkehr der Einheit zu sich durch ihre Selbstentfaltung oder die Selbstvermittlung des Seins durch seine Entfaltung in seine Momente, in deren konkreter Totalität es sich selbst gegenwärtig ist imd sich als die Einheit eines in sich unterschiedenen Ganzen anschaut. So bringt die Trias Sein-Leben-Denken das Wesen des reinen Seins als sich selbst denkendes Denken in der Drei-Einheit von ursprunghafter Einheit, Selbstunterscheidimg in die Vielheit und Rückkehr der Vielheit in die Einheit als Rückkehr der nunmehr entfalteten Einheit in sich selbst prägnant zum Ausdruck. Diese neuplatonische Trias entspricht in der abstrakten Struktur durchaus der Hegelschen

146 Diesen Begriff des Lebens erfaßt Hegel sehr deutlich bei Plotin: „Insofern der voüc; sich selbst als sidi verändernd, aber in dieser Veränderung auch einfach bei sich bleibend denkt, denkt er das Leben überhaupt" (TWA. Bd 19.452). Vgl. etwa Plotin: Enn. IE 8,8,26 ff. - Zur Trias Sein-Leben-Denken als Struktur der Selbstvermittlung des Nous bei Plotin im einzelnen imten Kap. IV § 2 B; Kap. V § 3 B. 147 Besonders deutlich wird dies bei Porphyrios: In Parm. XIV16-30: „Gemäß der Existenz [d. i. dem reinen Sein] ist das Denkende auch das Gedachte. Wenn jedoch der Geist aus der Existenz [dem reinen Sein] heraustritt, um zum Denkenden zu werden und um sich damit wieder zum Zu-Denkenden [sc. dem reinen Sein] zurückzuwenden vmd sich selbst zu sehen, daim ist das Denkende Leben; deshalb ist der Geist unendlich gemäß dem Leben. Und alle diese Phasen sind Akte, und zwar in dem Siime, daß der Akt gemäß der Existenz [dem reinen Sein] stillstehend, gemäß dem Denken aber auf sich selbst gerichtet ist und gemäß dem Leben aus der Existenz [dem reinen Sein] heraustritt. Und in dieser Weise ist der Geist in eins imd zumal in Ruhe und in Bewegvmg, in sich selbst und in einem Anderen, Ganzes und Teile, Identität und Andersheit." - Von Porphyrios ist die begriffliche Erfassimg der gleichwesentüchen Trinität der Gottheit im christlichen Platonismus abhängig, besonders Marius Victorinus, der durch seine Aufnahme dieser Porphyrianisch gedachten Trinität (Adversus Arium 149,9-51,27; 52,1 -53,6; 57,7-58,14; 60,1 -31; 57,929 u. ö.) der lücänischen Orthodoxie die intellektuelle Überlegenheit über den Arianismus mit seiner subordinativen Trinitätslehre verschaffte. - Zur Trinitätsmetaphysik bei Porphyrios und Victorinus ist grundlegend P. Hadot: Porphyre et Victorinus. Ders.: Die Metaphysik des Porphyrios. Bes. 217 ff. Vgl. dazu auch W. Beierwaltes: Identität und Differenz. 5774. Ders.: Platonismus im Christentum. 25-43. Zur spekulativen Entfaltung bei Ps.-Dionysius und Eriugena ders.: Eriugena. 204-256. Zum Trinitätsmotiv bei JambÜch, der auch das Eine als Drei-Einheit dachte, J. Halfivassen: Das Eine als Einheit und Dreiheit.

§ 3. Neuplatonismus und Christentum

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Trias Allgemeines-Besonderes-Einzelnes, da das neuplatonisch verstandene Sein als die alle Besonderungen in unentfalteter Einheit vorweg enthaltende, einfaltende Fülle der Ideen mit dem Allgemeinen bei Hegel, das Leben als die Selbstentfaltung des Seins in die Vielheit der besonderen Ideen ndt dem Besonderen und das Denken als die Rückkehr der Einheit durch ihre Entfaltung zu sich selbst mit dem Einzelnen sachlich vergleichbar ist. Am deutlichsten wird diese Entsprechxmg bei Proklos, für den das Sein in sich selbst zugleich Leben und Denken, also Entfaltimg und Rückkehr, das Leben in sich selbst zugleich Sein und Denken, also Einheit und Rückkehr, imd das Denken in sich selbst zugleich Sein imd Leben, also Einheit und Entfaltimg ist, - die darin liegende Strukturverwandtschaft mit seinem eigenen Konzept der konkreten Allgemeinheit als der logisch-ontologischen Grundstruktur der Subjektivität hebt Hegel in seiner Proklos-Darstellung mehrfach hervor.^^

B. Die „Idee des Christentums": Trinität und Inkarnation in Hegels Deutung Die spekulative Wahrheit der christlichen Religion, die im begreifenden Denken einzuholen Aufgabe der Philosophie ist, liegt für Hegel aber nicht allein in der immanenten, sondern ebenso wesentlich in der realen und geschichtlichen Trinität, also in der Inkarnation als dem Zentrum der Heüsgeschichte und in der Versöhnung von Gott und Mensch im Heiligen Geist; erst dieser Zusammenhang von trinitarischem Gottesbegriff, Christologie und Pneumatologie drückt das Wesen des absoluten Geistes aus: dies ist die „Idee des Christentums", deren denkendes Begreifen die Philosophie ist.'^® Denn das voUe Wesen des Geistes realisiert sich erst in der vollbrachten Versöhnung von Gott und Welt, in welcher der göttliche Geist sich dadurch selbst objektiv wird, daß er auf seine welthafte Entäußerung im subjektiven, menschlichen Geist übergreift, wodurch dieser zugleich in Gott als in sein eigenes ewiges Wesen zurückkehrt; erst in dieser Einheit von göttlichem und menschlichem Geist ist der absolute Geist absolute und wahrhaft unendliche Subjektivität, der nichts mehr äußerlich ist.

148 TWA. Bd 19.478,479,482,483,488,511. Vgl. Proklos: Theol. Plat. Dd 9-14; Eiern. Theol. §§ 101 ff. - Dazu im einzelnen unten Kapitel VI § 3 B, ferner Kapitel V §§ 3 -4 (zur konkreten Totalität des Nous bei Plotin). M9 Vgl. TWA. Bd 19.409; Enz. § 384 Zusatz (TWA. Bd 10.32).

