Hans Delbrück und Weimar: Für eine konservative Republik – gegen Kriegsschuldlüge und Dolchstoßlegende [1 ed.] 9783666370632, 9783525370636

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Hans Delbrück und Weimar: Für eine konservative Republik – gegen Kriegsschuldlüge und Dolchstoßlegende [1 ed.]
 9783666370632, 9783525370636

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Christian Lüdtke

Hans Delbrück und Weimar Für eine konservative Republik – gegen Kriegsschuldlüge und Dolchstoßlegende

Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Band 99

Christian Lüdtke

Hans Delbrück und Weimar Für eine konservative Republik – gegen Kriegsschuldlüge und Dolchstoßlegende

Vandenhoeck & Ruprecht

Die Schriftenreihe wird herausgegeben vom Sekretär der Historischen Kommission: Helmut Neuhaus

Umschlagabbildung: Hans Delbrück, Zeichnung von 1929. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachlass Hans Delbrück, Faszikel 12.1, Berchtesgadener Anzeiger vom 18. Juli 1929. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2197-4721 ISBN 978-3-666-37063-2 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Gedruckt mit Unterstützung der Franz Schnabel Stiftung. © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 II. Hans Delbrück und die Hohenzollernmonarchie . . . . . . . . . . . . 35 III. Für eine konservative Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 1. Das Abendland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 a) Die »Weltgeschichte« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 b) Ein neues Zeitalter ohne Kriege? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 c) Revanche oder Versöhnung? Außenpolitische Überlegungen . . 103 2. Die Weimarer Reichsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 a) »Der Prophet des deutschen Staatsgedankens« . . . . . . . . . . 116 b) Die Verfassungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 c) Der Skandal um die Schul-Buch-Prämie . . . . . . . . . . . . . . 138 3. Das Erbe der Monarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 a) Die Rückkehr des Kronprinzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 b Die Reichspräsidentenwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 c) Der Volksentscheid zur Fürstenenteignung . . . . . . . . . . . . 157 d) Die Flaggenfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 IV. Gegen die Kriegsschuldlüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 1. Die Viererkommission in Versailles . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 2. Der Kriegsschuldprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 3. Fehler oder Vorsatz? Die Entwicklung der Schuldfrage . . . . . . . 221 4. Die Disputationen mit ausländischen Kriegsschuldforschern . . . 248 a) Ernest Lavisse, Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 b) James Beck, Vereinigte Staaten von Amerika . . . . . . . . . . . 251 c) James Wycliffe Headlam-Morley, Großbritannien . . . . . . . . 255 d) François-Alphonse Aulard, Frankreich . . . . . . . . . . . . . . 262 e) Victor Basch, Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 f) Charles Sarolea, Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 5. Die offiziösen Propagandastellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

6 V.

Inhalt

Gegen die Dolchstoßlegende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 1. Der Kampf gegen Ludendorff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 2. Der Reichstags-Untersuchungsausschuss . . . . . . . . . . . . . . 340 3. Der Dolchstoßprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 4. Die amtliche Geschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . 375

VI. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 VII. Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 VIII. Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 1. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 a) Archive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 b) Periodika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 c) Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 2. Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 IX. Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427

Vorwort Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung einer Dissertation mit dem Titel »Hans Delbrück. Ein nationaler Mann im Kampf gegen ›nationalen Fanatismus‹, 1918–1929«, die 2016 von der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn im Fach Mittelalterliche und Neuere Geschichte angenommen worden ist. Zahlreiche Personen haben mich auf dem Weg dorthin auf verschiedene Weise unterstützt. Danken möchte ich vor allem meinem akademischen Lehrer und Doktorvater Prof. Dr. Dominik Geppert, der mich zu diesem Thema geführt hat und bei Fragen stets für mich da war. Sodann bedanke ich mich bei Prof. Dr. Joachim Scholtyseck als zweitem Gutachter und dessen anregendem Geist. Prof. Dr. Matthias Becher als Vorsitzendem sowie Prof. Dr. Dittmar Dahlmann als viertem Mitglied der Prüfungskommission bin ich ebenfalls zu Dank verpflichtet für ein zügiges und reibungsloses Prüfungsverfahren. Besonderen Dank schulde ich Folkmar Uthoff †, der die Lust an der Geschichte in mir zu Schulzeiten erweckt hat, sowie Prof. Dr. Heinrich August Winkler, der in seinem letzten Semester mir in meinem ersten Semester die Lust an der Geschichtswissenschaft vermittelt hat. Herzlich danke ich sodann insbesondere den Mitarbeitern der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin  – Preußischer Kulturbesitz sowie des Bundesarchivs in Koblenz, die mir bei meinen längeren Archivaufenthalten sehr unkompliziert und zuvorkommend alle vorhandenen Materialien zugänglich gemacht haben. Darüber hinaus danke ich den Mitarbeitern der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn für die freundliche Beschaffung zahlreicher Bücher sowie den Mitarbeitern des Kunstmuseums Unser Lieben Frauen in Magdeburg, des Universitätsarchivs der Humboldt-Universität zu Berlin, des Geheimen Staatsarchivs – Preußischer Kulturbesitz sowie der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn für ihre jeweilige Unterstützung. Den Angehörigen der Familie Delbrück danke ich für einige wertvolle Hinweise. Professor Dr. Helmut Neuhaus und Dr. Karl-Ulrich Gelberg danke ich sehr für die Aufnahme dieser Studie in die Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Prof. Dr. Hans-Christof Kraus für den Vorschlag. Dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht danke ich für die gute Zusammenarbeit bei der Veröffentlichung. Der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit verdanke ich die Förderung mit einem Promotionsstipendium aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und einiges mehr. Für Übersetzungen aus dem Französischen danke ich Martin Sacher, für einige fruchtbare Anregungen Dr. Philip Rosin und Dr. Christoph Studt sowie für diverse Unterstützungen innerhalb und außerhalb der Universität Benedikt Pocha und den »Bonner Geschichts-Mastern der ersten Stunde«. Ganz besonderen Dank schulde ich Dr. Susann Grune, die nicht nur das gesamte Manuskript gelesen und unzählige

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Vorwort

Hilfen gegeben, sondern mich auch mit sehr viel Liebe begleitet hat. Der meiste Dank gebührt meinen Eltern Dr. Angela Lüdtke und Prof. Dr. Hartwig Lüdtke, denen dieses Buch gewidmet ist. Christian Lüdtke, Hamburg, im Juli 2017

I. Einleitung »Ist es mir auch nicht gelungen, dem Sturm rasender Leidenschaften gegenüber die Stimme der Vernunft so weit zu Gehör zu bringen, daß der Weg, der noch vielleicht zur Rettung hätte führen können, wirklich eingeschlagen worden ist, so ist es dennoch, hoffe ich, nicht ohne Wert, daß die Mit- und Nachwelt weiß, daß im deutschen Volke solche Stimmen vorhanden waren.«1

Diese Worte Hans Delbrücks in seinen »Preußischen Jahrbüchern« im Dezemberheft 1919, mit denen er sein Wirken im Ersten Weltkrieg resümierte, bringen sein Selbstverständnis als politischer Publizist zum Ausdruck. Die vorliegende Studie untersucht das politische und publizistische Wirken des Historikers Hans Delbrück in der Weimarer Republik. Das Erkenntnisinteresse zielt darauf ab, wie er als Intellektueller politisch mit dem Erlebnis des militärischen und politischen Zusammenbruchs von 1918 in den Folgejahren umging. Delbrück und seine Aktivitäten dienen gewissermaßen als »Gradmesser« für den »Strukturwandel politischer Öffentlichkeit«2: Indem sein Wirken in der Weimarer Republik analysiert wird, kann gezeigt werden, wie sich die politische Kultur im Deutschland der 1920er Jahre entwickelt hat. Die Schwerpunkte von Delbrücks Engagement waren seine Beiträge in den Diskussionen über die Ausgestaltung der Republik in Abgrenzung zum konstitutionellen Kaiserreich, in der Debatte über die Ursachen des Ersten Weltkriegs und zu den Auseinandersetzungen über die Gründe der deutschen Niederlage. Als 1848 geborener Spross einer in Preußen und Deutschland weit verzweigten Familie, Frontkämpfer im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 und zeitweiliger Prinzenerzieher am Hof des späteren Kaisers Friedrich III. stand er zu dem Hohenzollernreich in einer innigen Beziehung. Als dieses Reich im November 1918 zusammenbrach und damit vieles versank, womit er fest verbunden gewesen war, stellte er sich dennoch auf den Boden der Tatsachen und wirkte am Gedeihen der jungen Republik mit großem Engagement bis zu seinem Tod im Sommer 1929 mit. Es hätte ihm kaum einer verübelt, wenn er sich mit 70 Jahren aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen und den alten Zeiten hinterhergetrauert hätte3. Was trieb den Historiker dazu, sich auf einmal für den Parlamentarismus und für die Republik einzusetzen? Und hat er das 1 Hans Delbrück: »Abschied«, in: PJb 178 (1919), S. 369–372, Zitat S. 370. Im gesamten Verlauf der Arbeit werden wörtliche Zitate grundsätzlich exakt wiedergegeben, auch bei falscher Rechtschreibung oder erkennbaren Flüchtigkeitsfehlern. Jede Hervorhebung im Original wird kursiv übernommen, unabhängig von der Hervorhebungsform im Original. 2 Mit diesem Begriff beschreibt Hübinger, Intellektuellengeschichte, S. 11, allgemein den Nutzen einer Untersuchung Intellektueller unter Rückgriff auf den 1962 von Jürgen Habermas geprägten Begriff des »Strukturwandels der Öffentlichkeit«. 3 So schon 1929 Ziekursch, Delbrück, S. 94 f.

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überhaupt getan? Wurde er zu einem Republikaner? Welche Ideen entwickelte er auf der Basis seiner hergebrachten Überzeugungen und in Anwendung auf die neuen Umstände? Sowohl Zeitgenossen, als auch spätere Forscher haben sich stets sehr schwer damit getan, Hans Delbrück politisch einzuordnen und zu verstehen. Der Ökonom Gustav Schmoller charakterisierte ihn 1916 in einem Atemzug mit Hugo Preuß als »liberal«4. Ähnlich ordnete ihn auch der DDR-Historiker Hans Schleier, der Delbrücks politisches Wirken durchaus anerkennend hervorhebt, für die Weimarer Republik der »pseudoliberalen Richtung« zu5. Auch das »Alto­ naer Tageblatt« schrieb Delbrück in einer Würdigung 1928 dem »gemäßigten Liberalismus« zu6. Und Alexander Thomas konstatiert, er habe »eine zentrale Sprecherposition für die Interessen des liberal, national und imperialistisch gesinnten Bildungsbürgertums des Kaiserreichs« eingenommen7. Ähnlich nutzt Boris Barth den Begriff des »liberalen Imperialisten«8. Hingegen spricht Rüdiger vom Bruch von einem »kons[ervativen] Realist[en]«9 und James Retallack verwendet für Hans Delbrück, Karl und Julius Bachem sowie Maximilian Harden die Beschreibung »moderate conservatives«10. Ähnlich nennt Herbert Döring ihn »freikonservativ«11 und nimmt damit aber lediglich Bezug auf die Tatsache, dass Delbrück sich in seiner Zeit als Parlamentarier in den 1880er Jahren der freikonservativen Fraktion angeschlossen hatte. Damit ist aber noch nicht viel über seine Grundanschauung gesagt. Friedrich Sell schreibt, Delbrück habe sich im Weltkrieg »vom Freikonservativen zum Liberalen gewandelt«12. Hans Steger kommt in seiner Dissertation über Delbrücks politisches Konzept im Wilhelminismus zu der Aussage, er sei ein »›gouvernementaler‹ Publizist« gewesen13. Die »Neue Zürcher Zeitung« bezeichnete ihn hingegen im März 1914 als einen »unverfälscht konservativen Publizist[en]«14. Hellmut von Gerlach schrieb zum Tod Delbrücks 1929 in der »Weltbühne«: »Ein königlich preußischer Professor, der sie [Sozialdemokraten, d. Vf.] in sein Haus ließ, galt bei der Mehrzahl seiner Kollegen bestenfalls als leicht verrückt. […] 4 Gustav Schmoller: »Obrigkeitsstaat und Volksstaat, ein mißverständlicher Gegensatz«, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche, 40,7 (1916), S. 423–434, Sonderdruck in: Bundesarchiv Koblenz [im Folgenden: BArch] N 1017/19. 5 Schleier, Geschichtsschreibung, S. 30. 6 E. Fries: »Hans Delbrück, der Berliner Geschichtsforscher«, in: Altonaer Tageblatt vom 10. November 1928, in: Staatsbibliothek zu Berlin  – Preußischer Kulturbesitz, Nachlass Hans Delbrück [im Folgenden: SBB NL Delbrück], Fasz. 8. 7 Thomas, Geschichtsschreibung, S. 198. 8 Barth, Dolchstoßlegenden, S. 112. 9 Bruch, Delbrück, S. 69. 10 Retallack, German Right, S. 244. 11 Döring, Kreis, S. 233. 12 Sell, Tragödie, S. 432. 13 Steger, Weltpolitik, S. X. 14 O. V.: »Die Ablehnung der Ostmarkenvorlage im deutschen Reichstage«, in: NZZ vom 6. März 1914, in: BArch N 1017/19.

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Er war eben kein Konservativer im altpreußischen Sinne [sic] sondern viel eher ein Tory im englischen Sinne.«15 Bekannt ist die Zuschreibung als »konservativer Sozialdemokrat«, die Delbrück angeblich sich selbst gegenüber der Frau Kaiser Friedrichs III. gegeben hatte16. Auch Theodor Heuss tat sich in einem später verfassten Rückblick schwer damit, Delbrück zu fassen: »Seine Natur paßte in kein Parteischema, auch nicht recht in eine wissenschaftliche ›Schule‹; er hatte die schöne Eigenschaft der Unbefangenheit, die im Fragen wie im Aussprechen. Deshalb war er ebenso erfrischend wie unbequem.«17 Und sein Gegner im Weltkrieg von der Vaterlandspartei, Georg von Below, schrieb 1918 in Bezug auf die Schwierigkeit der politischen Einordnung Delbrücks, freilich in polemischer Absicht: »Delbrück sollte doch aber seinem künftigen Biographen seine Arbeit nicht gar so schwer machen!«18 Die Kernthese dieser Arbeit ist, dass es nicht Hans Delbrück war, der seine politische Meinung geändert hat, sondern die Welt um ihn herum. Die politische Grundachse des Reichs verschob sich im Verlauf der Jahrzehnte von etwa 1890 bis 1945 stückweise nach rechts. Delbrück hingegen blieb Zeit seines Lebens ein überzeugter Konservativer und unverändert national gesinnt – von kleinen politischen Veränderungen blieb er allerdings nicht frei, wie noch zu zeigen sein wird. Auch im Kaiserreich war er bereits eine streitbare Persönlichkeit gewesen und wurde von vielen als Querulant empfunden. In Weimar verleugnete er seine Herkunft nicht und bekräftigte immer wieder, wie sehr er vom politischen System des Bismarckreichs überzeugt gewesen war. Aber er stellte sich dem Zug der Zeit und arbeitete gemäß seiner konservativen Grundüberzeugung am Wiederaufbau seines Landes mit. Er blieb sich somit selber treu. Aber es gab eine politisch gefährliche Strömung, die er sein ganzes Leben hindurch bekämpfte: eine Richtung, die den zunächst positiv besetzten nationalen Gedanken übersteigerte zu einem aggressiven Nationalismus  – einem »nationale[n] Fanatismus«, wie Hans Delbrück es beispielsweise im Programm seiner »Preußischen Jahrbücher« ausdrückte19. Träger dieses Gedankenguts waren im Kaiserreich vor allem die neu aufkommenden Verbände wie der Alldeutsche Verband, der Flottenverein oder der Ostmarkenverein. In ihnen organisierten sich Personen und formten eine 15 Hellmut von Gerlach: »Delbrück«, in: Weltbühne vom 30. Juli 1929, S. 181 f, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 12.6. 16 Daniels, Delbrück, S. 9 f, Zitat S. 10. Inwieweit diese Erzählung wahrheitsgemäß ist, müsste eine Untersuchung Delbrücks im Kaiserreich klären. Es besteht aber kein Grund, daran zu zweifeln. In der Sache war damit seine Nähe zu den Kathedersozialisten gemeint. Allerdings sollte man diesen Begriff eher Delbrücks Humor zuschreiben, dem es durchaus Vergnügen bereitete, sich einer einfachen Kategorisierung zu entziehen. 17 Heuss, Delbrück, S. 457. 18 Georg von Below: »Das gute Recht der Vaterlands-Partei. Eine Antwort an Prof. H. Delbrück«, Schriften der Deutschen Vaterlands-Partei, Nr. 1, 16-seitige Broschüre, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 95.1. 19 Zitiert nach: Christ, Delbrück, S. 163.

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politische Strömung, die das eigene, deutsche Volk als überlegen betrachtete und Feindschaft gegenüber nationalen Minderheiten im Reich sowie anderen Staaten entwickelte. Diese Form von mitunter ethnisch aufgeladenem Nationalismus war politisch deshalb gefährlich, weil sie dazu beitrug, Deutschland in der Welt zunehmend zu isolieren. Dabei war sie nicht Ausdruck der offiziellen Regierungspolitik, sondern entwickelte sich durchaus in Opposition zu ihr. Diese rechten Kreise bekämpfte Hans Delbrück vom Standpunkt seiner konservativen Weltanschauung aus20. Deshalb machte er sich in vielen rechts stehenden Kreisen sehr unbeliebt und wurde von Sozialisten häufig hoch geachtet. Im Ersten Weltkrieg erzielte die rechte Strömung schließlich einen bestimmenden Einfluss, indem sie den Krieg, der für die Masse der Bevölkerung als Verteidigungskrieg begonnen hatte, veränderte in einen Eroberungskrieg. Als mit Erich Ludendorff schließlich ein Vertreter dieser Geisteswelt eine Art zentraler Herrscher des Deutschen Reichs wurde, stürzte es 1918 schließlich in genau den Abgrund, vor dem Delbrück gewarnt hatte21. Daher fühlte Delbrück sich in seinen Anschauungen bestätigt, und hieraus schöpfte er im letzten Jahrzehnt seines Lebens die Kraft und die Überzeugung, weiterhin für seine Überzeugungen einzutreten. Und so engagierte er sich für eine konservative Republik sowie gegen die Kriegsschuldlüge und gegen die Dolchstoßlegende. Intellektuelle wie Hans Delbrück haben in vielfacher Form diese Zeit geprägt. Der Begriff »Intellektueller« ist in der politischen Publizistik aufgekommen in Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre in Frankreich um die Jahrhundertwende. Er bezeichnet (zumeist) Wissenschaftler, die öffentlich zu Themen außerhalb ihres eigenen Fachgebiets Stellung nehmen – in politischen und gesellschaftlichen Fragen. Ursprünglich waren damit in der Regel politisch Linksstehende, antinationale gemeint, die gegen die (Staats-)Macht auftraten. Dies lässt sich aber so verallgemeinert nicht aufrecht erhalten. Intellektuelle gibt es in allen politischen Lagern22. Bisweilen wird in dem Zusammenhang auch der Begriff »Gelehrtenpolitik« verwendet. Rüdiger vom Bruch versteht hierunter »jede[n] 20 Deshalb geht Llanque, Mittel, S. 456, fehl, wenn er Delbrück als »Kritiker der wilhelminischen Verengung der preußischen Staatsidee« kennzeichnet. Hans Delbrück kritisierte die chauvinistische »Verengung«, nicht die wilhelminische. Die wilhelminische Politik – also die Welt-, Flotten- und Kolonialpolitik – hieß Delbrück im Kern gut, er warnte nur vor unüberlegten Äußerungen des Kaisers und manchmal zu weitgehenden Forderungen. Siehe hierzu Kapitel II. 21 Wie sehr Delbrück und die Gemäßigten schrittweise ihren Einfluss auf die Regierung im Weltkrieg verloren und gleichzeitig die Alldeutschen sich der OHL annäherten, beschreibt Schwabe, Wissenschaft, S. 159. 22 Einführend zum Intellektuellenbegriff vgl. Hertfelder, Kritik. Delbrück selbst definierte den Begriff 1904 ziemlich ähnlich: Sie bildeten eine »Gruppe, die, außerhalb aller Parteien stehend, auch ohne in sich zusammengeschlossen zu sein, wesentlich in den Schichten der höheren Bildung wurzelnd, eine besondere Richtung und auch eine gewisse Macht darstellt.« (Hans Delbrück: »Intellektuelle und Zentrum«, in: Der Tag, Nr. 59 vom 5. Februar 1904, in: BArch N 1017/1). Zu den neuesten Fragestellungen der Forschung zur Intellektuellengeschichte vgl. Bavaj / Geppert, Elfenbeinturm.

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von Gelehrten als Gelehrte unternommene[n] Versuch politischer Einflußnahme […] – in Parlamenten, Vereinen mit politischer Zielsetzung, Publizistik und Mitwirkung an gezielten Aktionen.« Solche Persönlichkeiten gingen davon aus, dass sie eine »Berechtigung und Pflicht zu Werturteilen« hätten. Ein wichtiges Kennzeichen war die Verfügung »über einen bevorzugten Informationsstand und die Fähigkeit zu permanenter Artikulation ihrer politischen Ansichten«23. Unter diese Definition fällt Hans Delbrücks Engagement ohne Zweifel: Er war ein herausragender Geschichtswissenschaftler, war aufgrund seines Standorts in der wilhelminischen und später Weimarer Gesellschaft überdurchschnittlich gut informiert und hatte mit seinen »Preußischen Jahrbüchern« und später auch in anderen Organen die Möglichkeit, sich öffentlich und weitgehend unabhängig zu äußern. Daneben wirkte er in diversen Organisationen mit und war einige Jahre lang Abgeordneter. Gemeinsam war den Intellektuellen (auch Hans Delbrück) sowohl im Kaiserreich, als auch in Weimar, vielfach die Abneigung gegenüber den Parteien. Politische Professoren erachteten es nach 1848 zumeist als ihre Bestimmung, über den Parteien zu stehen. Seit 1871 zogen sie sich immer mehr aus der aktiven Politik zurück – wer sich überhaupt politisch betätigte, tat dies vorrangig auf publizistischem Gebiet24. Untersucht werden soll deshalb die Frage, inwieweit sich die Einflussmöglichkeiten für Delbrück als Intellektuellen in der Weimarer Republik  – der »Blüte­zeit intellektuellen Lebens«25 – geändert haben. War »diesem Typus Wilhelminischer Gelehrtenpolitik nach 1918 der Boden entzogen«, wie es Rüdiger vom Bruch formuliert26? Oder boten sich neue Möglichkeiten des Einflusses auf die Politik? Und hat Hans Delbrück diesen strukturellen Wandel erkannt und sich mit seiner Publizistik darauf eingestellt? Fritz Ringer stellt fest, dass die rechte Opposition gegen Weimar unter den Intellektuellen keineswegs homogen gewesen ist27. Wo also stand Hans Delbrück als gemäßigt Rechter? Häufig wird für die Intellektuellen in Weimar zu sehr ein Schwarz-Weiß-Bild gezeichnet, indem die Zweiteilung in Linksliberale und Rechtsextreme hervorgehoben wird. Für Hans Delbrück bliebe dann kein Platz28. Warum aber die Untersuchung von Intellektuellen so fruchtbar sein kann, beschreibt Gangolf Hübinger: 23 Bruch, Wissenschaft, S. 20, 359. Siehe auch Bruch, Gelehrtenpolitik. 24 Vgl. Schwabe, Ursprung, S. 109; Schwabe, Wissenschaft, S. 12. Siehe auch Töpner, Politiker, S. 12 f: Von 10.000 Hochschullehrern 1926 traten nur 400 parteipolitisch hervor. 25 Bialas, Facetten, S. 20. 26 Bruch, Wissenschaft, S. 415. 27 Ringer, Niedergang, S. 385. Ringer behandelt die Verortung von Professoren im Zuge der Transformation Deutschlands durch die Industrialisierung im Kaiserreich und Demokratisierung in Weimar. Dabei stellt er fest, dass sich in allen europäischen Ländern Teile der Gebildeten in einem diffusen Gefühl der Angst gegen die »demokratische Massenzivilisation« gewandt hätten: »sie taten dies als Intellektuelle, nicht als Verteidiger einer über Grundbesitz verfügenden Aristokratie oder einer unternehmerischen Elite.« (S. 12). 28 Vgl. Hübinger, Rollen, S. 43. Diese herkömmliche Einteilung kritisiert auch Gangl, Vorwort, S. 9: Hiermit werde man dem »Problem der Vermengungen, Überlagerungen und Durchdringung dieser Strömungen« nicht gerecht.

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»In dem Maße, in dem Ideen von Wahrheit und Gerechtigkeit nicht orthodox und machtgeschützt, sondern heterodox im Kampf um Wissen und Werte zirkulieren, haben Intellektuelle ihre Rollen in der europäischen Geschichte der Neuzeit gefunden und können als Gradmesser für die Streitkultur einer säkularisierten und pluralisierungsfähigen Gesellschaft gelten. An ihrer Geschichte läßt sich der Strukturwandel politischer Öffentlichkeit ablesen.«29

Deshalb stellt diese Studie Hans Delbrück in den Fokus: Weil seine Aktivitäten als »Gradmesser« für den »Strukturwandel politischer Öffentlichkeit« dienen. Die Analyse von Delbrücks politischem Engagement erfüllt den Zweck, die Verschiebung der politischen Grundachse im Deutschen Reich nach rechts differenziert herauszuarbeiten. Hans Delbrück hat in der Epoche der Transformation des alten Europas des 19. Jahrhunderts hin zur polarisierten Welt der Zwischenkriegszeit gelebt und gewirkt. Die beiden vorrangig durch die Gewaltexzesse des Ersten Weltkriegs katalysierten Ideologien des Faschismus und des Kommunismus brachten den Liberalismus in seine schwerste Krise. Zugleich kam die Frage auf, welche Stellung der Konservatismus noch einnehmen konnte. Einzig der Sozialismus behielt seine wichtige, aber nicht dominante Stellung bei. Daniel Argelès schreibt über die Umbruchsituation des Konservatismus 1918 im Zusammenhang mit Thomas Mann, es habe für diese Geistesströmung zunächst zwei Möglichkeiten gegeben: »entweder verharrt er [der Konservatismus, d. Vf.] trotz der modernen Verhältnisse in Deutschland dabei, in dem alten System den einzig möglichen Ausdruck seines gemeinschaftlichen Ideals zu sehen und versucht es wiederherzustellen; oder er betrachtet dieses System als abgelebt und setzt seine Hoffnungen auf eine konservative ›Revolution‹, die eine neue ›Volksgemeinschaft‹ herzustellen fähig wäre.«

Daneben habe es noch den Weg eines »›demokratischen‹ Konservatismus« gegeben, den auch Thomas Mann beschritten habe30. Hans Delbrück darf als Exponent des Konservatismus gelten, der im Niedergang begriffen war. Folglich schließt sich die Frage an, welchen der Wege er beschritt. Der Begriff »Rechts«31 wird hier in Anlehnung an Delbrücks Wort vom »natio­nalen Fanatismus« verwendet im Sinne des »radikalen Nationalismus«, wie ihn Geoff Eley entwickelt: Hiernach entstand in den 1890er Jahren eine neue rechte Ideologie, die sich von der alten (konservativen) Rechten deutlich unterschied, als nationale Opposition gegen die Regierung. Sie war ein Ausdruck politischer Unzufriedenheit und bediente sich dabei moderner, quasi 29 Hübinger, Intellektuellengeschichte, S. 11. 30 Argelès, Einstellung, S. 224. 31 Im Verlauf der Arbeit werden die Begriffe »rechts«, »rechte Strömung«, »Rechtsextreme« u. ä. synonym gebraucht. Diese Begriffe sind freilich sehr unscharf und haben heutzutage teilweise sehr differenzierte Bedeutungen. Da es allerdings Hans Delbrück in seiner Zeit auf diese Nuancen nicht ankam, erfolgt in der vorliegenden Studie keine trennscharfe Einteilung.

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demokratisch orientierter Methoden, indem sie sich einerseits auf einen vermeintlichen Willen des Volks berief, andererseits die Unterstützung weiter Kreise mittels populistischer Agitation hervorrief32. Der Hauptträger dieser neuen Strömung war der Alldeutsche Verband, den Hans Delbrück stets bekämpfte. Eley beschreibt damit einen langfristigen politischen Trend in Deutschland, der sich ungeachtet aller Epochenzäsuren im Zeitraum 1860 bis 1930 entwickelte. Er grenzt sich zugleich von der Sonderwegsthese scharf ab und betont die Offenheit und Differenziertheit der Entwicklungen. Die wichtigsten grundlegenden Bedingungen sind für ihn die gesellschaftliche Transformation durch Phänomene wie die Industrialisierung und Urbanisierung, sodann Krisen im Verlauf dieser Prozesse (sowohl wirtschaftliche als auch militärische im Weltkrieg) und schließlich spezifische politische Konstellationen wie insbesondere die sich verändernde Stellung des Parlaments33. 32 Eley, Wilhelminismus, S. 144–173. Leonhard, Büchse, S. 76, streift diese politische Strömung ebenfalls und nutzt den Begriff »die neue Rechte«. Er verneint deren Bedeutung für den Kriegsausbruch 1914. In der Tat ist sie erst im Verlauf des Krieges zu entscheidendem Einfluss gelangt. Retallack, German Right, untersucht die Entwicklung der Rechten im Kaiserreich und arbeitet dabei vor allem die Differenziertheit der Strömungen heraus, besonders unter regionalen und ideologischen Aspekten. Zugleich plädiert er für eine Überwindung der These, die neue Rechte habe sich erst in der wilhelminischen Ära seit 1890 entwickelt. Für ihn liegen die Anfänge bereits in der Bismarckära, also in der Zeit seit 1860. Klar sind aber auch für Retallack die strukturellen Bedingungen, nämlich der Niedergang der hergebrachten Honorationenpolitik aufgrund der rapiden Veränderungen in der Wirtschaft, im sozialen Gefüge und in der Ausprägung des preußisch-deutschen Konstitutionalismus (S. 8). Er arbeitet auch heraus, inwieweit sich diese Rechte gegen den regierungsoffiziellen Kurs im Wilhelminismus formierte (S.  325–369). Fritzsche, Rehearsals, S. 9, untersucht »the impress of popular mobilization and mass politics« in der Weimarer Republik. Er stellt grundlegende Verschiebungen in der politischen Kultur Deutschlands fest, die mit dem Nationalsozialismus zunächst nichts zu tun hatten. 33 Eley, Wilhelminismus, S. 221 f. Weiter schreibt er, »das doppelte Trauma der militärischen Niederlage und des revolutionären Aufruhrs« 1918 »radikalisierte ihre [die deutsche Rechte, d. Vf.] ideologische Stimmung auf bösartige Weise.« (S. 212). Für ihn ist die entscheidende Frage nicht der Aufstieg des Nationalsozialismus, den er als gesondertes Phänomen betrachtet, sondern »der umfassendere Prozeß des Übergangs von einer eher herkömmlichen zu einer stärker radikalisierten Politikform auf der Rechten – also von einem konservativen Autoritarismus, der sich pragmatisch an den Grenzen der liberal bestimmten Legalität orientierte, hin zu einem radikalen Autoritarismus, der darauf aus war, diesen Rahmen völlig zu beseitigen.« (S. 220). Die jüngst von Doering-Manteuffel, Geschichte, vorgeschlagene neue Abgrenzung der Epochen deutscher Geschichte seit dem Kaiserreich in drei vorrangig ideengeschichtlich kategorisierte »Zeitbögen« (1890–1940, 1930–1970, 1975 bis heute) ist in diesem Kontext nicht durchweg überzeugend. Den »Zeitbogen« von 1890 bis 1940 charakterisiert er als Auseinandersetzung des mitteleuropäischen Antiliberalismus mit dem anglo-amerikanischen Liberalismus (S. 325–332). In dem Zusammenhang läuft er Gefahr, Frankreichs Rolle im Ersten Weltkrieg zu marginalisieren (S. 323) oder die Bedeutung des Antisemitismus für den Nationalsozialismus zu relativieren (S. 323 f). Dennoch stellt sein Plädoyer für die geistesgeschichtliche Kontinuität der Jahrzehnte von 1890 bis 1940 über die politikgeschichtlichen Zäsuren hinweg zunächst ein vielversprechendes und weiterzuverfolgendes Konzept dar.

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Die alte Rechte, der preußische, ostelbische Großgrundbesitz, habe mit der Weimarer Reichsverfassung eine »Marginalisierung« erlitten. Die neuen, radikal-nationalistischen Bestrebungen hätten dagegen nicht reaktionären, sondern expansiven Charakter gehabt. Im Zeitraum 1912–1920 hätten sich diese ursprünglich einander widerstrebenden rechten Lager schrittweise angenähert34. Für Weimar hält Eley fest, dass »das eigentliche Erbe« dieses »radikalen Nationalismus« »ideologisch« gewesen sei, also weniger organisatorisch35. Damit beschreibt er einen wichtigen Aspekt, denn zunächst war kein Programm, dass die DNVP oder andere Parteien und Verbände in den 1920er Jahren vertraten, grundlegend neu. Der Rassismus, Antisemitismus, Sozialdarwinismus36, Militarismus und aggressive Nationalismus waren allesamt nicht neu erfunden, sondern hatten ihre Wurzeln in der wilhelminischen Ära. Da Hans Delbrück in beiden Epochen als politischer Publizist diese Strömungen bekämpfte, zeigt sich diese Konstante in besonderer Weise. Der Nationalsozialismus knüpfte dann zwar an dieses Gedankengut an und stieß genau in diesen politischen Bereich vor, der von diversen Gruppierungen seit Jahrzehnten eingenommen worden war, war aber zugleich etwas qualitativ völlig Neues. Singulär machte ihn seine wesentlich auf dem Antisemitismus basierende umfassende Weltanschauungs- und Vernichtungsideologie37. Allein die Tatsache, wie schnell Vertreter der bisherigen radikalen Rechten von den Nationalsozialisten nach 1933 von der Macht ausgeschlossen oder gar verfolgt wurden, unterstreicht den gravierenden Unterschied beider Strömungen. Wenn in dieser Arbeit von »rechter Strömung« u. ä. gesprochen wird, ist nicht der Nationalsozialismus gemeint, der überhaupt erst nach dem Untersuchungszeitraum (bis Juli 1929) größere Bedeutung erlangte, sondern der »radikale Nationalismus«, der ihm vorausging. Der deutsche Faschismus ist somit weder 34 Eley, Wilhelminismus, S. 237–240. Der Begriff »Marginalisierung« mag vielleicht formal zutreffen, da das Junkertum, das im Kaiserreich über einen privilegierten Machtzugang und -einfluss verfügt hatte, diesen 1919 verfassungsgemäß einbüßte. De facto jedoch spielte der agrarische Großgrundbesitz gerade in der Endphase der Weimarer Republik nach wie vor eine entscheidende Rolle: Schließlich waren es vorrangig diese Kreise, die im Umfeld Hindenburgs die Machtübertragung auf Adolf Hitler betrieben. Diesen Punkt vernachlässigt Eley in seiner Darstellung ein wenig. Auch Winkler, Weimar, S. 607, widerspricht Eley, wenn er über die 1920er Jahre schreibt, dass sich in keinem vergleichbaren Staat »eine vorindustrielle Elite soviel Macht« erhalten konnte wie im Deutschen Reich. 35 Eley, Wilhelminismus, S. 244. Zu den neuen Formen, die sich die Rechte im Übergang vom Kaiserreich zu Weimar unter den Bedingungen der Demokratie gab, vgl. Hagenlücke, Formverwandlung. 36 Zu diesem bemerkte Delbrück 1907 gegenüber seiner Frau, er sei »eine solche Scheinwahrheit« (Hans Delbrück an Lina Delbrück am 13. September 1907, Abschrift in: BArch N 1017/ 70, S. 121). 37 Auch Doering-Manteuffel, Geschichte, S. 332, stellt dazu fest: »Der Nationalsozialismus war Nutznießer dieser Entwicklung, aber er brachte sie nicht hervor.« Zur Debatte über den bisherigen Verlauf und die künftigen Perspektiven der Faschismusforschung siehe Reichardt /  Nolzen, Faschismus, besonders S. 9–27.

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ein bereits von Wilhelm II. vorgeformter und lange vorgezeichneter »Sonderweg«, noch ein plötzlicher »Betriebsunfall«: Er lässt sich nur erklären einerseits vor dem Hintergrund der langfristigen Entwicklung der radikalen Rechten in Deutschland und andererseits mit dem Spezifischen, das die NSDAP ausmachte – auch im Kontext der Krise der Weimarer Republik in ihrer Endphase. Dass es sich bei diesem radikalen Nationalismus nicht um ein spezifisch deutsches Phänomen handelte, sondern um eines, das auch in anderen modernen Staaten der Epoche anzutreffen ist, analysiert etwa Arnd Bauerkämper am Beispiel Großbritanniens: Ganz ähnlich macht er dort seit den 1880er Jahren eine »radikale Rechte« aus, die ebenfalls fragmentiert war, sich jedoch einig zeigte in grundlegenden Anschauungen: »Sie lehnten das traditionelle liberale Laissez-faire-Dogma ab, standen dem parlamentarisch-demokratischen Regierungssystem mit deutlicher Distanz gegenüber und forderten eine Stärkung der Staatsmacht.« Das Ziel sei gewesen, die innenpolitischen Machtstrukturen zu erhalten und das British Empire zu sichern38. Damit ist ziemlich genau das beschrieben, was im Deutschen Reich im selben Zeitraum zu beobachten war. Zugleich macht Bauerkämpers Studie aber auch die strukturellen Unterschiede deutlich, die zwischen beiden Ländern bestanden, wieso diese Strömung in Deutschland eine schließlich so dominante und zerstörerische Rolle einnehmen konnte und in England aufgrund der politisch-parlamentarischen Tradition oder auch der breiten Koalitionsregierungen in den 1930er Jahren kein nachhaltiger Einfluss auf die Regierungspolitik nachweisbar ist39. Gerhard Ritters »Staatskunst und Kriegshandwerk«, das in seiner Grundkonzeption in bemerkenswerter Weise zu Hans Delbrücks Anschauung passt, vertritt im Grunde eine ähnliche Kernthese zum Kaiserreich. Ritter interpretiert die politischen Kämpfe im Hohenzollernreich als Auseinandersetzung zwischen politischer und militärischer Führung. Den von der Obersten Heeresleitung (OHL) 1917 erzwungenen Abgang des Reichskanzlers Bethmann Hollweg sieht er als endgültigen Sieg der letztgenannten und als vollendete »Tragödie der ›Staatskunst‹ in Deutschland«. »Was nachfolgt, war eine Epoche, in der man von einem ›Problem des Militarismus‹ in dem bisherigen Sinn kaum noch reden kann. Denn der Militarismus war jetzt kein Problem mehr. Er war die harte Wirklichkeit.«40 Insofern deutet Ritter den Ersten Weltkrieg innenpolitisch als Machtkampf der zivilen, auf Mäßigung bedachten Führung gegen die rechtsradikalen, militaristischen Strömungen, die sich schließlich durchsetzten. 1918 offenbarte sich dann das vollkommene Fiasko dieser Strömung. Daraufhin konnte die spontan entstandene Novemberrevolution das alte Reich hinweg­ fegen und ein neues politisches System aufbauen41. Wenngleich Ritters Werk in 38 39 40 41

Bauerkämper, Großbritannien, S. 11. Ebd., besonders S. 92–103. Ritter, Staatskunst III, S. 587. Dass der Erste Weltkrieg ein wichtiger Katalysator für das Verstärken der Rechten war, stellt auch der Ritter-Schüler Schwabe, Ursprung, S. 105 f, fest, der der Frage nachgeht, wieso ab

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vielen Einzelheiten als überholt gelten muss, spricht vieles für seine Kernthese, die den deutschen Militarismus als verhängnisvoll darstellt. Dass es den Rechten nach der Revolution so schnell gelang, sich wieder zu etablieren und trotz ihres 1918 erlittenen Bankrotts reale machtpolitische Optionen wiederzuerlangen, ist eine der tieferen Ursachen für das Scheitern Weimars. Folglich ist es von hohem Interesse, die Gründe hierfür und Hans Delbrücks alternative Ideen in diesem Zusammenhang zu untersuchen. Indem Hans Delbrück als ein bedeutender Intellektueller der Weimarer Republik in den Mittelpunkt der vorliegenden Studie gestellt wird, soll die vorgenannte politische Entwicklung exemplarisch indirekt herausgearbeitet werden. Denn eine Analyse seines Engagements gegen Rechts kann Aufschlüsse darüber geben, in welcher Weise sich die Rechte organisierte und welche Mittel sie anwandte, um sich wieder zu etablieren. Zugleich können anhand von Delbrücks Wirken Alternativoptionen hierzu dargestellt und eine Betrachtung angestellt werden, wieso die Rechten schließlich dominieren konnten. Delbrücks Neffe Axel von Harnack, Sohn von Adolf von Harnack, schrieb nach dem Zweiten Weltkrieg: »Wir gedenken Delbrück mit Dank und Stolz, denn die Erinnerung an solche Stimmen erleichtert uns die Lasten, die wir heute tragen müssen.«42 Deutlich wird hieran die Vorbildfunktion, die Hans Delbrück für viele Kreise in Deutschland einnahm mit seinem Engagement gegen »nationalen Fanatismus«. Ein Schwerpunkt der vorliegenden Studie behandelt Delbrücks Haltung in der Debatte der Jahre 1919 bis 1929 um die Frage der Kriegsursachen. Das Ziel ist dabei nicht, zu einer Neubewertung der internationalen Beziehungen bis 1914 und der Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu gelangen. Hier geht es darum, Delbrücks Sichtweise zu diesem Thema zu ergründen und seine Tätigkeiten auf diesem politischen und historischen Gebiet vor dem Hintergrund der Weimarer Diskussion einzuordnen. Damit soll ein Beitrag zur Analyse der politischen Kultur der Weimarer Republik geliefert werden, und keiner zur Kriegsschulddebatte. Gleichwohl bleibt zum Verständnis von Hans Delbrück ein Blick auf die Historiographie zur Julikrise 1914 unverzichtbar. Nach dem Zweiten Weltkrieg und den Verbrechen der Deutschen zwischen 1933 und 1945 trat der Erste Weltkrieg erinnerungspolitisch zunächst zudem Sommer 1915 die Alldeutschen plötzlich so viele neue Anhänger unter der Professorenschaft gewinnen konnten. Weiter (S. 107 f) führt er aus, was »alldeutsch« seit 1914 bedeutete: eine Machtausweitung nach West- und Osteuropa einhergehend mit einer politischen Entrechtung der Bevölkerung und einem Beamtenregiment bis hin zur Diktatur. 42 Harnack, Delbrück, S. 424. Axel von Harnack ist einer der wenigen, die diese Delbrücksche Konstante erkannten, wenn er davon schrieb, dass dieser die letzten 30 Jahre seines Lebens gegen die Alldeutschen gekämpft habe: »Auch aus ihm [diesem Kampf, d. Vf.] ist er nicht als Sieger hervorgegangen, aber er hat auch nicht vergeblich gekämpft.« Christ, Delbrück, S. 167, schreibt, Delbrück habe »die Gefahren eines maßlos übersteigerten nationalen Fanatismus gerade deswegen so früh [erkannt], weil er ein Nationalist im besten Sinne des Wortes war.«

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rück. In den 1960er und 70er Jahren kam es dann zu einer bedeutenden Umorientierung in der Bewertung von 1914 durch die sogenannte Fischer-Kontroverse: Der Hamburger Historiker Fritz Fischer hatte die These aufgestellt, das Deutsche Reich habe bewusst auf einen Krieg hingearbeitet, um eine Hegemonie in Kontinentaleuropa zu errichten. Allerdings waren seine inhaltlichen Thesen zur deutschen Vorkriegs- und Kriegspolitik nicht haltbar43. Dennoch galt in Deutschland für lange Zeit fortan mehrheitlich die Auffassung, dass das Kaiserreich, wenn nicht einen Vorsatz, so doch zumindest eine ganz wesentliche und hauptsächliche Verantwortung für die Eskalation in der Julikrise gehabt habe44. Erst in den letzten Jahren erhielt eine Deutung für 1914 Einzug, die allen beteiligten Mächten in ungefähr gleicher Weise Verantwortung für den Ersten Weltkrieg zuschreibt. Prominent vertreten wird diese Interpretation von dem australischen Historiker Christopher Clark, der erstmals alle Staaten in gleicher Weise in eine quellengestützte Betrachtung einbezogen hat. In seiner umfangreichen Studie »Die Schlafwandler« verfolgt er keinen Ansatz, der nach einer Schuld sucht, da er hierbei die Gefahr sieht, Aktionen der Entscheidungsträger in eine teleologische Kette zu stellen, die es so gar nicht gegeben haben mag. Ihm geht es vorrangig um das Verstehen, nicht um eine Klassifizierung in Recht und Unrecht: »So gesehen war der Kriegsausbruch eine Tragödie, kein 43 Teilweise projezierte er Forderungen, die im Rahmen der Kriegszieldebatte während des Krieges von vielen Akteuren im Reich erhoben worden waren, auf die politische Orientierung bereits vor dem Krieg. Besonders zugespitzt vertrat Fischer diese Interpretation in seinem 1969 erstmalig erschienen Buch »Krieg der Illusionen«. Darin heißt es z. B.: »Es handelt sich bei dem im Juli 1914 von den deutschen Politikern ausgelösten Krieg zweifelsohne nicht um einen Präventivkrieg aus ›Furcht und Verzweiflung‹, sondern um den Versuch, bevor die gegnerischen Mächte zu sehr erstarkt waren, diese zu unterwerfen und die deutschen politischen Ziele, die sich unter den Begriff der Hegemonie Deutschlands über Europa subsumieren lassen, durchzusetzen.« (Fischer, Krieg, S. 682). Weiter schreibt Fischer, Bethmann Hollweg habe »eindeutig den europäischen Krieg als erste Alternative« geplant (S. 693). Für die deutsche Politik in der Julikrise spricht er von einem »Konzept« (S. 738), das von Anfang an verfolgt worden sei mit dem Ziel eines kontinentalen Krieges zur Sicherstellung der deutschen Vormachtstellung. 44 Dies hatte seinen Grund auch in der weiteren historischen Entwicklung, die Deutschland mit 1933 und 1939 genommen hatte. In der Rückschau suchte man nach Erklärungen und konstruierte bisweilen Kontinuitäten, die so nicht unbedingt vorhanden gewesen waren. Methodisch waren solche Teleologien nicht unbedingt korrekt; politisch-psychologisch aber verständlich. Die weltanschaulich begründeten Eroberungsziele, für die Deutschland 1939–1945 grausame Vernichtungskriege geführt hat, warfen auch auf 1914–1918 ein anderes Licht. Winkler, Weg I, S. 329–336, steht beispielhaft hierfür: Dem Reichskanzler sei es Ende Juli 1914 nicht mehr um die Vermeidung eines Krieges gegangen, sondern nur darum, die Schuld für diesen Russland zuzuschieben: »keine Großmacht hat während der Julikrise so konsequent auf eine Eskalation des Konflikts gesetzt wie Deutschland.« (S. 332). Münkler, Krieg, S. 9, hat zu diesen Deutungsmustern kürzlich formuliert, der Erste Weltkrieg »wurde nur noch als Ausgangspunkt einer Erzählung von deutscher Hybris und deutscher Schuld betrachtet«.

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Verbrechen.«45 Dem Deutschen Reich weist er dabei keine besondere Verantwortung mehr zu: Die in der Forschung so viel kritisierte Weltpolitik sieht er nur als ein berechtigtes Programm, das die übrigen Großmächte nicht zulassen wollten. Die deutsche Politik in der Julikrise findet bei Clark ebenfalls viel Verständnis, da die Reichsleitung davon ausgegangen sei, dass Russland auf einen Krieg mit den Mittelmächten zusteuere. Deshalb habe man das österreichische Vorgehen gegen Serbien vollauf unterstützt, um »den wahren Charakter der russischen Intentionen herauszufinden«46. Den russischen Entschluss zur Generalmobilmachung am 30. Juli deutet Clark als eine der »schwerwiegendsten Entscheidungen« im Sommer 1914, da er zu einem Zeitpunkt erfolgt sei, als in Deutschland noch keinerlei kriegsvorbereitende Maßnahmen stattgefunden hätten, und Österreich-Ungarn ebenfalls erst am 31. Juli zur Generalmobilmachung geschritten sei  – Zusammenhänge, die in den russischen und französischen Farbbüchern gefälscht worden seien47. Die tieferen Ursachen für den Ersten Weltkrieg sieht er in »einer gemeinsamen politischen Kultur«, die zusammen mit einer multipolaren Weltordnung und ständig unzureichenden Informationen und fehlerhaften Wahrnehmungen der einzelnen Akteure die Krise eskalieren ließ48. 45 Clark, Schlafwandler, S. 716. 46 Ebd., S. 537. 47 Ebd., S. 651. »Farbbücher« veröffentlichten alle beteiligten Staaten mit einer Sammlung ihrer regierungsamtlichen Dokumente, um der Öffentlichkeit ihre Sicht auf den Kriegsausbruch zu vermitteln. 48 Ebd., S. 717. Auch Herfried Münkler gelangt in seiner Monographie »Der Große Krieg« zu einer ausgewogenen Beurteilung der Kriegsursachen, wenngleich er als Politikwissenschaftler einen anderen Zugang wählt. Den Blankoscheck, den Berlin Wien gab, hält er für nachvollziehbar, da man damit den Konflikt habe lokalisieren und Österreich retten wollen in einer Situation, in der die übrigen Mächte durch den Fürstenmord Verständnis gehabt hätten und Russland noch nicht voll gerüstet gewesen sei. »Insofern nahm sich die Hochrisikopolitik des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg durchaus als verantwortbar aus«. Zudem bezeichnet Münkler die bedingungslose Unterstützung Russlands für Serbien und die französische für Russland in gleicher Weise als »Blankoscheck« wie die deutsche Zusicherung gegenüber Österreich-Ungarn. Für Münkler war nicht der deutsche »Blankoscheck« ausschlaggebend für die Kriegsauslösung, sondern die nicht ausreichend bedachte politische Dimension des Schlieffen-Plans, der das Reich zu einem frühen Losschlagen gebracht habe und zu einer Verwicklung mit England. »Der Schlüssel zum Krieg« lag Münkler zufolge demnach bei der russischen Mobilmachung, ohne die der Konflikt nur zu einem kleinen Balkankrieg geworden wäre (Münkler, Krieg, S. 25–106, Zitate S. 38 f, 45, 100 f). Auch Hildebrand, Reich, S. 302–315, kommt zu einer mittleren Linie: Zwar kritisiert er den Schlieffen-Plan, der dafür gesorgt habe, dass im entscheidenden Moment die militärische Strategie über der politischen im Reich gestanden habe. Aber er legt dar, dass die Reichsleitung das Attentat von Sarajevo nur nutzen wollte, um die deutsche Stellung in Europa endlich wieder zu verbessern, nachdem sie sich zunehmend nicht als gleichberechtigt behandelt gefühlt hätte. Eroberungsziele hätten dabei keine Rolle gespielt. Eine besondere Verantwortung für die Eskalation schreibt Klaus Hildebrand dem Zarenreich zu, dass eine sehr offensive Politik gegenüber Österreich-Ungarn betrieben und mit der Mobilmachung den Krieg schließlich ausgelöst habe. Ähnlich sieht auch Keegan, Weltkrieg,

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Diese Deutung blieb allerdings nicht unwidersprochen. So kommentierte beispielsweise Heinrich August Winkler: »Und erlöse uns von der Kriegsschuld«. Die Vertreter der neueren Forschungsrichtung wie Christopher Clark, Dominik Geppert, Herfried Münkler und andere bezeichnet er als »Revisionisten«. An der hauptsächlichen Verantwortung, die das Kaiserreich am Ersten Weltkrieg trage, gebe es nichts zu deuteln. Zwar bezweckte Winkler mit seinem Zeitungsartikel, vor allem gegen politische Schlussfolgerungen der Neubewertung der Kriegsschuldfrage Stellung zu beziehen, die Deutschland in eine neuerlich gefährliche Bahn in Europa treiben würden49. Aber allein dies zeigt, wie tagesaktuell dieses Thema weiterhin ist und dass es nach wie vor nicht den Geschichtsbüchern überlassen wird. Die Wochenzeitung »Die Zeit« unterstellte Clark gar, »zum letzten Opfer der raffiniert eingefädelten Strategie des deutschen Reichskanzlers geworden« zu sein und nicht zu erkennen, dass es Bethmann Hollweg nur noch darum gegangen sei, die Schuld für den Kriegsausbruch Russland zuzuschieben50. Auch Jörn Leonhards jüngst vorgelegtes Werk »Die Büchse der Pandora« erzählt die Entstehung des Ersten Weltkriegs in traditioneller Weise und schreibt dem Kaiserreich eine »besondere Verantwortung« zu: Auf den über 1.000 Seiten seines Buches behandelt er zwar die Vorgeschichte insofern ausführlich, als dass er einen Überblick über das gesamte 19. Jahrhundert liefert. Auf den eigentlich im Hinblick auf den Kriegsausbruch entscheidenden und auch langfristigen Konflikt auf dem Balkan zwischen Serbien und Österreich geht Leonhard hingegen kaum ein. So steht seine Darstellung der Julikrise trotz der 80 Seiten Vorgeschichte relativ losgelöst da. Dabei können nur vor dem Hintergrund des Balkan­konflikts die Entscheidungen in Wien und Berlin vom Sommer 1914 richtig eingeordnet werden. Isoliert wirken sie tatsächlich schnell verantwortungslos bis kriegslüstern51. S. ­77–109, ein entscheidendes Moment in der russischen Mobilmachung, über die er in Delbrücks Diktion schreibt: »Eine Generalmobilmachung, einschließlich der an Deutschland grenzenden Militärbezirke, bedeutete einen allgemeinen Krieg.« (S. 99). 49 Heinrich August Winkler: »Und erlöse uns von der Kriegsschuld«, in: Die Zeit, Nr. 32 vom 31. Juli 2014, S. 14. Etwas trennschärfer kritisiert Andreas Wirsching weniger Clark selbst, als mehr die Rezeption seines Buches in Deutschland: »Es wird für etwas anderes in Anspruch genommen, als er gemeint hat.« Wirsching beobachtet, dass es einer konservativ-­ nationalen Strömung in Deutschland in der aktuellen Euro-Debatte sehr gelegen komme, von einer besonderen »Schuld« in der Geschichte entlastet zu werden, um sich aktuellen Verpflichtungen in Europa entziehen zu können (Andreas Wirsching: »Die Gegenwart eines alten Traumas«, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 161 vom 16. Juli 2014, S. 13). 50 Volker Ullrich: »Zündschnur und Pulverfass«, in: Die Zeit, Nr. 38 vom 12. September 2013, S. 53. 51 Leonhard, Büchse, S. 9–127, Zitat S. 116. Leonhards Darstellung ist darum bemüht, die Ereignisse auf einer Metaebene zu erläutern. So hilfreich diese Abstraktion für das allgemeine Verständnis der Epoche auch ist, gerät das Buch darüber manchmal zu weit weg vom konkreten Geschehen, sodass das Jahr 1914 letzten Endes hier eben doch schwer verständlich bleibt. Zwei weitere Mängel fallen ins Auge: Indem Leonhard den Schlieffen-Plan wieder-

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Der wesentliche Grund, weshalb die Frage der Entstehung des Ersten Weltkriegs nach wie vor auch in der historischen Forschung umstritten ist und eine Fülle von Literatur wie zu keinem zweiten Thema hierzu vorliegt, ist die außerordentliche Komplexität der internationalen Beziehungen vor 1914, die eine simple Erklärung unmöglich macht. Dies begründet auch, wieso in den 1920er Jahren die Suche nach einem Schuldigen an dem Massensterben so fehlgeleitet war: weil sie methodisch fehl ging. Es gab keinen eindeutig Schuldigen52. »So gut wie jede Sichtweise der Ursprünge lässt sich anhand einer Auswahl der verfügbaren Quellen belegen«, wie Christopher Clark treffend formuliert53. holt ganz einfach als »Angriffsplan« (S. 33, 53) bezeichnet, liefert er bereits eine tendenziöse Interpretation desselben. Damit unterlässt er es, die Hintergründe zu erkunden und ist zu sehr gefangen in einer etwas einseitigen Darstellung. In seiner Darstellung von Carl von Clausewitz und Hans Delbrück im Zuge der Behandlung der militärischen Strategie im Jahr 1916 gelangt Leonhard schließlich zu einer fehlerhaften Deutung: Clausewitz unterstellt er, nur die Niederwerfungsstrategie entworfen und der Ermattung »keine eigene strategische Bedeutung« zugeschrieben zu haben. Erst Delbrück habe die Ermattungsstrategie zu einem eigenen Konzept erhoben. Delbrück allerdings sei davon »überzeugt« gewesen, dass diese Form der Kriegführung seit der Französischen Revolution ausgedient habe (S. 548 f). Dabei hatte sich Delbrück in der Entwicklung seiner Strategieideen eindeutig und ausdrücklich auf Clausewitz berufen. Er war es auch gewesen, der nach dem Scheitern des Schlieffen-Planes im Herbst 1914 als einer der ersten und wenigen erkannt hatte, dass die Ära der Vernichtungsstrategie vorbei war und der Reichsleitung und der Obersten Heeresleitung (OHL) empfahl, zu einer Ermattungsstrategie zu wechseln, an deren Ende ein Verständigungsfrieden stehen musste (zu Delbrück, Clausewitz und der militärischen Strategie im Ersten Weltkrieg siehe Kapitel V.1). Auch Gerd Krumeich spricht von einer »Hauptverantwortung« der Mittelmächte. Allerdings erwähnt er den Konflikt auf dem Balkan und die Dimension der Gefahr, die der serbische Expansionsdrang für die Donaumonarchie hatte, fast gar nicht, obwohl er die Vorgeschichte des Kriegs ausführlich behandelt. ­(Krumeich, Juli, S. 15–59, Zitat S. 184). Erstaunlich weit hinter neueren Erkenntnissen zurück bleibt Kruse, Weltkrieg, S. 5–12: Es sei völlig unstrittig, dass Deutschland entscheidend zur Kriegsauslösung beigetragen habe. Rose, Empire, S. 171–277, kritisiert die Deutschland-Zentrierung: Großbritannien habe sich in der Zeit vor dem Krieg Frankreich und Russland nicht deshalb angenähert, weil Deutschland aufgrund der Flottenpolitik zu gefährlich geworden war, sondern weil die eigentlichen Bedrohungen für das British Empire von diesen beiden Mächten ausging. Deshalb habe England den Ausgleich mit seinen Konkurrenten gesucht; das Deutsche Reich sei politisch und militärisch von der britischen Diplomatie nicht als Gefährdung eingestuft worden, weshalb sie auch keine Notwendigkeit dafür gesehen habe, sich mit ihm zu arrangieren. Auch Ferguson, Krieg, S. 30, bezeichnet den deutsch-englischen Antagonismus als eines »der am stärksten überschätzten Ereignisse der modernen Geschichte«. Ferguson kritisiert vorrangig das Eintreten Großbritanniens in den Krieg, das der Angst vor einer deutschen Hegemonie auf dem Kontinent nach einem Sieg über Frankreich entsprungen sei. Da Deutschland ein solches Ziel gar nicht gehabt habe, sei der Kriegseintritt Englands ein Fehler gewesen (S. 188–215). 52 Allein schon deshalb, weil es im Völkerrecht auch 1914 noch das ius ad bellum gab, es also die Kategorie von Schuld und Verantwortung gar nicht gab, was allerdings dem Empfinden der Völker widersprach. 53 Clark, Schlafwandler, S. 14. Dessen Plädoyer, weniger die Frage nach dem warum, sondern nach dem wie zu stellen (S. 17), ist daher durchaus zielführend.

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Hans Delbrücks Position in der Kriegsschulddebatte liegt dabei, wie gezeigt werden soll, im Vergleich mit der modernen Forschung auf einer im Prinzip mittleren Linie. Die historische Forschung hat sich mit Hans Delbrück bislang wenig befasst. Das ist nicht nur erstaunlich, weil er eine herausragende Persönlichkeit über die Epochenzäsur von 1918/1919 hinweg ist, sondern auch, weil sein Nachlass (in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz54 und im Bundesarchiv Koblenz) außerordentlich umfangreich und gut erhalten ist. Seine Rolle in der Wissenschaft zumindest ist durch mehrere Studien verlässlich analysiert worden. So gilt er als Begründer der Militärgeschichte als Teildisziplin in der Geschichtswissenschaft, und darüber hinaus nimmt er mit der systematischen Einführung der Sachkritik speziell in den Altertumswissenschaften, aber auch in der Historiographie im Allgemeinen, eine bedeutende Rolle ein55. Sein Wirken und seine Entwicklung auf politischem Gebiet hingegen sind nur sehr dürftig untersucht worden – die drei ihn behandelnden Monographien aus den 1950er Jahren von Anneliese Thimme, Gertrud Gut und Hans-Alfred Steger56 stützen sich nur auf veröffentlichte Quellen und besprechen lediglich die Kaiserzeit. Neben diversen Aufsätzen57  – teils von Bekannten Delbrücks, die eher Quellencharakter haben58, – findet Hans Delbrück auch in mehreren Studien Erwähnung, ohne dass er unmittelbar im Fokus steht. So untersucht zum Beispiel Markus Pöhlmann die offizielle Kriegsgeschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg, bei der Hans Delbrück als Mitglied der Historischen Kommission des Reichsarchivs eine wichtige Position einnahm59. Klaus Schwabe widmet sich der politischen Professorenschaft im Ersten Weltkrieg, in der Delbrück ebenfalls eine herausragende Rolle spielte60. Eine genauere Untersuchung seiner nicht-wissenschaftlichen Tätigkeiten steht aber ebenso noch aus wie eine Biographie, die seinen intellektuellen Werdegang in den Blick nimmt. Die hauptsächliche Quellenbasis dieser Arbeit stellt der bislang noch nicht systematisch ausgewertete Nachlass von Hans Delbrück dar. Ein kleinerer Teil, insgesamt 82 Bände, lagert im Bundesarchiv in Koblenz. Der weitaus größere 54 Hierzu: Wolf, Nachlass. 55 Vgl. Bucholz, War Images; Ders., Introduction; Ders., Delbrück; Christ, Delbrück; Ders., Einleitung; Cram, Einleitung; Deist, Delbrück; Haintz, Einleitung; Hillgruber, Delbrück; Hoffmann, Einleitung II; Klueting, Delbrück; Kuhn, Einleitung I; Lange, Kritiker; Ders., Strategiestreit; Raulff, Vorwort; Scheibe, Marne. 56 Thimme, Kritiker; Gut, Entwicklung; Steger, Weltpolitik. 57 Bauer, Delbrück; Bruch, Delbrück; Craig, Delbrück; Lehmann, Jahre; Llanque, Mittel; Lüdtke, Kassandra; Schleier, Delbrück; Ders., Vorwort; Thimme, Delbrück; Thomas, Geschichtsschreibung; Vierhaus, Delbrück; Wajda, Konzept; Weeks, Delbrück. 58 Daniels / Rühlmann, Webstuhl; Delbrück-Festschrift; Goetz, Historiker; Harnack, Delbrück; Heuss, Delbrück; Hobohm, Delbrück; Mehring, Fall; Meinecke, Nekrolog; Mette / Molinski / Schmidt, Delbrück; Rassow, Delbrück; Rosenberg, Delbrück; Ziekursch, Delbrück. 59 Pöhlmann, Kriegsgeschichte. Siehe hierzu Kapitel V.4. 60 Schwabe, Ursprung und Verbreitung; Ders.: Wissenschaft und Kriegsmoral. Siehe hierzu Kapitel II.

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Teil (171 Archivkästen) befindet sich in der Staatsbibliothek zu Berlin. Er enthält seine mehrere zehntausend Briefe umfassende Korrespondenz sowie eine aus mehreren hundert Bänden bestehende Materialsammlung. Als Quellentypen finden sich darin Zeitungsartikel, Zeitschriftenaufsätze, Gerichtsakten, Denkschriften, Gesprächsnotizen, Sitzungsprotokolle, Redemanuskripte, Fotos, biographische Unterlagen, Vorlesungen, Werkmanuskripte, Unterlagen aus der Redaktion der »Preußischen Jahrbücher«, Exzerpte, Materialsammlungen zu unterschiedlichen Themen u. a. m. Um diese Masse an Quellen sichten und analysieren zu können, wurde ein dreifaches Raster angewandt: Zunächst wurden aufgrund der Fragestellung alle Materialien, die aus der Zeit vor 1918 stammen, mit wenigen Ausnahmen ausgeschlossen. Bei den Briefen und Briefkonzepten wurden dann zwei weitere Faktoren angelegt: Einmal wurden alle Korrespondenzen mit Namen, die einen gewissen Bekanntheitsgrad aufweisen oder in wichtigem Zusammenhang mit Delbrück stehen (z. B. weil es sich um eine Zeitungsredaktion oder ein Institut handelt), durchgesehen. Bei allen übrigen, unbekannten Namen, wurden alle jene ausgewertet, die fünf und mehr Seiten (nicht Anzahl der Briefe / Karten) umfassen. Es ist davon auszugehen, dass es sich bei einer dichteren Korrespondenz um einen Korrespondenzpartner handelt, der für Delbrück einen wichtigen Stellenwert einnahm und mit dem er deshalb offener und auch sensiblere Themen diskutiert hat. Wenn lediglich ein einziges Schreiben vorliegt, ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass es sich um einen wichtigen Inhalt handelt, da diese Person offensichtlich mit Delbrück nicht in einem engeren Verhältnis stand. Stichproben haben diese Annahme bestätigt. Daneben wurde das Familienarchiv der Delbrücks aufgesucht, das im Kunstmuseum »Kloster Unser Lieben Frauen« in Magdeburg lagert und sehr umfangreich ist. Hier finden sich allerdings nur wenige für diese Arbeit zu verwendende Schriftstücke61. Die Personalakte Hans Delbrücks im Archiv der HumboldtUniversität zu Berlin wurde ebenfalls ausgewertet, und im Geheimen Staatsarchiv in Berlin-Dahlem finden sich einige wenige Briefe mit Bezug zu ihm. Alle Aufsätze im Untersuchungszeitraum in den »Preußischen Jahrbüchern« von Hans Delbrück wurden ausgewertet. In den Jahren nach dem Verkauf der Jahrbücher 1919 hat er allerdings fast gar nicht mehr dort publiziert. Seine sonstigen publizistischen Abhandlungen sind nahezu alle im Nachlass zu finden. Falls nicht, wurden die jeweiligen Zeitungs- bzw. Zeitschriftennummern recherchiert. Dazu wurden alle weiteren Delbrückschen Veröffentlichungen aus den Jahren 1918–1929 analysiert, das ist insbesondere sein fünfbändiges Hauptwerk »Weltgeschichte«62. Sein erstes Hauptwerk, die vierbändige »Geschichte

61 Den Kontakt hierzu hat der aktuelle Vorstand der Delbrückstiftung hergestellt (Schreiben von Ekkehard Delbrück, Kurator der Delbrück’schen Familienstiftung, vom 21. April 2013 an den Verfasser). 62 Delbrück, Weltgeschichte I–V.

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der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte«63, wurde zwar ebenfalls herangezogen, aber keiner eigenständigen Auswertung unterzogen, da es von der Forschung bereits hinlänglich untersucht wurde. Hingegen wurden die Bücher »Regierung und Volkswille«64 und »Ludendorffs Selbstporträt«65 sowie alle weiteren, kürzeren Arbeiten Delbrücks aus dem Untersuchungszeitraum analysiert. Außerdem wurden, soweit erforderlich, die einschlägige Memoirenliteratur und einschlägige Quellensammlungen verwendet, diplomatische Akten, Drucksachen des Reichstags und weitere Quellen herangezogen. Auf der Grundlage des umfangreichen Quellenbestandes und vor dem Hintergrund der Kernthese, Delbrück kämpfe von nationaler Gesinnung aus gegen »nationalen Fanatismus«, ergibt sich als Gliederung eine Dreiteilung des Hauptteils: Im ersten Teil geht es um Delbrücks politisches und tagespolitisches Engagement für die Ausgestaltung der Republik, im zweiten um Delbrück und die Debatte über die Ursachen des Kriegsausbruchs und im dritten Teil werden die Diskussionen über die Gründe der deutschen Niederlage analysiert. Vorangehend dazu werden in Kapitel II zum Verständnis der Person Hans Delbrück die Stellung seiner Familie im Kaiserreich, sein beruflicher und politischer Werdegang bis zum Ersten Weltkrieg sowie der 11. November 1918, der Tag des Waffenstillstands und seines 70. Geburtstags, knapp dargestellt. Damit wird eine systematische Gliederung verwendet, die aber innerhalb der Einzelkapitel weitgehend der Chronologie folgt. Im Kapitel III wird untersucht, wie sich Hans Delbrück grundsätzlich zu der Republik als neuer Staatsform stellte und wie sich seine Position im Laufe der Jahre in den wichtigsten politischen Debatten der Zeit darstellte. Dazu wird als Grundlage sein zweites wissenschaftliches Hauptwerk, die »Weltgeschichte«, ausgewertet, allerdings nicht wissenschaftsgeschichtlich, sondern unter einem politischen Aspekt: In diesem in den 1920er Jahren niedergeschriebenen Werk finden sich immer wieder direkte oder indirekte Hinweise auf seine grundsatzpolitische Einstellung, sein Welt- und Menschenbild sowie darauf, wie er das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sah. Daraus ergibt sich auch, was ihn antrieb und ob er eine klare Vision für Deutschland hatte oder sich tagespolitisch orientierte. Daran anknüpfend wird seine Hoffnung auf den Beginn eines neuen Zeitalters in den Beziehungen der Völker untersucht und sein konkretes außenpolitisches Programm analysiert. Anschließend werden Delbrücks Staatsideal und seine Reformideen zur Weimarer Reichsverfassung betrachtet. Am Beispiel des Skandals um die Schul-Buch-Prämie im Sommer 1928 wird dargelegt, wie schwierig Delbrück politisch einzuordnen war und ist. Nachfolgend wird untersucht, welchen Platz Delbrück dem Vergangenen im neuen Staat einräumen wollte und wie er sich auf dem Feld der Symbolpolitik eine Aussöhnung der beiden Epochen vorstellte. 63 Delbrück, Kriegskunst I–IV. 64 Delbrück, Regierung I, II. 65 Delbrück, Selbstporträt.

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Kapitel IV spiegelt Delbrücks konservative Einstellung wider: Als einer der führenden Akteure der Weimarer Zeit in der Frage der Kriegsschuld stand er eindeutig rechts der Mitte. Gleichwohl grenzte er sich dabei von der unsachlichen Polemik von rechts außen ab, ging aber in der Entlastung des Deutschen Reichs im Hinblick auf die Julikrise und in der Beschuldigung der ehemaligen Feindländer zu weit. In Kapitel V wird dargestellt, wie sehr Delbrück gegen den »nationalen Fanatismus« kämpfte: Er war eine der wenigen bürgerlichen Persönlichkeiten, die gegen die Dolchstoßlegende agierten. Er tat dies, da er als Militärhistoriker von Rang die wirklichen Ursachen der Niederlage erkannte und Männern wie Ludendorff die Flucht aus der Verantwortung nicht durchgehen lassen wollte. Damit fand er sich als Konservativer unversehens im Lager der Sozialisten und Linksliberalen wieder, die ansonsten häufig allein im Kampf gegen die Dolchstoßlegende standen. Die vorliegende Untersuchung erhebt nicht den Anspruch einer umfassenden Biographie. Hans Delbrück als Person steht im Mittelpunkt, die Beschäftigung mit ihr erfährt aber eine zweifache Einschränkung: Zum einen wird er nicht als Historiker, sondern als Politiker und Publizist analysiert. Zum anderen steht die Zeit der Weimarer Republik im Fokus, und nicht die des Kaiserreichs. Zwar hat sich Hans Delbrück als Persönlichkeit, wie dargestellt, über die Epochengrenzen hinweg kaum geändert. Aber diese Arbeit soll mit einem intellektuellengeschichtlichen Ansatz vorrangig einen Beitrag zur Geschichte der politischen Kultur der Weimarer Republik leisten66. Insofern sollen an Delbrücks 66 Das wesentliche, von der Forschung immer wieder herausgestellte Kennzeichen der politischen Kultur der Weimarer Republik war die aus dem konstitutionellen System übernommene Vorstellung, dass die Trennung von Regierung und Opposition zwischen Kabinett und Parlament verlaufen würde. Daraus ergab sich eine Dauerkritik von allen Parteien an der Regierung, die langfristig das System als solches delegitimierte. Verfassungsrechtlich verlief die Trennung aber nun quer durch das Parlament. Indem sich die Parteien dem weitgehend verweigerten, hatten die politischen Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit etwas von Verantwortungslosigkeit (vgl. Büttner, Weimar, S. 499 f). Begleitet war dies von einem »strukturellen Erwartungsüberhang« an die parlamentarische Demokratie, der in eine »permanente Enttäuschung« mündete (Mergel, Kultur, S. 399). Hinzu kam die in der Verfassung angelegte starke Stellung des Reichspräsidenten, die den Zwang zu Kompromissen zwischen den Parteien abmilderte und ihnen »die Flucht aus der Verantwortung außerordentlich erleichter[te]«. (Winkler, Weimar, S. 106) Dieser Mangel an Konsensfähigkeit, die jedes kleine Problem zu einem großen ideologischen Konflikt machte, überlastete die Demokratie, die eine andere Kultur erfordert hätte (Weitz, Weimar, S. 367). Die Spaltung in viele »politische Teilkulturen«, die in einen »Mangel eines allgemein anerkannten politischen Integrationskonzepts« mündete, arbeitet Marquardt, Polis, S. 278, als ein wesentliches Kennzeichen Weimars heraus. Dagegen wendet sich Graf, Zukunft, S. 379, der trotz dieser Zersplitterung der politischen Kultur feststellt, dass es genügend »Konsensgrundlagen« gegeben habe, »die die Verständigung auch zwischen ideologisch weit entfernten Personen ermöglichten.« Zu den längerfristigen, grundlegenden Prozessen schreibt Wolfgang Hardtwig, »viele Transformationen«, die in der Zwischenkriegszeit bedeutsam geworden seien, hätten ihre Ursprünge bereits im Kaiserreich gehabt. »Der Krieg verstärkte sie oder gab ihnen eine andere Richtung, […] er veränderte die zuvor gültigen Maßstäbe von

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Wirken und seiner Persönlichkeit exemplarisch die wichtigsten politischen Themen der Zeit betrachtet werden. Seine Biographie dient damit als roter Faden und die von ihm behandelten Themen gewissermaßen als Sonden. Er selbst hat sich politisch kaum verändert, sodass sich an ihm die Entwicklung seiner Umwelt nachvollziehen lässt. Die Biographie war in der Geschichtswissenschaft längere Zeit lang nicht besonders populär  – was womöglich auch eine Erklärung bietet für das bisherige weitgehende Desinteresse an Hans Delbrück. Die Sozialgeschichte, die längere Zeit hindurch methodisch dominierte, ist mehr an gesellschaftlichen Formationen interessiert. In jüngster Zeit ist die Biographie allerdings »aus ihrer Schattenexistenz ans Licht auch der Academia getreten«67. Neuere kulturgeschichtliche Ansätze in der Forschung fokussieren sich vermehrt auf Wirklichkeitsdeutungen und Wahrnehmungsweisen von Individuen. Biographische Herangehensweisen sind dabei eine gewinnbringende Art der Analyse. Anhand der Verfolgung der Zeitläufte aus der Perspektive einer speziellen Person kann man die Atmosphäre einer vergangenen Epoche besonders gut nachvollziehen und die Entwicklungslinien, die eine Gesellschaft genommen hat, exemplarisch analysieren. Im Kern geht es methodisch darum, das richtige »Verhältnis von Evidenz und Konstruktion«68 zu treffen, also die vorhandenen und nachweisbaren Daten in eine Darstellungsform zu bringen, die notwendigerweise ein gewisses Maß an Konstruktion – oder auch Interpretation – enthält69. Eine gewisse Herausforderung, vor der sich jeder Biograph sieht, ist die Neigung, sich im Zuge der intensiven Beschäftigung mit »seiner« Person und der unabdingbaren Empathie, die man dieser entgegenbringen muss, zu sehr mit ihr zu identifizieren und die daraus entstehende Gefahr, zu einer eher affirmativen Darstellung zu kommen. So viel Verständnis für Hans Delbrück in seiner Zeit auch nötig ist, um ihm gerecht zu werden, und so sehr eine Beurteilung immer nur vor dem Hintergrund der konkreten historischen Umstände erfolgen darf, will sie nicht unhistorisch sein – ein Fehler, der allzu schnell gemacht wird

Humanität und Inhumanität.« (Hardtwig, Einleitung, S. 11). Rüdiger Graf hält fest, dass der »Zukunftsdiskurs« in der Weimarer Republik keine »pessimistische Untergangsstimmung« beinhaltet habe, sondern »eine in allen politischen Lagern und intellektuellen Milieus nachweisbare optimistische Grundhaltung.« (Graf, Optimismus, S. 138 f) Zu weiteren Teilaspekten der politischen Kultur in der Weimarer Republik vgl. die Sammelbände Dülffer / Krumeich, Frieden; Duppler / Groß, Kriegsende; Hardtwig, Ordnungen; Lehnert / Megerle, Identität; Dies., Teilkulturen; Hans Mommsen, Weltkrieg. 67 Fetz, Leben, S. 6. Weiter schreibt er von der Biographie als »Textsorte«, »die lange in Verruf stand und wenig symbolisches Kapital im Einsatz um akademische Karrieren versprach, sich aber in den letzten Jahren auf erstaunliche Weise geradezu zu einem geheimen Zentrum der Kulturwissenschaften entwickelte: Zurück zur Evidenz« (S. 5). 68 Fetz, Leben, S. 53. 69 Zu der Diskussion verschiedener Ansätze in der Biographik vgl. den Sammelband Fetz, Biographie.

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und dann eine Kontinuität von Wilhelm II. zu Hitler konstruiert70, – kann man auch bei einer solchen Herangehensweise Kritik an Delbrück entwickeln. An den Stellen, wo es für das Verständnis der Motivation Delbrücks für seine politischen Äußerungen notwendig ist, werden auch private Hintergründe erwähnt71. Es wird aber bewusst darauf verzichtet, einen umfassenden Verlauf seines Lebens darzustellen, da dies nicht das vorrangige Ziel dieser Arbeit ist. Im Kern geht es um eine Auswertung seines (politischen und wissenschaftlichen) Nachlasses, um sich mittels einer klassischen Quellenanalyse dem Wirken seiner Persönlichkeit zu nähern. Einen Schwerpunkt der erhaltenen Quellen von bzw. über Delbrück bildet der Brief. Gemäß dem Plädoyer, das Sigrid Weigel aufstellt für einen biographischen Ansatz, werden diese Korrespondenzen zu einem Schwerpunkt dieser Studie erhoben72. Die Quellengattung des Briefs ist eine sehr dankbare: Als das Leitmedium der Kommunikation in der zu untersuchenden Epoche lassen sich an ihm besonders gut Netzwerke rekonstruieren und Gedankengut nachzeichnen, das in öffentlichen Äußerungen womöglich nicht in der gleichen Weise zu finden ist. Biographisch wertvoll ist der Brief bisweilen, weil er private Einschätzungen, spezielle Einflüsse oder auch Befindlichkeiten transportiert – etwas, was sonst nur mündlich geäußert wird und damit einer historischen Analyse weitgehend entzogen ist. Die zweite Säule für die Darstellung Delbrücks bildet sein publizistisches Werk, denn hierüber griff er in die Debatten der Zeit ein und versuchte sie zu bestimmen. Die dritte Seite, von der aus eine Annäherung an Hans Delbrück erfolgt, ist sein Engagement in diversen Kommissionen, denen er in Weimar angehörte. Dies war neu für ihn – im Kaiserreich war er gewohnt gewesen, für sich allein zu sprechen, ohne Rücksicht darauf, Kompromisse schließen zu müssen. Da er als Sachverständiger an verschiedenen Stellen hoch geachtet war und seine Einbindung von unterschiedlichen Kräften gewünscht wurde, stellen diese Tätigkeiten einen wichtigen Baustein seines Wirkens dar. Denn sei es vor Gericht, in Untersuchungsausschüssen oder wissenschaftlichen Kommissionen, hier hatte 70 Winkler, Geschichte II, S. 1200 f, schreibt in dem Zusammenhang: »Der Begriff des »zweiten Dreißigjährigen Krieges« [der häufig für die Zeit der Weltkriege verwendet wird, d. Vf.] suggeriert eine Zwangsläufigkeit der Entwicklung zwischen 1914 und 1945 und verwandelt die Friedensjahre im nachhinein in eine optische Täuschung – eine teleologische und deterministische Geschichtssicht, die keinen Raum mehr läßt für die Unterscheidung zwischen dem, was als Möglichkeit im Ausgang des Ersten Weltkrieges angelegt war, und dem, was unter dem Einfluß einer globalen ökonomischen Katastrophe politische Wirklichkeit wurde.« 71 Machtan, Max, S. 11, betont in gleicher Weise für seine Biographie, exemplarisch am Beispiel der Übernahme der Reichskanzlerschaft seines Untersuchungsobjekts: »Nur wenn man um das beschädigte Privatleben dieses Prinzen Bescheid weiß, kann man die Motivation einer solchen Tat ermessen.« 72 Weigel, Genea-Logik, S. 169–174. Weigel begreift unter Korrespondenzen allerdings nicht nur im engeren Sinne den Briefverkehr, sondern auch Auseinandersetzungen mit Texten, Gedanken oder fiktiven Personen wie beispielsweise literarische Figuren.

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Delbrück die Möglichkeit, seine Anschauungen nicht nur zu artikulieren, sondern unmittelbar durchzusetzen73. Delbrücks publizistische Tätigkeit soll dazu auch in den politischen Kommunikationsraum der Weimarer Republik eingeordnet werden. Die Medien­revolution und der Aufstieg der kommerziellen Massenpresse und ihrer Produzenten im ausgehenden 19. Jahrhundert veränderte fundamental die Bedingungen, unter denen Politik stattfinden konnte. Die Ursachen für das Aufkommen moderner Massenmedien – zunächst vor allem der Tagespresse – waren hauptsächlich technischer und rechtlicher Art. Der Bedeutungszuwachs der Medien veränderte das politische System, da nunmehr auch eine Beteiligung breiterer Schichten am politischen Geschehen möglich wurde. Dabei erlangte die Presse eine neuartige Funktion, weil sich der Schauplatz der politischen Kämpfe vom Parlament teilweise dorthin verlagerte. Allerdings ging damit kein Bedeutungsverlust des Reichstages einher. Es fand vielmehr eine engere Interaktion zwischen Parlament und Presse statt, die letztlich auch das Parlament in seiner Machtstellung stärkte74. War also die Medialisierung ein Phänomen, dem bereits in den Jahrzehnten vor dem Weltkrieg eine entscheidende Rolle zukam, ging die Entwicklung in den 1920er Jahren rasant weiter, und zwar unter veränderten Vorzeichen: Bedeutete im Kaiserreich die Durchdringung des Politischen durch die Medien vorrangig eine Demokratisierung, stellt Bernhard Fulda für die Ära nach 1918 für diesen Trend vor allem ein »demokratiefeindliches Potential« fest: »Während der Weimarer Republik war es besonders die politische Presse, die entscheidend die Basis für eine polarisierte politische Öffentlichkeit herstellte und ein Klima der parlamentarischen Lagerkämpfe und der weltanschaulichen Gegensätze schuf, welches kontinuierlich ab 1919 die Legitimität der parlamentarischen Demokratie in Deutschland untergrub.«75

Eine zu untersuchende Frage wird sein, ob Hans Delbrück sich an dieser Entwicklung beteiligte, oder ob und wie er versuchte, sich dem entgegenzu­stemmen. Als einer der angesehensten Publizisten seiner Zeit besaß er immerhin eine gewisse Wirkmächtigkeit, um eine Debattenkultur mitzuprägen. Dass ­Delbrück in der publizistischen Landschaft der Weimarer Republik eine herausgehobene 73 Bruch, Wissenschaft, S. 330, spricht für Delbrück im Kaiserreich noch eine weitere, wichtige und häufig erfolgreiche Form von Delbrücks Engagement an, »überwiegend hinter den Kulissen betriebene Initiativen«: Damit meint er Delbrücks nicht näher bezeichnetes Vorgehen bei Themen wie der preußischen Steuerpolitik 1909 oder der antisozialdemokratischen Besetzungspolitik an den Universitäten. 74 Siehe hierzu den Überblick bei Kohlrausch, Skandal, S. 45–83. Siehe auch Dussel, Tagespresse, S. 59–82; Schulz, Aufstieg, S. 83. 75 Fulda, Politik, S. 48. Womöglich hängt dies damit zusammen, dass die abermals neue mediale Entwicklung »in Deutschland ausgerechnet in einem historischen Augenblick voll zum Tragen [kam], als das politisch-kulturelle System des Deutschen Kaiserreiches zusammengebrochen war und Kriegsniederlage, Revolution sowie Bürgerkrieg in weiten Kreisen traumatische Eindrücke hinterlassen hatten.« (Saldern, Abwehr, S. 417).

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Stellung einnahm, belegt das Schreiben des Redakteurs der »Frankfurter Zeitung«, Wilhelm Cohnstaedt, vom November 1923: »wenn es eine Hochschule für Journalismus gäbe, würden Sie gewiss ihr erster Ehrendoktor sein.«76 Im Kaiserreich hatte Delbrück in seinen »Preußischen Jahrbüchern« die Art der politischen Kommentierung in Form von Leitartikeln, gerichtet an bildungsbürgerliche Eliten, perfektioniert. Als das allgemeine, wesentliche Kennzeichen hierfür arbeitet Rüdiger vom Bruch eine Publizistik heraus, »die in der älteren Tradition eines freien Meinungsaustausches und eines in ständiger Kommunikation hergestellten Willensbildungsprozesses von selbstverantwortlichen Individuen wurzelte, getragen durch unabhängige, einer breiten Diskussion Raum gewährende und durch anerkannte Herausgeberpersönlichkeiten geprägte Periodika.«77

Diese hergebrachte Elitenpresse hatte es in Weimar zunehmend schwer, da sie die neu entstehende Nachfrage nach Schnelligkeit und Unterhaltung im Zuge des »zweiten Strukturwandel[s]« im Massenmarkt nicht decken konnte78. Delbrück verkaufte zwar bereits 1919 seine »Preußischen Jahrbücher« und blieb insofern ökonomisch von dem Niedergang der Zeitschrift verschont79. Zugleich war ihm damit aber sein Sprachrohr entzogen, und er musste sich fortan für jede einzelne Wortmeldung ein Organ suchen. Es wird zu betrachten sein, ob er weiterhin hauptsächlich die angesehenen, aber über immer weniger Einfluss verfügenden Zeitschriften auswählte, oder verstärkt in der Tagespresse schrieb. Dementsprechend müsste er auch seinen Schreibstil angepasst haben. Weiterhin soll Delbrücks Selbstverständnis als Publizist betrachtet werden. Wie Bernhard Fulda herausarbeitet, war es ein Phänomen der Eliten in Weimar, dass sie an eine große Macht der Presse glaubten und sich selbst medienwirksam und unabhängig wähnten, was wiederum zu einem tatsächlichen Ein76 Cohnstaedt an Delbrück am 10. November 1923, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 5. 77 Bruch, Wissenschaft, S. 47. Ebd., S. 32–56, weitere Ausführungen zur Stellung der Zeitschrift im politischen Kommunikationsraum des Wilhelminismus unter besonderer Berücksichtigung der PJb. 78 Fulda, Politik, S. 51. Zur Entwicklung der Presselandschaft in Weimar vgl. auch Fulda, Press, S. 16–23; Ross, Media, S. 142–149. Zur Pressepolitik in Weimar vgl. Lau, Pressepolitik, der sie als so mangelhaft einschätzt, dass er von einer »Selbstpreisgabe« der Republik spricht (S. 377). Zu neuen Ansätzen in der Forschung über die Medialisierung in den 1920er Jahren vgl. die Sammelbände: Arnold u. a., Politisierung; Daniel u. a., Medienwirklichkeiten. A ­ smuss, Republik, S. 29 f, arbeitet heraus, dass es in der Weimarer Republik ca. 4.000 Tages- und Wochenzeitungen gegeben hat, wobei allein die Tageszeitungen auf eine Gesamtauflage von schätzungsweise 16–20 Millionen kamen. Insgesamt verfolgt Burkhard Asmuss jedoch einen veralteten Ansatz, indem er die Zeitungen weitgehend isoliert ohne eine größere Kontextualisierung in die politische Kultur auswertet. 79 Allerdings führte Delbrück in den Folgejahren einen Rechtsstreit gegen seinen Nachfolger Walther Schotte und den Verleger Georg Stilke, da die beim Verkauf vereinbarte jährliche Rente von 5.000 Mark durch die Inflation entwertet worden war und Delbrück eine Aufwertung erzielen wollte. Das Landgericht Berlin gab Delbrück 1925 im Wesentlichen Recht. Die Unterlagen hierzu sind in: SBB NL Delbrück, Fasz. 31.