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2. Kapitel: Hegels Ortsbestimmung des Neuplatonismus

Daß Gott - die absolute Idee - sich zur Welt entäußert und als Mensch in ihr erscheint, ist in der triadischen, sich in sich selbst unterscheidenden Natur der Idee selbst begründet: „Der Zusammenhang Gottes mit der Welt ist Bestimmung in ihm selbst, oder das Andere des Einen, die Zweiheit, das Negative, das Anderssein des Einen, die Bestimmimg überhaupt ist wesentlich Moment, das in ihm zu denken ist ... Gerade der Punkt der Unterscheidung in sich ist der Vermittlungspunkt des Endlichen, Weltlichen mit ihm selbst... Die Wurzel desselben ist, daß Gott sich in sich selbst unterscheidet, - seine konkrete Natur. Die innere Dynamik der Selbstunterscheidung des schöpferischen Urspnmgs als des absolut Allgemeinen führt aus sich selbst heraus dazu, daß die Idee sich nicht nur immanent in sich selbst bestimmt, sondern auch eine vom Unterschied bestimmte imd darum endliche Wirklichkeit aus sich entläßt. In diesem Gedanken liegt freilich noch keine Differenz Hegels zum Neuplatonismus und speziell zu Plotin, für den der Nous die sich selbst individuierende und verzeitlichende Seele und ihre Erscheinung in der sinnenfälligen Welt kraft seiner neidlos an sich teilgebenden Fülle aus seiner eigenen Selbstentfaltung heraus frei setzt, wodurch er dem nach ihm selbst Seienden die Teühabe an der Sein-setzenden Überfülle des überseienden Einen selbst vermittelt.^®^ Hegel xmterscheidet sich von dem neuplatonischen Verständnis des Zusammenhangs von intelligibler und sinnenfälliger Welt grundsätzlich vielmehr erst dadurch, daß er erstens die Selbstentfaltung der Idee in der reinen Spontaneität des sich auf sich selbst beziehenden Denkens fimdiert, die Idee also als unendliche imd freie Subjektivität faßt, die ihre Bestimmimgen aus eigener Ursprünglichkeit selbsttätig setzt, und nicht wie Plotin als Prinzipiat eines absolut jenseitigen, unerkennbaren Ursprungs, dessen Überfülle an Mächtigkeit das Seiende als das Andere des Absoluten auf unbegreifliche Weise hervorgehen läßt,^®^ und zweitens dadurch, daß er annimmt, daß die eigene Wirklichkeit des Endlichen, der Natur und des endlichen Geistes, für die Rückkehr der Idee in sich selbst, also für ihre Realisierung als Geist notwendig ist, so daß die intel150 Vorlesungen. Bd 8.166; ebenso TWA. Bd 19. 416. Vgl. auch Bd 12.392; ferner Bd 17. 243 ff (GW. Bd 17.230 ff) und Enz. §§ 567-570 (GW. Bd 20.551 -553). 151 Vgl. z. B. nur Enz. § 568 (GW. Bd 20. 552) mit Plotin: Enn. IV 8, 6-7 (von Hegel verkürzt zitiert: TWA. Bd 19.454). Vgl. auch Enz. § 247 Zusatz (TWA. Bd 9.24 mit Berufung auf Philon) sowie § 249 Zusatz (TWA. Bd 9.33: Emanation der Natur). - Zur Entäußerung der Idee zur Natur bei Hegel vgl. D. Wandschneider und V. Hösle: Die Entäußerung der Idee zur Natur und ihre zeitliche Entfaltung als Geist bei Hegel. In: Hegel-Studien. 18 (1983), 177-199. 152 Vgl. dazu im einzelnen unten Kapitel V §§ 1 -2.

§ 3. Neuplatonismus und Christentum

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ligible Welt für Hegel nicht mehr wie für den Platonismus in sich selbst vollkommen und autark ist, sondern ihrer Entäußerung zu ihrer eigenen VoUendimg im absoluten Geist bedarf. Und genau an diesem Punkt kommt die Menschwerdung Gottes ins Spiel: „damit Gott als Geist sei, dazu gehört sein Erscheinen als Mensch, als einzelnes Subjekt, - nicht als ideales Menschsein, sondern als wirkliches Fortgehen bis zur zeitlichen, gänzlichen Äußerlichkeit der auch unnrüttelbaren und natürlichen Existenz. Derm als denkendes Sich-Bestimmen und Sich-Wissen, das seine eigenen Bestimmungen ganz aus eigener Ursprünglichkeit und Freiheit setzt, ist die Idee reine Subjektivität; um sich aber als absolute und unendliche Subjektivität zu realisieren, darf sie nichts mehr außer sich haben, sondern muß sich in die Natur entäußem und als Geist - zunächst als endlicher und subjektiver, dann als unendlicher und absoluter Geist - zu sich zurückkehren. Dies ist für Hegel aber nur in der Weise möglich, daß die Idee sich als absolute Subjektivität realgeschichtlich im Erkennen des wirklichen menschlichen Selbstbewußtseins erfaßt, nämlich so, daß die endliche Subjektivität ihr Prinzip, die absolute Subjektivität, stufenweise nicht nur als ihren ihr gegenüberstehenden Gegenstand, sondern als ihr anwesendes und wirksames Wesen erfaßt, mit dem sie Eins ist oder besser in dessen Einheit sie selber immanentes Moment ist;^^ die absolute Subjektivität oder der absolute Geist geht aber in seiner Anwesenheit im endlichen menschlichen Geist nicht auf, da er von dessen Endlichkeit gerade frei ist, er ist also dem menschlichen Geist zugleich immanent und transzendent.'^® Die Endlichkeit des menschlichen Geistes besteht dabei einmal darin, daß auch dem spekulativen Denken als der höchsten Vollzugsweise des subjektiven Geistes die systematisch vorangehenden, unvollkonuneneren Erfasstmgsweisen des Geistes, Bd 14.23. 154 Vgl. TWA. Bd 18.95: „Die Philosophie erkennt das Wesen. Der Hauptpunkt ist hier dann dieser, daß das Wesen nicht ein dem Äußerliches ist, dessen Wesen es ist. Das Wesen meines Geistes ist in meinem Geiste selbst, nicht draußen." - Vgl. zum folgenden K. Düsing: Endliche und absolute Subjektivität. Untersuchungen zu Hegels philosophischer Psychologie und zu ihrer spekulativen Grundlegung. In: Hegels Theorie des subjektiven Geistes in der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaßen im Grundrisse". Hrsg, von L. Eley. Stuttgart 1990.33-58, bes. 56 ff. 155 Vgl. nur etwa TWA. Bd 14. 23 f: „In der christlichen Anschauimg nämlich liegt die unendliche Bewegimg, sich bis zum Extrem des Gegensatzes hinzutreiben imd erst als Aufhebimg dieser Trennung in sich zur absoluten Einheit zurückzukehren. In dies Moment der Trennung fällt das Menschwerden Gottes... In der Tat ist Gott hierdurch als absolute freie Geistigkeit zu fassen, in welcher das Moment des Natürlichen und der unmittelbaren Einzelheit zwar vorhanden, aber gleichmäßig aufgehoben werden muß." 153 TWA.

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2. Kapitel: Hegels Ortsbestimmung des Neuplatonismus

nämlich Anschauung imd Vorstellung, noch anhaften, werm auch nur als unselbständige Momente, ferner daß es sich in der Zeit vollzieht, auf Artikulation in sprachlichen Zeichen angewiesen ist usw.; darüber hinaus besteht die Endlichkeit inhaltlich darin, daß das Erkennen des subjektiven Geistes immer von einer „Unmittelbarkeit" ausgehen muß, daß ihm nämlich der an sich vernünftige Inhalt - die Idee in ihren Bestimmimgen tmd d. h. das Wesen des Geistes selbst - zunächst vorgegeben ist tmd das Erkennen diese Unmittelbarkeit vmd Vorgegebenheit allererst aufheben muß, wodurch es sich dann über seine Endlichkeit erhebt.^“ Dabei erkennt sich das endliche Selbstbewußtsein als immanentes Moment des absoluten Selbstbewußtseins der göttlichen Idee, das sich gerade darin als unendliches Selbstbewußtsein oder als absoluter Geist erkennt, daß es Natürlichkeit, Endlichkeit, unmittelbare Einzelheit und damit auch und besonders das Höchste im Bereich des Natürlichen und Endlichen: den subjektiven Geist übergreift und in dessen Wissen sich selbst weiß: „der endliche Geist ist somit selbst als ein Moment Gottes gesetzt. So ist der Mensch also selbst in dem Begriffe Gottes enthalten und dies Enthaltensein kann so ausgedrückt werden, daß die Einheit des Menschen und Gottes in der christlichen Religion gesetzt sei. Diese Einheit darf mm nicht flach aufgefaßt werden ... sondern der Mensch ist nur insofern Gott, als er die Natürlichkeit und Endlichkeit seines Geistes aufhebt und sich zu Gott erhebt. Diese Erhebung des subjektiven menschlichen Geistes über seine Endlichkeit und unmittelbare Einzelheit vollzieht sich nun dadurch, daß er im spekulativen Denken die absolute Idee als das Wesen des Geistes und d. h. als sein eigenes ewiges Wesen - erkermt; damit hebt er die Unmittelbarkeit, von der er ausgegangen ist, auf tmd erkennt den absoluten oder göttlichen Geist als die realisierte absolute Idee. In dieser Erkenntnis des absoluten Geistes aber koinzidiert der tätige erkennende Geist mit dem erkannten göttlichen, absoluten oder tmendlichen Geist: „Der göttliche Geist, der vemonunen wird, ist der objektive; der subjektive Geist vernimmt. Der Geist ist aber nicht passiv... es ist eine geistige substantielle Einheit. Der subjektive Geist ist der tätige, aber der objektive Geist ist selbst diese Tätigkeit. Der tätige, subjektive Geist, der

Vgl. Enz. § 441 (GW. Bd 20.435 ß. TWA. Bd 12.392. Vgl. dazu Enz. § 564 Anm. (GW. Bd 20.550); „Gott ist nur Gott, insofern er sich selber weiß; sein Sichwissen ist ferner sein Selbstbewußtsein ün Menschen und das Wissen des Menschen von Gott, das fortgeht zum Sichwissen des Menschen in Gott." 156

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§ 3. Neuplatonismus und Christentum

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den göttlichen Geist vernimmt - und insofern er den göttlichen Geist vernimmt ist der göttliche Geist selber. Dieses Verhalten des Geistes nur zu sich selbst ist die absolute Bestimmung."*^® Indem der tätige subjektive Geist den absoluten Geist als die realisierte absolute Idee vernimmt, ist das den absoluten Geist vernehmende Denken des subjektiven Geistes, das dann wahrhaft spekulatives Denken ist, das Denken des absoluten Geistes selbst, der darin sich selbst denkt und erkennt; denn die absolute Idee ist das Wesen reiner denkender Selbstbezüglichkeit selbst - sie ist darum selber die Tätigkeit des tätigen subjektiven Geistes, kraft der er tätiger, aktual erkennender Geist ist, und eben als diese Tätigkeit des wirklichen subjektiven Geistes ist die Idee auch selber wirklich, also der absolute Geist. Hegel nimmt damit die Aristotelische Lehre vom göttlichen aktiven Nous auf, der dem passiven oder rezeptiven Nous in der menschlichen Seele das erkennende Denken ermöglicht und in dessen Vollzug mit ihm Eins ist (vgl. De anima III4-5); daraus hatte schon Numenios geschlossen, daß im Erkennen des menschlichen Geistes der göttliche Geist in seiner ganzen, unverminderten Fülle selbst anwesend ist (Fr. 14), was Hegel ebenfalls aufnimmt.*®® Der menschliche Geist vollendet seine wesentliche Einheit nüt dem göttlichen Geist somit erst im Vollzug der spekulativen Erkenntnis der absoluten Idee, also durch die Philosophie, welche mithin seine denkende Rückkehr in seinen anwesenden göttlichen Ursprung ist. Hegel verschränkt damit wie schon Origenes und die kappadokischen Kirchenväter: Basilius der Große, Gregor von Nazianz und besonders Gregor von Nyssa das christliche Motiv der Menschwerdung Gottes mit dem Platoiüschen Motiv der öpoicoai^ 0e(p,*®° der Angleichung an Gott, die sich auch für Platon in der Erhebung der denkenden Seele über alles 158 TWA. Bd 18. 93. - Vgl. zum folgenden K. Düsitig: Endliche und absolute Subjektivität. 54 ff. 159 In diesem Zusammenhang vergleicht Hegel mit deutlichem Anklang an Numenios (Fr. 14 des Places) den menschlichen Geist mit dem brennbaren Stoff, der vom göttlichen Geist entzündet wird: TWA. Bd 19.96; Vorlesungen. Bd 6.176 f; vgl. 251. - Zur NumeniosRezeption des Frankfurter Hegel oben Kapitel I § 3. - Zu Hegels Aufnahme von Aristoteles' Lehre vom aktiven Nous, deren Einzelheiten, insbesondere was das Verhältnis von aktivem, göttlichem imd passivem, menschlichem Nous betrifft, er stark umdeutet, vgl. eingehend W. Kem: Eine Übersetzung Hegels zu De Anima III, 4-5. In: Hegel-Studien. 1 (1961), 49-88. Ders.: Die Aristotelesdeutung Hegels. Die Aufhebung des Aristotelischen „Nous“ in Hegels „Geist". In: Philosophisches Jahrbuch. 78 (1971), 237-259. 180 Platon: Theaitet 176 B; vgl. auch Politeia 613 AB, Tim. 90 D, Nom. 716 C ff. - Vgl. zur Aufnahme und Umformung dieses Platonischen Motivs im Denken insbesondere der griechischen Kirchenväter H. Merki: 'Oiioicoo^ 08(5. Von der platonischen Angleichung an