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fluss der Presse auf die Politik führte80. Welches Bild Delbrück von sich hatte und wie er seine Wirkmächtigkeit einschätzte, ist folglich eine Nebenfragestellung bei der Auswertung seiner Publizistik. Dabei soll auch ergründet werden, was das Spezifische an Delbrücks politischer Publizistik war in Abgrenzung zu anderen Intellektuellen. Eine Bedeutung für Delbrücks politisches Engagement hatte schließlich auch das geistige Umfeld, die diversen Netzwerke und Organisationen, denen er beiwohnte. Es wird deshalb auch untersucht, welche Kräfte ihn unterstützten und wo er Anregungen erhielt. Manche dieser Netzwerke stehen explizit im Fokus der Untersuchung, wie zum Beispiel die Historische Kommission des Reichsarchivs in Kapitel V.4, andere spielen nur eine nachgeordnete Rolle, da in ihnen keine unmittelbaren Auseinandersetzungen geschahen oder Entscheidungen getroffen wurden, sondern lediglich ein Gedankenaustausch stattfand. Am Wichtigsten war zweifellos der »Mittwoch-Abend«. Da dieser im Laufe der Arbeit immer wieder auftaucht, jedoch nicht selbst im Fokus steht, soll er hier kurz erläutert werden. Der Mittwoch-Abend konstituierte sich 1914 »aus den seelischen Spannungen der letzten Augusttage«, wie es Paul Rühlmann 1928 formulierte81. Gemeint war damit die nationale Aufbruchstimmung zu Kriegsbeginn, die über Parteigrenzen hinweg zahlreiche – längst nicht alle – Intellektuelle erfasste. Der Hauptinitiator war der Nationalliberale Eugen Schiffer, aber die Führung in dem Kreis übernahm schnell Hans Delbrück. Es trafen sich, meist wöchentlich, über viele Jahre hindurch Abgeordnete, Beamte, Minister, Wissenschaftler, Bankiers, Industrielle, Offiziere und Diplomaten. Sie alle einte weitgehend eine gemäßigt rechte Weltanschauung, wenngleich Delbrück stets daran gelegen war, auch Andersdenkende hinzuzuziehen. Man traf sich in den ersten Jahren in wechselnden Lokalitäten und ab 1923 regelmäßig im Oberverwaltungsgericht am Bahnhof Zoo abends um viertel vor neun. Der Ablauf war in der Regel dergestalt, dass Delbrück vorab zu einem bestimmten politischen Thema einen Referenten organisierte, der dann einen einführenden Vortrag hielt. Anschließend (häufig auch in einer zweiten Sitzung) wurde darüber unter Delbrücks Moderation diskutiert. Es handelt sich also um eine Form des bürgerlichen intellektuellen Austauschs, wie er bis heute praktiziert wird. Delbrück selbst sprach stets von »eine[m] kleinen intimen politischen Zirkel, in dem an jeden [sic] Mittwoch die Tagesfragen besprochen werden.«82 Dies waren 80 Fulda, Press, S. 72. 81 Rühlmann, Mittwochabend, S. 76. Zum Folgenden ebd., S. 76–80; Bruch, Wissenschaft, S. 253–258; Bucholz, War Images, S. 107, Anm. 91; Meinecke, Straßburg, S. 162–171. 82 Hans Delbrück an Erich Koch-Weser am 26. November 1928, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Koch-Weser, Bl. 6. Ganz ähnlich auch: Hans Delbrück an Hans Luther am selben Tag, in: ebd., Briefkonzepte Luther, Bl. 2; Hans Delbrück an Kurt Lersner am 14. Januar 1928, in: ebd., Briefkonzepte Lersner; Delbrück an Jagow am 5. Mai 1928, in: ebd., Briefkonzepte Jagow, Bl. 6; Hans Delbrück an Wilhelm Groener am 4. Januar 1926, in: ebd., Briefkonzepte Groener, Bl. 1; Hans Delbrück an Karl Galster am 29. Mai 1926, in: ebd., Briefkonzepte Galster, Bl. 13.

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beispielsweise die »Technik eines etwaigen Zukunftskrieges«, »Hatte Deutschland im Anfang des Jahrhunderts die Option zwischen England und Russland und wie hätte es sich entscheiden müssen« oder das »Schulgesetz«83. Das vorrangige Ziel dieser informellen Vereinigung – »ein[er] Art Debattierklub über die Zeitgeschichte«84 – war der Gedankenaustausch, da die reguläre Informationsgewinnung im Krieg stark eingeschränkt war. Nach Kriegsende jedoch hielt sich dieser Kreis und befriedigte nach wie vor vor allem das Bedürfnis nach Information und Austausch der Teilnehmer, wie es Peter Rassow 1926 formulierte: »Der Politiker lebt nicht von Zeitungen allein, sondern bedarf der Gespraeche [sic] in der Wandelhalle des Reichstags und an den Mittwoch-Abenden.«85 Im Laufe der Zeit kamen immer wieder neue Teilnehmer hinzu, andere entfernten sich. Manche kamen regelmäßig, andere nur selten. Zugang zu dem Kreis erhielt man durch eine Einladung von Delbrück, wobei es keine formelle Beschränkung oder gar Mitgliedschaft gab – die Teilnehmer haben sicherlich auch bisweilen selbstständig weitere Persönlichkeiten eingeführt. Meist waren ungefähr 20 Personen anwesend86. Dabei gab es über die Jahre hinweg unterschiedliche Phasen. Im Herbst 1922 schrieb Delbrück, der Mittwoch »blüht«87, was er Ende 1924 wiederholte88. Im Sommer 1925 äußerte er, er sei »ziemlich schwach besucht [sic] aber dauernd interessant«89. Im Sommer 1926 wiederum schrieb er, der Mittwoch sei »nach wie vor sehr gut besucht«90. Welch hohe Be83 Das Programm für den Oktober 1925 (Delbrück an Montgelas am 26. September 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Montgelas, Bl. 28 f). 84 O. V.: »Hans Delbrück (Zu seinem 100. Geburtstage)«, in: Deutsche Nachrichten, Sao Paulo, 4. Jg., Nr. 403 vom 11. November 1948, in: Kunstmuseum »Kloster Unser Lieben Frauen« Magdeburg, Familienarchiv Delbrück [im Folgenden: KULF, FA Delbrück], Z De 53–008. 85 Rassow an Delbrück am 6. Juni 1926, in: SBB NL Delbrück, Briefe Rassow, Bl. 42–44. 86 Regel- oder unregelmäßige Teilnehmer waren unter anderem: Moritz Julius Bonn, Ernst von Borsig, Arnold Brecht, Emil Daniels, Bernhard Dernburg, Bill Drews, Eugen Fischer, Georg Gothein, Wilhelm Groener, Otto Grautoff, Maximilian von Hagen, Martin H ­ obohm, Theodor Heuss, Hans von Haeften, Kurt Hahn, Hermann von Hatzfeldt, Adolf von ­Harnack, Ernst Jäckh, Wilhelm Kahl, Joachim Kühn, Freiherr von Lüdinghausen, Hugo Lerchenfeld, Ago von Maltzan, Siegfried Mette, Gustav Mayer, Max Montgelas, Friedrich ­Meinecke, Konrad Molinski, Hermann Pachnicke, Friedrich Rosen, Kurt Riezler, Hermann und­ Peter Rassow, Paul Rohrbach, Paul Rühlmann, Heinrich Schëuch, Eugen Schiffer, Ferdinand Jakob Schmidt, Karl Schwendemann, Bernhard Schwertfeger, Karl Friedrich von Siemens, Wilhelm Solf, Friedrich Stieve, Karl Stählin, Heinrich Schnee, Hjalmar Schacht, Max ­Sering, Walter Simons, Julius Treuherz, Ernst Troeltsch, Arnold Wahnschaffe, Alfred Weber, Alfred Wegerer und Karl von Zahn (vgl. die Mitgliederlisten in: SBB NL Delbrück, Fasz. 29; siehe auch Rühlmann, Mittwochabend, S. 79 f). 87 Delbrück an Montgelas am 31. Oktober 1922, in SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Mont­ gelas, Bl. 10 f. 88 Hans Delbrück an Alfred Weber am 27. Dezember 1924, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Weber. 89 Delbrück an Montgelas am 17. Juli 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Montgelas, Bl. 16. 90 Delbrück an Montgelas am 25. Juni 1926, in: ebd., Bl. 35.

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deutung die Mittwoch-Abende, »an denen Delbrücks ganzes Herz hing«91, bis zuletzt für ihn einnahmen, illustriert ein Brief aus dem Februar 1929 an Wilhelm Solf, in dem Delbrück schrieb: »Ich habe ja noch immer meinen MittwochAbend, der gerade in der letzten Zeit sehr interessant war, aber sonst habe ich mit der amtlichen Welt und der praktischen Politik nur noch sehr wenig Fühlung.«92 Die Diskussionen liefen »sehr locker« und »ziemlich formlos« ab, wie Theodor Heuss später schrieb93. Für ihn war es »eine Schule der Skepsis«94. Auch Friedrich Meinecke schrieb später, Delbrück als Moderator sei »viel milder und konzilianter« aufgetreten, als in seiner Publizistik95. Dabei war eine der Grundbedingungen die Verschwiegenheit nach außen über das Gesagte96. Die Forschung zur Weimarer Republik ist lange Zeit fixiert gewesen auf deren Scheitern. In jüngerer Zeit erst hat sich dies gewandelt, die Epoche wird als eigenständig und offen begriffen. Sie hätte nicht zwangsläufig 1933 enden müssen. Deshalb ist es wichtig, nach den Erfolgsaussichten zu fragen. Diese Arbeit geht der Frage nach den Chancen Weimars nach. Genauso wie sein Programm im Weltkrieg nach Wilhelm Deist eine »erfolgversprechende Alternative« darstellte97, war es, so die These dieser Arbeit, auch Hans Delbrücks Programm für die erste deutsche Republik. Es wird danach gefragt, inwieweit Hans Delbrück die Republik durch seine Aktivitäten möglicherweise stabilisierte. Tim Müller, Vertreter der These von den Chancen Weimars, schreibt, die Weimarer Demokraten seien »entschlossener und erfindungsreicher« gewesen, als von der Forschung bislang dargestellt98. Wenngleich Müller vorrangig einen Beitrag zur 91 So seine Frau Lina in einer rückblickenden Beschreibung (Aufzeichnung Lina Delbrücks, Abschrift in: BArch N 1017/75, Delbrücks Leben, Bd. XI 1914, S. 88). 92 Delbrück an Solf am 7. Februar 1929, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Solf, Bl. 21. Laut einer Notiz von Lutz Korodi, Siebenbürger Lehrer, existierte der Mittwoch-Abend mindestens bis 1941 (Niederschrift Korodis in: SBB NL Delbrück, Fasz. 13, Bl. 11 f). 93 Heuss, Delbrück, S. 454. Die Vossische Zeitung schrieb 1928 über den Mittwoch-Abend, er sei »eine der reizvollsten Bildungen unseres Gesellschaftslebens. Da gibt es keine Satzungen, keine Vereinsämter. Hans Delbrück regiert den Delbrück-Kreis.« (C. M.: »Hans Delbrück und Erich Brandenburg«, in: Vossische Zeitung vom 25. November 1928, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 8). 94 Heuss, Erinnerungen, S. 220. 95 Meinecke, Straßburg, S. 168. 96 Hans Delbrück an Hjalmar Schacht am 8. Januar 1926, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Schacht, Bl. 1; Aufzeichnung Lina Delbrücks, Abschrift in: BArch N 1017/75, Delbrücks Leben, Bd. XI 1914, S. 92. 97 Deist, Delbrück, S. 379, zu Delbrücks Kriegszielpolitik. 98 Müller, Demokratie, S. 570. Weiter schreibt er: »Demokratie ist nichts ohne demokratischen Staat« (S.  574), womit er den zentralen Aspekt benennt, dass Weimar rein verfassungsrechtlich eine mustergültige Demokratie gewesen ist, sie aber von einem Großteil nicht gelebt wurde. Müllers Thesen und die Form, in der er sie vorträgt, haben allerdings auch teils deutlichen Widerspruch erfahren. Graf, Zukunft, S. 13–15, plädiert ebenfalls dafür, die Geschichte der Republik nicht von 1933 aus zu erzählen, sondern nach den Zukunftschancen zu fragen. Thonfeld, Krisenjahre, bietet einen aktuellen Überblick über diese neuen Forschungsansätze.

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transnationalen Demokratieforschung liefert und das Wirken überzeugter Demokraten in den Vordergrund stellt, ist sein Plädoyer für die Offenheit der Entwicklungen in den 1920er Jahren bedenkenswert. Hans Delbrücks konservativ motiviertes Engagement reiht sich nicht unmittelbar ein in die zahlreichen Versuche der liberalen Republikaner, Weimar zu stabilisieren. Aber er bot gerade durch seine konservativen Überlegungen Möglichkeiten für die Masse der Bürger an, sich trotz der Sozialisierung in der konstitutionellen Monarchie für die neue, noch fremde Regierungsform zu öffnen und sich als Überzeugte eines anderen Systems dennoch zu integrieren99. Damit soll keine neue Geschichte der Weimarer Republik geschrieben werden, aber im Rahmen einer intellektuellengeschichtlichen Betrachtung ein Beitrag für eine Neuakzentuierung der Chancen der ersten deutschen Demokratie geliefert werden. Hans Delbrück und Weimar: Bis zu seinem Tod am 14. Juli 1929 trat er ein für den Wiederaufbau Deutschlands unter gemäßigten Vorzeichen. Die drei wesentlichen Ziele waren dabei eine Aussöhnung der neuen Republik mit dem alten Kaiserreich, die Zurückweisung des Vorwurfs der deutschen Allein-Kriegsschuld und die Ausschaltung der Rechten, die die militärische Niederlage und damit auch das Ende der Monarchie 1918 maßgeblich zu verantworten hatten.

99 Auch Büttner, Weimar, S. 17, stellt fest, dass konservative Programmatik in Weimar »nicht mehr nur als rückwärtsgewandt« eingeschätzt wird, sondern mitunter als zukunftsträchtig.

II. Hans Delbrück und die Hohenzollernmonarchie »›Glaubst Du, dieser Adler sei Dir geschenkt?‹ Ich hatte zeitweilig die Fakultät, das Kultusministerium, den Generalstab und den Kaiser gegen mich.«1

Dies schrieb Delbrück über seinen Lebensweg im Hohenzollernreich anlässlich seines 80. Geburtstages am 11. November 1928. Hans Gottlieb Leopold Delbrück (geboren am 11. November 1848 in Bergen auf Rügen) gehörte der Familie Delbrück an, die in Preußen und Deutschland im langen 19. Jahrhundert viele wichtige Positionen besetzte. Seine Verwandten hatten vielfach herausragende Ämter in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft inne. So war etwa sein Vetter Clemens Staatssekretär des Innern und Chef des Zivilkabinetts, ein anderer Vetter Heinrich Reichsgerichtspräsident und Staatssekretär im Reichsjustizamt, ein weiterer Vetter Inhaber des Bankhauses Delbrück, Schickler & Co, sein Vetter Ernst von Dryander war Oberhofprediger, sein Bruder Max Direktor des Instituts für Gärungsgewerbe und Landwirtschaftsprofessor in Berlin, sein anderer Bruder Ernst war Präsident des statistischen Reichsamtes, sein Schwager Adolf von Harnack Theologe und Wissenschaftsorganisator. Hans Delbrücks Mutter Laura wiederum war eine Tochter von Leopold von Henning, einem wichtigen Hegel-Schüler2. Seine Frau Lina (geboren am 10. Dezember 1864 in Erlangen), eine Tochter des bedeutenden Chirurgen Carl Thiersch aus Leipzig, lernte er 1883 über Karl von Noorden kennen. Nach der Verlobung am 7. Mai 1884 heirateten die beiden am 15. August desselben Jahres3. Wie sehr er seine Frau liebte, beweist die liebevolle Widmung seiner »Weltgeschichte« für sie4. Aus der insgesamt als glücklich zu bezeichnenden Ehe gingen sieben Kinder hervor: Laura Viktoria (geboren am 8. November 1890), die am 4. Oktober 1911 den Arzt Heinz Schmid heiratete und mit ihm einige Jahre in Manila auf den Philippinen wohnte, Walde­ mar Friedrich Viktor Hans (geboren am 6. Juli 1892), Johanna Hermine (geboren am 19. April 1896), die am 21. August 1924 Ernst Bräuer heiratete, Helene Agnes Anna (geboren am 3. November 1898), die am 1. Oktober 1925 Georg Hobe heiratete, Justus Friedrich Gottlieb Leopold (geboren am 25. November 1902), Emilie Charlotte Amalie Henriette (geboren am 13. Mai 1905) und Max 1 Hans Delbrück: »Danksagung«, in: PJb 214 (1928), S. 265–271, Zitat S. 266. 2 Vgl. Harnack, Delbrück, S. 412 f; Rassow, Delbrück, S. 429. Eine kurze Charakteristik von Delbrücks Eltern bietet Rudolph von Delbrück, ein Vetter von Hans Vater Berthold: Rudolph von Delbrück, Lebenserinnerungen I, S. 203. Ein rund 200seitiges Büchlein über Berthold und Laura auf der Basis von Briefen und Berichten hat um 1963 Hans Tochter Lore zusammengestellt (in: BArch N 1017/61). Eine Übersicht über die Lebensdaten von Hans Delbrücks Kindern ist in: SBB NL Delbrück, Fasz. 13, Bl. 14. 3 Vgl. BArch N 1017/66, S. 215. 4 Vgl. Delbrück, Weltgeschichte I.

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Henning Ludwig (geboren am 4. September 1906)5. Hans Delbrück war ein Familienmensch. Er besaß eine »große Vertrauensstellung«6 und war 26 Jahre lang Kurator der Delbrückschen Familienstiftung7. Gesundheitlich war Delbrück bis ins hohe Alters sehr fit, wie der Historiker Walter Goetz 1928 schrieb: »Wer kann es glauben, daß Hans Delbrück am 11. November 80 Jahre alt wird? Sieht man ihn durch die Straßen schreiten, so fehlt ihm jede Müdigkeit des Alters, und man gibt ihm höchstens 70 Jahre; hört man ihn bei einem Vortrag, höchst bestimmt und klar, so sinkt er auf 60; trifft man ihn aber in einer Sitzung beim Kampf um seine Überzeugung, temperamentvoll und angreifend, so wird man ewige Jugend bei ihm feststellen müssen.«8

Diese gute körperliche Verfasstheit nutzte Delbrück auch aus, er war jeden Tag vollauf mit Gesprächen oder am Schreibtisch beschäftigt9. Nach seinem Abitur 1867 studierte Hans Delbrück Geschichte in Heidelberg, Greifswald und Bonn, wo er bei Heinrich von Sybel 1873 promoviert wurde. Aufgrund des frühen Todes seines Vaters war ihm dies nur durch die finanzielle Unterstützung von Adalbert und Hugo Delbrück, beides Brüder seines Vaters, sowie seiner Patin Ida von Kahlden möglich10. Im Oktober 1867 unterbrach Delbrück sein Studium und trat als Einjährig-Freiwilliger in das Pommersche Jäger-Bataillon 2 ein, das er im September 1868 als Unteroffizier und Reservist verließ. Den Feldzug gegen Frankreich machte er beim Rheinischen InfanterieRegiment 28 mit, bei dem er zunächst zum Vize-Feldwebel und dann zum Secondelieutnant befördert wurde. Er war Teilnehmer der Schlacht bei Gravelotte am 18. August 1870, erkrankte bei der Belagerung von Metz an T ­ yphus und lag dann im Lazarett Schloss Compiègne. Ende Juni 1871 schied er wieder aus dem 5 Siehe die Aufstellung in: SBB NL Delbrück, Fasz. 13, Bl. 14. 6 So seine Frau Lina (Aufzeichnung Lina Delbrücks, Abschrift in: BArch N 1017/74, Delbrücks Leben, Bd. X 1912, S. 70). 7 Rundschreiben der Delbrückschen Familienstiftung vom 1. Januar 1930 anlässlich des Todes von Hans Delbrück, in: KULF, FA Delbrück, Z De 9–006. 8 Goetz, Delbrück, S. 316. Gleichwohl musste Delbrück im Februar 1923 eine bereits fest geplante Vortragsreise nach Wien absagen, da die Schlafwagenzüge abgeschafft worden waren und er jede andere Art von Reise in seinem Alter als nicht mehr zumutbar betrachtete (Hans Delbrück an den Verlag Renaissance am 26. Dezember 1922 und 2. Februar 1923, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Verlag Renaissance, Bl. 1+3). 9 Axel von Harnack berichtete 1952: »Ökonomische Zeit- und Kräfteeinteilung gestatteten dem schnell, aber nie oberflächlich Schaffenden Tage und halbe Nächte am Schreibtisch zu verbringen, dabei zwischendurch zahlreiche Besuche zu empfangen und Anregungen aller Art zu geben wie aufzunehmen. […] Der Verwandten-, Freundes- und Schülerkreis war ausgedehnt und vielgestaltig; er machte Hans Delbrück zu einem der am um umfassendsten unterrichteten Politiker Berlins. Er hatte es nicht nötig, auf die Jagd nach Neuigkeiten zu gehen wie Redakteure minderen Ranges. Ihm strömten sie zu; wurde er doch selbst ständig bis an die Grenze seiner verfügbaren Zeit von Besuchern umlagert.« (Harnack, ­Delbrück, S. 412). Auch Ziekursch, Delbrück, S. 93, sprach von einem »schier unbegreiflich[en]« Arbeitspensum, genauso wie Schleier, Delbrück, S. 395. 10 Hans Delbrück: »Danksagung«, in: PJb 214 (1928), S. 265–271, hier S. 265.

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aktiven Dienst aus und nahm als Reservist 1874, 1876 und 1881 jeweils an mehrwöchigen Übungen teil. Nach seiner letzten Beförderung zum Premierlieutnant im November 1881 schied er am 13. Januar 1885 endgültig aus der Armee aus11. Hans Delbrück war Träger des Eisernen Kreuzes II. Klasse (22. Juni 1871) und des Eisernen Kreuzes am weiß-schwarzen Bande (1914), des Roten Adler-Ordens IV. Klasse (17. April 1879) und III. Klasse mit Schleife (30. August 1918), des Königlichen Kronen-Ordens III. Klasse (10. Juni 1900) und des Adlerschildes des Deutschen Reichs (11. November 1928). Zudem wurde Delbrück am 11. Oktober 1910 der Charakter als Geheimer Regierungsrat verliehen12. Damit durchlief er zunächst eine in seiner Zeit übliche Ausbildung in Universität und Militär. 1918 berichtete Delbrück, er habe »als Kind einen alten Herrn gekannt, der als Knabe Friedrich den Großen gesehen hat.« Diese Erzählung zeigt, wo er sich selbst verortete und dass der »starke Staatsbegriff, wie das Freiheitsideal, das Preußentum, der deutsche Nationalgedanke, die allgemein menschliche Bildung und das Humanitätsstreben« ihn beherrschten13. Nach seiner Promotion arbeitete er seit 1874 als Erzieher des Prinzen Waldemar, einem Bruder des späteren Kaisers Wilhelm II., bis dieser 1879 starb14. In dieser Zeit kam er in intensiven Kontakt nicht nur mit dem Kronprinzen-Paar, dem späteren Kaiser Friedrich III. und dessen Frau, sondern auch mit zahlreichen hohen Offizieren. Diese Erlebnisse und Kontakte waren für seine wissenschaftliche und publizistische Arbeit genauso nützlich wie die Erfahrungen als Parlamentarier: Von 1882 bis 1885 war er Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses und von 1884 bis 1890 des Reichstags. Delbrücks Herkunft lässt sich somit insgesamt als preußisch, gelehrt und protestantisch kennzeichnen. »Wir haben Hans Delbrück kennengelernt als den staatsmännischsten unter den Geschichtsschreibern seiner Zeit. Als Politiker haben wir in ihm denjenigen 11 Siehe den vom Reichsarchiv, Zweigstelle Münster, ausgefüllten Personalbogen zwecks Berechnung von Delbrücks Pension vom 20. Mai 1925, in: Humboldt-Universität zu Berlin, Universitätsarchiv [im Folgenden: HU UArch], UK Personalia, DO 39, Bd. 2, Bl. 11; dreiseitiger Lebenslauf Delbrücks im Familienarchiv, in: KULF, FA Delbrück, Z De 14–001. 12 Vgl. ebd.; Schreiben der Generalordenskommission an Delbrück vom 18. Oktober 1918, in: SBB NL Delbrück, Briefe Generalordenskommission, Bl. 1; Tirpitz an Delbrück am 13. Juni 1900, in: ebd., Briefe Tirpitz, Bl. 3; Schreiben des Reichspräsidenten Hindenburg an Delbrück vom 11. November 1928, in: ebd., Fasz. 6.1; Schreiben des preußischen Ministeriums der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten an den Rektor der Universität Berlin vom 2. September 1918, in: HU UArch, UK Personalia, DO 39, Bd. 1, Bl. 16; Auszug aus der Ministerial-Verfügung No. 1411 vom 11. Oktober 1910, in: ebd., Bl. 10. 13 Hans Delbrück: »Danksagung«, in PJb 174 (1918), S. 442–445. »Der letzte Preuße!« schrieb deshalb das »Grunewald-Echo« 1928 über Delbrück, der regelmäßige Morgenspaziergänge in seinem Viertel tätigte (Wilhelm Ziegler: »Hans Delbrück«, in: Grunewald-Echo, 30. Jg. Nr. 50, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 11.1). 14 Es gibt Nachrichten darüber, dass Delbrück diese Tätigkeit zunächst nicht annehmen wollte, da er sich damit in seiner Historikerkarriere behindert sah (BArch N 1017/65, S. 102–137; Rassow, Delbrück, S. 430).

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zu sehen, der historisch am umfassendsten gebildet war.«15 So schrieb Axel von Harnack rückblickend über den Schwager seines Vaters. Hans Delbrücks Beiträge zur deutschen Geschichte führen zu der Frage, in welchem Verhältnis bei ihm Politik und Wissenschaft zueinander standen. Er ist hier nicht einfach zu fassen, da er kaum in ein Schema hineinpasst, sondern seiner eigenen Vorstellung folgte. Die Kommentare seiner Weggefährten zu dem Thema variieren im Detail, betonen aber alle, dass Delbrück seinem Selbstverständnis nach zuerst Historiker und dann Politiker gewesen sei. Sicher ist, dass er die Zeit im Preußischen Abgeordnetenhaus und im Deutschen Reichstag von vornherein betrachtet hat als Lehrzeit für das Wesen des politischen Betriebs und weniger als Möglichkeit, selbst politischen Einfluss zu nehmen16. Dass Delbrück von Beginn an nicht nur Historiker sein wollte, sondern auch in irgendeiner Form Politiker, zeigt seine Beharrlichkeit, ausschließlich in der Hauptstadt Berlin ein Ordinariat erlangen zu wollen. Delbrück war bereits 45 Jahre alt, als er dort ein Extraordinariat bekam, und erst 1896 erhielt er dann den Lehrstuhl Heinrich von Treitschkes für Weltgeschichte. Für diese späte Berufung – seine Habilitation über Neidhardt von Gneisenau erfolgte bereits 1881 – gab es vor allem zwei Gründe: Zum einen galt die Berliner Universität als »geistige[s] Leibregimen[t] der Hohenzollern«17, als Eliteuniversität des Reichs. Es war deshalb für niemanden einfach, einen Ruf dorthin zu erlangen. In aller Regel führte der Weg in die Hauptstadt über ein Ordinariat an einer anderen Universität. Zum anderen bewegte sich Delbrück mit seinem Spezialgebiet, der Kriegsgeschichte, in einem Außenseiterbereich. Die Fachwelt versagte ihm lange Zeit die Anerkennung, sodass ihm sogar die Protektion der Frau Kaiser Friedrichs III. nicht viel half – möglicherweise sogar auch gerade schadete. Er hatte sich aber zum Ziel gesetzt, in Berlin, und nur in Berlin, zu wirken. Die Motive hierfür legte er 1889 seinem Schwager Adolf von Harnack gegenüber dar: Er hege die Überzeugung, »daß es für einen Historiker besser sei, einmal in der großen Welt zu leben, als von Anfang an nur in Bibliotheken und Archiven zu hausen.« Würde er nun einem Ruf an eine Provinzuniversität folgen, »so müßte damit zugegeben werden, daß ein Lebens- und Bildungsgang wie der meinige, Dienst bei der königlichen Familie und im öffentlichen Leben, kein förderlicher [sic] sondern ein hinderlicher Factor in unserm Staatsleben ist.«18 Delbrück wollte in der Hauptstadt leben, da er nur hier im Kontakt mit den führenden Kreisen im Reich sein konnte19. Er wollte also nicht nur als Historiker wirken, sondern immer auch politisch. 15 Harnack, Delbrück, S. 419, Hervorhebung ebd. 16 Exakt müsste das eine Analyse seiner Person im Kaiserreich klären. Aber die (späteren) Äußerungen aus seiner Umgebung hierzu sind eindeutig (Heuss, Delbrück, S. 456; Daniels, Delbrück, S. 8 f; vgl. auch Gut, Entwicklung, S. 62). 17 Schwabe, Wissenschaft, S. 124. 18 Hans Delbrück an Adolf Harnack am 26. Januar 1889, in: BArch N 1017/63. 19 Steger, Weltpolitik, S. V, schreibt, Delbrück habe durch sein Leben in Berlin wie kein zweiter Historiker in der Zeit Politik »wirklich erlebt« (Hervorhebung ebd.).

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Dabei strebte er nie ein politisches Mandat oder Amt an, da er kein ausschließlicher Berufspolitiker werden wollte. Eine Voraussetzung hierfür wäre auch gewesen, sich einer Partei anzuschließen. Dies widersprach aber Delbrücks Grundauffassung, er sah sich nicht unmittelbar als Politiker, sondern in typisch deutscher Tradition über den Parteien stehend. Er legte zudem viel Wert auf parteipolitische Unabhängigkeit. Er gehörte zu den bestinformierten Persönlichkeiten in Berlin und war durch seine historische und methodische Bildung dazu in der Lage, die Geschehnisse treffend zu analysieren und zu kommentieren. Diese Fähigkeiten nutzte er vorrangig auf dem Feld der Publizistik, auf dem er sich nicht in eine Parteidisziplin einfügen musste. Hier konnte er ohne Rücksicht auf Befindlichkeiten oder Interessen anderer seine Ansichten ausführen und Denkanstöße liefern. Nachdem die Gründung einer eigenen Zeitschrift, der »Politischen Wochenschrift«, 1882/1883 missglückt war20, übernahm er 1883 zunächst zusammen mit Heinrich von Treitschke die Herausgeberschaft der »Preußischen Jahrbücher«. Infolge einer zunehmenden politischen Entfremdung schied Treitschke 1889 aus, sodass Delbrück bis 1919 alleiniger Herausgeber war. Schon im Programm der »Wochenschrift« war seine lebenslange politische Grundlinie formuliert: »Wir gehen aus von dem Glauben an den sittlichen Beruf unseres Staates, des Deutschen Reiches; er ist uns die Darstellung, die Gewähr und das Mittel der politischen und geistigen Freiheit des deutschen Volkes. Mitzuarbeiten an seinem Heil, seiner Vollendung unter der Regierung des kaiserlichen Hauses der Hohenzollern, ist unser Zweck.«21

Die »Preußischen Jahrbücher« hatten sich als Programm gesetzt: »Vereinigung von Macht und Kultur, von Preußentum und Deutschtum, nationale Gesinnung, aber kein National-Pfaffentum, nationaler Idealismus, aber kein nationaler Fanatismus, deutsches Volkstum als Glied der allgemeinen Menschheits-Bildung, Staats-Gesinnung statt der Partei-Gesinnung.«22

Die »Preußischen Jahrbücher«, eine Monatsschrift für Politik, Geschichte und Kultur, hatten im Kaiserreich nur eine niedrige Auflage von ungefähr 2.000 Stück. Aber sie wurden von den führenden Schichten aufmerksam verfolgt, sodass Delbrück mittelbar einen nicht unbedeutenden Einfluss auf die politischen Geschicke gehabt hat. In seiner Zeitschrift richtete er sich jeden Monat in einem Teil namens »Politische Korrespondenz« an die Öffentlichkeit und kommentierte in der Form von Leitartikeln aktuelle politische Entwicklungen. Diese Form des politischen Engagements entsprach dabei seinem Wesen als Histo­riker. Hier konnte er unbekümmert um parteipolitische und taktische 20 Vgl. Töpner, Politiker, S. 125. 21 Programm der Politischen Wochenschrift, aus: Politische Wochenschrift, Nr. 2 vom März 1882, abgedruckt in: Thimme, Kritiker, S. 158. 22 Zitiert nach: Christ, Delbrück, S. 163.

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Rücksichten seine Anschauungen zu Papier bringen. Außerdem bot ihm das Format längerer Leitartikel bzw. Essays, gerichtet an ein bildungsbürgerliches Publikum, die Möglichkeit, sein Talent auszuüben. In mitunter durchaus polemischen Tönen brachte er in einer ihm eigenen Dialektik seine Meinung immer wieder pointiert zum Ausdruck. Seine Frau Lina schrieb einige Jahre nach seinem Tod über sein Selbstverständnis als Publizist: »Die Rolle des getreuen Ekkehardt war eine sehr dornenvolle, und die Leute kannten Delbrück sehr wenig, die seine Kämpfe als Lust am Streite, als Freude am ›Kreuzen der Klingen‹ auslegten. Nie ging er unbesonnen in einen Kampf, und nichts lag ihm ferner, als provozieren zu wollen. Aber schmerzlich klagte er mir einmal, dass sein Temperament ihn im Gespräch oft hinrisse, Dinge, die er für wahr und notwendig hielte, so paradox auszusprechen, dass er die Leute vor den Kopf stieße, und so seiner guten Sache mehr schade als nütze. Es lag ihm immer alles daran, Leute, die er schätzte, zu überzeugen, und wenn ihm dies nicht gelang, so war es ihm ein großer Schmerz.«23

Diese Einschätzung zeigt zweierlei: Erstens war Hans Delbrück zwar ein streitbarer Autor. Aber seinen Antrieb schöpfte er nicht aus einer Streitlust oder Laune, sondern aus einer ehrlichen Überzeugung – er war eine Art »Michael Kohlhaas-Natur«24. Zweitens behinderte Delbrück sich mit seiner polemischen Ausdrucksweise manches Mal selbst – was ihm auch durchaus bewusst war. Er forderte mit seinem pointierten Schreibstil bisweilen zu (bewussten) Missverständnissen oder gar Unterstellungen heraus. Dies zeigt sich im Verlauf dieser Untersuchung seines publizistischen Werkes in der Weimarer Republik an einigen Stellen. Das Prinzip Zeitschrift hatte im Kommunikationsraum der Kaiserzeit einen festen Platz, den sie in der Weimarer Republik nach und nach einbüßte. Weniger weil er diesen Wandel in der Medienlandschaft unmittelbar erkannte, sondern mehr in einer vorübergehenden Stimmung der Resignation, aufgrund seines Alters und der Konzentration auf andere Aufgaben, verkaufte Hans Delbrück sein Sprachrohr im Jahr 1919. Über seine Motivation zum Verkauf schrieb er seiner Frau Lina, er tue dies nicht vorrangig wegen des Geldes, »sondern vor allem, weil ich das Gefühl habe, dem öffentlichen Leben nicht mehr dienen zu können. Was ich meinem Volke zu sagen hatte, habe ich gesagt – ohne Erfolg. Also ist es Zeit, sich zurückzuziehen«25. Der Verkauf hatte Folgen für seine politische 23 Aufzeichnung Lina Delbrücks, Abschrift in: BArch N 1017/75, Delbrücks Leben, Bd. XI 1914, S. 75. 24 So der marxistische Historiker Arthur Rosenberg in einem Nachruf 1929 (Rosenberg, Delbrück, S. 247). 25 Hans Delbrück an Lina Delbrück am 21. August 1919, Abschrift in: BArch N 1017/78, Delbrücks Leben, Bd. XIV 1919, S. 297a-298. Im Oktoberheft 1919 brachte Delbrück seinen großen Pessimismus zur künftigen Entwicklung Deutschlands vor: »Niemand vermag zu sagen, was das Ende, niemand vermag zu sagen, was auch nur in drei Monaten aus der Welt geworden sein mag.« (Hans Delbrück: »Ist das Deutsche Reich souverän?«, in: PJb 178

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Arbeit: In Ermangelung eines eigenen Organs musste er fortan in jedem Einzelfall Publikationsorte für seine Texte suchen. In den »Preußischen Jahrbüchern« schrieb er fast überhaupt nicht mehr. Sie wanderten – typisch für die Weimarer Republik – im Laufe der Jahre immer weiter nach rechts, was Delbrück sehr bedauerte26. Ein Hohn war es dann, dass die Sammlung der Bände (und zwar aller Jahrgänge)  später Eingang in die Bibliothek der NS-Ordensburg Vogelsang fand27. Delbrück schrieb fortan vorrangig in Zeitungen und weniger in Zeitschriften, was auch die Art seines Stils änderte. Er neigte noch mehr zu zuspitzenden Formulierungen. Wichtig war nun der Kontakt zu einzelnen Journalisten und Redaktionen. Häufig schrieb Hans Delbrück in den ersten Jahren im »Berliner Tageblatt«, ab Mitte der 20er Jahre jedoch hatte er sich von dessen Chefredakteur Theodor Wolff politisch zu weit entfernt, um noch in dessen linksliberales Blatt zu passen. So publizierte er häufig in der rechtsstehenden »Deutschen Allgemeinen Zeitung« und auch immer wieder im »Neuen Wiener Tagblatt«, der auflagenstärksten Zeitung Österreichs. Daneben konnte er in verschiedenen anderen Zeitungen und Zeitschriften seine Artikel platzieren, die alle im liberalen bis gemäßigt rechten Spektrum zu verorten sind, selten auch im sozialistischen »Vorwärts«. Delbrück erreichten zudem immer wieder Anfragen diverser Journalisten, zu bestimmten Themen zu schreiben. Häufig erbaten sie von ihm Zuschriften zu einem Thema seiner Wahl – schlichtweg, weil er eine Persönlichkeit geworden war, mit dessen Namen eine Zeitung sich schmücken konnte28. Bisweilen schlug er solche Anfragen auch aus, was wiederum seine Eigenständigkeit unterstreicht. Aufgrund dieses Wandels vom Autor eines Eliten­mediums wie der »Preußischen Jahrbücher« hin zu einem Publizisten, der sich laufend in diversen Tageszeitungen zu Wort meldete, hatte Delbrück eine zunehmende Breitenwirkung. Er konnte nun völlig unterschiedliche Milieus di-

(1919), S. 188–190, Zitat S. 190). Bereits im Mai 1919 hatte er seinem alten Schulfreund Max Lenz geschrieben, er wolle »[a]us der aktiven Politik […] ausscheiden […], zu weiterem Kampf […] fühle ich mich zu alt.« (Delbrück an Lenz am 1. Mai 1919, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Lenz, Bl. 56 f). 26 Schon 1921 schrieb Delbrück verbittert an seinen Nachfolger Walter Schotte – im Krieg immerhin Mitarbeiter Friedrich Naumanns: »Während ich derselbe geblieben bin in meiner Auffassung vor dem Kriege, während des Krieges und nach dem Kriege, hat die Ihrige sich offenbar von Grund aus gewandelt.« (Delbrück an Schotte am 24. Oktober 1921, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Schotte, Bl. 9). Anfang 1926 machte Delbrück diesen Wandel beispielhaft fest an der Ablehnung der PJb eines Artikels von Karl Galster, einem Tirpitz-Gegner aus der Admiralität (Delbrück an Galster am 24. Februar 1926, in: ebd., Briefkonzepte Galster, Bl. 9). 27 Die meisten Exemplare in der Bibliothek des Instituts für Geschichtswissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn tragen einen entsprechenden Bibliotheksstempel. 28 Siehe z. B. die Briefe der »Neuen Freien Presse«, des »Svenska Dagbladet« oder des Journalisten Max Lesser in: SBB NL Delbrück, Briefe Neue Freie Presse, Svenska Dagbladet, Lesser.

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rekt erreichen, was seine Wirkung als politischen Publizisten in der Weimarer Republik deutlich erhöht haben dürfte. Soweit es im Rahmen dieser Untersuchung überblickt werden kann, trennte Delbrück bis zum Ersten Weltkrieg seine wissenschaftliche Forschung weitgehend von seinem politischen Wirken. Seine Monographien und Aufsätze, die er als Historiker veröffentlichte, behandelten stets genuin geschichtswissenschaftliche Fragen. Dies waren hauptsächlich seine Forschungen zur Kriegsgeschichte. Davon getrennt nahm er in seinen »Preußischen Jahrbüchern« Stellung zu aktuellen politischen Entwicklungen. Das änderte sich mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Wie in Kapitel V.1 dargestellt, verquickte sich sein Eingreifen in die strategischen Debatten über die Kriegsführung zunehmend mit seiner Expertise als Militärhistoriker. Seine Sachkenntnis befähigte ihn dazu, wie kaum ein anderer Zivilist die militärstrategische und gesamtpolitische Lage weitgehend richtig einzuschätzen und entsprechende Schluss­ folgerungen in einer öffentlichen Debatte zu äußern. Dabei ließ er sich von der Zensur nicht einschüchtern. Sein Engagement in der Kriegszieldebatte verwischte somit die Grenzen zwischen Politik und Wissenschaft. Nach dem deutschen Zusammenbruch zeigte sich bei Delbrück kaum noch eine Trennung. Sowohl sein zweites wissenschaftliches Hauptwerk, die fünfbändige »Weltgeschichte«, hatte eine politische und pädagogische Färbung29 als auch sein politisches Wirken, das sich ganz wesentlich auf die Erforschung der Ursachen des Krieges und der Niederlage erstreckte, war stark geprägt durch seine wissenschaftliche Herangehensweise30. Er sah sich zu dieser Vermischung auch gedrängt durch die Entwicklung der Ereignisse. So führte beispielsweise der Verhandlungsführer aus Versailles, Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau, 1921 Delbrück gegenüber aus, es sei »die erhabenste Aufgabe des wahren Historikers, gerade auf die Gegenwart zu wirken«: »Sie kennen wie wenige die Zusammenhänge, die zu der Katastrophe geführt haben. Sie können – nein, Sie müssen daher Gegenwartspolitik treiben«31. Im Prinzip hatten alle historischen Arbeiten Delbrücks in der Weimarer Republik damit politischen Charakter. War Delbrück also der letzte Exponent einer Gelehrtenpolitik in der Tradition von Dahlmann bis Treitschke, die »nationalpolitische Publizistik mit wissenschaftlicher, aber immer auf das Leben abgestellter Forschung verbanden«, wie häufig konstatiert wird32? Konrad Molinski, Schüler Delbrücks und Schul29 Siehe hierzu Kapitel III.1.a). 30 Vgl. Bucholz, War Images, S. 174. 31 Brockdorff-Rantzau an Delbrück am 27. Juni 1921, in: SBB NL Delbrück, Briefe Brockdorff-Rantzau, Bl. 7–11, Hervorhebungen ebd. Auch wenn man in Rechnung stellt, dass der ehemalige Außenminister in diesem Schreiben Delbrück darum bat, ein Vorwort für die Neuauflage seiner »Dokumente« zu verfassen, wird doch deutlich, dass man sich in jenen Jahren grundsätzlich vor neuen Herausforderungen sah. 32 Meinecke, Nekrolog, S. 703; Thimme, Delbrück, S. 577; Töpner, Politiker, S. 125; Vierhaus, Delbrück, S. 475.

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freund seines Sohnes Waldemars, lehnte diesen Vergleich in einer ausführlichen Betrachtung anlässlich des 80. Geburtstages seines Lehrers ab. Männer wie Theodor Mommsen und Heinrich von Treitschke hätten sich nur mit der Politik beschäftigt »aus Interesse für die öffentlichen Angelegenheiten, deren Materie zudem mit dem Gegenstand ihrer beruflichen Forschung übereinstimmte; […] Delbrück hingegen ist ursprünglich Gelehrter. […] Der Gelehrte verfolgt die politischen Ereignisse der Gegenwart mit der Einsicht, die das historische Studium ihm gegeben hat. […] [E]r [Delbrück, d. Vf.] sieht die treibenden Grundkräfte klarer als die anderen, weil er sie mit seinen universalhistorischen Studien unmittelbar verknüpft. […] [D]ie Geschichte wird ihm zu einem Hilfsmittel für das bessere Verständnis der Gegenwart. […] Die Verbindung von Wissenschaft und Politik ist bei Delbrück nicht zufällig, sondern notwendig; sie gibt den hohen Standpunkt einer Stellung über den Parteien.«33

Zum selben Anlass bekannte Delbrück, er habe »eine parlamentarische Rolle nie gespielt und nie angestrebt. Ich fühlte, daß mir diese Tätigkeit nicht liege und daß hier die Grenzen meines Könnens seien. Ich blieb immer und wollte bleiben, nicht Berufspolitiker, sondern der Gelehrte in der Politik.« Die parlamentarische Erfahrung solle ihm die Wissenschaft befruchten und umgekehrt erhoffe er sich von seinen wissenschaftlichen Studien ein besseres politisches Urteil34. Siegfried Mette, auch ein Schüler Delbrücks und kurzzeitiger Mitarbeiter bei den »Preußischen Jahrbüchern«, bezeichnete diese Einordnung als »mißverständlich und zu eng«35. Der Historiker Gustav Mayer urteilte im Hinblick auf die Tätigkeiten als Historiker und Publizist, »das eine wuchs mit dem anderen.«36 Und Peter Rassow charakterisierte in einer Gedenkstunde für seinen Onkel im November 1948 an der Kölner Universität, die Verbindung von Wissenschaft und Politik habe sich bei Delbrück ausgezeichnet in der Kombina33 Konrad Molinski: »Hans Delbrück der Achtzigjährige«, in: Hamburger Fremdenblatt vom 10. November 1928, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 8, Hervorhebungen ebd. In seiner »Weltgeschichte« schrieb Delbrück: »Nicht die Grenze zwischen dem Staat und dem Ich festzustellen, ist also die Aufgabe, sondern der Historiker hat festzustellen, mit welchen Mitteln diese ewige und unaufhebbare Spannung in jeder Epoche der Geschichte gelöst worden ist, und der Politiker hat herauszufinden, mit welchen Mitteln unter den gegenwärtigen Verhältnissen die Spannung überwunden werden soll.« (Delbrück, Weltgeschichte IV, S. 67). 34 Hans Delbrück: »Danksagung«, in: PJb 174 (1918), S. 442–445, hier S. 443. Die Charakterisierung des »Gelehrten in der Politik« findet sich immer wieder, zuletzt in einer Würdigung im Tagesspiegel von 1979: Klaus Ivens: »Ein ›Gelehrter in der Politik‹. Zum 50. Todestag des Historikers Hans Delbrück«, in: Tagesspiegel vom 14. Juli 1979, in: KULF, FA Delbrück, Z De 117–031. 35 Mette, Politiker, S. 142. Theodor Heuss schrieb: »Der Forscher, der Publizist, der Politiker stehen nebeneinander.« (Theodor Heuss: »Hans Delbrück. Zum 75. Geburtstage am 11. November«, in: Frankfurter Zeitung, Nr. 838 vom 11. November 1923, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 5). 36 Gustav Mayer: »Hans Delbrück«, in: Frankfurter Zeitung, 73. Jg., Nr. 530 vom 19. Juli 1929, in: ebd., Fasz. 11.1. Ganz ähnlich Hobohm, Delbrück, S. 16: »einer lehrt den anderen«.

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tion seines Wahrheitsdranges mit seinem »historisch verwurzelte[n] Nationalbewußtsein«37. Bedingt aufschlussreich ist Delbrücks Reflexion über sich selbst. 1913 formulierte er, der Historiker und Politiker hingen bei ihm so zusammen, dass letzterer durch ersteren beherrscht sei. Lehren für die praktische Politik könne man aus der Geschichte zwar nicht ziehen, aber die Beschäftigung mit früheren Epochen ließen einen die Gegenwart besser verstehen. Dies wiederum erleichtere die Durchführung der Politik38. Und 1927 schrieb er, er würde nur politische Artikel publizieren, wenn er »etwas ganz besonderes [sic] glaube sagen zu können und schätze deshalb meine Artikel auch als wissenschaftliche Arbeiten ein.«39 Hans Delbrück hat sich diesbezüglich selber wohl nicht viele Gedanken gemacht und ist keinem Masterplan gefolgt, sondern betätigte sich so, wie es ihm zusagte. Wichtig war ihm immer, Militärhistoriker zu werden, und hierauf hatte er beharrlich hingearbeitet. Die genauen Hintergründe seines politischen Engagements im Kaiserreich müsste eine entsprechende Untersuchung klären. Er fühlte sich jedenfalls aufgrund seiner Ausbildung und seiner festen Verortung im System von 1871 dazu berufen, sich über die politischen Entwicklungen zu äußern und sie in die für ihn richtige Bahn zu lenken. Dabei folgte er einer historisch begründeten Perspektive für die Aufgaben des jungen Reichs. In der Zeit der Weimarer Republik war er bereits in einer arrivierten Stellung, die er voll nutzte, um die Ereignisse von 1918 aufzuarbeiten und mitzuwirken am Wiederaufstieg seines Landes. Dabei nahm er alle Ämter und Möglichkeiten an, die sich ihm boten – ohne, dass er nach solchen strebte. Die Deutung der Geschichte des Kaiserreichs sah bei Delbrück dann so aus: Er zweifelte auch im Rückblick unter dem Eindruck des Zusammenbruchs nicht an der Vollkommenheit des Reiches von 1871. Die Umstände, die zum Herbst 1918 geführt hatten, sah er fast ausschließlich in der Schwäche und Falschheit einflussnehmender Persönlichkeiten40. Insofern kam es Delbrück bei der 37 Rassow, Delbrück, S. 441. 38 Delbrück, Regierung I, S. 3–5. Wie sehr Delbrück hiermit Recht hatte und immer wieder die politischen Ereignisse durchschaute, illustriert ein Vorfall aus dem Jahr 1912: In seinen Preußischen Jahrbüchern hatte er eine Rede des Reichskanzlers so scharfsinnig analysiert und durchschaut, dass ihn Fragen nach seiner Quelle erreichten. Bethmann selbst hatte Ludwig Delbrück gegenüber geäußert, wie erstaunlich es sei, dass Hans Delbrück, ohne mit der Regierung gesprochen zu haben, »so genau abgefühlt hätte, was sie gewollt hätten. Die Lösung ist, scheint mir [Hans Delbrück, d. Vf.], schließlich sehr einfach: es ist unsere Methode und Gewohnheit des objektiven, historischen Denkens, das den Staatsmännern gerecht wird, weil er bestrebt ist, ehe er sie kritisiert, sie zu verstehen.« (Delbrück an Hintze Anfang 1912, Abschrift in: BArch N 1017/74, Delbrücks Leben, Bd. X 1912 S. 7). 39 Hans Delbrück an den Anglo-American Newspaper Service am 18. Dezember 1927, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Anglo-American NS, Bl. 4. 40 1928 schrieb er, basierend auf Erkenntnissen aus seiner »Weltgeschichte«, dass Staaten »durch dieselben Kräfte zerstört werden« können, durch sie gegründet wurden. Das Deutsche Reich beispielsweise sei »durch den Militarismus« zerstört worden (Hans Delbrück an Adolf Grabowsky am 13. März 1928, in: ebd., Briefkonzepte Grabowsky, Bl. 2 f).

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Aufarbeitung der jüngsten deutschen Geschichte vorrangig darauf an, zu zeigen, dass das Reich in seiner Grundkonzeption gut aufgestellt gewesen sei und lediglich durch Fehler und Torheiten Einzelner seinen Status in der Welt verloren habe: »[D]as Schiff und seine Maschinen waren sehr gut, aber es war in die Hände von unfähigen Steuerleuten geraten. Diese Unterscheidung zu machen scheint mir nicht nur historisch richtig, sondern auch politisch wichtig.«41

So schrieb er an Prinz Max und brachte seine Grundüberzeugung zum Ausdruck. Besonders wichtig war Delbrück stets der Nachweis, dass Deutschland keine unmittelbare Schuld am Ausbruch des Weltkrieges traf. Dies schloss freilich nicht aus, dass er schonungslos eklatante Fehler der deutschen Führung vor 1914 aufdeckte und kritisierte. Ihm war es dabei allerdings von Bedeutung, dass es sich nur um »Torheiten«42 gehandelt habe und zu keinem Zeitpunkt um kriegerische Absichten. Folglich müssen seine Arbeiten über die Geschichte des Kaiserreichs immer unter dem Blickwinkel seines Engagements in der Kriegsschuldfrage betrachtet werden. Exemplarisch lässt sich diese Delbrücksche Deutungsweise an der Person des ehemaligen Kaisers festmachen. Zu dessen 70. Geburtstag im Januar 1929 gratulierte ihm Hans Delbrück wie folgt: »In tiefer Wehmut gedenke ich der vergangenen Grösse und Herrlichkeit des Deutschen Reiches und mache mir klar, dass Euer Majestät jetzt bereits zehn Jahre lang ausserhalb des Vaterlandes leben. Was auch die Zukunft bringen möge, des Einen bin ich sicher, dass eine ehrliche Geschichtsschreibung die ungerechten Beschuldigungen, mit denen Eure Majestät heute noch verfolgt werden, aufklären und zurückweisen und den Absichten Euer Majestät Gerechtigkeit widerfahren lassen wird.«43

Die Geschichtsschreibung bestätigt mittlerweile die Delbrücksche Einschätzung der Person Wilhelms II. in ihren Grundzügen44. Delbrück sah in Wilhelms Begriff »von der übernatürlichen tieferen politischen Einsicht des gottbegnadigten Fürstentums eine tief sündhafte moralische Verirrung und eine 41 Delbrück an Prinz Max von Baden am 20. August 1925, in: ebd., Briefkonzepte Max, Bl. 4. Ganz ähnlich hatte Delbrück bereits im Frühjahr 1919 an seinen alten Schulfreund Max Lenz geschrieben, er wolle sich dafür »einsetzen, daß die Auffassung, die wir Beide von dem Wesen und der Mission Preußens gehabt haben […] trotz der Katastrophe die richtige gewesen ist und daß es nicht innere Schwäche oder Faulniß gewesen ist, an der wir zu Grunde gegangen sind, sondern ein Uebermaß an ungesunder Kraft, die bei der Mit- und Umwelt zu stark erschienen und deshalb vor ihr zerstört worden ist.« (Delbrück an Lenz am 1. Mai 1919, in: ebd., Briefkonzepte Lenz, Bl. 56 f). 42 Delbrück an Roloff am 17. Mai 1929, in: ebd., Briefkonzepte Roloff, Bl. 31. 43 Hans Delbrück an Wilhelm II. am 24. Januar 1929, in: ebd., Briefkonzepte Wilhelm II., Bl. 4. 44 Vgl. z. B. die ausgewogenen Darstellungen bei Clark, Wilhelm II., oder Wolfgang J. Mommsen, Kaiser. Gleichwohl gibt es etwa mit John C. G. Röhl weiterhin prominente Vertreter einer dezidiert kritischen Deutung des letzten deutschen Kaisers (Röhl, Wilhelm II., Bde. I–III).

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Vorstellung [sic] die für ein freies Volk schwer zu ertragen war.«45 Die häufigen rhetorischen Eskapaden des Kaisers hatte Delbrück im Kaiserreich offen angeprangert, weil er deren negative Wirkung auf das In- und Ausland sah46. Und doch beurteilte er ihn nicht nach diesen vordergründigen Schwächen, sondern nach seinen Taten und Absichten. Im Hinblick auf die Ostasienpolitik beispielsweise meinte Delbrück, sie sei dilettantisch ausgeführt worden, habe aber ein richtiges Ziel gehabt: Es sei dem Kaiser darum gegangen, den Deutschen ein neues Betätigungsfeld zu erschließen, ohne dabei in einen Konflikt mit anderen Nationen zu geraten47. Das größte Verdienst schrieb Delbrück Wilhelm zu für die Entlassung Bismarcks. Delbrück hatte bereits im Kaiserreich einige Umstände der Vorgänge von 1890 ans Licht der Öffentlichkeit gebracht und sich bei der Dekonstruktion der »Bismarck-Legende« viel Unmut zugezogen48. »Bismarck [war] bei all seiner Staatskunst in seinen letzten Jahren nicht nur mit seiner inneren, sondern auch mit seiner auswärtigen Politik ratlos und ziellos«, wie Delbrück in Übereinstimmung mit der modernen Forschung formulierte49. Diese Erkenntnis wurde jedoch auch noch in den 1920er Jahren von weiten Kreisen bekämpft. Ob Bismarck deshalb einen Staatsstreich geplant hatte, wie Delbrück vermutete, wird bis heute diskutiert50. Delbrück jedenfalls sah in der kaiserlichen Tat der Entlas45 Hans Delbrück an Hans Hermann von Berlepsch am 6. August 1922, in: BArch N 1017/8. Bereits in seiner Zeit als Erzieher des Bruders von Wilhelm gewann Delbrück einen zutreffenden Eindruck von der Person des späteren Kaisers. So schrieb er an seine Mutter 1875, Wilhelm sei nicht gerade klug, habe aber ein herausragendes Gedächtnis. »Sein Hochmut ist sehr groß und nicht versteckt, sondern bewusst. – Er wird seinen zukünftigen Beratern einmal sehr viel Schwierigkeiten machen« (Delbrück an seine Mutter im August 1875, in: BArch N 1017/65, S. 133 f). 46 Vgl. Daniels, Delbrück, S. 22 f; Simons, Dauer, S. 132. Zu Wilhelm II. als politischen Redner vgl. Obst, Herr im Reiche. Delbrück schrieb beispielsweise 1920: »Der Fehler der deutschen Politik [vor 1914, d. Vf.] lag also nicht sowohl in der Richtung, die 1890 eingeschlagen wurde, als im Temperament« (Hans Delbrück: »Kaiser und Kanzler«, in: PJb 180 (1920), S. 43–52, Zitat S. 47). 47 Hans Delbrück: »Graf Waldersee und Wilhelm II.«, in: Neue Freie Presse, Nr. 21192 vom 8. September 1923, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 88c. Ähnlich schätzte Delbrück auch das Auftreten des Reichs auf den Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907 ein: Deutschland habe nicht weniger Friedensliebe gehabt als die anderen Nationen, sei aber ungeschickt aufgetreten. Man habe sich aus Sicherheitsinteressen einer Abrüstung, die die Rüstungsrelationen relativ ungünstiger gestaltete, nicht unterwerfen können und sei so unklug gewesen, offen auszusprechen, dass man nicht an die kriegsverhindernde Macht eines Schiedsgerichts glaubte (Hans Delbrück: »Das Buch des deutschen Kronprinzen«, in: Neues Wiener Tagblatt vom 23. August 1925, in: ebd., Fasz. 89a; Hans Delbrück: »Aufsatz über Friedensbemühungen« vom 20. Februar 1917, in: ebd., Fasz. 67.2). 48 Siehe das umfangreiche Material in: BArch N 1017/7, /8. Vgl. Schleier, Geschichtsschreibung, S. 206 f. 49 Hans Delbrück: »Schuld und Schicksal«, in: PJb 177 (1919), S. 136–141, Zitat S. 139. 50 Nonn, Bismarck, S. 335, unterstützt Delbrücks Interpretation: »Durch Bismarcks Entlas­ sung verhinderte Wilhelm II. höchstwahrscheinlich einen Staatsstreich im Deutschen Reich.«

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sung von 1890 eine Rettung der Verfassung und deshalb einen Aspekt, der Wilhelm II. zur Ehre gereichte51. 1924 schrieb er, es gebe die Meinung, ohne eine Entlassung des Kanzlers 1890 wäre es nicht zu einem 1918 gekommen. Dem setzte er entgegen: »Wenn Kaiser Wilhelm im Juli 1917 Ludendorff gegenüber noch dieselbe Stärke besessen hätte wie 1890 gegenüber Bismarck, so wäre das Deutsche Reich und die europäische Kultur gerettet worden. Die Auflösung der Legende über Bismarcks Entlassung hat zu einer Entlastung Wilhelms II. geführt. Die Entlastung für die Vergangenheit aber ist zu einer Belastung für die Gegenwart geworden. Damit aber sind wir aus der einen Legende in die andere, aus der Bismarck-Legende in die LudendorffLegende geraten.«52

Hieran zeigte sich, dass es Delbrück bei der Betrachtung der deutschen Geschichte immer wieder auch um die Feststellung der Verantwortlichkeiten für den Zusammenbruch 1918 ging. Den Kaiser nahm er hierbei weitgehend in Schutz und warf ihm lediglich vor, sich nicht gegen die Oberste Heeresleitung (OHL) durchgesetzt zu haben. Ähnlich betrachtete Delbrück auch die Diskussion um eine mögliche Geisteskrankheit des Kaisers infolge seines Geburtsfehlers. Manche versuchten, Wilhelms charakterliche Schwächen zurückzuführen auf eine Schädigung seines Gehirns, da es Komplikationen bei seiner Geburt gegeben hatte. Befeuert hatte die Debatte Ende 1925 ein Buch über den Kaiser vom Populärwissenschaftler Emil Ludwig. Delbrück, der »die excentrischen Aussprüche und Taten [des Kaisers, d. Vf.] auf das Mißverhältnis seines Amtes, seines Alters und seiner Persönlichkeit« zurückführte, wie seine Frau Lina schrieb53, ging den Zusammenhängen detailliert nach, um die Thesen zu widerlegen. Er korrespondierte mit den Nachfahren der bei der Geburt anwesenden Ärzte und erhielt widersprüchliche Informationen, wonach einmal die Armverletzung während der Entbin-

Dagegen schreibt Kraus, Bismarck, S. 223, es habe sich nur um »eines jener typisch Bismarck’schen Gedankenspiele« gehandelt. Er sieht »keinerlei Hinweise« dafür, dass Bismarck die Verfassung »wirklich« beseitigen wollte. Eine nähere Untersuchung dieser Frage muss an dieser Stelle dahin gestellt bleiben. Entscheidend ist, dass Hans Delbrück das sicherlich in vielen Teilen überhöhte Bild von Bismarck korrigieren wollte, weil es häufig genutzt wurde, um Wilhelm II. mehr Verantwortung für den Untergang des Reichs anzulasten, als es historisch zutreffend war. Zur Entstehung und Funktionsweise dieses »BismarckMythos« der nationalistischen Opposition gegen die kaiserliche Regierung vgl. Gerwarth, Bismarck-Mythos. 51 1919 etwa schrieb Delbrück, Wilhelm II. »hat das unvergeßliche Verdienst, einst im Jahre 1890 Deutschland vor dem Bismarckschen Staatsstreich-Gedanken zu bewahren« (Hans Delbrück: »Revolution und Abdankung«, in: PJb 177 (1919), S. 468–470, Zitat S. 470). 52 Hans Delbrück: »Von der Bismarck-Legende«, in: unbekannte Zeitschrift, ohne Datum [1924], in: SBB NL Delbrück, Fasz. 86a, S. 69–82, Zitat S. 82. 53 Aufzeichnung Lina Delbrücks, Abschrift in: BArch N 1017/66, Delbrücks Leben, Bd. II 1891, S. 263.

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dung passiert und einmal bereits im Mutterleib entstanden sein sollte54. In jedem Fall wies Delbrück die Auffassung, Wilhelm habe aufgrund der Armverletzung zu einer Geltungssucht geneigt, die das Reich in den Abgrund geführt habe, in der »Historischen Zeitschrift« zurück55. Auch in der Frage der Abdankung und Flucht des Kaisers während der Novemberrevolution nahm er ihn in Schutz. Viele hatten den Vorgang als eine Desertion empfunden56, Delbrück äußerte die Ansicht, er habe in dem historischen Augenblick gar keine andere Möglichkeit gehabt57. Der Kaiser selbst hatte wohl ein ambivalentes Verhältnis zu dem treuen Monarchisten. So berichtete seine Frau Lina von einer Anekdote aus dem Frühjahr 1911: Wilhelm war wieder einmal auf dem Gut Madlitz des Bankiers Ludwig Delbrück zu Gast zur Jagd und wünschte, den Historiker zu treffen. Die beiden führten Gespräche und ließen Fotos machen58. Als ihn der Kaiser am nächsten Vormittag noch einmal sehen wollte, war Hans Delbrück bereits abgereist, um sein um elf Uhr beginnendes Kolleg an der Universität abhalten zu können. Dieses Verhalten, das die preußische Gesinnung Delbrücks unterstreicht, stieß Wilhelm negativ auf59. Die Beziehungen hatten sich in späterer Zeit durchaus entspannt, womöglich auch, weil Wilhelm sah, wie sich Delbrück in der 54 Vgl. Delbrücks Korrespondenz mit Wilhelm Körte und seine Notizen hierüber in: BArch N 1017/22 sowie seine Anfrage bei Wilhelm Schweinitz (Delbrück an Schweinitz am 5. Januar 1926, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Schweinitz, Bl. 1 f). 55 Hans Delbrück im Literaturbericht zu Emil Ludwig: Wilhelm der Zweite, Berlin 1926, HZ 1926, S. 491–497, besonders S. 492 f. Ganz ähnlich wie Delbrück weist auch die moderne Forschung Spekulationen um eine mögliche Geisteskrankheit des Kaisers zurück (vgl. Clark, Wilhelm II., S. 40–45). 56 Zur Abdankung und Flucht unter dem Aspekt der medialen Wirkung vgl. Kohlrausch, Monarch, S. 302–385. Siehe auch Barth, Dolchstoßlegenden, S. 302–307; Winkler, Weimar, S. 33. 57 Hans Delbrück: »Die Stabilität der deutschen Republik«, Artikel für die New York Times vom Sommer 1923, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 67.2. Gestützt wurde Delbrücks Sicht durch vertrauliche Berichte des damaligen Reichskanzlers Max von Baden. Dieser hatte im März 1919 Delbrück geschrieben: »Die Absetzung des Kaisers konnte nur noch durch die Abdankung verhindert werden. Der Appell an das Volk, seine eigene Staatsform durch eine verfassungsgebende Nationalversammlung selbst zu bestimmen, bot noch eine schwache Hoffnung, die revolutionären Energien der Massen in die legale Bahn des Wahlkampfes zu lenken. Die Veröffentlichung erfolgte als der letzte verzweifelte Versuch, der Krisis eine verfassungsmässige Lösung zu geben. Er scheiterte, weil er zu spät kam.« Einen Tag früher, am 8. November, habe für diesen Weg noch Aussicht auf Erfolg bestanden. Die Verantwortung für diese folgenreiche Verschleppung würden diejenigen Personen tragen, die den Kaiser am 29. Oktober in das militärische Hauptquartier gebracht hatten und »ihn damit der politischen Aufklärung durch die Reichsleitung entzogen« hätten. Diese Kreise hätten Wilhelm II. zudem »objektiv unwahre Angaben über die Stimmung im Heere« gemacht (Max an Delbrück am 21. März 1919, in: ebd., Briefe Max, Bl. 6–8, Hervorhebungen im Original). 58 Ein Foto findet sich in: KULF, FA Delbrück, Z De 91–013. 59 Aufzeichnung Lina Delbrücks, Abschrift in: BArch N 1017/73, Delbrücks Leben, Bd. IX 1911, S. 193 f.

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Weimarer Republik für ihn einsetzte. So telegrafierte ihm der vormalige Kaiser zu seinem 80. Geburtstag und seiner Frau Lina zu dessen Tod in knappen, aber doch warmen Worten60. Auch sandte er zur Beisetzung einen Kranz weißer Lilien mit seinen Initialien auf der Schleife, was von der Presse besonders betont wurde61. Am meisten Kritik übte Delbrück am kaiserlichen Programm des Flottenbaus. Dieses war für ihn »der schwerste Fehler«62 der deutschen Politik vor 1914. Man habe damit zwar nicht die Absicht verfolgt, einen Krieg vorzuberei­ ten, gleichwohl aber England in eine Konfrontation mit dem Reich gezwungen. Dabei hatte der Kaiser Delbrück per Kabinettsordre vom 10. Juni 1900 »in gnädiger Anerkennung der besonders wirksamen Mitarbeit an der Aufklärung des deutschen Volkes über die Nothwendigkeit einer Verstärkung von Deutschlands Wehrkraft zur See« den Königlichen Kronen-Orden III. Klasse verliehen63. Was war geschehen? Delbrücks Verhältnis zum Flottenprogramm steht exemplarisch für seine politische Ausrichtung: Grundsätzlich hatte er den Bau einer Schlachtflotte begrüßt, sie war ihm selbstverständlicher Ausdruck einer eigenständigen deutschen Politik. Hier zeigte sich seine konservative Gesinnung. Delbrück warb dafür, eine selbstbewusste Kolonial- und Weltpolitik zu treiben, um dem jungen Reich eine Betätigung zu geben, ein Ziel für den Aktivitätsdrang, das eben nicht in Konfrontation zu anderen Großmächten lief. Insofern war er in der Frühphase des Flottenbaus einer der Befürworter und Kind seiner Zeit. In dem Moment aber, in dem die Rüstung zur See an Maß verlor und Gefahr lief, nur noch sich selbst zu genügen ohne Rücksicht auf die politischen Verhältnisse, warnte er eindringlich vor den außenpolitischen Konsequenzen. Da er dies bereits vor dem Ausbruch des Weltkriegs tat, war seine später in Weimar geäußerte Kritik nicht nur glaubwürdig, sondern er durfte für sich auch in Anspruch nehmen, im Wesentlichen Recht behalten zu haben. Sein Vorwurf richtete sich dabei zunächst an den Kaiser, dem er bei der Flottenpolitik die persönliche Verantwortung zuschrieb. Aber er tadelte auch den Reichstag, der dem Tirpitz-Programm immer wieder zugestimmt hatte64. Hier 60 Wilhelm II. an Delbrück am 10. November 1928, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 7, Bl. 114 sowie Wilhelm II. an Lina Delbrück am 16. Juli 1929, in: ebd., Fasz. 10.3, Bl. 112. 61 Vgl. beispielhaft o.V.: »Hans Delbrücks letzte Fahrt«, in: DAZ vom 18. Juli 1929, in: ebd., Fasz. 12.6. 62 Hans Delbrück: »Schuld und Schicksal«, in: PJb 177 (1919), S. 136–141, Zitat S. 139. 63 Tirpitz an Delbrück am 13. Juni 1900, in: SBB NL Delbrück, Briefe Tirpitz, Bl. 3. Auch sein Sohn Waldemar war in die Flottenpropaganda involviert. So schrieb Delbrück 1904 an seine Frau, der Flottenverein habe ihm Material zum Verteilen gesandt (Hans Delbrück an Lina Delbrück am 9. April 1904, in: BArch N 1017/79, S. 31). Zum Wesen der Tirpitzschen Flottenpropaganda vgl. Deist, Flottenpolitik. 64 Im Schöpfer des deutschen Flottengedankens, Alfred von Tirpitz, sah Delbrück einen Hauptverantwortlichen für den Kriegsausbruch. Dessen in der Weimarer Republik geäußerter Tadel am Nichteinsetzen der Flotte im Weltkrieg interpretierte Delbrück als einen »Kunstgriff«, um den Fehler des Flottenbaus an sich zu »verschleiern« und aus dem Blickfeld zu nehmen (Delbrück an Victor Bredt am 25. Juli 1927, in: BArch N 1017/55; siehe auch Delbrücks

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verband sich seine politische Kritik am Flottenbau mit einer grundsätzlichen am Parlamentarismus, indem Delbrück die angebliche Schwäche der Volksvertreter geißelte, sich ein wirklich eigenständiges Urteil zu bilden65. Es ist in der Forschung nach wie vor umstritten, inwieweit für die englische Diplomatie der deutsche Flottenbau tatsächlich eine ausschlaggebende Rolle gewesen ist. Während die traditionelle Deutung ein klares Schema von Aktion und Reaktion erblickt66, kommen jüngere Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass sich das Vereinigte Königreich insgesamt veränderten Bedingungen in der Welt ausgesetzt gesehen hat und der deutsche Schlachtflottenbau nur einen Baustein darstellte67. Delbrück vertrat hier eine mittlere Linie: Er schrieb, Großbritannien sei sicher nicht wegen der deutschen Flotte, die für das Land keine wirkliche Gefahr dargestellt habe, in den Krieg eingetreten. Allerdings sei die öffentliche Meinung in England durch den Flottenbau verstimmt gewesen und die englische Regierung habe hierauf Rücksicht nehmen müssen. Eine alternative Armeeverstärkung des Deutschen Reiches vor dem Krieg wäre für England objektiv viel bedrohlicher gewesen, da sie das Gleichgewicht auf dem Kontinent erheblich gefährdet hätte. Eine solche hätte aber die öffentliche Meinung in England nicht in der Weise empört, weshalb eben der deutsche Flottenbau die Wurzel der Feindschaft des englischen Volkes gegen das deutsche gewesen sei68: »Nicht unserer Flotte weGegenbemerkungen zum Gutachten von Kuhl und Trotha im Untersuchungsausschuss in: ebd.). In seiner Schrift »Ludendorffs Selbstporträt« von 1922 bezeichnete Delbrück Tirpitz neben Ludendorff als den Zerstörer des Reiches (Delbrück, Selbstporträt, S. 64). 65 Delbrücks an seinen Schwiegersohn Heinz Schmid am 10. Juli 1926, in: BArch N 1017/64. 66 Vgl. Berghahn, Tirpitz-Plan, S. 18, 592 f, der auch der sozialimperialistischen Deutung verhaftet ist: Demnach habe die konservative Elite die Flottenpolitik als Mittel benutzt, um ein Betätigungsfeld mit nationaler Integrationskraft zu entwickeln und somit auch die für die Herrschenden latent gefährliche Arbeiterschaft zu neutralisieren. Hildebrand, Reich, S. 201, hingegen sieht hauptsächlich außenpolitische Gründe für den Flottenbau. 67 Vgl. u. a. Besteck, Defence, S. 11, 14 f, 88 f sowie Rose, Empire, S. 171–277, der feststellt, dass im britischen Ressortegoismus die verschiedenen Akteure die (angebliche)  deutsche Gefahr nur instrumentalisiert hätten, um ihre jeweiligen Ziele politisch durchzusetzen. Auch­ Bönker, Militarism, setzt mit einem Vergleich der deutschen mit der amerikanischen Flottenpolitik vor dem Weltkrieg einen neuen Akzent und führt die Betrachtung aus dem deutsch-englischen Gegensatz heraus. Die umfangreiche Studie Hobson, Imperialismus, zur Genese des Tirpitzplans kommt ebenfalls zu neuen Erkenntnissen: Mit dem Ziel, Berghahns Thesen zu widerlegen, tritt er den Nachweis an, dass der Schlachtflottenbau zwar ideologiebehaftet und sicherheitspolitisch nutzlos bis schädlich gewesen sei, aber keine deutsche Besonderheit. Zur Neuinterpretation des deutsch-englischen Gegensatzes vgl. Geppert / Rose, Machtpolitik, die im Ergebnis eine Entlastung der wilhelminischen Flottenpolitik vornehmen. Einen Überblick über die Forschung der letzten Jahrzehnte hierzu bietet Rüger, Revisiting, der für neue Ansätze in der transnationalen Forschung plädiert und dafür, die deutschenglische Geschichte nicht auf die letzten Jahre vor dem Ersten Weltkrieg zu verengen. 68 Hans Delbrück: »Deutsche Flotte und Kriegsschuld«, in: DAZ vom 23. Dezember 1927, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 89a, 95.2. Delbrück nimmt damit die Deutung von Andreas Rose bereits zum guten Teil vorweg, der die Unterschiede in der öffentlichen Meinung in England und in den diplomatischen Kreisen aktengestützt herausarbeitet.

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gen ist uns der Krieg gemacht worden, gewiß, aber ob er ohne unsere Flotte gemacht worden wäre, steht zum wenigsten dahin.«69 Mit seinem Programm für eine Welt-, Kolonial- und Flottenpolitik vertrat Hans Delbrück die opinio communis seiner Zeit, wenn auch in eigener Ausprägung. Zugleich wandte er sich immer wieder gegen zu extreme Auswüchse dieser Ideen, wie sie insbesondere die Alldeutschen entwickelten. Das machte er zum Beispiel deutlich in einem Artikel von 1916, in dem er einen Unterschied zwischen Weltpolitik und Weltherrschaft herausarbeitete. Die Zeilen sind zwar im Ton auf den Weltkrieg eingestellt, die Gedanken dahinter aber sind dieselben, die er auch all die Jahre zuvor vertreten hatte: Weltpolitik war für ihn »nichts anderes als Kolonialpolitik« und diese forderte er nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen, sondern auch aus »politisch-nationalen«. Die Kolonien dienten ihm »vor allem der äußeren Ausbreitung und der inneren Bereicherung des deutschen Volkstums«. Deutschland müsse sich auch auf diesem Feld betätigen, sonst werde die Welt von Großbritannien und Russland allein aufgeteilt werden. Um aber Konflikten in Kontinentaleuropa mit den anderen Großmächten aus dem Weg zu gehen, forderte Delbrück die Expansion in Afrika und den Schutz und die kulturelle Hebung der Türkei. Es böten sich zahlreiche Aufgaben für die Deutschen, »ohne daß man darin irgend etwas Ueberhebliches, etwas andere Völker Bedrängendes oder Bedrohendes erblicken kann. […] Gleich­ berechtigung lautet unsere Losung, nicht Weltherrschaft.«70 Delbrück bewegte sich im konservativen Mainstream seiner Zeit. Die »innere Bereicherung des deutschen Volkstums« bestand für ihn darin, dass er für die gebildeten Schichten, die ständig wuchsen, ein Betätigungsfeld suchte: Junge, qualifizierte Menschen sollten für einige Jahre in den Kolonien ihre Fähigkeiten anwenden und dann später als umso qualifiziertere Kräfte im Reich Funktionen übernehmen. Auch rückblickend, in der Weimarer Republik, stand Delbrück zu seinen Vorstellungen. In einer Besprechung von Waldersees Memoiren schrieb er 1923 in der »Neuen Freien Presse«, »[e]in großes Volk will große Ziele haben.« Wilhelms Ostasienpolitik sei dilettantisch ausgeführt worden, aber die Idee an sich sei richtig gewesen, nämlich dem deutschen Volk ein Feld in der auswärtigen Politik zur Betätigung zu schaffen, ohne es in einen Konflikt mit anderen Großmächten hineinzutreiben71. Und auf einem Brief des Diplomaten Bernhard Wilhelm von Bülow aus dem Jahr 1920, in dem dieser die kaiserliche Kolonialpolitik als Eitelkeit oder Streben nach weiterer wirtschaft69 Hans Delbrück: »Die Tirpitz-Erinnerungen«, in: PJb 178 (1919), 309–325, Zitat S. 315. 70 Hans Delbrück: »Weltpolitik und Kolonialpolitik«, in: Deutsch-Uebersee. Korrespondenz des Aktionsausschusses der Deutschen Kolonialgesellschaft, Nr. 2 vom 15. Mai 1916, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 86a. Ganz ähnlich auch: Hans Delbrück: »Weltpolitik und Kolonialpolitik«, in: Der Gesellige, 20. Mai 1916, in: BArch N 1017/2. 71 Hans Delbrück: »Graf Waldersee und Wilhelm II.«, in: NFP, Nr. 21192 vom 8. September 1923, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 88c. Max Montgelas schrieb Delbrück nach der Lektüre, er stimme ihm in dieser Betrachtung vollauf zu (Montgelas an Delbrück am 19. September 1923, in: ebd., Briefe Montgelas I, Bl. 86 f).

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licher Überlegenheit kritisierte, notierte Delbrück als Randbemerkung: »nein, Kolonialpolitik ist Nationalpolitik.«72 Damit ist aber bereits gekennzeichnet, dass Delbrück die Außenpolitik der Hohenzollernmonarchie anders begriff als viele Zeitgenossen73. Beispielhaft für die Richtung von Delbrücks konservativem Engagement im Kaiserreich steht auch das Bagdad-Komitee, dem Delbrück mehrere Jahre hindurch als Vorsitzender vorstand. Dieses hatte sich zum Ziel gesetzt, parallel zur offiziell betriebenen Wirtschaftsmission im Osmanischen Reich an einer Kulturmission mitzuwirken. Dafür wurden Spendengelder gesammelt, mit denen unter anderem deutsche Ärzte in entlegene Regionen des osmanischen Reichs entsandt wurden, um bei dem Aufbau medizinischer Infrastruktur zu helfen. Die erhaltenen Berichte der Reisenden geben einen aufschlussreichen Einblick in die Lebensweise der besuchten Völker74. Modern gesprochen, war dies im Prinzip nichts anderes als eine von einer NGO getragene Entwicklungshilfe, bei der es neben der Hebung der Lebensbedingungen armer Völker auch um einen eigenen Nutzen für Deutschland ging, nämlich wie Delbrück es oft formulierte: eine Betätigung für junge Leute und das junge Reich. Alexander Thomas schreibt, Delbrück habe sich »vom Innen- und Kultusministerium massiv instrumentalisieren« lassen für die imperialistische Politik der Nach-Bismarck-Ära75. Auch wenn Delbrücks Wirken in dieser Zeit noch genauer untersucht werden muss, ist diese These unzutreffend. Delbrück war eine zutiefst selbstständige Persönlichkeit. Er musste deshalb überdurchschnittlich lange warten, bis er 1896 schließlich ein Ordinariat erhielt  – mitnichten ein Zeichen für eine enge Verbindung zum Kultusministerium76. Zwar hatte er vermutlich garantierte Einnahmen aus den »Preußischen Jahrbüchern« durch einen Vertrag mit dem preußischen Kulturminister77. Aber grundsätzlich ist festzuhalten, dass Delbrück eine Persönlichkeit war, die sich nur dann auf eine Zusammenarbeit eingelassen hat, wenn sie selbst vollauf inhaltlich überzeugt 72 Bülow an Delbrück am 14. Dezember 1920, in: ebd., Briefe Bernhard Wilhelm von Bülow, Bl. 17–20. 73 Dies weiter zu untersuchen, wäre eine Aufgabe für eine weitere Studie, die zu diesem nach wie vor diskutierten Forschungsfeld wichtige Beiträge liefern könnte. 74 Noch genau auszuwertende Materialien hierzu in: BArch N 1017/33. Dass Delbrück bei allem Engagement für die Türken keineswegs gleichgültig gegenüber dem Schicksal der Armenier im Weltkrieg war, belegt seine Spende an ein Hilfswerk für armenische Waisenkinder im Jahr 1917 (siehe das als streng vertraulich gekennzeichnete Schreiben von Johannes Lepsius an Hans Delbrück von Ende September 1917, auf das Delbrück »19.11.17 10 M. eingezahlt« vermerkte, in: BArch N 1017/21). 75 Thomas, Geschichtsschreibung, S. 202. 76 Dass Delbrück insbesondere zu Kaiser Friedrich III. ein enges Verhältnis hatte, das aus seiner Zeit als Prinzenerzieher in den 1870er Jahren herrührte, ist hingegen bekannt. In der kurzen Regierungszeit des Hohenzollern war er wiederholt bei ihm und erfüllte eine Ratgeber-Rolle (vgl. die Aufzeichnung seiner Frau Lina, Abschrift in: BArch N 1017/66, Delbrücks Leben, Bd. II 1888, S. 236). 77 Vgl. Bruch, Wissenschaft, S. 427 f.

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war. Dies wird auch deutlich an der Art seiner Zusammenarbeit mit diversen halb-amtlichen Stellen in der Weimarer Republik, die in Kapitel IV.5 untersucht wird. Von »instrumentalisieren« kann also in einem solchen Fall nicht die Rede sein. Außerdem lässt Thomas außer acht, welch heftige Auseinandersetzungen Delbrück gerade mit dem preußischen Innenministerium in den 1890er Jahren gehabt hat um viele seiner politischen Äußerungen. Hans Delbrück erschöpfte sich aber nicht darin, die Linie der offiziellen Politik zu unterstützen und für eine Weltpolitik zu werben. Er war einer der wichtigsten Mahner vor einer chauvinistischen Übersteigerung solcher Gedanken. In einer Broschüre der Freideutschen Jugend anlässlich von deren Feier auf dem Hohen Meißner 1913 legte er der Jugend die »[n]ational[en] Aufgaben unserer Zeit« dar: Die künftigen Herausforderungen lägen in der Ausarbeitung der nationalen Idee in kolonialpolitischer Ausprägung und in der Integration der Arbeiterschaft in den preußisch-deutschen Staat. Delbrück zeigte sich stets davon überzeugt, dass das deutsche Volk positive politische Ziele benötige und wollte diese ihm selbst damit geben. Dabei wies Delbrück darauf hin, dass nicht nur der Sozialismus, sondern auch der Nationalismus den Staat und die Individualität gefährde. Die offizielle deutsche Außenpolitik sei noch frei von letzterem und verfolge lediglich »das gesunde Ziel einer großen deutschen Kolonialpolitik«. »Um so schlimmer aber ist der sozusagen nach innen gekehrte deutsche Chauvinismus, für den wir den eigenen Begriff des Hakatismus geprägt haben. Ihm verdanken wir einen großen Teil des bösen Rufes, den wir, sonst so unberechtigt, in der Welt genießen«. Er plädierte für eine Verortung der Nation in »der umfassenden Gemeinschaft aller Kulturvölker«, um der Gefahr nationaler Abschließung entgegenzuwirken78. Und in einem Aufsatz »Was ist national?« für das »Deutsche Fußball-Jahrbuch« 1913 warnte Delbrück: »Nichts ist unnationaler als die nationale Abschließung; denn sie dämmt Bäche ab, die dem nationalen Fruchtgarten Wasser geben. Alle Wissenschaft, alle Kunst, ja schließlich aller Fortschritt ist zugleich national und international, indem die allgemeine Idee in jedem einzelnen Volke eine besondere Färbung annimmt. Es ist mit der nationalen Gesinnung nicht anders als mit der Religion  – ist etwa der der Frömmste, der die Kraft seines Glaubens darin findet, daß er andern die Seligkeit abspricht? Der nationale Idealismus steht da am höchsten, wo er sich bewußt bleibt, ein Glied einer allgemeinen Kulturgemeinschaft zu sein. Wo dieses Bewußtsein verloren 78 Hans Delbrück: »Nationale Aufgaben unserer Zeit«, in: Freideutsche Jugend. Zur Jahrhundertfeier auf dem Hohen Meißner 1913, Jena 1913, Sonderdruck in: BArch N 1017/1. Als Hakatisten wurden ursprünglich in abfälliger Bedeutung die Mitglieder des Deutschen Ostmarkenvereins bezeichnet, der seit 1894 eine nationalistische Germanisierungspolitik gegen die im Reich lebenden Polen forderte. Im Laufe der Zeit wurde der Begriff Hakatismus insbesondere von Delbrück verwendet zur Bezeichnung aller (innenpolitischer) rechtsextremer Strömungen. Das Wort »Hakatist« wurde aus den Anfangsbuchstaben der Gründer gebildet (Ferdinand von Hansemann-Pempowo, Hermann Kennemann-Klenka und Heinrich von Tiedemann-Seeheim).