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2. Kapitel; Hegels Ortsbestimmung des Neuplatonismus

Sinnenfällige und Veränderliche zur Transzendenz der göttlichen Ideen und des reinen Nous als des allein wahrhaft Seienden vollzieht, also im Wissen des Philosophen als dem Mitvollzug des göttlichen Lebens.'®^ Auch Hegel faßt die Angleichimg an Gott mit Platon als die denkende Erhebimg des Menschen zum reinen Geist auf, imd zwar genauer als im spekulativen Denken vollzogenes Transzendieren der Sinnlichkeit und Natürlichkeit, das aber zugleich in Christus schon wirklich imd sinnlich gegenwärtig ist, nämlich in seiner Überwindtmg des Todes und in seiner nachösterlichen Verherrlichung. Hegel betont dabei, daß mit der Erhöhvmg Christi zugleich die menschliche Natur als solche zu Gott erhöht werde, da „der Triumph über das Negative nicht Ausziehung der menschlichen Natur", sondern vielmehr deren Bewährung sei.^“ Indem Hegel imter Berufung auf das Johannesevangelium in der Menschwerdung Gottes xmd der Erhöhung des Menschen zu Gott das Zentrum der Christologie erblickt, deutet er diese wie die platonisierenden griechischen Kirchenväter - insbesondere Origenes und in seinem Gefolge die Kappadokier - letztlich platonisch,^“ während die lateinische Theologie seit Augustin imd verschärft die reformatorische Theologie seit Luther in Aufnahme und Verstärkung Paulinischer Motive den Kreuzestod als stellvertretende Sühne für die sündige und erbsündige Menschheit ins Zentrum gestellt hat. Hegel hätte sich für sein davon abweichendes Verständnis der Erlösung durch Christus auf Gregor von Nyssa berufen können, der das Zentrum des menschlichen und speziell des christlichen Bezugs zu Gott in der durch die Menschwerdung Gottes ermöglichten unendhchen Selbstüberschreitimg des Menschen auf die absolute UnendÜchkeit Gottes hin sah.^®^ Hegels intellektualistischer. Gott zur Gottähnlichkeit bei Gregor von Nyssa. Freiburg (Schweiz) 1952. Vgl. auch den Exkurs bei W. Beierwaltes: Proklos. 385 ff. 161 Vgl. bes. Platon: Phaidr. 247 C ff imd dazu Th. A. Szlezdk: Das Wissen des Philosophen in Platons Phaidros. In: Wiener Studien. 107 (1994), 259-270, spez. 267 ff. Iß Vgl. GW. Bd 17.271 f (vgl. TWA. Bd 17.291 Anm.). 163 Vgl. dazu im einzelnen E. Düsing: Hegels spekulative Deutung des Christentums. Basel 1980. Bes. 18 ff. Dies.: Hegels spekulative Deutung der Christologie. In: Verabschiedung oder naturphilosophische Weiterbildung der Metaphysik? Hrsg, von R. Bäumer und A. von Stockhausen. Frankfurt 1990. 371-386, bes. 382 und ff. - Vgl. zu Origenes W. Völker: Das Vollkommenheitsideal des Origenes. Tübingen 1931.121 ff. Zu den Kappadokiem imd speziell zu Gregor von Nyssa ders.: Gregor von Nyssa als Mystiker. Wiesbaden 1955. Bes. 274 ff. 164 Vgl. dazu Th. Böhm: Theoria - Unendlichkeit - Aufstieg. Böhm weist nach, daß Gregor das Motiv der Unendlichkeit Gottes und der korrespondierenden unendlichen Selbstüberschreitung des Menschen Plotin verdankt, während noch £. Mühlenberg: Die Unendlichkeit Gottes bei Gregor von Nyssa (Göttingen 1966) Gregor gerade durch seinen Unendlichkeitsgedanken vom Platonismus unterscheiden wollte.