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geht, entsteht die schlimmste aller Gefahren, die Gefahr, daß der Idealismus umschlage in den Fanatismus. Wer hat aber die Religion mehr geschädigt als die Ketzerrichter, die die Andersgläubigen auf den Scheiterhaufen schickten? Es ist sehr leicht, sich den Ruhm einer besonders kräftigen nationalen Gesinnung zu erwerben, indem man Geringschätzung predigt für andere Völker und für Deutschland nichts anderes zulassen will, als was deutsche oder gar germanische Herkunft nachweisen kann. Aber dieser Ruhm ist unecht. Solche Einseitigkeit ist nicht das Zeichen der Stärke, sondern der Schwäche. Wer den wahrhaft nationalen Stolz und die nationale Gesinnung im Herzen trägt, braucht sich nicht zu fürchten, daß er die Vorzüge anderer Völker überschätze, und bewahrt sich die offenen Augen und den klaren Blick für das Gute auch außerhalb der Heimat und vergißt nicht, daß, indem er seinem Volke lebt, er auch der Menschheit lebe.«79

Diese Ausführungen kennzeichnen Delbrücks Verständnis von nationalem Denken bündig. Diese Grundüberzeugung leitete ihn sein gesamtes Leben hindurch. Er schöpfte sie aus seiner Betrachtung der »Weltgeschichte« (siehe dazu Kapitel III.1.a)) und sie war es, die ihn dazu trieb, im Kaiserreich vor dem Hakatismus zu warnen, im Weltkrieg das exzessive alldeutsche Kriegszielprogramm zu bekämpfen und in der Weimarer Republik Erich Ludendorff unschädlich machen zu wollen. Indem er sich selbst zum nationalen Gedankengut bekannte, konnte er durchschlagender mit seiner Warnung vor einer nationalistischen Übersteigerung wirken, als es Sozialisten oder bürgerliche Pazifisten konnten. Delbrücks Position wirft darum ein anderes Licht auf die Politik des Kaiserreichs. Die Flotten- und Weltpolitik musste nicht von ihrem Wesen her schädlich und gefährlich sein, sie wurde es erst durch ihre aggressive Überzeichnung durch die sich entwickelnde deutsche Überheblichkeit bestimmter Kreise. Typisch war ein Vorgang aus den Jahren 1909/1910: Hans Delbrück hatte im Zuge der Finanz- und Steuerreform umfangreiches Material dazu gesammelt, wie speziell Agrarier systematisch Steuern hinterzogen. Er deckte diese Vorgänge auf und übersandte seine Unterlagen dem Finanzminister. Zudem machte er sie öffentlich. Er tat dies in der Absicht, Betrüger am preußischen Staat anzuprangern. Das führte aber dazu, dass er sich leidenschaftlichen Hass von diesen rechts orientierten Kreisen zuzog80. Im Ersten Weltkrieg entwickelte sich Delbrück nach Theodor Heuss »zu einer zentralen Figur der Kriegszielerörterung; mit einer unbeirrbaren Festigkeit, hinter der die Leidenschaft der patriotischen Sorge wachte, blieb er durch die Jahre der seelischen und geistigen Wirrnis eine Kraft, die Kraft der Einsicht und Mäßigung.«81 79 Hans Delbrück: »Was ist national?«, in: Deutsches Fußball-Jahrbuch 1913, 10. Jg., Sonderdruck in: BArch N 1017/1. 80 Vgl. die umfangreichen, noch auszuwertenden Materialien in: BArch N 1017/12, /13. 81 Heuss, Erinnerungen, S. 461, Hervorhebung ebd. Ähnlich auch Ders.: »Hans Delbrück. Zum 75. Geburtstage am 11. November«, in: Frankfurter Zeitung, Nr. 838 vom 11. November 1923, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 5. Hier attestierte Heuss den Preußischen Jahrbüchern, »durch den Krieg hindurch zur bedeutungsvollsten politischen Publizistik geworden« zu sein.

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In Übereinstimmung mit seiner nationalen Verortung zeigte Delbrück sich davon überzeugt, dass Deutschland einen Verteidigungskrieg führte und engagierte sich daher auch vorbehaltlos in der »geistigen Mobilmachung«82. Er blieb seiner Überzeugung den Krieg hindurch treu. Im Einzelnen sind seine Aktivitäten als einer der wichtigsten zivilen Personen im Krieg noch zu untersuchen. Gleichwohl ist von der Forschung bereits herausgearbeitet, dass er sich jedem Versuch, den Verteidigungskrieg in einen Eroberungskrieg umzumünzen, heftig (aber letztlich erfolglos) entgegenstemmte. Delbrück, »der führende nichtmilitärische Fachmann Deutschlands in militärischen Fragen«83, warnte »als erster Publizist von Rang«84 bereits im September 1914 vor expansiven Kriegszielen. Zu diesem Zeitpunkt war das Scheitern eines schnellen Feldzuges gegen Frankreich noch keineswegs offenbar geworden. Der Verstand behielt bei ihm die Oberhand, er ließ sich nicht bestimmen von Kriegspsychosen und warnte davor, dass es Deutschland zum Verderben reichen musste, wenn es die Vorherrschaft in Europa anstrebte. Er zog aus seinen historischen Studien den Schluss, dass die anderen europäischen Völker es niemals zulassen würden, wenn eine – gleich welche – Macht die Hegemonie auf dem Kontinent erlangte und sich deshalb wie gegen Napoleon 100 Jahre zuvor verbünden würden. Delbrück forderte für das Reich einen gleichberechtigten Platz auf der Welt, aber keinen vorrangigen. Mit der Sicherung dieses anerkannten Status wäre für ihn das Kriegsziel und damit ein voller Sieg erreicht gewesen. In der Unterjochung anderer Völkerschaften oder der Annexion fremder Territorien sah er keinerlei Gewinn, sondern nur einen Herd künftigen Hasses. Mit diesem Programm, das eigentlich nur dasjenige war, mit dem Deutschland im August 1914 in den Krieg eingetreten war – zumindest in der Wahrnehmung der breiten Bevölkerungsschichten  –, wurde Hans Delbrück sogar von angesehenen Fachgenossen wie Eduard Meyer als »Flaumacher« beschimpft85. 82 Hierzu vgl. Flasch, Mobilmachung. Hans Delbrück war auch Mitglied der Deutschen Gesellschaft 1914 (vgl. seine handschriftliche Notiz »21/1.16.60 Mark eingezahlt« auf einem Schreiben des Vorstands der Gesellschaft vom Januar 1916 mit der Bitte um die Entrichtung eines Mitgliedsbeitrags, in: SBB NL Delbrück, Briefe Solf, Bl. 13 f), über die Friedrich Meinecke schrieb: »Der ›Geist von 1914‹ sollte hier gepflegt werden, der Sozialdemokrat sprach mit dem Agrarier, der Gelehrte mit dem Großkaufmann, dem Verwaltungsbeamten.« (Meinecke, Straßburg, S. 157). Siehe auch Gatzke, Drive, S. 136 f. 83 Craig, Delbrück, S. 99. Scheibe, Marne, S. 356, bezeichnet ihn als einen der am »bestinformierten Publizisten« im Krieg. Zu Delbrück und dessen Wirken im Weltkrieg vgl. Bucholz, Introduction, S. 26–33; Mette, Politiker, S. 176–181. 84 Heuss, Delbrück, S. 460. Schwabe, Wissenschaft, S. 62, attestiert Delbrück, er sei »der einzige Gelehrte, der die kardinale Bedeutung der belgischen Frage für das zukünftige Verhältnis zwischen Deutschland und England von Anfang an durchschaut hat,« gewesen. 85 Siehe exemplarisch Eduard Meyer: »Die Friedensziele und Professor Hans Delbrück«, in: Deutsche Zeitung, 22. Jg., Nr. 386 vom 2. August 1917, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 95.1. Reichskanzler Bethmann Hollweg, dem Delbrück seinen Aufsatz zugeschickt hatte, wies seinen Pressechef Otto Hammann an: »Bitte Delbrück in geeigneter Weise zu verständigen, dass sein Artikel in der Formulierung einer Gleichgewichts theorie [sic] weder der Auffas-

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Beispielhaft ist auch ein Schreiben einer Reihe von Alldeutschen an Delbrück in Reaktion auf seinen Aufsatz im Oktoberheft der »Preußischen Jahrbücher« 1914, in dem er für eine gemäßigte Strategie in der Kriegszielfrage geworben hatte. Sie bezeichneten seine Ausführungen als »gemeinschädlich« sowie »ein politischmilitärisches Verbrechen«. Und weiter: »Wirklich, die Röte des Zornes und der Scham steigt einem auf, darüber, dass ein Deutscher, einer, der zu den Lehrern der deutschen Jugend gehört, derartiges schreibt.«86 Ein ehemaliger Schüler und nunmehriger Lehrer schrieb Delbrück zeitgleich: »heute bleiben Sie damit ein Prediger mitten im brüllenden Meer.«87 Dies machte sehr deutlich, wie zunehmend dominant die rechte Strömung in Deutschland im Zuge der Radikalisierungstendenzen im Weltkrieg wurde. Deswegen richtete sich Delbrücks Publizistik vorrangig auf die Bekämpfung des alldeutschen Siegfriedensprogramms. In einem 1917 zuerst in seinen »Preußischen Jahrbüchern« abgedruckten und anschließend als Broschüre massenweise vertriebenen Aufsatz »Wider den Kleinglauben« klagte er über die Vaterlandspartei, die Trägerin der aggressiven Forderungen im Weltkrieg: »Man will Partei sein und ist es auch; gleichzeitig aber will man über allen Parteien stehen.«88 Damit kritisierte er die Anmaßung dieser Kreise, die ihre überzogenen Kriegsziele und die mangelnde Bereitschaft für innenpolitische Reformen durch die Behauptung der eigenen Überparteilichkeit jeglicher Kritik zu entziehen und der Gegenseite das Recht zur Meinung abzusprechen versuchten. Deutlicher als Delbrück konnte man in der sung des Auswärtigen amts, [sic] noch meiner persönlichen Ansicht enspricht [sic] und dass ich es bei aller Würdigung seiner guten Absicht auch von seinem Standpunkt aus nach innen und aussen für verfehlt halte, ihr Ausdruck zu geben.« (Bethmann an Hammann am 18. Oktober 1914, in: ebd., Briefe Bethmann, Bl. 21). Blickt man auf Bethmanns Erwiderungen auf von Delbrück eingesandte Artikel aus den Vorkriegsjahren (diese waren stets von warmer Dankbarkeit und Zustimmung getragen), stellt diese Reaktion des Kanzlers einen krassen Bruch dar. Bis zu seinem Abschied 1917 kamen seine Antworten auf die Artikel, die Delbrück ihm nach wie vor zusandte, über ein kühles »Danke« nicht mehr hinaus. Erst nach dem Ende seiner Kanzlerschaft entwickelte sich zu Delbrück ein engeres Vertrauensverhältnis. Dieser Vorgang zeigt jedenfalls, wie sehr selbst der Reichskanzler von der rechten Strömung fortgerissen worden war und sich von seinem eigenen, zu Kriegsbeginn formulierten Programm der ausschließlichen Verteidigung verabschiedet hatte. Dass er Hans Delbrück, der ihm mit seinem Aufsatz seine Loyalität beweisen und unterstützen wollte gegen die Alldeutschen, so brüsk abwies, wirft ein bezeichnendes Licht darauf, wie schnell sich die Meinung in Deutschland gedreht hatte. Vgl. Ritter, Staatskunst III, S. 92. 86 Siebenseitiges Schreiben von Heinrich Claß, Ernst Haeckel, Gottfried Traub und einigen mehr an Hans Delbrück und seinen Mitarbeiter Ferdinand Jakob Schmidt, ohne Datum [1914], in: SBB NL Delbrück, Fasz. 95.1. 87 Ein unbekannter Schüler Delbrücks an selbigen am 26. Oktober 1914, Abschrift in: BArch N 1017/75, Delbrücks Leben, Bd. XI 1914, S. 86. 88 Hans Delbrück: »Wider den Kleinglauben. Eine Auseinandersetzung mit der deutschen Vaterlandspartei«, Jena 1917 (»Die Volksaufklärung«, Flugschriften hrsg. v. Martin Hobohm, Nr. 2), in: SBB NL Delbrück, Fasz. 86a. Eine zeitgenössische Analyse von Delbrücks historisch hergeleiteten Friedenszielen im Vergleich zu denen seines Fachkollegen Dietrich Schäfer – führende Persönlichkeit der Vaterlandspartei – findet sich bei Wolf, Schäfer.

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Zeit der Zensur, die eine offene Debatte über die Kriegsziele verhinderte, kaum werden, wenn man die Bewegung kritisierte, die die Einigkeit des deutschen Volks zu Kriegsbeginn zerstörte durch die Aufladung des Sinns des Krieges mit Weltherrschaftsplänen, die von der Bevölkerungsmehrheit so nie getragen worden waren. Eine noch näher zu untersuchende Frage ist der Einfluss, den Delbrück auf Erich von Falkenhayn, den Chef der 2. OHL, genommen hat. In der Literatur wird dieser zwar festgestellt, aber gleichzeitig beklagt, dass es kaum Quellen gebe zur Rekonstruktion89. Insbesondere wird ein Zusammenhang gesehen zwischen der von Falkenhayn verantworteten Schlacht um Verdun zu Delbrücks Idee der Ermattungsstrategie90. Tatsächlich findet sich in Delbrücks Nachlass ein sechsseitiges Gesprächsprotokoll über ein Treffen der beiden Männer am 16. Januar 1916, also einige Wochen vor Beginn der Schlacht, die sich im deutsch-französischen Gedächtnis wie kaum eine zweite eingebrannt hat. Delbrück schrieb kurz danach an einen Bekannten, Falkenhayn habe ihn angerufen und um seinen Besuch gebeten. Das Treffen habe eine Stunde lang gedauert und er, Delbrück, habe »einige sehr interessante Aufklärungen erhalten«91. Laut den von Delbrück angefertigten Gesprächsnotizen ging es aber in der Unterhaltung nicht um die künftige Ausrichtung der militärischen Strategie, sondern um einen Gedankenaustausch über den bisherigen Kriegsverlauf. Falkenhayn berichtete vom Festfahren der Front in Nordfrankreich 1914 und stimmte Delbrück zu, dass die Verlegung zweier Armeekorps von der Westfront nach Ostpreußen »verhängnisvoll« gewesen sei, auch, da sie dort keine Wirkung mehr hätten entfalten können. Weiter berichtete Falkenhayn vom ab Mitte September 1914 sich bemerkbar machenden Munitionsmangel und gab eine kritische Haltung gegenüber Hindenburg, damals Oberbefehlshaber an der Ostfront, zu erkennen. Zudem bekannte er, dass die Armee weniger in Folge der hohen Verluste an Mannschaften, als mehr an Offizieren und Unteroffizieren, weniger leistungsfähig geworden sei. Delbrück wiederum betonte »die entscheidende Bedeutung des strategischen Gedankens des Durchbruchs bei Gorlice«, dessen Plan Falkenhayn daraufhin für sich reklamierte92. Eine genauere militärhistorische Analyse der Strategie Falkenhayns und Delbrücks müsste den entstandenen Eindruck klären, ob Delbrück bereits im Krieg die strategischen Situationen besser einzuschätzen vermochte als der oberste Militärbefehlshaber der Jahre 1914 bis 1916. Nach dem Krieg schrieb Falkenhayn Delbrück mehrere Briefe, in denen er dessen Abhandlungen zum Weltkrieg anerkennend lobte: »Sie [Delbrück, d. Vf.] [haben] das Problem völlig 89 Vgl. Raulff, Vorwort, S. XXVIf; Bucholz, War Images, S. 95. 90 Zur Strategiedebatte siehe Kapitel V.1. 91 Delbrück an einen unbekannten Bekannten am 23. Januar 1916, Abschrift in: BArch N 1017/76, Delbrücks Leben, Bd. XII 1916, S. 3. 92 Sechsseitiges Gesprächsprotokoll über eine Unterredung mit Falkenhayn am 16. Januar 1916 über militärische Fragen des Weltkriegs in: SBB NL Delbrück, Fasz. 120.7.

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durchschaut«. Damit meinte er die Ursachen der militärischen Niederlage und die Verantwortung Ludendorffs hierfür. Im Hinblick auf die Phase des Kriegs, die er selbst zu verantworten hatte, schrieb er: »Ich habe sehr genau gewußt, was ich tat, indem ich die Friedericianische Strategie mir zu eigen machte«93. In dieser rückblickenden Perspektive war es verständlich, dass Falkenhayn versuchte, seine Handlungen als durchdacht darzustellen. Tatsächlich war dies wohl nicht in der Weise der Fall94. Eindeutig ist aber, dass Delbrück bereits im Krieg versuchte, Falkenhayns Stellung aufzuwerten, indem er seine kurzzeitige Stellung als Dekan nutzte, um dem Generalstabschef die Ehrendoktorwürde der Berliner Universität zu verleihen95. Eine Ähnlichkeit in den strategischen Grundgedanken der beiden ist also unverkennbar vorhanden gewesen. Der Streit der deutschen Intellektuellen über die Kriegsziele ist bereits häufiger dargestellt worden. Offensichtlich wurde die Spaltung im Sommer 1915, als 1.347 Persönlichkeiten eine annexionistische Eingabe machten, die von einer Gegeneingabe, bei der Hans Delbrück eine führende Rolle spielte, beantwortet wurde, die lediglich 141 zeichneten96. Delbrück warb auch selber für eine Expansion des Deutschen Reiches, und zwar in Osteuropa und mit Forderungen nach einem Kolonialreich in Mittelafrika. Man darf aber dabei nicht verkennen, dass er dies nur deshalb tat, um die Aufmerksamkeit und den Expansionsdrang vom Westen abzulenken, wo eine Ausbreitung der deutschen Machtsphäre ausgeschlossen war. Insofern sind diese Delbrückschen Ideen durchaus ein Zeichen für die Stärke der rechten Bewegung, aber nicht weil sich Delbrück dem inhaltlich durch eigene Forderungen anschloss, sondern indem er Wege finden musste, um hiervon abzulenken97. Wilhelm Deist hält Delbrücks politisches Programm aus dem Weltkrieg für »eine erfolgversprechende Alternative«, auch 93 Falkenhayn an Delbrück am 22. Mai 1920, in: ebd., Briefe Falkenhayn, Bl. 6. Zur Unterscheidung von Niederwerfungs- und Ermattungsstrategie (die von Falkenhayn so genannte »Fridericianische«) siehe Kapitel V.1. 94 Afflerbach, Falkenhayn, S. 501, attestiert dem Chef der 2. OHL »nur eine sehr beschränkte Form der Selbstkritik« in seiner späteren Reflexion. 95 Vgl. Hans Delbrück an Max Lenz am 7. August 1915, Abschrift in: BArch N 1017/75, Delbrücks Leben XI 1915, S. 162; Afflerbach, Falkenhayn, S. 313; Pöhlmann, Kriegsgeschichte, S. 31. 96 Vgl. Ringer, Niedergang, S. 177–179; Schwabe, Ursprung, S. 122–133; Gatzke, Drive, S. ­132–135. Ein wichtiges, aber wenig erfolgreiches Forum für Delbrück im Weltkrieg war der Volksbund für Freiheit und Vaterland, eine Gegengründung zur Vaterlandspartei. Delbrück spielte bei der Schaffung der Organisation eine wichtige Rolle (vgl. Bruch, Wissenschaft, S. 335 f, 415; Schwabe, Wissenschaft, S. 162 f). 97 Von einer Ableiterfunktion spricht auch Schwabe, Wissenschaft, S. 61; ähnlich Bucholz, War Images, S. 94. Böhme, Einleitung, S. 19 f, meint hingegen, die Eingaben seien im Prinzip dieselben und unterschieden sich nur im Ton. Damit verkennt er, dass Kriegszielforderungen etwas völlig normales in der Zeit waren und innerhalb dieses Kontextes die Gegensätze größer, wie sie nicht sein konnten: Die Alldeutschen forderten nichts weniger als Deutschland zur Hegemonialmacht auf dem Kontinent zu machen, der alle anderen Staaten ungeordnet worden wären. Delbrück und die Gemäßigten setzten auf die Idee eines Gleichgewichts, ein Nebeneinander gleichberechtigter Völker. Auch Hillgruber, Delbrück,

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wenn es vollauf gescheitert sei98. Friedrich Meinecke äußerte sich später selbstkritisch: »Am klarsten sah damals vielleicht Delbrück die Lage.«99 Delbrück war unter den Bürgerlich-Konservativen einer der wenigen namhaften Akteure, die an der Vorstellung des Verteidigungskriegs festhielten und für die ein Frieden auf dem status quo ante ein voller Sieg gewesen wäre. Er sah auch deutlich, wie das Reich spätestens durch den von Deutschland provozierten Kriegseintritt der USA militärisch in eine hoffnungslose Lage geriet, die einen Eroberungsfrieden schlichtweg unmöglich werden ließ100. Neben diesem nach außen gerichteten Kriegszielprogramm entwickelte sich Delbrück auch zu einem der Wortführer für innere Reformen. Er forderte, das schon lange überkommene preußische Dreiklassenwahlrecht dem fortschrittlichen Reichstagswahlrecht anzugleichen. Ihn leitete dabei die Überzeugung, dass sich Deutschland in einem echten Volkskrieg befinde, in dem jeder Teil des Volks seinen Dienst tat. Die Arbeiterschaft, die die Masse der einfachen Frontsoldaten stellte und damit den höchsten Blutzoll zahlte, durfte in Delbrücks Sicht erwarten, für diese Dienste am eigenen Land auch politisch gleichgestellt zu werden. Das waren ähnliche Gedanken, die er dann auch in seiner »Weltgeschichte« entwickelte hinsichtlich des Demokratisierungsschubs in Preußen nach 1813 durch den Anruf des Volkes durch den König (siehe Kapitel III.1.a)). Die Integration dieser Schicht in die hohenzollernsche Gesellschaft im Weltkrieg war für ihn eine Frage der politischen Notwendigkeit für den Fortbestand der Monarchie. Er entwickelte diese Forderungen nicht nur »taktisch«, wie Boris Barth schreibt101, um eine vollständige Parlamentarisierung zu verhindern, indem man durch moderate Reformen die Unruhen im Volk absorbierte. So sehr Delbrück sein Programm auch an den tagespolitischen Ereignissen entwickelt hat, entsprach es doch im Kern seiner grundsätzlichen Überzeugung von der Notwendigkeit der Integration aller Schichten des Volks in den Prozess der politischen Willensbildung, die er auch früher im Kaiserreich immer wieder zum Ausdruck gebracht hatte. Das zeigt seine Verortung als »Kathedersozialist«102. Auch in seiner Schrift »Regierung und Volkswille«, die 1913 erstmals erschien, 98 99 100 101 102

S. 43, verharrt auf einem zu kritischen Standpunkt und erblickt in Delbrücks Kriegszielprogramm »Widersprüchlichkeiten« und »Realitätsferne«. Deist, Delbrück, S. 379. Meinecke, Straßburg, S. 230. Ungefähr zeitgleich fiel sein ältester Sohn Waldemar in Mazedonien. Vgl. die Schilderungen über seinen Tod in: BArch N 1017/76, S. 171 f, /80, S. 229–239. Barth, Dolchstoßlegenden, S. 127. Auch Töpner, Politiker, S. 132, meint, Delbrück habe seine Demokratisierungsforderungen nur erhoben, um der alliierten Propaganda die Grundlage zu entziehen. Rassow, Delbrück, S. 438. Siehe auch die Charakterisierung bei Daniels, Delbrück, S. 10– 13. Inwieweit Delbrück wirklich als ein typischer »Kathedersozialist« gelten kann, oder ob er nicht vielmehr einen eigenen Weg gewählt hat, muss eine Studie über ihn im Kaiserreich noch zeigen.

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schrieb Delbrück, in Preußen habe man »noch ein Mittelding zwischen der alten Ständeverfassung und der modernen Volksvertretung«, im Reich aber sei »die Kombination vollzogen zwischen dem monarchischen und dem demokratischen Gedanken«103. Diese Gedanken, die er zu einem Zeitpunkt äußerte, als von einem Krieg und dessen Nöten noch niemand etwas ahnen konnte, belegen, dass seinen Forderungen aus der Kriegszeit eine tiefere Überzeugung zugrunde lag und sie eben nicht einem bloß »taktischen« Manöver entsprangen104. Wie gefährlich aber die Verweigerung dieser prinzipiell notwendigen Reformen im Moment des großen Krieges wurden, belegt ein entsetztes Schreiben vom ehemaligen Chef der Reichskanzlei Arnold Wahnschaffe aus dem Frühjahr 1918 an Delbrück: »wer kann blind sein gegen die Gefahren, die es dem Staat […] bringt, wenn er sich dies Wahlrecht nehmen läßt anstatt es zu geben?«105 Die unter anderem von Hans Delbrück vertretenen Ideen konnten sich gegen die Übermacht der Rechten nicht durchsetzen106. Die 3. OHL mit Hindenburg und besonders Ludendorff führte einen radikalisierten und jegliche Verständigung ausschließenden, totalen Krieg, getragen von wichtigen Teilen der öffentlichen Meinung. Die letzte Chance für den Fortbestand der Hohenzollernmonarchie bot die Regierungsübernahme durch Prinz Max von Baden im Oktober 1918107. 103 Delbrück, Regierung I, S. 126. 104 Zur Entwicklung der Reformforderungen der gemäßigten Intellektuellen im Weltkrieg vgl. Schwabe, Wissenschaft, S. 130–134; Ringer, Niedergang, S. 180–183. 105 Wahnschaffe an Delbrück am 3. Mai 1918, in: SBB NL Delbrück, Briefe Wahnschaffe, Bl. 8–10. 106 Delbrück erhielt für sein Programm aber auch leidenschaftlichen Zuspruch. So wandte sich Ende 1917 der Vorsitzende des Berliner Handwerkskammer an ihn mit einem längeren Schreiben. Dieser Vertreter nicht der Arbeiterschaft, sondern des Mittelstands und ehemaliger freikonservativer Abgeordneter beteuerte, sein Berufsstand sei seit Menschengedenken monarchisch und konservativ gesinnt. Aber wenn die konservativen Parteien weiterhin »eine Politik der verpassten Gelegenheiten treiben«, würde er bedenkenlos nach links schwenken. Der Krieg habe den Mittelstand so schwer getroffen, dass man auch hier das preußische Wahlrecht in der Form nicht mehr akzeptiere. »Die Zeiten sind entgültig [sic] vorbei.« »Das Handwerk lehnt es ab [sic] im Interesse des Großgrundbesitzes und des Kapitals das gefährliche Spiel um Thron und Monarchie zu unterstützen«. Hätte man eine Reform schon vor Jahren angegangen, wäre niemals eine solche Verbitterung entstanden. Nun, im Krieg, würde jede Reform aber entwertet, weil sie als erzwungen wahrgenommen werde. »Die Offiziere werden sich vielmehr nach ihren bisher so folgsamen Soldaten umsonst umsehen und sie im gegnerischen Lager erblicken so gewiß als zweimal 2=4 ist.« Er glaube nicht, dass die Parteien die Ansichten seines Standes interessierten. »Ihnen geehrter Herr Professor diese meine Sorgen mitzuteilen, hielt ich für meine Pflicht, zumal es für Sie als Prediger in der Wüste nicht gleichgültig sein kann zu wissen, daß in dieser Wüste auch noch andere Leute wohnen als Agrarier und Ihre warnende Stimme doch nicht verhallt.« (Carl Rahardt an Hans Delbrück am 29. November 1917, in: BArch N 1017/21). 107 Zur Kanzlerschaft des Prinzen Max und seinem Weg dorthin vgl. Machtan, Max, S. 361–469, der ihn als schwache Figur charakterisiert. Die Kanzlerschaft sei geprägt gewesen von einem hohen Maß an Improvisation. Informelle Berater hätten eine wichtige Rolle gespielt.

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Delbrück und seine Gesinnungsgenossen bildeten in jenen Wochen »in gewisser Weise einen privaten Staatsrat des Prinzen«, wie es Friedrich Meinecke wiedergab108. Max war von Delbrück schon länger als Reichskanzler als Vertreter einer gemäßigten Politik favorisiert worden, aber von Ludendorff erst nach seinem eigenen Scheitern eingesetzt worden, um ihm die Verantwortung für die offenbar gewordene Kriegsniederlage zuzuschieben109. Folglich sah Delbrück nun seine Stunde gekommen und betätigte sich nicht nur als Ratgeber der neuen Regierung, sondern warb auch öffentlich für sie. Zum eingetretenen Wechsel des Regierungssystems hin zum Parlamentarismus schrieb er in der Presse, auch er sei etwas unsicher durch den Verlust des Konstitutionalismus. »Aber ich erhebe mich darüber, indem ich mich erinnere, wie schon bei den früheren Wandlungen, die Preußen durchgemacht hat, Unheil prophezeit, [sic] und Segen erblüht ist«. Deutschland übernehme nun Elemente von Großbritannien, wie Großbritannien bereits mit der Wehrpflicht und der Sozialpolitik Elemente von Deutschland übernommen habe110. Diese Zeilen unterstreichen Delbrücks Realitätssinn. Auch wenn er als überzeugter Anhänger des preußisch-deutschen Systems in der Ausprägung von 1871 den tiefgreifenden Verfassungswandel vom Oktober 1918 an sich ablehnte, erkannte er doch deutlich, dass die Hohenzollernmonarchie auf das Höchste gefährdet war und nur noch in dieser Form weiter bestehen konnte. Deshalb stellte er sich auf den Boden der Tatsachen und arbeitete konstruktiv am neuen Weg mit – ein Merkmal, das Delbrücks späteres Wirken in der Weimarer Republik generell kennzeichnete. Welche Bedeutung Delbrück für Max in diesen Wochen hatte, zeigen mehrere spätere Briefe des Prinzen, in denen er sich immer wieder bedankte: »Von zwei Dingen bitte ich Sie aber überzeugt zu bleiben, von meiner großen Verehrung für Sie u. von meiner Dankbarkeit. Bleibt mir doch unvergessen, was Sie mir 108 Meinecke, Straßburg, S. 169. Konkret waren damit neben Delbrück und Meinecke selbst vor allem Max Weber und Friedrich Naumann gemeint. Bucholz, Introduction, S. 32, schreibt sogar, Delbrück sei täglich im Kabinett zu Gast gewesen. Ein wie enger Berater des Prinzen Delbrück gewesen ist, belegen zwei Entwürfe für eine Abdankungsurkunde Wilhelms II. in Delbrücks Nachlass mit von ihm vorgenommenen handschriftlichen Korrekturen. Darin dankte der Kaiser zugunsten seines ältesten Enkels ab. Diese Dokumente aus den Tagen der Novemberrevolution zeigen, mit welchem Einsatz Hans Delbrück versuchte, die Institution der Hohenzollernmonarchie zu retten (in: SBB NL Delbrück, Fasz. 125.2, 125.5). Zu diesem kurzzeitigen Plan vgl. Machtan, Max, S. 425–427, der ihn als »durchaus nicht chancenlos« (S. 427) bezeichnet. 109 Delbrück hatte bisweilen aber auch Zweifel an der Befähigung des Prinzen geäußert, wie beispielsweise im Februar 1918, als er seiner Frau nach einer Unterredung mit ihm schrieb: »Aber ob er das Maß zu einem Reichskanzler hat? Er war doch in einigen Punkten unsicher, wo er nicht unsicher sein dürfte, und erst meine Darlegungen machten ihn fest.« (Hans Delbrück an Lina Delbrück am 19. Februar 1918, Abschrift in: BArch N 1017/77, S. 47–49, hier S. 48). 110 Hans Delbrück: »Prinz Max als Reichskanzler«, in: unbekannte Zeitung vom 9. Oktober 1918, in: BArch N 1017/2.

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in schwersten Stunden meiner Kanzlerzeit waren u. daß Sie es gewesen sind, der die tiefsten u. werthvollsten Worte zu meiner Vertheidigung gefunden haben. [sic]«111

Aber auch Hans Delbrück als aufmerksamer Beobachter112 ahnte nicht, dass es zu spät war, dass die militärische Niederlage unabwendbar und ein möglicher Verständigungsfrieden unmöglich geworden war. Tief erschüttert zeigte er sich am 11. November, seinem 70. Geburtstag und dem Tag des Waffenstillstands. Delbrücks Frau Lina schrieb über die Feier an ihre Mutter kurz danach: »Seine [Delbrück, d. Vf.] Rede war ebenso erschütternd wie erhebend, und wenn nachher meine leichtsinnige Schwägerin geäußert haben soll: es sei wie auf einem Begräbnis gewesen, so hat sie garnicht so unwahr gesprochen. Des alten Reiches Herrlichkeit wurde da zu Grabe getragen, und der Aufblick in die Zukunft war so von Schmerz durchzittert, dass wohl die Hoffnung sich hervorwagte, aber noch nicht der Glaube. Wohl schon der Glaube, aber noch keine Zuversicht. […] Deutschland gleicht dem zum Tod verwundeten Löwen; aber es bleibt der Löwe, und er wird sich wieder aufrichten und freier und königlicher werden als vorher. Diesen Glauben haben mir die letzten Tage gebracht bei dem Anblick der Kraft, mit der die neue Regierung die Zügel in die Hand genommen hat und sie fest hält. Wie reif die Zeit für den Umsturz war, ist ja zu sehen daran, dass alle Kreise, alle Kräfte sich nach kurzem Widerstreben sofort in die neue Zeit eingestellt haben und mitarbeiten. Wie wäre das möglich gewesen, wenn nicht, bewusst und unbewusst, die Menschheit darauf vorbereitet wäre? Wer kann jetzt noch glauben, dass durch diese oder jene Maßregel die Revolution hätte abgewendet werden können?! Wie eine Sturmflut braust sie mit elementarer Gewalt über die Erde, reißt nieder und zerstört mit dem Schlechten natürlich auch Edles und Unersetzliches. […] Das muss man sich sagen, dass die nächsten 10, 20 Jahre gewiss noch ein dunkles Chaos sind, aber was dann kommt, wird auch echtes, eignes Gewächs sein, und dafür schon jetzt zu arbeiten, ist schön und notwendig.«113

Der November 1918 war für nahezu alle Deutschen ein Schock. Die militärische Niederlage kam für die Massen und für die politische Führung urplötzlich und ohne Vorwarnung114. Die Revolution war kein geplantes oder organisiertes Ereignis. Sie war Ausdruck tiefer Erschütterung über die von der militärischen 111 Max an Delbrück am 4. September 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefe Max, Bl. 17–19. Ähnlich auch das Telegramm vom 10. und der Brief vom 11. September 1919, in: ebd., Bl. 9 f. 112 Eine grundlegende Skepsis gegenüber amtlichen Kriegsberichten wird er sich in seiner Zeit als Frontkämpfer im Deutsch-Französischen Krieg zugelegt haben. Damals schrieb er seiner Mutter: »Wie fürchterlich unsere Zeitungen lügen, sehe ich jetzt erst aus den Correspondenzen über das, was ich selbst mitgemacht, so dass ich ihnen überhaupt nicht mehr glauben kann« (Hans Delbrück an seine Mutter am 11. September 1870, Abschrift in: BArch N 1017/65, Delbrücks Leben, Bd. I 1870, S. 89). 113 Lina Delbrück an ihre Mutter Johanna Thiersch am 14. November 1918, Abschrift in: BArch N 1017/80, S. 187–194, Hervorhebung ebd. Ähnlich eindrucksvoll ist auch die bekannte Schilderung des Kulturphilosophen Ernst Troeltsch von jenem Tag: Troeltsch, Spektator-Briefe, S. 24 f. Zur Geburtstagsfeier im Grunewald vgl. Lüdtke, Kassandra. 114 Vgl. Deist, Zusammenbruch, S. 231.

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Führung bis zuletzt bewusst verschleierte Niederlage. Die Erkenntnis hierüber machte jede Bereitschaft zum Weiterkämpfen und -sterben sofort zunichte. Die Ereignisse vom November 1918 waren folglich mehr eine Rebellion als eine Revolution. So sehr auch innenpolitische Reformen notwendig gewesen und heftig gefordert worden waren, ein Ende der Hohenzollernmonarchie hatten selbst die Sozialdemokraten zu keinem Zeitpunkt erwogen. Wie sehr Delbrück der Umsturz traf, zeigt auch ein weiterer Brief seiner Frau Lina an deren Mutter kurz vor Weihnachten. Sie schrieb, ihr Mann sei erneut zusammengebrochen und leide an Schwindelgefühlen, Schwäche und Depressionen. Die heimkehrenden Soldaten seien fröhlich, aber »er kann sie nicht einziehen sehen; es ist ihm zu schrecklich, der Empfang durch die Republik und die Zukunft der Offiziere und ihrer Familien nach allem, was sie geleistet und gelitten haben, fürchterlich.«115 Hans Delbrück aber stellte sich den Tatsachen und schrieb im Dezemberheft seiner »Preußischen Jahrbücher«: »Ich will alle Gefühle des Schmerzes, der Scham und der Verzweiflung unterdrücken, um zu einer klaren Einsicht zu gelangen wie diese Ereignisse möglich geworden sind.« Die Revolution war für Delbrück demnach zunächst eine »militärische Meuterei«, die sich aufgrund der fatalen Kriegsführung, die durch die Alldeutschen bestimmt gewesen sei, entwickelt hatte. Diese Meuterei habe sich dann schnell zur großen Revolution ausgeweitet und sei der SPD zugefallen, »weil sie die einzige Richtung war, die in diesem Augenblick ein positives Programm aufstellen konnte, nämlich die Republik.« Dann formulierte Delbrück vorsichtig-optimistisch, dass eines Tages die jetzige Phase möglicherweise als Zeit »der Aussaat« für eine bessere Zukunft erscheinen werde116. Der gescheiterte Kriegskanzler Bethmann Hollweg schrieb nach der Lektüre an Delbrück: »Sie sind so oft und so viel der Wegbereiter zum Rechten gewesen. Möge ein gutes Geschick Ihnen verleihen, es auch jetzt zu sein. Mehr kann ich nicht sagen.«117 Ob dieser Wunsch Realität wurde, sollen die nachfolgenden Kapitel klären.

115 Lina Delbrück an Johanna Thiersch am 17. Dezember 1918, Abschrift in: BArch N 1017/80, Delbrücks Leben, Anhang Bd. II 1918, S. 206–209. Delbrücks Stimmung in jenen Tag illustriert auch ein wütender Brief an den Funktionär der Alldeutschen Georg von Below: »Ich kann Ihnen schliesslich nicht verhehlen, dass es mich anekelt, mich in diesem Jammer der Zeiten mit solchen Anwürfen auseinandersetzen zu müssen.« (Delbrück an Below am 28. Dezember 1918, in: BArch N 1017/44). 116 Hans Delbrück: »Waffenstillstand. – Revolution. – Unterwerfung. Republik«, in: PJb 174 (1918), S. 425–442, Zitate S. 430, 433, 441. 117 Bethmann an Delbrück am 7. Dezember 1918, in: SBB NL Delbrück, Briefe Bethmann, Bl. 44 f. Auch im Ausland wurden Delbrücks Worte aufmerksam registriert: So schrieb die Times, sie seien »the most interesting non-Socialist comments« zur Novemberrevolution (»Through German Eyes. A Historians Tragedy«, in: Times, 11. Dezember 1918, in: ebd., Fasz. 90).

III. Für eine konservative Republik 1. Das Abendland a) Die »Weltgeschichte« »Die Erde ist nur ein Stäubchen im Weltall und was wir Geschichte nennen spielt sich ab in einem Teitraum, [sic] der im Verhältnis zum Alter der Erde ebnsoklein [sic] ist, wie der Erdball im Verhältnis zur Sternenwelt. Ich habe mein Leben der Ausarbeitung einer Weltgeschichte gewidmet. Weshalb interessiert uns so sehr, was in diesem so kleinen Raum in dieser so kurzen Zeitspanne geschehen ist? Die Erde ist räumlich klein, aber sie ist der Mittelpunkt des Weltalls, nicht topographisch, sondern weil sie der Wohnsitz des Menschen ist, und was der Mensch schafft und leidet ist die Offenbarung des Göttlichen in der Endlichkeit [sic] die sich um der höchsten Kraftentfaltung willen in einer kurzen Zeitspanne vollziehen muss. Raum und Zeit schliessen uns ein, aber nur scheinbar, sie sind Denkformen, die sich letzten Endes selbst aufheben und was zeitlich geschirht [sic] ist zugleich Ewigkeit.«1

Mit diesen Sätzen formulierte Delbrück im März 1925 in der Berliner Staatsbibliothek sein Verständnis von »Weltgeschichte« und Menschheit. Die »Weltgeschichte« war Hans Delbrücks wissenschaftliches und politisches Terrain. Auf der Grundlage seines wissenschaftlichen Werks, das sich in der »Weltgeschichte« als zweitem Hauptwerk manifestierte, festigten sich auch seine politischen Grundanschauungen. Auf seinem 80. Geburtstag am 11. November 1928 im Hotel Adlon sprach Delbrück: »Man kann den bisherigen Lauf der Weltgeschichte nicht nach irgendwelchen Zukunftsidealen nachträglich korrigieren.« Zudem sagte er, dass er seinem Volk mittlerweile weniger durch praktische Politik diene, aber dafür noch sehr mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten2. Daran zeigte sich, dass er auch ein politisch-erzieherisches Ziel bei der Abfassung seiner fünfbändigen »Weltgeschichte« verfolgte. Aus der Betrachtung der Geschichte der Menschheit des westlichen Kulturkreises zog er grundlegende Handlungsempfehlungen, die für ihn überzeitliche Bedeutung hatten. Das waren vor allem die Überzeugung, dass die Nationen des Abendlands trotz aller Unterschiede eine geistig-kulturelle Einheit bildeten und dass stets eine Politik der Mäßigung die besonders erfolgreiche sei. Dies waren Ideale, die Delbrück entscheidend prägten und die sich in seinen politischen Aktivitäten in der

1 Unvollständiges Manuskript eines Vortrags vom März 1925 in der Staatsbibliothek, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 70. 2 Hans Delbrück: »Danksagung«, in: Wille und Weg (1928), Heft 17, S. 387, Sonderdruck in: ebd., Fasz. 11.2.

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Weimarer Republik immer wieder zeigten, weshalb sie im Folgenden kurz umrissen werden. Die Jahre nach 1921 waren auch auf wissenschaftlichem Gebiet für Delbrück Neuland. Denn in diesem Jahr trat erstmals eine gesetzliche Regelung in Kraft, nach der Professoren mit 68 in Pension gehen mussten. Bis dahin hatte eine Berufung bis zum Tod Bestand gehabt. Alle Älteren wurden nun zum 1. April 1921 emeritiert3. Damit war Delbrück von allen universitären Verpflichtungen, insbesondere der Lehre, entbunden. Er zog sich aber nicht aus der Wissenschaft zurück: Neben der Überarbeitung seiner »Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte«, der Abfassung zahlreicher kürzerer Arbeiten (v. a. Rezensionen) sowie der Betreuung jüngerer Forscher zur Kriegsgeschichte widmete er sich dem Verfassen einer fünfbändigen »Weltgeschichte«. Dieses Vorhaben demonstriert eine große Schaffenskraft, denn er befand sich in seinem achten Lebensjahrzehnt und war parallel in hohem Maße engagiert bei den wichtigen politischen Diskursen der Zeit. Die »Weltgeschichte« basierte auf einem viersemestrigen Vorlesungszyklus, den er in den Jahren 1896 bis 1921, in denen er Heinrich von Treitschkes Lehrstuhl für Weltgeschichte innegehabt hatte, gehalten hatte. Auf diesen hatte Friedrich Althoff gedrängt, die entscheidende Person im preußischen Wissenschaftsministerium um die Jahrhundertwende4. Mit Band fünf führte Delbrück die Darstellung noch über die Vorlesung hinaus; durch seinen Tod blieb ein sechster Band unvollendet5. Delbrück konnte also für die Abfassung zumindest der ersten vier Bände auf umfangreiche Vorarbeiten zurückgreifen, nämlich seine eigenen Forschungen (insbesondere seine »Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte«) und Vorlesungs-Manuskripte. Damit war er der letzte Historiker, der eine Universalgeschichte allein, d. h. ohne Mitarbeiter und gestützt auf eigenen Forschungen zu allen Epochen schrieb6. Von 1924 bis 1928 erschien jedes Jahr ein Band, jeweils von knapp 500 bis über 800 Seiten Umfang, im Otto 3 Vgl. die Abschrift an Delbrück eines Schreibens des preußischen Wissenschaftsministeriums an den Rektor der Berliner Universität vom 22. Januar 1921, in: HU UArch, UK Personalia, DO 39, Bd. I, Bl. 21. 4 Vgl. Christ, Delbrück, S. 181. Zum »System Althoff« vgl. Brocke, Althoff; Ders., Hochschulund Wissenschaftspolitik. 5 Schon bei Band fünf hatte Delbrück sich schwer getan. Im Herbst 1927 schrieb er Wilhelm Solf, er sei noch unsicher, ob er sich an einen fünften Band setzen werde: »Ich müsste so viele dem Volke ans Herz gewachsene Legenden zerstören, dass es mir selber Schmerzen bereitet.« (Delbrück an Solf am 22. September 1927, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Solf, Bl. 15 f). Die Vorarbeiten für Band sechs – Materialsammlungen für die Jahre nach 1888 – finden sich u. a. in: ebd., Fasz. 37, 40, 134, 135. Die Tendenz des Materials geht in die Richtung einer Erklärung für die Ursachen des Ersten Weltkriegs und dabei einer Entlastung der Rolle Deutschlands und Wilhelms II. 6 Vgl. Ziekursch, Delbrück, S. 95. Thomas, Geschichtsschreibung, S. 196, schreibt: »Die »Weltgeschichte« ist der letzte Versuch eines professionellen Historikers, sich hierfür auf eigene Forschungen zu allen wichtigen Epochen seit der klassischen Antike zu stützen.« (Hervorhebungen ebd.).

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Stollberg Verlag für Politik und Wirtschaft in Berlin. Methodisch leistete Delbrück eine Verknüpfung von Diplomatie- und Ereignisgeschichte mit der Sozial- und Strukturgeschichte, was das Werk gut lesbar macht. Vor allem zeigte sich darin ein immer noch moderner Ansatz: Er löste den langen Konflikt in der Geschichtswissenschaft zwischen diesen beiden Herangehensweisen bereits damals auf. In seinem Ansatz unternahm er eine Symbiose der Ideen von Ranke und Hegel, den beiden Persönlichkeiten, von denen Delbrücks Denken am meisten beeinflusst war7. Besonders ausgeprägt ist in Delbrücks Werk auch die Geschichtsphilosophie der Polarität. Pole waren in seiner Weltgeschichte etwa »Mensch und Gott, Mensch und Natur, Persönlichkeit und Masse, Individuum und Gemeinschaft, Geist und Macht«; sie »sind unvereinbare Gegensätze, aber sie fordern und erhalten einander.«8 Dass Delbrücks Darstellung heute in zahlreichen Details als überholt gelten darf, macht sie nicht weniger wertvoll, denn in der Gesamtschau handelt es sich um eine auch für interessierte Laien aufschlussreiche Vermittlung eines Grundverständnisses der Geschichte. »Es ist ein besonderer Vorzug des Werkes, daß die Spannung zwischen Geschichtsschreibung und Geschichtsforschung aufgehoben ist.« Damit sei es sowohl interessant für die Fachwelt, als auch einem breiten Publikum zugänglich, formulierte Axel von Harnack9. Dennoch hat die »Weltgeschichte« schon in den Jahren ihres Erscheinens keinen großen Erfolg gehabt. Delbrück klagte 1927, er könne zufrieden sein, wenn er nur zehn Prozent des Absatzes erreiche, den der englische Bestseller-Autor Herbert George Wells mit seiner Weltgeschichte erziele10. Delbrück gliederte die einzelnen Teile wie folgt: Der erste Band mit dem Titel »Das Altertum« begann im alten Ägypten und endete im Rom des späten dritten Jahrhunderts. Der zweite (»Das Mittelalter«) reichte von den Ursprüngen des Christentums bis in das 14. Jahrhundert. Der dritte Teil mit dem Titel »Neuzeit bis zum Tode Friedrichs des Großen« nahm seinen Ausgang im abendländischen Schisma des späten 14. Jahrhunderts und führte den Leser bis zum Tod Friedrichs des Großen. Der vierte Band schließlich (»Neuzeit. Die Revolutionsperiode von 1789 bis 1852«) begann mit den Ursprüngen der Französischen Revolution und schloss mit dem Ausgang der 1848er-Revolution in Deutschland, und der fünfte (»Neuzeit von 1852 bis 1888«) betrachtete den Zeitraum von der Wahl Napoleons III. bis zur Thronbesteigung Wilhelms II. In dieser Epocheneinteilung zeigte sich bereits ein wesentlicher Grundgedanke Delbrücks. Er folgte seiner eigenen Idee, die alle Ereignisse, Strömungen und Völker in die Be7 Die Anlehnung an Leopold von Ranke zeigte sich allein schon im Titel »Weltgeschichte«, den Ranke ebenfalls genutzt hatte. 8 Rassow, Delbrück, S. 435. Vgl. auch Christ, Delbrück, S. 182; Ders., Geschichte, S. 89. 9 Harnack, Delbrück, S. 418, Hervorhebungen ebd. 10 Hans Delbrück an Elisabeth Delbrück am 7.  Februar 1927, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Elisabeth Delbrück, Bl. 1 f.

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trachtung mit aufnahm, die einen wie auch immer gearteten Einfluss auf den Verlauf der Menschheitsgeschichte des westlichen Kulturkreises hatten. Alles andere ließ er aus der Darstellung heraus: »Weltgeschichte« – so Delbrück unter Bezug auf Friedrich Schiller in der Einleitung – »ist […] nicht eine Sammlung der Geschichte aller Nationen, sondern die Geschichte der einzelnen Nationen, insofern sie für die Gesamtheit einen Ertrag lieferten, mit anderen in Wirkung und Gegenwirkung getreten sind.«11 Deshalb widmete er die ersten vier Kapitel des ersten Bandes dem alten Ägypten, Babel, Israel und den Persern, bevor er nach 150 Seiten mit den alten Griechen begann. Diese Komplexe sind aus der heutigen Geschichtswissenschaft weitgehend ausgeklammert und werden als eigenständige Wissenschaftsbereiche betrachtet – allein schon wegen der Besonderheit in der Quellenlage. Aber für Delbrück war die Entstehung von Athen nur verständlich in der Herleitung aus der Vorgeschichte im östlichen Mittelmeerraum. Zudem analysierte er die Ursprünge des Judentums. Von diesem Volk sowie den Griechen und Römern schrieb er in Zusammenfassung des gesamten Altertums, dass »von deren geistigem Dasein wir noch heute zehren, so sehr zehren, daß wir sagen können, sie seien ein Teil unseres geistigen Selbst«12. Diese Erkenntnis bewahrte ihn auch vor jeglichem antisemitischem Gedankengut. Hans Delbrück ließ sich zwar nie auf dieses ein, tat sich allerdings auch nicht engagiert im Kampf dagegen hervor13. Mehrfach streifte er bei der Betrachtung des Peloponnesischen Krieges Gedanken zum Ersten Weltkrieg: So schrieb er, ohne direkten Bezug zur Gegen­ wart, vielfach würden Kriege nur durch Misstrauen geschuldeten Vorsichtsmaßnahmen ausgelöst werden. Zudem sei die Demokratie für Athen verhängnisvoll geworden, da es gerade die demagogische Politik gewesen sei, die einen Verständigungsfrieden mit Sparta verhindert und Athen in den Abgrund gerissen habe14. Letzteres liest sich wie Delbrücks Kritik an Deutschlands Weg im Ersten Weltkrieg. Delbrück beendete die Epoche des Altertums nicht, wie heutzutage üblich, mit dem Ende des weströmischen Reiches 476 und den Ereignissen und strukturellen Veränderungen um diese Zäsur herum. Stattdessen bezeichnete er das 11 Delbrück, Weltgeschichte I, S. 8. Ebd., S. 28 f, auch eine Erörterung zur Epocheneinteilung. 12 Delbrück, Weltgeschichte I, S. 133. Auf S. 621 f schrieb er von der »Verschmelzung von jüdischer Religiosität und hellenistischem Denken, das heute alle Kulturvölker der Welt beherrscht«. 13 Illustriert wird Delbrücks politische Haltung zum Judentum und Antisemitismus durch eine Äußerung im Hinblick auf die »Protokolle der Weisen von Zion«. Eine Zeitung zitierte ihn im Zusammenhang mit seiner ablehnenden Haltung gegenüber der Idee einer kollektiven Protesterklärung der Wissenschaftler mit den Worten: »Die Wissenschaft kann nur auf wissenschaftlichem Boden kämpfen, mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens.« Das Pamphlet sei einmal wissenschaftlich widerlegt worden und damit sei es für die Wissenschaft erledigt (»Zwei berühmte deutsche Gelehrte über die ›Protokolle der Weisen von Zion‹«, in: unbekannte Wiener Zeitung, vom 15. April 1926, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 88a). 14 Delbrück, Weltgeschichte I, S. 256 f, 278 f.

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Christentum und die Germanen als die zwei Kernelemente, die das Mittelalter prägten, sodass er deren wirkmächtiges Eingreifen in die Weltgeschichte ab dem Ende des dritten Jahrhunderts als den entscheidenden Epochenwandel begriff15. Delbrück folgte dabei keiner Vorstellung, dass Jesus in der überlieferten Form als Person gelebt habe. Das Wesentliche sah er in dessen Wirkung und Rezeption. Wichtig war für ihn die bereits im Judentum angelegte und dann im Christentum ausgeprägte Trennung von Staat und Kirche. Da im Christentum alle Menschen vor Gott gleich sind, sah er darin ein demokratisches Element. »Die christliche Religion, so wie sie in die Weltgeschichte eintritt, stellt also nicht bloß ein persönliches Verhalten des Menschen zu Gott dar, sondern sie ist auch die Reaktion des edelsten Freiheitsbewußtseins der Persönlichkeit gegen die Tyrannei des Universalstaates, der zugleich der Vertreter eines bestimmten, intellektuell absurden und sittlich inferioren, geradezu widersittlichen Religionssystems ist.«16

Gleichwohl sah Delbrück in der christlichen Kirche als einer zentralen Institution der mittelalterlichen Welt auch Unzulänglichkeiten, die er scharf analysierte: Die Radikalisierung der Kreuzzüge sah er als ein Produkt ihrer selbst: Im Grunde sei es mit der Zurückdrängung des Islam um die universale Oberherrschaft des Papsttums gegangen. Da die weltlichen Fürsten hierfür nicht zu gewinnen gewesen seien, habe Urban II. überirdische Ziele formuliert. Die Folge sei gewesen, dass ihm das Unternehmen entglitten sei, da »die Kräfte, die er aufgeworfen hatte, […] ihrem eigenen inneren Gesetz [folgten]. Das Ziel, das man sich setzt, verliert den politischen Charakter, verliert damit jede Rationalität, und sechs Generationen lang geht ein unermeßlicher Aufwand dahin für ein mystisches Phantom.«

Wie auch in seiner Kritik an Erich Ludendorff im Ersten Weltkrieg plädierte Delbrück hier für die Einheit von Kriegsführung und Politik, da sich seiner Ansicht nach Kriege ohne politisch-strategischen Überbau stets radikalisierten und dann auch häufig nicht erfolgreich verliefen17. Die Germanen als die zweite bestimmende Kraft des Mittelalters hätten das Christentum zunächst nur äußerlich aufgenommen im Zuge ihres Eintritts in 15 Ebd., S. 635–671. Gleichwohl bezeichnete Delbrück auch andere Elemente, die das Mittelalter vom Altertum abgrenzten: Etwa die Trennung der staatlichen Funktionäre in bürgerliche und militärische durch Kaiser Gallienus um 260, die dem Altertum fremd gewesen sei und sich bis heute erhalten habe (ebd., S. 669). Oder die Trennung von Land und Stadt im Mittelalter. Die Antike sei eine Städte-Kultur mit dem Land als Anhängsel gewesen, im Mittelalter sei der herrschende Stand agrarisch geprägt gewesen. Hiervon hätten sich die Städte schließlich als eigenständige politische, rechtliche und wirtschaftliche Form emanzipiert, um der gewerbe- und handeltreibenden Bevölkerung gerecht zu werden (Delbrück, Weltgeschichte II, S. 570–591). 16 Delbrück, Weltgeschichte II, S. 3–31, Zitat S. 19. 17 Ebd., S. 536. Zu Delbrücks Grundkonzeption des Zusammenhangs von militärischer und politischer Strategie siehe Kapitel V.1.

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die Kulturgemeinschaft und erst sehr viel später eine innere Verbindung hierzu entwickelt18. Sie seien besonders gekennzeichnet durch ihr Gefolgschaftswesen. Mit der Ausbildung der Kriegsverfassung im Mittelalter sei das Lehnswesen mit seinem Vasallentum entstanden, weshalb die persönliche Beziehung eines Fürsten zu seinen Kriegern das entscheidende Element für die Kriegsstärke geworden sei. Hierdurch habe sich der Adel entwickelt, der aufgrund von Kämpfen innerhalb der Dynastien der Könige zur Macht aufgestiegen sei und der Herrschaft der Monarchie dadurch Grenzen gesetzt habe19. Diese Idee der kriegerischen Gefolgschaft fand sich bei Delbrück auch in seinen (tages)politischen Betrachtungen zum Kaiserreich und Weltkrieg. Deshalb klagte er etwa so sehr über den endgültigen Bruch dieses Gefolgschaftswesens zwischen Kaiser und Offizierkorps 1918. Dass es sich um eine für Deutschland sehr wirkmächtige Vorstellung handelte, zeigte sich im Übrigen nach 1933 sehr deutlich an der Instrumentalisierung durch die Nationalsozialisten in Form des Führerprinzips. Delbrück stellte sich bei der Betrachtung des Mittelalters deutlich gegen eine in seiner Zeit weit verbreitete nationalistisch gefärbte Geschichtsschreibung: »Das deutsche Volk ist weder im Namen, noch in der Sache etwas Naturgegebenes gewesen, sondern ein Produkt der Geschichte.«20 Er interpretierte die Reichsgründung von 919 nicht wie die von 1871 als eine von der nationalen Sehnsucht des Volks betriebene, sondern als ein bloßes »Abkommen der fünf Herzöge unter Zustimmung ihrer Vasallen zum Zweck der Befestigung der politischen Ordnung«. Das deutsche Volk sei aus dem Staat erwachsen, und nicht umgekehrt21. Delbrück betonte, dass es im Mittelalter keinen mit der Neuzeit vergleichbaren Staatsbegriff gegeben habe und führte dies am Beispiel der Teilung des Frankenreichs nach Karl Martells Tod 741 aus – ein Vorgang, der ihm bewies, dass eine Herrschaft als Familienbesitz betrachtet wurde22. Das Gleiche galt ihm für den Vertrag von Verdun 843, der für ihn nicht die Geburtsstunde Deutschlands darstellte: Der Dreiteilung des Reichs habe kein politisch nationaler Gedanke zu Grunde gelegen, sondern ein schier dynastisches Interesse. Das Reich sei durch die Dynastie zusammengebracht und -gehalten worden – als sie zerfiel, sei auch das Reich zerfallen23. Erst im Übergang vom Erb- zum Wahlrecht beim Tod Heinrichs I. 936 und der Krönung Ottos I. des Großen, die ein Ende der Teilungen des Reichs durch Vererbung zur Folge hatte, sah Delbrück einen entscheidenden Vorgang in der Werdung des deutschen Volks: »Nicht mehr die Dynastie bildet das Reich, sondern das Reich wünscht sich 18 Delbrück, Weltgeschichte II, S. 159–186. 19 Delbrück, Weltgeschichte I, S. 635–671, Band II, S. 82, 187–208. Zum germanischen Gefolgschaftswesen vgl. Schulze, Grundstrukturen I, S. 39–54. 20 Delbrück, Weltgeschichte II, S. 571. Ähnlich auch auf S. 398 f, wo Delbrück es als einen Urfehler bezeichnet, von einer deutschen Nation auszugehen. Diese hätte sich als solche überhaupt erst entwickeln müssen im Laufe der Jahrhunderte. 21 Ebd., S. 571. 22 Ebd., S. 262–278. 23 Ebd., S. 325 f.

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eine Spitze zu geben.« Die Geburtsstunde des deutschen Reichs war für ihn der 10. August 955, als sich in der Schlacht auf dem Lechfeld erstmals – wenngleich auch nur für kurze Dauer – die später Deutschland bildenden Völkerschaften vereint hätten zur Abwehr der Ungarn24. Mit dem Ende der Stauferzeit 1250 befand sich nach Delbrück das Reich auf einem Tiefpunkt, von dem es sich bis 1806 nicht mehr erholte, vielmehr stets durch Notbehelfe fortgeführt wurde. Bezogen auf die Amtsführung Rudolfs von Habsburg seit 1273 schrieb er: »Das bleibt von jetzt an die Signatur des deutschen Königtums. Der König soll Vertreter der Reichspolitik sein, aber er vertritt sie nur, soweit sie sich mit seinem Hausinteresse deckt.«25 Es sei schließlich eine »Wohltat« der Franzosen gewesen, 1803/1806 die »verfaulte Reichsordnung« aufzulösen26. Die Neuzeit grenzte er vom Mittelalter ab unter Verweis auf zahlreiche Strukturelemente. Unter anderem seien seit dem 12. Jahrhundert regelmäßige Geldsteuern aufgekommen, sodass der Staat sich zunehmend nicht mehr auf persönlichen Leistungen, sondern Steuern habe aufbauen können27. Auch die Wiederentdeckung der antiken Bildung in der Renaissance, der Humanismus und der Beginn exakter Wissenschaften, der mit dem Einsetzen kritischen Denkens in Zusammenhang mit der Emanzipation vom traditionellen Glauben gestanden habe, waren Entwicklungen, die für Delbrück den Beginn der Neuzeit markierten28. Vor allem die Weiterentwicklung des Kriegswesens sah Delbrück als Ausdruck der Epochenwende. Das war etwa die Begrenzung des Söldnertums und die Einführung einer Steuerverfassung für ein stehendes Heer29. In den Burgunderkriegen der 1470er Jahre habe sich der Niedergang der mittelalterlichen Kampfweise deutlich gezeigt: Karl der Kühne habe ein nach mittelalterlichen Maßstäben vollendetes Heer ins Feld geführt mit Rittern und Schützen als Einzelkämpfer. Die Schweizer dagegen formierten nach Delbrück als diszi­pliniertes Bürgeraufgebot taktische Körper, wodurch sie den Ritterheeren überlegen gewesen seien  – das Aufkommen von Feuerwaffen hätte beim 24 Ebd., S. 367–405, Zitat S. 368. Delbrück vertrat diese Kernthesen auch im Radio in einer Vorlesungsreihe mit dem Titel »Bilder aus der deutschen Vergangenheit«. Den Vorträgen gab er Überschriften wie »Der Ursprung des deutschen Volkstums« oder »Das deutsche Volkstum ist erwachsen auf dem Grund der politischen Einheit des deutschen Reichs« (Hans Delbrück an den Radiosender Funk-Stunde am 15. April 1926, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Funk-Stunde, Bl. 3). Hier wird erstens deutlich, dass sich Delbrück modernen Medien öffnete und dass er zweitens versuchte, möglichst viele Menschen zu erreichen. 25 Delbrück, Weltgeschichte II, S. 796. 26 Delbrück, Weltgeschichte IV, S. 322. 27 Delbrück, Weltgeschichte III, S. 245–270. 28 Ebd., S. 97–122. Zeichen für den Epochenwandel sah Delbrück unter anderem auch in der Annäherung Frankreichs unter Franz I. an das Osmanische Reich während der Österreichischen Türkenkriege. Damit sei die christliche Einheit, wie sie sich in den Kreuzzügen des Mittelalters gezeigt hätte, zu Ende gegangen (ebd., S. 185–226). 29 Ebd., S. 37–52.

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Niedergang des Rittertums hingegen keine ausschlaggebende Rolle gespielt30. Den hauptsächlichen Charakter der Kriege bezeichnete Delbrück für das ausgehende Mittelalter als rein dynastisch. Dem habe sich das Zeitalter der Religionskriege angeschlossen, das mit dem Westfälischen Frieden von 1648 zu Ende gegangen sei. Im spanischen Erbfolgekrieg (1701–1714) sah er erstmals das wirtschaftliche Moment als ausschlaggebend. In späteren Zeiten habe sich dann der nationale Gedanke als der wichtigste Kriegsgrund entwickelt31. Hans Delbrück speiste sein Staatsideal (siehe hierzu Kapitel III.2.a)) in hohem Maße aus dem Protestantismus. Daher behandelte er die Reformation als wichtigen Komplex in seinem historischen Werk, wobei Delbrücks Sympathie als gläubiger und praktizierender Protestant32 für Martin Luther deutlich erkennbar ist. Indem Luther auf der geistigen Grundlage des Humanismus die Scheidung zwischen Geistlichen und Laien aufgehoben habe, habe er ein politisches Programm formuliert, nämlich die Loslösung Deutschlands vom römischen Papsttum. Deshalb sei aus dem religiösen Kampf ein nationaler geworden. Gleichwohl warnte Delbrück in dem Zusammenhang erneut vor einer falschen Nationalgeschichtsschreibung: »Das deutsche Nationalgefühl ist ein Erzeugnis der Geschichte; es ist durchaus abwegig, sich vorzustellen, daß es von je ein deutsches Volk gegeben habe, das sich aus den Trümmern des Karolingischen Reiches einen deutschen Staat gebildet habe. Es war umgekehrt: große Herrscher schufen aus einer Gruppe, nicht ausschließlich, aber vorwiegend germanischer Stämme einen Staat, und auf dem Boden dieses Staates und seiner Großtaten entwickelte sich ein deutsches Nationalgefühl.«33

Das sich unter dem Großen Kurfürsten entwickelnde Preußen charakterisierte Delbrück wie folgt: »Es entbehrt jeder natürlichen Grundlage, ist eine rein dynas­tische Schöpfung und wird zusammengehalten durch die Armee. Es ist seiner Natur nach ein kriegerischer Staat.«34 – In dieser Einschätzung liegt der wesentliche Grund, weshalb sich Delbrück nach 1918 für eine Auflösung Preußens aussprach (siehe hierzu Kapitel III.2.b)).

30 Ebd., S. 73–96. 31 Ebd., S. 533. 32 Delbrücks Frau Lina schrieb später, er sei religiös, protestantisch, aber nicht schwärmerisch gewesen und habe dabei einen frommen Sinn gepflegt (Aufzeichnung Lina Delbrücks, Abschrift in: BArch N 1017/70, Delbrücks Leben, Bd. VI 1906, S. 1–13). Bisweilen hat Delbrück auch selbst ein Tischgebet gesprochen (Hans Delbrück an seine Frau Lina am 18. Mai 1917, Abschrift in: BArch N 1017/80, Delbrücks Leben, Anhang Bd. II 1917, S. 255 – hier in den Tagen des Soldatentods seines Sohnes Waldemar). Illustriert wird Delbrücks Gläubigkeit auch durch das Glückwunschtelegramm des Grunewalder Pfarrers an Delbrück zu dessen 80. Geburtstag (Hermann Priebe an Delbrück am 11. November 1928, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 7, Bl. 83). 33 Delbrück, Weltgeschichte III, S. 177. 34 Ebd., S. 467.

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In dem der Revolutionsära von 1789 bis 1848 gewidmeten vierten Band stellte Delbrück dar, wie die aus dem Mittelalter hergebrachte alte Staats- und Gesellschaftsordnung endgültig zerbrach, weil sie den Ansprüchen der Zeit nicht mehr genügte35. Delbrück ging näher ein auf die Ideale der Französischen Revolution, die er gemäß seiner konservativen Verortung kritisch einordnete. Die erstmals formulierten Menschen- und Bürgerrechte seien »entweder leer oder führen zu Widersinnigkeiten«: »Eine Grenze zwischen dem Ich und der Gesamtheit principiell festzustellen, ist ebenso unmöglich, wie eine Grenze festzustellen zwischen dem positiven und negati­ ven Pol eines Magneten. Es sind immer beide Sätze gleich wahr; der Mensch ist frei und er ist unfrei; die Menschen sind gleich und sie sind ungleich; der Mensch hat das ewige Recht, seine Freiheit zu verteidigen und der Inhaber der Staatsgewalt hat das ebenso ewige Recht, ihm zu befehlen und ihn zu verwenden und ihn sogar zu opfern.«36

Diese Sätze kennzeichnen deutlich, wie sehr seine Geschichtsschreibung von Hegel und dem Denken in Polarität geprägt war. Zugleich zeigen sie, wie wenig Delbrück das moderne, westlich-liberale Gedankengut teilte und einem konservativen Staatsverständnis huldigte. Er betrachtete »den Staat als höchste KulturLeistung einer Nation. Hier ist nichts von Staats-Vergottung, sondern der Staat wird in dieser Idee zum Gegenstand unausgesetzter Kulturkritik.«37 Die umfassenden Auswirkungen der Französischen Revolution auf Europa lagen für Delbrück in der neuen Art, wie das Volk in die Staatsführung mit einbezogen wurde. Der alte Staatsbegriff des römischen Reichs sei durch den Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte verändert worden zum Obrigkeitsbegriff. Die dann erfolgte Auflösung der Feudalität habe den Staatsbegriff wiederhergestellt. Damit habe der Freiheitssinn sich neue Wege zur Sicherung des Rechts des Individuums gesucht und in den Menschen- und Bürgerrechten gefunden38. Diese Entwicklung sei einhergegangen mit einer Umwälzung im Kriegswesen: Durch die Einbeziehung des Volks in die Armee durch die allgemeine Wehrpflicht seien die Soldaten durch das idealistische Moment viel stärker gebunden an einen Feldzug, was allerdings eine Radikalisierung des Krieges mit sich gebracht habe39. Für Deutschland habe sich dies noch ganz anders ausgewirkt, denn durch die Einführung der Volksheere habe sich der preußische Gedanke weiterentwickelt zum deutschen Gedanken40. In diesen Zusammenhang ordnete Hans Delbrück auch den »Aufruf an mein Volk« des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. vom 17. März 1813 ein: So sehr ihn 35 36 37 38 39 40

Delbrück, Weltgeschichte IV, S. 314–346. Ebd., S. 65 f. Rassow, Delbrück, S. 437. Delbrück, Weltgeschichte IV, S. 66 f. Ebd., S. 217–245. Ebd., S. 380–399.

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eine spätere Geschichtsschreibung auch überhöht habe, habe er doch das Programm für die preußisch-deutsche Geschichte des gesamten Jahrhunderts enthalten. Denn ein Volk, das derart angerufen werde, müsse früher oder später an der Regierung beteiligt werden. Zudem sei Preußen in diesem Moment sein deutscher Beruf vorgezeichnet worden41. Die preußischen Reformer Stein, Hardenberg, Scharnhorst, Gneisenau und Blücher hätten deshalb als Endziel eine Volksvertretung angestrebt, denn indem der neue Staatsgedanke jeden Bürger in seinen Dienst gestellt habe, hätten die Bürger eine Sicherheit dafür gebraucht, dass das Staatsziel mit ihrem Willen übereinstimme. Insofern sei die Volksvertretung das Komplement zur allgemeinen Wehrpflicht gewesen42. Ganz ähnliche Gedanken brachten Delbrück auch im Ersten Weltkrieg zu seiner Forderung nach einer Wahlrechtsreform. Weiter schrieb er, »das wahre ›Volk‹ sind [sic] nicht die Masse, sondern die in den Massen wirkenden großen Persönlichkeiten«. Der Geist des deutschen Volkes sei bei der preußischen Fahne gewesen, die Masse hingegen bei Napoleon43. Diese Unterscheidung von Geist und Masse brachte Delbrück auch an anderer Stelle in seinen politischen Arbeiten, wenn er etwa Deutschlands Politik im Ersten Weltkrieg kritisierte: Ihm zufolge mangelte es an großen Persönlichkeiten, die den Staat gegen den Volkswillen zu einem Verständigungsfrieden geführt hätten. Eine weitere Paralle zum Ersten Weltkrieg zeigte sich bei Delbrücks Betrachtung der Revolution von 1848: Da sich der Wille des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. in direktem Gegensatz zur Zeitströmung befunden habe, sei die Revolution »eine offensichtliche historische Notwendigkeit« gewesen44. Diese Delbrücksche Argumentation ähnelt sehr seiner Einschätzung der deutschen Novemberrevolution von 1918, die seiner Meinung nach durch rechtzeitige innenpolitische Reformen und ein Streben nach einem Verständigungsfrieden hätte vermieden werden können. Die Beschäftigung mit der deutschen Frage steht im vierten und vor allem im fünften Band bei Delbrücks »Weltgeschichte« im Mittelpunkt, wenngleich er in der Darstellung weiterhin alle wichtigen Entwicklungen im Westen disku­ tierte. Für Frankreich konstatierte er trotz häufiger Dynastie- und Staatssystem­ wechsel eine konstante Unzufriedenheit des Volks mit seiner Weltstellung, woraus sich seine zahlreichen außenpolitischen Aktivitäten in Nordafrika, in Italien, in Deutschland, Mexiko und anderswo erklärten. Der russische Staat wiederum, unter Zar Nikolaus I. (1825–1855) »das Haupt des konservativen Europa«, sei gekennzeichnet gewesen weniger durch eine Angst vor revolutionärem Aufruhr der Unterschicht, die hierfür ohnehin zu stark gefesselt gewesen 41 Ebd., S. 448. 42 Ebd., S. 576–601. 43 Ebd., S. 460. 44 Ebd., S. 728. Ganz ähnlich schrieb er auch in Zusammenhang mit dem Spanischen Erbfolgekrieg Anfang des 18. Jahrhunderts: »Das Wesen der Monarchie beruht auf der Identität des staatlichen und des dynastischen Interesses.« Bei einer Trennung der beiden sei die Monarchie auf einem gefährlichen Weg (Delbrück, Weltgeschichte III, S. 531).

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sei, als vielmehr durch eine Bedrohung des zarischen Regiments durch die gebildete Oberschicht45. Erstmals ausführlich behandelte Delbrück im fünften Band die Vereinigten Staaten von Amerika, die seiner Auffassung nach erst im 19. Jahrhundert zu internationaler Bedeutung aufgestiegen seien46. Damit zeigt sich, dass D ­ elbrück mitnichten eine europäische Geschichte schrieb47, sondern eine des westlichen Kulturkreises. Die Bundesverfassung ordnete er als sehr gelungen ein, nur die Frage der Souveränität der Einzelstaaten gegenüber der Zentralmacht sei nicht bis zum letzten Ende geklärt worden. Dies habe Friktionen verursacht, die zum Bürgerkrieg der Jahre 1861–1865 geführt hätten. Dieser Krieg habe in der Art seiner Ausprägung Züge längst vergangener Epochen gezeigt und zugleich völlig neue Erscheinungen in der Kriegsgeschichte, wie sie sich später in der Kriegsführung von Moltke und besonders im Ersten Weltkrieg voll ausgeprägt hätten48. Preußen habe nach dem Scheitern der Nationswerdung 1848 kein positives Ziel mehr gehabt und an internationaler Bedeutung verloren49. Erst im Zuge des preußischen Verfassungskonflikts habe sich durch die Berufung Bismarcks 1861 eine völlig neue Entwicklungsmöglichkeit ergeben, denn der neue Ministerpräsident habe »erkann[t], daß der deutsche Gedanke der natürliche und gegebene Bundesgenosse des preußischen Staatsgedankens sei.«50 Bismarck habe dann die Konfrontation mit Österreich gesucht, um die Frage der Vorherrschaft in Deutschland mittels einer Kriegsentscheidung zu klären51. Der 1867 geschaffene Norddeutsche Bund sei der erste Großstaat überhaupt mit allgemeinem und gleichem Wahlrecht und Partei-, Presse- sowie Versammlungsfreiheit gewesen. Die neue Verfassungsform habe die Regierungen mit dem neuen Element einer Volksvertretung verbinden sollen52. Das 1871 geschaffene Deutsche Reich sei die Vormacht in Europa geworden, was in den übrigen Völkern die Angst vor einer neuen napoleonischen Ära geweckt habe. Darum sei Bismarcks vorrangiges Ziel eine Politik der Beruhigung 45 Delbrück, Weltgeschichte V, S. 3–19, Zitat S. 11. 46 In der Einleitung zu Band I schrieb Delbrück, bis ungefähr 1900 müsse man »die Amerikaner als Europäer [ansehen]«. Mittlerweile aber sei Amerika »nicht mehr eine bloße Dependenz von Europa.« (Delbrück, Weltgeschichte I, S. 28). 47 Diese Sichtweise findet sich beispielsweise bei Thomas, Geschichtsschreibung, S. 196. 48 Delbrück, Weltgeschichte V, S. 81–107. An dieser Einschätzung des Bürgerkriegs hat die moderne Forschung im Grundsatz nicht viel verändert (vgl. Keegan, Bürgerkrieg). 49 Delbrück, Weltgeschichte V, S. 35–56. 50 Ebd., S. 124. 51 Ebd., S. 134–154. 52 Ebd., S. 226–243. Die römische Verfassung, zu der Delbrück eine direkte Parallele zog im Hinblick auf die Bismarcksche Reichsverfassung habe »sich als die wirksamste von allen Verfassungen der Welt erwiesen. Denn in aller ihrer Irrationalität und trotz nie aufhörender innerer Friktionen und Unruhen ist es in dieser Verfassung möglich geworden, die beiden Grundelemente allen staatlichen Daseins, Aristokratie und Demokratie, Autorität und Freiheit miteinander ins Gleichgewicht zu setzen und auszubalancieren.« (Delbrück, Weltgeschichte I, S. 368).

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und Mäßigung gewesen. Derweil habe sich in Russland mit dem Panslawismus eine neue Form des russischen Patriotismus entwickelt, der alle slawischen Völker vereinen wollte, gegen den Westen. Stückweise habe sich dieses Gedankengut dem russischen Staatsgedanken angenähert53. Gleichwohl schloss Delbrück Russland nicht grundsätzlich von seinem Bild der abendländischen Einheit aus: Seit Peter dem Großen habe Russland zu Europa dazu gehört. Es sei nur ganz anders geprägt durch die 200jährige Abhängigkeit von Asien, die griechische Kirche und das Fehlen der Feudalität, was zu einem immerwährenden Ringen zwischen westlichen und moskowitischen Kräften führe. Der aktuelle (bezogen auf die Bolschewiki) Gegensatz zu »Kultur-Europa […] ist vielleicht etwas Vorübergehendes«54. Bismarck hat sich nach Delbrück zunehmend in Widersprüche verstrickt in seinen außenpolitischen Aktivitäten. Auch innenpolitisch sei er schließlich an einem toten Punkt angelangt, an dem er nicht mehr mit dem Reichstag zu­ sammenarbeiten konnte, was ihn in den 1880er Jahren zu Erwägungen eines Staatsstreichs geführt habe. Notwendig sei hingegen der Beginn einer deutschen Kolonialpolitik gewesen (siehe hierzu Kapitel II), die man begonnen habe gegen den Willen Bismarcks und großer Teile der öffentlichen Meinung. Zur kurzen Regierungszeit Friedrichs III. 1888 bemerkte Delbrück, dass der Handlungsspielraum des Kaisers häufig überschätzt werde. Zwar sei er trotz eines ausgeprägten fürstlichen Selbstgefühls durchaus liberal und national gesinnt ge­ wesen, aber von einer vertanen Chance könne man kaum sprechen55. Aufschlussreich ist Delbrücks Betrachtung der Sozialdemokratie: In den 1840er Jahren habe sich zunehmend eine Trennung zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft entwickelt aufgrund der in der Industrialisierung angelegten Scheidung des Besitzes der Produktionsmittel von der Arbeitskraft. Dieser neue Stand der Arbeiter habe wenig Aussicht auf wirtschaftlichen Aufstieg besessen. Diese Problematik sei besonders in Deutschland unter dem Aspekt der klassischen Philosophie betrachtet worden. Dementsprechend habe die deutsche soziale Bewegung ihre Wurzeln nicht im Proletariat, sondern bei oppositionellen Intellektuellen, die im Arbeiterstand eine Waffe für die Revolution sahen. Insofern seien Marx, Engels und Lassalle zwar Gelehrte gewesen, hätten sich aber als Demagogen entpuppt, da die Theorien einer Prüfung nicht standhielten. Vor allem verwarf Delbrück vor dem Hintergrund seiner »Weltgeschichte« die marxistische Theorie von der Geschichte als Klassenkampf. Materialistische Beweggründe seien mitnichten durchweg wichtiger gewesen als Moral, Religion oder Ideologien. Der Ständekampf sei ein erheblich bedeutenderes Element in der Weltgeschichte. Dabei sei eine scharfe Unterscheidung zu machen zwischen Ständen mit ihrem politisch-sozialen Charakter einerseits und Klassen mit wirtschaftlichen Interessen andererseits. Die Wahrheiten, die der Sozialismus 53 Delbrück, Weltgeschichte V, S. 329–358. 54 Delbrück, Weltgeschichte II, S. 755–774, Zitat S. 755 und Band III, S. 550–574. 55 Delbrück, Weltgeschichte V, S. 380–423, 446–470.

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enthalte, seien auch von Konservativen längst formuliert worden. Deren Lösung sei aber die Vorstellung, dass Sitte, Recht, Religion und Staat die Wirtschaft zu zähmen hätten. Darum liege die Leistung des Sozialismus im Politischen, nämlich der Enthusiasmierung und Politisierung der Arbeiterschaft, und nicht im Wissenschaftlichen: »Die Wissenschaft gibt sich stets selbst auf, wenn sie zum Schildknappen eines außer ihr liegenden Zwecks wird. Ihr Zweck darf nur in ihr selbst liegen.«56 Weiter schrieb er, die Arbeiterbewegung habe sich im modernen Deutschland mittlerweile von ihrer Ideologie emanzipiert und »zu einer positiven, staatserhaltenden Partei umgestellt […]. Sie stellt insofern eine große positive Erscheinung der Weltgeschichte dar«57. Eine der beiden Hauptaussagen in Delbrücks »Weltgeschichte« liegt in seinem Konzept des westlichen Abendlands. Er hatte keine europäische Geschichte geschrieben. Richtig ist, dass er mit keinem Wort auf die Geschichte der asiatischen, afrikanischen oder amerikanischen (vor der Kolonialisierung) Völker einging. Er wollte bewusst keine Globalgeschichte schreiben, sondern begriff – gemäß dem allgemeinen Verständnis seiner Zeit  – die westliche Zivilisation als das Maß der Dinge, was für ihn die neueste Geschichte von Nordamerika mit einschloss. Es war innerhalb seines Ansatzes nur folgerichtig, wenn er alle Völker und Ereignisse, die keinen unmittelbaren Einfluss auf die Entwicklung des christlich geprägten Westens hatten, aus seiner Darstellung ausschloss. D ­ elbrück zog aus dieser seiner Interpretation der Weltgeschichte den politischen Schluss, dass alle Völker vereint seien und sich der unterschiedliche Charakter der europäischen Völker durch die verschiedene Mischung des jeweiligen Anteils des germanischen und romanischen Elements erkläre58. »Die neuere Geschichte beruht auf dem dauernden Nebeneinander vieler Nationen, die wohl eine höhere Einheit bilden, sich aber zugleich unausgesetzt gegenseitig bekämpfen und beeinflussen.«59 Dieses Verständnis von der Einheit des Abendlandes führte ihn immer dazu, die Gemeinsamkeiten zu betonen und am Ideal einer Aussöhnung festzuhalten. Den sichtbarsten Ausdruck gewann dieses Ideal sicherlich in seiner Verständigungspolitik im Ersten Weltkrieg. Aber auch für die Jahre der Weimarer Republik sah er nicht kurzfristig in einer Revanche ein politisches Ziel, sondern in einer Aussöhnung, die allerdings als Vorbedingung eine Revision des Versailler Vertrages enthalten müsste.

56 Ebd., S. 359–379, Zitat S. 376. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik bei Delbrück selbst siehe Kapitel II. 57 Delbrück, Weltgeschichte III, S. 253. Im Mai 1919 setzte sich Delbrück in den »Preußischen Jahrbüchern« mit den Vor- und Nachteilen einer sozialistischen Wirtschaftsordnung auseinander. Auffällig ist, wie sehr er dabei um Objektivität bemüht war und auch mögliche positive Auswirkungen einer Sozialisierung erörterte (Hans Delbrück: »Sozialisierung und Arbeiterräte«, in: PJb 176 (1919), S. 313–321). 58 Delbrück, Weltgeschichte II, S. 367–405. 59 Delbrück, Weltgeschichte IV, S. 512.

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Den Ansatz einer umfassenden Weltgeschichte mit der Entwicklung eines Konzepts vom »Westen« hat im deutschsprachigen Raum jüngst Heinrich August Winkler in seiner »Geschichte des Westens« prominent vertreten. Sein Ausgangspunkt ist normativ bei den westlichen Werten, die aus der Amerikanischen und Französischen Revolution des späten 18. Jahrhunderts hervorgegangen sind. Diese Werte sind für Winkler vor allem die universellen Menschenrechte sowie rechtsstaatliche Prinzipien wie Gewaltenteilung und Demokratie. Deshalb konzentriert er sich in seinem vierbändigen Werk hauptsächlich auf die Neueste Geschichte seit der Französischen Revolution und sucht in der Antike und dem Mittelalter lediglich die wichtigsten vorauslaufenden Elemente60. In anderen Teilen der Forschung hat der Begriff des »Westens« in jüngerer Zeit seine Stellung als Deutungsmuster verloren, seine Strahlkraft in öffentlichen Debatten hält aber unvermindert an61. Winkler unterscheidet sich deutlich von Delbrücks Konzept des Westens, der nicht nur, weil er 100 Jahre früher gelebt hat, die Schwerpunkte der Epochen anders setzte. Delbrück ging es letzten Endes durchaus um eine echte »Weltgeschichte«, die alle Epochen, die den Westen geprägt haben, gleichwertig behandelt. Die abendländische Einheit machte für Delbrück nicht wie für Winkler die Idee der westlichen Werte aus, die er nur als eine Etappe begriff – gerade auch in der Abgrenzung zum deutschen Weg im Kaiserreich, der nicht durchweg den Idealen der Französischen Revolution oder amerikanischen Verfassung folgte. Die Einheit ergab sich ihm vielmehr aus der griechischen und römischen Bildung der Antike (genauer: »der Konstituierung des freien Geistes, des autonomen Denkens«62), dem das Mittelalter beherrschenden Christentum und dem in der Neuzeit entwickelten Staats- und Na­ tionsbegriff, also einem historisch begründeten geistig-kulturellen Zusammenhang. Gleichwohl benutzte Delbrück den Begriff des »Westens« selbst nicht63. Historisch gesehen, hatten sich in Deutschland Konzepte vom »Westen« in der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt, waren aber bereits am Ende desselben Jahrhunderts »more or less forgotten«. Mit Kriegsbeginn 1914 wurden Denkmuster des »Westens« reaktiviert, die dann aber dazu herhalten mussten, im Zuge der geistigen Mobilmachung alles das zu definieren, was »un-German« war64. 60 Winkler, Geschichte I–IV. 61 Vgl. Bavaj / Steber, Vagaries, S. 2. 62 Delbrück, Weltgeschichte I, S. 299. 63 Harrington, Weimar, S. 169, weist darauf hin, dass deutsche Intellektuelle in diesem Zeitalter die Begriffe »Westen«, »Europa« oder »Abendland« nicht trennscharf verwendet haben. Es habe aber eine positive und eine negative Lesart des »Westens« gegeben: Die positive sei verknüpft gewesen mit der lateinisch-christlichen Tradition Europas, die negative mit den Siegermächten im Ersten Weltkrieg und dem von diesen Staaten konzipierten und von Deutschland als demütigend empfundenen Versailler Vertrag. 64 Bavaj / Steber, Vagaries, S. 8. Demnach konnte das deutsche Konzept eines »Westens«, wie es sich in den 1820er bis 1850er Jahren entwickelt hatte, ganz unterschiedliche Ausprägungen annehmen: Erstens konnte die Einheit von Europa und den USA gemeint sein, zweitens diejenigen europäischen Staaten mit einer liberalen Verfassung, die der Heiligen Allianz gegenüber standen, drittens die USA und Frankreich als revolutionäre Länder oder viertens die

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Die ethnisch aufgeladenen Weltanschauungen, die Ende des 19. Jahrhunderts aufkamen, wie der Panslawismus oder die Ideologie der Alldeutschen, waren dann mit ihren rassisch begründeten Konzepten Alternativen zur Idee eines wie auch immer gearteten »Westens«65. Damit wäre ein Erklärungsansatz auch für Delbrücks Darstellung gegeben: Er lehnte ethnisch und rassisch begründete Vorstellungen stets ab und entwickelte seine Haltung in Abgrenzung zu den Alldeutschen und Fanatisten. Er warnte immer wieder grundsätzlich vor der einseitigen Betonung des Nationalen. Indem er stets von der geistigen Einheit des Abendlandes ausging, konnte er das Nationale selbstbewusst vertreten, ohne dabei eine Herabsetzung anderer Nationen zu betreiben, wie er beispielsweise zur Jahrhundertfeier auf dem Hohen Meißner 1913 formulierte: »Das Bewußtsein der umfassenden Gemeinschaft aller Kulturvölker ist das rechte Gegenmittel gegen die Verhärtungen des Nationalismus, die den Einzelnen ihre Knechtschaft auferlegen wollen, und dadurch die beste Hilfe für die Behauptung des Rechts der Individualität, der Persönlichkeit.«66

Und kurz nach dem Krieg, Anfang 1919, schrieb er, »in den tiefer gebildeten nationalen Kreisen Deutschlands« sei es in früheren Zeiten festes Programm gewesen, dass alle Nationen »Glieder einer größeren Kulturgemeinschaft« seien. Es sei ein »Fehler der letzten Generation bei uns und bei den anderen Völkern [gewesen], das mehr oder weniger vergessen zu haben.«67 Auch 1925 äußerte sich Delbrück in der Weihnachtsausgabe des »Neuen Wiener Tagblatts« zu diesem Thema: Er zeigte sich voller Hoffnung für die Zukunft, nicht nur wegen positiver Zeichen der Zeit, sondern auch aufgrund seiner historischen Betrachtungen. Er kritisierte die in Deutschland zu sehr auf die Nationalstaatswerdung fixierte Geschichtsschreibung und mahnte, dass sich der Reichtum der abendländischen Völker nicht in einem Nationalstaat erschöpfe. Trotz aller Kriege habe man immer eine große geistige Einheit gebildet68. Was er politisch forderte, war die Umsetzung des »Gleichgewichtsgedankens von der Gleichberechtigung aller Kulturnationen«69. Vor diesem Hintergrund gewinnen auch seine im Kaiserreich formulierten Forderungen nach einer deutschen Welt- und Kolonialpolitik eine andere Bedeutung: Es ging ihm nicht um einen machtpolitisch

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romanisch-germanische Zivilisation (Ebd., S. 11). Zur Frage, in welchen Zusammen­hängen und mit welchen Deutungsabsichten deutsche Intellektuelle den Begriff des »Westens« in verschiedenen Epochen benutzt haben, vgl. den neuesten Sammelband Bavaj / Steber, History. Vgl. auch die einführenden Bemerkungen bei Bavaj, Exploration. Zu den Forschungsproblemen des Europa-Begriffs bereits im Hohen Mittelalter vgl. Borgolte, Europa, S. 337–392. Bavaj / Steber, Vagaries, S. 14 f. Hans Delbrück: »Nationale Aufgaben unserer Zeit«, in: Freideutsche Jugend. Zur Jahrhundertfeier auf dem Hohen Meißner 1913, Sonderdruck Jena 1913, in: BArch N 1017/1. Hans Delbrück: »Waffenstillstand und Friede«, in: PJb 175 (1919), S. 422–428, Zitat S. 427 f. Hans Delbrück: »Das neue Verhältnis der Staaten und Völker«, in: Neues Wiener Tagblatt, 59. Jg., Nr. 354 vom 25. Dezember 1925, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 89b. Mette, Politiker, S. 178.

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motivierten imperialistischen Expansionismus, sondern er folgte der Absicht, Völker anderer Kulturkreise zu bereichern. Darin zeigte sich das zeittypische Sendungsbewusstsein. Selbstlos war dieses Konzept freilich nicht; Delbrück formulierte auch in seiner »Weltgeschichte« mehrfach, dass ein Staat ein Ziel brauche. Im Zusammenhang mit dem Niedergang Roms im 3. Jahrhundert schrieb er: »Pessimismus entsteht, wo kein Ziel mehr erstrebt wird. Im Streben erhebt der endliche Geist sich über sich selbst zur Unendlichkeit; strebt er nicht mehr, so überkommt ihn der ganze Jammer des Bewußtseins seiner Endlichkeit.«70 Die zweite hauptsächliche Lehre, die Delbrück aus der »Weltgeschichte« zog, war der Primat der Politik bzw. die Mahnung zur Mäßigung. Immer wieder durchzieht Delbrücks Darstellung die Warnung vor einem »Idealismus, der in den Fanatismus verzerrt ist«71. Oder auch: »Der Patriotismus hebt den Geist, aber er legt ihm auch gar zu leicht Fesseln an.«72 Besonders lobte er daher immer diejenigen Persönlichkeiten, die wie Friedrich Barbarossa eine Politik der »Verbindung von Kraft und Mäßigung«73 betrieben hätten. Auch Karl der Große sei ein »echter Staatsmann« gewesen, da er bei der Unterwerfung der Sachsen »den Kampf nicht bis zum äußersten« getrieben habe: »Nachdem er gesiegt hatte, eröffnete er dem Herzog Wittekind die Möglichkeit einer Versöhnung.«74 In der selben Weise hob Delbrück Bismarcks Politik hervor, der auch in den Momenten des größten Sieges seine Gegner (wie 1866 Österreich) geschont habe75. Hieraus ergab sich, dass Delbrück in der Tagespolitik stets eine ähnliche Politik forderte, insbesondere im Ersten Weltkrieg: In einem Vortrag in der Berliner Gesellschaft Urania am 14. Januar 1915 etwa betonte Delbrück laut einem Bericht seiner Tochter Hanni, »dass gerade dies immer die große Stärke der Deutschen war, Fremdes in sich aufzunehmen und es so aufzunehmen, dass das Fremde auch deutsch wurde. Nicht nur Rasse, Beruf und Kultur, sondern auch die Sprache! […] Und zweitens betonte er, dass Barbarossa dadurch so groß war, dass er eine Politik der Mäßigung führte.«76

70 Delbrück, Weltgeschichte I, S. 654. 71 Ebd., S. 117, hier als Erklärung für die bisweilen überlieferten Berichte über religiöse Grausamkeiten im Judentum, die Delbrück mit der Inquisition und Hexenverfolgung der katho­ lischen Kirche verglich. Ganz ähnlich auch in Band III, S. 522, in Bezug auf die Hugenottenverfolgung im Frankreich des 17. Jahrhunderts  – hier sogar direkt mit Kritik an Deutschland im Wilhelminismus. 72 Delbrück, Weltgeschichte IV, S. 206. 73 Delbrück, Weltgeschichte II, S. 670. 74 Ebd., S. 269. 75 Delbrück, Weltgeschichte V, S. 182–225. Auch der Reichsgerichtspräsident der Jahre 1922– 1929, Walter Simons, hob in einer Festschrift für Delbrück im Jahr 1928 hervor, er habe stets »die politische Maßlosigkeit« am stärksten »bekämpft« (Simons, Dauer, S. 133). 76 Hanni Delbrück an ihre Großmutter am 15. Januar 1915, Abschrift in: Aufzeichnung Lina Delbrücks, Abschrift in: BArch N 1017/80 Delbrücks Leben, Anhang Bd. II 1915, S. 191, Hervorhebungen ebd.

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Vor diesem Hintergrund der historischen Analysen gewann Delbrücks Kritik an Männern wie Ludendorff, dessen Strategie der vermeintlichen Stärke konse­ quent zum Scheitern verurteilt war, noch an Schärfe. Diese Mahnung zur Mäßigung bezog er daher auch auf die Zukunft der Weimarer Republik und die Warnung vor jedem extremistischen und populären, aber fatalen Revanche-Gelüste, wie es von rechts außen kam. b) Ein neues Zeitalter ohne Kriege? »Ich weiß, daß man Politik im höheren Sinne nicht mit dem bloßen Verstande machen kann. Den Untergrund muß ein großer Glaube bilden. Ich spreche denjenigen, die heute ein zukünftiges neues 1813 hoffen, wenn auch der Verstand keine Möglichkeit dafür zu erblicken vermöge, das Recht des Glaubens nicht ab. Aber auch die Gegenseite hat das Recht ihres Glaubens. Es ist wahr, die Weltgeschichte hat sich in allen vergangenen Jahrtausenden im Machtstreit der Völker und in Heldenkämpfen bewegt. Aber folgt daraus, daß es auch in alle Zukunft so sein muß? Die verschiedenen Epochen der Weltgeschichte, die wir hinter uns haben, haben sehr verschieden ausgesehen. Vieles hat sich wiederholt; viele Lebensformen sind vergangen und ganz andere sind an ihre Stelle getreten. Wer sich durchgerungen hat zu der Erkenntnis, daß das alte Deutschland zugrunde gegangen, nicht wiederherstellbar ist und nur noch als eine stolze Erinnerung weiterleben kann, der muß sich erfüllen mit dem Glauben, daß wir jetzt ein neues Ziel eines Zeitalters der Freiheit und Gerechtigkeit aufzustellen und für dieses zu kämpfen haben. Das unsägliche Leiden und der unvergleichliche Heldenmut kann nicht vergeblich aufgebracht worden sein, sondern gibt uns den Anspruch und die Gewähr, daß wir nicht nur am Grabe einer Vergangenheit, sondern in der Morgenröte einer neuen Zukunft stehen.«77

Diese am 28. Juni 1921 von Hans Delbrück verfasste Betrachtung über die künftige Entwicklung der Deutschen bringt vieles zum Ausdruck: Sie zeigt, dass er das Wesen von Politik durchdrungen hatte. Mag es auch rational gut begründete und sinnvolle politische Entscheidungen geben, sie haben selten nachhaltig funktioniert ohne eine emotionale Ansprache und ideologische Unterfütterung. Diese Erkenntnis ist für Personen mit politischem Gestaltungswillen von zentraler Bedeutung. Gerade die liberalen Republikaner in der Weimarer Zeit taten sich schwer mit einer emotionalen Aufladung ihrer Politik. Nicht zuletzt ist es ein wesentliches Merkmal des Erfolgs der NSDAP, dass es ihr gelang, ihre politischen Ziele auf eine breite, zustimmungsfähige ideologische Basis zu stel77 Weiter: »Ich weiß, was ich damit sage. Mein ganzes Leben bäumt sich dagegen auf, aber der Weg von 1813 ist uns heute, nachdem wir die Monarchie verloren haben, verschlossen. […] Gefühlspolitik hat uns ins Unglück gestürzt. Nur Politik des klar überlegenen Verstandes kann uns wieder in die Höhe führen und Deutschland den ihm gebührenden Rang unter den großen Völkern der Erde wiedergeben.« (Hans Delbrück: Vorwort zur zweiten Auflage der Dokumente von Graf Brockdorff-Rantzau, Berlin 1922, S. IX–XVII, Zitate S. XV–XVII, Sonderdruck in: SBB NL Delbrück, Fasz. 86a).

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len. Aber auch die anderen Gegner der Republik, Kommunisten wie im Kaiserreich verhaftete Rechte, konnten immer mit einem gefühlsmäßigen Angebot aufwarten. Delbrück erkannte diese Schwäche des neuen Staates und versuchte den Verlockungen der gefährlichen politischen Kräfte einen positiven Glauben entgegenzustellen. Auf der Grundlage seiner »Weltgeschichte« stellte er eine historisch tiefschürfende Betrachtung an. Er verwies darauf, dass Geschichte immer im Fluss sei und kein Zustand ewig währe. Diese Erkenntnis sollte den Abschied vom untergegangenen Kaiserreich erleichtern. Zugleich skizzierte er die Vision eines neuen weltgeschichtlichen Zeitalters, in dem ganz neue Werte zum Durchbruch gelangen könnten. Für das Ziel der »Freiheit und Gerechtigkeit« lohne es sich zu kämpfen. Wie kam Hans Delbrück 1921 zu diesen Überlegungen? Entscheidend sind die Erfahrungen des Weltkriegs gewesen. Da er selber noch an einem Krieg (1870/71) an vorderster Front teilgenommen hatte, wusste er, wie grausam ein Krieg ist. Im August 1870 hatte er seiner Mutter aus dem Feld geschrieben, es sei »wahrhaftig nichts geeigneter, Jemand [sic] den letzten Rest Schwärmerei zu vertreiben als ein Feldlager. Die nackte Wahrheit schaut sich zu sehr anders an.«78 Das Massensterben und die in den Jahren nach dem Weltkrieg in der Öffentlichkeit überall sichtbaren Kriegsversehrten waren niemandem unbekannt geblieben. Als führender Militärhistoriker hatte Delbrück aber noch einen anderen Zugang zum Kriegsgeschehen. Aufgrund seiner wissenschaftlichen Ausbildung und seiner analytischen Fähigkeiten wusste er immer relativ genau über den aktuellen Kriegsverlauf Bescheid und konnte sich die konkreten Ereignisse besonders gut vorstellen. Aber er hatte auch lange vor 1914 vor den Schrecken eines künftigen Krieges gewarnt. Dabei hatte er bereits damals – wie viele andere Intellektuelle auch – die Hoffnung geäußert, dass die Hochrüstung aufgrund ihrer abschreckenden Wirkung einen tatsächlichen Kriegsausbruch verhindern werde79. Die Trauer um seinen 1917 in Mazedonien gefallenen Sohn Waldemar wird seine Abneigung gegen weitere kriegerische Gewalt verstärkt haben. Denn er war als Kriegshistoriker beileibe kein Kriegsverherrlicher. Der Krieg war ihm in der bisherigen Weltgeschichte ein natürlicher Vorgang in den Verhältnissen der Völker untereinander. Für ihn war damit aber keineswegs gesagt, dass dies immer so bleiben müsse. Delbrück sah verschiedene Anzeichen dafür, dass die Menschheit (allerdings nur bezogen auf den Westen) in eine neue Epoche eintrete, in der der Krieg als solcher geächtet würde. Ein wesentlicher Grund für seine Annahme, dass die Völker keine Kriege mehr zu führen wünschten, war der rasante technische Fortschritt, der gewaltsame Auseinandersetzungen immer furchtbarer werden ließ. Diese Entwicklung hatte sich bereits in den Jahren 1914–1918 auf brutale Weise gezeigt. Neue Technologien wie der Einsatz von Gas, vollautomatische Schusswaffen, Unterseeboote, Motorisierung, Luftwaffe, Pan78 Hans Delbrück an seine Mutter am 24. August 1870, Abschrift in: Aufzeichnung Lina Delbrücks, Abschrift in: BArch N 1017/65, Delbrücks Leben, Bd. I 1870, S. 84. 79 Vgl. Bucholz, War Images, S. 75–77; Hobson, Imperialismus, S. 50–55.

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zerwagen und moderne Artillerie hatten derart verheerende Wirkungen gezeigt, dass der Krieg sämtliche beteiligten Völker traumatisiert zurückgelassen hatte. Dies war für alle damaligen Gesellschaften, aber in besonderem Maße die deutsche, eine neuartige Erfahrung: Im imperialistischen Zeitalter waren alle Großmächte in hohem Maße militarisiert gewesen. Das Militär hatte aber besonders in Deutschland eine Sonderrolle inne gehabt, die sich vor allem aus den Siegen 1864, 1866 und 1870/71 gespeist hatte. Genau dieser Glanz und Ruhm des Krieges hatte nun aber die schlimmsten Grausamkeiten gebracht. Hinzu kam, dass (vielleicht abgesehen vom Amerikanischen Bürgerkrieg) erstmals in der Geschichte ein Krieg stattgefunden hatte, der die Völkerleidenschaften nachhaltig gegeneinander aufgepeitscht hatte. Damit war der Krieg herausgeführt aus Fehden zwischen Regierungen und hingeführt zu ideologischen Kämpfen sich verfeindender Völker. Das bedeutete auch, dass jeder neue Krieg zwischen den europäischen Großmächten in eine noch grausamere Dimension ausarten musste. Markus Pöhlmann arbeitet heraus, dass die Militärexperten der Zwischenkriegszeit ihre Überlegungen nicht auf die Frage konzentrierten, wie ein weiterer, totalisierter Krieg zu vermeiden wäre, sondern wie man ihn gewinnen könne80. Insofern stand Delbrück im Gegensatz zur vorherrschenden Militärdoktrin. Am 7. Oktober 1925 wurde das Thema »Zukunftskrieg« auf Delbrücks Mittwoch-Abend diskutiert. Für Delbrück stellte sich dabei die Frage, »ob wir etwa so weit sind, dass die Furchtbarkeit der Technik ihn nicht mehr als ausfürhrbar [sic] erscheinen lässt.«81 Über den Verlauf des Diskussionsabends gibt es keine Informationen. Aber dass die Thematik unter diesem Aspekt debattiert wurde in einem dezidiert nicht pazifistischen Kreis, ist ein deutliches Zeichen. Delbrück war beileibe kein Pazifist, hatte sich auch nicht »vorübergehend nur aus taktischen Gründen« dem Pazifismus angenähert, wie dies Herbert­ Döring schreibt82. Mit dem Pazifismus als ethischem Prinzip, so wie es Männer 80 Zur Debatte über einen zukünftigen Krieg in den militärischen Fachzeitschriften vgl. Pöhlmann, Versailles, besonders S. 351–386. 81 Delbrück im Einladungsschreiben an Wilhelm Kahl am 7. Oktober 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Kahl, Bl. 11. Als Referenten zu dem Thema hatte er Karl Mayr bestellt. Otto Geßler wurde ebenfalls geladen (Delbrück an Mayr am 25. September 1925, in: ebd., Briefkonzepte Mayr, Bl. 7). Siehe auch Delbrück an Montgelas am 26. September 1925, in: ebd., Briefkonzepte Montgelas, Bl. 28 f. 82 Döring, Kreis, S. 29. Als im Juni 1922 eine Gruppe französischer Pazifisten zu Besuch in Berlin war und Albert Einstein ihnen einen Abendempfang gab, wollte Delbrück zunächst hinzukommen. Einstein hatte um die Teilnahme von Gelehrten gebeten, die explizit keine Pazifisten waren, um zu einem breiteren Austausch zu gelangen. Delbrück, der »sehr geneigt es zu tun« gewesen war, blieb der Veranstaltung nur deshalb fern, da Adolf von Harnack und Friedrich Meinecke nicht mitkommen wollten und andere verreist waren. Ganz allein sah sich Delbrück nicht zu einer Teilnahme in der Lage (Delbrück an Montgelas am 9. Juni 1922, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Montgelas, Bl. 5; Delbrück an Meinecke am 8. Juni 1922, in: ebd., Briefkonzepte Meinecke, Bl. 13 f). Dieser Vorgang zeigt deutlich, dass Delbrück dem Wesen nach kein Pazifist war, aber der Idee des persönlichen Austausches zwischen Intellektuellen verfeindeter Nationen auch über ideologische Gegensätze

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wie Carl von Ossietzky, Ludwig Quidde oder Walther Schücking in jener Zeit vertraten, hatte Delbrück zu keinem Zeitpunkt etwas gemein83. Ein solches Gedankengut war ihm zu idealistisch, um zu praktischer Bedeutung gelangen zu können. Er war Realist und als Militärfachmann unterrichtet in der Funktionsweise von Kriegen und glaubte daher nicht an ein einfaches Verschwinden von Kriegen durch bloße Appelle. Andererseits wusste er gerade als Kriegshistoriker genau um die Schrecken des Krieges und warnte deshalb stets vor Kriegstreiberei. Er war somit weder Pazifist noch Bellizist. Er suchte aber immer nach Mechanismen zur Vermeidung von Kriegen. Sein Pazifismus-Begriff war deshalb durchaus missverständlich: So schrieb Eugen Fischer-Baling in einer späteren Abhandlung über den Reichstags-Untersuchungsausschuss, Delbrück habe in einer Debatte »naiv genug sich darüber [ge]wunder[t], daß die kaiserliche Regierung eine Gegnerin des Pazifismus gewesen sein sollte«84. In der klassischen Definition der Geistesströmung Pazifismus konnte in der Tat die säbelrasselnde Vorkriegspolitik niemals als pazifistisch bezeichnet werden. Für Delbrück bedeutete der Begriff in diesem Zusammenhang aber nur das Fehlen einer Absicht zum Krieg. Eine Untersuchung widmete er der Fragestellung, ob die Staatsform Einfluss habe auf die Bereitschaft einer Nation zum Kriegführen. Die »Funk-Stunde Berlin«, der erste Radiosender in Deutschland, hatte Ende 1928 einen Beitrag gesendet, in dem der Redakteur Wolfgang Schwarz die These vertreten hatte, dass demokratische Staaten keine Kriege führten, sondern diese in der Geschichte stets von monarchisch regierten ausgegangen waren. Hans Delbrück, der häufig Vorträge im Radio hielt und somit einen engen Kontakt zur Redaktion hatte, schrieb empört, es handele sich um eine »historisch derartig falsche Behauptung«, dass der Sender »die Pflicht« habe, dies zu korrigieren. Er bot sich sogleich selbst an, einen Vortrag zu halten zu dem Thema: »Erweisen sich in der historischen Erfahrung die monarchischen, aristokratischen oder demokratischen als [sic] friedfertiger?«85 Nachdem der Sender seiner Idee zugestimmt hatte86, hielt er am 29. Dezember 1928 und 5. Januar 1929 einen zweigeteilten Vortrag zu der Thematik, dem er am 26. Januar einen dritten Teil anschloss. Er analysierte dabei den Verlauf der Weltgeschichte, teilte die jeweiligen Staaten in die drei Systeme (monarchisch, aristokratisch, demokratisch) ein und untersuchte dann, welche Staaten sich als besonders kriegerisch hervorgetan hatten. Im Vergleich der Griechen und Perser kam er zu dem Schluss, dass die hinweg einen hohen Wert beimaß. Damit war Hans Delbrück hinsichtlich der Idee der Völkerverständigung fortschrittlicher als selbst Friedrich Meinecke oder Adolf von Harnack. 83 Zum Begriff des Pazifismus und seiner verschiedenen Ausprägungen in der Weimarer Republik vgl. Takemoto, Außenpolitik, S. 28–44. 84 Fischer-Baling, Untersuchungsausschuß, S. 121. 85 Hans Delbrück an die Funk-Stunde Berlin am 5. Dezember 1928, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Funk-Stunde, Bl. 15. 86 Vgl. Delbrücks zwei Schreiben an die Funk-Stunde vom 15. Dezember 1928 und o. D. [1928], in: ebd., Bl. 16 f.

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demokratisch verfassten Griechen kriegerischer gewesen seien als die monarchisch orientierten Perser. Das alte Rom wiederum sei in der demokratischen Zeit kriegerischer gewesen, als in der aristokratischen. Für das Mittelalter ließe sich die Frage nach dem Verhältnis der Staatsform zum Krieg nicht beantworten, da alles Kriegerstand gewesen sei. Im 17. und 18. Jahrhundert habe es keine demokratischen Verfassungen gegeben, sondern nur monarchische. In dieser Phase habe allerdings »der militärisch-monarchische Ehrgeiz eine wesentliche Rolle [ge]spielt« bei der Kriegsführung. In der neuen Epoche der Kriegsgeschichte, die mit der Französischen Revolution beginne, seien dann Kriege von der Demokratie ausgegangen: »Es ist nicht zutreffend, daß mit der Demokratie Schritt für Schritt der Verzicht auf den Krieg gekommen sei. Im Gegenteil«: Das Frankreich Napoleons III., das man auch als Demokratie bezeichnen könne, da der Kaiser gewählt worden war, habe 1870 Deutschland den Krieg erklärt. Im Hinblick auf die Ursachen des Weltkriegs hieß es in seinem Manuskript, Wilhelm II. und Nikolaus II. seien im Kern friedlich gesinnt gewesen. In Russland sei es der demokratisch verfasste Panslawismus gewesen, der die Regierung zum Krieg getrieben habe. Aus der Gesamtbetrachtung zog Delbrück den Schluss: »Die Staatsform als solche ist […] noch nicht das entscheidende«. Wenn man also die Frage stelle, wie der Krieg als ein Element der Beziehungen zwischen den Völkern ausgeschaltet werden könne, könne man nicht über die Frage Demokratie oder nicht debattieren. »Die Zukunftsfrage steht also so, dass man untersuchen muss, ob s scih [sic] in unserer Epoche gesellschaftlich-politische Kräfte entwickelt haben, die aus eigenem Interesse den Krieg zu vermeiden suchen.«87 Diese Überlegungen sind in einer Zeit entstanden, in der es einen Wettstreit der Systeme gegeben hat. Heutzutage hat sich (im Westen) das demokratische Verfassungsmodell aus verschiedenen Gründen weitgehend als das beste durchgesetzt, sodass sich eine solche Frage gar nicht mehr stellt. In der Zwischenkriegszeit, als es noch ganz unterschiedliche Staatsformen (Monarchien diverser Ausprägung, parlamentarische Republik, Räterepublik, Faschismus, autokratische Systeme) gegeben hat, ging es aber um einen Wettstreit der Ideen. Delbrück als ein der konstitutionellen Monarchie Zugewandter wollte sich nicht einfach davon überzeugen lassen, dass das westlich-demokratische System rundweg das bessere sei. Ein Vergleich der griechischen oder römischen Demokratie mit der US-amerikanischen oder der französischen der Dritten Republik ist allerdings schwierig. Die gängige moderne Definition von Demokratie meint das westliche Erfolgsmodell der Neuzeit. Deren Idealen und Strukturen entsprach das alte Athen mitnichten. Delbrück stellte gerne historische Vergleiche an, die er in seinen geschichtswissenschaftlichen Arbeiten häufig genug auch befruchtend einsetzte. Für ihn definierte sich die Demokratie nur darüber, ob und in welchem Maße breitere Volksströmungen auf die Regierung Ein87 Die drei Vortragsmanuskripte unter dem Titel »Das Verhältnis der verschiedenen Staatsformen zu Krieg und Frieden« finden sich in: ebd., Fasz. 66.1.

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fluss hatten. Dass die Demokratie der Moderne sich dadurch qualifiziert, dass sie durch den Rechtsstaat flankiert wird, ließ er in seinem Vergleich außen vor. Entscheidend ist letztendlich das Fazit, das er aus seiner Untersuchung zog: Die Frage, ob es noch einmal einen Krieg geben würde oder nicht, war für ihn eine Frage der Mentalität der Völker. Man kann den Einwand machen, dass in einer Demokratie die auf Frieden und Versöhnung gerichteten Strömungen unmittelbarer Einfluss auf das Regierungshandeln haben, und in einem autokratischen System viel leichter eine an der Spitze stehende Kriegspartei das Volk beeinflussen und in einen Krieg treiben kann. Delbrücks Demokratie-Begriff aber umfasste eben nicht den modernen, qualifizierten, sondern er leitete seine Erfahrungen aus dem Kaiserreich ab. Dort war es das seiner Meinung nach neutrale Berufsbeamtentum des Konstitutionalismus gewesen, das eine ausgewogene und im Kern friedenssichernde Politik betrieben habe, während die nationalistischen, kriegstreibenden Strömungen aus dem Volk kamen: Flottenverein, Ostmarkenverein, Nationalverein u. a. m. Da sich selbst der lediglich konstitutionell organisierte Staat nicht dazu in der Lage gezeigt hatte, diese Strömungen unschädlich zu machen, hatte die deutsche Monarchie für Delbrück 1918 ihre Existenzberechtigung verloren und ein neues System hatte nun das Recht, an ihre Stelle zu treten. Es kam ihm nun darauf an, die sich wieder neu formierenden nationalistischen Strömungen in der Gesellschaft zu bekämpfen, um weitere Kriege zu verhindern. Die Mittel hierfür waren für ihn eine versöhnlichere Außenpolitik der Staaten untereinander, um dem Völkerhass die Grundlage zu entziehen, und eine Stärkung der gesellschaftlichen Kräfte, die aus prinzipiellen Gründen den Militarismus ablehnten. Er begriff dies als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. In ganz ähnlicher Weise galt ihm das auch für alle anderen Staaten. Der Lackmustest für Delbrücks Prophezeiung wurde für ihn der Ruhrkampf88. Im »Neuen Wiener Tagblatt« und kurz darauf im »Berliner BörsenCourier« schrieb er Ende März 1923: »Es ist der erste große Kampf zwischen Militarismus und Pazifismus, und es würde von unermesslicher Wichtigkeit für alle zukünftigen Beziehungen unter den Völkern sein, wenn Deutschland in diesem Kampfe obsiegt.« Wenn es gelänge, die Waffengewalt durch passiven Widerstand zu brechen, »so ist das der Beginn einer neuen Epoche in der Weltgeschichte«. Er hoffe, dass die mehrheitlich pazifistisch eingestellte Weltöffentlichkeit Kriege viel stärker einschränken könne, als es das Völkerrecht bislang tun konnte. Dabei betonte er nach rechts gewendet, auch der passive Widerstand sei eine Form des Heroismus, ähnlich dem der christlichen Märtyrer89. 88 Zum Ruhrkampf vgl. Fischer, Ruhr Crisis (vor allem unter sozialgeschichtlichen Aspekten); Krumeich / Schröder, Schatten (mit ganz unterschiedlichen Ansätzen); Steegmans, Folgen (zu den unmittelbaren wirtschaftlichen und finanziellen Folgen der Besatzung); Winkler, Weimar, S. 186–239 (zum innenpolitischen Gesamtkontext des Krisenjahrs 1923). 89 Hans Delbrück: »Der Ruhrkampf und die Neutralen«, in: Neues Wiener Tagblatt, 57. Jg., Nr. 82 vom 25. März 1923, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 88e, sowie in: BBC, Nr. 148 vom 28. März 1923, in: BArch N 1017/2. Weiter schrieb er, die Welt sei auf Deutschlands Seite, da man wisse, dass sonst die Kriegspartei in Deutschland Aufwind erhalte.

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Man wird in Rechnung stellen müssen, dass diese Zeilen mit propagandistischer Absicht geschrieben waren. Delbrück ging es einerseits darum, die deutsche Bevölkerung im passiven Widerstand zu ermutigen, und andererseits, das Ausland auf Seiten Deutschlands zu ziehen. Insofern muss man seine allzu idealistischen Äußerungen ein Stück weit relativieren. Aber seine Gedanken waren nicht ohne innere Überzeugung formuliert. Er bemühte sich, wie dargestellt, stets um Möglichkeiten, künftige Kriege zu vermeiden. Die Hoffnung, dass die Bevölkerungen der ehemals kriegführenden Staaten kriegsmüde geworden seien, war nicht unbegründet90. Völker mussten gezielt von bestimmten politischen Kräften aufgepeitscht werden für neue Gewaltakte. Gegen solche Kräfte anzukämpfen, war eine der großen Konstanten im politischen Denken und Wirken Hans Delbrücks91. Dass er seine Überlegungen nicht fernab der Realität angestellt hatte, zeigt auch ein Artikel für die »Neue Zürcher Zeitung« im Februar 1923, als er vorschnell dachte, Frankreich habe sich nicht durchsetzen können. Er schrieb, seine Hoffnung sei, »dass nach den grauenhaften Erfahrungen des Weltkrieges die Idee des Pazifismus bei den Völkern eine so [sic] Kraft gewonnen hat, und noch gewinnen wird, dass sie den Militar[is]mus [sic] zum mindesten die Wagw [sic] hältund [sic] ihn einschränkt.« Die Probe sei der Ruhrkampf, und der sei nun entschieden. Frankreich habe den passiven Widerstand nicht brechen können92. Um eine propagandistische Wirkung hätte es ihm gar nicht mehr gehen können im Augenblick des (vermeintlichen) Sieges. Erst einige Wochen später schrieb er den oben zitierten Beitrag. Als Deutschland mit seiner Strategie des passiven Widerstands schließlich doch scheiterte, verfiel Delbrück aber nicht in Resignation: Ende Oktober 1923 schrieb er, es handele sich für Frankreich um einen Pyrrhussieg, denn die deut90 Schon Anfang 1917 schrieb Delbrück in einem Aufsatz, der Pazifismus werde nach dem Krieg »allenthalben eine grosse Macht entfalten« (Hans Delbrück: »Um Belgien«, Aufsatz vom 9. Januar 1917, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 67.1.; ob die Schrift veröffentlicht wurde, ist nicht ersichtlich, hier aber auch nicht relevant). 91 Ganz ähnlich sprach der französische Pazifist Victor Basch in Berlin auf Einladung der Deutschen Liga für Menschenrechte am 1. Oktober 1924. Er sah »nur eine Frage« für die Zukunft Europas: ob die Deutschen aufrichtig eine friedliebende Demokratie werden wollten oder nicht. Zugleich warnte er, wenn Deutschland nur auf den Moment zur Revanche für 1918 warte, »dann seien Sie gewiß, daß alle Staaten der Welt wieder, wie sie es 1914 getan, gegen Deutschland aufstehen werden.« (Victor Basch: »Die europäische Lage und die deutsch-französische Verständigung«, in: Deutsch-Französische Wirtschaftskorrespondenz, 2. Jg, Nr. 38 vom 10. Oktober 1924, in: ebd., Fasz. 112.1, Hervorhebung ebd.). Für Delbrück hing die Frage einer kriegerischen Einstellung zwar nicht mit der Staatsform zusammen. In dem Punkt aber, dass es um eine Geisteshaltung zum Frieden ging, und dass sich Deutschland in einem etwaigen neuen Krieg der ganzen Welt gegenüber stehen sehen würde, trafen sich die beiden Intellektuellen. 92 Hans Delbrück: »Pazifismus und Militarismus«, Aufsatz für die NZZ vom 16. Februar 1923, in: BArch N 1017/18. Die Zeitung lehnte einen Abdruck wegen seiner zu optimistischen Lagebeurteilung ab (Kloetzh an Delbrück am 15. Februar 1923, in: SBB NL Delbrück, Briefe NZZ, Bl. 6).

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sche Wirtschaft sei fast zugrunde gegangen und könne so keine Reparationen mehr leisten. Frankreich werde irgendwann einsehen, dass eine Politik wie die bismarcksche gegenüber Frankreich nach 1871 die bessere sei: die Bedingungen so auszugestalten, dass sie durchführbar sind und den Status des Besiegten als Großmacht nicht antasten93. Noch konkreter wurde er ein halbes Jahr später im »Leipziger Tageblatt«. Selbstkritisch gestand er ein, bei Beginn des Ruhrkampfes zu siegesgewiss gewesen zu sein. Man habe allerdings keinen unmittelbaren Erfolg mit dem passiven Widerstand gehabt und eine Niederlage erlitten. Mittlerweile aber zeige sich, dass Deutschlands Wirtschaft durch die monatelange Auseinandersetzung völlig zerrüttet sei. Das Ziel der Eintreibung von Reparationen habe Frankreich also nicht erreicht. Sein anderes Ziel, Sicherheiten gegenüber einem wiedererstarkten Deutschland zu erlangen, habe es ebenfalls verfehlt: Poincaré habe das Reich spalten wollen, nun aber sei der rheinische Partikularismus endgültig abgestorben. Delbrück machte erste Anzeichen dafür aus, dass Poincaré jetzt politisch auch umschwenke. Damit erfülle sich die Prophezeiung mancher Kommentatoren vom Beginn des Ruhrkampfes, nämlich dass er »mit einem Prestige-Gewinn für die Franzosen und mit einem sachlichen Erfolg für die Deutschen endigen« würde94. In ähnlicher Weise äußerte sich Delbrück zu Weihnachten 1923 im »Neuen Wiener Tagblatt«. Die Zeitung hatte ihn und andere Persönlichkeiten verschiedener Nationen gebeten, »zu der europäischen Existenzfrage des Haßabbaues und der Völkerversöhnung das Wort zu ergreifen«. Delbrück stellte zunächst fest, dass zwischen Frankreich und Deutschland noch keine echte Nachkriegsära begonnen habe, sondern es sich vielmehr um »eine Fortsetzung des Krieges mit andern Mitteln« handele. Mit dieser bewussten Umdrehung des Clausewitzschen Diktums (»der Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln«) wollte Delbrück deutlich machen, dass die Politik immer noch abhängig vom Kriege sei. Nach Delbrücks Clausewitz-Interpretation war es in der mi93 Hans Delbrück: »Bismarck und Poincaré«, in: Neues Wiener Tagblatt, 57. Jg., Nr. 298 vom 30. Oktober 1923, in: BArch N 1017/2. Mit diesem Hinweis auf die Folgen des DeutschFranzösischen Krieges ging Delbrück fehl, da der Weltkrieg eine gänzlich andere Dimension gehabt hatte. 94 Hans Delbrück: »Poincarés Erfolg und Poincarés Mißerfolg«, in: Leipziger Tageblatt, 118. Jg., Nr. 96 vom 20. April 1924, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 88e, Hervorhebungen ebd. In der Tat stellt auch die moderne Forschung fest, dass Frankreichs Politik letzlich gescheitert ist. Denn seine Strategie, im Alleingang und mit blanker Gewalt Deutschland mittels Kontrolle über dessen Schlüsselindustrien politisch niederzuhalten, hatte sich als aussichtslos erwiesen. Andererseits hatte auch das Reich einsehen müssen, dass es die Versailler Nachkriegsordnung bis auf Weiteres akzeptieren musste. Insofern markiert der Ausgang des Ruhrkampfes eine Zäsur in den internationalen Beziehungen. Der politisch geführte Ruhrkampf wurde überführt in die rein wirtschaftliche Reparationsfrage. Die Nachwirkungen des Krieges kamen damit zu einem Ende und mit dem kurz darauf folgenden Dawes-Plan begann die Ära der Verhandlungen und Versöhnung (wie sehr für Frankreich und im Übrigen auch Belgien die Erfahrungen aus der eigenen Besatzung in den Kriegsjahren bestimmend waren für die Idee und Praxis der Ruhrbesetzung, unterstreicht Krumeich, Ruhrkampf).

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litärischen Strategie unbedingt erforderlich, dass der Krieg stets als ein Ausfluss der Politik betrachtet werden muss und jede Verselbstständigung kriegerischer Gedanken in der Kriegsführung fatale Folgen hat95. Indem Delbrück nun den Satz umkehrte, prangerte er an, dass die europäischen Regierungen viel zu wenig politisch dachten und noch zu sehr in militärischen Kategorien. Er plädierte also für eine Überwindung des kriegerischen Geistes in den Völkern und Regierungen. Er warf aber besonders Frankreich vor, dass es sich mit dem Triumph des Versailler Vertrages nicht zufrieden gebe, sondern weiterhin versuche, Deutschland zu demütigen96. Das deutsche Volk sei hiergegen wehrlos und habe versucht, mit dem passiven Widerstand die Aggression zu brechen. »Es hat dadurch an Achtung in der Welt wieder viel gewonnen; der Heroismus des Leidens, das es auf sich genommen hat, um dem Unrecht zu widersprechen, hat Eindruck gemacht, aber Hilfe ist ihm nicht geworden«. Er, Delbrück, habe immer die Meinung gehabt, »daß das Heil der heutigen Kulturwelt auf dem unabhängigen Bestehen zahlreicher größerer und kleinerer Nationalitäten nebeneinander beruht«. In diesem Sinne habe er seit September 1914 in die Kriegszieldebatte eingegriffen und »schwer daran getragen«, dass man ihm nicht gefolgt sei. Er verwies darauf, dass er in der Agitation gegen die »Versailler Lüge über die Schuld am Weltkrieg« zu den bedeutendsten Persönlichkeiten gehöre, aber zugleich auch »die schwersten Anklagen erhoben« habe an das eigene Volk wegen der Kriegsverlängerung. Denn das deutsche Volk könne nicht wieder »gesunden«, ohne in dieser Frage die Wahrheit verinnerlicht zu haben. Sein höchstes Ziel sei die Völkerversöhnung, die aber blockiert werde durch den Hass, den Frankreich durch seine Politik in Deutschland hervorrufe. Frankreichs Politik sei sicher auch geleitet von der Angst vor einem Revanchestreben der Deutschen, schüre durch seine Repression aber genau dieses97. Delbrück löste sich vom rein nationalen Standpunkt und trat in eine Betrachtung über das Miteinander aller (europäischen) Völker ein. Er kam dabei zu einer ausgeglichenen Beurteilung. Dabei muss man bedenken, dass er beileibe kein Kosmopolit oder Pazifist gewesen ist, sondern ein Konservativer, der sein eigenes Land liebte. Dem Ziel der Völkerverständigung diente er aus Überzeugung. Er sah aber genau, dass dieses zu dem damaligen Zeitpunkt nicht mit idealistischer Schwärmerei oder supranationalen Regelungen zu erreichen war, sondern nur über eine grundlegende Änderung der Einstellung in den Köpfen. Die beiden entscheidenden Nationen für die Frage des künftigen Friedens in Europa waren für ihn Deutschland und Frankreich. An beide Länder richtete er Anklagen und Appelle. Frankreich musste für ihn von dem 95 Siehe hierzu Kapitel V.1. 96 Jost Dülffer bezeichnet in ähnlicher Weise wie Delbrück die Politik der Siegermächte in den ersten Jahren nach dem Krieg als »mentale Verlängerung der Kriegssituation« (Dülffer, Frieden, S. 19 und passim). 97 Hans Delbrück: »Abbau des Völkerhasses«, in: Neues Wiener Tagblatt, Nr. 352 vom 25. Dezember 1923, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 88e.

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überzogenen Vorwurf der deutschen Alleinkriegsschuld zurückgehen und insgesamt eine versöhnlichere Haltung an den Tag legen. Die Deutschen mussten sich klar machen, dass sie am jetzigen Zustand in Europa ebenfalls schuldig waren, da sie den Krieg unnötig verlängert hatten. Nur wenn beide Völker sich jeweils dazu durchringen würden, Fehler einzugestehen, und die Bereitschaft entwickelten, aufeinander zuzugehen, gab es für Delbrück eine echte Chance auf Aussöhnung98. Bereits Ende 1922 hatte ihn der »New York Herald« um einen Artikel gebeten über die Beziehungen Deutschlands zu den USA, um durch eine solche Diskussion dem »Weltfrieden« näherzukommen99. Auch dies ist ein Beleg für die Achtung, die Delbrück als deutscher Publizist international besaß100. Folglich ist seinen Anstrengungen auf diesem Gebiet einiger Wert zuzumessen. Eine Völkerverständigung konnte überhaupt nur in Gang kommen, wenn die führenden Intellektuellen der verschiedenen Nationen das Wort hierzu ergriffen und den Anfang machten. Sozialistische und pazifistische Persönlichkeiten vertraten diese Ideale ohnehin – sie waren aber in ihren jeweiligen Gesellschaften immer in einer Außenseiterrolle und konnten deshalb nur wenig Breitenwirkung entfalten. Ein Mann wie Hans Delbrück, der über Parteigrenzen hinweg ge­ achtet war als selbstständiger Geist, konnte deutlich mehr erreichen. Denn der Beifall von Links war ihm ohnehin sicher, wenn er solche Ideen aussprach. Aber nur ein Mann aus dem konservativen Lager hatte überhaupt die Chance dazu, in den weiter rechtsstehenden Kreisen Gehör zu finden. 98 Ähnlich schrieb er im März 1924 in einem wahrscheinlich nicht veröffentlichten Aufsatz, es gebe zum Wiedererstarken nur zwei Wege für Deutschland: Einen Krieg, der aber mangels Verbündeter, Waffen und der Einheit des Volkes auf absehbare Zeit gar nicht zu führen sei. Außerdem würde ein solcher aufgrund der fortschreitenden Waffentechnik und der Zunahme des Völkerhasses »das grauenhafteste, was menschliche Phantasie zu ersinnen vermag«, werden. Die große Mehrheit im Volk wolle lieber eine Völkerverständigung, »die ein neues Zeitalter heraufführen soll.« Aber Frankreichs repressive Politik stehe dagegen (Hans Delbrück: »Deutschlands Zukunft«, fünfseitiges Manuskript vom 6. März 1924, in: BArch N 1017/18). Den gleichen Gedanken äußerte er auch 1922 in einem ebenfalls unveröffentlichten Aufsatz, in dem er Überlegungen darüber anstellte, wie sich das Reich in einem etwaigen Krieg zwischen England und Frankreich verhalten sollte. Er kam zu dem Schluss, dass das deutsche Volk in seiner »breitesten Masse« keinen Krieg zur Verbesserung der Zustände wolle, sondern nur den »We[g] der Völkerverständigung« suche (Hans Delbrück: »Deutschland zwischen Frankreich und England«, unveröffentlichter Aufsatz von 1922, in: ebd.). Es lässt sich folglich feststellen, dass seine Ansicht von der friedlichen und auf Aussöhnung gerichteten Gesinnung der Deutschen über die Jahre hinweg eine Konstante war. 99 Lincoln Eyre an Hans Delbrück am 25. Dezember 1922, in: SBB NL Delbrück, Briefe New York Herald, Bl. 1 f. Ob Delbrück die Aufforderung angenommen hat und was er ggf. geschrieben hat, ist nicht recherchierbar. 100 Das Algemeen Handelsblad aus Amsterdam bat Delbrück Ende 1924 ebenso um einen Beitrag zum Genfer Protokoll, was seine Bedeutung im Ausland unterstreicht (Algemeen Handelsblad an Delbrück am 11. Dezember 1924, in: ebd., Briefe Algemeen Handelsblad, Bl. 1 f).

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Delbrück hielt trotz des Scheiterns seiner idealistischen Vorstellungen im Ruhrkampf am Ziel der Völkerverständigung fest. Eine Abwendung vom gescheiterten Versöhnungsgedanken und Umschwenken auf einen revanchistischen Kurs wäre durchaus verständlich gewesen. Aber er arbeitete auch weiterhin in diversen Initiativen zur Aussöhnung. 1924 beispielsweise gab es einen Wettbewerb, ausgeschrieben vom Amerikaner Edward Filene, bei dem die besten Vorschläge zur Wiederherstellung des internationalen Friedens mit insgesamt 10.000 USDollar prämiert werden sollten. In England, Frankreich und Italien waren diese Wettbewerbe bereits durchgeführt worden, als der Spender Filene an Rudolf Breitscheid (SPD), Otto Hoetzsch (DNVP), Walter Simons (DDP) und Peter Spahn (Zentrum) mit der Bitte herantrat, den Wettbewerb auch in Deutschland abzuhalten. Simons bat Delbrück um seine Mitwirkung im »Ausschuss für den deutschen Friedenspreis«101. Delbrück trat dem Arbeitsausschuss zwar bei, wollte aber in der Sache nicht publizistisch wirken. Er befürchtete nämlich, dass sonst keine ernsthaften Beiträge eingereicht würden102. Über die Hintergründe kann man nur spekulieren. Mutmaßlich war die politische Kultur in Weimar bereits so desaströs, dass Werbung in der Presse für einen Wettbewerb zur Erreichung des Weltfriedens vielfach Spott hervorgerufen hätte. Die zielgruppenorientierte Werbung über Schulen und Vereine schien da wohl seriöser und vielversprechender wirken zu können. Offenbar nahm das Preisausschreiben schnell an Fahrt auf und erzielte eine große Aufmerksamkeit. Im Bericht über die aktuellen Tätigkeiten vom 26. Juni hieß es, der Reichskanzler habe bereits mitgeteilt, dass er sich von der Aktion eine weitere Völkerverständigung erhoffe. Es sei zudem schon eine große Zahl an Einsendungen vorhanden103. Die parteiparitätische Zusammensetzung der Kommission mag dazu beigetragen haben. Nach Abschluss des Verfahrens beschloss der Ausschuss in seiner letzten Sitzung am 10. Oktober 1924, die Preisarbeiten der Deutschen Liga für Völkerbund (DLfV) zu übergeben zwecks weiterer Verwendung. Beabsichtigt wurde eine Buchausgabe der besten Arbeiten104. Die DLfV war eine Organisation, die im Dezember 1918 mit Unterstützung des Auswärtigen Amts (AA) gegründet worden war und sich dem Ziel verschrieben hatte, der Völkerbundsidee zu dienen. Dabei war die Liga vor allem ein »Hilfsinstrument der Reichsregierung«, um auf inoffiziellen Wegen die deutschen Positionen im Ausland zu vertreten und im Inland dafür zu werben105. Die Liga, ursprünglich dominiert von Linken und bürgerlicher Mitte, bewegte sich im Laufe der Jahre zunehmend nach rechts und musste 1933 noch 101 Simons an Delbrück am 13. und 25. Mai 1924, in: ebd., Briefe Simons, Bl. 7 f. 102 Delbrück an Simons am 3. Juni 1924, in: ebd., Briefkonzepte Simons, Bl. 2. 103 Niederschrift über aktuelle Tätigkeiten des Friedenspreises vom 26. Juni 1924, in: ebd., Bl. 3 f. 104 Walter Simons an die Ausschussmitglieder am 13. Oktober 1924, in: ebd., Briefe Simons, Bl. 11. 105 Vgl. Dülffer, Internationalismus, Zitat S. 262; Wintzer, Deutschland, S. 47–50, 185–188, 225–227.

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nicht einmal formal »gleichgeschaltet« werden, womit sie durchaus beispielhaft für die politische Kultur der Weimarer Republik steht. Hans Delbrück war ebenfalls Mitglied und wurde in die Arbeiten mit eingespannt106. Dabei hatte er schon im Weltkrieg dem Gedanken eines Völkerbundes positiv gegenüber gestanden. Seine Frau Lina berichtete über den September 1918, unter der Führung Lujo Brentanos hätten sich mit Zustimmung des Auswärtigen Amts eine Reihe führender Wirtschaftsexperten und Politiker für einen Völkerbund stark gemacht, um in der Zukunft wieder freundschaftliche Beziehungen der Völker untereinander zu erreichen. Neben Männern wie Bernhard Dernburg, Hermann von Hatzfeldt, Max Warburg und Theodor Wolff sei auch Hans Delbrück in die Aktion involviert gewesen, die nur durch den plötzlichen politischen Umschwung im Herbst 1918 eingestellt worden sei107. Nach Friedensschluss, Anfang 1920, sah Hans Delbrück im Völkerbund, so enttäuscht auch er von dessen zunächst antideutscher Stoßrichtung war, das einzige Mittel zu einer Revision des Versailler Vertrags. Deshalb forderte er, »jeder Schmollwinkelpolitik abzusagen und danach zu streben, mitraten und mittaten zu können!« Er schlug auch einen Bogen zu Herder und Kant, die bereits die Idee des Völkerbundes ausgearbeitet hätten, und es nun also nur um eine Anknüpfung »an [die] beste Überlieferung deutschen Geistes« gehe108. Damit grenzte er sich von seinen konservativen Gesinnungsgenossen ab, die wie beispielsweise Gustav Roloff schlichtweg urteilten, es handele sich um eine »im letzten Grunde unmoralische, weil auf falschen ud. zum Teil unehrlichen Motiven beruhende Organisation«109. Diese Einschätzung wurde von Delbrück zwar weitgehend geteilt. Aber er war der Meinung, dass eine solche »Schmollwinkelpolitik« keinerlei Fortschritt in den internationalen Beziehungen bringen konnte. Ihm kam es darauf an, auf die Ungerechtigkeiten hinzuweisen und vor dem Hintergrund der hehren Ideale des Völkerbundes die deutsche Gleichberechtigung einzufordern. Nur so ließe sich die deutsche Isolation überwinden und eine neue Feindschaft zwischen den Nationen vermeiden110. 106 Vgl. das Schreiben des Schriftführers der DLfV, Hans Simons, an Delbrück vom 10. Oktober 1919, in: SBB NL Delbrück, Briefe Deutsche Liga für Völkerbund, Bl. 2. Auf diesem Schriftstück hat Delbrück notiert, den Jahresbeitrag entrichtet zu haben. 107 Aufzeichnung Lina Delbrücks, Abschrift in: BArch N 1017/77, Delbrücks Leben, Bd. XIII 1918, S. 112 f. 108 Hans Delbrück: »Friede – und was nun?«, in: Mitteilungen der Deutschen Liga für Völkerbund vom 10. Januar 1920, in: BArch N 1017/2 und SBB NL Delbrück, Fasz. 89b. Bereits vor dem Versailler Vertrag hatte Delbrück große Hoffnungen in den Völkerbund als Institution zur »Bewahrung vor neuem Wüten der Kriegsgeißel« gesetzt (Hans Delbrück: »Der zu erwartende Frieden«, in: PJb 175 (1919), S. 146–150, Zitat S. 147). 109 Gustav Roloff an Hans Delbrück am 13. September 1924, in: SBB NL Delbrück, Briefe Roloff II, Bl. 39. Max Montgelas sah im Völkerbund nur einen »Lakei der Gewalt« (­Montgelas an Delbrück am 16. September 1923, in: ebd., Briefe Montgelas I, Bl. 83–85). 110 Mit diesem Ansatz unterschied sich Delbrück von der Mehrheitsmeinung. Hatten die Deutschen noch 1918/19 die Einrichtung eines Völkerbundes sehr begrüßt, fühlten sie sich durch den Ausschluss Deutschlands düpiert, sodass die Euphorie umschlug in Ab-

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Als sich mit der Locarno-Politik 1925 der Weg für einen deutschen Beitritt zum Völkerbund öffnete, begrüßte Delbrück dies als »ein[en] große[n] Fortschritt«. Und doch meinte er, man könne rein praktisch kaum Vorteile für Deutschland erwarten durch einen etwaigen Beitritt: »Das Entscheidende bleibt die Teilung der Nationen in bewaffnete und unbewaffnete.« Der Völkerbund sei zu schwach, um Deutschland vor weiteren Repressionen zu bewahren. Deshalb müsse sich die Republik durch eine weitere Annäherung an die Sowjetunion absichern, um nicht gänzlich wehrlos zu sein111. Aus dieser Betrachtung spricht eine gewisse desillusionierende Erfahrung aus den ersten Nachkriegsjahren, die Delbrück von seinem noch 1920 so fest artikulierten Glauben an den Völkerbund abrücken ließ. Allerdings hatte er immer betont, dass supranationale Organisationen allein nicht in der Lage dazu seien, Kriege zu vermeiden. Das war für ihn stets hauptsächlich eine Mentalitätsfrage der Völker, aber eben auch eine Frage der rein praktischen Politik. Und hier sah er in Frankreichs Aktionen gegen Deutschland eine große Gefahr. Insofern kann man sein Plädoyer für eine eigenständige Außenpolitik mit Anlehnung an Russland, das der alten Tradition deutscher Machtpolitik entspricht, auch als einen Delbrückschen Weg zur Friedenssicherung auffassen: Nur ein wiedererstarktes Deutschland könne sich vor den Repressionen durch Frankreich schützen, da der Völkerbund hierzu nicht in der Lage sei. Und nur eine Änderung der französischen Deutschlandpolitik werde den deutschen Hass auf das Nachbarvolk eindämmen können. Man muss Delbrücks Haltung aus heutiger Sicht zwar als zu konservativ und dem Gedankengut der wilhelminischen Ära zu sehr verhaftet bezeichnen. Dennoch war er an diesem Punkt wesentlich fortschrittlicher als viele seiner Gesinnungsgenossen: Auf seinem Mittwoch-Abend im August 1925 hatte der Schweizer Eduard Blocher Deutschland von einem Eintritt in den Völkerbund abgeraten, »weil damit die Verhältnisse des Versailler Diktats stabilisiert sei. [sic]«112 Die sonstigen Meinungen hierzu in der Diskussionsrunde sind zwar nicht überliefert, aber die briefliche Zustimmung von Max Montgelas zu diesem Vorschlag113 lässt darauf schließen, dass in den Kreisen der bürgerlichen Mitte und des gemäßigt rechten Spektrums keinesfalls eine vorbehaltlose Zulehnung der Organisation. Auch die Tätigkeit des Völkerbunds in den ersten Nachkriegsjahren hatte nicht dazu beigetragen, Vertrauen in seine Unparteilichkeit zu erwecken. Für die Deutschen nahm der Völkerbund so lange seine Aufgabe nicht wahr, wie er keinen Schutz gegen die als Willkür empfundene Politik Frankreichs bot. Damit war »[d]ie deutsche Kritik am Völkerbund […] immer auch eine Kritik am Versailler System.« (Wintzer, Deutschland, S. 564 f, Zitat S. 565). Delbrück empfand zwar genauso wie die Mehrheit seiner Landsleute, gab sich aber keiner puren Aversion hin und warb weiterhin für den Völkerbundsgedanken. 111 Hans Delbrück: »Locarno und Rußland«, in: BBC, 58. Jg, Nr. 494 vom 21. Oktober 1925, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 88a. Ganz ähnlich auch Ders.: »Die Dokumente des Grafen Brockdorff-Rantzau«, in: Neue Freie Presse, Nr. 21948 vom 21. Oktober 1925, in: ebd., Fasz. 89c. 112 Delbrück an Montgelas am 13. August 1925, in: ebd., Briefkonzepte Montgelas, Bl. 20 f. 113 Montgelas an Delbrück am 18. August 1925, in: ebd., Briefe Montgelas II, Bl. 67–69.

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stimmung zur Stresemannschen Politik herrschte. Folglich sticht Delbrücks zwar zurückhaltende, aber doch im Kern bejahende Einstellung positiv heraus. Zudem lag er hier auf einer Linie mit dem Pazifisten Hellmut von Gerlach, der ebenfalls in der französischen Deutschlandpolitik die Ursache für den anhaltenden deutschen Chauvinismus sah114. Delbrück sah eben im Akt des Eintritts Deutschlands in den Völkerbund nicht eine Sanktionierung der bisherigen Politik des Bundes und der Siegermächte, sondern im Gegenteil die Möglichkeit einer vollständigen Umwälzung der Verhältnisse. Damit dies auch tatsächlich so wahrgenommen wurde, tat Delbrück viel dafür, seine Ansichten publizistisch zu vertreten. Dass Delbrück sich nicht von seiner Überzeugung verabschiedet hatte, den Frieden auf der Welt herzustellen über den Völkerbund und eine Änderung in der Geisteshaltung der Völker, zeigen seine grundsätzlichen Betrachtungen zur Idee des Völkerbundes und seine Reformvorschläge für den Bund nach der gescheiterten Genfer Sitzung im April 1926. Deutschland, das um Aufnahme nachgesucht hatte, war zunächst nicht in den Rat aufgenommen worden, da mehrere mittelgroße Staaten für sich dasselbe verlangt hatten und sich die Suche nach einer Lösung über mehrere Monate hinzog. Delbrück schrieb in der Wiener »Neuen Freien Presse«, der Völkerbund sei bislang ein Instrument der Siegermächte gewesen, um Deutschland niederzuhalten. Durch die Aufnahme des Reichs sei er nun eine Organisation »gleichberechtigter Mächte [geworden], so wie es Wilson ursprünglich beabsichtigt hatte, es ihm durch geschickte Gegenspieler aber wegdiplomatisiert war.« Er, Delbrück, betrachte es als einen großen Erfolg, dass der Bund bei diesem Versuch nicht direkt zerbrochen sei, sondern alle Beteiligten nun an einer Reform arbeiteten. »Ich gehöre nicht zu denen, die den Völkerbund zu einem Universalüberstaat entwickeln möchten. Einen solchen Ueberstaat halte ich […] für einen Traum und nicht einmal für einen schönen Traum.« Bei einer vollen Gleichberechtigung der kleinen Staaten werde er nicht funktionieren, da sich die Großen nicht von den Kleinen regieren ließen. »Auch der idealste Völkerbund kann nur funktionieren und gesund bleiben, wenn er sich beschränkt auf das, was er leisten kann, was also nicht gerade die maßgebenden Mächte aus ihm heraustreibt.« Entscheidend sei folglich, dass die Souveränität der beteiligten Staaten gewahrt bleibe. »Das Grundprinzip seines Daseins ist also bei seinen Beschlußfassungen die Einstimmigkeit. Ganz bescheiden ausgedrückt, ist das Bestehen und die Organisation des Völkerbundes die Schaffung einer Atmosphäre guten Willens, eines bestimmten Ortes und bestimmter Zeit, wo man sich trifft, ein runder Tisch, an dem man zusammensitzt unter gegenseitiger Voraussetzung, sich verständigen zu wollen. Schon das ist nicht ganz wenig.«

Ob das am Ende funktioniere, werde bestimmt von der Frage, ob sich eine »Weltmeinung« entwickele, die die Einzelstaaten zwinge zu einer Verhand114 Vgl. Wintzer, Deutschland, S. 378 Anm. 5.

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lungsführung »im Geiste der Verträglichkeit. Jeder Versuch, an die Stelle dieses Geistes der Verträglichkeit eine formelle Beschluß- und Zwangsgewalt zu setzen, bringt die Gefahr einer Katastrophe.« Diesen Grundsatzüberlegungen schloss er konkrete Reformvorschläge an, um die aktuelle Krise zu überwinden. Die Zweiteilung in Versammlung und Rat hielt er prinzipiell für gut: »Die Großmächte haben die tatsächliche Führung, aber die kleineren sind beteiligt.« Um die Schwierigkeit der Abgrenzung zwischen Großen und Kleinen zu lösen, schlug er vor, auf die nichtständigen Ratssitze in der Regel Mittelmächte zu wählen, hin und wieder aber auch Kleinstaaten. Dazu müsse die Wahlperiode für die nichtständigen Sitze auf ein bis zwei Jahre verkürzt werden. Damit werde die Gefahr einer Erpressung, die wegen des nicht verhandelbaren Einstimmigkeitsprinzips immer bestehe, vermindert. Außerdem habe die Weltmeinung die Möglichkeit, Druck auszuüben. Abschließend betonte Delbrück nochmals: »[D]ie wahre Reform des Bundes [ist] nicht zu suchen […] in seiner formalen Konstruktion, sondern in den Prinzipien, nach denen er handeln soll.« Damit meinte er eine Abwendung vom Geist Versailles hin zu einem »Geiste der Humanität und der Gerechtigkeit«115. Diese Betrachtungen zur Zukunft des Völkerbunds sind aufschlussreich für die Verortung Hans Delbrücks. Für ihn bestimmten weniger formale Prozesse und Strukturen die künftige Aussöhnung, als vielmehr die Haltung und Einstellung, mit der die Völker und Staaten einander begegneten. Der Völkerbund war lediglich ein Instrument, eine Organisation, die man nutzte zur Verständigung, und weniger ein Wert an sich. Eine solche Einschätzung konnte vor zu viel Bürokratismus bewahren und vor allem die Beteiligten immer wieder auf das Wesentliche zurückführen. Selbstverständlich war ihm, dass alle Staaten, und zwar gerade auch die kleinen, ernst genommen werden müssten. Dies passte in seine Linie, die er schon im Kaiserreich bei seiner Kritik an der deutschen Polenpolitik entwickelt hatte. Die Einbindung und der Ausgleich aller Nationen unter dem Ideal der Gerechtigkeit waren für Delbrück der Schlüssel zur langfristigen Friedenssicherung. Seine Warnung vor einem »Überstaat«, ausgestattet mit einer Zwangsgewalt, war nur zu realistisch. In dieser Ära des Nationalismus und der unmittelbaren Kriegserfahrungen hätten solche Maßnahmen nur schwer funktionieren können. Der Weg der Verständigung konnte also nur über eine Akzeptanz des anderen und den Ausgleich der Interessen gehen. Dass Delbrück die »Weltmeinung« als einen wichtigen Faktor für das Funktionieren des Völkerbunds beschrieb, ist ein Hinweis darauf, dass er nach wie 115 Hans Delbrück: »Ein Vorschlag zur Reform des Völkerbundes. Anläßlich der Kontroverse über die Ratssitze«, in: Neue Freie Presse, Nr. 22117 vom 11. April 1926, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 88a, Hervorhebungen ebd. Eine Woche zuvor hatte Delbrück bereits im Neuen Wiener Tagblatt erste Überlegungen in diese Richtung angestellt und das vorläufige Scheitern der Verhandlungen nicht als Niederlage Deutschlands interpretiert, sondern als eine Krise des Völkerbunds, allerdings eine heilsame. (Hans Delbrück: »Europa nach Genf«, in: NWT, Nr. 94 vom 4. April 1926, in: ebd., Fasz. 88 f). Weiteres Material zum Thema Völkerbund findet sich in: ebd., Fasz. 138.2.

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vor davon ausging, dass die Weltgeschichte in eine neue Epoche eintrat, in der eben die Öffentlichkeit als Faktor in den internationalen Beziehungen von ausschlaggebender Bedeutung wurde. Der konservative Delbrück bekannte sich also zu einem gewissen Grad zu kosmopolitischem Gedankengut: Er ging aus von der Überzeugung, dass die Welt eine fehlerhafte Einschätzung vom deutschen Wesen habe. Die deutsche (amtliche) Politik vor 1914 sei zwar häufig ungeschickt und aggressiv im Auftreten, keinesfalls aber mit dominanter oder gar kriegerischer Absicht konzipiert gewesen. Die Wahrnehmung, die man im Ausland von den Deutschen habe, beruhe nur auf der Art des Auftritts, nicht auf der tatsächlichen Politik. Delbrück forderte deshalb immer schon ein politisches Auftreten, das sich in die anderen Völker hineinversetzte und die Weltöffentlichkeit überzeugen würde. Aus diesem Grund hatte er im Kaiserreich immer wieder die preußische Polenpolitik oder Wilhelms Reden einer scharfen Kritik unterzogen116. Im Weltkrieg warnte er, dass die alldeutschen Kriegsziele den Hass der Gegner auf Deutschland nur noch mehr schüren würden und trat nicht zuletzt deshalb für eine Mäßigung ein. 1921 beklagte er, das Reich hätte vor 1914 einen starken Bundesgenossen haben können, die öffentliche Meinung der Welt, den aber hätte man »geradezu mit Füßen von uns gestoßen«. Deutschland hätte suchen müssen, sich zum Anwalt der kleinen Nationen zu machen, und hätte damit die Achtung der Welt erlangt. Spätestens jetzt sei es aber die zwingende Aufgabe Deutschlands, die Weltöffentlichkeit für sich zu gewinnen, wenn man die Ungerechtigkeiten von Versailles überwinden wolle117. Diese Gedanken hatte er bereits im Herbst 1919 formuliert, als er sich mit der Stellung der Sozialdemokraten im neuen Staat auseinandergesetzt hatte: Um die Repression Deutschlands abstreifen zu können, helfe nur »der moralische Protest«. Dieser aber finde ausschließlich bei den Internationalisten der anderen Länder Gehör, bei Pazifisten und Sozialisten, weshalb also die SPD in Deutschland nun eine bedeutende Rolle spiele118. War Delbrücks Appell also nur taktisch motiviert unter dem Blickwinkel Versailles? Dem stehen weitere Äußerungen entgegen, wie zum Beispiel eine politische Betrachtung nach den Reichstagswahlen vom Dezember 1924. Im »Leipziger Tageblatt« forderte er ein Überwinden der Politik in rein nationalen 116 In seinem 1913 entstandenen Werk »Regierung und Volkswille« schrieb Delbrück beispielsweise zur Polenpolitik: »Die hakatistische Politik hat uns endlich auch im Auslande außerordentlich geschädigt. Es ist von hoher Bedeutung für jede auswärtige Politik, welches Ansehen ein Volk bei den anderen großen Kulturvölkern genießt. Das deutsche Volk ist, darüber darf man sich keiner Täuschung hingeben, von allen das unbeliebteste, und es ist keineswegs bloß der Neid der anderen Völker, wie man sich gern entschuldigt, der sie so scheel auf uns sehen läßt.« (Delbrück, Regierung I, S. 175). 117 Hans Delbrück: Vorwort zur zweiten Auflage der Dokumente von Graf Brockdorff-Rantzau, Berlin 1922, S. IX–XVII, Zitat S. IX, Sonderdruck in: SBB NL Delbrück, Fasz. 86a. 118 Hans Delbrück: »›Proleten und Juden‹«, in: PJb 178 (1919), S. 361–366, hier S. 366. Ähnlich auch: Hans Delbrück: »Die Regierung Bauer-Noske-Erzberger«, in: PJb 177 (1919), S. 298–301, S. 300.

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Kategorien und eine Annäherung an die sozialistische Idee des Internationalismus: »Ohne die Bundesgenossenschaft und die Pflege des kosmopolitischen Gedankens gibt es für Deutschland keine nationale Politik mehr.«119 Überlegungen wie diese zeigen, dass es Hans Delbrück dabei nicht nur um eine Strategie zur Revision und Revanche ging, sondern um das Ziel einer tatsächlichen Aussöhnung und den Eintritt in eine neue Ära der Völkerbeziehungen. Dabei unterschied er sich von den meisten anderen Deutschen, die – wie auch die übrigen Kontinentaleuropäer – nicht an die »friedenssichernde Kraft der Öffentlichen Meinung« glaubten, die ein wesentliches Grundprinzip der neuen Weltordnung durch USA und Großbritannien ausmachte120. In der Hinsicht stand Delbrück wesentlich fester auf dem Boden der westlichen Wertegemeinschaft, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Wichtig ist auch Delbrücks Einschätzung von Woodrow Wilson. Wie viele Deutsche, so beurteilte auch Delbrück den Versailler Vertrag am 14-PunkteProgramm des US-amerikanischen Präsidenten. Dieser hatte in einer Rede vor dem Kongress am 8. Januar 1918 seine Vision für eine künftige Friedensordnung in der Welt skizziert und dabei 14 maßgebliche Forderungen entwickelt. Im Einzelnen waren dies ein Ende der Geheimdiplomatie, die Freiheit der Meere, der Freihandel, Rüstungsbeschränkungen, eine Neuordnung der Kolonialpolitik, die Achtung der Souveränität Russlands und Belgiens, eine Neuregelung der elsass-lothringischen Frage, Grenzberichtigungen für Italien, die Autonomie der Völker im österreichisch-ungarischen Reich, auf dem Balkan und im osmanischen Reich, die Errichtung eines polnischen Staates sowie die Schaffung eines Völkerbundes zur Regelung der internationalen Beziehungen. Wilson, der diese idealistischen Vorstellungen vermutlich in ehrlicher Absicht entwickelt hatte, konnte sich damit in Versailles nicht durchsetzen121. In Deutschland war man sich über Parteigrenzen hinweg einig in der Empörung über diesen vermeintlichen Verrat. Man war zu sehr davon ausgegangen, einen Frieden auf der Basis dieser 14 Punkte zu erlangen und hatte die Augen verschlossen vor den realen Machtverhältnissen am Ende des Krieges. Der Mehrheit im Volk kam es auch überhaupt nicht in den Sinn, den Versailler Vertrag an den eigenen Kriegszielen und an Brest-Litowsk zu messen122. 119 Hans Delbrück: »Der Erfolg der Reichstagswahlen«, in: Leipziger Tageblatt, 118. Jg., Nr. 337 vom 20. Dezember 1924, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 88a. Ein weiteres Beispiel: In der »Zeitschrift für Politik« aus dem Jahr 1925 unterstrich Delbrück das Wort »Völker­ verständnis« und versah folgenden Satz mit der Randbemerkung »gut«: »Die Reichsverfassung proklamiert ja auch nicht den Klassenausgleich. Gelehrt und erstrebt werden kann nur ein Völkerverständnis.« (Hans Simons: »Bemerkungen zum Artikel 148 der Reichsverfassung«, in: Zeitschrift für Politik, Bd. II Heft 5 (1925), S. 50–52, hier S. 51, in: ebd., Fasz. 137). 120 Wintzer, Deutschland, S. 565. Grewe, Epochen, S. 695, sieht das »Zeitalter der Massen­ demokratie« als wesentliche Bedingung für die neue Ära im Völkerrecht. 121 Siehe zu den Friedensverhandlungen in Versailles Kapitel IV.1. 122 Vgl. Winkler, Weimar, S. 96.

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Hans Delbrück ist hier anders einzuordnen. Zum einen war er selbst während des Kriegs einer der erbittertsten Gegner der alldeutschen Kriegszielbewegung gewesen, sodass er von den Siegermächten eine gerechte Behandlung erwartete, wie er sie auch umgekehrt den Deutschen empfohlen hatte. Zum anderen schlug bei ihm die Enttäuschung über das Nichterreichen der 14 Punkte nicht um in eine grundsätzliche Ablehnung des westlichen Politikmodells, wie bei so vielen seiner Landsleute. Diese ausgesprochen gefährliche Entwicklung, die Deutschland wieder wegtrieb aus dem Kreis der Großmächte, beruhte auf dem Gefühl, dass die liberale Demokratie nur ein Feigenblatt sei für die Unterdrückung des Reiches123. Damit verband sich dann eben auch der Hass auf dieses Regierungssystem im eigenen Land, was für das Gelingen der Weimarer Republik fatale Folgen zeitigte. Diejenigen Deutschen, die sich für einen Wilsonschen Frieden eingesetzt hatten, waren durch das Ergebnis in Versailles desavouiert124. Delbrück hatte in einem Zeitungsartikel im Mai 1919 aus Versailles auch von einem »Umfall« des amerikanischen Präsidenten gesprochen125. Aber er glaubte weiterhin an die Kraft dieser Ideale, hatte er doch bereits während des Krieges Wilsons Programm als eine Chance für einen allgemeinen Frieden gesehen126. Er deutete den Ausgang der Versailler Verhandlungen weniger als einen Betrug durch Wilson, als vielmehr das, was er war: Wilson hatte sich gegenüber seinen Bündnispartnern nicht durchsetzen können, einen Verrat an seinen Idealen konnte man daraus aber nicht herleiten. Deshalb blieb Delbrück bei der Überzeugung, immer wieder an die Handelnden mit diesem Leitbild zu appellieren, um auf der Basis eines moralischen Rechts zu einer Revision des Versailler Vertrags zu gelangen. In der Weihnachtsausgabe 1925 des »Neuen Wiener Tagblatts« formulierte er seine Gedanken für die Öffentlichkeit. Die Redaktion hatte das Ende des ersten Viertels des 20. Jahrhunderts zum Anlass genommen, angesehene Gelehrte aus verschiedenen Ländern aufzufordern zur Besprechung der neuen Epoche. Hans Delbrück beklagte, dass die Welt am Boden liege aufgrund des Versailler Vertrages. Deutschland gebe Wilson hierfür die Schuld. Er selbst aber gestehe Wilson seine ehrliche Absicht zu. Chauvinisten in Frankreich, England und Deutschland hätten dessen Vorstellungen zunichte gemacht. Delbrück ging dann der Frage nach, ob nun mit Locarno die neue Epoche in den Völkerbeziehungen erreicht werde, die Wilson schon 1919 verfolgt hatte. Er gab sich für das nächste Vierteljahrhundert sehr optimistisch aufgrund historischer Betrachtungen: Das 19. Jahrhundert sei gekennzeichnet durch die Steigerung des Nationalgedankens (Delbrück meinte hier immer nur die westliche Welt), und 123 Vgl. Doering-Manteuffel, Amerikanisierung, S. 21 f; Thomas Lorenz, Weltgeschichte, S. 357–366. 124 Vgl. Schwabe, Gerechtigkeit, S. 80; Thoß, Entscheidung, S. 21. 125 Hans Delbrück: »Wilsons Umfall«, in: Neue Berliner Zeitung, Nr. 110 vom 22. Mai 1919, in: BArch N 1017/2. 126 Vgl. Schwabe, Wissenschaft, S. 103.

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gerade auch die deutsche Geschichtsschreibung sei ausgerichtet auf die Werdung des Nationalstaates. In dieser Anschauungsweise werde jedoch häufig vergessen, dass das Nationale im Reichtum des Abendlandes nicht alles sei. Er betonte, dass Europa trotz aller Kriege immer eine große Kultureinheit gewesen sei. Sehr gefährlich sei aber nun »die Tatsache, daß, wenn bei den Engländern, den Franzosen und auch bei den Deutschen Neigung vorhanden ist, das nationale Ideal mit dem Weltbürgertum auszugleichen, bei andern [sic] Völkern der Nationalismus gerade erst in die Halme schießt.« Insofern werde der Weltfrieden sich entscheiden weniger an der Frage der Bedrohung von Staatsgrenzen, sondern vor allem an der »Frage der Behandlung der Minoritäten.« Und auch wenn Deutschland in dieser Frage in der Vergangenheit keine rühmliche Rolle gespielt habe, zweifle er angesichts der Minderheitenpolitik von Ländern wie Polen, Rumänien oder Italien, ob man wirklich in eine neue Epoche der internationalen Beziehungen komme127. Delbrück hatte hier ein zentrales Problemfeld in der neuen Entwicklung des Völkerrechts128 erkannt, das Selbstbestimmungsrecht der Völker und generell die Frage des Umgangs mit jeweiligen Minoritäten. Bereits 1913 hatte er sich in seinem Werk »Regierung und Volkswille« mit diesem Thema auseinandergesetzt. Die fast unveränderte Neuauflage von 1920 hatte Delbrück bewusst in der neuen Zeit in Auftrag gegeben, um die Kontinuität seiner Anschauungen zu unterstreichen und aufzuzeigen, dass viele Diskussionspunkte im Bereich Politik und Regierungssystem unverändert aktuell seien. Das fast 200seitige Buch, das im Wesentlichen auf einer Vorlesung beruhte129, ist eine programmatische Abhandlung konservativen Ursprungs. Delbrücks Betrachtungen bringen zahl­ reiche, auch im liberalen Zeitalter ungelöste Probleme zur Sprache. Er behandelte zunächst die Frage, wie sich überhaupt ein Volk definiere, wenn man die Forderung stellt, dass der Volkswille die Regierung bestimmen solle. Er verwies auf die Schwierigkeiten einer Abgrenzung, da einerseits außerhalb der Reichsgrenzen Deutsche lebten und andererseits zur Einwohnerschaft des Reiches auch andere Nationalitäten (insbesondere Polen, Dänen und Franzosen) zählten. Bezogen auf die multinationale Zusammensetzung von ElsaßLothringen postulierte Delbrück: »Es ist doch offenbar unmöglich, daß jeder einzelne, beliebig herausgeschnittene Bruchteil eines Volkes ein Selbstbestimmungsrecht habe.«130 Man müsse sich also bei dem Begriff Volk von der Vorstellung einer nationalen Einheit verabschieden und die Gesamtheit der Einwohnerschaft eines Staates nehmen. Deutlich wird an diesen Ausführungen die deutsche Perspektive bei dem Thema Selbstbestimmungsrecht, die sich von der 127 Hans Delbrück: »Das neue Verhältnis der Staaten und Völker«, in: Neues Wiener Tagblatt, 59. Jg., Nr. 354 vom 25. Dezember 1925, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 89b, Hervorhebung ebd. 128 Zur Entwicklung des Völkerrechts in der Zwischenkriegszeit vgl. grundlegend Grewe, Epochen, S. 677–746. 129 Vgl. das Vorwort vom 11. November 1913, in: Delbrück, Regierung I, S. 3–5. 130 Ebd., S. 1–6, Zitat S. 2.

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angelsächsischen unterschied: War die Frage in Deutschland immer »mit der Problematik von Volk, Staat und Nation untrennbar verknüpft«131, hatte Wilson in seinen 14 Punkten gar nicht direkt davon gesprochen. Ihm war es vielmehr um verschiedene Möglichkeiten gegangen, im Interesse und zum Nutzen der Bevölkerungen Konfliktlösungen zu finden. Den Begriff Selbstbestimmungsrecht nutzte er überhaupt erst ab dem Beginn der Friedenskonferenz132. Die in Deutschland verbreitete Lesart eines Verrats ging auch daher fehl, da der Begriff des nationalen Selbstbestimmungsrechts im Englischen zunächst eine andere Bedeutung hatte als im Deutschen133. Nichtsdestotrotz mussten sich die Versprechen der neuen Ära im Völkerrecht, die sich durch die Nachkriegsordnung entwickelte, an der Realität messen lassen. Die Idee der Selbstbestimmung eines Volkes hatte ihren Ursprung in der Gedankenwelt der Französischen Revolution: Ausgehend vom Prinzip der Volkssouveränität und dessen Übertragung auf die internationalen Beziehungen entwickelte sich die Vorstellung, dass jedes Volk nicht nur über seine eigene Verfassung, sondern auch über seine Zugehörigkeit zu einem Staat befinden dürfe134. Maßgeblich von Woodrow Wilson angestoßen, wenngleich auch nicht in der vollen Absicht, ein unumstößliches Prinzip einzuführen, erhielt dieses Ideal Einzug in das Völkerrecht von 1919 und bekam schnell eine ethnische Aufladung135. Von Deutschland wurde in der Folge immer wieder scharfe Kritik an der Diskrepanz von Versprechungen und Taten geübt. Mehrere unter diesem Blickwinkel fragwürdige Entscheidungen wie beispielsweise die Teilung Oberschlesiens verstärkten bei vielen Deutschen die Wahrnehmung, es handele sich bei der Proklamation solch hehrer Ideale nur um eine Maske, die die reale Machtpolitik verhüllen solle, und in Wahrheit werde Deutschland dieses Recht verwehrt136. Deshalb kam es in weiten Kreisen zu einer Abkehr vom Gedankengut des Westens. Hans Delbrück gehörte zu den wenigen, die diesen Schritt nicht mitmachten, sondern an die Richtigkeit dieser Ideale im Kern glaubten und vor dem Forum der Weltöffentlichkeit und dem Völkerbund diese Rechte auch für Deutschland einforderten. 131 Schmid, Selbstbestimmung, S. 129. 132 Vgl. ebd., S. 137–139. 133 Vgl. ebd., S. 130. 134 Vgl. Grewe, Epochen, S. 493. 135 Vgl. Keylor, Versailles, S. 476. 136 Als im Januar 1919 Überlegungen der Siegermächte bekannt wurden, das Saarland vom Reich loszulösen, warnte Delbrück davor, dass ein solcher Schritt die Wurzel für neuen deutschen Hass von Sozialdemokratie bis Alldeutschtum bilden würde, besonders weil er im Gegensatz zu dem in anderen politischen Entscheidungen proklamierten Selbstbestimmungsrecht der Völker stehe (Hans Delbrück: »Saarbrücken«, in: Neue Berliner Zeitung, 15. Januar 1919, in: BArch N 1017/2). Auch Ferguson, Krieg, S. 386, bezeichnet die Wirkung des neuen Prinzips des Selbstbestimmungsrechts als »fatal«, da es speziell Deutschland häufig vorenthalten worden sei. Dies habe zu »einer organisierten Heuchelei« geführt: »Die Friedensmacher beschworen den Geist der Selbstbestimmung, ein Prinzip, was ohne Gewalt nicht anwendbar war.«

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Das neue Recht auf Selbstbestimmung der Völker hatte aber noch andere, nicht direkt mit Deutschland zusammenhängende Konflikte zur Folge: Wie Delbrück im »Neuen Wiener Tagblatt« bereits formuliert hatte, katalysierte dieses Versprechen den Nationalismus in Ostmittel- und Südosteuropa. Anders als in den sich über Jahrhunderte entwickelten Nationalstaaten Frankreich, England oder Spanien waren in diesen Regionen des Kontinents bislang ganz andere staatliche Ordnungen vorhanden gewesen. Der Vielvölkerstaat ÖsterreichUngarn beispielsweise hatte bis 1918 zahlreiche Ethnien und Nationalitäten im Kern friedlich unter einer staatlichen Organisation vereint. Die Vorgänge auf dem Balkan, die den Ersten Weltkrieg ausgelöst hatten, hatten nationales und nationalistisches Streben dieser Völker zum Hintergrund. Mit dem neuen Völkerrecht war für viele Bevölkerungsgruppen, Minderheiten und kleine Nationen nun aber erst recht ein Anspruch entstanden, sich autonom zu entwickeln und zu organisieren. Das so simpel postulierte Selbstbestimmungsrecht konnte den ausgesprochen komplexen Verhältnissen in Teilen Europas nicht gerecht werden137. Die Gefahren, die das mit sich bringen musste (man denke nur an die Konflikte auf dem Balkan, die sich noch 70 Jahre später auf blutigste Weise entladen haben), lagen für Delbrück klar zu Tage. Noch während des Krieges hatte er in der »Deutschen Korrespondenz« geschrieben, »Volkswille« und »Selbstbestimmung der Völker« seien »Begriffe, die, staatsrechtlich völlig unfaßbar, sich geschichtlich auf die allerverschiedenste Weise geltend machen können und häufig genug als solche anerkannt werden müssen und auch anerkannt worden sind«138. Somit war er zwar ein Kritiker des liberalen Gedankenguts der neuen Ära, lehnte dies aber nicht rundweg und aus Prinzip ab. Er lobte die Vorzüge der Ideen und warb selber für sie, tat dies aber nicht blindnaiv, sondern setzte sich kritisch mit den problematischen Auswirkungen auseinander und verschloss nicht die Augen vor möglichen Schwierigkeiten. Im Juli 1925 diskutierte der Mittwoch-Abend über die Frage, »ob die an allen Ecken und Enden drohende Gefahr erneuter Kriege durch die vereinigten Staaten von Europa überwunden werden könne.« Delbrück schrieb seinem Freund Wilhelm Solf, er habe diese Idee zunächst »für rein utopisch gehalten«, sich aber in der Debatte davon überzeugen lassen, dass sie nicht vollkommen unrealistisch sei. »Der praktische Weg wäre natürlich zunächst eine wirtschaftspolitische Annäherung, ein europäischer Zollverein.« Dann jedoch wies er auf mögliche Schwierigkeiten hin: »Aber sobald es an die Praxis geht, schwinden diese Ideen. Was würden unsere Bauarbeiter sagen, wenn mit dem europäischen Zollverein auch die europäische Freizügigkeit kommt und hunterttausend italienische Maurer die Fahrt nach Deutschland antreten?« Zum Vorschlag des Gründers der Paneuropa-Union, Richard Coudenhove-Kalergi, Großbritannien aus dem europäischen Staatenverbund auszuschließen, bemerkte Delbrück: 137 Vgl. Steel, Prologue, S. 28–34. 138 Hans Delbrück: »Festhalten an der Reichstagsresolution«, in: »Deutsche Korrespondenz« vom Mai 1918, Sonderdruck, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 86a.