§ 3. Neuplatonismus und Christentum

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platonisierender Erlösungsbegriff weicht somit zwar von der theologischen Orthodoxie der westlichen Kirchen ab, doch stimmt er durchaus mit der von Origenes bis Johannes von Damaskus durchgehaltenen Grundauffassung der griechischen Kirche überein, die Gregor von Nazianz, den Hegel gut kannte, auf die bekaimte Formel gebracht hat, „daß Gott Mensch werden mußte, damit der Mensch Gott werden kann" (iva YevtopaiToooüTov 0eö(;, öoov Sxetvo^ äv0Qcojto(;).^^ Das Dogma der Inkarnation drückt für Hegel nun diese Einheit von absolutem, göttlichem und subjektivem, menschlichem Geist aus, welche die Weltlichkeit imd Objektivität des Geistes ausmacht. Diese Einheit wird in Christus individuell, zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort, also geschichtlich real; denn die Idee muß Hegel zufolge in ihrer Selbstbesonderung bis zur unmittelbaren Einzelheit eines konkreten menschlichen Individuums gehen.^“ Hegel betont eigens gegen den Neuplatonismus: „Aber es ist nicht hinreichend, daß das konkrete Moment in Gott gewußt wird; sondern es ist notwendig, daß es auch gewußt wird im Zusammenhang mit dem Menschen, daß Christus ein wirklicher Mensch war. Dies ist der Zusammenhang mit dem Menschen, als Diesem; dies Dieser ist das ungeheure Moment im Christentum, es ist das Zusammenbinden der ungeheuersten Gegensätze. Die Einheit der Idee entzweit sich in die reine überweltliche Idee selbst und ihren äußersten Gegensatz, die radikale Endlichkeit des Geistes in einem einzelnen, sterblichen Menschen, und bleibt in dieser äußersten Entzweiimg doch absolute, die Entgegengesetzten in sich umfassende und aufhebende und darin unendliche Einheit. Die konkrete Allgemeinheit des Absoluten vollendet sich so erst darin, daß sie bis zur vmmittelbaren Einzelheit eines wirklichen individuellen Selbst fortgeht 165 Gregor von Nazianz: Oratio 29,19. Patrologia Graeca. Bd 36.100 A, vgl. auch 636 A. Hegel zitiert eine Stelle aus Gregors De deitateßlii (558 B) in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (TWA. Bd 12. 410). - Vgl. zur platonisierenden Erlösungslehre der griechischen Väter den gründlichen und irrformativen geschichtlichen Überblick von C. Andresen: Artikel „Erlösung". In: Reallexikon ßir Antike und Christentum. Bd VI (1966). Sp. 54-219, bes. 142 ff (zu Origenes), 195 ff (zu den Kappadokiem), 208 ff (zu Ps.-Dionysius Areopagita). 166 Vgl. dazu auch TWA. Bd 14.23 f; Bd 19.494. - Zu Hegels Christologie vgl. H. Küng: Menschwerdung Gottes. Eine Einßhrung in Hegels theologisches Denken als Prolegomena zu einer künßigen Christologie. Freiburg u. a. 1970. /. Yerkes: The Christology of Hegel. 2. Aufl. Albany 1982. Vgl. auch den Forschungsüberblick bei W. faeschke: Die Religionsphilosophie Hegels. 91 ff. 167 TWA. Bd 19. 506; ähnlich Vorlesungen Bd 9. 15. - Vgl. auch Hegels genau entsprechende Kritik an der Gnosis: TWA. Bd 19.461 -463; Vorlesungen. Bd 8.183-185 (dazu unten Kap. IO § 1; Kap. IV § 1 D).

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2. Kapitel: Hegels Ortsbestimmung des Neuplatonismus

und dabei doch in sich selbst bleibt.^“ Erst in dieser Einheit der extremsten, „ungeheuersten" Gegensätze wird der Geist als das absolut Konkrete wirklich erfaßt, imd deshalb geht das Christentum mit der Menschwerdimg Gottes in einem für Hegel entscheidenden Punkt über die neuplatonische Transzendenz des Geistes hinaus.**^ Das, was für Hegel das weltgeschichtlich Neue der Spätantike ausmacht, die „Revolution, die sich in der Welt gemacht hat", nämlich „daß sich das Selbstbewußtsein in seinem Denken als das Absolute wußte",^^“ drückt sich im christlichen Inkamationsglauben dadurch aus, „daß das Selbstbewußtsein - ein wirklicher Mensch - das absolute Wesen ist."^^^ Eben diese Wirklichkeit des Selbstbewußtseins hat das Christentum der intelligiblen Welt des Neuplatonismus voraus, die in ihrer Transzendenz für Hegel „unwirklich" bleibt. Bei der unmittelbaren Einzelheit des Gottmenschen kann es freilich auch für Hegel nicht bleiben; vielmehr ist die Einheit von göttlichem und menschlichem Selbstbewußtsein immer auch intersubjektiv wirklich und gegenwärtig, nämlich im glaubenden Bewußtsein der Gemeinde: „der göttliche Geist lebt in seiner Gemeinde, ist darin gegenwärtig. Dies Vernehmen ist Glaube genarmt worden... Diese Einheit ist... die wissende Substanz im Selbstbewußtsein, welche sich vemnendlicht und zur Allgemeinheit verhält."'^ Erst in seiner intersubjektiven Lebendigkeit und Gegenwart im Bewußtsein der Gemeinde von ihrer Einheit mit Gott und noch nicht in seiner sinnlichen Gegenwart in der geschichtlichen Person Christi hat der Geist seine „höchste Wirklichkeit"^^ als unendliche Subjektivität. Das Inkamationsdogma bringt den absoluten Geist für Hegel darum nur dann angemessen zum Ausdmck, wenn es nicht als isolierte Aussage über einen einzelnen Menschen verstanden wird, sondern als Aussage über den Menschen überhaupt, insofern die Natur oder das Wesen 168 Vgl. TWA. Bd 19.508: „In der Welt ist nun dies selbst geschehen, daß das Absolute geoffenbart worden ist als das Konkrete, und zwar näher nicht nur im Gedanken auf allgemeine Weise als intelligible Welt; sondern das Konkrete ist zu seiner letzten Intensität in sich fortgegangen. So ist es ein wirkliches Selbst, Ich, - das absolut Allgemeine, konkret Allgemeine, das Gott ist, und darm der absolute Gegensatz zu dieser Bestimmimg, das schlechthin Endliche in Raum und Zeit daseiend, aber dieses Endliche in Einheit mit dem Ewigen als Selbst bestimmt... das ist die Erscheinung des Christentums." 1® Vgl. TWA. Bd 19.506; Vorlesungen. Bd 9.15; auch TWA. Bd 17.274 ff. 170 TWA. Bd 19.404; vgl. 408; Vorlesungen. Bd 8.159. 171 TWA. Bd 19.407. 172 TWA.Bdl8.93f. 173 Notizen zum absoluten Geist. 25: „Gott lebt in seiner Gemeinde, - dies seine höchste Wirklichkeit". - Zu Hegels spekulativer Pneumatologie vgl. W. Jaeschke: Die Vernunft in der Religion. 348 ff. Zur Forschung ders.: Die Religionsphilosophie Hegels. 100 ff.