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»[E]in Europa ohne England ist natürlich unmöglich, aber wiederum ein Europa mit England würde kein Europa mehr sein. Da England jetzt ein Weltstaat ist. Am meisten Aussicht hätten die Vereinigten Staaten von Europa wohl noch, wenn sie ihre Spitze gegen das bolschewistische Russland nähmen.«139

Diese Episode zeigt, dass Delbrück prinzipiell offen war auch für umwälzende Vorschläge zur Gestaltung Europas, dass er dabei jedoch schnell die praktischen Grenzen erkannte. Seine frühen Bedenken hinsichtlich der Auswirkungen einer europäischen Freizügigkeit sind angesichts der aktuellen Debatten in der heutigen Europäischen Union bemerkenswert. Gleichwohl ließ Delbrück sich durch derartige Probleme nicht abschrecken von der grundsätzlichen Idee. Sein Vorschlag, ein vereinigtes Europa zu gründen durch eine antirussische Klammer, wurde gut zwanzig Jahre später tatsächlich Realität – freilich unter gänzlich anderen Vorzeichen. Hans Delbrück ging davon aus, dass die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges so furchtbar auf die Völker gewirkt hatten, dass sie sich zu keinen neuen Kriegen mehr bereit finden würden. Damit einher ging seine im Kern zutreffende Beobachtung, dass die Bevölkerungen durch das Aufkommen der Medien und die Demokratisierung in den einzelnen Staaten ein neuer Machtfaktor in den Beziehungen der Staaten untereinander geworden waren. Er hielt ihn für so bedeutsam, dass er weitere Kriege verhindern könnte. Obwohl der passive Widerstand im Ruhrkampf als der Lackmustest für Delbrücks Anschauungen, diesen im Kampf gegen militärische Macht erfolgreich einsetzen zu können, scheiterte, hielt er am Ideal der Völkerverständigung und -aussöhnung fest. Auch wenn er sich – wie fast alle Deutschen – an den Ideen Wilsons und der Politik der USA rieb, trat er vorbehaltlos für den Völkerbund ein. Auch hier brachte er Vorschläge für Reformen ein, die den Bund als friedenssichernde Institution stärken sollten. Delbrück behielt mit seiner Prophezeiung vom Ende des Krieges (im Westen) nicht Recht. Bereits zehn Jahre nach seinem Tod war Deutschland tatsächlich dazu in der Lage, den gesamten Kontinent mit einem Vernichtungskrieg zu überziehen, der an Furchtbarkeit den Ersten Weltkrieg weit übertraf. Die Angst in Frankreich vor einem neuen kriegerischen Ausgreifen Deutschlands war also durchaus berechtigt gewesen, und Delbrücks Meinung, dass das Reich auf absehbare Zeit hierzu nicht mehr in der Lage sei, war schlicht falsch. Seine Fehleinschätzung vor 1914 hätte ihn zu mehr Vorsicht vor einer neuen Prophezeiung bringen müssen. Erst die furchtbaren Gewaltexzesse im Zuge des Zweiten Weltkrieges dienten den europäischen Völkern in den folgenden Jahrzehnten als Abschreckung vor einem neuen Krieg. Aber nur die zahlreichen institutionellen Absicherungen innerhalb Europas konnten tatsächlich längerfristigen Frieden zwischen den Großmächten bringen. Im Übrigen hat es alle Zeit hindurch 139 Delbrück an Solf am 6. Juli (den hier zitierten Abschnitt verfasste Delbrück am 14. Juli) 1925, in: ebd., Briefkonzepte Solf, Bl. 3–5.

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weiter­hin Kriege gegeben – allerdings keine Völkerkriege mehr, es gab wieder ein neues Stadium der Kriegsgeschichte. c) Revanche oder Versöhnung? Außenpolitische Überlegungen »[Die französische, d. Vf.] Politik dient in Wahrheit nicht dem Frieden, sondern ist gefährlich, weil sie durch die fortgesetzte Kränkung des deutschen Nationalstolzes Rache-Gefühle hervorruft und den kriegerischen Instinkten immer neue Nahrung zuführt. Die wahre Sicherung des Friedens kann nur darin gefunden werden, dass in allen Völkern durch möglichste Befriedigung der nationalen Interessen die pazifistischen Bestrebungen in den Massen gefördert werden.«140

In diesem (nicht veröffentlichten) Aufsatz aus der zweiten Hälfte der 20er Jahre brachte Hans Delbrück seine Grundanschauung über die internationalen Beziehungen auf der Grundlage seiner Ansichten bzgl. des Fortlaufs der Weltgeschichte auf den Punkt: Das deutsch-französische Verhältnis war für ihn das entscheidende für die weitere Entwicklung Europas. Dabei erkannte er das französische Sicherheitsbedürfnis sehr wohl an, gleichwohl warnte er vor der Pariser Politik, die Deutschland zu sehr niederhalten wolle. Nur in einem echten Interessenausgleich gleichberechtigter Staaten sah er die Möglichkeit einer dauer­ haften Befriedung des Kontinents. Die Außenpolitik ist ein Bereich, zu dem Delbrück sich, verglichen mit den diversen innenpolitischen Fragestellungen, wenig geäußert hat. Zudem ist festzustellen, dass er hier anders als bei den wichtigen inneren Themen nur wenig Einfluss ausübte. Und dennoch lohnt ein Blick hierauf, um ein vollständiges Bild von Hans Delbrück als Politiker zu erhalten. Seine außenpolitischen Vorstellungen zu betrachten, ist wichtig, um sein Gesamtkonzept von Staaten und Gesellschaften zu verstehen. Vor dem Weltkrieg ging es Delbrück meist um Themen der Flotten- und Kolonialpolitik; nach dem Krieg war das Hauptthema der deutschen Außenpolitik für ihn die Kriegsschuldfrage. Hier gehörte er sehr wohl zu den bedeutendsten Akteuren in der Weimarer Republik, weshalb dieser Bereich getrennt untersucht wird141. Darüber hinaus aber sind unmittelbare Äußerungen zu den zentralen Problemen der äußeren Politik erstaunlich selten142. 140 Hans Delbrück: »Eine Friedensbürgschaft«, unveröffentlichter Aufsatz, o. D. [t.p.q. 1925], in: ebd., Fasz. 67.1. 141 Siehe hierzu umfassend Kapitel  IV. Dass Delbrück in der Außenpolitik hauptsächlich in diesem Bereich gewirkt hat, illustriert auch das Glückwunschschreiben des Außenministers Gustav Stresemann zu seinem 80. Geburtstag, in dem er sich bei Delbrück für seine Arbeit in der Kriegsschuldfrage bedankt (Stresemann an Delbrück am 10. November 1928, in: ebd., Fasz. 6.2, Bl. 58 f). 142 In den Preußischen Jahrbüchern übernahm er den außenpolitischen Teil auch erst spät (vgl. Mette, Politiker, S. 146).

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Als der französische Germanist und Pazifist Victor Basch ihn im Sommer 1922 in Berlin besuchte, schilderte Delbrück seine Eindrücke anschließend Max Montgelas. In dem dreistündigen Gespräch hatte Basch ihm »einen sehr guten Eindruck« gemacht. Am nachhaltigsten habe Baschs Ausführung auf ihn gewirkt, wie groß die französische Sorge gewesen »sei, die Russen möchten ihr Bündniss [sic] wieder fahren lassen und sich zu uns [den Deutschen, d. Vf.] zurück wenden. Darin steckt sicher eine gtosse [sic] tragische Wahrheit und manche Aeusserung französischer Staatsmänner [sic] die uns als Ausfluss der Kriegslust erscheint, könnte möglicherweise auf jenes Motiv zurückzuführen sein.«143

Zunächst einmal ist dieses Delbrücksche Bekenntnis ein eindeutiges Zeichen dafür, wie wichtig gerade in Zeiten außenpolitischer Spannungen der Austausch zwischen den Völkern und einzelnen Akteuren ist, um den jeweils anderen überhaupt erst einmal zu verstehen. Sodann wird deutlich, wie aufgeschlossen Delbrück war und welch hohe Bereitschaft er stets hatte, sich auf sein Gegenüber einzulassen und eine Verständigung zu suchen. Ob dieses Gespräch allein ausschlaggebend gewesen ist oder nicht, Delbrück zeigte jedenfalls durchaus Verständnis für die französische Deutschlandpolitik. Im Juli 1925 äußerte er in ähnlicher Weise gegenüber Wilhelm Solf, die Fran­ zosen würden wohl sehr gern zu einem Ausgleich mit Deutschland kommen wollen. Wenn sich dies noch nicht bemerkbar mache, »so ist der Grund offenbar, dass Briand und Poinleve [sic] sich ebenso vor ihren Nationalisten fürchten, wie unsere Regierung vor den Unsrigen.«144 Er erkannte also die französische Sorge vor einem deutschen Revanchekrieg an. Hier wiederum knüpften sich seine Betrachtungen zur Kriegsschuldfrage an: »Wenn die französischen Staatsmänner immer wieder erklären, daß der leitende Gesichtspunkt ihrer Politik die Sicherung ihres Landes gegen einen deutschen Angriff sein müsse, so ist diese Behauptung einerseits reine Heuchelei, da sie sehr gut wissen, daß Deutschland zu einer derartigen Offensive schlechthin unfähig ist, andererseits aber entspringt es der Furcht vor der deutschen Revancheempfindung; jeder Vorschlag aber, dieses deutsche Rachebedürfnis durch ein verständiges Entgegenkommen abzustumpfen und abzuschwächen, wird abgewiesen mit dem Hinweis, daß Deutschland im Jahre 1914 das friedliche Frankreich ohne jede Veranlassung überfallen habe. Die französische sogenannte Sicherheitspolitik steht also wie der ganze Versailler Vertrag im engsten Zusammenhang mit der Kriegsschuldfrage.«145

143 Delbrück an Montgelas am 26. Juni 1922, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Montgelas, Bl. 6 f. Die sich in der Folgezeit hieran anknüpfende Auseinandersetzung zwischen Basch und Delbrück in der Kriegsschuldfrage wird untersucht in Kapitel IV.4.e). 144 Delbrück an Solf am 6. Juli 1925, in: ebd., Briefkonzepte Solf, Bl. 3–5. Gemeint waren der französische Außenminister Aristide Briand und sein Premierminister Paul Painlevé. 145 Hans Delbrück: »Versailler Vertrag, Kriegsschuldfrage und Sicherheitsfrage«, in: Saar­ brücker Zeitung, 165. Jg., Nr. 54 vom 24. Februar 1925, in: ebd., Fasz. 89a.

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Für Delbrück war also die Erbringung des Nachweises, dass Deutschland am Weltkrieg keine (Haupt)schuld trage, nicht nur eine Suche nach der wissenschaftlichen Wahrheit, eine Sache der nationalen Ehre und die wichtigste Vorbedingung für eine Revision des Versailler Vertrages. Er war für ihn auch wichtig als Grundlage für die künftige Gestaltung der internationalen Beziehungen: Die französische Furcht vor einem deutschen Überfall speiste sich aus dem Trauma von 1914. Wenn man dieses Trauma dekonstruierte und den Franzosen die damalige im Kern friedliche Absicht der Deutschen vor Augen führte, könnte man ihnen Delbrück zufolge die Sorge vor einem neuen deutschen Krieg gegen Frankreich nehmen. Dies war wiederum die Voraussetzung für eine versöhnlichere französische Politik, die für Delbrück nötig war, um tatsächliche und wirkliche deutsche Revanchegelüste zu verhindern. An dieser Stelle kommt eine wichtige Verbindung zu seinem innenpolitischen Wirken zum Tragen: Der Kampf gegen die Annexionisten und Verantwortlichen für die Niederlage im Weltkrieg war für Delbrück auch deshalb bedeutsam, um dem Ausland zu beweisen, dass diese Kräfte in Deutschland keine politische Rolle mehr spielten146. Trotz allen Verständnisses für diese komplexen Zusammenhänge sah Delbrück in der französischen Nachkriegspolitik vor allem ein Drehen an der Gewaltspirale. Für die pazifistische Zeitschrift »Friedens-Warte« verfasste er Ende 1924 einen Artikel, in dem er »die Aussöhnung für moralisch unmöglich« erklärte, solange Frankreich nicht »die Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker, die es theoretisch so oft verkündet hat, auch praktisch uns gegenüber zur Ausführung bringt«147. Geradezu drohend klang sein bisweilen artikulierter Ausspruch: »Deutschland hat den Krieg verloren, weil es durch seine törichte Politik die ganze Welt dazu getrieben hat, für Frankreich Paetei [sic] zu nehmen; Frankreich wird jetzt den Kampf um den Frieden verlieren, weil Herrn Poincares Politik, [sic] die ganze Welt treibt [sic] für Deutschland Partei zu nehmen.«148 146 Das formulierte er z. B. sehr offen in einem Brief an den vormaligen Kronprinzen 1922, in: BArch N 1017/57. Im selben Jahr schrieb er auch an Kurt Hahn und drängte ihn dazu, Prinz Max zur Fertigstellung seines Buches zu bringen: »Eins der wenigen Mittel diese Vorstellung [des Auslands, dass Deutschland einen Revanchekrieg wolle, d. Vf.] zu bekämpfen, ist der immer erneute Hinweis darauf dass Ludendorff nicht die Qualitäten und nicht das Vertrauen hat der Führer in einem Revanchekrieg zu sein.« (Delbrück an Hahn am 21. September 1922, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Hahn, Bl. 1). 147 Diesen Schlussatz strich der Herausgeber Hans Wehberg, da er die Formulierungen für zu heftig hielt und sie einer Verständigung mit Frankreich entgegen stünden (Wehberg an Delbrück am 18. November 1924, in: ebd., Briefe Wehberg, Bl. 8). Der Schlusssatz findet sich in: ebd., Fasz. 88 f. 148 Hans Delbrück an Otto Lehmann-Rußbüldt am 10. Februar 1928, in: ebd., Briefkonzepte Lehmann-Russbüldt, Bl. 5. 1922 schrieb Delbrück ganz ähnlich über ein Gespräch mit einem Korrespondenten des Figaro: »Ich habe ihm gehörig eingeheizt nach der Formel »Nous avons perdu la guerre vous perdroz la paix«. [Wir haben den Krieg verloren, Ihr werdet den Frieden verlieren, d. Vf.] Er wurde ganz still als ich ihm die Absurdität der französischen Politik darlegte.« (Delbrück an Montgelas am 22. Juli 1922, in: ebd., Brief-

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In einem Artikel für die »New York Times« 1923 klang das so: Der Fortbestand der Republik hänge nicht von Innen, sondern von Außen ab, denn die Stellung der Regierung könne nur gefestigt oder erschüttert werden durch außenpolitische Erfolge bzw. Misserfolge. Frankreich aber sei die eine Macht, die gegen Deutschland arbeite, und das deutsche Volk frage sich allmählich, welche Legitimation eine Regierung habe, die es nicht schützen könne. »Wenn ein Volk zur Verzweiflung getrieben wird, so fasst es verzweifelte Beschlüsse.« Der dann irgendwann unausweichliche Krieg würde aber nicht mehr von der Republik geführt, die Deutschen würden sich dann »einer Diktatur unterwerfen […], und was dann kommt, kann man nicht wissen«149. Man muss in Rechnung stellen, dass Delbrück diese Zeilen in der Hochphase des Ruhrkampfs schrieb und sie also eher einem Hilferuf an die Vereinigten Staaten glichen, als einer durchdachten außenpolitischen Analyse. Gleichwohl ist seine Prophezeiung in der Rückschau geradezu beängstigend zutreffend. Die repressive französische Deutschlandpolitik der ersten Jahre nach dem Weltkrieg hat ohne Zweifel revanchistisches Gedankengut in Deutschland genährt und den Hass auf das Weimarer System geschürt, das dieser Politik hilflos gegenüberstand (die Frage nach der Berechtigung der französischen Politik soll hier nicht gestellt werden). Und dennoch hatte Delbrück Unrecht, die Verantwortung für das Gelingen der Republik ausschließlich auf das Verhalten anderer Mächte zu schieben und nicht zunächst auf das eigene Volk. Deutschland hatte einen großen Krieg schlicht verloren und musste mit den Konsequenzen leben. Es war eine Illusion, zu glauben, man werde alle negativen Folgen innerhalb weniger Jahre überwinden können. Insofern war hier die Erwartungshaltung der Deutschen fatal: Ausgehend von dem Gefühl, vollkommen zu Unrecht einem Diktatfrieden unterworfen worden zu sein, erwartete man geradezu selbstverständlich innerhalb kürzester Zeit eine vollständige Revision. Man wähnte sich moralisch im Recht und vergaß dabei völlig die machtpolitische Dimension in der Welt nach 1918/19150: Deutschland war besiegt worden und Frankreich, das den bis dahin grässlichskonzepte Montgelas, Bl. 8). Dabei hatte Delbrück wohl zunächst den rheinischen Separatismus und die französischen Bestrebungen im Zuge der Rheinlandbesetzung unterschätzt: Im Juli 1920 schrieb ihm Paul Rühlmann, er (Delbrück) halte Gegenmaßnahmen gegen die französische Propaganda im besetzten Gebiet für unnötig (Rühlmann an Delbrück am 30. Juli 1920, in: ebd., Briefe Rühlmann, Bl. 6). Und im November schrieb Rühlmann, auf einem der vergangenen Mittwoch-Abende habe er (Delbrück) sich erstaunt gezeigt über die französischen Absichten im Rheinland (Rühlmann an Delbrück am 18. November 1920, in: ebd., Bl. 7). 149 Hans Delbrück: »Die Stabilität der deutschen Republik«, ausgefertigt für die »New York Times« im Sommer 1923, in: ebd., Fasz. 67.2. 150 Albrecht Mendelssohn-Bartholdy, der mit Delbrück in Versailles gewesen war, schrieb diesem im Sommer 1919, Deutschland müsse nur zwei bis drei Jahre »still halten« und mit den Neutralen Verträge schließen, »so wird viel eingeholt werden.« (MendelssohnBartholdy an Delbrück am 6. Juli 1919, in: ebd., Briefe Mendelssohn-Bartholdy, Bl. 3).

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ten Krieg der Menschheitsgeschichte im eigenen Land erlebt hatte, hatte das unbedingte Bedürfnis, sich für die Zukunft zu schützen. Dass dieses französische Gefühl wiederum keiner unbedingt realen Konstellation entsprach, sondern eben hauptsächlich ein Gefühl war, verhärtete die Situation zusätzlich. Trotzdem begab sich Frankreich im Laufe der Jahre auf den Weg der Versöhnung und Mäßigung. Weil die Deutschen aber eine viel schnellere Entwicklung erwartet hatten, erkannten sie vielfach die schließlich beginnenden, langsamen Fortschritte in der Aussöhnung der beiden Länder nicht und fühlten sich als ewiger Verlierer. In dem Maße, in dem Frankreich versöhnlicher wurde, wurde Deutschland unversöhnlicher. Der Rechtstrend in Deutschland war unübersehbar und noch vor der Weltwirtschaftskrise 1929 so stark geworden, dass auch die amtliche Politik langsam auf Konfrontationskurs ging. Alle Zugeständnisse, die von Frankreich zunehmend gemacht wurden, verhalfen nicht mehr zu einer echten Aussöhnung, sondern schürten deutscherseits nur die Begierde nach mehr. Hans Delbrück ist von dieser Gesamtentwicklung nicht unbeeinflusst gewesen. Beobachtet man seine Positionen zur Außenpolitik über die Zeit hinweg, stellt man eine langsame Bewegung nach rechts fest. Auch er zeigte sich zunehmend enttäuscht von der angeblichen französischen Unnachgiebigkeit und forderte mehr und mehr die Rückkehr zu einer autonomen Machtstaatspolitik. Grundsätzlich hielt er immer an dem Ziel fest, Deutschland wieder zu einer gleichberechtigten Großmacht werden zu lassen. Und doch knüpften seine Überlegungen immer wieder an Gedanken der Völkerverständigung und -versöhnung an151. Dies zeigen im Folgenden die drei Beispiele Rapallo, Dawes und Locarno. »Revanche oder Revision?« fragte Delbrück in den »Mitteilungen der Deutschen Liga für Völkerbund« am Tag des Inkrafttretens des Versailler Vertrages. Den Weg einer Revanche schloss er direkt aus unter dem Hinweis auf die fehlenden Machtmittel. Stattdessen formulierte er den Grundgedanken der später seit Joseph Wirth durchgeführten Erfüllungspolitik152: Deutschland müsse die Entente 151 So schrieb er beispielsweise im Frühjahr 1924 in einer Betrachtung über den Ausgang der französischen und deutschen Wahlen: »Nichts wäre im gegenwärtigen Augenblick schädlicher, als wenn die Franzosen und Deutschen sich gegenseitig reizen, nichts kann wohltätiger wirken, als wenn man hüben und drüben den Willen zur Verständigung deutlich zu erkennen gibt.« (Hans Delbrück: »Die deutschen und die französischen Wahlen«, in: Leipziger Tageblatt, 118. Jg., Nr. 122 vom 18. Mai 1924, in: ebd., Fasz. 88a). 152 Der Begriff Erfüllungspolitik bezeichnet die Taktik, »[d]urch demonstrative Erfüllung der alliierten Forderungen […] deren tatsächliche Unerfüllbarkeit unter Beweis« zu stellen (Hildebrand, Reich, S. 415). Diese Strategie verfolgte die Weimarer Koalition unter Jospeh Wirth 1921/1922: Die als unerfüllbar eingeschätzten Reparationsforderungen der Alliierten sollten bis zur maximalen Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und Finanzen erfüllt werden, um damit letztlich ihre Unerfüllbarkeit zu beweisen. Heinrich Brüning trieb diese Politik 1930–1932 mit seiner Deflationspolitik auf die Spitze. Zur neuesten Kontroverse über die Wirtschaftspolitik Brünings vgl. Köppen, Krankheit, der die Alter-

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davon überzeugen, dass die Welt abhängig von einem lebensfähigen Deutschland sei: »[D]ie Zeit und wir müssen die Gegner zu der Einsicht bringen, daß man die Kuh, die man melken will [sic] nicht schlachten darf.« Das vielleicht einzige Mittel für eine Revision sei der Völkerbund. Nach dem Versagen Wilsons in dieser Angelegenheit153 gehöre nun »Mut« zu einem Bekenntnis zu dessen Gedanken, aber nur der Völkerbund könne den Versailler Vertrag ändern: »[U]nsere künftige Außenpolitik ist nichts anderes als ein riesenhafter Prozeß um unser Recht, des Rechts, das man uns in den Grundlagen des Waffenstillstandes verhieß und das man in Versailles schnöde gebrochen hat, und das Forum, vor dem wir Recht suchen müssen, ist der Völkerbund.«154

Damit hatte Delbrück den Weg bezeichnet, den er Deutschland in den Folge­ jahren immer wieder anriet. Das Hauptziel allen Strebens war für ihn – wie für fast alle Deutsche  – eine Revision des Versailler Vertrages, insoweit, dass das Reich wieder zu einer selbstständigen und anerkannten Großmacht würde. Den Weg hierhin sah er aber nicht in einer konfrontativen Außenpolitik, sondern in einer versöhnlichen Haltung, die sich aber immer auf das moralische und tatsächliche Recht berufen sollte. Exemplarisch wird dies deutlich am Vertrag von Rapallo, den Delbrück als einen Schritt zur Rückkehr einer selbstständigen Diplomatie begrüßte. In den diplomatischen Kreisen hatte sich zunehmend die Erkenntnis durchgesetzt, dass eine Revision der Versailler Bestimmungen vorerst nicht machbar war und deshalb aus machtpolitischem Kalkül heraus die Annäherung an das sich langsam konsolidierende Russland sinnvoll sein konnte. Die Überwindung der außenpolitischen Isolation sollte nach dem Rückzug der USA mit der Macht geschehen, die nicht an der Versailler Ordnung beteiligt war, nämlich der Sowjetunion. Am Rande der Weltwirtschaftskonferenz von Genua im April und Mai 1922 unterzeichneten die beiden Staaten in Rapallo, wo die Russen während der Konferenz untergebracht waren, einen Vertrag zur Aufnahme der diplomatischen Beziehungen. Auch wenn der Vertrag inhaltlich nicht spektakulär war, hatte Deutschland mit seinem eigenmächtigen Vorgehen die Westmächte brüskiert. Rapallo kennzeichnet deutlich die Selbstüberschätzung der Deutschen: Deutschland war 1922 weit entfernt davon, eine eigenständige Politik

nativen zu dieser Politik betont und Brüning eine national motivierte bewusste Krisenverschärfung vorwirft. Dagegen hat Borchardt, Alternative, gemäß seiner bereits seit Langem vorgebrachten Position Stellung bezogen und weist die These von Handlungsspielräumen für die Regierung Brüning ab. Köster, Zwangslagen, beleuchtet diese jüngste Kontroverse und kommt zu dem Schluss, dass in der Debatte keine neuen Argumente mehr auftauchen. 153 Siehe hierzu Kapitel III.1.b). 154 Hans Delbrück: »Friede – und was nun?«, in: Mitteilungen der Deutschen Liga für Völkerbund vom 10. Januar 1920, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 89b, Hervorhebungen ebd.

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betreiben zu können oder sich gar als Mittler zwischen Ost und West sehen zu dürfen155. Die Reaktionen im Reich selbst waren überwiegend positiv, nur bei SPD und USPD gab es leichte Vorbehalte, prominent verkörpert durch Reichspräsident Friedrich Ebert156. Hans Delbrück war der Meinung, »dass man es [den Vertrag, d. Vf.] in Deutschland als einen ersten Aktz [sic] der Selbständigkeit gegenüber den unausgesetzten Misshandlungen, mit denen Frankreich uns in unserer Wehrlosigkeit verfolge, mit Freuden begrüsst habe«157. Für ihn wie für die überwiegende Mehrheit der Deutschen stellte er einen ersten, wichtigen Schritt dar, sich von dem Diktat der Westmächte zu lösen und eigenständig Diplomatie zu betreiben158. Seine allgemeine Haltung zu Russland skizzierte er im Herbst 1925 in einer Betrachtung zu den Rückwirkungen der Konferenz von Locarno auf das deutsch-russische Verhältnis. Im »Berliner Börsen-Courier« sowie zeitgleich in der »Neuen Freien Presse« plädierte Delbrück für eine Realpolitik und selbstständige Außenpolitik. So sehr er die Verständigung mit den Westmächten auch begrüßte, warnte er vor einem Abbruch der Kanäle nach Osteuropa. Er sah, dass Russland die Verständigung zwischen Deutschland und den anderen Staaten als höchst kritisch empfand und den Völkerbund als ein Instrument zur Einkreisung des sozialistischen Staates einschätzte. Er plädierte für einen ideologiefreien Umgang mit der Sowjetunion: »Nichts wäre falscher als den Bolschewisten zu erklären, daß sie zunächst einmal ihren Prinzipien entsagen

155 Vgl. Fink, Genoa, S. 132. Insofern kann man auch von einem »Rückfall in wilhelminische Risikopolitik« (Winkler, Weg I, S. 425) sprechen. Hildebrand, Reich, S. 416–432, betont hingegen die Zwangslage, in der sich das Reich durch die Einhegung der Siegermächte befand, und hält die deutsch-russische Annäherung für auf der Hand liegend. Zu den Vorgängen, die zum Vertragsabschluss führten, vgl. Ago von Maltzans Aufzeichnungen vom April 1922, auszugsweise abgedruckt in: Linke, Quellen, Nr. 50, S. 106–109. Vgl. auch Linke, Rapallo, S. 100 f. Fleischhauer, Rathenau, arbeitet in einer Zusammenfassung der Forschungsprobleme zu Rapallo vor allem die offenen Fragen und fehlenden Quellen heraus. Dabei kommt sie zu dem Schluss, dass der deutsche Außenminister Walter Rathenau ein Opfer der Manipulation von Russen und Maltzan geworden sei. Die Interessen der maßgeblichen Kräfte seien vorrangig militärpolitische gewesen. 156 Vgl. Borowsky, Sowjetrußland, S. 44. Dennoch gab es auch Kritik; so äußerte der Staatssekretär im Reichsfinanzministerium Hirsch am 19. April die Befürchtung, dass »für die russische Taube auf dem Dache der fette Reparationsspatz in der Hand« geopfert worden sein könnte (zitiert nach: Winkler, Weimar, S. 171). 157 Aufzeichnung über ein Gespräch mit dem französischen Intellektuellen Victor Basch (zwei Exemplare der fünfseitigen Aufzeichnungen in: SBB NL Delbrück, Fasz. 117.1). Vgl. auch Schleier, Delbrück, S. 397. 158 Auch sein Freund Max Montgelas meinte, Rapallo sei »ja wieder einmal eine aktive Handlung« (Montgelas an Delbrück am 16. Mai 1922, in: SBB NL Delbrück, Briefe Montgelas I, Bl. 32). Und August Menge, ein Japan-Spezialist, schrieb 1924 an Delbrück, Deutschland könne nur mit Russland wieder hochkommen, da die drei Westmächte Deutschland hassten und narrten (Menge an Delbrück am 16. März 1924, in: ebd., Briefe Menge, Bl. 102–104).

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müßten, wenn sie wollten, daß man mit ihnen verhandele.« Ein gutes Verhältnis zu Russland gebe mehr Bewegungsfreiheit gegenüber Frankreich, so D ­ elbrück weiter159. Folglich sind seine Worte zu verstehen als ein Plädoyer für eine pragmatische Außenpolitik zugunsten des Reichs. Und dennoch zeigen sie in Bezug auf die Bolschewisten, dass er wusste, wie wichtig ein rhetorisches Abrüsten und der Verzicht auf Einmischung in innere Angelegenheiten anderer Länder war. Delbrück war nicht russophil, er sah sowohl das zarische als auch das sowjetische Russland nur zu einem Teil als Bestandteil des abendländischen Kulturkreises160. Aber er stellte ideologische Bedenken im Sinne einer lösungsorientierten Strategie zurück. Die Hoffnung, die Delbrück Anfang 1920 formuliert hatte, dass die Sieger­ mächte bei einer deutschen Erfüllungspolitik einsehen würden, dass ihre Forderungen zu hart seien, schien er bereits im Sommer 1922 verloren zu haben. In der »Neuen Zürcher Zeitung« warf er Frankreich vor, dass es »will, daß Deutschland zugrunde gerichtet werde, selbst wenn Frankreich darüber 159 Hans Delbrück: »Locarno und Rußland«, in: Berliner Börsen-Courier, 58. Jg., Nr. 494 vom 21. Oktober 1925, in: ebd., Fasz. 88a, und ganz ähnlich: Hans Delbrück: »Die Dokumente des Grafen Brockdorff-Rantzau«, in: Neue Freie Presse, Nr. 21948 vom 21. Oktober 1925, in: ebd., Fasz. 89c. Offenbar in Reaktion auf diese Äußerungen lud der sowjetische Botschafter Krestinski Delbrück zu einer Feier anlässlich der Gründung der UdSSR ein. Da dieser Anlass für Delbrück zu kompromittierend war, zeigte er sich Solf gegenüber erleichtert, unter dem Vorwand seiner Reise zum Dolchstoßprozess absagen zu können (Delbrück an Solf am 31. Oktober 1925, in: ebd., Briefkonzepte Solf, Bl. 8 f). In der Folge entwickelte Delbrück allerdings ein gutes Verhältnis zu dem 1938 unter Stalin ermordeten Krestinski. Zu Delbrücks 80. Geburtstag schickte der Botschafter Blumen (o.V.: »Ehrung Hans Delbrücks«, in: Leipziger Tageblatt vom 12. November 1928, in: ebd., Fasz. 8). Und in seinem Beileidsschreiben an Lina Delbrück formulierte Krestinski, es sei ihm eine »Ehre« gewesen, ihren Mann »persönlich kennen und schätzen gelernt zu haben« (Krestinski an Lina Delbrück am 15. Juli 1929, in: ebd., Fasz. 10.2, Bl. 89). Dies zeigt, welch hohes Ansehen Hans Delbrück im politischen Berlin der 20er Jahre genoss und dass er ohne ideologische Scheuklappen verkehrte. 160 Vgl. z. B. ein Interview Delbrücks mit Aminat Schpoljanski, Korrespondent einer Moskauer Zeitung am 4. September 1918, in dem Delbrück betonte, er sei weder ein Freund des absolutistischen Zarismus, noch der terroristischen Bolschewiki (in: BArch N 1017/16). Siehe ansonsten Kapitel III.1.a). Zu Polen hatte Delbrück ein ambivalentes Verhältnis: Als Kritiker der preußischen Polenpolitik im Kaiserreich (siehe hierzu: Wajda, Konzept) fühlte er sich zu einer Kritik an der polnischen Deutschenpolitik der Nachkriegszeit berechtigt. Den Korridor lehnte er ab. Er sei wirtschaftlich und national sinnlos für Polen und belaste das deutsch-polnische Verhältnis nachhaltig, da sich die Deutschen gemessen an den hehren Versprechungen des Selbstbestimmungsrechts der Völker hintergangen fühlten. Polen unterdrücke zudem die deutsche Bevölkerung in viel stärkerem Maße als dies je die Deutschen mit den Polen getan hätten (exemplarisch hierzu: Hans Delbrück: »Die deutsche Ostgrenze und das deutsche Recht«, in: Berliner Tageblatt, 54. Jg., Nr. 247 vom 27. Mai 1925, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 88e). Das Auswärtige Amt wollte wohl aufgrund dieses Artikels eine Offensive in der Angelegenheit starten (Delbrück an Montgelas am 28. Mai 1925, in: ebd., Briefkonzepte Montgelas, Bl. 14 f).

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in seiner Finanznot bleibt und seine zerstörten Gebiete nicht wieder aufbauen kann.«161 Das Schweizer Blatt bat Delbrück um einen weiteren, ausführlicheren Artikel162, den es dann am 8. September brachte163. Darin verglich er den Friedensvertrag von 1919 mit dem von 1871. Er wollte den Nachweis erbringen, dass Bismarck alles dafür getan habe, die Franzosen nicht zu demütigen und ihnen den Status einer Großmacht weiterhin zuzugestehen164. Der französische Wirtschaftshistoriker Henri Hauser antwortete in derselben Zeitung, Frankreich hingegen habe nach 1871 seine Reparationen loyal bezahlt, und äußerte seinerseits die Ansicht, dass Deutschland es darauf anlege, Frankreich zu ruinieren, auch wenn es dabei selber Schaden nehme165. Delbrück verfasste hierauf eine Replik, in der er sich eingehend mit den seiner Meinung nach verderblich hohen Reparationsforderungen auseinandersetzte166, die die »Neue Zürcher Zeitung« jedoch ablehnte, da sie keine neuen Gedanken enthalte167. Einige Wochen später klinkte sich dann der Historiker Charles S­ eignobos von der Universität Sorbonne in die Debatte ein. In einem Interview widersprach er der Delbrückschen Behauptung, Deutschland habe Frankreich nach 1871 eine humane Behandlung zukommen lassen im Hinblick auf die Reparationen. Zudem sei die heutige Lage mit damals überhaupt nicht zu vergleichen aufgrund der ungleich höheren Schäden. Er artikulierte die Ansicht, dass Deutschland den Versailler Vertrag sabotiere und deshalb eine harte Behandlung seitens der Alliierten notwendig sei168. Delbrück hielt dem in einer Antwort kurz nach Weihnachten entgegen, Bismarck hätte den Versailler Vertrag nie entworfen, da er undurchführbar sei. Er betonte nochmals, dass die Forderungen die deutsche finanzielle Leistungsfähigkeit überschritten und schlug die Einrichtung einer neutralen Kommission vor, die die Höhe der leistbaren Zahlungen feststellen solle. Deutschland würde diese dann zahlen, und im Gegenzug solle es von der Welt als unabhängig und gleichberechtigt behandelt werden169. Seignobos versuchte zwei Wochen später, um Verständnis für die französische Haltung zu werben: Poincaré 161 Hans Delbrück: »Die englisch-französischen Differenzen«, in: NZZ, 143. Jg., Nr. 1102 vom 24. August 1922, in: BArch N 1017/2. 162 Vgl. das Schreiben des Redakteurs Hans Kloetzh an Hans Delbrück vom 28. August 1922, in: SBB NL Delbrück, Briefe NZZ, Bl. 1 f. 163 Vgl. dazu das Schreiben von Kloetzh an Delbrück vom 7. September 1922, in: ebd., Bl. 3. 164 Der Artikel »Poincaré und Bismarck« ist abgedruckt in: Delbrück, Weltkrieg, S. 444–446. 165 Henri Hauser: »Zur deutsch-französischen Kontroverse«, in: NZZ, 143. Jg., Nr. 1187 vom 12. September 1922, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 119.4. 166 Hans Delbrück: »Die deutsche Reparationslast«, unveröffentlichter Aufsatz, o. D. [1922], in: BArch N 1017/18 und SBB NL Delbrück, Fasz. 67.2. 167 Kloetzh an Delbrück am 11. September 1922, in: SBB NL Delbrück, Briefe NZZ, Bl. 4. 168 »Unterredung mit Prof. Seignobos«, in: NZZ, 143. Jg., Nr. 1659, in: ebd., Fasz. 95.2. 169 Hans Delbrück: »Antwort an Herrn Prof. Seignobos«, in: NZZ, Nr. 1690 vom 30. Dezember 1922, in: BArch N 1017/2. Zur Entwicklung der Reparationsforderungen 1918/1919 vgl. Peter Krüger, Deutschland.

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»plädiert im Namen des Rechtes, ohne die Erfüllbarkeit berücksichtigen zu können. Gerade darin beruht das Tragische der Lage: daß das Recht und das Mögliche unvereinbar sind, und daß jedes der beiden Völker sich nur auf einen Standpunkt stellen kann und denjenigen des andern nicht einmal versteht.«

Das Gros des französischen Volkes wünsche keine Annexionen, wolle aber Schadensersatz. Man habe aber das Gefühl, von den Deutschen an der Nase herum­geführt zu werden wegen der ausbleibenden Reparationszahlungen. Deshalb sehe man nun die Ruhrgebietsbesetzung als letzten Ausweg170. Diese Debatte in der »Neuen Zürcher Zeitung«, einer international angesehenen Zeitung der neutralen Schweiz, war durchaus typisch für Delbrück. Auseinandersetzungen in Fragen der internationalen Beziehungen führte er häufiger in der Presse, wie auch am Beispiel der Kriegsschuld-Diskussionen deutlich wird171. Er suchte das internationale Publikum in der »Neuen Zürcher Zeitung«, um seine Meinung in der Weltöffentlichkeit durchzusetzen. Erwiderungen scheute er nicht, da er von der Richtigkeit seines Standpunkts überzeugt war. Pressediskussionen sind in ihrer Wirkung nicht ansatzweise vergleichbar mit diplomatischen Akten. Dennoch stellte Delbrücks Polemik den Versuch dar, zu einem Austausch zwischen den Völkern zu gelangen, um den jeweils eigenen Standpunkt zu erklären und nicht auf Konfrontation zu setzen. Dass Delbrück hierfür eine geeignete Persönlichkeit war und im Ausland ernst genommen wurde, zeigt die Vorbemerkung von Seignobos in seiner Replik: Er wies darauf hin, dass er prinzipiell keine Polemiken in Tageszeitungen ausfechte, in diesem Fall jedoch eine Ausnahme mache, da er Delbrück für »den intelligentesten aller deutschen Historiker halte«172. Tatsächlich war der zwei Jahre später zustande gekommene Dawes-Plan vergleichbar mit der Delbrückschen Idee zur Lösung der Reparationsfrage. Insbesondere auf Druck der USA, aber erst ermöglicht durch die Verständigungsbereitschaft, die Deutschland in der Ära Stresemann zeigte, wurde unter der Leitung von Charles G. Dawes eine Expertenkommission eingesetzt. Sie sollte die deutsche Zahlungsfähigkeit analysieren und Vorschläge für die zukünftige Ausgestaltung der Reparationen erarbeiten. Auf der Londoner Konferenz im August 1924 wurde dann der Dawes-Plan angenommen, der die »Überwindung der Nachkriegskonfrontation in Europa« einleitete173. Erstmals waren nun die genauen, jährlich zu leistenden Summen festgeschrieben worden. Wenngleich diese eine hohe (wie sich zeigen sollte: zu hohe)  Belastung des Reichs bedeuteten, gewann es zugleich neue außenpolitische Freiheiten: Das Ruhrgebiet 170 Charles Seignobos: »Replik an Professor Delbrück«, in: NZZ, Nr. 56 vom 14. Januar 1923, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 95.2. Zum Ruhrkampf siehe Kapitel III.1.b). 171 Siehe hierzu Kapitel IV.4. 172 Charles Seignobos: »Replik an Professor Delbrück«, in: NZZ, Nr. 56 vom 14. Januar 1923, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 95.2. 173 Niedhart, Aussenpolitik, S. 19.

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wurde geräumt, und Frankreich verzichtete dauerhaft auf sein Sanktionsrecht. Außerdem handelte es sich um eine echte, gegenseitige Vereinbarung, womit Deutschland wieder ein Akteur geworden war. Der Verlierer des Vertrags war vor allem Frankreich174. Das sah auch Hans Delbrück: Noch während sich die Verhandlungen in London hinzogen, schrieb er im »Altmärker«, der auflagenstärksten Zeitung der gleichnamigen Region, unbedingte Voraussetzung für eine Unterzeichnung müsse das Ende der französischen Besatzung sein. Dies werde sich mit entsprechendem Druck erreichen lassen, da ein Scheitern der Gesamtverhandlungen für Frankreich schlimmer sei als für Deutschland175. Der Ausgang der Konferenz gab ihm Recht, und so verteidigte er den Dawes-Plan im Reichstagswahlkampf Ende des Jahres, als er für die DDP warb, da Deutschland den Vertrag nun »loyal durchzuführen« habe176. Noch deutlicher wurde Delbrücks auf Versöhnung gerichtetes Plädoyer im Rahmen des Locarno-Vertrags ein Jahr später177. Die Entspannungs- und Versöhnungspolitik Stresemanns war in Deutschland heftig umstritten. Kommu­ nisten und Nationalisten lehnten die Anerkennung und Erfüllung des Versailler Vertrags ab, die für Stresemann überhaupt erst die Voraussetzung schufen für eine Revision. In diesem Sinne reihte sich Delbrücks Unterstützung für den Außenminister in seine grundsätzliche Linie ein, den Kampf gegen rechts. Der Vertrag von Locarno, der am 1. Dezember 1925 in London unterzeichnet wurde, bedeutete für beide rivalisierenden Mächte, Deutschland und Frankreich, Verzicht. Die Deutschen mussten die als Zumutung empfundene Entmilitarisierung des Rheinlands und die Abtretung Elsass-Lothringens nunmehr erneut verbindlich anerkennen. Die Franzosen wiederum mussten es hinnehmen, dass sie nicht mehr die dominante Rolle in Europa spielten und den östlichen Nachbarn wieder als souveränen Staat behandeln. Locarno verdeutlichte die Notwendigkeit eines guten Willens in den auswärtigen Beziehungen. Ohne die Bereitschaft, zu verstehen und Kompromisse zu schließen, war eine dauerhafte Friedensordnung unmöglich. Dem standen die ideologische Linke und (in beiden Ländern) die nationalistische Rechte gegen174 Vgl. Winkler, Weimar, S. 257–259, 264–266; Hildebrand, Reich, S. 445–451. Thomas ­Lorenz, Weltgeschichte, S. 125–128, stellt fest, dass in der Folge des Dawes-Plans die Republikaner in Deutschland erstmals eine Rhetorik der Verständigung einbringen konnten. Ritschl, Krise, S. 196–199, untersucht die konjunkturellen Folgen der Reparationszahlungen nach Dawes. In der Gesamtfrage der Reparationen stellt er in seiner vornehmlich wirtschaftswissenschaftlichen Studie die These auf, die realistisch eingeforderte Summe habe für Deutschland keine volkswirtschaftlich dramatische Höhe gehabt (S. 225–228). 175 Hans Delbrück: »Sicherheitsfrage und Schuldfrage«, in: Der Altmärker vom 7. August 1924, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 89a. Warum Delbrück im Stendaler Regionalblatt publizierte und nicht wie sonst üblich in einer überregionalen Zeitung, ist unklar. 176 Hans Delbrück: »Für die Demokratie«, in: Frankfurter Zeitung vom 4. November 1924, in: ebd., Fasz. 88e. Max Montgelas bezeichnete die DNVP-Opposition gegen das Vertragswerk sogar als ein »Verbrechen so groß wie der unbeschränkte U-Boot-Krieg« (Montgelas an Delbrück am 24. August 1924, in: ebd., Briefe Montgelas II, Bl. 4 f). 177 Zu Locarno vgl. Hildebrand, Reich, S. 452–460.

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über. Hans Delbrück sah dies deutlich, weshalb er den Einfluss von rechts bekämpfte. Nach der vom 5. bis zum 16. Oktober stattgefundenen Konferenz bekannte er, »[a]lle Arbeit muss darauf gerichtet sein, Locarno durchzuführen.« Wortgleich schrieb er an Max Montgelas und Wilhelm Solf, er sei dabei durchaus hoffnungsvoll, bisweilen ereile ihn aber eine sehr pessimistische Ein­ schätzung der innenpolitischen Durchsetzbarkeit178. In der Tat opponierte die DNVP in scharfer Weise gegen Stresemanns Politik. Sie trat sogar aus Protest gegen L ­ ocarno aus der Regierung aus, sodass der Vertrag nur mit den Stimmen der oppositionellen SPD, die damit wieder einmal ihre staatsmännische Haltung demonstrierte, im Reichstag verabschiedet werden konnte179. Delbrück führte den Deutschen im »Berliner Börsen-Courier« vor Augen, welch Fortschritt Locarno für sie war: »Man mache sich nur klar, was es bedeutet, daß im Jahre 1919, als wir den Eintritt in den Völkerbund beantragten, wir schroff abgewiesen wurden, und daß es jetzt die Anderen sind, die uns bitten und drängen, daß wir in den Völkerbund eintreten möchten. Wir sind nicht mehr die Besiegten, denen man Bedingungen diktiert, sondern verhandeln als Gleichberechtigte in den Formen und in der Sache.«180

Indem er diesen zentralen Punkt des Vertragswerks hervorhob, versuchte er auf einer sachlichen Basis die Stresemannsche Politik gegenüber den Rechten abzusichern. Sie waren damit argumentativ in der Defensive, was jedoch in der politischen Kultur der Weimarer Zeit nur nachrangige Bedeutung hatte. Denn die Rechten verstanden es stets, Gefühle anzusprechen und Leidenschaften aufzupeitschen, was politisch-taktisch oft erfolgreicher ist. Mitte der 20er Jahre jedoch waren sie noch nicht stark genug, um gegen die breite Koalition anzu­ kommen, die Stresemann stützte. Wenige Jahre später sah das bereits anders aus. Selbst Gustav Stresemann geriet zunehmend in die innenpolitische Defensive, sodass er im Ausland schärfere Töne anschlug. Nach seinem und Delbrücks Tod 1929 geriet die deutsche Außenpolitik endgültig in nationalistisches Fahrwasser. Delbrück hatte immer festgehalten an dem Ziel der Rückkehr Deutschlands als souveräne Großmacht. Ein solches System autonomer Staaten war zwar ein gefährliches, wie 178 Delbrück an Montgelas am 31. Oktober 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Montgelas, Bl. 30 f, und Delbrück an Solf am 31. Oktober 1925, in: ebd., Briefkonzepte Solf, Bl. 8 f. Er berichtete zudem beiden, der Mittwoch-Abend habe darüber sehr »anregend«, aber ohne Ergebnis debattiert. Montgelas schätzte die Verhandlungsergebnisse im Übrigen auch recht positiv ein (Montgelas an Delbrück am 21. Oktober 1925, in: ebd., Briefe Montgelas II, Bl. 84 f). 179 Vgl. Winkler, Weimar, S. 306–311. 180 Hans Delbrück: »Locarno und Rußland«, in: Berliner Börsen-Courier, 58. Jg., Nr. 494 vom 21. Oktober 1925, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 88a. Wilhelm Solf berichtete aus Tokio, »dass unser Entgegenkommen doch so etwas wie eine Entspannung der Weltlage gebracht hat und dass man uns mit mehr Achtung begegnet« (Solf an Delbrück am 21. Dezember 1925, in: ebd., Briefe Solf, Bl. 26–29).

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1914 gezeigt hatte, aber Delbrück war damit nur Kind seiner Zeit, auch Gustav Stresemann erstrebte nichts anderes. Delbrück wollte, genauso wie Stresemann auch, nach Locarno, dass das Reich »seine unabhängige Zwischenstellung behaupte[t]« und nicht prinzipiell in das westliche Lager einschwenkte181. Stresemanns Konzept, zu dessen Unterstützer man Delbrück zählen muss, setzte sich ab durch die Wahl der Mittel: Verständigung statt Konfrontation. Beide setzten nicht auf Revanche, sondern auf Revision durch Versöhnung. Eindeutig demonstriert wird diese Delbrücksche Haltung durch sein Opponieren gegen den Panzerkreuzerbau 1928. In einem Brief an Bernhard Dernburg warnte er hiervor und schrieb, nur auf politisch-diplomatischem Wege werde Deutschland wieder ein Gewicht erhalten können182. Trotz dieser prinzipiell optimistischen Einstellung wurde Delbrück im Laufe der Jahre pessimistischer und artikulierte immer seltener unmittelbar versöhnliche Gedanken. Als ihn Walter Simons 1927 zu einem Vortrag samt Abendessen mit dem französischen Germanistikprofessor Henri Lichtenberger einlud, sagte Delbrück ab. Zwar betonte er, die deutsch-französische Verständigung sei ihm »das Ideal der Ideale.« Frankreichs aktuelle Einstellung, dass Deutschland seine Nachbarn bedrohe, zeige aber »einen so unerhört bösen Willen, dass mir von deutscher Seite grosse Zurückhaltung in allen Beziehungen zu Franzosen geboten scheint, sowohl aus taktischen Gründen, wie um der nationalen Würde willen.«183 Dies zeigte eine gänzlich andere Einstellung zum Völkerverständigungsgedanken als er sie noch 1922 in seinem Gespräch mit Basch an den Tag gelegt hatte. Delbrücks Weg nach rechts zeigte auch sein Kommentar zum Briand-Kellogg-Pakt im Sommer 1928: In der »Deutschen Allgemeinen Zeitung« schrieb er, dass Frankreich den Krieg ächte, sei pure Heuchelei, da Deutschland aufgrund der Versailler Bestimmungen nicht dazu in der Lage sei, einen Krieg zu führen und auch für die Vergangenheit ein reines Gewissen habe184. Auch hier war er im Ton wesentlich schärfer als noch 1925. Auch die Verhandlungen, die letztlich zum Young-Plan führten, sah Delbrück zunächst kritisch – anders als noch die Dawes-Kommission 1924. So schrieb er Ende Mai an 1929 Montgelas, er sei zunächst dafür gewesen, die Verhandlungen scheitern zu lassen. Erst auf einer Diskussion beim Mittwoch-Abend habe er sich dann allerdings von der Gefährlichkeit eines solchen Vorgehens überzeugen lassen185.

181 Delbrück an Solf am 22. September 1927, in: ebd., Briefkonzepte Solf, Bl. 15 f. 182 Delbrück an Dernburgs Frau am 26. März 1928, in: ebd., Briefkonzepte Dernburg, Bl. 4. Zum innenpolitischen Konflikt um den Bau des Schiffs vgl. Winkler, Weimar, S. 332 f, 339–341. 183 Delbrück an Simons am 24. Januar 1927, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Simons, Bl. 9. 184 Hans Delbrück: »Der Kellogg-Pakt und die Kriegsschuldlüge«, in: DAZ, 67. Jg., Nr. 426 vom 11. September 1928, in: ebd., Fasz. 89a. 185 Delbrück an Montgelas am 31. Mai 1929, in: ebd., Briefkonzepte Montgelas, Bl. 55 f.

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2. Die Weimarer Reichsverfassung a) »Der Prophet des deutschen Staatsgedankens«186 »All unser Denken muß jetzt darauf gerichtet sein, wie wir, nachdem die Not über uns gekommen ist und das Alte zerstört hat, auf dem freien Willen seiner Bürger ein neues deutsches Staatswesen aufbauen. Ich spreche nicht von der Staatsform, die sich aus den inneren Kämpfen, in denen wir hin und her getrieben werden, praktisch entwickeln muß. Ich frage nach dem Geist des zukünftigen Deutschland.«187

Was war der Geist, den Delbrück hier 1923 einforderte? Deutlich wird, dass er – ganz typisch für die sogenannten Vernunftrepublikaner188 – der Staatsform nur eine untergeordnete Bedeutung zumaß. Damit ist eine verbreitete Haltung bezeichnet, die bei Delbrück und seinen Gesinnungsgenossen vorherrschte: Diese Träger des alten monarchischen Systems machten sich zu keinem Zeitpunkt von ihrer Überzeugung frei, dass der preußisch-deutsche Konstitutionalismus die beste aller Staatsformen sei, und stellten sich doch auf den Boden der neuen Tatsachen. Dabei behielten sie wesentliche Elemente ihrer hergebrachten Denkweise bei: Das war vor allem das obrigkeitsstaatliche Bewusstsein, das sich mit einer Ablehnung gegenüber dem in jeder Demokratie zwingend notwendigen Streit zwischen den Parteien verband189 und das Berufsbeamtentum als vermeintlich neutrale fachliche Verwaltungsinstanz hoch schätzte. Dazu kam das Denkmuster des traditionellen Staatsideals, das den Staatsbegriff sehr abstrakt sah190: Der Staat als solcher galt ihnen als sittliche Errungenschaft, dem zu dienen unter allen äußeren Umständen der höchste nationale Auftrag war. Dabei war der Staat zunächst unabhängig von der Staatsform. Diese Brücke diente den Vernunftrepublikanern dazu, sich trotz der immer wieder betonten Abneigung 186 So eine Charakterisierung des Delbrück-Schülers und -Mitarbeiters Emil Daniels, der 1928 formulierte: »Friedrich Naumann hat einmal geschrieben, ihn unterscheide von Delbrück, daß für ihn selber in erster Reihe das Volk komme, für Delbrück der Staat.«­ (Daniels, Delbrück, S. 19). 187 Hans Delbrück: »Deutsche Nationalerziehung. Eine Weihnachtsbetrachtung«, in: Berliner Tageblatt, 52. Jg, Nr. 596 vom 27. Dezember 1923, in: BArch N 1017/2. 188 Der mutmaßlich von Friedrich Meinecke eingeführte Begriff »Vernunftrepublikaner« ist definitorisch nicht einfach zu fassen. Vgl. Wirsching, Vernunftrepublikanismus, S. 10–16. 189 Delbrück schrieb zwar in seiner Weltgeschichte, »Parteigegensätze an sich sind nicht schädlich, sondern sogar unentbehrlich für das politische Leben.« (Delbrück, Weltge­ schichte V, S. 91). Gleichwohl findet sich diese Erkenntnis eher selten wieder in seinen tagespolitischen Äußerungen zur Weimarer Republik. 190 Döring, Kreis, S. 180, konstatiert diese Eigenschaften auch für die Wortführer des Weimarer Kreises (hierzu siehe Kapitel III.2.b)). Vgl. auch Mergel, Kultur, S. 263 f. In der Weimarer Nationalversammlung hatte es eine Debatte über den Staatsbegriff gegeben, die in der alten Vorstellung vom Staat als »einer dem Volk gegenüberliegenden Einheit« gemündet hatte (Bollmeyer, Weg, S. 344–347, Zitat S. 347).

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gegenüber dem parlamentarischen System positiv für das Deutsche Reich einzusetzen und sich nicht wie weite rechte Kreise darin zu erschöpfen, destruktiv gegen alles anzuarbeiten. Programmatisch dazu sind vor allem Delbrücks zahlreiche Betrachtungen aus den frühen Jahren der Republik. Dabei bestand er darauf, dass es »nicht Charakterlosigkeit [ist], die sich unterwirft, die neue Regierung anerkennt und unterstützt, sondern der Zwang einer historischen Notwendigkeit, die Liebe zum Vaterlande.«191 An anderer Stelle schrieb er ganz ähnlich: »Alle meine Ideale liegen heute am Boden, zerbrochen und beschmutzt. Aber die Weltgeschichte hat eine innere Gerechtigkeit, der ich mich beugen muß: eine Führerschicht, die ein Volk derartig in die Irre leitet, wie es bei uns in diesem Kriege geschehen ist, muß ihren Platz räumen.«192

In der Einleitung zu seiner »Weltgeschichte« schrieb Delbrück, der Staat sei »ein geistiger Organismus, der einen Willen hat, und als solcher ist er Person.« Der Staat stehe damit höher als der einzelne Mensch, der »sich ihm opfern muß«193. Charakteristisch ist auch die Episode, die sein Schüler Emil Daniels 1929 zu seiner Beerdigung aufschrieb: »Mit Ehrfurcht und Rührung« habe Delbrück seines Urgroßvaters gedacht, der kurz vor seinem Tod und der Schlacht von Jena gefragt wurde: »›Delbrück, woran denkst du?‹ und der zur Antwort gab: ›Ich denke an den Staat!‹«194 Damit ist Hans Delbrücks Verständnis von der Beziehung zwischen Bürger und Staat gekennzeichnet als sehr typisch für das Denken der bürgerlichen Elite der Zeit. Dass dies Denkmuster waren, deren sich später der Nationalsozialismus bediente, darf nicht über den fundamentalen Unterschied hinwegtäuschen: Zwar steht der Staat auch im Nationalsozialismus über den Rechten des Individuums, aber zugunsten eines weltanschaulichen, rassistisch begründeten Eroberungskampfes. Das hatte mit dem Staat als sittlicher Errungenschaft, wie ihn die Konservativen und Hans Delbrück in den 191 Hans Delbrück: »Waffenstillstand. – Revolution. – Unterwerfung. Republik«, in: PJb 174 (1918), S. 425–442, Zitat S. 435. In gleicher Weise schrieb er neun Jahre später immer noch, man liebe die Republik nicht, müsse ihr aber dienen, da sie »doch die einzige Form ist, in der Deutschland jetzt bestehen kann.« (Hans Delbrück: »Glaubenszwang«, in: DAZ 66. Jg., Nr. 287 vom 23. Juni 1927, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 88a). Der Leipziger Historiker Walter Goetz schrieb über Delbrück: »Er war kein eigentlicher Anhänger des neuen Staates […], aber er wußte, daß es für den wahren Patrioten keine andere Möglichkeit gab, als diesem Staate zu dienen, und so hat er das Seine getan, das neue Deutschland zu verteidigen, die Anschauungen zu klären, zur fruchtbaren Arbeit zu erwecken.« (Goetz, Delbrück, S. 317). Ähnlich bewertet auch Töpner, Politiker, Delbrücks Wandlung: »Er wurde Vernunftrepublikaner aus Staatsraison« (S. 133) und »[e]r liebte die Republik nicht, betrachtete sich aber als ihr Diener.« (S. 141). Als Professor und Beamter wurde auch Hans Delbrück auf die Weimarer Reichsverfassung vereidigt. Der Vereidigungsnachweis vom 24. Januar 1920 findet sich in: HU UArch, UK Personalia, DO 39, Bd. 1, Bl. 19. 192 Hans Delbrück: »Die Tirpitz-Erinnerungen«, in: PJb 178 (1919), 309–325, Zitat S. 324. 193 Delbrück, Weltgeschichte I, S. 16. 194 Emil Daniels: »Am frischen Grab«, in: PJb 217 (1929), S. 133–136, Zitat S. 136.

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1920er Jahren sahen, nichts mehr zu tun: »[D]as Individuum ist deshalb nicht wertlos und nicht rechtlos. Es steht unter dem Staat, steht aber auch wieder höher als der Staat. Was hätte der Staat für einen Zweck, wenn nicht in der Fülle der Individuen?«195 Für Delbrück war die Bejahung der neuen staatlichen Ordnung auch deshalb einfacher, weil er die Unzulänglichkeiten des alten Systems erkannte und die Schuldigen für Deutschlands Niederlage klar benannte und sich nicht von der Dolchstoßlegende blenden ließ196. Zentral war für ihn die Erkenntnis, dass ein Staat dauerhaft nur sicher fundiert sei, wenn er nicht nur von einer gesellschaftlichen Schicht geleitet, sondern auch von der Arbeiterschaft getragen werde. So plädierte er beispielsweise nach der Reichstagswahl im Mai 1924 gegen einen Bürgerblock. Die Aufnahme der DNVP in die Regierung hielt er nicht nur außenpolitisch für gefährlich, sondern auch im Innern für schädlich: Die »Aufgabe der Zeit« sei es, die Arbeiterschaft zur Mitarbeit am Staat zu gewinnen. Eine Regierung mit den Deutschnationalen unter Ausschluss der Sozialdemokraten würde im »deutsche[n] Volk auf unabsehbare Zeit« die Kluft zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft vertiefen197. Auch Friedrich Meinecke schrieb dazu rückblickend: »Wir haben eine geistige Brücke geschlagen zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft, eine leider nur zu schmale, – aber sie hat der Arbeiterschaft das Vertrauen gegeben, daß sie verstanden und geachtet würde auch von solchen, die in der alten Kultur Deutschlands wurzelten.«198 Nach dem Kapp-Lüttwitz-Ludendorff-Putsch im März 1920199, als die Frage nach dem Verhältnis der Reichswehr zur Republik aufgekommen war, verfasste Hans Delbrück einen um Vermittlung bemühten Artikel, den er im »Berliner Tageblatt« publizierte. Er schrieb, kein Sozialdemokrat könne nun noch dem 195 Delbrück, Weltgeschichte I, S. 16. 196 Diesen Zusammenhang betont auch Wilhelm Mommsen in einer Würdigung Delbrücks. Siehe Wilhelm Mommsen: »Hans Delbrück. Zu seinem 80. Geburtstag«, in: [unbekannte Zeitung], vom 10. November 1928, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 8. Zur Dolchstoßlegende siehe Kapitel V. 197 Hans Delbrück: »Für die große Koalition«, in: Berliner Tageblatt vom 9. Mai 1924, in: BArch N 1017/2. Ähnlich warb er auch im Reichstagswahlkampf im Dezember 1924 für die DDP, da sie die einzige Partei für eine Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie sei, und sagte auf einer Kundgebung im Großen Schauspielhaus in Berlin: »Das schlechteste Wort, das in das Volk geworfen werden konnte, ist das Wort Bürgerblock.« Dieses sei in einen Gegensatz zur Arbeiterschaft gebracht worden. »Das ist die schlimmste Zerreißung, die in unser Volk gebracht werden kann.« (O. V.: »Ludendorff und Tirpitz – die beiden Hauptschuldigen am Unglück Deutschlands«, in: unbekannte Zeitung, 38. Jg., Nr. 281 vom 3. Dezember 1924, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 108.1). Bereits im Sommer 1919 hatte Delbrück ein Plädoyer für Realpolitik abgegeben und dafür geworben, dass die Parteien »sich mäßigen« und von ihren Prinzipien lösen sollten. Das Kabinett Bauer aus SPD, Zentrum und DDP unterstützte er ganz pragmatisch, da er aktuell keine andere Möglichkeit der Politik sah (Hans Delbrück: »Die Regierung Bauer-Noske-Erzberger«, in: PJb 177 (1919), S. 298–301, S. 300). 198 Meinecke, Straßburg, S. 283. 199 Zu dem Staatsstreich und dessen Folgen vgl. Winkler, Weimar, S. 118–137.

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Wort eines Offiziers vertrauen, was er gut verstehe. Diesen Zustand müsse man aber dringend überwinden, da die Republik ein verlässliches Militär brauche. Delbrück mahnte: »Nur durch Einsicht und guten Willen auf beiden Seiten können wir zu diesem Ziel gelangen.« Die Arbeiterschaft müsse sich klarmachen, dass nicht alle Offiziere geputscht und ein Großteil genauso wie die Arbeiterschaft der Kapp-Regierung Widerstand geleistet hatte. Für die aufrechten Offiziere sei es »überaus verstimmend«, wenn sie in Mithaftung genommen würden für die Putschisten. Diesen Männern, die jahrelang ehrenwert gedient hätten, müsse man den Übergang in die Republik möglichst erleichtern, um sie auch für den neuen Staat zu gewinnen. Umgekehrt appellierte Delbrück an das Offizierkorps, sich nicht nur auf den Boden der neuen Verhältnisse zu stellen, sondern auch in seinem Verhalten Anlass dazu zu geben, dass man ihm Treue zum Weimarer Staat abnehme. Die Armee müsse öffentlich gegen den Staatsstreich Stellung beziehen, und die Soldaten müssten aufgeklärt werden über die Unterschiede zwischen Bolschewisten, Sozialisten, Demokraten und Spartakisten. »Die Armee als solche soll und darf keine Politik machen. Aber ohne irgendeine politische Gesinnung kann sie nicht sein. […] Zu den Bedingungen des neuen Lebens gehört eine Arbeiterpartei, die darauf verzichtet, ihren eigenen Stand zum Alleinherrscher zu machen, und eine bewaffnete Macht, die erkennt, daß ihre nationale Aufgabe heute darin besteht, die soziale Ordnung aufrecht zu erhalten und dadurch dem Deutschtum und der deutschen Kultur eine neue Stellung unter den Völkern der Welt zu ermöglichen.«200

Für Hans Delbrück waren diese Worte sehr schmerzhaft. Hatte er doch im Kaiserreich stets das Verhältnis von Offizierkorps zum Monarchen in eine histo­ rische Tradition zu dem Prinzip der germanischen Gefolgschaft gestellt, wie er es auch verschiedentlich in seiner »Weltgeschichte« dargelegt hatte. 1913 hatte er geschrieben: »Machen wir uns für jetzt klar, daß ein Verhältnis existiert, das zwar in keinem Verfassungsparagraphen irgendwie formuliert ist, aber doch die stärkste Gewalt ist, die wir im ganzen deutschen Reich haben, unzerbrechlich von innen heraus, von außen wäre sie nur zu zerbrechen durch die allerfurchtbarste der Niederlagen.«201 200 Hans Delbrück: »Die Republik und das Offizierkorps«, in: Berliner Tageblatt, 49. Jg., Nr. 222 vom 13. Mai 1920, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 88e, Hervorhebung ebd. Die Redaktion hatte den Abdruck kommentiert mit den Worten, Delbrück stehe weiter rechts als das Berliner Tageblatt, aber er sei »von drei Prinzipien geleitet, die vielen Leuten im Lager der Rechtsparteien leider entsetzlich erscheinen: von Vernunft, Ehrlichkeit und Menschlichkeit.« Vermutlich hatte Delbrück seine Zeilen zunächst im Vorwärts unterbringen wollen, um direkt zur Arbeiterschaft zu sprechen. Dessen Chefredakteur Friedrich S­ tampfer hatte sie jedoch abgelehnt mit der Begründung, unter anderen Umständen hätte er sie gerne angenommen. Zur Zeit aber sei das Volk so aufgewühlt, dass »Stimmen der Vermittlung« keine Chance hätten, durchzudringen. Delbrück würde momentan »nur zu leicht mit Absicht missverstanden« (Stampfer an Delbrück am 10. Mai 1920, in: ebd., Briefe Vorwärts, Bl. 1). 201 Delbrück, Regierung I, S. 138.

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Indem er nun die Armee zur Treue für die Republik aufforderte, stellte er sich ganz und gar auf den Boden der Tatsache der »allerfurchtbarsten Niederlage«, die das jahrtausendealte Band der germanischen Gefolgschaft zerrissen hätte. Truppenamtschef Hans von Seeckt schrieb Delbrück nach der Lektüre des »Berliner Tageblatts«: »Sie haben mir und wohl auch dem Offizierkorps der gesamten Reichswehr mit Ihrem ebenso gerecht abwägenden wie warmherzigem Aufsatze im Berliner Tageblatt eine große Freude und Genugtuung bereitet.«202 Diese Rückmeldung muss man zwar einordnen vor dem Hintergrund, dass sich Seeckts Reichswehr nach dem Staatsstreich politisch sehr in der Defensive befand, sodass er sicherlich um jeden freundlichen Kontakt bemüht war. Gleichwohl sollte man sie nicht als Heuchelei oder Anbiederung werten, sondern als Beleg dafür, dass es Delbrück gelungen war, den richtigen, mittleren Ton nach beiden Seiten zu treffen. Delbrücks Wirken an dieser Stelle muss man einordnen vor dem Hintergrund der Bedeutung, die dieser Brücke zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft zukam – Heinrich August Winkler spricht von der »Lebensgrundlage der Republik«203. Delbrück bemühte sich darum, die konservativen und gemäßigten Kräfte im Bürgertum an die Republik heranzuführen. Da er als Geheimrat und Angehöriger der alten Elite dieser Schicht selbst angehörte, konnte er darauf rechnen, bei vielen Gehör zu finden. Zugleich war er eine der wenigen bürgerlichen Persönlichkeiten, die sich auch in sozialdemokratischen Kreisen hoher Wertschätzung erfreuten. Diese Überzeugung, von der Notwendigkeit der vollständigen Einbindung der Arbeiterklasse in die Gesellschaft, hatte Delbrück schon während des Kaiserreichs geleitet204. Folglich war sie nach 1918 nicht neu entdeckt, sondern ein generelles Merkmal seiner politischen Vorstellungen. Damit ist ein weiteres Indiz dafür benannt, dass sich nicht Hans ­Delbrück unter dem Eindruck des deutschen Zusammenbruchs gewandelt hat, sondern er seinem Standpunkt über den Zeitenwandel hinweg treu geblieben ist. Vielmehr hat sich die politische Landschaft um ihn herum geändert. Eine wichtige Quelle ist in diesem Zusammenhang Delbrücks Schrift »Regierung und Volkswille«. Diese Ausführungen basieren auf einer Vorlesung über Parteien und Regierung aus dem Sommersemester 1913. Die Veröffentlichung fiel in die Zabern-Krise Ende 1913205, erhielt aber dennoch ein breites

202 Seeckt an Delbrück am 15. Mai 1920, in: SBB NL Delbrück, Briefe Seeckt, Bl. 1. 203 Winkler, Weimar, S. 277. 204 Vgl. Daniels, Delbrück, S. 21 f. Theodor Heuss schrieb 1923, Delbrück habe »früh genug das Problem [gesehen], den vierten Stand in den Staat einzufügen um des Staates willen« (Theodor Heuss: »Hans Delbrück. Zum 75. Geburtstage am 11. November«, in: Frankfurter Zeitung, Nr. 838 vom 11. November 1923, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 5). Im Einzelnen müsste das eine Studie über Delbrück im Kaiserreich analysieren. 205 Ein preußischer Leutnant hatte in Zabern elsässische Rekruten beleidigt, was in der dortigen Bevölkerung Proteste ausgelöst hatte. Hierauf reagierte die örtliche Militärverwaltung mit ungesetzlichen Willkürmaßnahmen, in deren Verlauf es auch Verletzte gab. Die

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Echo206. Delbrück legte seine grundsätzlichen politischen Anschauungen, die er seit Jahrzehnten insbesondere in den »Preußischen Jahrbüchern« vertreten hatte, ausführlich und strukturiert dar. Nach dem Krieg, im Jahr 1920, brachte er eine nahezu unveränderte Neuauflage heraus. Diese Tatsache zeigt, wie wenig sich der Publizist in seinen Auffassungen über die Zäsur von 1918/1919 hinweg gewandelt hatte. Im Gegenteil bekräftigte er im Vorwort zur zweiten Auflage, er bekenne sich nach wie vor zu allem, was er 1913 geschrieben hatte. Im Grunde genommen ist das 187-Seiten starke Buch eine Sammlung konservativer Überlegungen zum Verhältnis von Volk und Staat. »Der Volkswille ist Geist, reiner Geist, der physisch weder greifbar noch darstellbar ist«, postulierte Delbrück207 und arbeitete heraus, welche Schwierigkeiten es bereite, den Volkswillen überhaupt festzustellen und in einem Parlament abzubilden. Anhand des Beispiels des Wahlmodus der amerikanischen Präsidenten sowie der historischen Entwicklung des Parlamentarismus in England und Italien legte er dar, dass die Mehrheitsmeinung eines Volkes sich nicht unbedingt direkt in der Regierung widerspiegele und dass dennoch eine Regierung im Einklang mit der Majorität handeln könne208. Und doch sah er in der Institution des Parlaments einen großen Vorteil gegenüber der Abhaltung eines Volksentscheids, denn in Parlamenten »kann [man] auf die Einwendungen eingehen, ihnen eventuell durch Konzessionen entgegenkommen oder sie in Kompromissen überwinden. Mit dem Volk kann man nicht verhandeln«. »Das Referendum wirkt konservativ. Das Volk wünscht keine Veränderung, wenn ihm nicht das Übel etwa schon auf der Haut brennt.«209 Das politische System des deutschen Kaiserreichs kategorisierte er als »dualistisches«: »Der Kaiser mit den Bundesfürsten repräsentiert eine in sich selbst ruhende, historische Gewalt, die legitime Obrigkeit, die Obrigkeit ›von Gottes Gnaden‹, ausgewirkt zu dem regierenden Organismus des Beamtentums und des Offizierkorps, und neben dieser spezifischen, organisierten Reichsgewalt steht als überaus mächtiges Organ der Kontrolle und der Kritik, dessen Zustimmung nicht zu entbehren ist, die Volks­ vertretung, der Reichstag.«

In Gegensatz dazu brachte Delbrück das westliche Modell parlamentarischer Regierungen, für ihn ein monistisches System, da es einheitlich aufgebaut sei und die Regierung unmittelbar vom Parlament abhänge. Aufgrund dieser direkten Abhängigkeit sei die Korruption ein typisches Kennzeichen der Demokratien in Frankreich, England oder den USA – in Deutschland gebe es keine Affäre weitete sich zu einer schweren innenpolitischen Krise im Reich aus und brachte die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von ziviler zu militärischer Gewalt auf. 206 Vgl. hierzu die umfangreiche Sammlung von Buchbesprechungen in: BArch N 1017/19. Das Werk wurde 1924 in englischer Übersetzung sogar in den USA verbreitet. Siehe die Korrespondenz Delbrücks mit Roy Mac Elwee, in: SBB NL Delbrück, Briefe Mac Elwee. 207 Delbrück, Regierung I, S. 41. 208 Ebd., S. 6–17. 209 Ebd., S. 30.

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korrupten Politiker. »Dahingegen ist es ganz klar, daß an politischen Talenten, an Stärke und Bedeutung der Persönlichkeiten die anderen Volksrepräsentionen [sic] den deutschen Reichstag überragen.« Weil man aus dem Reichstag heraus keine Karriere machen könne, gebe es dort auch keine begabten Leute210. Ganz ähnlich schrieb Delbrück 1927 in einer Besprechung von Churchills Memoiren: »Nach deutschen Begriffen würde man einen so vielseitigen Mann von vornherein für einen Luftikus halten«, aber »er ist eine so starke Persönlichkeit, daß man nur mit dem höchsten Respekt von ihm sprechen kann.« Die deutsche Stärke sei der Fachmann, was aber zur Folge habe, dass die Persönlichkeiten stets sehr einseitig befähigt seien. »In England regiert der Dilettant, der weniger kann und weiß als der Fachmann, aber nicht so leicht wie dieser den Blick für das Ganze verliert.«211 Im Vorwort zur Neuauflage von »Regierung und Volkswille«, das er im Dezember 1919 verfasste, schrieb Delbrück, die westlichen Demokratien hätten sich im Krieg nicht als leistungsfähiger erwiesen, sondern lediglich durch ihre größere Masse gesiegt. Das Deutsche Reich habe nur vermöge seines besseren Systems vier Jahr lang standhalten können. Seine »historisch-politische Auffassung« vom Hohenzollernreich sei im Weltkrieg »bestätigt« worden, und zwar auch seine Schwäche gegenüber dem westlichen Modell, »die mangelnde Fähigkeit der Ausbildung von Persönlichkeiten. An diesem Punkt und nur an diesem Punkt haben sich tatsächlich die Völker der Entente uns überlegen erwiesen.«212 Delbrücks Schüler Konrad Molinski schrieb 1928 in einer Würdigung anlässlich Delbrücks 80. Geburtstag, dieser habe nach der Niederlage und Revolution seine politischen Grundüberzeugungen nicht revidieren müssen, da er 210 Ebd., S. 66. Zu der Rolle des Monarchen bemerkte Delbrück: »Der König regiert nicht nach subjektiven Einfällen – oder wenn er es tut, so ist es jedesmal ein Fehler – sondern gemäß dem objektiven, mit Hilfe seiner Berater festgestellten Staatsinteresse, und er kann damit […] hinter diesem objektiven Staatsinteresse verschwinden« (S. 55). Deutlich werden hier zwei Dinge: Zum einen Delbrücks Vorstellung von einem »objektiven Staatsinteresse«, das feststellbar sei. Diese typisch konservative Überzeugung erhob den eigenen politischen Standpunkt zu einem objektiv richtigen und verneinte damit das Recht des politischen Streits und abweichender, parteiischer Anschauungen, die auch ihre Berechtigung haben können. Im Grunde genommen dreht sich der politische Streit stets um die Frage, was genau das »objektive Staatsinteresse« sei. Indem Delbrück das Wissen hierüber für seine eigene Weltanschauung pachtete, erhob er sich über die anderen. Zum anderen enthält seine Aussage unverhohlene Kritik am Regierungsstil Wilhelms II.: Dessen Art, sich häufig zu sprunghaften und unüberlegten Einmischungen in die Politik hinreißen zu lassen, brandmarkte Delbrück schon vom Grundsatz her als »Fehler«. 211 Hans Delbrück: »Churchills Kriegserinnerungen«, in: DAZ, 66. Jg., Nr. 85 vom 20. Februar 1927, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 119.1. Andererseits bekannte Delbrück 1925 in einem Brief an Bernhard Schwertfeger, dass er nicht davon ausgehe, dass »der extreme-demokratische Parlamentarismus« nun bessere Führungspersonen hervorbringen werde als im Kaiserreich (Delbrück an Schwertfeger am 11. September 1925, in: ebd., Briefkonzepte Schwertfeger, Bl. 4 f). Diese Aussage steht also im Widerspruch dazu, dass er an sich davon ausging, dass das Problem der Führerauslese eine Systemfrage sei. 212 Delbrück, Regierung II, S. V.

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nicht primär die Monarchie im Gegensatz zur Republik befürwortet hätte, sondern das dualistische vor dem monistischen System. Folglich seien Delbrücks fortwährende Aktivitäten zur Veränderung der Reichsverfassung nicht auf die Restauration der Monarchie ausgerichtet. Vielmehr ziele er darauf, auf der Basis seiner Vorstellungen eines dualistischen Staatssystems die »polarischen Kräft[e] der Autorität und Freiheit« innerhalb der nun bestehenden Verfassungsordnung auszugleichen213. Praktisch ermöglicht wurden Delbrück diese Vorstellungen durch die starke Stellung des Reichspräsidenten in der Weimarer Reichsverfassung. Nicht trotz, sondern gerade wegen der Erfahrungen der Kriegszeit fühlte sich Delbrück nach 1918 darin bestärkt, den Parlamentarismus abzulehnen. In seinen Augen war es nicht das kaiserliche Regiment, das zur Niederlage geführt hatte, sondern es waren seiner Auffassung nach die expansiven Großmachtphantasien im Volk. Diese hätten nach Delbrücks Meinung einen solch hohen Einfluss auf die militärische und politische Führung gewonnen, dass Deutschland letztlich daran zerbrochen sei: »Nicht daß wir das monarchische Regiment hatten, war unser Fluch, sondern daß das monarchische Regiment nicht stark genug war, den chauvinistischen Volksströmungen Widerstand zu leisten und das Volk gegen seinen Willen den rechten Weg zu führen.«214 Weil er diese gefährlichen Einflüsse von rechts aus der Politik heraushalten wollte, lehnte er eine Stärkung des plebiszitären Elements ab. Er war im Gegenteil der Auffassung, dass die vermeintlich neutrale und überparteiliche Exekutive gestärkt werden müsse. Diese Sichtweise offenbart die konservative Grundanschauung bei Delbrück: Während das von ihm bekämpfte chauvinistische Lager sich moderner Methoden bediente, um seinen politischen Forderungen Gehör zu verschaffen – nämlich demokratische Agitation –, sah er in diesem Mittel nur die Gefahren, weil es eben von seinen Gegnern angewandt wurde: Die öffentliche Meinung sei »das Flüssigste, Veränderlichste, Widerspruchsvollste, jeder Fixierung widerstrebende Element« überhaupt, schrieb er 1914215. Die möglichen Chancen und positiven Errungenschaften, die eine weitere Demokratisierung grundsätzlich boten, bewertete er hingegen deutlich geringer216. 213 Konrad Molinski: »Hans Delbrück der Achtzigjährige«, in: Hamburger Fremdenblatt vom 10. November 1928, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 8. 214 Dies schrieb Delbrück im Nachwort zur zweiten Auflage seines Werks »Regierung und Volkswille«. Weiter meinte er, er glaube nicht, dass eine parlamentarische Regierung 1917 die Friedensmöglichkeiten wahrgenommen hätte. »[D]eshalb glaube ich auch nicht, daß eine parlamentarische Regierung uns gerettet haben würde. Gerade parlamentarische Regierungen sind oft genug Träger des Chauvinismus und einer intransigenten Politik.« (Delbrück, Regierung II, S. 139). 215 Unveröffentlichtes Manuskript Delbrücks mit dem Titel »Bismarck und die öffentliche Meinung«, ohne Datum [t.p.q. 25. Juni 1914], in: SBB NL Delbrück, Fasz. 36. 216 Vgl. auch Schwabe, Wissenschaft, S. 128–130, der von einer »paradoxe[n] Verkehrung der Fronten« (S. 129) spricht im Hinblick darauf, dass die Alldeutschen zu Vorreitern der Massendemagogie wurden, während die gemäßigten Elemente daran festhielten, insbesondere die Außenpolitik von demokratischen Einflüssen abzuschirmen.

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Vor allem gelangte er nicht zu der zentralen Schlussfolgerung, die man später für das Bonner Grundgesetz zog, dass man mit rechtsstaatlichen Barrieren eine demokratische Verfassung gegen zu weit gehende und gefährlich werdende Volkseinflüsse absichern kann. Für eine Bewertung muss man zwei Dinge berücksichtigen: Erstens hat der heute Rückblickende einen anderen Wissensstand, und zweitens lag es überhaupt nicht in der Logik von Delbrücks konservativer Weltanschauung. Möglicherweise spielte hier für ihn das Scheitern seiner Versuche, mittels Massenagitation seinen politischen Zielen im Weltkrieg zum Durchbruch zu verhelfen, mit hinein. Mit der Gründung des »Volksbundes für Vaterland und Freiheit« sowie dem »Büro Hobohm« hatte Hans Delbrück in den Kriegsjahren Mittel gewählt, um auf die Politik Einfluss zu nehmen, die durchaus plebiszitären Charakter besaßen217. Als diese Anläufe missglückten, festigte sich womöglich in ihm die Auffassung, dass demokratische Elemente stets der gefährlichen, chauvinistischen Strömung zugute kämen und nicht einer gemäßigten Richtung. In einer Vorlesung zur »Einführung in die Politik« setzte sich Delbrück 1920 intensiv mit den Begriffen Volkswille, Majorität und öffentliche Meinung auseinander. Er verwies auf Bismarcks Politik, die die deutsche Einheit gebracht habe »gegen den Willen des deutschen Volkes«. Bismarck habe in seiner gesamten Regierungszeit »niemals eine geschlossene Majorität hinter sich« gehabt. Wenn aber ein Volk regiert werden solle nach dem Grundsatz der Majorität, ließe sich beobachten, dass diese »eine überaus weiche beeinflussbare Macht« sei, sodass »das Prinzip der Majorität die wahre Herrschgewalt [sic] im Staate den jenigen [sic] Kräften überantwortet, die es verstehen, die weiche Masse nach ihrem Willen und ihren Wünschen zu formen.«218 Erkennbar wird hier die konservative Furcht vor einem zu weitgehenden Einfluss der öffentlichen Meinung auf die Politik, wie sie in der Deutlichkeit auch zwanzig Jahre später im Kreisauer Kreis debattiert wurde. Es war kein Zufall, dass zahlreiche Mitglieder und Sympathisanten des bürgerlich-konservativen Widerstands gegen Hitler von Delbrück beeinflusst oder mit ihm bekannt gewesen waren219. Seinem Schwiegersohn Heinz Schmid schrieb Delbrück im Sommer 1926 im Hinblick auf den Flottenbau vor dem Krieg, er habe die Verantwortung für diesen »Kardinalfehler« zwar immer beim Kaiser gesehen. Dem Reichstag warf er aber vor, dass er sich von der Propaganda des Chefs des Reichsmarineamts Alfred von Tirpitz zu stark hatte beeinflussen lassen. Von Volksvertretern er217 Das »Büro Hobohm«, benannt nach dessen Leiter Martin Hobohm, hatte im Weltkrieg unter Delbrück als Mentor einen publizistischen Kampf gegen die Alldeutschen organisiert. Vgl. Döring, Kreis, S. 36–38; Schwabe, Wissenschaft, S. 119 f. Material dazu in: BArch N 1017/43. 218 Manuskript Delbrücks für eine »Vorlesung Einführung in die Politik 1920«, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 85.1, Hervorhebung ebd. Wo er das Referat gehalten hat, ist nicht rekonstruierbar. 219 Siehe hierzu Kapitel VI.

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warte er eine beständigere und besser durchdachte Urteilsbildung220. Auch diese Äußerung verdeutlicht Delbrücks Ablehnung der Macht populistischer Meinungen. Die Erwartung, dass Abgeordnete hiervon völlig unabhängig agieren könnten, ist nicht unbedingt naiv, sondern kennzeichnet vielmehr das konservative Verständnis von objektiver und nüchterner politischer Führung. Gegen diese Auffassung von Objektivität in der politischen Führung wendete sich der insbesondere nach seiner Kanzlerschaft Delbrück nahestehende Bethmann Hollweg. Vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen im Kontext der Debatte um die Kriegsziele schrieb er im August 1918 an Delbrück: »Darf man in der Politik etwas als objektiv richtig bezeichnen, was unmöglich ist? Ich glaube, nein. Tut man es doch, so bleibt an dem, der das unmögliche [sic] unterließ, immer der Vorwurf unrichtiger Handlungsweise hängen. Was ungerecht wäre, da Politik doch Kunst des möglichen [sic] ist.«221

Bethmann beschrieb damit die Grenzen der Delbrückschen Überlegungen: Er hatte als politischer Beobachter zwar einen ausgeprägten Realitätssinn, wertete aber mitunter die Kraft seiner Ideale zu hoch und zeigte auf dieser abstrakten Ebene mitunter zu wenig Gespür für das Machbare222. Als sich nach der Reichstagswahl vom Dezember 1924 die Regierungsbildung einmal wieder in die Länge zog, klagte Delbrück erneut über die Zersplitterung im deutschen Parteienwesen. Er bezeichnete das Verhältniswahlrecht als »geradezu antidemokratisch«, da es die Nominierung der Kandidaten in die Parteistrukturen verlagere, sah aber nicht im Wahlrecht das entscheidende Problem: »Der Sitz der Krankheit ist in dem Prinzip des Parlamentarismus, der für die deutschen Verhältnisse nicht paßt.« Delbrück forderte eine Orientierung am alten System der parlamentarisch nicht verantwortlichen Minister und schlug vor, dass Reichspräsident Ebert neutrale Fachminister ernennen solle. Der Reichstag würde von seinem Absetzungsrecht keinen Gebrauch machen, da die Mehrheitsfraktionen dann selbst eine Regierung zusammenstellen müssten. Etwas idealistisch appellierte Delbrück an die Rechtsparteien, sich nicht abschrecken zu lassen von der Machtzunahme des sozialdemokratischen Reichspräsidenten, die sein Vorschlag nach sich ziehen musste: »Denn das P ­ rinzip ist ebenso wichtig wie die Person, und das Prinzip ist konservativ.«223 Dass im Fehlen des konstruktiven Misstrauensvotums ein Kernproblem der Weimarer Verfassung lag, übersah Delbrück dabei. Einen Minister abzuwählen, war einfach und populär, da dies keine unmittelbaren Folgen nach sich zog. Ein echter 220 Delbrück an Schmid am 10. Juli 1926, in: BArch N 1017/64. 221 Bethmann an Delbrück am 12. August 1918, in: SBB NL Delbrück, Briefe Bethmann, Bl. 40, 41, Hervorhebung im Original. 222 In diesem konkreten Fall wird man Bethmann Hollweg sicher zu wenig Kraft zuschreiben müssen, sich mit seiner gemäßigten Kriegszielpolitik durchzusetzen. Dennoch ist die Bethmannsche Äußerung, losgelöst vom Einzelfall, treffend. 223 Hans Delbrück: »Das Deutsche Reich und der Parlamentarismus«, in: Neues Wiener Tagblat vom 11. Januar 1925, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 88a.

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Zwang zur neuen Regierungsbildung für die neue Majorität war nicht vorhanden und dies ist eine der zentralen Lehren, die später für das Bonner Grundgesetz gezogen wurden. In einem Artikel wenige Monate zuvor hatte Delbrück ganz ähnlich geklagt: »Die Abgeordneten werden bestimmt durch die Parteiorganisationen, die die eigentlichen Wähler sind. Das Moment der Persönlichkeit, das eigentlich die Lebenskraft des Parlamentarismus bilden soll, ist so gut wie ausgeschaltet.« Dem Volk werde bei Parlamentswahlen nur eine nicht veränderbare Liste zur Akklamation vorgelegt. Die Wirkung dieses Verfahrens sei »konservativ«, da die Tendenz bestehe, dass die Regierenden ihre eigene Machtstellung dadurch immer wieder erneuern würden224. Das war ein Kritikpunkt, der auch noch in der heutigen Bundesrepublik häufig diskutiert wird. Deshalb kann man Delbrücks Betrachtung ihre Berechtigung nicht absprechen. Er führte diese allerdings vorrangig deshalb aus, um die Mängel des demokratischen Systems aufzuzeigen, um wiederum ein Argument für seine antidemokratischen Vorstellungen zu haben. In einem nicht gedruckten Artikel für die »RheinischWestfälische Zeitung« von Anfang 1925 bezeichnete Delbrück es erneut als »Krankheit«, dass die Regierung vom Parlament bestimmt werden solle, da dieses zu sehr zersplittert sei. Die sieben etablierten Parteien (Völkische, Deutschnationale, Volkspartei, Zentrum, Demokraten, Sozialdemokraten, Kommunisten) hätten alle »ihre relative historische und soziale Berechtigung«. Deshalb helfe auch nicht eine Änderung des Wahlrechts, denn dieses ändere die Parteien nicht. Die Verhältniswahl sei zudem ein Mittel, die eigentliche Kandidatenwahl in die Parteien zu verlegen, sodass sie »geradezu anti-demokratisch und praktisch so konservativ [ist], dass sie sogar zur Parteiverkalkung führen kann.« Die einzige Lösung sei die Rückkehr zu dem im Kaiserreich erprobten System außerparlamentarischer Minister, die von Fall zu Fall mit einer jeweiligen Parteienkombination regieren müssten225. Als sich dann im Januar 1925 das Kabinett Luther I bildete, entsprach es zu einem gewissen Grad Delbrücks Vorstellungen von einer Regierung neutraler Fachminister: Es handelte sich um eine Rechtskoalition aus DVP, Zentrum, BVP und DNVP, deren Minister ernannt wurden ohne eine offizielle Zustim224 Hans Delbrück: »Die französischen Wahlen«, in: NFP, Nr. 21428 vom 7. Mai 1924, in: ebd., Fasz. 88a. In »Regierung und Volkswille« hatte Delbrück 1913 ebenfalls dazu geschrieben: »Die anscheinende Volkswahl ist also in Wirklichkeit eine Selbstergänzung der im Laufe der geschichtlichen Entwicklung einmal zur Gewalt gelangten Gruppen, und das ist auch der Grund, weshalb die Selbständigkeit der Abgeordneten fast völlig aufgehört hat und sie in strengster Disziplin verpflichtet sind, so zu stimmen, wie es die Parteileitung […] vorschreibt.« (Delbrück, Regierung I, S. 72). 225 Hans Delbrück: »Vom Grundübel der Gegenwart«, Manuskript für die Rheinisch-Westfälische Zeitung (RWZ) von Januar 1925, in: BArch N 1017/18. Den Aufsatz hatte die RWZ offenbar von Delbrück erbeten, dann aber nicht gebracht. Auch Mergel, Kultur, S. 358, stellt fest, dass das Listenwahlrecht in der Weimarer Republik zu einer Anonymisierung der Personen führte.

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mung der Fraktionen zu einer Regierungskoalition. Hans Delbrück meldete sich erneut im »Neuen Wiener Tagblatt« zu Wort und begrüßte die Entwicklung, dass die Berufung der Minister »nicht durch das Joch des Fraktionsbeschlusses hindurchgegangen ist. Im Anfang der Republik glaubten die Minister oder wenigstens viele Minister, sich dauernd mit ihrer Fraktion in Kontakt halten und ihr Amt gemäß den Instruktionen der Parteigenossen führen zu müssen. Es konnte nichts Verkehrteres und Verderblicheres geben.«226

Ganz richtig beobachtete Delbrück, dass sich Deutschland wieder dem konstitutionellen System annäherte, in dem die Trennung zwischen Regierung und Opposition zwischen Ministern und Parlament verlaufen war. Dass diese Trennung in einer parlamentarischen Demokratie quer durch das Parlament verläuft, sah er als einen großen Fehler. Deshalb schrieb er, dass sich die Parteien in den letzten Jahren destruktiv verhalten hätten, sei nicht die »Schuld« einzelner Personen, sondern des »System[s]«. In die Richtung der linken Kritiker der neuen Regierung schrieb er: »Wäre wirklich das Kabinett Luther nichts als ein verkapptes Bürgerblockkabinett, so würde ich es für eine höchst bedenkliche und gefährliche Erscheinung halten. Ist es aber, wie ich zwar nicht positiv behaupten, aber doch hoffen will, ein Kabinett, das sich von dem Mitregiment der Fraktionen einigermaßen unabhängig hält, so ist es eine Etappe auf dem Wege gesunder Fortentwicklung unsres [sic] Verfassungswesens.«227

Im Rückblick wird man feststellen müssen, dass der Weg von der Republik zurück zum konstitutionellen System, den Deutschland unter Luther nahm, ein Rückschritt war. Aber konnte man von einer Gesellschaft, die jahrzehntelang in einer konstitutionellen Monarchie gelebt hatte, erwarten, dass sie ohne weiteres das moderne westliche Modell nicht nur formal übernehmen, sondern auch geistig verinnerlichen könnte? Durchgehend liberale Republikaner gab es nur wenige. Deren Vorstellungen waren schlichtweg nicht mehrheitsfähig. Delbrücks Vorschlag einer konservativen Umgründung bot jedoch im Vergleich zu den revolutionären Gedanken von links und den zerstörerischen von rechts eine gemäßigte Alternative. Aufschlussreich sind dazu auch die weiteren Überlegungen, die Delbrück für eine Reform der Weimarer Verfassung entwickelte. b) Die Verfassungspolitik »Ich gehöre also zu den Verteidigern und, wenn man will, zu den Vorkämpfern der Republik, aber feiern kann ich die Republik nicht. Das kann niemand von mir verlangen. […] Die Größe des deutschen Volkes, seine geschichtlichen Leistungen zu ehren 226 Hans Delbrück: »Das Kabinett Luther«, in: NWT, Nr. 32 vom 1. Februar 1925, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 88e. 227 Ebd.

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und den Glauben an seine Zukunft aufrechtzuerhalten, das ist die Gesinnung, in der alle Wackeren einig sein müssen. Aber an die Stelle des Deutschtums die Verfassungsform zu setzen, das vergiftet alle ehrliche politische Ueberzeugung. Es ist ein Glaubenszwang, der in breiten Schichten die entgegengesetzte Empfindung hervorrufen muß.«

Mit diesen Worten kritisierte Hans Delbrück im Juni 1927 den SPD- und DDPAntrag im Reichstag zur Errichtung des 11. Augusts zum Nationalfeiertag. Er warnte davor, dass die Republik »nicht stark genug« sei, um sich nur auf die überzeugten Republikaner zu stützen. Sie müsse danach streben, die Vernunftrepublikaner einzubinden, deren es viele gebe. »Man sollte sich doch sehr hüten, diese Kreise zu verärgern, indem man sie geistig vergewaltigt.«228 Damit lag Delbrücks Haltung zur Frage eines Nationalfeiertages auf der Linie seiner grundsätzlichen Einstellung zur Weimarer Reichsverfassung: Bekämpfen, wie die meisten am alten Reich hängenden Bürgerlichen, wollte er die Republik nicht. Er sah in ihrem Zustandekommen eine historische Notwendigkeit und wollte in ihrem Rahmen am Wiederaufstieg Deutschlands mitwirken. Aber er sah, dass ein Großteil der Bevölkerung nicht plötzlich seine Gefühle dem Kaiser­reich gegenüber lassen konnte. Um diesen Menschen die Republik nicht zu verleiden, warb er dafür, dass das neue Reich sich nicht zu sehr vom alten absetzen möge. Ein eindeutigeres Zeichen der Trennung beider Systeme als die Feier des Verfassungstages konnte es kaum geben229. 228 Hans Delbrück: »Glaubenszwang«, in: DAZ, 66. Jg., Nr. 287 vom 23. Juni 1927, in: ebd., Fasz. 88a. In der Frage der Nationalsymbole war Delbrück durchaus ein gefragter Fachmann: So sollte er bereits vor 1900 Vorschläge unterbreiten, mit welchen Geistesgrößen der Reichstagseingang geschmückt werden könne. Er empfahl u. a. Walther von der Vogelweide, Johannes Gutenberg, Nikolaus Kopernikus, Martin Luther und Bonifatius. Siehe zwölfseitige Aufzeichnung Delbrücks in: ebd., Fasz. 38. Umgesetzt wurde das Vorhaben am Ende nicht. Vgl. Reichel, Glanz, S. 43. 229 Bereits im Sommer 1925 hatte Delbrück (allerdings nicht öffentlich) die Verfassungsfeiern scharf kritisiert. Sie seien »geradezu kläglich verlaufen«, schrieb er seinem Freund­ Wilhelm Solf in Tokio (Delbrück an Solf am 13. August 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Solf, Bl. 6). Und in einem Brief an Theodor Wolff beschwerte er sich über dessen Leitartikel vom 11. August. Wolff hatte gegen die Monarchisten polemisiert (»[D]ie einen dienen mit gebücktem Rücken einem ihnen durch Geburtszufall bescherten Fürsten, und die anderen [die Republikaner, d. Vf.] dienen als aufrechte, reife Menschen einer hohen Idee.«) und eine offensivere Werbung für die Republik gefordert (Theodor Wolff: »Der sechste Jahrestag der Verfassung«, in: BT, 54. Jg., Nr. 376 vom 11. August 1925). ­Delbrück beklagte, dass Wolffs »höhnische Beurteilung« derer, die dem Verfassungsfest skeptisch gegenüber standen, viele kränke. »Ich darf von mir sagen, dass ich die Sünden des alten Regimes mit derselben Klarheit sehe, wie die Verdienste der Republik.« Delbrück bekannte sich zur neuen Staatsform, wies allerdings wieder einmal darauf hin, dass er sie nicht lieben könne. »[D]er Mangel an Pietät für die trotz des kläglichen Ausgangs grosse [sic] deutsche Vergangenheit schafft zwischen uns eine Kluft«. (Delbrück an Wolff am 11. August 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Wolff, Bl. 11) Wolff antwortete, die Monarchie sei nun einmal untergegangen und daher müsse man sehen, die Republik »so leistungsfähig, so fest wie nur möglich« zu machen. (Wolff an Delbrück am 12. August 1925, in: ebd., Briefe Wolff, Bl. 19 f).

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Die Reichstagsdebatte über die Ausrichtung eines Verfassungstages vom Sommer 1927 verlief letztlich ergebnislos, zeigte aber eine zunehmende Verhärtung der Fronten230. Der DDP-Vorsitzende Koch-Weser wandte sich in Reaktion auf seinen Artikel an Hans Delbrück und fragte ihn, wieso die Republik denn auf einen Nationalfeiertag verzichten solle. Der Verfassungstag löse sicher nicht bei jedem Enthusiasmus aus, aber angesichts der Zerrissenheit des Volkes sei es ohnehin unmöglich, einen allgemein anerkannten Festtag zu finden231. Delbrück antwortete, dass Deutschland »im Zustande der Sklaverei« lebe und deshalb ein Nationalfeiertag grundsätzlich unmöglich sei: »Ein National-Trauertag würde uns besser anstehen.« Er befürchtete, dass die Feier des 11. Augusts »der Republik nicht nur nichts nützt, sondern schadet«232. Sein Beitrag in der »Deutschen Allgemeinen Zeitung« fand jedenfalls einen Widerhall in den rechts­ stehenden »Hamburger Nachrichten«, die am 10. August unter Berufung auf Delbrücks Worte abschätzig schrieben: »Man feiert die Verfassung und meint die Republik gewisser Parteien.«233 Deutlich wird hier, dass die Feier des Verfassungstages von dessen Gegnern als willkommener Anlass genommen wurde, um gegen die Republik zu demonstrieren. Möglicherweise also ist D ­ elbrücks

230 Vgl. Schellack, Nationalfeiertage, S. 196–203; Buchner, Identität, S. 324 f. 231 Weiter beschwerte Koch-Weser sich bei Delbrück über dessen Attacken auf die DDP in seinem Artikel. (Erich Koch an Hans Delbrück am 25. Juni 1927, in: SBB NL Delbrück, Briefe Koch-Weser, Bl. 1 f). DDP-Mitglied Max Montgelas (ein guter Freund Delbrücks) hingegen stimmte seinem Artikel zu und kündigte an, aus Protest gegen den Vorstoß im Reichstag aus dem Parteiausschuss der DDP auszutreten (Postkarte von Montgelas an Delbrück vom 24. Juni 1927, in: ebd., Briefe Montgelas III, Bl. 31). 232 Seine harschen Worte gegen die DDP bedauerte Delbrück und kündigte an, seine Wertschätzung gegenüber der Partei demnächst wieder deutlich zu betonen (Delbrück an Koch-Weser am 28. Juni 1926, in: ebd., Briefkonzepte Koch-Weser, Bl. 1). Auch der mit Delbrück verbundene Walter Simons hatte in seiner Zeit als Außenminister im Herbst 1920 im Reichstag gesagt: »Aber ein Nationalfeiertag kann nicht dekretiert werden, der muß wachsen.« (Reichstagsrede von Simons am 29. Oktober 1920, in: VdR 345, S. 870). 233 O. V.: »Erzwungene Feiern. Zum Verfassungstag«, in: Hamburger Nachrichten, Nr. 219 vom 10. August 1927, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 88a. Die Zeitung bezeichnete Delbrück dabei als »ein[en] überzeugte[n] Demokrat[en]«. Die republikanische Königsberger Hartungsche Zeitung bedauerte in einem Nachruf auf Delbrück 1929, dass die Rechten seine Haltung 1927 gegen die Verfassungsfeier als eine Art Rückkehr in das nationale Lager begrüßt hätten: »Selten ist er aber so schlimm mißverstanden worden wie gerade hierbei. Nur deshalb hielt er den Zeitpunkt für eine Verfassungsfeier nicht gegeben, weil sich zu seiner Betrübnis die Verfassung noch nicht allgemein durchgesetzt habe[.] […] Denn eine Verfassungsfeier sollte auf dem Gedanken begeisterter Teilnahme, nicht eines staatlichen Zwanges aufgebaut werden.« (Erich Hellmut Wittenberg: »Delbrücks Vermächtnis«, in: Königsberger Hartungsche Zeitung vom 20. Juli 1929, in: ebd., Fasz. 12.4, Hervor­ hebung im Original). »Missverstanden« worden ist Delbrück allerdings nur von den wenigsten rechten Blättern. Es war wohl eher eine dialektische Gehässigkeit, die rechte Kommentato­ren anwandten, um den angesehenen, ihnen aber oft unbequemen Hans­ Delbrück in ihren Dienst zu nehmen.

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Warnung vor den negativen Folgen einer solchen Feier nicht gänzlich unberechtigt gewesen234. Der jahrelange Streit um die Frage eines Nationalfeiertages235 verdeutlicht, wie zerrissen die politischen Gemüter in Deutschland waren. Jeder diskutierte (oder begangene) Feiertag, der naturgemäß für eine bestimmte politische ­Deutung stehen musste, führte deshalb automatisch zu einem großen Streit, da ihn die jeweils andere Seite als Affront auffasste236. Angesichts dieser gefühlsmäßigen Anspannung ist der Ruf nach einer vollständigen Unterlassung jeder Feier vermutlich nicht verkehrt gewesen, wenn einem an einer Beruhigung gelegen war237. Typisch für Delbrücks Aktivitäten in den 1920er Jahren war auch sein Engage­ment im Rahmen des Weimarer Kreises, einer Organisation von Hochschullehrern, die sich zur Republik bekannten238. Auf diesen erstmals im Frühjahr 1926 veranstalteten jährlichen Tagungen in der Gründungsstadt des neuen Reiches trafen sich diejenigen Professoren, die ähnlich wie Delbrück die Republik akzeptierten und in ihrem Rahmen am Wiederaufbau Deutschlands mitarbeiten wollten. Ihnen ging es darum, »den Einfluss der verfassungstreuen Hochschullehrer durch wirksam organisierte Gemeinschaftsarbeit zu steigern«, wie es im ersten Einladungsschreiben hieß239. Obwohl Delbrück einer der Mitorganisatoren war und Friedrich Meinecke240 den Einladungstext mit ihm abgestimmt hatte241, störte er sich an dem Begriff »verfassungstreu«: In Beant234 Schellack, Nationalfeiertage, S. 353, weist darauf hin, dass im Kaiserreich Feiertage von den Ländern bestimmt wurden. In der Weimarer Republik stellte sich somit erstmals die Frage einer reichsweiten Regel. 235 Vgl. hierzu allgemein Schellack, Nationalfeiertage, S. 133–246; Buchner, Identität, S. 301–346; Reichel, Glanz, S. 166–173. Diskutiert wurden auch zahlreiche andere Termine: Der 18. Januar als Datum der Reichsgründung von 1871, der 6. Sonntag vor Ostern als Gedenktag für die Gefallenen, der 1. Mai als Tag der Arbeit oder auch der 9. November als Revolutionstag. Zu den Verfassungsfeiern am 11. August 1928 vgl. Schubart, Weimar, S. 138– 142. Grundsätzlich zur Symbolik in der Politik in der Weimarer Republik vgl. van Laak, Politik, S. 36–46. 236 Rossol, Fahne, S. 149, betont, dass der Streit um Weimars Staatssymbole nicht nur zwischen Demokraten und Antidemokraten geführt wurde, sondern auch schon innerhalb der Republikaner keine Einigkeit bestand. 237 Dass die Nationalfeiertage im Zeitraum 1871–1945 insgesamt mehr die Zerissenheit katalysierten als integrativ wirkten, schreibt auch Schellack, Nationalfeiertage, S. 363. 238 Hierzu grundlegend: Döring, Kreis. Siehe auch Ringer, Niedergang, S. 188. 239 Gedacht war das Treffen vom 23. bis zum 24. April als eine »vertraulich[e] Aussprache« von 50–60 Teilnehmern (Zweiseitiges Schreiben von Hans Delbrück, Adolf von Harnack, Wilhelm Kahl, Friedrich Meinecke u. a. vom Februar 1926, in: SBB NL Delbrück, Briefe Aufruf Unilehrer). 240 Meinecke war laut Delbrück »[d]er eigentliche Unternehmer und Anreger« (Delbrück an Roloff am 24. Februar 1926, in: ebd., Briefkonzepte Roloff, Bl. 13). 241 Meinecke an Delbrück am 13. Januar 1926, in: ebd., Briefe Meinecke, Bl. 37. In dessen Anlage (ebd., Bl. 38) übersandte Meinecke unter Bezugnahme auf ein Gespräch vom 31. Dezember 1925 Delbrück seinen Einladungsentwurf und bat ihn um Nennung einzuladender Personen.

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wortung auf eine skeptische Rückmeldung seines Freundes Gustav Roloff242 bekannte er, diese Bezeichnung sei ihm »widerwärtig, da ja darin ein Gefühlston mitschwingt, den ich natürlich ablehne. Aber was sollen wir machen?« Eine bessere Formulierung, die völlig rational die pure Akzeptanz der Verfassung zum Ausdruck bringe, wisse er auch nicht. Er wies dann noch auf einen wichtigen Zweck der geplanten Tagung hin: Hauptsächlich gehe es um eine Demonstration gegen deutschnationales Gedankengut, das die Mehrzahl der Studenten beeinflusse und diese »im besten Falle zur Unfruchtbarkeit verdammt«, möglicherweise aber für Deutschland »zum Verderben wird.«243 Für Hans Delbrück bedeutete diese Tagung also den Versuch, die als verhängnisvoll wahrgenommene rechte politische Strömung zurückzudrängen. Dies sollte geschehen durch die Zusammenführung und den Austausch all derjenigen Kräfte, die trotz unterschiedlicher politischer Verortung die Verfassung in ihren Grundfesten nicht bekämpften. Dem Weimarer Kreis gelang es, unterschiedliche Persönlichkeiten vom gemäßigten Sozialdemokraten bis zum moderaten DVP-Politiker unter dem Dach einer positiven Mitwirkung am Staat zusammenzubringen244. Das war an sich eine bedeutende Leistung der Organisatoren. Und doch wird man feststellen, dass nur eine kleine Minderheit der Professorenschaft nach Weimar fuhr245. Darunter waren, wie gesagt, nur wenige wirklich überzeugte liberale Republikaner. Es war nicht gut um die Republik bestellt, wenn die Mehrheit der Hochschullehrer selbst ein so zaghaftes Bekenntnis scheute, wie es in Thüringen verabschiedet wurde: Man bekundete die Absicht zu einer Wiederholung des Treffens und lud dazu jeden Kollegen ein, »welcher – unbeschadet seiner wie immer gearteten politischen Grundüberzeugung – gewillt ist, auf dem Boden der bestehenden demokratisch-republikanischen Staats242 Der Gießener Historiker nahm ebenfalls Anstoß an der Bezeichnung »verfassungstreu« und grenzte sich scharf von den Sozialdemokraten ab. Etwas naiv meinte er, die Aktion ziele vermutlich gegen rechts. Seine Frage, ob der DNVP-Politiker Otto Hoetzsch und andere etwa nicht zu gewinnen seien, kommentierte Delbrück mit der Randbemerkung: »Schwerlich!!« (Roloff an Delbrück am 21. Februar 1926, in: ebd., Briefe Roloff II, Bl. 51 f). Meinecke, an den Delbrück Roloffs Brief weitergeleitet hatte, bezeichnete ihn Delbrück gegenüber denn auch als »eigenbrödlerisc[h]« (Meinecke an Delbrück vom 23. Februar 1926, in: ebd., Briefe Meinecke, Bl. 39). Ebd. auch der Hinweis über bis dato circa 70 Zusagen zur Tagung. 243 Delbrück an Roloff am 24. Februar 1926, in: ebd., Briefkonzepte Roloff, Bl. 13. Widerstrebend antwortete Roloff, er werde die Einladung nun also unter Vorbehalt annehmen. Empört zeigte er sich aber über den Plan, den Sozialdemokraten Gustav Radbruch ein Referat über Verfassungstreue halten zu lassen. Er bezeichnete ihn als »Justizmordminister« (Roloff an Delbrück am 5. März 1926, in: ebd., Briefe Roloff II, Bl. 53 f). 244 Döring, Kreis, S. 181, betont ebenfalls die »starke Differenzierung des politischen Bewußtseins« der Beteiligten. Vgl. auch ebd., S. 243; Wirsching, Denken, S. 84. 245 Dies waren vor allem Männer der Generation der 60–70jährigen (vgl. Döring, Kreis, S. 232). Dieser Befund deckt sich mit anderen Forschungsergebnissen, die die sogenannten Vernunftrepublikaner hauptsächlich bei den um 1860 Geborenen ausmachen. Vgl. Wirsching, Vernunftrepublikanismus, S. 18.

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ordnung positiv mitzuarbeiten am Ausbau unseres Verfassungslebens und an der Erziehung der heranwachsenden Generation zu staatsbürgerlichem Denken im Dienst der großen deutschen Volksgemeinschaft.«246

Delbrücks Schwiegersohn Heinz Schmid, der als Arzt in Manila lebte, hatte sich über diesen zurückhaltenden Tonfall beklagt. Die Republik nur verstandes­ gemäß und nicht mit dem Herzen zu unterstützen, sei zu wenig. Delbrück antwortete ihm, er könne diese Haltung zwar verstehen. »Aber wenn die Herzensgründe nun einmal nicht da sind, sollten wir sie erheucheln? Das wäre doch wohl eine sehr kurzsichtige Politik gewesen und hätte uns weder Beifall noch Anhängerschaft zugeführt.«247 Gleichwohl bekundete er gegenüber Hermann Oncken, die Tagung sei »sehr erfreulich verlaufen.« Allerdings beklagte­ Delbrück »die professorale Aengstlichkeit [sic]«, die dazu geführt habe, das Anliegen in der Presse zu defensiv zu vertreten248. Diese Äußerungen stellen einerseits eine pointierte Erklärung für die Haltung der sogenannten Vernunftrepublikaner dar, andererseits zeigen sie einmal mehr Delbrücks Angriffslust. Wenn er einmal von einer Sache überzeugt war, vertrat er diese offensiv und ohne Rücksicht. In diesem Falle war es nötig, um zu werben für eine gemäßigte Einstellung gegenüber der Verfassung und für eine positive Mitarbeit am Staat. Wie fragil allerdings selbst dieser relativ vage Konsens Weimars war, zeigte sich schon kurze Zeit nach der April-Tagung von 1926: Unter Hinweis auf den im Mai hochgekochten Flaggenstreit249 sowie die heftige Kontroverse um die Fürstenvermögensfrage250 baten die Organisatoren ihre 246 Die Erklärung findet sich in: SBB NL Delbrück, Briefe Otto Becker, Bl. 13. In dem dieser im Juni 1926 an die Teilnehmer versandten Erklärung beigefügten Anschreiben des vorbereitenden Ausschusses hieß es im Rückblick euphorisch: »Der kraftvolle Wille zur Wirklichkeit hat einen starken, allen Teilnehmern unvergeßlichen und schöne Hoffnungen begründenden Erfolg errungen«. (ebd., Bl. 12). Zur Programmatik des Weimarer Kreises vgl. Döring, Kreis, S. 90–96. 247 Hans Delbrück an Heinz Schmid, ohne Datum [1926], in: BArch N 1017/64. Der Weimarer Kreis war eben keine Vereinigung von überzeugten Republikanern, sondern lediglich von Vernunftrepublikanern. Das geht auch daraus hervor, dass er sich unabhängig von der »Vereinigung freiheitlicher Akademiker« gründete. Dieser Anfang 1925 entstandene Bund war dezidiert pro-republikanisch und verstand sich als Antwort auf nationalistische Hochschulgruppierungen. Er stand der DDP nahe. Vgl. Döring, Kreis, S. 78–82. Walter Goetz und Martin Hobohm, beide in den Jahren mehr und mehr republikanisch gesinnt, versuchten erfolglos, Delbrück zum Eintritt zu bewegen (Goetz an Delbrück am 16. Dezember 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefe Goetz, Bl.11; Hobohm an Delbrück am 1. November 1925, in: ebd., Briefe Hobohm V, Bl. 31). Ein eindeutig liberaler Verband widersprach aber Delbrücks Überzeugung, er suchte den Ausgleich zu den gemäßigt rechten Kräften. 248 Delbrück an Oncken am 30. April 1926, in: ebd., Briefkonzepte Oncken, Bl. 66. Zu der Tagung von 1926 siehe auch Döring, Kreis, S. 81–90. 249 Siehe hierzu Kapitel III.3.d). 250 Siehe hierzu Kapitel III.3.c).

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Mitstreiter am 14. Juni um Nachsicht dafür, dass alle weiteren Schritte vertagt werden müssten. Die politische Situation in Deutschland sei momentan derart angespannt, dass viele Unterstützer drohten, sich wieder zurückzuziehen. Es komme jetzt alles darauf an, zumindest diejenigen zu halten, die man auf der Tagung in Weimar »mühsam« zusammengeführt habe. Wenn sich die Lage beruhigt habe, könne man im Herbst einen neuen Anlauf zur Sammlung weiterer Unterschriften nehmen251. Es zeigte sich einmal mehr, wie schnell erfolgversprechende Initiativen zur Stärkung der Weimarer Republik straucheln konnten, wenn die Gemüter durch tagespolitische Streitereien aufgepeitscht wurden. Es mangelte der Gesellschaft an einer Bereitschaft zum Ausgleich. Über die negativen Folgen, die diese Einstellung zeigte, beschwerte sich zwar jeder, aber die Ursache wurde eher im System gesehen, das diese Auseinandersetzungen zuließ, und weniger im verantwortungslosen Verhalten der Akteure, die durch ihr häufig kompromissloses Verhalten die Eskalationen erst verursachten. Von der Tagung im Folgejahr erhoffte sich Delbrück denn auch nur noch wenig: Seinem Studienfreund Max Lehmann gegenüber brachte er zum Ausdruck, dass er die Aktion »für ziemlich überflüssig halte«252. So sehr Hans Delbrück immer auf dem Boden der Verfassung stand, war er doch stets bestrebt, diese auf dem Reformwege zu verändern. Prominente Bedeutung erlangte hier in den letzten Jahren der Weimarer Republik der »Bund zur Erneuerung des Reiches«253. Unter dem Vorsitz des ehemaligen Reichskanzlers Hans Luther hatte sich dieser Bund am 6. Januar 1928 in Berlin gegründet und führte zahlreiche prominente Politiker, Wissenschaftler und Industrielle 251 Rundschreiben von Otto Becker, Friedrich Meinecke u. a. vom 14. Juni 1926, in: SBB NL Delbrück, Briefe Becker, Bl. 14 f. 252 Hans Delbrück an Max Lehmann am 14. April 1927, in: ebd., Briefkonzepte Lehmann, Bl. 8. Seinem Schützling Konrad Molinski hatte er einen Monat zuvor noch geschrieben, er sei sich noch gar nicht sicher, ob er überhaupt hinfahre (Delbrück an Molinski am 15. März 1927, in: ebd., Briefkonzepte Molinski, Bl. 8). Gleichwohl verbreitete Delbrück in der Öffentlichkeit weiterhin das Gedankengut des Kreises. So betonte er in einem Zeitungsartikel vom Juni 1927 gegen die geplanten Verfassungsfeiern, dass er selbst treu zur Republik stehe, was in seiner Tätigkeit als Mitorganisator der Tagungen zum Ausdruck komme. Er bezeichnete es als den wichtigsten Zweck der Vereinigung, »der akademischen Jugend begreiflich zu machen, daß sie sich auf den Boden der Republik stellen müsse und nicht in einer unfruchtbaren Opposition verharren dürfe.« (Hans Delbrück: »Glaubenszwang«, in: DAZ, 66. Jg., Nr. 287 vom 23. Juni 1927, in: ebd., Fasz. 88a). Zur Tagung von 1927 vgl. Döring, Kreis, S. 96–100. Der Weimarer Kreis tagte zwar noch regelmäßig bis 1932 und war sicherlich nicht vollständig nutzlos. Dennoch erfüllten sich die Hoffnungen des Anfangs nicht. Zum weiteren Verlauf der Vereinigung vgl. ebd., S. 101–123. 253 Vgl. hierzu Biewer, Reichsreformbestrebungen, besonders S. 109–116. Dazu auch einführend Gelberg, Bund sowie Gossweiler, Bund. Letzterer ist zwar gefärbt durch die marxistische Geschichtsphilosophie, bietet aber dennoch einige verlässliche Fakten. Zum wirtschaftspolitischen Aspekt des Luther-Bundes sowie dessen Verflechtung mit der Industrie vgl. Kim, Industrie, S. 11–47. Zu Reichsreformdebatte in der Weimarer Zeit insgesamt neuer­dings umfassend vgl. John, Bundesstaat.

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zusammen254. Das Hauptanliegen war es, den als schädlich wahrgenommenen Dualismus zwischen Preußen und dem Reich aufzulösen. Dies sollte geschehen einerseits durch eine Stärkung der Exekutive auf Reichsebene und andererseits durch eine Dezentralisierung der Verwaltung, einhergehend mit einer Aufwertung der Verantwortung der Gemeinden. Die konkreten Vorschläge bedeuteten allerdings nichts weniger als eine Zerschlagung Preußens: Dieses sollte »Reichsland« werden und sowohl die preußische Regierung und die Ministerien, als auch das Parlament sollten mit der Reichsregierung und dem Reichstag verschmelzen. Andere Kleinststaaten, die als solche nicht lebensfähig seien, sollten dem neuen Gebilde einverleibt werden. Man erhoffte sich in der Folge einen reichsweiten Reformschub, der auch die anderen, mittelgroßen Länder dazu bewegen würde, sich dem Beispiel dieser Organisationsstruktur anzuschließen. Lediglich Baden, Bayern, Sachsen und Württemberg sollten aufgrund ihrer historisch-politisch gewachsenen Bedeutung in jedem Fall erhalten bleiben255. Begründet wurde dieser radikale Vorschlag wie folgt: »Erkennt man in dem heutigen Dualismus Reich-Preußen den Grundfehler des neuen Systems, läßt sich dieser Fehler durch halbe Maßregeln nicht beseitigen, dann ergibt sich die Schlußfolgerung von selbst, daß jedenfalls bei der Lösung dieses Problems ganze Arbeit geleistet werden muß.«256

254 Der bis circa 1933/34 bestehende Bund hat bis dahin immer zu Jahresbeginn in Berlin seine Mitgliederversammlung abgehalten. Dabei waren wohl ungefähr 150 Personen anwesend. Vgl. Gossweiler, Bund, S. 195. Unter den Unterstützern finden sich unter anderem die Namen von Gerhard Anschütz, Otto Becker, Robert Bosch, Ernst von ­Borsig, Karl Jarres, Wilhelm Kahl, Fritz Klein, Friedrich Meinecke, Eduard Meyer, Max Planck, Hans Rothfels, Carl F. von Siemens, Walther Schücking, Fritz Thyssen und­ Marianne Weber. Vgl. Bund, Reich und Länder, S. 11–17. Der Gründungsaufruf ist abgedruckt in: Michaelis / Schraepler, Ursachen VII, Nr. 1528c), S. 115 f. Biewer, Reichsreformbestrebungen, S. 109, weist darauf hin, dass aufgrund der Prominenz der Mitglieder das Reformprogramm ein deutlich stärkeres Gewicht besaß als die meisten bisherigen Vorschläge. 255 Vgl. die »Leitsätze« des Bundes, in denen es heißt, »das unorganische Nebeneinander« von Reichstag und Reichsregierung sowie preußischem Landtag und preußischer Staatsregierung sei »unerträglich geworden« (Bund, Reich und Länder, S. 7–10, Zitate S. 7). In einer späteren Schrift legte der Bund ein Plädoyer für die Stärkung der Position des Reichspräsidenten ab und zog als historischen Vergleich die Entwicklung der Institution des US-Präsidenten heran (Bund, Rechte). 256 Vgl. die Begründung der Leitsätze in: Bund, Reich und Länder, S. 19–75, Zitat S. 45. Dem zu erwartenden Einwand, dass sich Preußen damit aufgeben würde, entgegnete der Bund mit dem Hinweis darauf, dass Preußen bereits 1919 »Wertvolleres« aufgegeben habe. In seiner jetzigen Form sei das Land jedenfalls in einer unhaltbaren Verfassung. Preußen müsse »in allen wesentlichen Fragen mit dem Reich [gehen] und mit ihm organisch verbunden [sein]« (Bund, Reich und Länder, S. 49). Biewer, Reichsreformbestrebungen, S. 112, bezeichnet die Ideen des Luther-Bundes als »durchdacht[e] Vorschläge« und bewertet sie insgesamt sehr positiv. John, Bundesstaat, S. 200–202, hingegen beurteilt das Programm wesentlich nüchterner.

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Vor allem im Zuge der Länderkonferenz für eine Reichsreform in den Jahren 1928–1930257 versuchte der Bund, seine Ziele durchzusetzen. Er sah seine Aufgabe darin, die im Vorfeld zu einer derartigen gesetzmäßigen Umgestaltung notwendige Zustimmung im Volk zu erreichen258. Deshalb fokussierte die Vereinigung ihre Arbeit auf eine rege publizistische Tätigkeit und die Einflussnahme auf Parteien, Verbände und Ministerien259. Politisch verband der Bund zur Erneuerung des Reiches zwar sowohl die bürgerlichen Rechtsparteien, als auch die sogenannten Weimarer Parteien. So waren Politiker aus dem rechten Spektrum der DVP ebenso engagiert wie Personen von DDP und Zentrum sowie einige Sozialdemokraten. De facto jedoch war eine rechtsliberale, vor allem der Großindustrie nahestehende Strömung maßgebend260. Hans Delbrück war zwar Mitglied dieses Bundes261 und hat sich ernsthaft mit der Problematik beschäftigt262, zeigte sich aber privatim nicht sehr überzeugt von der Aussicht auf Erfolg. Schon im Frühjahr 1927 sollte er auf dem Reichsparteitag der DDP in Hamburg zu der föderalen Gestaltung des Reiches sprechen263. Auf seinem Mittwoch-Abend waren die Pläne zu einer Reichs257 Diese Föderalismuskommission, wie man sie heute nennen würde, ging zurück auf eine Besprechung der Reichsregierung mit den Ministerpräsidenten im Oktober 1927. Auf der Konferenz vom 16. bis zum 18. Januar, zu der Kanzler Marx eingeladen hatte, war man sich zwar über die Notwendigkeit einer Neuordnung und Entflechtung der Kompetenzen zwischen Reich und Ländern einig (vgl. beispielsweise den Abschlussbericht der Konferenz vom 18. Januar 1928, in: Michaelis / Schraepler, Ursachen VII, Nr. 1530a), S. 122–124). Konkrete Folgen hatten die Beratungen allerdings nicht – man konnte sich nicht einigen bei der Frage, ob die Lösung in Richtung föderativer oder unitarischer Gestaltung gehen sollte. Es wurde ein »Verfassungsausschuß« eingesetzt, der bis 1930 mit hochkarätiger Besetzung tagte. Die Ergebnisse wurden auch aufgrund der Zuspitzung der wirtschaftlichen und politischen Krise Anfang der 1930er Jahre nicht mehr umgesetzt. Vgl. Biewer, Reichsreformbestrebungen, S. 117–129; John, Bundesstaat, S. 202–212. 258 Vgl. Bund, Reich und Länder, S. 52. Siehe auch Biewer, Reichsreformbestrebungen, S. 122. 259 Der Mitgliedsbeitrag lag bei lediglich 6,- Reichsmark im Jahr für Einzelpersonen und 60,– Reichsmark für juristische Personen. Vgl. Gossweiler, Bund, S. 199. 260 Die BVP stand dem Bund aufgrund ihrer dezidiert partikularistischen Ausrichtung grundsätzlich ablehnend gegenüber. Vgl. Gelberg, Bund. 261 Vgl. beispielsweise die Beileidsbekundung Hans Luthers auch im Namen des Bundes zur Erneuerung des Reiches an Delbrücks Frau Lina zum Tod ihres Mannes (Hans Luther an Lina Delbrück vom 17. Juli 1929, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 10.1, Bl. 66 f). 262 In diesem Kontext ist auch seine Idee zu betrachten, den vormaligen Kronprinzen Wilhelm zum Reichspräsidenten wählen zu lassen. Vgl. Delbrücks Gesprächsprotokoll einer Unterredung mit Wilhelm von Anfang 1928, in: BArch N 1017/57. 263 »Dieses entscheidentwichtige [sic] Problem wird ja in der Oeffentlichkeit [sic] besonders lebhaft diskutiert, und die Aussprache darüber wird sicher weithin bemerkt werden.« (Reichsgeschäftsstelle der DDP im Auftrag Koch-Wesers an Delbrück am 19. April 1927, in: SBB NL Delbrück, Briefe DDP, Bl. 2). Koch hatte auf dem Parteitag am 21. April eine zweistündige Grundsatzrede zum Thema »Der großdeutsche Einheitsstaat« gehalten. Vgl. den Korrespondentenbericht »Koch über den großdeutschen Einheitsstaat« im Berliner Tageblatt, 56. Jg., Nr. 188, Morgen-Ausgabe vom 22. April 1927 sowie den Kommen-

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reform am 28. November und am 5. Dezember 1928 Thema264. Der Präsident des Deutschen Städtetags, Oskar Mulert, sowie ein Legationsrat Pötzsch hielten Vorträge, über die dann am 5. Dezember mit Hans Luther und vermutlich auch dem DDP-Vorsitzenden Erich Koch-Weser diskutiert wurde265. Einige Wochen später schrieb Delbrück an den mit ihm befreundeten deutschen Botschafter in Tokio, Wilhelm Solf, er begrüße zwar Verfassungsreformen, die die Stellung des Reichspräsidenten aufwerteten. Auch beklagte er sich über das »System der Partei-Regierungen«. Aber er bekannte, Veränderungen halte er »nicht für durchführbar, ebenso wenig, wie die so sehr wünschenswerte Reform des Wahlrechts.«266 Auch im Mai 1928, wenige Tage vor der Reichstagswahl, hatte er an seinen Freund Montgelas von einer Diskussion über das Wahlrecht auf seinem Mittwoch-Abend berichtet. In der Ablehnung der jetzigen Regelung seien sich alle einig, aber jeder ziehe andere Konsequenzen hieraus. Er glaube daher nicht, »dass ein Volksbund für Reform Erfolg haben würde.«267 Hier ist ein weiteres Indiz für die Zerklüftung der politischen Landschaft. Inhaltlich hatte Delbrück schon zu Beginn der Republik die Grundidee des Luther-Bundes vertreten: Anfang 1919 hatte er in seinen »Preußischen Jahrbüchern« die Frage behandelt, wie zukünftig »Zentralismus und Föderalismus mit einander [sic] auszugleichen« seien. In dem Aufsatz plädierte er für eine Auflösung Preußens, denn: »Das alte Preußen hatte keine natürliche Grundlage, sondern wurde zusammengehalten durch die Dynastie und die Ar-

tar dazu von Ernst Feder: »Das Bekenntnis zum Einheitsstaat«, in: ebd. Delbrück war der Einladung nicht gefolgt, in der Berichterstattung zur Aussprache über Kochs Rede wird er nicht erwähnt (o.V.: »Zweiter Tag des Hamburger Parteitags. Die Aussprache über den Einheitsstaat«, in: BT, 56. Jg., Nr. 189, Abend-Ausgabe vom 22. April 1927). Er war vermutlich schon unterwegs nach Weimar zur dort tagenden Versammlung der verfassungstreuen Hochschullehrer, s. o. 264 Hierzu hatte Delbrück ursprünglich den ehemaligen preußischen Kultusminister Friedrich Schmidt-Ott sowie den Präsidenten des preußischen Oberverwaltungsgerichts, Bill Drews, eingeladen. Aufgrund von Terminschwierigkeiten hatte er dann Mulert und Pötzsch als Referenten gewonnen (Delbrück an Drews am 23. November 1928, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Drews; Delbrück an Schmidt-Ott am 19. November 1928, in: ebd., Briefkonzepte Schmidt-Ott, Bl. 5). 265 Vgl. die Einladung Delbrücks an Koch-Weser (Delbrück an Koch-Weser am 26. November 1928, in: ebd., Briefkonzepte Koch-Weser, Bl. 6) und Luther (Brief Delbrücks an Hans Luther vom 26. November 1928, in: ebd., Briefkonzepte Luther, Bl. 2) sowie Luthers Antwortschreiben vom 29. November 1928, in: ebd., Briefe Luther, Bl. 1. 266 Delbrück an Solf am 7. Februar 1929, in: ebd., Briefkonzepte Solf, Bl. 21. Bereits ein Jahr zuvor hatte Delbrück Solf davon berichtet, dass man in Berlin momentan viel über die Pläne einer Reichsreform debattiere, »man aber praktisch nicht viel [hiervon] erwartet«. (Delbrück an Solf am 19. Januar 1928, in: ebd., Bl. 17 f). Auch Gustav Roloff hatte im März 1928 gegenüber Delbrück bekannt, er halte eine Schwächung des Reichstags durch eine Stärkung des Reichspräsidenten für sinnvoll, um eine verlässlichere Politik betreiben zu können (Roloff an Delbrück am 9. März 1928, in: ebd., Briefe Roloff II, Bl. 63). 267 Delbrück an Montgelas am 12. Mai 1928, in: ebd., Briefkonzepte Montgelas, Bl. 44.

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mee.« Beides existiere nicht mehr und damit sei nun der »deutsch[e] Nationalgedank[e]« die Zukunft und die Republik verlange eine stärkere Zentralisierung. Preußen habe »seine weltgeschichtliche Mission erfüllt«. Es weiterhin zu erhalten, sei für die Entwicklung Deutschlands als Ganzes »nicht nur überflüssig, sondern auch störend«, denn es würde in einen schädlichen Dualismus mit dem Reich kommen. Konkret schlug Delbrück vor, die preußischen Provinzen aufzuwerten zu eigenen Einzelstaaten, um mittels einer solchen Dezentralisierung Preußens die Zentralisierung des Reichs zu fördern. Zudem sollten diverse Kleinststaaten zusammengelegt werden268. Obwohl es auch bei den Linksliberalen und den Sozialdemokraten viele Befürworter für eine territoriale Neugliederung gegeben hatte, entschied sich die verfassungsgebende Nationalversammlung nicht für derartige Änderungen269: Im Mai 1919 schrieb Delbrück in der »Deutschen Allgemeinen Zeitung«, er sei »ein entschiedener Anhänger des nationalen Einheitsstaates mit bloßer kultureller Autonomie der Einzelländer und Provinzen«. Allerdings sei dies sehr unrealistisch  – die Verfassungsberatungen hätten deutlich gemacht, dass Föderalismus und Partikularismus in Deutschland historisch so fest verankert seien, dass man sie kaum jemals würde überwinden können270. Womöglich war­ Delbrück später auch deshalb so zurückhaltend hinsichtlich der Erfolgsaussichten des Luther-Bundes, weil diese Ideen bereits in Weimar verworfen worden waren. Umgekehrt zeigte sich daran aber auch, dass er sich aus innerer Überzeugung im und für den Luther-Bund engagierte und dass er die Probleme der föderalen Strukturen, die viele erst nach zehn Jahren zu Reformüberlegungen brachten, bereits in der revolutionären Ära gesehen hatte. Im Juni 1929 zog Hans Delbrück schließlich die Konsequenz aus seiner Einschätzung der Reformbemühungen und trat aus dem Bund wieder aus271. Betrachtet man das Wirken des Bundes bis zu seinem Ende 1933, stellt man fest, dass von ihm ausgehend tatsächlich keine verfassungsrechtlichen Änderungen im Reich durchgeführt worden sind272. Insofern erscheint Delbrücks skeptische Haltung als realistisch. Er war wie viele andere Persönlichkeiten der bürgerlichen Elite überzeugt von der Notwendigkeit einer konservativeren Ausrichtung 268 Hans Delbrück: »Die wichtigsten Fragen der künftigen Reichsverfassung«, in: PJb 175 (1919), S. 131–136. 269 Vgl. Retterath, Volk, S. 239–250. 270 Hans Delbrück: »Eine Antwort an Herrn Ernest Lavisse«, in: DAZ, 58. Jg., Nr. 217 vom 6. Mai 1919, in: BArch N 1017/2. 271 Hans Luther an Hans Delbrück am 19. Juni 1929, in: SBB NL Delbrück, Briefe Luther, Bl. 2 f, in dem Luther Delbrück zum Bleiben zu überreden versuchte. 272 In einem vom Bund zur Erneuerung des Reiches 1933 veröffentlichten Buch nahmen die Herausgeber im Vorwort Stellung zu den ersten Veränderungen durch die Nationalsozialisten: Das »Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich« vom 7. April 1933 wurde darin als ein Schritt in die Richtung einer umfassenden Reichsreform begrüßt. Man erwartete zugleich von der neuen Regierung aber auch eine Stärkung des Selbstverwaltungsrechts von Länder und Kommunen. Vgl. Bund, Reichsreform, S. III–VI.

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der Verfassung273, erkannte als erfahrener politischer Beobachter aber die Grenzen der Machbarkeit. Die Republik erwies sich weitgehend als unfähig zu Reformen. Dies hat bei vielen dazu beigetragen, die Frustration und Ablehnung des Systems insgesamt zu verstärken. Doch radikale Umwälzungen, wie sie der Bund zur Erneuerung des Reiches erwog, waren in einer konsensorientierten parlamentarischen Republik nahezu ausgeschlossen. Hinzu kam, dass sich die Träger der Republik nicht auf eine Abkehr vom Geiste Weimars eingelassen hätten274. c) Der Skandal um die Schul-Buch-Prämie »Es gibt vielleicht keinen zweiten Mann in Deutschland, dessen Leben in Haß und Liebe, Neigung und Abneigung so offen vor aller Welt daliegt als das Hans Delbrücks. Er hat aus seinem Herzen nie eine Mördergrube gemacht, nie nach den Mächtigen, Einzelnen oder Gruppen, [sic] ausgeschaut. Vielmehr immer nur ausgesprochen, was Ueberzeugung, Erfahrung und wissenschaftliche Erkenntnis ihn auszusprechen zwangen. Und als das Kaiserreich zusammenbrach, bei dessen Gewalten der bis zum Starrsinn Unbeugsame und Eigenwillige nie sonderlich gelitten war, hatte er, als der selbstverständlichen Basis nationaler Existenz, dem neuen Staat sich zugewandt und hat auch ihm gedient mit leidenschaftlichem Wahrheitsmut, mit eifernder Vaterlandsliebe und seiner großen und begründeten gelehrten [sic] Autorität. Das alles aber ist wie ausgelöscht. Ein langes wertvolles Leben der Arbeit und unbestechlichen Pflichttreue schützt nicht vor dem organisierten Bandenüberfall. Bewahrt, wenn die Inquisiton das Zeichen gibt, nicht davor, beschmutzt, bespien, ausgepfiffen und niedergetrampelt zu werden.«275

Diese Worte der Zeitschrift »Wille und Weg«, einer der Liberalen Vereinigung276 nahestehenden Halbmonatsschrift, bieten eine pointierte Bewertung des Skan273 Auch Gustav Stresemann sprach Anfang 1928 von »einer Krise des Parlamentarismus« (Rede von Gustav Stresemann vor dem Zentralverband der DVP in Berlin am 26. Februar 1928, in: Michaelis / Schraepler, Ursachen VII, Nr. 1572, S. 236–239, Zitat S. 236). Dass es gute Gründe für eine Reform des komplizierten Verhältnisses Reich-Länder gab, zeigt die sachorientierte Denkschrift des preußischen Ministerialbeamten Arnold Brecht, der republikanisch gesinnt war, vom 30. Juni 1928 (vgl. Michaelis / Schraepler, Ursachen VII, Nr. 1529, S. 116–122). 274 Dabei hatte selbst Hugo Preuß 1919 Delbrück gegenüber zum Ausdruck gebracht, dass er gerne eine lebenslange Wahlperiode des Reichspräsidenten haben würde – also eine massive Aufwertung von dessen Position, verglichen mit der später dann tatsächlich realisierten Amtsdauer von sieben Jahren (Preuß an Delbrück am 7. Januar 1919, in: SBB NL­ Delbrück, Briefe Preuß, Bl. 17 f). 275 »Der Skandal um Hans Delbrück«, in: Wille und Weg, 4. Jg., Nr. 11 vom 1. September 1928, in: ebd., Fasz. 95.1. 276 Die Liberale Vereinigung war eine Organisation in den 1920er Jahren, die versuchte, die Spaltung des deutschen Liberalismus in DDP und DVP zu überwinden. Hans Delbrück trat im Februar 1926 bei (siehe das Begrüßungsschreiben von Pachnicke an Delbrück vom

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dals um die Schul-Buch-Prämie im August 1928. Das preußische Kultusministerium hatte geplant, besonders herausragenden Schülern zum Verfassungstag am 11. August eine Prämie zuteil werden zu lassen. Der zuständige Referent wählte hierfür Hans Delbrücks Werk »Vor und nach dem Weltkrieg« aus. Dieser 1926 erschienene Band umfasste eine Reihe von Aufsätzen Delbrücks aus den Jahren 1900–1914 und 1919–1925 und ergänzte damit die in früheren Jahren herausgegebenen Sammlungen von Aufsätzen aus der Kriegszeit277. Er stellte eine Übersicht über seine politischen und historischen Ideen dar und war auch noch 1926 nicht nur von zeithistorischem Wert, sondern auch von grundsatzpolitischem Interesse278. Kaum dass dieser Beschluss bekannt wurde, brach am 9. August in der republikanischen Presse ein Sturm der Entrüstung über die Entscheidung des Ministeriums herein: »Schlimmer Mißgriff. Verfassungsverhöhnung als Verfassungsprämie«, titelte beispielsweise die »Berliner Morgenpost«, ein Blatt des liberalen Ullstein-Konzerns. Es forderte, Delbrück habe »die Pflicht, gegen diesen Mißbrauch seines Buches Einspruch zu erheben.«279 Auch die linksliberale »Vossische Zeitung« sprach von einem »Hohn auf die Republik« und hielt das Buch »moralisch und pädagogisch« als Prämie für »verwerflich«280. Hans­ Delbrück verfasste tags darauf in Reaktion auf die scharfen Vorwürfe eine zweiseitige Erklärung an das Ministerium und argumentierte im Anschreiben: »Mir ist so schweres Unrecht zugefügt worden, dass mir wohl der Anspruch auf eine Ehrenerklärung zuerkannt werden muss.« Er bat um eine Aufklärung durch das Ministerium. In seiner Erklärung hieß es: »In meinem langen Leben ist mir noch nie ein groteskeres Missverständnis vorgekommen.« Er erlaube sich zwar kein Urteil über die Eignung seines Buches als eine Schulprämie. Doch protestierte er gegen die vollständige Missdeutung seines Artikels »›Proleten und Juden‹«. Die von ihm benutzten Ausdrücke wie »Budiker«, womit Friedrich Ebert häufig verunglimpft worden war, seien eine »Verneigung« vor diesem gewesen281. 4. Februar 1926, in: ebd., Briefe Pachnicke, Bl. 6). In einer Vorstandssitzung vom 5. Juni 1928 äußerte Delbrück allerdings Bedenken gegen eine Vereinigung der beiden Parteien aus wahltaktischen Gründen (Protokoll in: ebd., Fasz. 136.1). 277 Delbrück, Krieg und Politik I–III; Ders., Weltkrieg. 278 Ausgeklammert war lediglich der Bereich der Kriegsschuldfrage, zu dem Delbrück ebenfalls intensiv gearbeitet hatte. Im Vorwort begründete Delbrück diese Auslassung damit, dass sich der Forschungsstand über dieses Thema zu schnell ändern würde, als das der Neuabdruck älterer Publikationen Sinn hätte. Er verwies auf seine aktuelle Studie »Der Stand der Kriegsschuldfrage«. (Hans Delbrück: Vorwort, in: Ders.: Vor und nach dem Weltkrieg, Berlin 1926, S. 7 f). 279 O. V.: »Schlimmer Mißgriff. Verfassungsverhöhnung als Verfassungsprämie«, in: Berliner Morgenpost vom 9. August 1928, in: BArch N 1017/23. 280 O. V.: »Hohn auf die Republik als Schulprämie«, in: Vossische Zeitung vom 9. August 1928, in: ebd. 281 Erklärung nebst Anschreiben an Oberschulrat Adolf Grimme im Kultusministerium vom 10. August 1928 in: ebd.

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Die liberale Presse hatte sich in der Tat insbesondere an dem Aufsatz »›Proleten und Juden‹« aus dem Jahre 1919 gestoßen und diesen offensichtlich falsch verstanden oder verstehen wollen. Es wurde eine verächtliche Einstellung gegenüber der Verfassung und ein antisemitischer Einschlag herausgelesen. Dies war ganz klar eine Missdeutung und konnte nur zustande gekommen sein, indem man sich nicht mit dem Text beschäftigt hatte. Schon die Überschrift »›Proleten und Juden‹« hatte Delbrück bewusst in Anführungszeichen gesetzt. Seine Zeilen waren nichts anderes als eine scharfe Polemik gegen rechts, gegen diejenigen, die die neuen Zustände ablehnten: »Früher hieß es: Wir werden regiert von Junkern und Korpsstudenten; jetzt heißt es, wir werden regiert von Proleten und Juden. Das eine ist nur eine relative Wahrheit wie das andere.« Die ehemalige, konservative Führungsschicht habe im Krieg Großes geleistet, dann aber »ausschließlich durch ihre politische Unvernunft den Krieg und damit auch ihren Anspruch auf Herrschaft verloren.« Den nun die Mehrheit stellenden Sozialdemokraten sprach er seinen Respekt aus, indem er darauf hinwies, dass sie trotz ihrer vorgeblich simplen beruflichen Herkunft als »Budiker«, »Volksschullehrer«, »Bäcker« oder »Korbmacher« in der Lage dazu seien, die Geschicke Deutschlands zu leiten. Das Treiben der im Krieg immer mehr den politischen Kurs bestimmenden Alldeutschen wiederum »bezeugt[e] einen derartigen Mangel nicht nur an Humanität, sondern auch an politischem Sinn, daß das Recht auf Führerschaft in unserem Volke verwirkt war.« Delbrück hatte allerdings zu bedenken gegeben, dass der Machtwechsel nicht zwingend bedeuten müsse, dass Deutschland nun besser regiert werde. Im Hinblick auf die Juden schrieb er, dass sie verständlicherweise nun eine größere Rolle spielten als früher, als sie häufig ausgegrenzt worden waren. Gleichzeitig warnte er auch vor dem wachsenden Antisemitismus. Zuletzt meinte Delbrück, dass das einzige Mittel gegen den Versailler Vertrag »der moralische Protest« sei. Dieser habe aber nur eine Wirkung bei internationalistischen Strömungen im Ausland. Daher komme auf die per definitionem internationalistische SPD eine große Bedeutung zu282. Doch konnte es 1928 nur aufgrund eines Missverständnisses dazu kommen, dass sich Hans Delbrück plötzlich dermaßen im Abseits befand? Delbrücks politischer Standpunkt war nicht mehrheitsfähig und markierte eine Position zwischen allen Lagern. Dies musste dazu führen, dass keine politische Gruppierung ihn vollauf für sich in Anspruch nehmen konnte. In dem Moment, in dem sein Buch zu einer Verfassungsprämie erhoben werden sollte, musste seine Anschauung regierungsamtlichen Charakter erhalten. Da Preußen sich dezidiert 282 Weiter schrieb er dann in diesen vom 24. Oktober 1919 datierten Überlegungen: »Wahrscheinlich aber wird uns bald das alte monarchisch-bürokratische Regiment im verklärten Licht idealer Zustände und glänzender Leistungen erscheinen, wenn wir tagtäglich sehen, wie die neuen Herren es treiben, was sie zustande bringen und namentlich, was sie nicht zustande bringen.« (Hans Delbrück: »›Proleten und Juden‹«, in: PJb 178 (1919), S. 361–366).

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republikanisch entwickelt hatte, konnten Delbrücks Anschauungen dort nur Anstoß erregen. Dabei nahmen von den insgesamt 676 Seiten des Buchs gerade einmal 65 Seiten Artikel aus den Jahren nach dem Weltkrieg ein, die also nur zu den neuen Entwicklungen Stellung nahmen. Diese lediglich elf Aufsätze behandelten so unterschiedliche Themen wie den Flaggenstreit, die Frage nach den Ursachen der Niederlage, die Reichspräsidentenwahl von 1925 oder das Verhältnis zu Frankreich und Russland. Dazu kamen fünf nach 1918 verfasste Untersuchungen zu (zeit)historischen Themen wie der Entstehung des Nibelungenliedes, der Rolle des Kaiserfreunds Philipp Eulenburg und der Bewertung von Bismarcks Entlassung. Diese politischen Aufsätze der letzten Jahre boten ein ausgewogenes Extrakt der Delbrückschen Positionen. Er hatte dabei aber nun einmal nicht den liberal-demokratischen Standpunkt eingenommen, sondern seinen eigenen, im Prinzip konservativen. Sei es bei seinem Bekenntnis zu den alten Reichsfarben schwarz-weiß-rot, der Zurückweisung der Dolchstoßlegende, seiner kritischen Bewertung der letzten Amtsjahre Bismarcks oder seinem Plädoyer für eine eigenständige Außenpolitik. So hoch man sein Engagement und seine Ideen möglicherweise auch schätzen mochte, als staatliche Prämie am Verfassungstag war die Sammlung definitiv ungeeignet. Der Referent im Ministerium hatte Delbrück mit seiner Entscheidung zweifellos ehren wollen, ihm aber durch diesen unbedachten Schritt, der zu zahlreichen Polemiken gegen Delbrück führte, keinen Gefallen getan. Eine neue Dimension erhielt die Angelegenheit durch die Reaktion des Ministeriums: Gleichzeitig zu Delbrücks Brief hatte es sich unter dem Eindruck der scharfen Kritik in der republikanischen Presse dazu entschieden, das Buch als Prämie zurückzuziehen. Dies war zwar ein notwendiger Schritt. Doch die Art der am 10. August verbreiteten Begründung tat dem Historiker erneut Unrecht: Es hieß, man habe die Schrift nun geprüft und stelle fest, dass es wegen einer Verunglimpfung des Reichspräsidenten doch ungeeignet sei. Es sei keine Vorabprüfung vorgenommen worden, da man auf die Persönlichkeit des hochangesehenen Historikers vertraut hätte283. Das bedeutete, dass das Ministerium ebenfalls die Tendenz in Delbrücks Aufsatz völlig falsch verstanden hatte. Offenbar wurde aufgrund der öffentlichen Empörung die Entscheidung in großer Eile zurückgezogen, ohne dass man sich auch dort mit dem eigentlichen Inhalt der Delbrückschen Betrachtungen auseinandergesetzt hätte. Dieser wandte sich am 14. August an den Abteilungsleiter für das höhere Schulwesen, Richard Jahnke, und legte Verwahrung dagegen ein, dass man ihm eine Verunglimpfung des verstorbenen Reichspräsidenten in den Mund gelegt hatte. Er fühle sich »durch diese amtliche Kundgebung gekränkt« und bat nachdrücklich um eine Richtigstellung: »Ich darf mich zu den führenden Historikern in Deutsch-

283 Die amtliche Meldung des preußischen Pressedienstes findet sich u. a. im Berliner Tage­ blatt vom 10. August 1928 (»Die Buchprämie am Verfassungstag. Zurückziehung des Delbrückschen Buches«), in: BArch N 1017/23.

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land rechnen und die Vorstellung, wie ich mich zu dem Sturz des alten Regimes gestellt habe, ist nichts Gleichgültiges.«284 Doch erst am 21. August fand eine vom Ministerium herausgegebene Berichtigung in den Zeitungen Verbreitung285. Dies war in der Logik der modernen Massenmedien zu spät, der Skandal war nicht mehr rückgängig zu machen286. Einsicht in den Fehler einer vorschnellen Beurteilung des Delbrückschen Buches zeigte nur die linksliberale »Frankfurter Zeitung«. Diese hatte nach einer zunächst erfolgten, scharfen Zurückweisung der Prämie287 bereits am 11. August – also lange bevor die Richtigstellung Delbrücks in Umlauf kam – den Aufsatz »›Proleten und Juden‹« einer eingehenden Untersuchung unterzogen und dessen Tendenz richtiggestellt. Zwar blieb das Blatt aus liberal-demokratischer Perspektive dabei, dass das Buch als Prämie für den Verfassungstag ungeeignet sei wegen des darin enthaltenen Plädoyers gegen die neue Reichsflagge. Aber es hob den Wert der Sammlung, auch für den Schulunterricht, lobend hervor: »Die Tugenden des Historikers und das Temperament des Politikers sind in Hans Delbrück so eigenartig verschmolzen, daß er niemals ganz in irgendeine Rubrik hineingepaßt hat, nicht im alten und nicht im neuen Deutschland. Darin aber liegt die Bedeutung, gerade auch die pädagogische Bedeutung seiner Persönlichkeit.«288

Diese Richtigstellung war fair und angebracht. Dass andere Zeitungen wie das »Berliner Tageblatt«, die »Vossische Zeitung« und der »Vorwärts« dies nicht taten, musste auf Delbrück keinen guten Eindruck machen. Da sich das Kultusministerium mit seiner Korrektur Zeit ließ, sekundierten Delbrück einige Freunde. Max Montgelas bat den Vorstand der Liberalen Vereinigung, sich für Delbrück zu verwenden. Es sei schlimm, dass das alte Reich andauernd ohne Folgen verunglimpft werde, »während ein Buch eines berufenen Vorkämpfers für die Ehre des deutschen Namens, für Deutschlands Einigkeit und Recht und

284 Er zeigte sich enttäuscht über die dilatorische Behandlung seines Briefs vom 10. August und bat um Vorlage seiner Angelegenheit beim Minister. Delbrück hatte sogar seine Ferien­reise verschoben wegen des Vorfalls. Siehe Hans Delbrück an Ministerialdirektor Richard Jahnke am 14. August 1928, in: ebd. 285 So zum Beispiel im BT vom 21. August 1928 (»Die Schulprämie. Professor Delbrück über sein Buch«) oder in der Vossischen Zeitung vom selben Tag (»Prof. Delbrücks Buch als Prämie«) sowie der DAZ, ebenfalls vom 21. August 1928 (»Eine Erklärung Delbrücks. Zu den Angriffen gegen sein Buch«), alle in: ebd. 286 Ministerialdirektor Jahnke bedauerte gegenüber Delbrück die geringe Bereitschaft der Presseorgane zum Abdruck der Erklärung (Jahnke an Delbrück am 21. August 1928, in: ebd.). Doch für die Presse war die Richtigstellung von geringerem Wert als Berichte über einen Skandal. 287 O. V.: »Eine zurückgezogene Buchprämie«, in: Frankfurter Zeitung vom 10. August 1928, in: ebd. 288 O. V.: »Hans Delbrück«, in: Frankfurter Zeitung, 73. Jg., Nr. 596 vom 11. August 1928, in: ebd.

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Freiheit vom amtlichen preussischen Pressebüro auf den Index gesetzt wird.«289 Und der Leiter der Zentralstelle für Erforschung der Kriegsursachen290 Alfred von Wegerer teilte seinem Mitstreiter in der Kriegsschuldforschung mit, er habe den Inseratenaustausch mit der Zeitschrift »Politik und Gesellschaft« eingestellt aufgrund eines in Ton und Inhalt ungehörigen Artikels über den Vorfall291. Konrad Molinski, ein Freund von Delbrücks 1917 gefallenem Sohn ­Waldemar, verteidigte seinen Lehrer in der »Deutschen Allgemeinen Zeitung«. Er bemühte Max Webers Theorie über Gesinnungs- und Verantwortungspolitik und stellte Delbrück als den Typus des Verantwortungspolitikers dar292. In einem Schreiben an Delbrück brachte er den Skandal systematisch auf den Punkt: 289 Eine Abschrift des Schreibens von Montgelas an den Vorstand der Liberalen Vereinigung vom 12. August 1928 findet sich in: SBB NL Delbrück, Briefe Montgelas IV, Bl. 28. Die Liberale Vereinigung wollte sich aber nicht einlassen auf ein Engagement in der Sache, was Montgelas seinem Freund Delbrück gegenüber wie folgt kommentierte: »Die Angst vor der heiligen Republik ist bei uns viel grösser als jemals zur kaiserlichen Zeit die vor der Monarchie.« (Montgelas an Delbrück am 26. August 1928, in: ebd., Briefe Montgelas IV, Bl. 29 f). Offenbar stand der eingangs zitierte Delbrück-freundliche Aufsatz der Zeitschrift »Wille und Weg« nicht mit Montgelas‹ Eingreifen in Zusammenhang. 290 Siehe hierzu Kapitel IV.5. 291 Wegerer an Delbrück am 28. August 1928, in: SBB NL Delbrück, Briefe Wegerer, Bl. 51. Otto Haintz, der Teile von Delbrücks »Weltgeschichte« Korrektur gelesen hatte, sprang ihm mit einem Leserbrief an den »Tag« ebenfalls bei (Otto Haintz: »Hans Delbrücks politische Stellung«, in: Der Tag, ohne Datum [1926], in: BArch N 1017/23). Auch das Kösliner Tageblatt verteidigte Delbrück (Richard Haedecke: »Angriffe gegen Delbrück«, in: Kösliner Tageblatt vom 30. August 1928, in: ebd.). 292 Konrad Molinski: Die Angriffe auf Delbrück«, in: DAZ, 67. Jg., Nr. 380 vom 15. August 1928, in: ebd. Siehe auch die undatierte fünfseitige Abhandlung »Gesinnungspolitik und Verantwortungspolitik« von Molinksi, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 13, Bl. 1–5. Es entspann sich in der Folge eine Auseinandersetzung Molinskis mit Martin Hobohm, einem anderen Schüler Delbrücks. Hobohm, mittlerweile zum überzeugten Republikaner geworden, zeigte sich über den Artikel »erschreckt«. Delbrücks Äußerungen zur Flaggenfrage empfinde er »als einen Faustschlag ins Gesicht«. Er berichtete Molinski, er habe Delbrück neulich im Zug getroffen und mit ihm diskutiert. Delbrück habe sich berufen »auf seine einstigen Kämpfe gegen Meinungsdruck im alten Staat – wieviel mehr heute wir überzeugten Republikaner zu kämpfen und zu leiden haben, war ihm offensichtlich völlig fremd, und [sic] er hatte gar kein Ohr dafür.« (Hobohm an Molinski am 21. August 1928, in: ebd., Briefe Hobohm V, Bl. 50–52). Molinski antwortete, er verneine nicht die »schreiend[e] Ungerechtigkeit« des Kaiserreichs gegen viele Gruppen wie Arbeiter, Freisinnige oder Katholiken. Aber die Republik betreibe einen »geistigen Terrorismus […], der wohl hinter dem Schandbaren der Vergangenheit nicht zurücksteht.« (Molinski an Hobohm am 22. August 1928, in: ebd., Briefe Molinski, Bl. 42–45). In einem emotionalen Schreiben wies Hobohm die Argumentation Molinskis zurück. Er fragte ihn, wieso sich die Republikaner ihren Enthusiasmus für die Republik nehmen lassen sollten und gab gleich die Antwort darauf: »Weil in dem Moment, wo das nichtrepublikanische [sic] Bürgertum sich eingesteht, daß die schwarzrotgoldene Idee im großen [sic] lebt und wirkt, es die weitere Einsicht schwer vermeiden kann, daß seine eigene alte Staatsidee dem Volk nicht Genüge [sic] getan, das Volk ruiniert hat, daß sie wirklich bankrott geworden ist.« (Hobohm an Molinski am 23. August 1928, in: ebd., Briefe Hobohm V, Bl. 53–56). Molinski übersandte Delbrück

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»1) Der Referent bestimmt ein Buch als Schülerprämie, ohne es gelesen zu haben 2) Auf bloße Denunziation hin wird das Buch als Prämie zurückgezogen u [sic] Sie mit fadenscheinigen Argumenten zurückgewiesen 3) Der Minister erkennt seinen Irrtum, ist aber zu feige, das auszusprechen. 4) Auf Ihr Verlangen verspricht es [das Ministerium, d. Vf.] mehrfach Richtigstellung, bricht aber das Versprechen 5) Das Ministerium will die Blamage von sich auf Sie abwälzen u [sic] fingieren, als habe es Sie zur Rechenschaft gezogen 6) Wahrscheinlich wird die Antwort des Ministeriums Sie nicht rehabilitieren, sondern der Form nach lediglich als Ihre subjektive Meinungsäußerung erscheinen. So [unleserliches Wort, d. Vf.] der Kultusminister mit einem 80jährigen Professor von Weltruf um.«293

Die Angelegenheit ist schließlich durch einen Brief von Carl Heinrich Becker beigelegt worden. Der mit Delbrück in freundlicher Verbindung stehende Kultusminister schrieb ihm nach seiner Rückkehr von einer Englandreise, sein Buch sei »mit Recht ausgewählt worden«. Allerdings habe es sogar ein Studiendirektor missverstanden. Unter diesen Umständen hätte man es nicht mehr guten Gewissens an Schüler geben können, die damit überfordert sein würden294. Delbrück teilte ihm daraufhin Anfang Oktober mit, er sehe den Zwischenfall »als erledigt an«295. Die Reaktionen der sozialdemokratischen und der rechten Presse zeigen aber, dass der Skandal sich nicht nur um die Republikaner drehte. »Der Abend«, die Spätausgabe des »Vorwärts«, hatte ebenso wie die liberalen Blätter die Eignung des Delbrückschen Buches als Prämie in Frage gestellt. Er verstieg sich aber zu der Behauptung, das Werk enthalte in verschleierter Form die Dolchstoßlegende und sei besser geeignet als Prämie für nationalistische Verbände296. Gemeint war der Aufsatz »Frieden« von 1919. Dort hatte Delbrück geschrieben, man hätte in Versailles die Friedensbedingungen zurückweisen und eine Neuverhandlung erreichen können. Dies wäre aber nur möglich gewesen bei einer vollständigen Einigkeit im Volk. Zu viele hätten aber nicht mehr gewollt, das Heldentum von 1914 sei dahin gewesen297. Diese Delbrücksche Forderung im Rahmen der Versailler Verhandlungen ist zwar grob fahrlässig gewesen. Eine den Briefwechsel und kommentierte Hobohms Haltung wie folgt: »Es ist schmerzlich zu sehen, wie sich mit der Verirrung der Gefühle auch der Verstand verfinstert.« (Molinski an Delbrück am 22. August 1928, in: ebd., Briefe Molinski, Bl. 39). 293 Molinski an Delbrück am 22. August 1928, in: ebd., Briefe Molinski, Bl. 39. 294 Becker an Delbrück am 29. September 1928, in: ebd., Briefe Karl [sic] Heinrich Becker, Bl. 3 f. Becker war auch einer der Einladenden zum Festbankett im Adlon anlässlich von Delbrücks 80. Geburtstag und hielt dort die Festrede. Delbrück teilte ihm anschließend mit, dessen Rede sei für ihn einer der »Höhepunkte« seines gesamten Geburtstages ge­ wesen (Delbrück an Becker am 5. Dezember 1928, in: ebd., Briefkonzepte Carl Heinrich Becker, Bl. 2). 295 Delbrück an Becker am 1. Oktober 1928, in: ebd., Bl. 1. 296 Siegfried Krampe: »Die ›republikanische‹ Buchprämie«, in: Der Abend vom 8. August 1928, in: BArch N 1017/23. 297 Delbrück, Weltkrieg, S. 409.

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Neuauflage der Dolchstoßlegende war diese Sichtweise aber mitnichten. Überhaupt war die Aufsatzsammlung in ihrer ganzen Form, wie dargestellt, ein Plädoyer gegen die fatale Deutung der Niederlage durch nationalistische Gruppen298. Die Darstellung des »Abends« machte deutlich, dass nicht auf einem sachlichen Niveau debattiert wurde, sondern jeder die Thesen aus Delbrück herauslas, die ihm genehm waren. Noch extremer tat dies die rechtsorientierte Presse: Der deutschnationale »Tag« kommentierte die Meldung des Ministeriums über die Zurückziehung der Prämie mit der Vorhaltung, Delbrücks Aussagen seien doch wahr. »Aber man zieht es ja heute vor, in einer ungesunden Romantik bombastische Verfassungsreden zu halten, anstatt Wahrheit zu suchen.«299 Der ebenfalls deutschnationale »Berliner Lokal-Anzeiger« nahm einzelne Zitate Delbrücks aus dem Buch heraus, die dann aufgrund des fehlenden Kontexts als Plädoyer gegen die Republik herhalten mussten. Die Zurück­ ziehung der Prämie sei der Beweis dafür, dass es historische Wahrheiten gebe, die die Republik nicht ertrage300. Diese infame Indienstnahme Delbrücks durch die rechte Presse verdeutlicht, wie skrupellos jene Kreise agierten, nur um destruktiv gegen den Staat vorzugehen301. Delbrück hat zwar auch oft genug die Republik kritisiert, aber immer auf eine konstruktive Weise, jedes Mal zeigte er Handlungsalternativen auf. Der Vorgang insgesamt muss als unglücklich bewertet werden – gleichwohl aber als symptomatisch für die politische Kultur der Weimarer Republik. Hans Delbrück als eine Persönlichkeit, die den Weimarer Staat durch ihr Handeln im Prinzip stabilisierte, fand sich ohne sein Zutun in einer verdrehten Welt, von Liberalen attackiert und von den Rechten instrumentalisiert. Keine Frage, das Buch »Vor und nach dem Weltkrieg« konnte von einer republikanischen Regierung nicht als Schulprämie am Verfassungstag verteilt werden. Dafür waren die dort vertretenen Anschauungen zu losgelöst vom Geiste Weimars. Dieser unbedachte Schritt des Ministeriums hätte noch eingefangen werden können durch eine schnelle und ausgewogene Würdigung Delbrücks in der Erklärung zur Zurückziehung des Buchs. Als er aber regierungsamtlich gekränkt wurde, 298 Auch in einer »Zwischenbemerkung«, die zwischen den Aufsätzen vor 1914 und nach 1918 eingeschoben war, hatte Delbrück in Zusammenfassung seiner Arbeiten während der Kriegszeit geschrieben: »Es ist die Auswirkung jenes Satzes, der sich in den vorstehenden Artikeln [gemeint sind die von vor 1914, d. Vf.] mehrfach findet, daß die alldeutsche Bewegung gefährlicher sei als die sozialdemokratische.« (ebd., S. 404). 299 O. V.: »Hans Delbrück auf dem Index«, in: Der Tag, Nr. 191 vom 10. August 1928, in: BArch N 1017/23. 300 Friedrich Hussong: »Kleines Malheur«, in: Berliner Lokal-Anzeiger vom 11. August 1928, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 90. 301 Dass es sich hier um ein Grundproblem in der Wirkung von Delbrücks Publizistik handelte, illustriert eine spätere Aufzeichnung seiner Frau. Im Zusammenhang mit seiner Kriegsziel-Programmatik im Herbst 1914 schrieb sie: »So klar und besonnen er schrieb, so wurde er doch oft missverstanden, und die gegnerische Presse scheute sich nicht, durch unklare Wiedergabe die Missverständnisse zu verschärfen.« (Aufzeichnung Lina Delbrücks, Abschrift in: BArch N 1017/75, Delbrücks Leben, Bd. XI 1914, S. 75).

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indem die falsche, polemisierende Deutung der Aussagen seiner Schriften zur offiziellen Sichtweise erhoben wurde, war der Skandal perfekt. Die Rechte ergoss sich in Häme über die Republikaner, die nun den angesehenen Historiker von sich stießen, den sie so oft in ihre Dienste genommen hatten im Kampf gegen nationalistische Strömungen. Die späte Richtigstellung des Ministeriums konnte den politischen Schaden kaum noch reparieren. Der Zwischenfall hatte die politische Landschaft erneut polarisiert. Die Liberalen sowie die Sozialdemokraten, noch stärker aber die Deutschnationalen waren ganz offensichtlich nicht um sachliche und im Ton respektvolle Auseinandersetzungen bemüht, sondern hießen jeden Anlass willkommen, um sich in beißender Polemik zu ergehen – ganz gleich, ob es dafür eine sachliche Grundlage gab oder nicht. Damit wurde vornehmlich von der Rechten, welche die Zerrissenheit im Volke in besonderem Maße immer wieder beklagte, eben diese verstärkt. Delbrück selbst nahm den Vorfall nicht allzu tragisch. An Walter Goetz, mit dem er an vielen Stellen zusammenarbeitete, schrieb er: »Aber ich habe mehr gelacht als mich geärgert.«302

3. Das Erbe der Monarchie a) Die Rückkehr des Kronprinzen »Es kann ja kein stärkeres Zeugnis dafür geben, wie sicher sich die Republik fühlt, als daß sie dem Kaiser die Wohnerlaubnis in ihrer Mitte gibt.«303 Diese Worte Hans Delbrücks in der »Deutschen Allgemeinen Zeitung« vom November 1926 beziehen sich zwar auf eine zu der Zeit gerüchteweise diskutierte Rückkehr des vormaligen Kaisers Wilhelm II. aus dem Exil. Dennoch wiederholte er damit seine Argumentation, mit der er wenige Jahre zuvor die Übersiedlung des ehemaligen Kronprinzen Wilhelm aus den Niederlanden nach Deutschland mit ermöglicht hatte. Nicht nur der Kaiser, sondern auch sein Sohn war im Zuge der Novemberrevolution 1918 aus Deutschland geflohen und hatte in den Niederlanden Exil gefunden. Wilhelms Kabinettschef Müldner von Mülnheim betrieb seit 1921 die Rückkehr seines Herrn nach Deutschland, der damit zunächst keine politischen Ambitionen hegte, sondern lediglich in seiner Heimat wohnen wollte. Derartige Überlegungen stießen in großen Teilen der deutschen Politik auf entschiedene Ablehnung, war doch das Selbstverständnis der von Sozialisten und Linksliberalen getragenen Republik dezidiert antimonarchisch. Unter dem Eindruck alltäglicher Anfeindungen der parlamentarischen Demokra302 Delbrück an Goetz, ohne Datum [1928], in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Goetz, Bl. 5. 303 Hans Delbrück: »Falsche Aengstlichkeit«, in: DAZ, Nr. 524 vom 9. November 1926, in: ebd., Fasz. 88a.

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tie von rechts wurde eine mögliche Rückkehr des Sohnes des letzten Kaisers, des Sinnbilds alles Überwundenen, als Provokation aufgefasst. Zudem drohten außenpolitische Gefahren durch Frankreich und die anderen Siegermächte, die einen solchen als Restauration interpretierbaren Schritt möglicherweise nicht hinzunehmen bereit waren. Und doch war Hans Delbrück einer der wichtigsten Verbündeten Müldners, obwohl, oder gerade weil Delbrück beständig gegen monarchistische Tendenzen sowie für eine versöhnende außenpolitische Orientierung stritt. Selbst die schweren Anfeindungen des Kronprinzen ihm gegenüber im Kontext der Kriegszieldebatte im Winter 1914 hielten ihn nicht davon ab, sich nun für Wilhelm einzusetzen. Seine Motive legte Delbrück in einem Brief vom 12. Februar 1922 an Kurt Hahn, Mitarbeiter des Prinzen Max, dar: Auch ohne die Entschuldigung des Kronprinzen304 für seine bösen Worte im Krieg würde er sich im Sinne der Sache für eine Rückkehr engagieren. Der jetzige Zustand sei eine persönliche Grausamkeit und vor allem bestehe die Gefahr, dass sich Wilhelm im Exil zu einem Märtyrer entwickele. Auf die Verfassung verpflichtet, stehe er im Inland unter viel schärferer Kontrolle, sodass diese Gefahr für die Republik gebannt werden könne305. In persönlichen Gesprächen mit Justizminister Eugen Schiffer, Außenminister Friedrich Rosen und Reichspräsident Friedrich Ebert warb Delbrück für sein Anliegen306. Zumindest Rosen widerstrebte dem Vorhaben, da er außenpolitische Verwicklungen fürchtete. Müldner jedenfalls zeigte sich Delbrück gegenüber nach Rosens Rücktritt Ende 1921 erleichtert307. Dennoch bestand die Hauptschwierigkeit in der Überwindung der innenpolitischen Widerstände von links. So stellte Delbrücks Schwager Adolf von Harnack im August 1921 fest, dass »schroff ablehnende Notizen« in der sozialistischen Presse308 die Aktion 304 Wilhelm an Delbrück am 19. Juli 1921, in: BArch N 1017/57. Der Hohenzollern betonte in dem Schreiben, eigentlich habe man im Weltkrieg die gleichen Auffassungen vertreten. Hinter den Kulissen habe auch er, Wilhelm, für einen Verständigungsfrieden gearbeitet, nach außen hin habe er jedoch Siegeszuversicht demonstrieren müssen. Die Revolution deutete er als Quittung für zu lange hinausgezögerte innenpolitische Reformen und aus dem gescheiterten Kapp-Putsch zog er die Lehre, dass eine gewalttätige Änderung des jetzigen Systems falsch sei. Er wolle zurück in seine Heimat zu seiner Familie und am Wiederaufbau Deutschlands mitarbeiten. Die Frage der Glaubwürdigkeit dieser Beteuerungen ist in diesem Kontext zu vernachlässigen. 305 Hans Delbrück an Kurt Hahn am 12. Februar 1922, in: ebd. 306 Ebd. 307 Müldner an Delbrück am 13. Dezember 1921, in: ebd. Bereits im Sommer desselben Jahres hatte er die Hoffnung geäußert, dass Delbrück den »›auswärtigen‹ Herrn« davon überzeugen könnte, dass sich England ruhig verhalten würde (Müldner an Delbrück am 19. Juli 1921, in: ebd.), konstatierte aber wenig später Rosens Ablehnung (Müldner an Delbrück am 21. August 1921, in: ebd.). 308 Gemeint war beispielsweise der zynische Kommentar »Neues vom Tage« in der radikal linksliberalen »Welt am Montag« vom 18. Juli 1921, in dem Wilhelms propagierte Sehnsucht nach seiner Frau als Heuchelei bezeichnet wurde angesichts der (vermeintlichen) Tatsache, dass in seinem Hauptquartier im Krieg eine Haremswirtschaft geherrscht habe. Der Verfasser schrieb, Wilhelm solle froh sein, dass er noch am Leben sei, während Millio-

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»überaus erschwert« hätten und riet ihm, nicht mit intellektuellen Sozialisten, sondern beispielsweise mit Parteivorstandsmitglied Franz Krüger als Funktionär aus dem Arbeiterstand zu reden309. Deutlich wird hier, dass der konservative Geheimrat Delbrück über eine gewisse Anerkennung in linken Kreisen verfügte und dort als verlässlicher Gesprächspartner akzeptiert wurde. Auch auf sozialdemokratische Kreise im Auswärtigen Amt, erhoffte sich Müldner, würde Delbrück aufgrund seiner Reputation Einfluss ausüben können310. Der nächste Schritt der Kronprinzenfreunde war ein inszenierter Brief­ Wilhelms an seinen alten Lehrer, den Staatsrechtler Philipp Zorn in Ansbach. Dieses am 15. Oktober 1921 versandte Schreiben entstammte im Urkonzept der Feder Delbrücks311. Darin beteuerte Wilhelm, er sei immer der Überzeugung gewesen »daß der Monarch des Volkes wegen da ist und nicht das Volk des Monarchen wegen.« Die republikanische Verfassung sei nun rechtmäßig in Kraft und genauso, wie es ein Verbrechen darstelle, den Klassenkampf zu predigen, sei ein gewaltsamer Putsch ein Vergehen am Volk312. Diesen Brief spielte Zorn am 1. Februar 1922 der Presse zu, um die Öffentlichkeit von den friedlichen Absichten des vormaligen Kronprinzen zu überzeugen. Über seinen Mitarbeiter Kurt Hahn ließ Prinz Max, der in diesen Schritt offenbar nicht eingeweiht war, bei Delbrück anfragen, ob es nicht sinnvoll sei, Wilhelm würde einen öffentlichen Brief schreiben an den Reichspräsidenten, in dem er sich zum Bürgerfrieden bekenne, von der Dolchstoßlegende abrücke und sein Bekenntnis zur Monarchie an den Willen des Volkes knüpfe. Auch ließ er Delbrück fragen, ob er sich bereit erklärte, im Falle einer Rückkehr in der liberalen Presse beruhigend zu wirken313. Das war genau die Verfahrensweise, die Delbrück mit Müldner schon verabredet hatte. Der Zorn-Brief hatte genau diese Funktionen erfüllt; Müldner und Delbrück beobachteten jedenfalls eine in ihrem Sinne positive Wirkung der Veröffentlichung314. Dennoch hatte all dies noch nicht ausgereicht, um die Rückkehr tatsächlich zu ermöglichen. Der Delbrücksche Plan, Wilhelm als Zeugen vor dem Untersuchungsausschuss des Reichstags zu befragen, um ihm damit die Möglichkeit zu geben, sich von den Verantwortlichen für die gescheiterte militärische und politische Strategie abzugrenzen, wurde aufgrund zu hoher Risiken nicht weinen anderer Väter den Tod auf den Schlachtfeldern gefunden haben. Ähnlich auch ein sarkastischer Kommentar in derselben Zeitung vom 22. August unter der Überschrift »Der Hufschmied von Wieringen«, beide in: ebd. 309 Adolf von Harnack an Hans Delbrück am 9. August 1921, in: ebd. 310 Müldner an Delbrück am 19. Juli 1921, in: ebd. 311 Delbrück an Hahn am 12. Februar 1922; Müldner an Delbrück am 25. Oktober 1921; Müldner an Delbrück am 14. Februar 1922, alle in: ebd. 312 »Der Kronprinz über den Wiederaufbau Deutschlands. Ein Brief des Kronprinzen Wilhelm« in: Der Tag, Nr. 53 vom 1. Februar 1922, in: ebd. Hervorhebung im Original. 313 Kurt Hahn an Hans Delbrück am 7. Februar 1922, in: ebd. 314 Delbrück an Hahn am 12. Februar 1922; Müldner an Delbrück am 14. Februar 1922, beide in: ebd.