§ 3. Neuplatonismus und Christentum

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des Menschen der Geist ist; die Menschwerdung Gottes muß darum mit der Pneumatologie zusammengedacht und von der Anwesenheit Gottes als Geist in seiner Gemeinde her verstanden werden.'^^ Hegel deutet die Menschwerdung Gottes somit einerseits mit dem kirchlichen Dogma als in der Individualität eines historisch einmaligen Gottmenschen verwirklicht, zugleich aber über das Dogma hinaus als das Realwerden und Sichselbst-Erfassen des göttlichen Geistes im menschlichen Selbstbewußtsein überhaupt, das im wirklichen Selbstbewußtsein historisch realer Menschen sich vollzieht, dabei aber über die Individualität des Gottmenschen hinausgreift in der Erfassung der Einheit von Gott und Mensch in der menschlichen Natur überhaupt, sofern die Natur des Menschen eben der Geist ist; der absolute Geist ist dabei im realen menschlichen Geist gegenwärtig, und zwar sowohl subjektiv im einzelnen menschlichen Selbstbewußtsein als auch intersubjektiv im Bewußtsein der Gemeinde, das im philosophischen Begreifen der Idee des Christentums zu reflektiertem Selbstbewußtsein kommt. - In der Tendenz ähnlich hatten schon Meister Eckhart und (abgeschwächt) Nikolaus von Kues die Inkarnation als die Gottesgeburt in der menschlichen Seele gedeutet: sie bedeutete für sie die Untrennbarkeit der menschlichen Vernunft von ihrem transzendenten göttlichen Grund, dem bestimmimgslosen absoluten Einen, das sich im Denken der Vernunft selbst bestimmt imd erfaßt und sich darin allererst als Gott selbst gebiert, weü er so erst personaler, sich denkend imd liebend auf sich selbst beziehender, dreifältiger Gott ist.^^® Eckhart ging dabei ähnlich wie Hegel von einer spekulativen Umdeutung der Aristotelischen Lehre vom aktiven Intellekt aus, die er in seiner Lehre vom Seelengrund als dem unerschaffenen und unerschaffbaren Ort der Gottesgeburt mit der Augustinischen Lehre von der mens hurrnna als dem Bild der göttlichen Trinität verband. Hegels spekulative Pneumatologie

174 Vgl. TWA. Bd 17.298 und 304 ff, 324 ff (vgl. Hegels Manuskript GW. Bd 17.279 ff) 175 Hegel kannte Eckharts Philosophie der Inkarnation, wie sie vor allem in den deutschen Predigten daigelegt ist, zumindest in ihren entscheidenden Grundzügen: er zitiert zentrale Sätze aus drei deutschen Predigten Eckharts: TWA. Bd 16. 209 (zu den EckhartBezügen schon beim jungen Hegel oben Kap. 1 § 1). - Zu Eckhart vgl. die umfassende, seine Verflochtenheit mit der intellekttheoretischen Tradition neuplatonischer und Aristotelischer Provenienz gut herausarbeitende Gesamtdarstellung von S. Mojsiack: Meister Eckhart. Analogie, Univozität und Einheit. Hamburg 1983. Zu Cuscinus' Metaphysik der mens als Gegenwart des unendlichen göttlichen Einen in der Welt vgl. K. H. Volkmann-Schluck: Nicolaus Cusanus. Die Philosophie im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Frankfurt 1957. 2. Aufl. 1968.71 ff. - Zur Vorbereitung der mystischen Lehre von der Gottesgeburt im Denken der BCirchenväter: H. Rahner: Die Gottesgeburt. Die Lehre der Kirchenväter von der Geburt Christi im Herzen der Gläubigen, ln: Zeitschrift für Katholische Theologie. 59 (1935), 333-418.

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2. Kapitel: Hegels Ortsbestimmung des Neuplatonismus

nimmt die mystische Lehre von der Gottesgeburt in der Seele durchaus auf;'’'® - sie geht aber zugleich mit ihrer Betonung der intersubjektiven Dimension dieser Gottesgeburt noch darüber hinaus: der Ort der realen Gegenwart Gottes in der Welt ist für Hegel die Gemeinde, nicht der Seelengrund, der zwar auch für Eckhart nicht mehr individuell, aber eben auch keine intersubjektive Struktur ist, sondern vielmehr das reine, als absolute Selbstbeziehimg verstandene Ich, dessen Prinzip-Charcikter Eckhart entdeckt hat.'’'^

C. Die Idee als unendliche Subjektivität: Deßzienzen der neuplatonischen Transzendenzmetaphysik Der Neuplatonismus stimmt mm nach Hegel mit dem Christentum darin wesentlich überein, daß er die im natürlichen Verhältnis von Vater imd Sohn nur vorgestellte Trinität als die Struktur der Idee, die als in sich konkrete Totalität Dreiheit von Dreiheiten ist, philosophisch und d. h. spekulativ begreifend erkennt: „Zuletzt, in der neuplatonischen Schule, wird das Absolute also als konkret gewußt, die Idee in ihrer ganz konkreten Bestimmung als Dreieinigkeit, Dreiheit von Dreiheiten, so daß diese immer noch weiter emanieren. Jedes ist aber ein Dreieiniges in sich, so daß die abstrakten Momente dieser Trias auch gefaßt sind als Totalität. Als wahr gilt nur ein solches, das sich manifestiert und darin sich als das Eine erhält. Die Alexandriner sind konkrete Totalität an sich; sie haben die Natur des Geistes aufgefaßt. Sie sind aber nicht a) ausgegangen von unendlicher Subjektivität, der Tiefe, dem absoluten Bruch, haben nicht ß) die absolute (abstrakte) Freiheit, das Ich, den imendlichen Wert des Subjekts."'^»