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ter verfolgt315. Aber Delbrück wirkte auf den linksliberalen Publizisten Hellmut von Gerlach ein, der als Chefredakteur der »Welt am Montag« über ein Sprachrohr in linksradikalen Kreisen verfügte. Hatte Gerlach in seinem Wochenblatt im Sommer 1921 noch giftige Töne in Richtung Wieringen in den Niederlanden verbreitet, zeigte er sich Anfang 1922 durch Delbrücks Bearbeitung durchaus bereit, in dessen Sinne zu schreiben316. Reichsaußenminister Walter Rathenau hatte schließlich wohl bereits den Beschluss zur Einreiseerlaubnis erwirkt; aufgrund seiner Ermordung im Juni 1922 kam es jedoch vorerst nicht zur Umsetzung. Erst im November 1923 gelang das Unternehmen, und der vormalige Kronprinz Wilhelm konnte mit der Erlaubnis der deutschen Regierung, verantwortet durch den Reichskanzler Gustav Stresemann, aus dem Exil nach Deutschland übersiedeln. Hans Delbrück wollte die Rückkehr Wilhelms durch publizistische Tätigkeiten begleiten, um die Öffentlichkeit zu beruhigen. Allerdings ließ Stresemann ihn wissen, dass er es »für das nützlichste [sic] hielte«, wenn der gesamte Vorgang in der deutschen Presse möglichst keine Erwähnung finde317. So blieb Delbrücks Entwurf für einen Artikel im linksliberalen »Berliner Tage­ blatt« vom 11. November in der Schublade liegen. In diesem bezog er sich auf den Brief an Zorn und schlussfolgerte: »Mit dieser Erklärung ist das Prinzip der erblichen Legitimität [sic] auf der die Monarchie bisher in Deutschland ruhte, aufgegeben und die Bahn freigemacht die alten konservativen Gesellschaftsschichten auf den Boden der Republik hinüberzuführen.« Hier wird wieder das zentrale Motiv Delbrücks deutlich: Ihm ging es um eine Versöhnung des alten mit dem neuen Deutschland. Er suchte nach Wegen, um auch den konservativen Gruppen eine Integration in das demokratische Zeitalter zu ermöglichen. In einer fortdauernden Verbannung des vormaligen Kronprinzen sah er die Gefahr »eine[s] wahren Märtyrertum[s]«. Etwaige Befürchtungen, Wihelm würde in Deutschland als Sammelpunkt für monarchistische Kreise eine Gefährdung darstellen, entkräftete er mit dem Hinweis des »Damoklesschwert[s] eines Verbannungsgesetzes«318. 315 Delbrück hatte hierüber mit Wilhelm Kahl, dem Vorsitzenden des 4. Unterausschusses, beraten (Delbrück an Hahn am 12. Februar 1922, in: ebd.). Auch Müldner riet von dem Vorhaben ab: »Die zwischen uns bereits erörterten Folgen sind doch zu bedenklich.« (Müldner an Delbrück am 21. Juli 1921, in: ebd.). 316 Auch mit Philipp Scheidemann hatte Delbrück angeknüpft (Delbrück an Kurt Hahn am 12. Februar 1922, in: ebd.). Prinz Max stimmte Delbrück in allen Punkten zu, drängte aber auf eine Beschleunigung des Ganzen (Prinz Max an Hans Delbrück am 22. Februar 1922, in: SBB NL Delbrück, Briefe Max, Bl. 11). 317 Delbrück an den vormaligen Kronprinzen am 19. November 1923, in: BArch N 1017/57. Vgl. auch Anfrage Delbrücks bei Stresemann vom 8. November, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Stresemann. 318 »Die Rückkehr des Kronprinzen«, Artikel Hans Delbrücks für das Berliner Tageblatt vom 11. November 1923, in BArch N 1017/57. Das »Damoklesschwert« meinte das Bewusstsein der Gefahr, von der Republik verbannt zu werden, wenn Wilhelm sich ihr feindlich gegenüber stelle. Dieses würde ihn eben genau daran hindern.

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Noch weiter ging Delbrück in einem Interview für das »Neue Wiener Tagblatt« vom 12. November, in dem er aufgrund Stresemanns Bitte, sich in der deutschen Presse zu enthalten, seine Anschauungen darlegte, in der Absicht, beruhigend zu wirken. Er behauptete, dass erst durch die zweijährige Verzögerung bei der Rückkehr der Münchener Putsch vom 8. und 9. November möglich geworden sei: »Denn es ist kein Zweifel, dass Ludendorff und Hitler Phantasten wie sie sind doch zu ihrem Entschluss nicht gekommen wären, wenn sie nicht des Glaubens gelebt hätten, dass [sic] sobald sie losmarschierten [sic] aus Norddeutschland ihnen eine ähnliche Bewegung entgegenkommen würde.« Dieser Glaube wäre deutlich geschwächt worden, wenn bei den Putschisten das Wissen um die Missbilligung der Aktion durch den Kronprinzen vorhanden gewesen wäre. Zwar verkannte Delbrück hier die ideologisch-fanatische Orientierung Hitlers. Dennoch hatte er nicht ganz Unrecht mit seiner Argumentation, dass ein politisch ruhig gestellter und gewissermaßen eingefangener Kronprinz beruhigend im rechten Lager gewirkt hätte. »Unzufrieden damit [mit der Rückkehr, d. Vf.] können nur die Phanatiker der Rexhten [sic] seien [sic].« Für diese wäre es günstiger gewesen, Wilhelm hätte das Prinzip des Gottesgnadentums nicht aufgegeben und weiterhin als Märtyrer in der Verbannung gelebt319. Und tatsächlich sind republikfeindliche Aktivitäten des ehemaligen Kronprinzen aus den ersten Jahren nach seiner Rückkehr nach Deutschland nicht bekannt. Eine die Republik stabilisierende Wirkung seiner Rückkehr im Verbund mit dessen Versicherung, sich politischer Tätigkeiten zu enthalten, lässt sich also durchaus feststellen. Die Tatsache, dass es Delbrück dabei nicht um einen persönlich motivierten Dienst an dem Neffen seines ehemaligen Schützlings Prinz Waldemar ging, wird illustriert durch die erstaunlich nüchterne Form, in der sich Wilhelm nach seiner Rückkehr bei ihm bedankte: Auf einer Postkarte hieß es lediglich: »Herzlich dankbar für das treue Gedenken und die lieben Willkommensgrüße in der deutschen Heimat.«320 Delbrück war wohl etwas enttäuscht über diesen Mangel an Dankbarkeit. Anlässlich eines Besuchs Wilhelms bei ihm im Grunewald einige Jahre später notierte er sich, der vormalige Kronprinz hätte ihm schon längst seine Aufwartung machen können nach all seinen Bemühungen für dessen Rückkehr321.

319 Entwurf eines Interviews Hans Delbrücks für das Neue Wiener Tagblatt vom 12. November 1923, dort erschienen am 16. November, in: ebd. 320 Postkarte Wilhelms an Delbrück von Schloss Oels im November 1923, in: SBB NL Delbrück, Briefe Wilhelm Kronprinz. 321 Gesprächsprotokoll Delbrücks über eine Unterredung mit Wilhelm von Anfang 1928, in: BArch N 1017/57. Zum Jahreswechsel 1923/1924 hatte Müldner Delbrück noch geschrieben, Wilhelm hoffe, ihn bald persönlich treffen zu können (Müldner an Delbrück am 31. Dezember 1923, in: SBB NL Delbrück, Briefe Müldner).

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b) Die Reichspräsidentenwahl Eine gewisse Rolle spielte Delbrück auch keine zwei Jahre später bei der vorge­ zogenen Reichspräsidentenwahl im Frühjahr 1925. Als Friedrich Ebert am 28. Februar plötzlich starb, wurde in Deutschland erstmals das Staatsoberhaupt mittels einer plebiszitären Wahl bestimmt. Die Abstimmung wurde zum Testlauf für die Stabilität der jungen Republik. Während die SPD den bisherigen preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun nominierte, kamen bürgerlichrechte Parteien und Verbände unter dem Vorsitz Friedrich von Loebells, des Präsidenten des Reichsbürgerrats, in einem Ausschuss zusammen, um einen zweiten sozialdemokratischen Reichspräsidenten zu verhindern und einen Kandidaten der bürgerlichen Sammlung zu finden322. Das Zentrum und die DDP verhandelten zwar mit dem Loebell-Ausschuss, lehnten aber letztlich eine Zusammenarbeit ab. Schließlich einigten sich die Rechten auf den Duisburger Oberbürgermeister und ehemaligen Reichsinnenminister Karl Jarres von der DVP. Daraufhin nominierten die anderen Parteien eigene Kandidaten: das Zentrum warb für seinen Vorsitzenden Wilhelm Marx und die DDP für den badischen Staatspräsidenten Willy Hellpach. Bei dem Urnengang am 29. März erreichte keiner der Kandidaten die nötige absolute Mehrheit323. Den Parteien der Weimarer Koalition war klar, dass sie bei dem für den 26. April vorgesehenen zweiten Wahlgang, bei dem die relative Mehrheit ausreichte324, nur mit einem gemeinsamen Kandidaten Aussicht auf Erfolg hatten. Die SPD, das Zentrum und die DDP einigten sich folglich am 3. April auf Wilhelm Marx325. Damit sah zunächst alles nach einem Duell zwischen Marx und Jarres aus. Daraufhin setzte Hans Delbrück am Vormittag des 4. Aprils zwei Schreiben auf und bat die beiden, zugunsten des angesehenen Reichsgerichtspräsidenten­ Walter Simons326 auf ihre Kandidatur zu verzichten. Delbrück argumentierte, 322 Beteiligt waren Vertreter der DNVP, der DVP, der BVP, der Wirtschaftlichen Vereinigung, des Reichs-Landbundes, des Reichsverbands der Deutschen Industrie und weitere Gruppierungen. Zur Tätigkeit des Loebell-Ausschusses vgl. Ohnezeit, Opposition, S. 311–314; Pyta, Hindenburg, S. 462–464. Die BVP nominierte im ersten Wahlgang dann allerdings doch einen eigenen Kandidaten (Heinrich Held). 323 Auf Jarres entfielen 38,8 %, auf Braun 29,0 %, auf Marx 14,5 %, auf Thälmann (KPD) 7,0 %, auf Hellpach 5,8 % und auf die anderen (u. a. Held für die BVP und Ludendorff für die NSDAP) 4,9 % der Stimmen. Vgl. Büttner, Weimar, S. 806, Tabelle 5. 324 Zu den verfassungsrechtlichen Bestimmungen des Wahlverfahrens vgl. Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 313 f. 325 Die Wahl fiel auf Marx, weil aus Stichwahlabkommen aus der Kaiserzeit bekannt war, dass die SPD-Anhänger Wahlparolen disziplinierter befolgten als das Bürgertum. Außerdem wurde im Gegenzug Otto Braun mit den Stimmen des Zentrums erneut zum preußischen Ministerpräsidenten gewählt. Vgl. Winkler, Schein, S. 236. 326 Delbrück stand in freundschaftlichen Beziehungen zu Simons und war Patenonkel von Simons Frau Erna. In den Wochen, in denen Simons als gesetzmäßiger Stellvertreter des Reichspräsidentens die Amtsgeschäfte führte, besuchte und beriet ihn Delbrück (Erna­ Simons an Hans Delbrücks Bruder am 21. Juli 1929, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 10.2, Bl. 32).

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dass das Wahlergebnis völlig unvorhersehbar sei und damit der Eindruck erweckt würde, »dass das Schicksal Deutschlands vom Zufall bestimmt werde. Wie ganz anders würde das Reich dastehen, wenn es jetzt einen Präsidenten erhielte, der nicht nur die eine oder die andere Hälfte des Volkes, sondern seine geschlossene Masse hinter sich hat. […] Welch eine Stellung gewänne Deutschland mit einem Schlage, wenn es gelänge, den ja an sich natürlichen und notwendigen Parteikampf so weit zurückzudrängen, dass ein einmütig gewählter Präsident an die Spitze des Reiches tritt.«327

Die Idee, Simons als Sammelkandidaten aufzustellen, war bereits im ersten Wahlgang öffentlich diskutiert worden. Der DDP-Vorsitzende Anton Erkelenz, der den linken Flügel seiner Partei repräsentierte, hatte am 9. März sowohl an Loebell, als auch an die SPD, die BVP, die DVP, die DNVP und das Zentrum ein Schreiben versandt, in dem er »die Gefahr einer erneuten Aufreißung der alten verhängnisvollen Klassengegensätze« durch den Wahlkampf befürchtete. Dies würde der Autorität des gewählten Präsidenten empfindlich schaden. »Die Vermeidung dieser Gefahren ist eine nationale Pflicht«, postulierte ­Erkelenz und schlug gemäß einem Beschluss der DDP-Reichstagsfraktion den anderen Parteien Simons vor. Dieser stehe über den Parteien, genieße hohes Ansehen und stehe zugleich fest auf dem Boden der Verfassung328. Zwar hatte sich daraufhin das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold als Vermittler zwischen DDP, SPD und Zentrum eingeschaltet329, jedoch hatten parteitaktische Überlegungen eine Einigung damals verhindert und Simons schnell wieder aus dem Gespräch gebracht330. Delbrücks neuerlicher Vorstoß geschah ohne Rücksprache mit Simons; allerdings hatte er seine Pläne mit Reichskanzler Luther besprochen331. Seine Motive waren klar: Er befürchtete durch die Parole »Republik oder Monarchie« genauso wie die Linksliberalen eine folgenreiche Aufpeitschung der Gemüter, die eine Beruhigung der politischen Landschaft erschweren musste. Am 7. April Zu den Regeln der Stellvertretung des Reichspräsidentens vgl. Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 315 f. 327 Hans Delbrück an Karl Jarres am 4. April 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Jarres, Bl. 3. Mit den Worten: »Möge die reine Liebe zum Vaterlande hier wie da den Entschluss bestimmen« übersandte Delbrück eine Abschrift des Briefes am selben Tag an Wilhelm Marx. Siehe: ebd., Briefkonzepte Mertz, Bl. 7 [das Konzept ist falsch einsortiert, d. Vf.]. Schon im Vorfeld des ersten Wahlgangs hatte sich Delbrück öffentlich zur Wahl geäußert. Offenbar hatte er für den Berliner Börsen-Courier einen Artikel geschrieben (BBC-Redaktion an Delbrück am 16. März 1925, in: ebd., Briefe BBC, Bl. 2). 328 Abdruck des Briefs im Berliner Tageblatt, 54. Jg., Nr. 116, Morgen-Ausgabe vom 10. März 1925 unter dem Titel: »Die Demokraten für Kandidatur Simons.« 329 OV.: »Ein Schritt des Reichsbanners«, in: BT, 54. Jg., Nr. 117, Abend-Ausgabe vom 10. März 1925. 330 Vgl. Cary, Reich President, S. 188–190. 331 Delbrück an Kahl am 5. April 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Kahl, Bl. 10.­ Luther unternahm dann am 14. April selbst einen letzten Versuch, Simons zu einer Kandidatur zu ermuntern. Vgl. Winkler, Schein, S. 237 f.

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schrieb er Jarres erneut und bat ihn dringend um eine entsprechende Erklärung: »Noch im letzten Augenblick ist die Vereinbarung, die der Instikt [sic] des deutschen Volkes ersehnt, möglich.« Auch einseitig erfolgt würde sie ihre Wirkung erzielen, weil Marx dadurch in die Defensive gedrängt würde332. Jarres hatte Delbrück bereits am 5. April geantwortet, das Schreiben allerdings erst später abgesandt. Doch schon unter dem 5. April schrieb er, der Vorschlag komme »zu spät.« Er selbst habe zwar »eine bürgerliche Sammelkandidatur von Anfang an mit allen Kräften erstrebt«, durch die Bildung des Linksblocks sehe er allerdings keine Möglichkeit mehr für eine Verständigung333. Delbrück zeigte sich schwer enttäuscht über das Misslingen seiner Unternehmung: »Die Gelegenheit, Deutschland mit einem Schlage wieder eine grosse [sic] moralische Stellung in der Welt zu gewinnen ist [sic] nicht benutzt worden. Der Parteigeist hat sich doch wieder als stärker erwiesen, als der Nationalgeist. Ich sehe in der Kandidatur Hindenburg [sic] ein grosses [sic] Unglück für Deutschland, und ein noch grösseres [sic] würde es sein, wenn er gewählt würde.«334

»Zu spät« war Delbrücks Vorschlag am 4. April zwar nicht erfolgt, da Hindenburg, den die Rechtsparteien nun anstelle von Jarres als vermutlich einzige Persönlichkeit, die Marx schlagen konnte, unbedingt aufstellen wollten, erst am Abend des 7. Aprils endgültig seine Kandidatur erklärte335. Aber Delbrück ver332 Delbrück an Jarres am 7. April 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Jarres, Bl. 5. 333 Als Post Scriptum (ohne Datum) schrieb Jarres, der Brief sei liegen geblieben. Durch Hindenburgs Annahme der Kandidatur sei die Angelegenheit nun aber definitiv erledigt (Jarres an Delbrück am 5. April 1925, in: ebd., Briefe Duisburg). 334 Diese Worte sind verfasst als Nachschrift zu einem Brief an das Svenska Dagbladet, für das Delbrück hin und wieder schrieb, mit der Bitte, diese seinem Artikel über die Präsidentenwahl hinzuzufügen. Ob das Schreiben in der Form tatsächlich abging (es ist durchgestrichen und findet sich auf einer Rückseite eines gänzlich anderen Briefkonzepts, in: ebd., Briefkonzepte Hirschberg, Bl. 2) und ob ein Artikel mit dem Tenor in Stockholm publiziert wurde, ist nicht festzustellen. Allerdings spielt das kaum eine Rolle, die Gedanken Delbrücks in diesen Tagen kommen hier authentisch zum Ausdruck. 335 Zwar wurde Hindenburg bereits am 1. und am 4. April von Vertretern der DNVP angefragt und zeigte sich durchaus aufgeschlossen. Nachdem aber am Abend des 6. Aprils zwei von Stresemann geschickte DVPler ihn wieder von einer Kandidatur abgebracht hatten, schien die Angelegenheit zunächst erledigt. Ein Besuch von Tirpitz am 7. April abends konnte Hindenburg dann allerdings endgültig umstimmen, sodass er am 8. April vom Reichsbürgerrat einstimmig nominiert wurde. Vgl. Pyta, Hindenburg, S. 467–469. Pyta, Hindenburg, S. 469–472, argumentiert zudem, dass der Feldmarschall stets selber »Herr des Verfahrens« (ebd., S. 469) gewesen sei. Damit steht Wolfram Pyta im Widerspruch zu älteren Deutungen, die in Hindenburg keinen selbstständigen Entscheidungsträger sehen, sondern ihn als eine Person charakterisieren, die Einflüsterungen aus seiner Umgebung zugänglich gewesen sei (vgl. z. B. Dorpalen, Hindenburg, S. 70–78). Zu den Reaktionen im Ausland auf Hindenburgs Kandidatur vgl. Rauscher, Hindenburg, S. 228–230. Bereits im Sommer 1919 hatte es im Übrigen bei der DVP und der DNVP Erwägungen gegeben, Hindenburg bei einer Neuwahl des Reichspräsidentens aufzustellen. Vgl. Pyta, Hindenburg, S. 443 f.

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fügte über zu wenig Einfluss, um seine Idee durchzusetzen. Im Grunde genommen war es auch ein gewaltiges Unterfangen, das er sich vorgenommen hatte: Die politische Atmosphäre war insgesamt sehr angespannt. Es gab nicht nur einen großen Rechts- und einen Linksblock, sondern viele kleine Milieus. Es war schon eine beachtliche Leistung, dass sich die drei Weimarer Parteien im zweiten Wahlgang auf einen gemeinsamen Kandidaten hatten einigen können. Für viele linksliberale Bürger und sozialistische Arbeiter musste der Katholik Marx keine kleine Zumutung darstellen. Bezeichnend für die Lage des Reichs war allerdings, dass sich die mehrheitlich antirepublikanischen Rechtsparteien viel leichter damit taten, sich auf eine Person zu verständigen. Im LoebellAusschuss war es wie selbstverständlich gelungen, alle Differenzen auszuklammern und sich ausschließlich auf das eine Ziel zu konzentrieren, die Findung und Werbung für einen Rechtskandidaten. Das zeigte, dass die Gegner der Republik besser organisiert waren als deren Befürworter. Trotz allem wäre eine Zusammenführung der beiden Lager unter Umständen während eines kurzen Zeitfensters nicht völlig ausgeschlossen gewesen336, wenn Hindenburg nicht angetreten wäre. Er konnte die Wahl schließlich knapp, aber eindeutig für sich entscheiden: Am 26. April votierten 48,3 % der Wähler für Hindenburg, 45,3 % für Marx und 6,4 % für Thälmann337. Die KPD hatte als einzige Partei auch im zweiten Wahlgang an einer Sonderkandidatur festgehalten, weshalb der sozialdemokratische »Vorwärts« am Tag nach der Wahl titelte: »Hindenburg von Thälmanns Gnaden«338. Allerdings lagen die Gründe für die Wahl des Feldmarschalls nicht nur im destruktiven Taktieren der KPDFührung, die im Übrigen noch weniger als die SPD ihren Wählern ein Votum für Wilhelm Marx zumuten konnte339. Hindenburg hatte die Wahl für sich entscheiden können, weil er die zentralen Motive verkörperte, nach der sich weite Teile der Bevölkerung sehnten. Diese kamen im Wahlkampf in der sogenannten Osterbotschaft Hindenburgs, die am 11. April in der Presse verbreitet wurde, zum Ausdruck: Hier beklagte er »unsere gefesselte, leider durch Zwiespalt zerspaltene Nation« und forderte eine »Säuberung unseres Staatswesens von denen, die aus der Politik ein Geschäft gemacht haben.« Er selbst wolle »ohne Ansehen der Partei, der Person, der Herkunft und des Berufes« wirken und bot sich jedem an, »der national denkt, die Würde des deutschen Namens nach innen und außen wahrt und den konfessionellen und sozialen Frieden will«340. Hinden336 Immerhin hatten sich sowohl die BVP, als auch Gustav Stresemann (DVP) (vgl. Cary, Reich President, S. 197, 200) Anfang April durchaus mit der Idee beschäftigt, Simons als Sammelkandidaten zu nominieren. 337 Vgl. Büttner, Weimar, S. 806, Tabelle 5. Eine genauere Analyse des Ergebnisses nach Wahlkreisen findet sich bei Winkler, Schein, S. 240–243. 338 »Vorwärts« vom 27. April 1925. 339 Allerdings weist Dorpalen, Hindenburg, S. 71 darauf hin, dass die Komintern der KPD unter gewissen Umständen zu einer Unterstützung von Otto Braun oder sogar Wilhelm Marx geraten habe. Ähnlich auch Winkler, Schein, S. 417 f. 340 Die Osterbotschaft ist abgedruckt in: Freytag, Quellen, Nr. 69b, S. 138 f, Zitate S. 139.

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burg, der in geschickter Weise den Mythos um seine Person für seinen Wahlkampf zu nutzen wusste341, hatte damit den Sehnsüchten vieler Deutscher nach einer Überwindung des als schädlich empfundenen Parteienzwists und der Wiedererweckung nationaler Stärke eine Projektionsfläche geboten. Dagegen konnte der nüchterne Wilhelm Marx nicht ankommen342. Das Wahlergebnis war im Lichte späterer Entwicklungen mit Heinrich August Winklers Worten »nichts Geringeres als ein stiller Verfassungswandel, eine konservative Umgründung der Republik«343, und doch brachte es keinen Schub in die Richtung einer Restauration der Monarchie. Der vor der Wahl noch so skeptische Hans Delbrück schrieb bereits am 3. Mai im »Leipziger Tageblatt«, die Monarchisten würden sehr bald enttäuscht werden, da Hindenburg die Monarchie nicht wieder einführen und auch in der Außenpolitik keinen neuen Kurs einschlagen werde: »Ganz umgekehrt wird er als Reichspräsident die Opposition, mit der ein so großer Teil des Volkes die Republik bisher betrachtet hat, abschwächen. Es liegt in der Natur der Dinge, daß Monarchisten sich eher mit einer Republik abfinden können, an deren Spitze ein Feldmarschall des alten Kaiserreiches steht, als ein Sozialdemokrat, wie es Ebert344 war.« 341 Umfassend zur Funktionsweise des Hindenburg-Mythos: Hoegen, Held. 342 Die Frankfurter Zeitung erklärte Hindenburgs Sieg damit, dass es ihm gelungen sei, die Nichtwähler zu mobilisieren: »Wir wissen doch alle, was diese große Schar bisheriger Nichtwähler diesmal an die Urne geführt hat. Es ist der romantische Strahlenkranz, den die Fieberphantasien verelendeter und in ihrem nationalen Selbstbewußtsein schwer getroffener Volksschichten um das Haupt des Feldherrn gewoben haben: ohne daß sie sich der Tatsache bewußt werden, daß sie persönliches wie nationales Elend einzig jenem alten System kaiserlicher Staats- und Kriegführung zu danken haben, als dessen Repräsentanten sie jenen Feldherrn verehren. Die romantische Sehnsucht nach vergangenem Glanz und vergangener Größe, das hat diese unpolitischen Schichten an die Urne und Hindenburg zum Siege geführt.« (O. V.: »Es lebe die Republik!«, in: Frankfurter Zeitung, 69. Jg., Nr. 309 vom 27. April 1925). Ob die Wahlkampfstrategie des Volksblocks klug gewesen war, ist noch eine andere Frage. Max Montgelas, ein gemäßigt Rechter, der im zweiten Wahlgang für Marx gestimmte hatte, echauffierte sich jedenfalls über die »ordinär[e]« Wahlkampagne der Linken und schrieb Delbrück, vor Empörung hätte er doch noch fast Hindenburg gewählt (Max Montgelas an Hans Delbrück am 12. Mai 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefe Montgelas II, Bl. 39–41). 343 Winkler, Weimar, S. 284. 344 Delbrück war übrigens kein prinzipieller Gegner Eberts, im Gegenteil: Er gehörte zu denjenigen, die ihm öffentlich Beistand leisteten, als ein Magdeburger Gericht in einem Beleidigungsprozess Ende 1924 Friedrich Ebert schweres Unrecht getan hatte (Rundschreiben Alfred Webers u. a. vom 25. Dezember 1924, in: SBB NL Delbrück, Briefe Alfred Weber, Bl. 30 f; Eingabe Hans Delbrücks u. a. an Friedrich Ebert, in: ebd., Briefkonzepte Ebert). In dem Zusammenhang betonte Delbrück: »Das Wesentliche ist nicht das Urteil des Schöffengereichtes; [sic] gerichtliche Fehlurteile kommen öfter vor. Das Wesentliche sind die tendenziösen Aussagen gewisser Zeugen und die Haltung der ganzen deutschnationalen Presse.« (Hans Delbrück an Alfred Weber am 27. Dezember 1924, in: ebd., Briefkonzepte Alfred Weber). Heuss, Erinnerungen, S. 325, schreibt, die Eingabe sei sogar von Delbrück

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Weiter schrieb Delbrück, er habe schon früher an anderer Stelle gesagt, dass die Versöhnung von altem und neuem Deutschland dadurch vonstatten gehen könne, dass ein Exponent des Kaiserreichs Reichspräsident würde345. Gleichwohl sei die jetzige Wahl Hindenburgs »zu früh« erfolgt. Entscheidend sei nun die französische Reaktion. Zugleich prophezeite Delbrück, dass der an sich unpolitische Hindenburg wenig Geschick zeigen werde im Ausgleich der politischen Gegensätze. »Ich sehe die Wahl des Feldmarschalls deshalb keineswegs als ein Glück für Deutschland an, aber halte es doch nicht für unmöglich, daß sie doch noch zum Guten ausschlagen kann.«346 In der Tat bedeutete die Wahl Hindenburgs zwar einen Rechtsruck, band in der Folgezeit aber genau dadurch die rechtsstehenden Kreise mit ein. »Die ganzen Jahre der Amtsführung des Präsidenten Hindenburg bilden im Gegenteil eine einzige fortdauernde Blamage der politischen Voraussicht der Deutschnationalen, die geglaubt hatten, eine ihnen willfährige Figur auf den Präsidentensitz zu bringen«, schrieb die republikanische »Vossische Zeitung« im Frühjahr 1928347. Gemeint war damit, dass Hindenburg (in den ersten Jahren seiner ausgegangen. Die aufgefundenen Quellen belegen dies zwar nicht, aber Delbrück hat eine aktive Rolle eingenommen. Zu dem Vorgang insgesamt vgl. Winkler, Schein, S. 229, der das Gerichtsurteil als »Rufmord« bezeichnet. Ebd. auch weitere Literaturverweise. In einem Zeitungsartikel unabhängig von dem Magdeburger Prozess erwähnte Delbrück im Januar 1925 ebenfalls, dass er Ebert »sehr hochschätze« (Hans Delbrück: Das deutsche Reich und der Parlamentarismus, in: Neues Wiener Tagblatt, Nr. 11 vom 11. Januar 1925, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 88a). 345 Einige Jahre später ging Delbrück daher so weit, eine Kandidatur des ehemaligen preußischen Kronprinzen Wilhelm zu befürworten. In einem Gespräch mit diesem Anfang 1928 ermunterte er ihn dazu. Dabei argumentierte Delbrück, dass Deutschland als Wahlmonarchie gewachsen sei und es deshalb durchaus vorstellbar wäre, dass »dieses Prinzip wieder aufgenommen werde mit der Modifikation, dass nicht mehr die Fürsten, sondern das Volk das Reichsoberhaupt bilden.« Dies sei auch keine Restauration, da diese »ebenso unmöglich [ist], wie wenn man eine tausendjährige Eiche, die einmal aus dem Boden herausgerissen sei, wieder an derselben Stelle einpflanzen könne.« (Gesprächsprotokoll über eine Unterredung mit Kronprinz Wilhelm in Delbrücks Haus von Anfang 1928, in: BArch N 1017/57). Eine Installation des ehemaligen deutschen Kronprinzen wäre allerdings nichts anderes als eine Restauration gewesen. Es zeigt sich also, dass Hans Delbrück in den späten Jahren konservativer geworden ist. 346 Hans Delbrück: »Der Zwang zur Mäßigung«, in: Leipziger Tageblatt vom 3. Mai 1925, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 88a. Am selben Tag schrieb er auch im Neuen Wiener Tagblatt. Dem weitgehend ähnlichen Artikel fügte er hier aber noch eine Kritik am HindenburgMythos hinzu: Ausschlaggebend für dessen Wahl sei für die meisten sein als heldenhaft wahrgenommenes Wirken im Weltkrieg gewesen. Darüber ließe sich allerdings streiten (Hans Delbrück: »Hindenburg Reichspräsident«, in: Neues Wiener Tagblatt, Nr. 121 vom 3. Mai 1925, in: ebd., Fasz. 88e). 347 Sie berichtete auch von einem Ausspruch des DNVP-Fraktionsvorsitzenden Kuno von Westarp. Dieser habe nach Hindenburgs Wahl in vertraulicher Runde gesagt: »Jetzt haben wir das Dümmste getan, was wir tun konnten, wir haben die Hohenzollern eingesargt und als Schildwache vor das Mausoleum den Marschall Hindenburg gestellt.« (Georg Bernhard: »Die letzten Parolen«, in: Vossische Zeitung, Nr. 120 vom 20. Mai 1928, Hervorhebung ebd.).

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Amtszeit) eben nicht die Weimarer Reichsverfassung grundsätzlich in Frage stellte und damit diejenigen, die sich von ihm einen antirepublikanischen Kurs erhofft hatten, ebenfalls dazu zwang, der Republik loyal gegenüber zu stehen348. Das Wahlergebnis ergab also in der Folge eine gewisse Heranführung derjenigen Kreise an den Staat, die der Republik fernstanden. Die Wahl selbst brachte allerdings das Gegenteil einer Beruhigung: Die Tatsache, dass die Wahlbeteiligung vom ersten Wahlgang von 68,9 % auf 77,6 % im zweiten Wahlgang signifikant angestiegen war349, belegt, welch Mobilisierungsschub das Eingreifen Hindenburgs in den Wahlkampf gebracht hatte. Damit einher ging eine weitere Polarisierung der politischen Kultur Weimars. Insgesamt betrachtet lag die Hauptschwäche im Wahlmodus. Die plebiszitäre Abstimmung brachte zwangsläufig eine Polarisierung mit sich und ließ der Manipulation und dem Populismus breiten Raum. Nur in einer Volkswahl konnte der Hindenburg-Mythos, der im Gegensatz zum Geist Weimars stand, derart verfangen. Delbrücks Vorschlag war durchaus ein geeigneter Kompromiss, der aber fehlschlagen musste in Anbetracht der Radikalisierung der Parteien. Der Historiker Gustav Roloff, ein guter Freund Delbrücks, schrieb: »Jedenfalls sieht man wieder, daß jede Wahl Erschütterungen bringt, die nicht heilsam wirken wie in gesunden Staaten. Hoffentlich sobald keine wieder!«350 c) Der Volksentscheid zur Fürstenenteignung Ein innenpolitisch ebenfalls scharf diskutiertes Erbe der Monarchie war die Frage, wie mit dem Vermögen der 1918 abgesetzten Fürstenhäuser umzugehen sei. Die jahrelang schwelende Problematik entlud sich schließlich 1926 in einem erstmals in Deutschland durchgeführten Volksentscheid, ohne dass damit jeUnabhängig von der Frage nach der Authentizität dieser Westarp zugeschriebenen Äußerung zeigt die Tatsache, dass ein entschieden linksliberales Blatt diese politische Aussage den Deutschnationalen nachsagte, wie wenig Hindenburgs Amtsführung tatsächlich eine Destabilisierung der Republik (zumindest in diesen Jahren) bedeutete. Selbst der sich immer mehr der Sozialdemokratie zuwendende Schüler Delbrücks Martin Hobohm notierte am Tag nach dem Urnengang, die Erwartung einer Restauration, die manch einer hege, sei lediglich eine Illusion. Hindenburg werde kaum eine andere Politik als Marx machen: »Das bedeutet Erfüllungspolitik nach außen, Meidung aller Extreme nach innen. Es hat sich schließlich doch gar zu deutlich gezeigt, daß nichts anderes möglich ist.« (sechsseitiger Aufsatz Martin Hobohms unter dem Titel »Notizen zur Wahl Hindenburgs am 26. April 1925«, datiert auf den 27. April 1925, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 136.1). 348 Von einem »Pyrrhussieg« für die Monarchisten spricht daher Hoegen, Held, S. 320 (siehe auch ebd., S. 325 f, 335 f). Vgl. auch Fritzsche, Victory, S. 206; Dorpalen, Hindenburg, S. 86. Über die Enttäuschung, die sich alsbald in den Reihen der DNVP breit machte, vgl. Ohnezeit, Opposition, S. 318. 349 Vgl. Büttner, Weimar, S. 806 Tabelle 5. 350 Gustav Roloff an Hans Delbrück am 20. April 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefe Roloff II, Bl. 42–44.

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doch eine Klärung herbeigeführt werden konnte. Schwierig war die Lösung des Problems deshalb, weil die formal-juristische Zuordnung der Vermögenswerte völlig ungeklärt und strittig war351. Es war das erste Mal in Deutschland352, dass die Frage zur Debatte stand, welche Vermögensteile unmittelbar im Privateigentum der vormaligen Fürsten waren und welche im Laufe der Jahrhunderte zwar von ihnen verwaltet worden waren, tatsächlich aber eher öffentlich-rechtlichen Charakter besaßen. Mancher argumentiert heutzutage, dass die Weimarer Republik um diesen schweren Konflikt herumgekommen wäre, hätte der Rat der Volksbeauftragten 1918/1919 kraft revolutionären Rechts ganz einfach die entschädigungslose Enteignung vollzogen, wie es in Österreich den Habsburgern geschehen war353. Dabei wird aber die Schwierigkeit der Gesamtlage zu wenig in Rechnung gestellt, in der sich die Revolutionäre befanden: Zunächst einmal stellte sich in Deutschland die Frage auf Reichsebene überhaupt nicht, da es nur auf Ebene der Länder Fürstenhäuser gegeben hatte. Darüber hinaus war es das allgemeine Bestreben der Revolutionäre, möglichst schnell aus dem provisorischen politischen Zustand herauszugelangen und das Reich auf eine feste verfassungsgemäße Grundlage zu stellen. Vorschnell getroffene Entscheidungen bei grundlegenden Fragen widersprachen dem Selbstverständnis der Sozialdemokraten, die zudem Verstaatlichungen auch in anderen Bereichen skeptisch gegenüberstanden. Außerdem gab es im Hinblick auf die einzuleitenden Friedensverhandlungen und die Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung Aufgaben, die der Regierung wichtiger waren als die Klärung von Vermögensfragen. Nicht zuletzt die Sorge, dass konfiszierte Fürstenvermögen das Begehren der Siegermächte wecken könnten, und man diese Vermögen dem Zugriff zu erwartender Reparationen leichter entziehen könnte, wenn man sie zunächst im Eigentum der vormaligen Herrscher beließ, mag ein wichtiges Motiv für das Nichtlösen der Problematik 1918/1919 gewesen sein. Außerdem bleibt die Frage nach der Durchsetzungsfähigkeit der Reichsregierung gegenüber den Ländern (insbesondere dem partikularistischen Bayern) unbeantwortet354.

351 Vgl. West, Crisis, S. 28–32. 352 Wenn man einmal von dem Umgang mit dem Vermögen der Welfen nach ihrer Entthronung 1866 durch Preußen absieht, der allerdings einen gänzlich anderen Charakter hatte. 353 Vgl. West, Crisis, S. 9; Schnabel, Niederlage, S. 85; Jung, Volksgesetzgebung I, S. 546–548; Winkler, Schein, S. 270. 354 Auf einige dieser Punkte weist Schüren, Volksentscheid, S. 23 f zwar hin, misst ihnen aber so wenig Bedeutung bei, dass er im gleichen Zuge von »Inkonsequenz und Halbherzigkeit« (S. 22) der Revolution spricht und der SPD Gefangenheit im konservativen Ordnungsdenken und Verantwortungslosigkeit vorwirft (S. 25). Davon abgesehen, dass speziell das Verhalten der Sozialdemokraten in der Novemberrevolution insgesamt das komplette Gegenteil von Verantwortungslosigkeit gewesen ist, stellt Schüren zu wenig in Rechnung, dass auch die Männer der SPD dem allgemeinen Zeitgeist verpflichtet waren und nicht nach später angesetzten Maßstäben Politik machen konnten.

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Die Konsequenz war jedoch, dass jeder Einzelstaat in den folgenden Jahren langwierige und komplizierte Auseinandersetzungen mit den jeweiligen Fürstenhäusern zu führen hatte355. In manchen Ländern konnten sich Staat und vormalige Herrscher einigen, in vielen kam es aber auch zu Gerichtsverfahren, bei denen die Richter fast immer im Sinne ihrer früheren Staatsoberhäupter urteilten356. Ungeachtet des von Thomas Schnabel konstatierten »seltsame[n] Gefühl[s]«, dass sich einstelle, wenn die Fürsten sich »auf eine Verfassung beriefen, die sie selbst nicht anerkannten«357, ging es hier um handfeste Summen, die manchen Einzelstaat finanziell teils erheblich belasteten358. Ende 1925 kochte das Thema schließlich hoch und verschwand für Monate nicht mehr von der Tagesordnung. Zu viele Gerichtsentscheidungen waren getroffen worden, die im Volk empörend wirkten angesichts der Not in zahlreichen Familien359. Die wirtschaftlichen Verwerfungen in Deutschland hatten viele hart getroffen. Auf dem Arbeitsmarkt kam es zu strukturellen Veränderungen, da die Industrie in die Modernisierung der Anlagen investierte, um international wettbewerbsfähig zu bleiben. Die damit einhergehende Rationalisierung führte zu einem nicht nur kurzfristigen rapiden Anstieg der Arbeitslosenzahlen, die besonders durch eine unzureichende Erwerbslosenfürsorge zum Problem wurde360. Parallel dazu hatte die Hyperinflation des Jahres 1923 insbesondere die Mittelschicht schier enteignet. Die als unzureichend angesehene Aufwertungsgesetzgebung hatte die Verluste der Sparer im Juli 1925 sanktioniert361. Auch Hans Delbrück war von der Inflation massiv betroffen. So stellte er – in finanziellen Angelegenheiten sonst stets preußisch zurückhaltend – im Frühjahr 1925 den Antrag auf Kinderbeihilfe für seinen 21jährigen Sohn Justus, der zu dem Zeitpunkt ein (unbezahltes) Rechtsreferendariat absolvierte, mit der Begründung: »Ich selber 355 Im Einzelnen dazu vgl. Jung, Volksgesetzgebung I, S. 30–545. 356 Dies war nicht nur auf die zweifellos weitverbreitete monarchische Gesinnung in der Weimarer Richterschaft zurückzuführen. Stentzel, Verhältnis, S. 296 weist darauf hin, dass die Politik »die Lösung des Problems dem Recht überließ. Die damit vorprogrammierten Rechtsstreitigkeiten mußten in Ermangelung eines speziellen rechtlichen Maßstabs am vorhandenen Normenmaterial gelöst werden, welches entweder vorrevolutionär oder aber in verfassungsrechtlicher Gestalt vorhanden war. […] Eine politische Frage war so in eine juristische überführt worden, die aber nicht anhand eines spezifischen Normenbestandes, sondern im Prinzip nur politisch beantwortet werden konnte.« West, Crisis, S. 37 f, betont ebenfalls die Komplexität der juristischen Verfahren, die durch linke Parolen unzulässig simplifiziert wurde, bemerkt aber auch eine insgesamt zu offensichtliche Tendenz der Gerichte, die Interessen der Staaten und des Volkes außer acht zu lassen. 357 Schnabel, Niederlage, S. 86. 358 In den beiden Mecklenburg beispielsweise umfasste das strittige Domanium 43 % und 55 % der gesamten Staatsfläche, in Preußen waren es zwar nur 0,05 %, aber in absoluter Zahl 168.599ha (vgl. Jung, Demokratie, S. 49). 359 Vgl. West, Crisis, S. 35; Schüren, Volksentscheid, S. 47. 360 Ausführlich zur Lage speziell der Arbeiterschaft im Betrachtungszeitrum vgl. Winkler, Schein, S. 13–173. 361 Zur Aufwertungsgesetzgebung vgl. Knortz, Wirtschaftsgeschichte, S. 59 f.

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habe Zwar [sic] ausser [sic] meinem Gehalt einige litterarische [sic] Nebeneinnahmen und habe von meiner ehemaligen Wohnung in meinem Hause sechs Zimmer möbliert vermietet, habe aber von meinem ehemaligen Vermögen nur einen unbedeutenden Rest«362. In dieser wirtschaftlich und finanziell sehr angespannten Lage im Reich wirkten die den ehemaligen Fürsten zugebilligten Entschädigungszahlungen auf viele empörend363. Als Gerüchte über den am 12. Oktober 1925 paraphierten Vergleich zwischen Hohenzollern und Preußen364 an die Öffentlichkeit kamen, griff die DDP die Thematik auf und brachte am 23. November eine Vorlage in den Reichstag ein. Demnach sollten die Einzelstaaten per Reichsgesetz dazu ermächtigt werden, endgültige Regelungen mit den jeweiligen Fürstenhäusern zu treffen. Diese sollten dann verbindlich sein, d. h. der Rechtsweg war ausgeschlossen365. Man muss diesen DDP-Antrag auch im Kontext der innenpolitischen Krise nach dem Austritt der DNVP am 25. Oktober aus der Regierung Luther I sehen. Das Ex­ periment, an der Regierung von DDP, DVP, Zentrum und BVP erstmals auch die DNVP zu beteiligen, war am Protest der Deutschnationalen gegen Stresemanns Locarno-Politik gescheitert366, sodass sich die Frage stellte, mit welchen Mehrheiten Luther weiterregieren konnte. Die DDP sympathisierte mit einer Öffnung nach links, das bedeutete eine große Koalition mit den Sozialdemokraten. Den Weg hierzu sollte der Antrag zur Fürstenenteignung bereiten, den die SPD im Mai 1923 fast wortgleich gestellt hatte367. Die SPD verhielt sich allerdings zunächst reserviert gegenüber einem etwaigen Eintritt in die Regierung und reagierte auf den Gesetzesentwurf zurückhaltend368. Wenig verwunderlich war die Reaktion der KPD: Sie erwiderte den Vorstoß der Linksliberalen mit der erneuten Einbringung ihrer Vorlage vom Ok362 Hans Delbrück an den Verwaltungsdirektor der Berliner Universität Ernst Wollenberg am 23. März 1925, in: HU UArch, UK Personalia, DO 39, Bd. 2, Bl. 8. Wollenberg genehmigte den Antrag (vgl. dessen Anweisung an die Universitätskasse vom 8. April 1925, in: ebd., Bl. 9). 363 Vgl. Jung, Volksgesetzgebung II, S. 641–644. 364 Der preußische Finanzminister Hermann Höpker-Aschoff (DDP) hatte nach dem mehrfachen Scheitern von Vergleichsverhandlungen in den Vorjahren nach seinem Amtsantritt im Frühjahr 1925 erneut Gespräche mit dem Generalbevollmächtigten der Hohenzollern, Friedrich von Berg, aufgenommen. Er hegte die Überzeugung, dass ein längeres Abwarten den Interessen Preußens nur schaden könne, da eine sonst wohl eintretende gerichtliche Entscheidung im Sinne der Hohenzollern zu erwarten war. Vgl. West, Crisis, S. 38, 48 f. Zu der Vorgeschichte siehe auch Schüren, Volksentscheid, S. 26–46. 365 Vgl. West, Crisis, S. 49–51. 366 Zu den Kämpfen innerhalb der DNVP über die Locarno-Politik vgl. Ohnezeit, Opposition, S. 319–339. 367 Der Antrag war damals bis zur Reichstagsauflösung im März 1924 nicht abschließend beraten worden. Vgl. Heimann, Landtag, S. 299. 368 Die allgemeinen Überlegungen in der SPD in der Zeit, insbesondere das Bestreben nach Erhalt der Parteieinheit und den Zwang zu Kompromissen, unter dem Blickwinkel ihrer Haltung zur Fürstenenteignung zeichnet West, Crisis, S. 95–129 nach.

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tober 1924, in der sie die entschädigungslose Fürstenenteignung forderte369. Doch dieses Mal nahm die Auseinandersetzung einen anderen Verlauf: Nach der Überweisung in den Rechtsausschuss zur weiteren Beratung dieser beiden Vorlagen sowie einer dritten, einem Sperrgesetz, das Gerichtsverfahren suspendieren sollte für die Dauer der parlamentarischen Beratungen370, brachten die Kommunisten plötzlich die Idee eines Volksbegehrens371 zu ihrem Antrag ins Spiel. Der KPD-Führung ging es dabei allerdings kaum um das Ziel der Enteignung an sich, sondern es waren hauptsächlich macht-taktische Gründe, die sie zu diesem Entschluss brachten. Es sollte das parlamentarische System als solches angegriffen, die SPD desavouiert und die eigene Basis in Arbeiterschaft und Kleinbürgertum verbreitert werden372. Die ersten beiden Anliegen gelangen ihr in der Folge, eine dauerhafte Generierung neuer Anhängerschaften konnte sie aber nicht erreichen. Der Vorschlag eines Volksbegehrens erwies sich schnell als so populär, dass die SPD sich gezwungen sah, diesen zu unterstützen, wollte sie nicht ihre Anhänger in Scharen zur KPD laufen lassen. In dem Zuge verzichtete die SPD nicht nur auf einen möglichen Eintritt in die Reichsregierung, sondern machte eine durchaus nicht unwahrscheinliche Verständigung in der Fürstenvermögensfrage auf parlamentarischem Wege nahezu unmöglich. Die Sozialdemokraten schlossen sich nach einigem Zögern im Januar 1926 dem Kuczynski-Ausschuss an, in dem sich die KPD sowie sozialistische, aber auch pazifistische und linksliberale Organisationen zusammengeschlossen hatten, um eine Plattform für die Agitation zum Volksbegehren zu schaffen373. Noch vor der Durchführung des formal vom Kuczynski-Ausschuss beantragten Volksbegehrens vom 4. bis zum 17. März klinkte sich Hans Delbrück in die Debatte ein. In einem Begleitbrief für einen Artikel für das linksliberale »Berliner Tageblatt« schrieb er an den Chefredakteur Theodor Wolff, er hielte das Ansinnen für falsch, da die Stimmenzahl nur durch Zusammenarbeit mit der KPD (denen es ohnehin nur um einen Propagandaeffekt gehe) erreicht werden könnte, wofür aber das Bürgertum nicht zu haben sei. In der Sache gebe es eine ungeheure »Erschütterung des Eigentums- und Rechtsbegriffs […]. Bald würden Volksbegehren auftauchen, die die Enteignung der Güter der toten

369 Vgl. Schüren, Volksentscheid, S. 49 f. 370 Vgl. West, Crisis, S. 52–55; Schüren, Volksentscheid, S. 52–56. 371 Zu den Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung im Hinblick auf die Volksgesetzgebung vgl. Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 429–434. 372 Ausführlich, auch zu der grundsätzlichen Neuausrichtung der KPD-Führung in dem Zeitraum vgl. West, Crisis, S. 55–83. 373 Der Ausschuss zur Durchführung des Volksentscheids für entschädigungslose Enteignung der Fürsten wurde geleitet von Robert René Kuczynski, einem linkssozialistischen Bevölkerungsstatistiker. Siehe hierzu West, Crisis, S. 88–94, 130–136; Schüren, Volksentscheid, S. 70–75. Kuczynski war mit Hans Delbrück bekannt aus einer gemeinsamen Kampagne gegen Wohnungsnot in Berlin 1912 (vgl. Robert Lorenz, Zivilgesellschaft, S. 140).

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Hand des Eigentums aller Juden verlangen würden.«374 Wolff ließ seinen innenpolitischen Redakteur Ernst Feder die Aufnahme des Artikels ablehnen unter dem Hinweis, man sehe »nicht einen Fall der Enteignung, sondern die notwendige politische Klärung eines ungeklärten Sach- und Rechtsstandes, für den es Rechtsnormen garnicht [sic] gibt.«375 Aus dieser Argumentation spricht die Verärgerung über das Versagen der Legislative, eine Regelung zu treffen376. Nur setzte das plebiszitäre Gesetzesverfahren genau zu dem Zeitpunkt ein, an dem eine parlamentarische Lösung in den Bereich des Möglichen geriet, und verhinderte diese. Seinen Artikel brachte Delbrück dann in der »Deutschen Allgemeinen Zeitung« unter377. In den am 25. Februar publizierten Zeilen ging es ihm vor allem darum, deutlich zu machen, wie kompliziert die eindeutige Zuordnung der strittigen Vermögenswerte war und dass sich die Frage deshalb einer pauschalen schwarz-weiß Beantwortung durch einen Volksentscheid entzog. Im Ganzen bezog er inhaltlich Stellung für die Fürsten: »Nicht das fürstliche Vermögen ist durch die Ausübung der politischen Macht erworben und sollte staatlichen Zwecken dienen, sondern mit Hilfe der fürstlichen Vermögen ist die politische Macht aufgebaut und versah die Zwecke, die heute dem Staate zufallen.«378 374 Hans Delbrück an Theodor Wolff am 16. Februar 1926, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Theodor Wolff, Bl. 16. Diese Polemik Delbrücks bewahrheitete sich nur wenig später: Die Völkischen legten im April 1926 dem Reichstag ein Gesetzentwurf vor zur Enteignung »der Bank- und Börsenfürsten und anderer Volksparasiten«. Explizit gemeint waren damit auch »Ostjuden« (Schüren, Volksentscheid, S. 154 f, Zitate S. 154). Bereits im März hatte maßgeblich der Stahlhelm eine »Parteilose Vereinigung zur Vorbereitung eines verfassungsgemäßen völkischen Volksentscheides über die Lösung der Judenfrage« initiiert zur Vertreibung der jüdischen Bevölkerung (Schüren, Volksentscheid, S. 205 f Anm. 70). 375 Ernst Feder an Hans Delbrück vom 19. Februar 1926, in: SBB NL Delbrück, Briefe Berliner Tageblatt, Bl. 1. Feder warb dann im BT wenige Tage später dafür, »mit aller Kraft das Volksbegehren durchzusetzen.« Als Begründung hierfür diente ihm der Hinweis auf die seiner Meinung nach üppige finanzielle Ausstattung des vormaligen Kaisers. Empört berichtete er auch von bekanntgewordener Sabotage des Volksbegehrens durch einzelne Gutsvorsteher (Ernst Feder: »Das Volksbegehren«, in: BT, 53. Jg., Nr. 103 vom 2. März 1926). 376 So spricht auch Robert Lorenz, Zivilgesellschaft, S. 137 vom »[V]ersagen« der Staatsgewalten: »die Judikative, die einseitige Urteile fällte; die Legislative, die kein Gesetz zuwege brachte; und die Exekutive, die Bereitschaft zeigte, den fürstlichen Forderungen nachzugeben. Hier tat sich nun eine breite Lücke für zivilgesellschaftliche Intervention auf«. 377 Vgl. Delbrücks Brief an Theodor Wolff vom 3. März 1926, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Theodor Wolff, Bl. 17. 378 Hans Delbrück: »Die Fürstenvermögen«, in: DAZ, 65. Jg., Nr. 96 vom 25. Februar 1926, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 88a. Die Generalverwaltung des preußischen Königshauses (also vermutlich Müldner von Mülnheim) hatte Delbrück am 17. Februar mit der Übersendung einer Denkschrift zur Vermögensauseinandersetzung eine Argumentationshilfe geliefert (Brief der Generalverwaltung des Preußischen Königshauses an Hans Delbrück vom 17. Februar 1926, in: ebd., Briefe Generalverwaltung des Preußischen Königshauses, Bl. 1).

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Typisch für Delbrück war auch seine Argumentation in einem Brief an Theodor Wolff, in dem er sich über den Ton zweier Artikel in dessen Zeitung empörte: Das »Berliner Tageblatt« hatte sich in scharfem Ton eine Vereinnahmung der zwei Millionen deutschen Gefallenen durch die Rechtsradikalen verbeten, wie sie die »Deutsche Zeitung« anlässlich des Volkstrauertages betrieben hatte379. Delbrück bedankte sich zwar bei Wolff für die Zurechtweisung der »Deutschen Zeitung«, beklagte aber, dass der Tonfall viele Empfindungen verletzt habe: »Sie sprechen von Lakaienseelen, die sich nur am Gängelbande wohl fühlen. Ich bitte Sie, sich klar zu machen, dass es viele Millionen Deutscher gibt und auch viele unter Ihren Lesern, die sich ehrlich auf den Boden der Republik gestellt haben und sich dabei doch des Kaisertums und der alten Zeit mit Liebe und Pietät erinnern. Nichts ist der Entwicklung der demokratischen Partei schädlicher, als die Verhöhnung dieser Gemütstreue.«

Auch im von Ernst Feder in der gleichen Ausgabe verfassten Artikel zur Fürstenenteignung finde sich »dieser widerwärtige Ton.«380 Wolff antwortete, er sei zwar auch kein Anhänger einer radikalen Enteignung, aber als taktisches Mittel für eine bessere Verhandlungsposition sei das Volksbegehren durchaus nützlich. Zudem wies er den Fürsten eine Mitschuld an der Eskalation zu: »Wären die Fürstenfamilien klug und ehrlich beraten worden, so hätten sie selbst ihre Ansprüche dem Empfinden und der wirtschaftlichen Lage des Volkes einigermassen [sic] angepasst. Aber das Malheur der Fürsten war immer, dass ihnen nur von denen die Wahrheit gesagt wurde, in denen sie ihre Feinde sahen.«381

Damit sind im Grunde auch die Argumentationslinien pro und contra Volksbegehren skizziert, die Deutschland im ersten Halbjahr 1926 durchzogen: Die Unterstützer der Fürstenfamilien beharrten auf einer strikten Einhaltung juristischer Prinzipien und verbaten sich politische Einflussnahme. In einer unter Missachtung des von der Verfassung verbrieften Eigentumsrechts erfolgten, entschädigungslosen Enteignung sahen sie den ersten Schritt hin zu einer Bolschewisierung. Die Befürworter des Volksbegehrens und -entscheids pochten Da Delbrück seinen Artikel allerdings bereits am 16. Februar an das Berliner Tageblatt abgeschickt hatte, ist eine Einflussnahme Müldners auf Delbrücks Artikel nur möglich, wenn dieser ihn nach der Absage des BT und vor der erneuten Einsendung an die DAZ überarbeitet hat. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass Delbrück in einem solchen Fall höchstens kleinere Korrekturen vorgenommen hat. Folglich ist ein Einfluss der Hohenzollern auf Delbrück in der Angelegenheit der Vermögensauseinandersetzung als gering zu veranschlagen, auch wenn die Zusendung der Denkschrift von Delbrück offenbar er­beten worden war. 379 O. V. »Heldenschändung«, in: Berliner Tageblatt, 53. Jg. Nr. 102 Morgen-Ausgabe vom 2. März 1926. 380 Hans Delbrück an Theodor Wolff am 3. März 1926, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Theodor Wolff, Bl. 17. 381 Wolff beklagte sich übrigens auch über Delbrücks harschen Ton in seinen Zeilen (Theodor Wolff am 5. März 1926 an Hans Delbrück, in: ebd., Briefe Theodor Wolff, Bl. 22).

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darauf, dass die Interessen der Staaten und des Volks in Anbetracht der wirtschaftlichen und finanziellen Lage mit einbezogen werden müssten. Die radikale Linke propagierte zudem die populäre Formel, das konfiszierte Vermögen der Versorgung der Kriegsopfer zuzuführen. Einige sahen in der Verweigerung der Besitzansprüche der Fürsten aber auch eine Zurückweisung ihrer historisch-politischen Rolle. Die Debatte hing also teils zusammen mit der Diskussion über die historischen Verdienste der Hohenzollern, der Frage nach der Kriegsschuld der kaiserlichen Regierung und nach den Verantwortlichen für die Niederlage 1918382. Als sich während des Volksbegehrens 12,5 Millionen Wahlberechtigte in die Listen eintrugen (nötig für einen Erfolg waren lediglich vier Millionen)383, war dies überraschend viel384 und löste in konservativen Kreisen »erhebliche Befürchtungen«385, in linken hingegen große Euphorie aus. Dies führte zu einer verstärkten Agitation beider Lager im Hinblick auf den nun zu erwartenden Volksentscheid. Allein die SPD hatte im ganzen Reich 32.920 Versammlungen abgehalten und 108.128.000 Drucksachen verteilt386. Aber auch die Gegner des Volksentscheids hatten ihre Kräfte mobilisiert. Im April fanden sich Vertreter von DNVP, DVP, Wirtschaftspartei und Deutschvölkischer Freiheitspartei in einen »Arbeitsausschuß gegen den Volksentscheid« zusammen. Reichs-Landbund, Stahlhelm, Jungdeutscher Orden, Deutsche Industriellenvereinigung und weitere rechte Organisationen waren ebenfalls mit eingebunden, um gemeinsame Propagandatätigkeiten zu koordinieren. Man beschloss, im Sinne der Sache alle Differenzen auszuklammern und einigte sich auf ein leises und anonymes Vorgehen387. Schwach verhalten hatte sich in der Angelegenheit die Reichsregierung. Albrecht Montgelas (nicht zu verwechseln mit Delbrücks Freund Max Montgelas) ärgerte sich zwei Tage vor dem Volksentscheid in der linksliberalen »Vossischen 382 Vgl. West, Crisis, S. 38 f, 44 f; Ohnezeit, Opposition, S. 346 f. 383 Eine genaue Analyse und Aufschlüsselung der Ergebnisse des Volksbegehrens findet sich bei West, Crisis, S. 183–185; Schüren, Volksentscheid, S. 137–143; Jung, Volksgesetzgebung II, S. 810–820. 384 Diese Zahlen sind besonders beeindruckend in Anbetracht der Tatsache, dass das Volksbegehren im Verfahren recht kompliziert, von einigen Behörden sabotiert worden war und sowohl nationalistische Verbände als auch manche Arbeitgeber sozialen und wirtschaftlichen Druck auf viele Stimmberechtigte ausgeübt hatten. Vgl. Schüren, Volksentscheid, S. 116–120, 183–187; West, Crisis, S. 143–145. 385 Schnabel, Niederlage, S. 94. 386 Die Kosten beliefen sich auf 2.042.055 Mark (Schüren, Volksentscheid, S. 202 Anm. 55). Allein in Württemberg hatten die Sozialdemokraten über 2.100 Versammlungen abgehalten, über 1,5 Millionen Flugblätter verteilt und 150.000 Plakate geklebt (Schnabel, Niederlage, S. 97). 387 Initiiert hatte den Arbeitsausschuss der Kabinettschef des vormaligen Kronprinzen Wilhelm, Müldner von Mülnheim, geleitet wurde er vom ehemaligen Reichsjustizminister Rudolf Heinze (DVP). Vgl. Schüren, Volksentscheid, S. 177–183; Ohnezeit, Opposition, S. 347 f; West, Crisis, S. 239 f.

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Zeitung« darüber, dass man nun vor eine Wahl gestellt sei, bei der beide Möglichkeiten hochgradig unbefriedigend seien. Eine schwere Anklage erhob er deshalb gegen die Reichsregierung, die die Verantwortung dafür trage, dass es soweit gekommen sei: »Sie hat dadurch erneut bewiesen, daß sie das Wesen demokratischer Führerschaft nicht erfaßt hat«388. In der Tat hatte sich Reichskanzler Luther all die Zeit hindurch außerordentlich passiv verhalten. Die – ebenfalls linksliberale – »Frankfurter Zeitung« übte scharfe Kritik, als im Mai zusätzlich zum Streit über die Fürstenabfindung der Flaggenstreit389 hochkochte: »Ob Herr Dr. Luther wohl allmählich einsieht, daß man nicht auf die Dauer den politischen Führer spielen kann, ohne selbst einen politischen Standpunkt zu haben und nach politischen Gesichtspunkten zu handeln? Mit seiner ganzen so absichtsvoll unpolitischen ›Sachlichkeit‹ hat er nun Deutschland schon wieder in eine schwere Regierungskrise hineinmanövriert.«

Auch in der Fürstenvermögensfrage habe die Regierung Luther »völlig versagt. Sie hat die Dinge in eine Situation hineintreiben lassen, die unter Umständen zu einer für die Existenz des Reiches gefährlichen Staatskrise führen kann.«390 Dass die Auseinandersetzung um die Fürstenvermögen dermaßen an Fahrt aufgenommen hatte und sich zu einem schweren innenpolitischen Konflikt entwickelte, lässt sich nur vor dem Hintergrund weiterer Ereignisse in diesen Monaten verstehen. So hatte von Oktober bis Dezember 1925 in München der Dolchstoßprozess stattgefunden, der das Volk in dieser für die Republik grundlegend wichtigen Frage aufgewühlt hatte391. Zuvor war im Frühjahr mit der Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten ein Schwenk nach rechts erfolgt, dessen Auswirkungen sich erst nach und nach zeigten. Die internationalen Verhandlungen in Locarno und Genf über Deutschlands Aufnahme in den Völkerbund 1925 bis 1926 hatten ebenfalls ein starkes Echo in der Innenpolitik zur Folge gehabt. Zu den bereits skizzierten ökonomischen Verwerfungen392 kamen eine Reihe kleinerer Skandale wie beispielsweise die Barmat-/Kutisker-Affäre393 oder die Prinzen-Affäre, die im Herbst 1926 die Entlassung des Truppenamts388 Albrecht Graf Montgelas: »Das große Aergernis«, in: Vossische Zeitung, Nr. 145 vom 18. Juni 1926. 389 Siehe hierzu Kapitel III.3.d). 390 Leitartikel der Frankfurter Zeitung, 70. Jg., Nr. 338 vom 7. Mai 1926. 391 Siehe hierzu Kapitel V.3. 392 Es kam aufgrund der Notlage vereinzelt sogar zu Krawallen, so z. B. im Februar 1926 durch Winzer an der Mosel. Vgl. hierzu exemplarisch: »Die Winzerkrawalle in Bern­ kastel«, in: BT, 53. Jg., Nr. 97 vom 26. Februar 1926. Dort wird von der Erstürmung und Verwüstung dreier Gebäude (Finanzamt, Finanzkasse und Zollamt) durch aufgebrachte Winzer berichtet, die sich allgemein in einer existenziellen Krise befänden. 393 In diesem antisemitisch aufgeladenen Skandal ging es um Betrug und Bestechung im Zusammenhang mit der preußischen Staatsbank. Im Mittelpunkt standen die Unternehmer Julius Barmat und Iwan Kutisker. Die KPD und DNVP instrumentalisierten das Verfahren als Demonstration gegen das angeblich korrupte politische System Weimar. Vgl. Geyer, Barmat-Kutisker-Skandal; Heimann, Landtag, S. 331–344.

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chefs Seeckt zur Folge hatte394. Bemühungen der sogenannten Vernunftrepublikaner, im April 1926 in Weimar eine Vereinigung verfassungstreuer Hochschullehrer zu schaffen395, wurden konterkariert durch im Mai aufgedeckte Staatsstreichpläne nationalistischer Kreise um den Führer des Alldeutschen Verbandes Heinrich Claß396, Und Versuche des »Sparer-Bund, Hypothekengläubiger- und Sparer-Schutzverband für das Deutsche Reich e. V.«, im April und Mai 1926 ein Volksbegehren für eine völlig übertriebene Aufwertung in Gang zu setzen397, trugen ebenso zu innenpolitischen Aufregungen bei. Einen Höhepunkt erreichten die Spannungen mit der unbedachten Flaggenverordnung, über die das Kabinett Luther II im Mai 1926 stürzte. Schließlich griff auch Reichspräsident Hindenburg auf verfassungswidrige Weise in die Debatte ein. In einem am 7. Juni 1926 veröffentlichten Brief an den Präsidenten des Reichsbürgerrates, Friedrich von Loebell, erklärte er: »Daß ich, der ich mein Leben im Dienste der Könige von Preußen und der deutschen Kaiser verbracht habe, dieses Volksbegehren zunächst als ein großes Unrecht, dann aber auch als einen bedauerlichen Mangel an Traditionsgefühl und als groben Undank empfinde, brauche ich Ihnen nicht näher auszuführen.«

Er behielt sich in diesem Schreiben explizit einen Entschluss darüber vor, ob er im Falle einer Annahme des Volksentscheids das Gesetz unterzeichnen würde – an sich ein lediglich formaler Akt. Der Reichsregierung habe er im Übrigen bereits erklärt, was er von dem Vorhaben halte. Er bezeichnete das Ansinnen als einen Angriff auf den Rechtsstaat und warnte vor einem Rutschbahneffekt in Richtung Bolschewismus398. Dieser Vorfall zeigte, wie hochgradig nervös die 394 Seeckt hatte einem Hohenzollernprinzen die Teilnahme an einem Reichswehrmanöver in Offiziersuniform genehmigt, was in der Presse heftige Empörung ausgelöst hatte. Überhaupt hatte sich die Position Seeckts bereits Ende 1925 stark verändert: Auf Druck der Alliierten wurde er faktisch entmachtet, was mit Sicherheit zu Ärger im Offizierkorps geführt hat. Vgl. Büttner, Weimar, S. 377–379. 395 In einem Rundschreiben vom Juni bedauerten die Initiatoren der Weimarer Tagung, dass sie die Ausführung der dort getroffenen Beschlüsse »aus dringenden Motiven vertagt« hätten. Der Fahnenstreit und die Fürstenabfindung hätten die momentanen Erfolgsaussichten deutlich verschlechtert: »Der Gegensatz zwischen dem Rechts- und Linkslager wurde wieder so scharf, dass unser Gedanke, auf die in der Mitte stehenden Elemente einzuwirken und sie für unser Programm zu gewinnen, es heute sehr viel schwerer hat sich durchzusetzen als noch zur Zeit der Weimarer Tagung.« (Rundschreiben Friedrich Meineckes u. a. vom 14. Juni 1926, in: SBB NL Delbrück, Briefe Otto Becker, Bl. 14 f). Siehe Kapitel III.2.b). 396 Vgl. Schüren, Volksentscheid, S. 169 f. Zur Rolle der Alldeutschen in der Weimarer Republik vgl. Jungcurt, Extremismus. 397 Vgl. Schüren, Volksentscheid, S. 189–197. Die Sparerbunde sahen im Volksentscheid über die Fürstenvermögen nur eine logische Fortsetzung der eigenen Enteignung von 1925. 398 Die Frankfurter Zeitung machte »schwere verfassungsrechtliche Bedenken« geltend, sah aber auch politisch einen enormen Schaden angerichtet, da sich ein Reichspräsident erstmals unter Berufung auf seinen früheren Dienst beim Kaiser in die Tagespolitik eingemischt hatte (Kommentar zum Hindenburgbrief sowie Abdruck des Briefs vom 22. Mai

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Enteignungsgegner waren. Deren Sorge, dass der Volksentscheid womöglich angenommen würde, musste außerordentlich groß gewesen sein399. Hans Delbrück, einer derjenigen Beobachter, die die politische Lage im Allgemeinen besonders treffend analysierten, schrieb an seinen Schwiegersohn Heinz Schmid schon am 6. März, als die Listen für das Volksbegehren erst zwei Tage lang auslagen und die Eskalation der Enteignungsdebatte in der Weise noch nicht absehbar war, die Fürstenenteignungsfrage »beleuchtet die ganze Unsicherheit unserer Beistz-Verhältnisse [sic].« Alle Welt sei überzeugt davon, dass das Begehren scheitere und mit einer Niederlage der Demokratie ende, er betrachte den Ausgang aber als völlig ungewiss und prognostiziere eine schwere Regierungskrise im Falle eines positiven Ausgangs des »wahnwitzig[en] Unternehme[ns]«, da Hindenburg ein solches Gesetz niemals unterzeichnen würde400. Folglich war das Ergebnis des 20. Juni von allen Beteiligten mit Spannung erwartet worden. Die 14,5 Millionen abgegebenen Ja-Stimmen waren jedoch nicht ausreichend. Nötig wäre eine Beteiligung von 50 % der Wahlberechtigten gewesen (von denen mindestens die Hälfte zustimmen musste), also circa 20 Millionen401. Dennoch war die schiere Zahl an Befürwortern der entschädigungslosen Enteignung zu viel, um missachtet zu werden. Immerhin hatte die Hälfte der auf 30 Millionen zu schätzenden Aktivbürger für das Gesetz gestimmt: bei

in: Frankfurter Zeitung, 70. Jg., Nr. 418 vom 8. Juni 1926, Hervorhebung im Original). Das Schreiben war als Antwort konzipiert auf eine Bitte Loebells vom 19. Mai, er möge seine Position nutzen, um gegen den Volksentscheid mobil zu machen. Die Publikation in der Presse (und per Flugblatt in der Masse) wurde inszeniert vom Generalbevollmächtigten der Hohenzollern, Friedrich von Berg, sowie dem Büroleiter Hindenburgs, Otto Meissner, erfolgte aber mit Wissen und Billigung des Reichspräsidenten (vgl. Jung, Volksgesetzgebung II, S. 927–932; West, Crisis, S. 243–246). Zu Hindenburgs Haltung im Konflikt vgl. Pyta, Hindenburg, S. 507–510. Unverständlich ist allerdings Pytas beschwichtigendes Urteil über die Brief-Aktion als »ungewöhnlichen Schritt« (Ebd., S. 510). 399 Insofern ist das Urteil verschiedener Historiker, dass das Referendum von vornherein keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätte und dass dies eingeweihten Politiker bewusst gewesen sei, erstaunlich (Entsprechende Auffassungen finden sich bei West, Crisis, S. 8, 136, 143; Schnabel, Niederlage, S. 98; Winkler, Schein, S. 272). Im Nachhinein sind viele Dinge eindeutiger zu fassen, aber man muss auch in Rechnung stellen, dass die Fürstenenteignung der erste jemals in Deutschland durchgeführte Volksentscheid gewesen ist und man auch mangels Erfahrung schlichtweg keine genauen Vorhersagen treffen konnte. 400 Hans Delbrück an Heinz Schmid am 6. März 1926, in: BArch N 1017/64. Auch die Frankfurter Zeitung wollte Anfang Mai einen Erfolg des Volksentscheids nicht ausschließen (Leitartikel der Frankfurter Zeitung, 70. Jg., Nr. 338 vom 7. Mai 1926). Ebenso hielt Reichsinnenminister Wilhelm Külz (DDP) in einer Kabinettssitzung am 7. Juni die Wahrscheinlichkeit eines Gelingens »größer denn je.« Ähnlich äußerte sich auf dieser Sitzung auch der Vertreter Preußens, Staatssekretär Robert Weismann (AdR, Kabinette Marx III, IV Bd. 1, Nr. 16, S. 34–38, hier 34 f, Zitat S. 34). 401 Eine genaue Analyse der Wahlergebnisse des Volksentscheids bei Jung, Volksgesetzgebung II, S. 988–1004; Schüren, Volksentscheid, S. 227–241; West, Crisis, S. 273–284.

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einer Parlamentswahl hätte das die absolute Mehrheit der Mandate bedeutet402. Es kam folglich zu erneuten, intensiven Bemühungen um eine parlamentarische Lösung, die jedoch daran scheiterten, dass die Mittelparteien der SPD zu wenig Kompromisse anboten und die SPD zu wenig bereit war, ihre ablehnende Haltung aufzugeben. Damit endete der erste Volksentscheid in Deutschland ohne unmittelbares Ergebnis und die über viele Monate hindurch sowohl im Parlament als auch in der Öffentlichkeit mit allen Mitteln ausgetragene Kontroverse konnte nicht geklärt werden403. Der Konflikt hinterließ allerdings eine zerrüttete politische Landschaft. Die Polarisierung, die sich aus der schlichten Alternative pro und contra entschädigungslose Enteignung ergab, hatte tiefe Gräben quer durch alle Lager gezogen404. In besonderer Weise traf es ausgerechnet die am meisten überzeugte Stütze der Republik, die DDP. Nachdem die Parteiführung aus rationalen Gründen für das Volksbegehren noch die Empfehlung ausgegeben hatte, sich nicht einzuschreiben, war sie unter dem massiven Druck der Anhängerschaft, die angesichts der wirtschaftlichen Verwerfungen durchaus mit einer Konfiskation der Fürstenvermögen sympathisierte, dazu gezwungen, in den Volksentscheid ohne Parole hineinzugehen. Doch diese Nichtlösung der für viele emotional so wichtigen Frage befriedigte keines der beiden Lager405. Die Partei drohte zu zersprengen, als Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht406 öffentlichkeitswirksam seinen Austritt bekanntgab. Diese Handlung, der zahlreiche weitere prominente Parteimitglieder wie Paul Rohrbach, Willy Hellpach und Hermann Schlüpmann folgten, kritisierte Hans Delbrück. Obwohl er selbst zu den schärfsten Kritikern der DDP in dieser Frage gehörte, hielt er »diesen Schrit [sic] aber nicht für richtig, denn so sehr ich das Verhalten der Partei verdamme, so scheint mir doch klar, dass sie zur Zeit noch unersetzlich ist.«407 402 Mit dieser Argumentation weist Jung, Demokratie, S. 59 auf die Schwachstelle der Weimarer Volksgesetzgebungsregeln hin. 403 Eine Regelung auf Reichsebene hat es in der Weimarer Zeit nicht mehr gegeben. In Preußen kam es einige Wochen nach dem Volksentscheid zu einem endgültigen Vergleich mit den Hohenzollern, bei dem der Staat durchaus besser abschnitt als noch im Entwurf ein Jahr zuvor, der den Streit entzündet hatte. Schüren, Volksentscheid, S. 227 spricht deshalb vom »Erfolg im Scheitern«. Umgekehrt bezeichnet Ohnezeit, Opposition, S. 350 das Ergebnis für die DNVP als »Pyrrhussieg«. Zum weiteren Verlauf des Fürstenabfindung nach dem 20. Juni vgl. Schüren, Volksentscheid, S. 243–260; West, Crisis, S. 292–309; Heimann, Landtag, S. 303 f. 404 Insofern war es auch keine bloße Frage von »Republic versus Monarchy« (West, Crisis, S. 11, Hervorhebung ebd.). 405 Vgl. West, Crisis, S. 173–178; Schüren, Volksentscheid, S. 137–143, 221–227; Jung, Volksgesetzgebung II, S. 842–856. 406 Ein früherer Mitarbeiter Delbrücks bei den Preußischen Jahrbüchern (Aufzeichnung Lina Delbrücks, Abschrift in: BArch N 1017/69, Delbrücks Leben, Bd. V 1904, S. 116a-117). 407 Hans Delbrück am 25. Juni 1926 an Graf Montgelas, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Max Montgelas, Bl. 35. Montgelas sah dies ähnlich. In der Enteignungsfrage sah er »eines der unseligsten Kapitel unserer inneren Geschichte, die Haltung der Demokratischen

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Allerdings fügte Delbrück der DDP kaum minder schweren Schaden zu als Schacht: Zusammen mit Friedrich Meinecke, Max Montgelas, Paul Rohrbach und anderen hatte er in der Zeitschrift »Der deutsche Gedanke« am 16. Juni im Namen von DDP-Mitgliedern und -Freunden die Haltung der Partei­führung als »unheilvoll« attackiert und gefordert, »den Antrag der Sozialdemokraten und Kommunisten abzulehnen und zwar in der entschiedensten Form, durch Nichtbeteiligung an der Abstimmung.«408 Empört kritisierte die »Frankfurter Zeitung« die Autoren dieses reichsweit Verbreitung findenden Aufrufs als »[v]erirrte Demokraten«, die es nicht nur bei einem Nein belassen, sondern den Wahlboykott empfohlen hatten und damit eine »Vergewaltigung der Gewissensfreiheit ihrer Nebenmenschen« betrieben409. In der Tat bedienten sich gerade die Rechten des Boykottaufrufes, da eine nicht abgegebene Stimme gleichwertig mit einer Nein-Stimme war. Eine Kontrolle über das Abstimmungsverhalten der Anhängerschaft war somit auf diese Weise sehr einfach zu erreichen – jeder, der zur Wahl ging, stand unter dem Vorwurf, zugestimmt zu haben. Das dadurch ad absurdum geführte Wahlgeheimnis bedeutete im gesamten Verfahren einen Angriff auf die Demokratie. Der Heidelberger Staatsrechtler Gerhard Anschütz, den Delbrück ebenfalls um Mitzeichnung gebeten hatte, versagte ihm denn auch die Unterstützung »aus Gründen der Parteidisziplin. Auch ich bin mit dem Beschluß der Leitung der D. D. P. […] nicht einverstanden, halte es aber, nachdem der Beschluß einmal ergangen ist, für ganz unangängig, ihn öffentlich zu bekämpfen.«410 Die Aktion ging offensichtlich von Delbrück und seinem Mittwoch-Abend aus411. Aber die Beurteilung Otmar Jungs, »über diesen im Durchschnitt fast 64jährigen Professoren, Ex-Abgeordneten und Geheimräten und ihren Unheilsbefürchtungen lag doch sichtlich das milde Licht der Vergangenheit«412, verkennt einen wesentlichen Aspekt: Es handelte sich bei Delbrück und seinen Gesinnungsgenossen nicht um überzeugte Republikaner im Sinne eines LinksPartei [ist] jämmerlich.« Ein Verlassen der Partei sei aber der falsche Weg: »[D]ie einzige Presse, die im Ausland gelesen wird, [ist] eben doch die demokratische«; deshalb würde »ein öffentlicher Austritt aus der Partei einem diesen Weg versperren«. (Montgelas an Delbrück am 18. Juni 1926, in: ebd., Briefe Max Montgelas III, Bl. 5 f). 408 Hans Delbrück / Georg Gothein / Johannes Junck / Friedrich Meinecke / Max Montgelas /  Paul Rohrbach / Hermann Schlüpmann: »Erklärung«, in: Der deutsche Gedanke, 3. Jg., Nr. 11 vom 16. Juni 1926, S. 642. Die Unterzeichner schlugen die Errichtung eines Sondergerichts zur Klärung der Streitfragen vor. 409 »Verirrte Demokraten«, in: Frankfurter Zeitung, 70. Jg., Nr. 451 vom 20. Juni 1926, S. 2. Hervorhebung im Original. 410 Gerhard Anschütz an Hans Delbrück am 14. Juni 1926, in: SBB NL Delbrück, Briefe Anschütz, Bl. 14. 411 Das Thema Fürstenenteignung war erstmals Thema im Mittwoch-Abend am 2. März gewesen. Da hatte der ehemalige preußische Finanzminister Albert Südekum (SPD) einen Vortrag zum Thema gehalten. (Delbrück an Montgelas am 22. Februar 1926, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Max Montgelas, Bl. 34). 412 Jung, Volksgesetzgebung II, S. 854.

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liberalen wie Theodor Wolff. Man konnte von ihnen kein lupenrein demokratisches Handeln erwarten. Die Bedenken, die sie hegten, hatten ihre sachliche Berechtigung. Und sie bedienten sich (wie alle anderen auch) im politischen Kampf der schärfsten erlaubten Waffe, die ihnen zur Verfügung stand: des Aufrufs, am 20. Juni zu Hause zu bleiben. Das war aus ihrer Sicht nur logisch. So wie für überzeugte Liberale die Nutzung dieser Waffe unverständlich und zu verurteilen war, so bemängelte Delbrück, die Enteignungsbefürworter bewiesen »zu wenig Pietät für die grosse preussische und deutsche Veergangenheit. [sic] Gegen Kaiser Wilhelm II. ist gewiss viel einzuwenden, aber dass man ihm sein Privatvermögen nicht herausgeben wollte, war eine Rechtsverhöhnung.«413 Eines war allerdings klar geworden: »Die Aktien der Monarchie sind auf Null gesunken. Sogar in deutschnationalen Organen stößt man auf die Erkenntnis: Es würde allmählich Zeit, den Streit um die Staatsform beiseite zu legen.«414 Doch ein Erfolg für die Republik war die Auseinandersetzung auch nicht415. Die republiknahen Sozialdemokraten fanden sich im Lager der antirepublikanischen Kommunisten, das Zentrum stand in einer Reihe mit den monarchistischen Deutschnationalen und die DDP hing als »Weltkind in der Mitten«416. Insofern muss man feststellen, dass das Volksbegehren 1926 vorhandene Gräben in den Gemütern der Deutschen vertieft und eben nicht zu einer Lösung der ungeklärten Frage beigetragen hat417. Eine wesentliche Verantwortung hierfür lag bei der KPD, die lediglich aus taktischen Gründen die Gefühle der Bevölkerung instrumentalisiert und so eine schwere Zerrüttung des politischen Klimas verursacht hatte418. Doch auch die SPD hätte durch ein frühzei413 Hans Delbrück an Elisabeth Delbrück am 7. Februar 1927, in: SBB NL Delbrück, Brief­ konzepte Elisabeth Delbrück, Bl. 1 f. 414 So bewertete das DDP-nahe Stuttgarter Neue Tagblatt Nr. 283 vom 22. Juni 1926 den Ausgang des Volksentscheids (zitiert nach: Schnabel, Niederlage, S. 100). 415 Winkler, Schein, S. 288 unterstreicht »die langfristig bedenklichste Folge« des Plebiszits, die »Mißtrauenserklärung […] gegenüber der repräsentativen Demokratie«. Die Republikgegner hätten aus diesen Erfahrungen den Schluss gezogen, dass allein das Mittel des Volksentscheids (und weniger ein etwaiger Erfolg in der Sache) ausreichte, um das parlamentarische Systems als solches zu erschüttern. Beim Volksbegehren 1929 gegen den Young-Plan habe man entsprechend agiert. 416 Schnabel, Niederlage, S. 104. 417 Jung, Volksgesetzgebung II, S. 1063, erblickt im Konflikt eine »kathartische Funktion« und meint, es sei keine desintegrierende Wirkung auf die Parteien auszumachen. Dem ist nicht zuzustimmen. Dass er zudem der DDP indirekt die Existenzberechtigung abspricht aufgrund ihrer unklaren Haltung (ebd., S. 846) ist völlig unverständlich. Sie war die Partei, die am wenigsten Verantwortung für die Eskalation traf, aber am meisten unter ihr zu leiden hatte. Mit guten Argumenten stellt Schüren, Volksentscheid, S. 280 deshalb die Vermutung an, »daß zahlreiche verbitterte und mit ihrer Partei unzufriedene Mittelständler über das Sprungbrett des Volksentscheids aus ihren traditionellen Parteibindungen herauskatapultiert wurden und nach einer neuen politischen Heimat suchten, die sie 1930 dann in der NSDAP fanden.« 418 Die KPD hatte jedoch ihr eigentliches Ziel, die Herstellung einer Einheitsfront kommunistischer, sozialdemokratischer und kleinbürgerlicher Milieus unter ihrer Führung,

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tiges, energisches Eintreten für einen Kompromissvorschlag auf der Basis der DDP-Vorlage eine parlamentarische Lösung ermöglichen und somit das schädliche plebiszitäre Verfahren verhindern können419. Der dritte Akteur, die Fürstenhäuser, hätte durch eine maßvollere Haltung eine frühere Einigung mit den Ländern ebenfalls begünstigen können. Und nicht zuletzt hatte die Reichsregierung zu der Eskalation beigetragen, indem sie die Debatte weitgehend laufen gelassen und sich sogar aus den parlamentarischen Beratungen zumeist herausgehalten hatte. Hans Delbrück jedenfalls war ein gutes Beispiel dafür, dass die Agitation zum Volksbegehren und -entscheid bislang nicht öffentlich artikulierte Anschauungen freisetzte und durch die Polarisierung, die jedem Volksentscheid – im Gegensatz zu parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren – zu eigen ist, auch pointierte Äußerungen der Beteiligten geradezu herausforderte. Auch für Delbrück ließ sich in dieser Frage der Loyalitätskonflikt zwischen altem und neuem Deutschland nicht mehr auflösen. Eine weitere Zerklüftung der politischen Kultur war die Folge: »Der Volksentscheid hängt wie ein Gewitter über Deutschland.«420 d) Die Flaggenfrage »Nichts in der Welt kann falscher und verderblicher sein, als wenn man glaubt, die Deutschen in die beiden Lager schwarzweißrot und schwarzrotgold einteilen zu können.«421

Diese Worte Hans Delbrücks aus dem Reichstagswahlkampf im November 1924 markieren seine zentrale Position im erbitterten und verhängnisvollen Flaggenstreit der Weimarer Republik: Ganz realpolitisch versteifte er sich nicht auf eine der ideologischen Fronten  – schwarz-rot-gold oder schwarz-weiß-rot  –, sondern erkannte den gefährlichen Kern des Streits: Die beiden Flaggen waren 1924 längst zu einem Symbol geworden für Anhänger und Gegner der Republik. Indem beide Seiten radikal auf ihrem Standpunkt beharrten, wurde ein gesellschaftlicher Kompromiss in dieser symbolträchtigen Frage verhindert. Eine weitere Spaltung des Volkes war die Folge. Konsensorientiert und auf eine Aus-

entgegen der Stilisierung durch die DDR-Historiographie, nicht erreicht. Verschiedene Schichten hatten sich aus unterschiedlichen Motiven lediglich temporär für das Volksbegehren zusammengefunden. Dies war kein Erfolg der KPD-Taktik (vgl. Schüren, Volksentscheid, S. 276 f; Winkler, Schein, S. 283 f). 419 Oder alternativ hätte die SPD mit einem moderaten Volksbegehren der KPD zuvorkommen können, um die Meinungsführerschaft zu behalten, wie es West, Crisis, S. 317 f vorschlägt. 420 Albrecht Graf Montgelas: »Das große Aergernis«, in: Vossische Zeitung, Nr. 145 vom 18. Juni 1926. 421 Hans Delbrück: »Für die Demokratie«, in: Frankfurter Zeitung vom 4. November 1924, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 88e.