176 Als die höchste Stufe der Realisierung (Gottes in) der Gemeinde nennt Hegel den „Genuß dieser Aneignung, der Gegenwärtigkeit Gottes. Es handelt sich eben um die bewußte Gegenwärtigkeit Gottes, Einheit mit Gott, die unio mystica, das Selbstgefühl Gottes" (TWA. Bd 17.327); vgl. Notizen zum absoluten Geist. 31: „ Wirklicher allgemeiner Geist-, - daher selbst eigener Geist... Göttlich, nur im Glauben und Geist... Im Mystischen höchsten Punkt". Dieser mystischen fruitio Dei am Ende der Religionsphilosophie entspricht der Selbstgenuß des absoluten Geistes am Ende der Enzyklopädie (§ 577); daß Hegel dort die Selbsterkeimtnis des absoluten Geistes als Selbstgenuß bestimmt, knüpft zugleich an Aristoteles an (Metaph. 1072 b 24: xal f| Oecogla tö fjöiotov xal dgioTov). 177 Vgl. dazu B. Mojsisch: ,Dieses Ich': Meister Eckharts Ich-Konzeption. In: Das Licht der Vernunft. Die Anfänge der Aufklärung im Mittelalter. Hrsg, von K. Hasch und U. R. Jeck. München 1997.100-109. 178 TWA. Bd 19.488. Vgl. dazu auch Enz. § 377 Zusatz (TWA. Bd 10.10).

§ 3. Neuplatonismus und Christentum

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Die neuplatonische Metaphysik erfaßt das Wesen des Geistes also für Hegel grundsätzlich richtig: Sie erkennt die Idee als Drei-Einigkeit von ursprunghafter, unentfalteter Einheit, Selbstentfaltung oder Selbstentzweiung in die Vielheit, in der sich die anfänglich unbestimmte Einheit selbst bestimmt, und Rückkehr der Einheit in ihrem Sich-Bestimmen zu sich selbst; sie erkennt weiter diese Drei-Einheit als konkrete Totalität, deren imterschiedene Momente einander so durchdringen, daß jedes Moment in sich zugleich das Ganze und damit selber triadisch ist, worin zugleich enthalten ist, daß das Ganze in seiner Entfaltung mit sich identisch bleibt; und sie erkennt zuletzt (bei Proklos) in der Abfolge der Triaden die sukzessive inhaltliche Anreicherung der Bestimmungen der Idee sowie in der imtrennbaren Einheit der Triaden die Rückkehr der Idee durch den zeitlosen Prozeß ihrer Bestimmung zu sich selbst. Die Neuplatoniker erkennen ferner richtig, daß der Ursprung - sei es das Eine selbst als der transzendente Ursprung der Totalität, sei es der Nous als der Ursprung seiner eigenen, ihm immanenten Bestimmungen und der nachfolgenden Seinsstufen, sei es die Seele als Ursprung der erscheinenden Welt - sich manifestieren muß, sich also in die Vielheit seiner Prinzipiate hinein entfaltet und dabei doch seine eigene Einheit bewahrt. Obwohl der Neuplatonismus damit den Nous als sich in sich selbst bestimmendes Denken und als konkrete Totalität richtig erfaßt, weist die neuplatonische Metaphysik des Geistes für Hegel doch einen doppelten Mangel auf: Sie geht erstens nicht von der Subjektivität als Prinzip aus, sondern faßt den Nous als Prinzipiat des in absoluter Transzendenz über alle Bestimmungen hinausliegenden Einen, - damit faßt sie aber auch die Idee noch nicht ais freie Subjektivität, zu deren Begriff es gehört, sich selbst und ihre Bestimmungen aus eigener Ursprünglichkeit und ursprünglicher Selbstmacht selbsttätig hervorzubringen; der Neuplatonismus zeichnet also die konkrete, in sich triadische Struktur der reinen Subjektivität zwar vor, fundiert diese aber noch nicht in der Spontaneität des Denkens selbst und erfaßt darum die Idee noch nicht als sich selbst frei hervorbringende Subjektivität. Weil dem Neuplatonismus mit seiner Fundierung des Geistes in der für ihn selbst uneinholbaren, absoluten Transzendenz des Einen für Hegel somit die Freiheit der absoluten Idee entgeht, fehlt ihm zweitens auch die Einsicht in die wahrhafte Unendlichkeit der Idee, zu deren eigenem Wesen es gehört, daß sie frei aus sich hinausgeht, um sich als unendliche Subjektivität in der Einheit mit dem wirklichen menschlichen Selbstbewußtsein in der Welt zu realisieren; aus dieser Einheit des göttlichen mit dem menschlichen Geist aber entspringt erst die absolute Freiheit

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2. Kapitel: Hegels Ortsbestimmung des Neuplatonismus

des Ich und der unendliche Wert des einzelnen Subjekts, das gerade in seinem Verhältnis zum Göttlichen ein absolut freies ist, da es diesem nicht mehr als Anderes gegenübersteht. - Der Neuplatonismus ist damit in doppeltem Sinne als Metaphysik des Transzendenten charakterisiert, insofern er zum einen den in sich richtig bestimmten Geist in seinem Transzendenzbezug zum jenseitigen Einen selbst begründet und des weiteren den reinen Geist selber von seiner welthaften Realisienmg im wirklichen menschlichen Selbstbewußtsein tmd in der Geschichte abtrermt. In dieser doppelten Transzendenzbezogenheit bleibt die neuplatonische Metaphysik für Hegel noch einseitig imd vorläufig. Denn dem auf unbegreifliche Weise aus dem überseienden Einen hervorgegangenen und von seiner Realisierung in der Sphäre des Endlichen getrennten Geist fehlt damit die Unendlichkeit und Freiheit der absoluten Subjektivität, die als absolute Totalität sowohl ihr Prinzip als auch ihre Weltlichkeit und Realität im Endlichen notwendig in sich selbst hat. Gegenüber dieser für Hegel doppelt einseitigen Geistmetaphysik haben die Kirchenväter in der Auseinandersetzung mit der Bestreitung der realen Menschwerdimg Gottes in der Gnosis - für die Christus nicht wirklicher Mensch war, sondern göttlicher Aon im transzendenten Pieroma - imd im Arianismus - für den Christus nicht wirklicher Gott war, sondern nur Gottes vornehmstes Geschöpf - die tiefste Wahrheit des Christentums bewahrt, die Hegel in der Einheit von göttlicher und menschlicher Natur in Christus sieht:^'^ «... gegen diese haben die Kirchenväter behauptet die Einheit der göttlichen und menschlichen Natur, die in den Individuen der Kirche zum Bewußtsein gekommen ist, und dies ist die Hauptgrundbestimmung. Das Prinzip des Zurückbeugens und Zusammenfassens bei den Neuplatonikem ist das der Substantialität überhaupt; indem aber diese letztere fehlt, geht ihrer Idee des Geistes ein Moment ab, - das Moment der Wirklichkeit, der Spitze, welches alle Momente in eins zieht und damit unmittelbare Einheit, abstrakte Allgemeinheit, Sein wird. Der Geist ist bei ihnen nicht individueller Geist; dieser Mangel wird durch das Christentum ersetzt, in 179 Vgl. z. B. TWA. Bd 19.506; Vorlesungen. Bd 9.15 f. Hegel geht sogar soweit zu sagen: „Aber sobald die Gottheit Christi wegbleibt, ist die Dreieinigkeit nicht mehr vorhanden und damit die Grundlage der ganzen spekulativen Philosophie weggenommen." (Bd 19. 530). - Dies gilt allerdings strenggenommen - gerade nach Hegels eigenen Voraussetzungen - nur für die geschichtlich reale Trinität; die immanente Trinität als die Struktur der überweltlichen Gotüieit oder der Idee in sich karm durchaus ohne die Inkarnation in Christus erkannt werden, was Hegel den Neuplatonikem und anfangsweise schon den Pythagoreem, Platon und Aristoteles wie übrigens auch den Gnostikern zugesteht.

§ 3. Neuplatonismus und Christentum

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welchem der Geist als daseiender, gegenwärtiger, unmittelbar in der Welt existierender Geist, in welchem der absolute Geist in unmittelbarer Gegenwart als Mensch gewußt wird und jedes Individuum für sich imendlichen Wert und Teilnahme an diesem Geiste hat, der ja eben im Herzen jedes Menschen geboren werden soU. Hier ist also das Individuum als solches frei... jeder Einzelne Zweck der Gnade Gottes, und Ich als solcher bin von tmendlichem Wert."'®’ In der neuplatonischen ^jucrcQotpii, die Hegel umdeutet als die Rückkehr des Ursprungs in seinen Prinzipiaten zu sich selbst, erkennt er zwar die denkende Selbstbeziehung der Idee, den sich selbst denkenden Nous an; die ^moTQoqyf) des Nous ist jedoch bei Plotin wie bei Proklos als Selbstzuwendimg des Geistes in eins die Hinwendimg auf seinen überseienden Ursprung, das absolute Eine selbst.'®' In dieser Zuwendung zu seinem absolut transzendenten Ursprung, in der sich der Nous allererst selbst konstituiert, erfaßt er sich aber für Hegel noch nicht als freie Subjektivität, die sich aus eigener Spontaneität xmd Freiheit selbst hervorbringt. Die neuplatonische fijuoxQOekt des Ideenkosmos selber ist, versuche ich zu zeigen in: /. Halfwassen: Der Demiurg: Seine Stellung in der Philosophie Platons und seine Deutung im antiken Platonismus. In; La riception du ’Tim6e' de Platon. Hrsg, von A. B. Neschke und A. Etienne. Erscheint Louvain 1999. 165 Vgl. Aristoteles: De an. 429 a 27 f (Test. Plat. 66 A): xal ei 8f) ol kevovte:; TT)V ijniXTiv eivai TÖJtov E16ö)V. Zur Deutung des xönoq elöwv als Aufnahmeort der Ideen vgl. Johannes Philoponos: Test. Plat. 66 B. 166 Platon drückt dies dadurch aus, daß die Wesenheit des Verschiedenen in die Identität hineingefügt wird (TT)V Gatepou rpüoiv... elqTaüxöv ouvaQuöntov, A 7f), die jene also in sich umfaßt, und daß die drei Mischungsprodukte zu einer Eiiüieit gemacht werden (ouvexepdaoTo el(; piav jtdvra lösav, A 7; Ix TQIWV n:oiT)od|j,8voq ev, B1).

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3. Kapitel: Der Neuplatonismus und seine Quellen in Hegels Sicht

heit dieser beiden Gegensatzverhältnisse ist die Seele zugleich in besonderer Weise die Einheit und Vermittlung des Prinzipiengegensatzes von Einheit imd Vielheit, der sowohl dem Gegensatz von Sein imd Werden, Unteilbarkeit und Teilbarkeit als auch dem je verschieden ponderierten Spannungverhältnis von Identität und Verschiedenheit auf den drei Seinsstufen begründend zugrundeliegt. Als die harmonische Einheit aller dieser Gegensatzverhältnisse enthält die Seele somit die gesamte Struktur des Seins in seiner Entfaltung von der Einheit in die Vielheit auf den drei Stufen des Seienden in sich und vermag eben darum - wie Aristoteles in seinem Referat über die Konstitution der Seele (Test. Plat. 25 A) hervorhebt - alles Seiende zu erkennen, weil sie die durchgängig durch die Bipolarität der Prinzipien geprägten Strukturen aller Seinsstufen als die mittlere Seinsstufe in sich vereinigt. In diesem Sinne ist „die Seele in gewisser Weise alles Seiende", wie Aristoteles ganz im Sinne Platons sagt.’^^ Das Wesen der denkenden Seele ist also die Vermittlung der Gegensätze, sie verbürgt den Gesamtzusammenhang des Seienden innerhalb der hierarchischen Abstufung der Seinsstufen und innerhalb der alle Seinsstufen bestimmenden kategorialen Differenzierungen des Seienden.

B. Hegels Deutung der Seelenmischung Hegel deutet die auch von ihm als zentral erkannte Timaios-Stelle nun in mehrfacher Hinsicht um. Zum einen abstrahiert er von dem spezifischen Bezug auf die (denkende) Seele und möchte in ihr „die Natur der Platonischen Idee" dargelegt finden,^^ was zwar angesichts der Tatsache, daß Platon die „Eine Idee" der Seele (Tim. 35 A 7) aus den Strukturelementen des Ideenkosmos ableitet, keineswegs abwegig ist, den spezifischen - nämlich kosmologischen und psychologischen - Kontext der Stelle aber weitgehend ausblendet. - Hegels Umdeutung dürfte durch seine eigene Bestimmung der Idee als der Einheit von Begriff und Realität motiviert sein; denn dieselbe Einheit von Begriff und Realität findet er bei Platon in dem durch die Seele vermittelten Zusammenschluß des voij