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söhnung des alten mit dem neuen Reich bedacht, warb Delbrück für mehr Pragmatismus in der Debatte. Seinen ersten Höhepunkt erreichte der Flaggenstreit der Weimarer Republik im Sommer 1919 auf der verfassungsgebenden Nationalversammlung. Diskutiert wurde hier über drei verschiedene Nationalfarben: schwarz-weiß-rot, rot und schwarz-rot-gold. Die Sozialdemokraten, aber auch eine Reihe Linksliberaler und Republikaner, lehnten die Beibehaltung der bisherigen Reichsfarben schwarz-weiß-rot ab. Vor allem die MSPD orientierte sich in die Richtung der schwarz-rot-goldenen Flagge422. Rot, der USPD-Vorschlag, hatte damit keine realistische Chance. Dies machte in der entscheidenden Debatte auf der Nationalversammlung am 2. Juli 1919 der Sozialdemokrat Eduard David, zu der Zeit Reichsinnenminister, mit den Worten deutlich: »Die rote Fahne würde im Inneren des Deutschen Reichs Parteifahne sein. […] Wir müssen es doch erreichen, ein Symbol zu haben, zu dem sich mit Freude das ganze Volk bekennt.« Mit der gleichen Begründung lehnte er auch den Vorschlag ab, schwarz-weißrot beizubehalten. Unter diesen Farben seien im Kaiserreich viele Gruppen wie z. B. Sozialdemokraten ausgegrenzt worden. Als wesentliches Argument für den Regierungsvorschlag schwarz-rot-gold wies David ausführlich auf deren Bedeutung für großdeutsche Ideen hin423. Auf der anderen Seite lehnten die bürgerlichen Parteien – und zwar auch die Mehrheit der DDP – jede Änderung derjenigen Farben ab, die für die Größe des untergegangenen Kaiserreiches standen und unter der Millionen deutscher Soldaten gefallen waren. Der angesehene Jurist Wilhelm Kahl begründete in der Nationalversammlung ausführlich den Antrag zur Beibehaltung von schwarzweiß-rot für die DVP. Er sprach sich nicht gegen schwarz-rot-gold aus, sondern gegen einen Wechsel an sich in Anbetracht der historischen Leistungen, die mit schwarz-weiß-rot verknüpft seien. Das Argument der Anhänger von schwarzrot-gold, diese Farben stünden für die Einigungsbestrebungen im 19. Jahr­ hundert, entkräftete er mit dem Hinweis, dass »unter schwarz-rot-gold […] die deutsche Reichseinheit Schiffbruch gelitten [hat], […] [u]nter schwarz-weiß-rot aber haben wir die Reichseinheit gewonnen. […] Unter dieser Fahne sind unsere Helden gefallen. Schon die Achtung vor diesem Opfer erfordert, daß wir sie jetzt nicht wechseln. […] Vor allem aber fordert es die Selbstachtung vor uns als Deutschen. […] In den Augen der Feinde würde der Wechsel eine Selbstentwertung sein, die uns geradezu verächtlich macht. […] Würde ein Farbenwechsel vorgenommen, so würde das, ganz abgesehen von anderem, zweifellos für viele ein Grund sein müssen, schon deshalb die neue Verfassung abzulehnen. (Lebhafter Beifall rechts. – Lachen links.)«424 422 Buchner, Identität, S. 52–63, 71–75. 423 Eduard David im Plenum der Nationalversammlung am 2. Juli 1919, in: VdR 327, S. 1224–1226, Zitate S. 1225. 424 Wilhelm Kahl im Plenum der Nationalversammlung am 2. Juli 1919, in: VdR 327, S. 1226–1228, Zitate S. 1227 f.

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Wofür die Linken im Sommer 1919 nur Lachen übrig hatten, wurde schon bald Realität. So schrieb beispielsweise der republikanisch gesinnte Veit Valen­ tin im »Berliner Tageblatt« 1927 in der Besprechung des Buchs »Die deutschen Farben« von Paul Wentzcke425, es sei »geschichtlich falsch und wirkt politisch erbitternd, wenn nun auch wieder Wentzke [sic] den Frieden von Versailles mit der schwarzrotgoldenen Fahne in eine Art von kausalem oder symbolischen Zusammenhang bringt.«426 Bedenkt man, dass Valentin 1927 politisch eine Minderheitsposition in Deutschland einnahm, wird deutlich, wie sehr schwarz-rot-gold in die Defensive geraten war. Die – historisch falsche – kausale Verknüpfung der Weimarer Reichsverfassung mit dem Versailler Vertrag hat die Republik ungemein belastet und wurde von deren Gegnern systematisch genutzt, sodass dieser Mythos zu einer scheinbaren Gewissheit wurde. Die unbedingte und vollständige Abkehr von allem, woran die Masse der Deutschen bis vor Kurzem geglaubt hatte, war schwer zu vermitteln. Ein Beibehalten des Symbols der nationalen Größe hätte stabilisierend wirken und vor allem den bürgerlichen Kreisen eine Integration in die neue Zeit erleichtern können. Stattdessen wurde am 3. Juli 1915 mehrheitlich beschlossen, die Nationalfarben zu schwarzrot-gold zu ändern, als Handelsflagge jedoch die schwarz-weiß-rote beizubehalten, allerdings ergänzt durch eine schwarz-rot-goldene Gösch (ein mastseitiges Obereck auf der Flagge)427. Hans Delbrück kritisierte diesen Beschluss der Nationalversammlung scharf und schrieb in seinen »Preußischen Jahrbüchern«: Schwarz-rot-gold habe zwar eine ehrenwerte Geschichte428 und sei in Österreich heute noch bedeutsam. Auch erinnere er sich daran, dass er »selbst sehr unglücklich war, als 1867 schwarz-rot-gold nicht die Fahne des Norddeutschen Bundes wurde.« Aber diese Tradition habe nur für sehr wenige eine Bedeutung, für die meisten seien die nun gewählten Farben völlig neu und böten keine Orientierung. Dies sei »für die neue deutsche Republik ein sehr gefährliches und unvorsichtiges Unternehmen. […] Wir erkennen die Republik an und finden uns mit ihr ab, weil wir einsehen, daß sie die einzige politische Form ist, in der das deutsche Volk heute sein Leben fristen 425 In der ersten Auflage von 1927 hatte Wentzcke ein Plädoyer für eine Versöhnung beider Flaggen in Form der Handelsflagge abgegeben, da beide Farben in der deutschen Geschichte von Bedeutung seien (Wentzcke, Farben I, S. 229 f). 426 Veit Valentin: »Die deutschen Farben«, in: Berliner Tageblatt vom 9. September 1927, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 136.1. In der Tat hatte Paul Wentzcke geschrieben, dass bei den Beratungen zur Flaggenfrage 1919 von Seiten der Ententemächte »die Versicherung, daß die ›Rückkehr‹ zu den schwarz-rot-goldenen Farben den Friedensschluß erträglicher machen« werde, gelockt habe. Als die Vertreter der Republik dann aber den Versailler Vertrag unterzeichnen mussten, hätten sie »damit die Demütigung und Versklavung auch der neuen Staatsordnung [anerkannt].« (Wentzcke, Farben I, S. 226). 427 Vgl. die Debatte über den Abstimmungsmodus und die Abstimmung selbst in: VdR 327, S. 1244–1246. 428 Zur Entwicklung der Farben schwarz-rot-gold vom Mittelalter bis 1918 vgl. Hattenhauer, Nationalsymbole, S. 28–46; Wentzcke, Farben II, S. 77–123.

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kann; […] Wer das deutsche Volk liebt, muß heute mit deutscher Treue der Republik dienen. Aber die Zahl derer, die sie lieben, ist gering, die Zahl derer, die sie hassen, ist groß. Die Einen hassen sie, weil sie zu viel zerstört, die Anderen, weil sie noch nicht genug zerstört hat. […] Es ist klar, daß sehr große Teile unseres Volkes, wahrscheinlich die sehr große Mehrheit [sic] die schwarz-rot-goldene Fahne niemals annehmen werden.«

Sollte eines Tages überhaupt wieder geflaggt werden, würden »außer auf den amtlichen Gebäuden wenig schwarz-rot-goldene Fahnen dabei sein. […] Man hat gesagt, die schwarz-weiß-rote Fahne habe man nicht beibehalten können, weil sie zur Parteifahne geworden sei. Darauf ist zu erwidern: Eben dadurch, daß man sie abgeschafft hat, hat man sie dazu gemacht. […] Die Abschaffung der schwarz-weiß-roten Fahne ist aber geradezu eine Herausforderung an alle diejenigen Söhne des Volkes, die die Bismarckisch-Wilhelminische Epoche nicht verleugnen wollen. Weder heute noch für eine unabsehbare Zeit, auf Generationen hinaus, wird man auf diese Farben verzichten. Je weiter die Zeit fortschreitet, desto mehr wird man die Epoche der schwarz-weiß-roten Fahne in dem verklärenden Licht der ›guten alten Zeit‹ sehen, und um so treuer an ihr festhalten. Wo immer eine Gelegenheit zu öffentlichen Demonstrationen ist, wird die tiefe innere Spaltung des deutschen Volkes mit diesem Symbol ans Licht treten. […] [D]ie schwarz-weiß-rote Fahne wird keineswegs das Symbol allein der Reaktionäre sein, sondern breitester Volksschichten, die bereit sind, der Republik ihre Dienste aus gutem Herzen zu widmen, es aber als eine Beleidigung empfinden, wenn ihnen zugemutet wird, deshalb ihre Vergangenheit zu verleugnen. Die Republik ist wahrlich nicht breit und sicher genug fundiert, um sich Feindschaften zuzuziehen, die sie vermeiden könnte.«429

Gleich mehrere zentrale Gedanken, die Hans Delbrück in der Zeit der Weimarer Republik vertrat, kommen hier prägnant zum Ausdruck: Als Vernunftrepublikaner, der sich konstruktiv auf den Boden der neuen Tatsachen stellte, warnte er davor, alle Brücken zur jüngsten Vergangenheit abzureißen. Die neuen Farben waren für ihn zu künstlich neu installiert430, sodass sie seiner Meinung nach für die Masse der Bevölkerung keine identitätsstiftende Wirkung entfalten konnten. Zugleich haftete ihnen damit das Stigma an, Symbol alles Schlechten der neuen Republik zu sein. Selbst Friedrich Naumann hatte wohl »grundsätz429 Hans Delbrück: »Die Verfassungs-Beratung. Schwarz-rot-gold«, in: PJb 177 (1919), S. 295– 298, Zitate S. 296–298. Diesen Aufsatz hat Delbrück auch Reichsfinanzminister Matthias Erzberger, dem vormaligen Vorsitzenden der Waffenstillstands-Kommission, zugesandt (Erzbergers Referent an Delbrück am 23. Juli 1919, in: SBB NL Delbrück, Briefe Erzberger). Er diente auch als Orientierung für den Historiker Egmont Zechlin, der 1926 an seiner Schrift »Schwarz Rot Gold und Schwarz Weiß Rot in Geschichte und Gegenwart« arbeitete und hierfür Delbrücks Aufsatz erbat (Zechlin an Delbrück am 22. Mai 1926 und ohne Datum [1926], beide in: ebd., Briefe Zechlin, Bl. 2–4). 430 Auch Bernd Faulenbach bezeichnet die Einführung von schwarz-rot-gold, »diese Hinwendung zur Tradition«, als »aus der Not geboren und weniger [als] Durchbruch neuen Denkens.« (Faulenbach, Schwarz-Rot-Gold, S. 38).

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lich Zweifel am Sinn eines Flaggenwechsels im Augenblick der Niederlage geäußert«431. Mit der Abschaffung von schwarz-weiß-rot hatte man vielen Menschen von heute auf morgen alles genommen, woran sie bislang geglaubt hatten und wofür Millionen Söhne, Brüder und Väter auf den Schlachtfeldern geblieben waren. Dass hierdurch die alten Farben schnell zu einem märtyrerhaften und schlagkräftigen Symbol der Republikgegner werden würden, hatte Delbrück im Sommer 1919 klar vorausgesehen. Die Tragweite und Dimension dieses Flaggenstreits ist in der Forschung bis heute nur unzureichend gewürdigt worden432. Dabei hat schon 1953 Friedrich Sell festgestellt, dass einem rationalen Geist der Streit zwar kleinlich vorkommen müsse. »Die Geschichte ist aber nicht rational. Es war ein Kampf um ein Symbol, und von jeher ist um Symbole mit größerer Erbitterung gestritten worden als um reale Interessen.«433 Dass der Kompromiss der Weimarer Reichsverfassung lediglich eine »Scheinlösung«434 war, wurde schnell deutlich: Denn durch die Festlegung zweier völlig verschiedener Symbole perpetuierte sich die Spaltung der Gesellschaft in Republikaner und Antirepublikaner435. Erst zwei Jahre später, am 11. April 1921, erließ Reichspräsident Friedrich Ebert die nötigen Ausführungsbestimmungen zu den Verfassungsartikeln. In seiner Verordnung legte Ebert zehn verschiedene Flaggen fest: Die Nationalflagge, die Standarten des Reichspräsidenten und des Reichswehrministers, die Reichspostflagge, die Dienstflagge der Reichsbehörden zu Lande und derer zur See, die Handelsflagge, die Handelsflagge mit Eisernem Kreuz für ehemalige und Reserveoffiziere der Marine, die Reichskriegsflagge und die Gösch (gemeint ist hier die Bugflagge auf Kriegsschiffen). Dabei legten jeweils fünf Flaggen die alten bzw. neuen Reichsfarben zu Grunde436. Eberts Überlegung mit dieser Aufwertung von schwarz-weiß-rot war es, einen Schritt in die Richtung eines Kompromisses zu gehen. Deren Anhängern ging dies aber noch nicht weit genug. So beantragten DNVP, DVP, Zentrum, BVP und sogar die DDP im Juni im Reichstag, die Ausführungsbestimmungen für die im Kern schwarz-weiß-rote Handels431 Weißmann, Zeichen, S. 93. 432 So ist eine umfassende geschichtswissenschaftliche Untersuchung über den Flaggenstreit immer noch ein Desiderat. Die bislang beste Darstellung bietet Buchner, Identität, der allerdings den Fokus nur auf die Sozialdemokratie legt und gleichzeitig nur ein Kapitel seiner Monographie der Debatte um die Nationalflagge widmet. Der Großteil der übrigen Literatur zur Flaggenfrage und Symbolpolitik ist wissenschaftlich wenig brauchbar. Allein ein Blick auf die Fülle an zeitgenössischer Publizistik macht jedoch deutlich, wie sehr die Flaggenfrage auch die Masse der Bevölkerung bewegte. 433 Weiter schreibt er: »Die Entscheidung der Nationalversammlung gab der Opposition auf der Rechten ein Symbol, an dem sich alle dämonischen Instinkte in Zukunft entzündeten. Sie sollte schließlich das Schicksal der Republik besiegeln.« (Sell, Tragödie, S. 393). 434 Winkler, Revolution, S. 230. 435 Vgl. auch Ribbe, Flaggenstreit, S. 177. 436 Die Verordnung ist wiedergegeben in: Michaelis / Schraepler, Ursachen VII, Dok. 1510, S. 69 f.

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flagge auszusetzen und selbige ohne die schwarz-rot-goldene Gösch (hier wieder als mastseitiges Obereck) auszufertigen437. Nach einer erbitterten und stundenlangen Debatte wurde der Antrag denkbar knapp (MSPD und USPD stimmten geschlossen dagegen, von Zentrum und DDP jeweils nur eine kleine Minderheit) abgelehnt. Wie schwer sich viele Politiker mit der Entscheidung taten, belegt die Tatsache, dass 222 Abgeordnete der Abstimmung fernblieben438. Im Frühsommer 1926 erreichte der Flaggenstreit einen neuen, dramatischen Höhepunkt. Auf Betreiben des Reichskanzlers Hans Luther hatte Hindenburg am 5. Mai eine neue Flaggenverordnung herausgegeben439. Diese bestimmte, dass die außereuropäischen Gesandtschaften neben der schwarz-rot-goldenen Nationalflagge auch die im Wesentlichen schwarz-weiß-rote Handelsflagge hissen sollten440. Begründet wurde diese Änderung mit dem Wunsch der Auslandsdeutschen nach den alten Farben und der Diskrepanz zwischen schwarzweiß-roter Handelsflagge einerseits und schwarz-rot-goldener Nationalflagge der deutschen Behörden in Übersee andererseits. In der nicht nur durch den Wahlkampf zum Volksentscheid über die Fürstenenteignung aufgeheizten politischen Stimmung441 löste diese »ohne Not […] entfesselt[e]«442 Kontroverse in sozialdemokratischen und republikanischen Milieus heftigen Widerspruch aus. Neben reichsweiten Protestkundgebungen brachten sowohl die SPD als auch die DDP Misstrauensanträge in den Reichstag ein443, die am 11. und 12. Mai 1926 beraten wurden. Eine typische republikanische Argumentation lieferte Theodor Wolff in einem Brief an Hans Delbrück: Er schrieb, er hielte nicht alle Freunde von schwarz-weiß-rot für Antirepublikaner, immerhin sei er 1919 selbst gegen den Flaggenwechsel gewesen. »[D]er Staatsautorität wegen« müsse schwarz-rotgold, einmal eingeführt, nun aber respektiert werden. Seine Zuneigung zu den 437 Im Grunde war dieser Antrag nicht nur überflüssig, sondern auch verfassungsändernd. Die Handelsflagge war die einzige, deren genaue Ausgestaltung in der Reichsverfassung festgelegt worden war. Es handelte sich 1921 also um eine Scheindebatte im Reichstag. 438 Vgl. Buchner, Identität, S. 86–90. 439 Pyta, Hindenburg, S. 510–513, meint, die Initiative zu dieser Verordnung gehe maßgeblich auf Hindenburg selbst zurück. Dem widerspricht Ohnezeit, Opposition, S. 351–355: Auslöser sei ein Schreiben des Hamburger Senats von Mitte April 1926 gewesen, in dem die dann später erfolgte Änderung erbeten wurde. Die Verantwortung für die Aufnahme der Anregung liege bei Außenminister Stresemann und Kanzler Luther. Siehe auch Büttner, Weimar, S. 375 sowie Winkler, Schein, S. 266. 440 Die Verordnung ist abgedruckt in: Michaelis / Schraepler, Ursachen VII, Dok. 1512, S. 71. Gleichzeitig wurde im Übrigen festgelegt, dass die bislang lediglich schwarz-weiß-roten Dienstflaggen der Reichsbehörden zur See ergänzt werden sollten um eine schwarz-rotgoldene Gösch. 441 Siehe Kapitel III.3.c). 442 Winkler, Schein, S. 266. 443 Vgl. Michaelis / Schraepler, Ursachen VII, Dok. 1514, S. 74–76. Auch die Völkische Arbeitsgemeinschaft hatte einen Misstrauensantrag eingebracht, allerdings mit umgekehrter Begründung: Ihr missfiel die Aufwertung der Nationalfarben schwarz-rot-gold durch die neu hinzugefügte Gösch auf der Dienstflagge der Reichsbehörden zur See.

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neuen Farben steige im Übrigen auch durch deren Verunglimpfungen. Daran schloss Wolff die Frage an Delbrück an, ob er, der »mit Recht empfindlich [ist], wenn die alten Farben geschmäht werden, immer mit ähnlichem Eifer gegen die unsaubere Schmähung der neuen, in der Verfassung vorgeschriebenen, protestiert?«444 Hans Delbrück begrüßte die neue Verordnung und sekundierte der Reichsregierung mit einem Artikel in der »Deutschen Allgemeinen Zeitung« am 8. Mai. Er betonte, der Farbenwechsel von 1919 sei ein Fehler gewesen, der aber nicht mehr rückgängig zu machen sei. Man müsse nun suchen, die schädlichen Wirkungen zu minimieren. Sehr große Teile des Volkes könnten sich nicht überwinden, schwarz-rot-gold zu hissen. »Wer vor dieser Tatsache die Augen verschließt, handelt ebenso verblendet wie ein General, der seinem Volke den Siegfrieden verheißt, zu dem seine Kräfte doch schlechterdings nicht hinreichen.« Die neue Regelung sei »ein Zeichen der Annäherung der deutschen Parteien«. »Der wahrhaft nationale Standpunkt aber muß sein, daß, da eine wirkliche Einheitsflagge einmal nicht zu erreichen ist, man die Schärfe des Gegensatzes der Symbole nach Möglichkeit abschwächt«445. Mit dem Seitenhieb auf Ludendorffs Kriegsführung in diesem Kontext bewies Delbrück, dass er stets seinem eigenen Programm folgte, »unbekümmert darum ob er damit bei Regierungen und Parteien Anerkennung fand.«446 Er warb wieder für eine Verständigung und einen Kompromiss. Dass sich schwarz-rot-gold nicht durchgesetzt hatte, war 1926 offensichtlich. Der Streit um die deutschen Farben zeigte verhängnisvolle Auswirkungen in der weiteren Spaltung der Gesellschaft447. Luthers Neuregelung war für Delbrück ein Schritt in die Richtung eines Ausgleichs. Auf den zweifelsohne völlig ungeschickt gewählten Zeitpunkt448 ging er nicht ein. Als sich in die Diskussion schließlich aber Hindenburg selbst einmischte und zu erkennen gab, dass er nicht an eine Rücknahme der Verordnung dachte, spannte sich die Lage weiter an. In der Absicht, die Lage zu beruhigen, hatte er 444 Theodor Wolff an Hans Delbrück am 11. April 1929, in: SBB NL Delbrück, Briefe Wolff, Bl. 23. Auch wenn dieses Schreiben drei Jahre nach dem Streit 1926 verfasst wurde, gibt es deutlich den Standpunkt der »Orthodoxen der Republik« (Mette, Politiker, S. 188) wieder. 445 Hans Delbrück: »Für die Flaggenverordnung«, in: DAZ, 65. Jg., Nr. 212 vom 8. Mai 1926, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 88a. Seinen Aufsatz hatte Delbrück offenbar zeitgleich an die Reichskanzlei gesandt. Der dortige Staatssekretär bedankte sich jedenfalls bei Delbrück für dessen Zeilen, »die in hervorragendem Masse [sic] geeignet sind, den Standpunkt der Reichsregierung zu rechtfertigen.« (Schreiben des Staatssekretärs in der Reichskanzlei an Hans Delbrück vom 8. Mai 1926, in: ebd., Briefe Reichskanzlei, Bl. 3). 446 So eine allgemeine Charakterisierung Delbrücks bei Mette, Politiker, S. 188. 447 In seiner »Danksagung« für die Glückwünsche zu seinem 80. Geburtstag schrieb ­Delbrück zweieinhalb Jahre später, der Fehler des Flaggenwechsels von 1919 sei mittlerweile allgemein anerkannt worden und gestritten werde nun lediglich darüber, ob man ihn rückgängig machen könne (Hans Delbrück: »Danksagung«, Sonderdruck aus der Zeitschrift Wille und Weg, Heft 17 (1928), S. 387, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 11.2). 448 Luther hatte damit erneut einen Mangel an politischem Gespür gezeigt. Vgl. hierzu auch die treffende Kritik der Frankfurter Zeitung vom 7. Mai 1926, s. o. Kapitel III.3.c).

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am 9. Mai einen zur Veröffentlichung bestimmten Brief an Kanzler Luther geschrieben. In diesem Schreiben begründete er das Ziel der neuen Verordnung im Delbrückschen Sinne damit, dass der Flaggenstreit durch den Kompromiss zumindest entschärft werden solle. Der Reichspräsident brachte aber auch andeutungsweise zum Ausdruck, dass es ihm nicht nur um eine einfache Lösung der Flaggenfrage im Ausland ging, sondern insgesamt um eine Revision der Reichsfarben. Er äußerte die Hoffnung, dass in nicht allzuferner Zeit »sich das deutsche Volk wieder friedlich um ein und dasselbe Symbol seines staatlichen Daseins schart!«449 Dass dies eine Hinwendung zu schwarz-weiß-rot bedeuten musste, war angesichts von Hindenburgs Persönlichkeit und seiner politischen Verortung völlig klar. Diese Überlegungen in der insgesamt angespannten Atmosphäre anzudeuten, war ein Missgriff Hindenburgs, der eine erneute Empörung im republikanischen Lager zur Folge hatte und dadurch eben nicht beruhigend wirkte. Der Reichstag beschloss nach einer intensiven Debatte einen Missbilligungsantrag gegen Hans Luther. Der Kanzler trat noch am selben Tag von seinem Amt zurück. Insofern hatte die Flaggenkrise von 1926 ganz erhebliche Auswirkungen und politische Konsequenzen gehabt, eine Rücknahme oder Änderung der umstrittenen Flaggenverordnung erfolgte bis 1933 allerdings nicht mehr450. Wieder einmal hatte es ohne Not um eine eher symbolische Frage erbitterten innenpolitischen Streit gegeben, der die an sich als Schritt zur Annäherung der politischen Lager gedachte Idee im Ergebnis in ihr Gegenteil verwandelte und die Spaltung weiter vertiefte. Die Gründe hierfür waren vor allem der unüberlegte Zeitpunkt gewesen und die mangelnde Sondierung mit den politischen Führern. Der Verursacher, Hans Luther, bezahlte mit dem Ende seiner politischen Karriere; die politische Kultur aber nahm weiteren Schaden. Als im Sommer 1927 der Flaggenstreit erneut hochkochte anlässlich einer Verordnung des Reichswehrministers Otto Geßler für die Reichswehr, waren die Reaktionen der verschiedenen Lager dieselben wie zuvor. Geßler hatte es den Angehörigen der Reichswehr auch als Privatpersonen untersagt, die schwarz-weiß-roten Farben ohne gleichzeitige Nutzung der schwarz-rot-goldenen zu verwenden. Die Dienstgebäude sollten zusätzlich zur (im Wesentlichen schwarz-weiß-roten) Reichskriegsflagge mit der schwarz-rot-goldenen Nationalfahne beflaggt werden, sofern zwei Masten vorhanden waren. Die Rechten reagierten wie stets empört über diese Aufwertung von schwarz-rot-gold451. 449 Hindenburg an Luther am 9. Mai 1926, abgedruck in: Michaelis / Schraepler, Ursachen VII, Dok. 1515, S. 76. 450 Vgl. Buchner, Identität, S. 109–115. Die umstrittene Verordnung wurde lediglich ausgesetzt bis zum 1. August 1926. 451 So schrieb selbst der gemäßigt Rechte Max Montgelas an Delbrück, die »Flaggenfrage wird allmählich ein Mittel des Terrors der Sozialdemokraten und der Bundesgenossen auf den linken Flügeln von Centrum und Demokratie gegen alle anders Denkenden.« (Max Montgelas an Hans Delbrück am 2. September 1927, in: SBB NL Delbrück, Briefe Montgelas III, Bl. 37–39).

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Aber die republikanischen Kräfte waren nicht minder verärgert: In der öffentlich gewordenen Begründung für den Erlass hatte Geßler bekannt, dass er wisse, dass für viele Soldaten »ein großes Maß von Selbstüberwindung und Zivilcourage dazu gehört«, die Verordnung zu beachten. Aber er sah sich zu diesem Schritt gezwungen, da die Nutzung von schwarz-weiß-rot durch Armeeangehörige den Gegnern der Reichswehr, die mit allen Mitteln versuchten, der Armee nachzuweisen, dass »ihre ›unpolitische‹ Einstellung in Wahrheit nur ein Deckmantel für ihre Rechtsorientierung darstelle«, Argumente in die Hand spielten. Das linksliberale »Berliner Tageblatt« kommentierte diese Argumentation mit den Worten: »Sie versündigen sich an diesem nationalen Einigungswerk [dem Anliegen, die Reichswehr republikanisch zu durchdringen, d. Vf.], Herr Geßler, wenn Sie, das traurige Schlagwort der Rechtsparteien anwendend, der republikanischen Wehrmacht einreden wollen, daß die Verfassungstreuen [sic] an Schwarz-Rot-Gold hängenden Republikaner ›Gegner‹ der Wehrmacht sind.«452 Der Streit wurde noch verschärft durch die zeitgleiche Auseinandersetzung des Landes Preußens mit einigen Berliner Hotels, die sich weigerten, schwarz-rotgold zu hissen453. Der Streit um Geßlers Verordnung zeigte symptomatisch, wie unmöglich eine Verständigung in der Flaggenfrage im Laufe der Jahre geworden war. Diese höchstwahrscheinlich von Hindenburg gedeckte Aktion war gedacht als weiterer Schritt zur Versöhnung. Dennoch peitschte er die Emotionen auf beiden Seiten wieder hoch, weil die Spaltung sich schon zu sehr verfestigt hatte. Hans Delbrück schrieb dem mit ihm befreundeten Wilhelm Solf resigniert-spöttisch, über die Fahnenfrage würde nur deshalb so intensiv debattiert, da »die ParteiGegensätze […] abgeschliffen« seien: »Ueber [sic] irgend etwas müssen die Parteien sich doch aber zanken: Wozu wären sie sonst Parteien? Da hat man sich also auf die Fahnenfrage geworfen. Käme man wirklich zu einem von den breiten Massen angenommenen Kompromiss über dieses Problem, so wüssten die Leute ja garnicht [sic] mehr, worüber sie sich aufregen sollen.«454

Die 1926 erfolgte Aufwertung von schwarz-weiß-rot gegenüber schwarz-rotgold ist aus heutiger Sicht nicht schlichtweg negativ zu beurteilen. Der Streit um die Flaggenfrage lässt sich nicht einfach pauschal darstellen als Kampf der Republikaner gegen rechte Antirepublikaner. Aus dem späteren bundesrepu452 O. V.: »Reichswehr und Schwarz-Rot-Gold. Ein Flaggenerlaß Dr. Geßlers.«, in: BT, 56. Jg., Nr. 388 vom 18. August 1927. Vorabdruck der Verordnung ebd. Vgl. auch den Leitartikel des innenpolitischen Redakteurs Ernst Feder: »Der neue Flaggenstreit«, in: BT, 56. Jg., Nr. 393 vom 20. August 1927. 453 Vgl. Buchner, Identität, S. 121–123. 454 Delbrück an Solf am 22. September 1927, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Solf, Bl. 15 f. Delbrück persönlich war kein eifriger Fahnenhisser. Anlässlich Bismarcks Tod schrieb er seiner verreisten Frau: »Wenn Du hier wärest, hätten wir wohl auch unsere Fahne herausgehängt; aber allein mache ich ja dergleichen nicht.« (Hans Delbrück an Lina Delbrück am 1. August 1898, Abschrift in: BArch 1017/68, S. 421).

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blikanischen Blickwinkel heraus ist es leicht, als Messlatte das Ideal einer liberalen, parlamentarischen Republik zu nehmen und jede Abweichung hiervon als Fehler zu bezeichnen. Aber die Vielschichtigkeit des Weimarer Flaggenstreits zeigt, dass man es sich mit einer solchen Perspektive zu einfach macht. Selbst für die SPD war schwarz-rot-gold ein Kompromiss und konnte eben dadurch keine Massenwirkung in sozialdemokratischen Milieus entfalten. Und für das konservative Bürgertum stellten die Weimarer Farben nichts weiter als eine Pietätlosigkeit gegenüber dem alten Reich dar. Die äußerste Rechte und die äußerste Linke wiederum bekämpften mit Verve dieses republikanische Symbol, mit dem sie nicht nur das Weimarer System, sondern auch die militärische Niederlage und den Versailler Vertrag verbanden. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass die DNVP es ablehnte, die Nationalflagge in Gänze zu schwarz-weiß-rot zu ändern, weil die Republik dieser Farben ihrer Meinung nach unwürdig sei455. Hätte man es 1919 bei schwarz-weiß-rot belassen, hätte man der antirepublikanischen Agitation das wichtigste Symbol verwehrt456. Treffend beklagte Delbrück 1927, die Verfassungsväter hätten »den unverzeihlichen Fehler gemacht, durch die Abschaffung der alten Reichsfarben den Feinden der Republik dieses herrliche Symbol in die Hand zu drücken (was ja auch von demokratischer Seite vielfach als Fehler anerkannt worden ist)«457. Die Verordnungen von 1921 (immerhin vom Republikaner Friedrich Ebert), 1926 und 1927 stellten einen sinnvollen Versuch dar, den Konflikt durch eine Annäherung abzukühlen. Gelingen konnte dies in den späteren Jahren jedoch kaum noch, da der Riss durch die Gesellschaft schon längst zu stark geworden war458. Wie unglücklich die Entscheidung für schwarz-rot-gold 1919 gewesen ist, wird vor allem im Vergleich mit dem Umgang eines anderen staatlichen Symbols deutlich: der Nationalhymne. Im Herbst 1920 hatte Außenminister Simons im Reichstag noch bedauert, »[j]edes Lied, das wir vorschlagen würden, wenn es noch so sehr von der einen Seite bejubelt würde, würde von der ande-

455 Vgl. Ohnezeit, Opposition, S. 353 f, der aus Sicht der DNVP meint, die Partei habe eine große Chance vergeben, indem sie einen Volksentscheid in der Flaggenfrage, der Mitte der 20er Jahre mit Sicherheit in deren Sinne erfolgreich gewesen wäre, ablehnte, da sie schwarz-weiß-rot nicht als Symbol der Republik haben wollte. 456 Jasper, Schutz, S. 242 meint, auch der Arbeiterschaft hätte man die alten Farben durchaus zugänglich machen können, wenn man sie interpretiert hätte als Symbol der Gründung des Reiches, für dessen Erhaltung die Nationalversammlung und Friedrich Ebert eingetreten seien. 457 Hans Delbrück: »Glaubenszwang«, in: DAZ, 66. Jg., Nr. 287 vom 23. Juni 1927, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 88a. 458 Insofern hat das zugespitzte Urteil Peter Reichels, dass der langjährige Flaggenstreit »nur Verlierer kennt« und der »eigentliche Sieger« Adolf Hitler gewesen sei, eine gewisse Berechtigung (Reichel, Glanz, S. 121): Die Nationalsozialisten nutzten den Streit ausgesprochen geschickt für ihre Politik aus und setzten den verfeindeten Lagern mit der Hakenkreuzflagge ein neues Symbol entgegen, das ganz wesentlich die Einheit des Volks demonstrieren sollte.

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ren Seite ausgepfiffen.«459 Nach der Ermordung Walter Rathenaus knapp zwei Jahre später wurde die Notwendigkeit, positive Symbole für die Republik zu schaffen, dann aber als dringlich empfunden. Arnold Brecht aus dem Reichsinnenministerium hatte schon unter dem Eindruck des Kapp-Putsches für das Deutschlandlied, der »innoffizielle[n] [sic] Nationalhymne«460 des Kaiserreichs, argumentiert. Andernfalls, so fürchtete der federführende Ministerialdirektor, würden die Rechten diese Hymne im Protest gegen die Republik verwenden461. Diese Argumentation setzten dann im Sommer 1922 Brecht und sein Minister Adolf Köster durch, sodass das Deutschlandlied durch eine Verordnung am 17. August von Friedrich Ebert offiziell als Nationalhymne eingeführt wurde462. Mit dieser »wohl mutigste[n] sozialdemokratische[n] Symbolhandlung nach 1918«463 gelang die Sammlung der Republikaner und der Rechten unter einem Dach – genau das, was in der Flaggenfrage nie erreicht wurde464. Auf Hans Delbrücks 80. Geburtstag im Hotel Adlon wurde das Deutschlandlied nach seiner Ansprache von allen Anwesenden spontan angestimmt465.

459 Simons in einer Rede vor dem Reichstag am 29. Oktober 1920, in: VdR 345, S. 870. 460 Reichel, Glanz, S. 75. 461 Vgl. Mader, Deutschlandlied, S. 1089. 462 Vgl. ebd., S. 1092–1094. Friedrich Ebert, der die Verordnung bereits am Verfassungstag öffentlich angekündigt hatte, begründete die Wahl der Nationalhymne in der Presse vor allem unter Bezugnahme auf die dritte Strophe: »Einigkeit und Recht und Freiheit! Dieser Dreiklang aus dem Liede des Dichters gab in Zeiten innerer Zersplitterung und Unterdrückung der Sehnsucht aller Deutschen Ausdruck; er soll auch jetzt unseren harten Weg zu einer bessren Zukunft begleiten.« (Ebert in der DAZ Nr. 347 vom 11. August 1922, abgedruckt in: Freytag, Quellen, Nr. 40 S. 89 f, Zitat S. 89). 463 Buchner, Identität, S. 365. 464 Siehe auch Reichel, Glanz, S. 81: »Die beherzte Initiative der Mitte-Links-Regierung, die das Lied nicht der Rechten überlassen, diese aber mit dem Deutschlandlied durchaus an die Republik heranführen will, könnte aufgehen. Eine rechtsstehende Regierung hätte damit nur Missdeutung und Missfallen provoziert.« 465 Vgl. o.V.: »Hans-Delbrück-Feier in Berlin«, in: Neue Freie Presse vom 17. Dezember 1928, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 9.

IV. Gegen die Kriegsschuldlüge

»Und keines Mannes Wort hat so wie das Ihrige, auf das die Welt zu hören gezwungen war, geholfen, nach dem Zusammenbruch die Erörterung der Kriegsschuldfrage von kleinem Haß und subalterner Lüge freizumachen. Wenn die Luft für die Aussprache heute, auch bei fremden Forschern und Politikern, reiner geworden ist, so dankt das die Nation vor allem Ihnen, dem Einsatz Ihres Namens und Ihres Wissens.«1

Diese Zeilen von Erich Koch-Weser an Hans Delbrück zu seinem 80. Geburtstag 1928 im Namen der DDP verdeutlichen den Standort, den Delbrück in der Kriegsschuld-Debatte der Weimarer Republik einnahm. Die folgenden fünf Kapitel sollen diesen genauer analysieren. Im ersten wird dabei der Frage nachgegangen, wie er dazu kam, sich mit dem Kriegsausbruch zu befassen, im zweiten, wie er seine Ansicht zu diesem Thema im Untersuchungszeitraum entwickelte, im dritten, wie er seine Sichtweise in Weimar durchsetzte, im vierten, wie er versuchte, diese auch im Ausland zur Geltung zu bringen und im fünften schließlich, wie er mit den offiziösen Stellen im Reich zusammenarbeitete. Zum Verständnis seiner Aktivitäten ist einleitend ein kurzer Blick auf die Ereignisse des Juli 1914 nötig2. Ein wichtiges Moment für die Eskalation in der Julikrise ist die Tatsache, dass keine der beteiligten Mächte grundsätzlich vor einem Krieg zurückschreckte. Man war sich zwar der Grausamkeiten bewusst, die ein solcher hervorbringen konnte, aber längst nicht in dem ausreichenden Maße wie spätere Generationen, die im Kalten Krieg tatsächlich vor einem Schritt zu weit zurückschreckten. Deshalb bemühte sich vor 1914 auch keine Regierung bis zum äußersten, den etwaigen Ausbruch zu verhindern. Die nationalistisch aufgeheizte Stimmung vieler Teile der Völker im Zeitalter des Imperialismus tat ihr Übriges. Die Lage in Europa war insgesamt von großer Instabilität, Konkurrenz und teils festen, teils labilen Bündnissystemen gekennzeichnet. Der Balkan war ein großer Krisenherd, auf dem nicht nur die zahlreichen dortigen Völkerschaften um Macht rangen – die hier wie in keiner anderen Region Europas territorial durchmischt waren –, sondern auch mehrere Großmächte um ihren Einfluss. Traditionell waren es die drei Reiche Österreich-Ungarn, Russland und die Türkei gewesen, welche die Region in Interessensphären aufgeteilt hatten. Das schrittweise Wegbrechen des Osmanischen Reichs als regionaler Ordnungsmacht, das zu einem Machtvakuum führte, fiel zusammen mit dem Streben der diversen kleineren Staaten nach Selbstständigkeit. Dies hatte eine Destabilisierung des gesamten Balkans zur Folge. Der Nationalismus des Königreichs Serbien wurde dabei bedroh­ 1 Koch-Weser an Delbrück am 10. November 1928, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 6.1. 2 Zur Historiographie zur Kriegsschuldfrage siehe Kapitel I.

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licher für das Habsburgerreich als Expansionsbestrebungen anderer Staaten wie Rumänien und Bulgarien, denn der serbische Nationalgedanke forderte die Vereinigung zahlreicher Territorien unter der serbischen Krone, die zum Teil Staatsgebiet von Österreich-Ungarn waren. Dabei waren die Grenzen zwischen offizieller Regierungspolitik und nationalistischen bis terroristischen Gruppen in Serbien fließend. So verständlich diese Bewegung gewesen sein mag, wenn man an die Nationalstaatswerdung anderer Völker im 19. Jahrhundert wie Deutschland oder Italien denkt, sie bedrohte zunehmend und unmittelbar den Bestand der Donaumonarchie. Diese Großmacht konnte in zweierlei Varianten reagieren: Sie konnte den Serben entgegenkommen und sie mittels Diplomatie einbinden, oder sie konnte den serbischen Expansionsdrang gewaltsam brechen. Dabei war es gerade der am 28. Juni 1914 ermordete Thronfolger Franz Ferdinand, der die Idee vertrat, das Habsburgerreich umzuwandeln vom österreichisch-ungarischen Dualismus in einen Trialismus mit den serbischen Völkerschaften oder gar zu einem föderativen Staatensystem, in dem viele gleichberechtigte Staaten organisiert sein würden. Möglicherweise war dies der Grund dafür, dass er sich den Hass der serbischen Nationalisten zuzog, da sie in einer Umsetzung seines Programms die Gefahr sahen, dass ihr Traum von Großserbien zunichte gemacht werden würde. In dem Moment, in dem Franz Ferdinand und seine Frau in Sarajevo von serbischen Nationalisten ermordet wurden, hielten die Staatsmänner in Wien eine scharfe Reaktion gegen Serbien jedenfalls für dringend notwendig – die Aussicht auf einen Ausgleich mit den Serben war zunichte gemacht. Serbien wiederum stand aber in enger Anlehnung an Russland. Das Zarenreich wollte seinen eigenen Einfluss auf dem Balkan stärken, um seine Machtsphäre ausweiten zu können auf den westlichen Ausgang des Schwarzen Meeres. Dies war für die Regierung in Sankt Petersburg das natürliche außenpolitische Programm, nachdem sie im Krieg gegen Japan 1905 eine schwere Niederlage erlitten hatte und sich von Expansionsplänen im Osten des Reiches hatte verabschieden müssen. Dazu kam die Idee eines Panslawismus, der die slawischen Völker in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa unter der Vormacht des Russischen Reiches ideell organisieren sollte. Daher kam die enge Anlehnung des Zarenreichs an die Serben, die in Völkergemeinschaft mit den Russen ihre Macht ausbauen sollten, um die österreichische Vormacht auf dem Balkan zu verdrängen. In einer Aktion Wiens gegen Belgrad sah man in Sankt Petersburg folglich die große Gefahr, dass die Habsburgermonarchie ihre Vormachtstellung auf dem Balkan behaupten und damit für lange Zeit sichern würde. Da dies gegen die russischen Interessen ging, stand das Zarenreich hinter Serbien, um das letzte Feld außenpolitischer Betätigung nicht kampflos zu verlieren. Damit war der lokale Konflikt zwischen Serbien und Österreich-Ungarn zu einem internationalen geworden. Denn an der Seite Österreich-Ungarns stand das Deutsche Reich. Deutschland hatte zwar keine eigenen unmittelbaren Interessen auf dem Balkan, aber es wollte nicht zulassen, dass sein einziger zuverlässiger Bundesgenosse

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in einem Konflikt mit Russland möglicherweise als Großmacht zugrunde ging. Dafür war die eigene Weltstellung zu gefährdet. In den vorangegangen Jahren hatte das Reich immer wieder  – durchaus auch selbstverschuldet  – diplomatische Niederlagen einstecken müssen und fühlte sich von den übrigen Großmächten nicht gleichrangig behandelt3. Daher stand Berlin hinter Wien, als Sankt Petersburg sich hinter Belgrad stellte. Hierdurch aber kam auch Frankreich mit ins Spiel, das ein festes Bündnis mit Russland hatte. Zur Bündnispflicht kam dort noch hinzu, dass viele sich eine Revanche für 1870/71 wünschten und Elsaß-Lothringen zurückhaben wollten. England schließlich konnte in einem großen europäischen Krieg, der das Gleichgewicht auf dem Kontinent verschieben konnte, nicht neutral bleiben. England hatte sich im Laufe der Zeit Frankreich und Russland angenähert, weil es den Ausgleich mit diesen beiden Mächten suchte, die ihm in seinem Weltreich gefährlich werden konnten. Deutschland und dessen Herausforderung Englands durch den Flottenbau spielte nach neueren Forschungserkenntnissen eher eine untergeordnete Rolle4. Die deutsche Flotte war demnach für Großbritannien keine existentielle militärische Gefahr, sie brachte aber die britische Öffentlichkeit in Rage und trieb damit England ohne Not in Gegnerschaft zu Deutschland. In dieser schwierigen Konstellation gelang es keiner der beteiligten Mächte, in der Julikrise nachhaltig auf die Erhaltung des europäischen Friedens hinzuwirken: »Die Franzosen befürchteten ihre Marginalisierung, die Russen sorgten sich um den Einflussverlust nach der Niederlage gegen Japan im Jahre 1905, Österreich-Ungarn bangte um seinen Großmachtstatus, in Großbritannien herrschten Niedergangsängste, und in Deutschland litt man an der Einkreisungsobsession«,

wie Herfried Münkler zusammenfasst5. Nach dem Attentat in Sarajevo richtete die Wiener Regierung am 23. Juli ein Ultimatum zur Wiedergutmachung und Aufklärung an Serbien, das so scharf formuliert war, dass es nahezu unannehmbar war. Als die Serben sich zwar entgegenkommend zeigten, aber nicht 100 Prozent anzunehmen bereit waren, erklärte Österreich-Ungarn am 28. Juli Serbien den Krieg. Dies löste die Kette der Bündnisse aus: Als nächstes mobilisierte Russland seine Truppen. Daraufhin verlangte Deutschland von Russland ultimativ die sofortige Einstellung der Mobilmachung, was das Zarenreich ablehnte. Deutschland erklärte nun am 1. August Russland und kurz danach Frankreich sowie Belgien den Krieg, da es einen großen Krieg unmittelbar erwartete und 3 Andreas Rose schreibt dazu, es habe keine »Einkreisung« des Deutschen Reichs gegeben, aber die andauernden diplomatischen Niederlagen hätten gezeigt, dass die übrigen Mächte nicht bereit dazu gewesen seien, Deutschland als gleichberechtigt zu akzeptieren. »So wenig Berlin es geschafft hatte, sich in das Großmächtesystem einzufügen, so wenig haben die Großmächte eine Integration des jungen Reiches zugelassen.« Damit sei das Gefühl einer Einkreisung durchaus begründet gewesen (Rose, Außenpolitik, S. 106–111, Zitate S. 108). 4 Siehe hierzu Kapitel II. 5 Münkler, Krieg, S. 24.

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man im deutschen Generalstab davon ausging, dass man in diesem Zweifrontenkrieg nur bestehen könne, wenn man den deutschen Vorteil, die technische Möglichkeit der schnelleren Mobilisierung, ausnutzte und sofort den Krieg begann, bevor Russland und Frankreich ihrerseits hierzu in der Lage wären. Der Angriff auf Belgien fügte sich in die Logik dieses Kriegsplans (Schlieffen-Plan)6 ein: Um Frankreich als erstes niederzuwerfen, bevor Russland seine Truppen vollständig bereit hatte, musste man schnell sein. Da die unmittelbare deutsch-französische Grenze sehr gut befestigt war und ein zügiges Vordringen unmöglich machte, wählte man den Weg durch das neutrale Belgien, was man im Sinne eines Notstands als gerechtfertigt ansah. Dieser Bruch der Neutralität Belgiens war dann auch das ausschlaggebende Moment für Großbritannien, um in den Krieg auf Seiten Frankreichs und Russlands einzutreten. Die einzelnen Winkelzüge der Diplomatie in diesen Tagen können hier außen vor gelassen werden, da dies der Einstieg in eine ausufernde Analyse wäre. Entscheidend ist, dass kein Staat einen unbedingten Willen zum Krieg hatte, aber eben auch keiner einen unbedingten Willen zum Frieden. Wie hoch die Verantwortung bei welcher Regierung aufgrund bestimmter diplomatischer Taktiken genau war, bleibt für die vorliegende Untersuchung zweitrangig. Denn im Folgenden geht es darum, wie diese Frage in der unmittelbaren Nachkriegszeit diskutiert wurde: Die Siegermächte England, Frankreich und die USA setzten im Versailler Vertrag ihre Sicht fest und zwangen Deutschland durch die Unterzeichnung zur Anerkennung ihrer Deutung, dass nämlich die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn den Krieg vorsätzlich und planmäßig begonnen hätten. Die Deutschen wollten dies nicht akzeptieren.

1. Die Viererkommission in Versailles »Sie [die Feindländer, d. Vf.] können es [das deutsche Volk, d. Vf.] nur entweder töten oder sich mit ihm vertragen, und da sie es nicht töten können, müssen sie sich mit ihm vertragen. Ihr eigenes Interesse verlangt es. […] Man darf aber noch einen Schritt weiter gehen und sagen, der Gewaltfriede ist für uns nicht nur unannehmbar, sondern er ist in sich unmöglich. Die Regierung, die ihn unterschriebe, würde ihre Autorität (und sie ist ohnehin nicht groß) verlieren«7.

6 Siehe hierzu Kapitel V.1. 7 Hans Delbrück: »Die Friedensbedingungen«, in: PJb 176 (1919), S. 321–326, Zitate S. 322, 325. Delbrück hatte diese Zeilen im Urlaub in Heringsdorf geschrieben und zeigte sich in einem Brief an seine Frau etwas unglücklich darüber, dass der Redaktionsschluss unmittelbar vor der Überreichung der Friedensbedingungen liege und er somit in seinem Aufsatz nur vage bleiben könne (Hans Delbrück an Lina Delbrück am 23. April 1919, Abschrift in: BArch N 1017/78, S. 241–244; Hans Delbrück an Frau Körte am 17. April 1919, in: Geheimes Staatsarchiv – Preußischer Kulturbesitz, VI. HA, Familienarchiv Delbrück, Nr. 25, Bl. 1).

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So schrieb Hans Delbrück in seinen »Preußischen Jahrbüchern« Ende April 1919, wenige Tage vor der Überreichung der Friedensbedingungen durch die Alliierten. Indem er seine Abneigung gegen die bereits teilweise bekannt gewordenen Inhalte auf diese Weise zum Ausdruck brachte, argumentierte er zugleich im Sinne des Sicherheitsinteresses der Feindstaaten und im Sinne der Sicherung der Republik in Deutschland. Seine Einschätzung als Historiker, dass ein großes Volk nicht untergehen könne, nutzte er hier für seine Argumentation: Wenn man das deutsche Volk zu sehr knebele, werde es Gefühle der Revanche entwickeln, die in späterer Zeit Frankreich tatsächlich gefährlich werden könnten. Wenn sich die Alliierten aber nun auf einen maßvollen Frieden einließen, werde man zu einem echten Ausgleich unter den Völkern kommen. Dieser Gedankengang fußte bei Delbrück auf seiner kriegsgeschichtlichen Forschung, in der er stets eine gemäßigte Kriegspolitik als die erfolgreiche bezeichnete. Der andere Aspekt seines Aufsatzes bezog sich auf die innenpolitischen Folgen eines zu scharfen Friedens: Er fürchtete die Konsequenz, dass jede republikanische Regierung ihre Anerkennung aufs Spiel setzen würde, wenn sie einem solchen Vertrag zustimmte, und dass damit die Demokratie als solche in Deutschland erschüttert würde. In dem Maße, in dem die Kriegsschuldfrage auf der Konferenz in Versailles eine ausschlaggebende Rolle erhielt, wurde dann auch Hans Delbrück in die Friedensverhandlungen mit einbezogen8. Bereits seit Jahresbeginn 1919 hatte er versucht, mittels seiner publizistischen Netzwerke Einfluss auf die Verhandlungen zu nehmen. So gab er beispielsweise im Januar 1919 der »Associated Press« ein Interview, in dem er davor warnte, dass eine Umsetzung der französischen Pläne das deutsche Volk so sehr reizen würde, dass es in mittlerer Zukunft zu einem Revanchekrieg kommen würde9. Auch mit dem amerikanischen Offizier Arthur Conger führte er im März und im Mai 1919 Gespräche. Beim ersten Besuch seines früheren Schülers versuchte Delbrück die Furcht vor dem Bolschewismus zu instrumentalisieren: Wenn die Siegermächte ihre Deutschlandpolitik fortführten, werde das deutsche Volk so verzweifelt werden, dass es in die Arme der Bolschewiki getrieben werde und sich womöglich mit ihnen verbünde, um gegen die Westmächte vorzugehen10. 8 Einen Überblick über die bisherigen Forschungen zum Versailler Vertrag und die noch offenen Fragen bieten Boemeke / Feldman / Glaser, Treaty. Die Tendenz in der Bewertung geht dahin, dass der Vertrag bei allen Schwächen doch der bestmögliche Kompromiss gewesen war. 9 Anfrage der Associated Press an Delbrück vom 4. Januar 1919 mit der handschriftlichen Notiz von Delbrück »14.1.19 geschrieben«, in: SBB NL Delbrück, Briefe AP, Bl. 2; Interview für die AP von Januar 1919, in: BArch N 1017/16. 10 Aufzeichnung über ein Gespräch Delbrücks mit Conger vom 20. März 1919, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 27. Auch im Aprilheft seiner »Preußischen Jahrbücher« äußerte Delbrück die Vorstellung, es sei denkbar, dass sich der Bolschewismus auch bei den »zur Verzweiflung gebrachten Deutschen« ausbreiten könnte (Hans Delbrück: »Gegen oder mit dem Bolschewismus?«, in: PJb 176 (1919), S. 152–155, Zitat S. 154). Diese Argumentation wurde auch

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Zudem entstand im Februar 1919 auf Anregung des Prinzen Max eine »Arbeitsgemeinschaft für eine Politik des Rechts«, genannt »Heidelberger Vereinigung«. Das Ziel dieser Honorationenvereinigung war, eine wissenschaftliche Klärung der Kriegsschuldfrage auf internationaler Ebene zu erreichen und damit zu verhindern, dass dieser Komplex in die Friedensverhandlungen zum Nachteil Deutschlands mit einbezogen würden. Mitglieder waren neben Hans Delbrück, Max Weber, Max Montgelas und Albrecht Mendelssohn-Bartholdy, ausschließlich Persönlichkeiten, die im Weltkrieg zu den Anhängern eines Verständigungsfriedens gehört hatten11. Von besonderer Bedeutung war Delbrücks eingangs zitierter Artikel in den »Preußischen Jahrbüchern« vom Mai, in dem er gegen die Friedensbedingungen schrieb. Im Auswärtigen Amt (AA) wurden die Zeilen sehr wohlwollend aufgenommen. Man schrieb Delbrück, der Aufsatz würde »die denkbar beste Wirkung haben« und übersandte ihn der Delegation in Versailles12. Auch sein Aufsatz aus dem Februarheft war im AA auf Zustimmung gestoßen. Der deutsche Delegationsleiter in Versailles, Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau, hatte Delbrück am 11. Februar geschrieben, er halte es für »zweckmäßig«, wenn dieser in den USA bekannt würde13. Delbrück hatte sich darin mit dem Durchmarsch durch Belgien beschäftigt und den deutschen Standpunkt einer gerechtfertigten Notlage unterstrichen14. Als der Franzose Ernest Lavisse in der »Temps« am 2. Mai schwere Anklagen an Deutschland hinsichtlich der Kriegsschuld erhob und Delbrück diese in der »Deutschen Allgemeinen Zeitung« am 6. Mai zurückwies15, machte sich Delbrück erneut in der Öffentlichkeit einen Namen auf dem Gebiet der Kriegsschuldfrage. Diese aktuellen Arbeiten Delbrücks, aber auch sein internationaler Ruf als unabhängiger, herausragender Geschichts­ wissenschaftler sowie seine scharfe Distanzierung vom alldeutschen Kriegszielprogramm hatten dazu geführt, dass er am 14. Mai die Aufforderung erhielt, unverzüglich nach Versailles zu reisen16. amtlicherseits angewandt. Man nutzte das Schreckgespenst des Bolschewismus, um mildere Friedensbedingungen zu erhalten. Klein, Compiègne, S. 211 f, weist hin auf die Rückwirkung, die die Nutzung dieses Arguments dabei hatte: Um die Glaubwürdigkeit zu steigern, wurde der Kampf gegen den Kommunismus schärfer geführt als eigentlich gewollt. 11 Vgl. Jäger, Forschung, S. 27–30. Der Aufruf vom 7. Februar 1919 ist in: SBB NL Delbrück, Briefe Arbeitsgemeinschaft Politik des Rechts, Bl. 1–3. 12 AA an Delbrück am 7. Mai 1919, in: ebd., Briefe Auswärtiges Amt Nachr. Abt., Bl. 3. 13 Brockdorff-Rantzau an Delbrück am 11. Februar 1919, in: ebd., Briefe Auswärtiges Amt, Bl. 5. 14 Hans Delbrück: »Die deutsche Kriegserklärung 1914 und der Einmarsch in Belgien«, in: PJb 175 (1919), S. 271–280. 15 Siehe hierzu Kapitel IV.4.a). 16 Lina Delbrück an ihre Mutter am 15. Mai 1919, Abschrift in: BArch N 1017/78, S. 245. Im August erstattete das AA Hans Delbrück 2.000 Mark für den Ausfall seiner Vorlesungsgelder (AA an Delbrück am 3. August 1919, in: SBB NL Delbrück, Briefe AA, Bl. 6). Das Ansehen, das Delbrück genoss, wird auch deutlich an einem Schreiben von Otto Lehmann-Rußbüldt, der eine ganz andere Auffassung zur Kriegsschuld vertrat: Zwei Tage vor Delbrücks Beru-

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Brockdorff-Rantzau hatte ihn zusammen mit Albrecht Mendelssohn-Bartholdy, Max Montgelas und Max Weber in eine Kommission berufen zur Klärung der Kriegsschuldfrage (Viererkommission). Die Aufgabe der vier Männer bestand darin, die (inoffizielle) Denkschrift der alliierten Kommission zur Kriegsschuldfrage zurückzuweisen. Diese Kommission unter dem Vorsitz des USAußenministers Robert Lansing hatte im März und April einen einseitigen und in vielen Details unhaltbaren Bericht erarbeitet, der Berlin und Wien die alleinige Schuld an dem grässlichen Massentöten zuschrieb. Man formulierte, »daß die Verantwortung [für den Kriegsausbruch, d. Vf.] in vollem Umfange den Mächten zukommt, die ihn erklärt haben, um einer Angriffspolitik zu dienen, deren Verheimlichung dem Ursprunge dieses Krieges den Charakter einer geheimen Verschwörung gegen den europäischen Frieden verleiht.«17

Wie kam diese unzutreffende These zustande? Das lag zum einen in dem militärischen Sieg begründet, der den Alliierten schlichtweg die Macht dazu gab, diese Erklärung als moralische Rechtfertigung vor den Völkern der Welt für den furchtbaren Krieg und die Friedensbedingungen zu nutzen. Zum anderen lag dies aber auch an der Art und Weise, wie Deutschland vor und während des Krieges in der Welt aufgetreten war. Der deutsche Überfall auf Belgien, mit dem der Krieg begonnen hatte, war das beste Beispiel hierfür: Aus deutscher Sicht war dieser einer Notlage entsprungen, weil es der einzige Weg zu sein schien, mit dem die Existenz des Deutschen Reichs gerettet werden konnte. Die übrige Welt sah hierin aber nur eine unprovozierte Aktion des Hohenzollernreichs, die nur einen Grund haben konnte, nämlich Kriegslust und Eroberungssucht. Deutschland hatte vor dem Krieg keine expansiven Pläne in Europa verfolgt. Die Weltpolitik, die es betrieb, fand außerhalb Europas auf vergleichsweise unwichtigen Schauplätzen statt. Das Reich war auch nicht übermäßig militarisiert, im Vergleich zu Frankreich und Russland bildete es weniger Soldaten pro Einwohner aus und auch der Rüstungsetat war im europäischen Mittelmaß. Dass es dennoch im Rest der Welt als aggressiv und gefährlich galt, lag an vielen Fehlern der deutschen Diplomatie, an häufig ungeschicktem Auftreten und an der besonderen Wertschätzung der Armee im Deutschen Kaiserreich, das sich im 19. Jahrhundert durch drei »Reichseinigungskriege« gegründet hatte. fung hatte der Pazifist an Delbrück geschrieben, wie sehr er es bedauere, dass Delbrück nicht Teil der Delegation sei (Lehmann-Rußbüldt an Delbrück am 12. Mai 1919, in: ebd., Briefe Lehmann-Rußbüldt, Bl. 26 f). Die Einbindung von Intellektuellen in die Friedensverhandlungen durch das AA war nicht ungewöhnlich. So hatte z. B. auch Friedrich Meinecke den Auftrag erhalten, eine Denkschrift zu erstellen, die die historischen Rechte Deutschlands auf die linksrheinischen Gebiete auseinandersetzen sollte (Meinecke, Straßburg, S. 260). 17 Weiter hieß es: »Der Krieg ist von den Zentralmächten ebenso wie von ihren Verbündeten, der Türkei und Bulgarien, mit Vorbedacht geplant worden und er ist das Ergebnis von Handlungen, die vorsätzlich und in der Absicht begangen wurden, ihn unabwendbar zu machen.« (Der alliierte Kommissionsbericht samt Übersetzung ist abgedruckt in: Deutsches Weißbuch, S. 15–61, Zitate S. 36, 44).

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Auch wenn die Denkschrift der deutschen Delegation nicht offiziell übergeben worden ist und damit rein formal keine Bedeutung bei den Verhandlungen erlangte, spielte sie eine wichtige Rolle. Denn auf Umwegen war der Inhalt sehr wohl den Deutschen zur Kenntnis gelangt, und Brockdorff-Rantzau erblickte darin die Möglichkeit, mittels einer sachlichen Widerlegung der Vorwürfe das Fundament der Friedensbedingungen erschüttern zu können18. Als Hans Delbrück am 20. Mai nach kurzer, aber intensiver Vorbereitung19 in Paris ankam, schrieb er seiner Frau Lina voller Zuversicht, mit Brockdorff-Rantzau und den drei anderen seiner Kommission entwickle sich ein »[s]ehr gutes gegenseitiges Einverständnis. Ich habe den Eindruck, dass ich hier nicht unnützlich bin.«20 Die weiteren Briefe, die er wie immer, wenn er von seiner Frau getrennt war, täglich an sie verfasste, geben einen eindrucksvollen Blick in den rapiden Wandel seiner Einschätzung der Verhandlungen. Am Folgetag hieß es bereits aus dem Hotel des Réservoirs: »Aber alles, war [sic] wir erreichen können, ist höchstens, dass wir noch leben, aber ein Leben, von dem man zweifelt, ob es noch des Lebens wert ist. Tief traurig, in äußerem Wohlsein, mit stetem Gedanken an Dich und die Kinder D. H. [Dein Hans, d. Vf.]«. Da hatte er festgestellt, dass es gar keine echten Verhandlungen gab, sondern die deutsche Delegation nur schriftlich ihre Meinungen mitteilen durfte21. Am 22. Mai teilte er seiner Frau 18 Zur Strategie Brockdorff-Rantzaus in Versailles vgl. Wengst, Brockdorff-Rantzau, S. ­52–60. Siehe auch Dreyer / Lembcke, Diskussion, S. 131–153. Brockdorff-Rantzau hatte in einer Note vom 13. Mai die Alliierten um offizielle Überreichung der Denkschrift gebeten, da er in ihr den Hebel sah, den Vertragsentwurf vom 7. Mai abzuändern (in: Weißbuch, S. 5 f). Das AA hatte am 7. Mai den vollständigen Text nach Versailles geschickt, den die deutsche Gesandtschaft in Den Haag beschafft hatte (vgl. Dickmann, Kriegsschuldfrage, S. 83). Am selben Tag erging an die vier Sachverständigen die Aufforderung, nach Versailles zu reisen, was Delbrücks (und die der anderen drei) Bedeutung für die deutsche Verhandlungsführung unterstreicht. 19 Delbrück hatte sich zunächst eingehend mit den Akten befasst und war kurzfristig zu Bethmann Hollweg nach Hohenfinow gefahren, um sich mit ihm über die wesentlichen Vorgänge in der Julikrise auszutauschen (Lina Delbrück an ihre Mutter Johanna Thiersch am 15. Mai 1919, Abschrift in: BArch N 1017/78, S. 245). Außerdem hatte er darüber auch mit dem damaligen Staatssekretär des Auswärtigen Gottlieb von Jagow korrespondiert (Delbrück an Jagow am 17. Mai 1919, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 119.7a) sowie mit dem aktuellen Reichsinnenminister Eduard David und dem Bearbeiter der diplomatischen Akten Karl Kautsky (Delbrück an David am 17. Mai 1919, in: ebd., Fasz. 107.2). 20 Zugleich beklagte er sich über die Differenzen zwischen der Reichsregierung und der Delegation in Frankreich und gab klar zu erkennen, dass er den Kurs Brockdorff-Rantzaus unterstützte (Hans Delbrück an Lina Delbrück am 20. Mai 1919, Abschrift in: BArch N 1017/78, S. 246 f). Zu den Eigenmächtigkeiten Brockdorff-Rantzaus speziell in der Schuldfrage, teils gegen ausdrückliche Weisung des Kabinetts vgl. Dreyer / Lembcke, Diskussion, S. 141–143. 21 Hans Delbrück an Lina Delbrück am 21. Mai 1919, Abschrift in: BArch N 1017/78, S. 248. Über das Hotel des Réservoirs als gemeinsame Unterkunft berichtete später Bernhard Wilhelm von Bülow, der Kriegsschuldexperte im AA, in einem Brief an Hans Delbrück am 10. November 1928, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 6.1.

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mit, er »arbeite mit höchster Anspannung. […] Ob meine Arbeit Beifall finden wird, steht noch dahin. Politisch Hoffnungsvolleres habe ich nicht zu melden.«22 Drückten diese Zeilen lediglich Zweifel an dem Inhalt seiner und der anderen Kommissionsmitglieder Arbeit aus, zeigte er sich wieder einen Tag später allerdings völlig desillusioniert über die Wirkung seiner Arbeit an sich: »Auf die entscheidenden Beschlüsse werde ich schwerlich so viel Einfluss gewinnen, um deshalb länger hier zu weilen.«23 Als Hans Delbrück am 24. Mai seiner Frau über den Abschluss seiner Arbeit berichtete, kommentierte er diese nur noch mit den Worten: »Ich sehe sehr schwarz, wie hier alle Welt. […] Mein liebes Herz, es bleibt nur, dass wir Beide [sic] zusammen und mit unseren Kindern eine herzliche Gemeinschaft bilden, die keine feindliche Gewalt zerstören kann. In Treue Dein Hans.«24 Dieser vollständige Wandel in Delbrücks Beurteilung der Versailler Konferenz innerhalb kürzester Zeit hatte zwei Gründe: Zum einen stellte er fest, dass seine persönliche Arbeit innerhalb der deutschen Politik keinen nennenswerten Einfluss ausüben konnte, sondern dass die Viererkommission nur einen fest umrissenen Auftrag ausführen sollte25. Zum anderen erfuhr er, dass die Deutschen generell fast keine Möglichkeit erhielten, sich an den Verhandlungen zu beteiligen, sondern dass sie von den alliierten Regierungen nahezu vollständig ausgeschlossen wurden. Inhaltlich hatten die vier Sachverständigen eine Untersuchung zu den Vorgängen des Kriegsausbruchs vorgelegt, die wenig später in zahlreichen Zeitungen und auch im »Deutschen Weißbuch« abgedruckt wurde und somit eine ganz erhebliche Wirkung in der Öffentlichkeit erzielte, da sie die erste ihrer Art war und durch die Prominenz der Autoren aufgewertet wurde. Zunächst hatten die vier in ihrer Denkschrift die Forderung aufgestellt, einer neutralen Kommission die Untersuchung über die Ursachen des Weltkriegs zu übertragen, die allein über die nötige Unparteilichkeit verfügen könne. Im Folgenden gaben 22 23 24 25

Hans Delbrück an Lina Delbrück am 22. Mai 1919, Abschrift in: BArch N 1017/78, S. 249. Hans Delbrück an Lina Delbrück am 23. Mai 1919, Abschrift in: ebd., S. 250. Hans Delbrück an Lina Delbrück am 24. Mai 1919, Abschrift in: ebd., S. 251. Bisweilen wird die Ansicht vertreten, Delbrück und die anderen drei seien nur noch gerufen worden, um mit ihrer Autorität das angeblich bereits fertige Schriftstück aufzuwerten (z. B. bei Heinemann, Niederlage, S. 45; Dickmann, Kriegsschuldfrage, S. 86 f). Diese These basiert auf dem Telegramm Brockdorffs an seine Zentrale, in dem er schrieb: »Das erforderliche Material ist hier, die Erwiderung nahezu fertiggestellt. Es kommt darauf an, den Wert unseres Materials durch die Autorität dieser Herren zu erhöhen« (Telegramm Nr. P. 92 vom 13. Mai, in: ADAP, A II, Dok. Nr. 28, S. 49–51). Dem muss hingegen schon deshalb widersprochen werden, weil Delbrück einen eigenen Entwurf erstellte, dem die Endfassung in ihren wesentlichen Zügen folgte. Delbrück war außerdem ein viel zu unabhängiger Denker, als dass er sich an solcher Stelle hätte instrumentalisieren lassen. Zudem zeigen Delbrücks Briefe eindeutig, welche Arbeitskraft die vier Sachverständigen tagelang investierten. Dass das Memorandum am Ende in die außenpolitische Linie passte, ist wiederum völlig selbstverständlich bei einem Thema von derartiger Dimension. Brockdorff-Rantzau hätte der Entente keinen Text überreicht, hinter dem er nicht selber stand.

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sie auch einzelne, kritische Punkte im deutschen Verhalten zu, die einer näheren und unabhängigen Untersuchung bedürften, und räumten offen Fehler der deutschen Diplomatie ein. Zur Julikrise bemerkten sie, dass das Bestreben der Habsburgermonarchie, in Anbetracht des serbischen Expansionismus eine begrenzte, gewaltsame Aktion vorzunehmen, vollauf berechtigt gewesen sei. Sodann stellten sie fest, dass das Deutsche Reich dieses Vorgehen zwar unterstützt hätte, jedoch sehr darum bemüht gewesen sei, den Konflikt auf dem Balkan zu lokalisieren und dessen Ausweitung zu verhindern. Eine schwere Verantwortung schoben sie Russland zu, das im entscheidenden Moment am 29. Juli 1914, als eine Verständigung möglich zu werden schien, durch die Mobilmachung die Krise entscheidend verschärft hätte. Hierdurch sei Deutschland zum Krieg gezwungen worden, da ein längeres Abwarten und Verhandeln in Anbetracht der unmittelbaren Kriegsgefahr nicht zu verantworten gewesen wäre. Sie führten eine Unterscheidung ein zwischen der militärisch offensiven Kriegsführung der Mittelmächte und der politischen Defensive26. In der alliierten Denkschrift seien diese Zusammenhänge mit keinem Wort erwähnt worden. Die »wirkliche Ursache der Entstehung des Weltkrieges« sahen die vier Sachverständigen in dem Bestreben Russlands, die Kontrolle über die strategischen Meerengen bei Konstantinopel zu erzielen, was nur möglich gewesen sei durch eine Destabilisierung des Balkans, die zwingend die staatliche Integrität Österreich-Ungarns zerstört hätte27. Das Memorandum war insgesamt durchaus auf Verständigung ausgerichtet und enthielt das klare Bekenntnis, dass das Deutsche Reich vor dem Weltkrieg Fehler begangen habe, die zur Verschärfung der gespannten Lage in Europa beigetragen hätten. Eine Schuld am Kriegsausbruch oder gar einen Vorsatz wiesen die vier Männer von Weltruf jedoch in aller Deutlichkeit zurück. Sie setzten sich dabei detailliert mit den einzelnen Vorwürfen in der alliierten Denkschrift auseinander und konnten viele Punkte widerlegen. Im Vergleich der beiden Schriften nach 100 Jahren sticht die deutsche Darlegung in der Tat positiv hervor. So sehr man auch die Umstände berücksichtigen muss, unter denen die Deutschen ihre Ausführungen machten  – sie waren die Besiegten und konnten taktisch überhaupt nur etwas erreichen, wenn sie ihren Gegnern entgegenkamen,  –, kamen sie den Verhältnissen im Europa von 1914 wesentlich näher als die Verfasser der alliierten Denkschrift. Deren Text war ausgesprochen einseitig verfasst, ließ wichtige Zusammenhänge der politischen Entwicklung vor 1914 unerwähnt und war von dem Bemühen gekennzeichnet, irgendwelche Belege für die (angebliche) Schuld und Verantwortung der Mittelmächte zu erbringen. Die Denkschrift der Viererkommission zielte mehr darauf ab, die nationalistisch aufgeheizte Atmosphäre im imperialen Zeitalter darzulegen, an der alle Großmächte ihren Anteil gehabt hatten. Für die schließliche Eskalation im Sommer 1914 machten sie hauptsächlich das russische Expansionsstreben verantwort26 Zum deutschen Kriegsplan siehe Kapitel V.1. 27 Weißbuch, S. 63–77, Zitat S. 74.

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lich. Dafür hatten sie zwar gute Argumente, dennoch war dies mit Sicherheit auch zu einem gewissen Grad der Taktik geschuldet, die Verantwortung auf diejenige Großmacht zu schieben, die sich durch eine Revolution aus dem Kreis der Westmächte herausgezogen hatte und ohnehin mit den aktuellen Verhandlungen nicht befasst war. Die Endfassung der deutschen Denkschrift vom 27. Mai, die den Alliierten am 28. Mai offiziell übergeben wurde28, war das Ergebnis der tagelangen Beratung von vier Männern – also zwangsläufig ein Kompromiss. Der erste Entwurf, den Hans Delbrück verfasst hatte, war auch tatsächlich deutlich schärfer formuliert gewesen: Eingeständnisse im Hinblick auf deutsche Fehler und Torheiten fanden sich in der Schrift kaum, dafür erheblich schwerere Anklagen an Russland. Die Endversion folgte dennoch in ihren großen Zügen Delbrücks erstem Entwurf, indem sie den Balkan-Konflikt und die russische Europapolitik zu ihrem Schwerpunkt machte. Delbrück setzte sich mit den panslawistischen Bestrebungen auseinander und sprach im Hinblick auf Wiens Vorgehen gegen Serbien nach dem Thronfolgermord von der »Abwendung einer Lebensgefahr« für Österreich-Ungarn. Das Attentat sei unmittelbarer Ausdruck der Expansionsbestrebungen Serbiens gewesen, die sich auch auf Territorien der Habsburgermonarchie gerichtet hätten. Die Krise hätte einen glimpflichen Ausgang nehmen können, wenn nicht Russland in dem Moment des Beginns einer Entspannung die Mobilmachung angeordnet hätte. Diese sei zurückzuführen auf das aggressive Bestreben Russlands in die Richtung der Meerengen bei Konstantinopel. Delbrück unterstellte dem Zarenreich einen Vorsatz zum Krieg, als er schrieb: »Deutschland […] musste, und die russischen Staatsmänner und Generale wussten das, die russische Mobilmachung nicht nur mit der eigenen Mobilmachung, sondern mit der Kriegserklärung beantworten.« Das Zarenreich habe die Gelegenheit der Julikrise nutzen wollen zur Verwirklichung seiner geostrategischen Ziele, die eben nur durch einen Krieg gegen die Mittelmächte erreichbar gewesen seien29. Diese Fixierung auf Russland konnte Delbrück auch in der Endfassung durchsetzen. Es gab mehrere Gründe dafür, warum die Endversion der Viererkommission moderater formuliert war als Delbrücks Ursprungsentwurf. Zunächst hatten seine drei Mitsachverständigen eine deutschlandkritischere Haltung als er. Zwar war keiner der Männer Sozialist oder Pazifist – sie waren alle überzeugte Träger der wilhelminischen Monarchie gewesen. Insofern standen sie sich weltanschaulich durchaus nahe. Aber Max Montgelas zum Beispiel, der sich nach Versailles zu einem der wichtigsten politischen Freunde Delbrücks entwickelte, 28 Note von Brockdorff-Rantzau an Clemenceau vom 28. Mai 1919, in: Weißbuch, S. 62. 29 16-seitiger Entwurf Delbrücks für die Versailler Denkschrift, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 27. Bereits im Aprilheft seiner »Preußischen Jahrbücher« – also vor seiner Reise nach Versailles  – hatte Delbrück Russland die maßgebliche Kriegsschuld zugewiesen, allerdings noch in etwas abgeschwächter Form. Wichtig war ihm aber auch hier, England zu entlasten. (Hans Delbrück: »Schuldbekenntnisse«, in: PJb 176 (1919), S. 141–152).

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beurteilte die deutsche Kriegsführung (zu diesem Zeipunkt noch) durchaus negativ. Zu Kriegsbeginn war er als Divisionskommandeur an der Westfront unmittelbar in die militärischen Aktionen eingebunden gewesen. Er hatte aber früh Kritik am deutschen Einmarsch in Belgien und an von Deutschen verübten Kriegsverbrechen geübt, sodass er nach wenigen Monaten zur Disposition gestellt worden war und den Rest des Krieges als Zuschauer verbracht hatte. Dies qualifizierte den General in den Augen der deutschen Verhandlungsführung in Versailles für die Abwehr der alliierten Vorwürfe. Der Soziologe Max Weber, der sich genauso wie Delbrück stets von den alldeutschen Kriegszielen distanziert hatte, stand politisch weiter links als der Historiker. Weber hatte sehr frühzeitig die Herrschaftsstrukturen im Kaiserreich in Frage gestellt30. Als ein Intellektueller von Weltruf war auch er aus politisch-taktischen Gründen der deutschen Delegation willkommen. Albrecht Mendelssohn-Bartholdy als viertes Mitglied der Kommission war berufen worden, um einen unabhängig denkenden Juristen dabei zu haben. Als Völkerrechtler war auch er international angesehen31. So drangen Delbrücks Kollegen auf eine deutlich konziliantere Form der Denkschrift, wenngleich Delbrück in Relation zu den meisten anderen deutschen Intellektuellen bereits sehr moderat gesinnt war. Ein weiterer Aspekt, der zu einer Abschwächung von Delbrücks Urfassung führte, war die Tatsache, dass die Viererkommission zu Beginn unzureichend informiert gewesen war über den genauen Sinn und das Ziel ihrer Arbeit. Sie war zunächst davon ausgegangen, dass ihr Memorandum einen privaten Charakter tragen solle. Als klar wurde, dass das Ergebnis der Entente amtlich übergeben werden würde, ergab sich die Notwendigkeit, den Text abzuschwächen32. So schrieb Delbrück am 23. Mai seiner Frau: »Mit meiner ersten Niederschrift hatte ich noch nicht den für die Lage und den Zweck richtigen Ton getroffen, und wir sitzen jetzt täglich zu fünf [sic] zusammen, um einen gemeinsamen Be-

30 Vgl. hierzu Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, S. 27 f und passim zu Max Webers allgemeiner politischer Entwicklung. 31 Die Stadt Hamburg hat Albrecht Mendelssohn-Bartholdy im Herbst 2015 mit einer Gedenktafel für das von ihm gegründete und bis 1933 geleitete »Institut für Auswärtige Politik«, eine Art Friedensforschungsinstitut, geehrt. In dem Zusammenhang sagte der Sozialdemokrat Klaus von Dohnanyi, Hamburgs Erster Bürgermeister in den Jahren 1981–1988, Mendelssohn-Bartholdy habe »die großen Gefahren voraus[gesehen], die von der einseitigen Beschuldigung Deutschlands als angeblich alleinigem Verursacher des Ersten Weltkriegs ausgehen könnten. Durch eine sorgfältige Aktenpublikation wollten sie [Mendelssohn-Bartholdy und seine Institutskollegen, d. Vf.] der Wahrheit eine Gasse zum stabilen Frieden bahnen. Dass dies damals nicht gelang, sollte uns heute ermahnen, den Ursachen der Konflikte unserer Tage unvoreingenommen und ohne einseitige Beschuldigungen zu begegnen.« (»Gedenktafel zur Erinnerung an das ›Institut für Auswärtige Politik‹ enthüllt«, Pressemitteilung des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg vom 2. Oktober 2015, http://www.hamburg.de/pressearchiv-fhh/4610374/2015-10-02-pr-gedenktafel-friedensinstitut/, abgerufen am 23. November 2015). 32 Vgl. Wolfgang J. Mommsen, Max Weber and the peace treaty of Versailles, S. 542 f.

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richt zu redigieren. Das ist sehr mühevoll.«33 Tags darauf berichtete er ihr, die Arbeit sei nun abgeschlossen und man warte auf die Rückmeldung der Reichsregierung. Er sei »leidlich zufrieden, aber zu besonderem Lobe wird sie uns nicht gerechnet werden. Vier zusammen gibt immer etwas Farbloses«34. Deutlich wird hier, wie schwer Delbrück sich damit tat, in einer Kommission gemeinschaftlich eine Entschließung zu erarbeiten. In den Folgejahren kam er häufiger in solche Situationen, in Versailles war es aber das erste Mal. Bisher war er gewohnt gewesen, sich als unabhängiger Denker mit niemandem auf einen Kompromiss einigen zu müssen. Delbrück selbst reflektierte über seine Tätigkeit in Versailles am 12. Juni in einem Brief an den Reichskanzler a. D. Theobald von Bethmann Hollweg. Er fand lobende Worte für Brockdorff-Rantzau und schrieb, nur ihm sei es zu verdanken, dass die Viererkommission ihre Denkschrift habe »durchsetzen können., [sic] weil sie vielen Leuten in der Delegation wie in der Regierung zu günstig für Deutschland erschien.« Dennoch sei ihm, Delbrück, die Unterzeichnung der Denkschrift »sauer geworden«35. Bethmann erwiderte: »Aber ich verstehe vollkommen, daß Sie bei der von Ihnen geschilderten Stimmung in den Kreisen der Kommission einen dornigen Stand hatten und bin aufrichtig dankbar, daß es so sichtlich Ihrem Einfluß gelungen ist, wenigstens einer Fassung der Denkschrift vorzubeugen, die die geschichtlichen Tatsachen geradezu auf den Kopf gestellt hätte und damit zwar parteipolitischen Tagesinteressen vielleicht dienlich, als historisch unwahr aber auf die Dauer verhängnisvoll gewesen wäre.«36

Deutlich wird, dass Hans Delbrück eine gewichtige Rolle in Versailles gespielt und maßgeblichen Einfluss auf den Bericht der Viererkommission genommen hat, dass diesem Einfluss aber auch Grenzen gesetzt waren und er sich auch auf einen Kompromiss einlassen musste. Seine eigenen Ansichten zur Schuldfrage, von denen er in Versailles ein Stück weit hatte abrücken müssen, setzte er dann im Juniheft seiner »Preußischen Jahrbücher« der Öffentlichkeit aus­einander. Dieser Text folgte inhaltlich weitgehend seinem ersten Entwurf für die Viererkommission, indem er einen festen Vorsatz zum Weltkrieg bei Russland behauptete und das Verhalten Deutschlands als Vermittlung bezeichnete37. An 33 Weiter hieß es: »Max Weber erweist sich dabei als sehr einsichtig und verständig. Graf Montgelas hat den Entwurf gemacht. Es [sic] ist im Grunde des Herzens Pacifist, ebenso Professor Mendelssohn-Bartholdy (aus Würzburg), aber es gelingt uns schließlich, Formeln zu finden, auf die wir uns einigen können.« (Hans Delbrück an Lina Delbrück am 23. Mai 1919, Abschrift in: BArch N 1017/78, S. 250). Der fünfte Mann war Bernhard Wilhelm von Bülow, der Kriegsschuldexperte im AA. 34 Bülow war wohl außerordentlich zufrieden mit der Fassung (Hans Delbrück an Lina­ Delbrück am 24. Mai 1919, Abschrift in: BArch N 1017/78, S. 251). 35 Delbrück an Bethmann Hollweg am 12. Juni 1919, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Bethmann, Bl. 17 f. 36 Bethmann an Delbrück am 16. Juni 1919, in: ebd., Briefe Bethmann, Bl. 47 f. 37 Hans Delbrück: »Die Verantwortungs-Frage«, in: PJb 176 (1919), S. 479–486.

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anderer Stelle, in der »Deutschen Allgemeinen Zeitung«, veröffentlichte Delbrück fast zeitgleich eine Besprechung der Memoiren Bethmanns und bekannte dort, die Viererkommission habe an Bethmanns Handeln in der Julikrise harte Maßstäbe angelegt. Dies sei aber nötig gewesen, um dem Vorwurf der Apologie entgegenzutreten38. Die Denkschrift war also das äußerste, was man in Deutschland an Entgegenkommen zu zeigen bereit gewesen war. Als sich im weiteren Verlauf der Friedensverhandlungen zeigte, dass Deutschland nicht auf eine Milderung hoffen durfte und alle Arbeit in Versailles insofern umsonst war, zog Delbrück »[d]ie letzte Konsequenz« und empfahl der Reichsregierung, den Vertrag nicht zu unterschreiben, gleichzeitig den Krieg für beendet zu erklären und die Regierung Deutschlands den alliierten Mächten zu übertragen. Damit würde man die Entente vor die Wahl stellen, entweder den versprochenen Wilsonfrieden anzubieten, oder eben Deutschland tatsächlich niederzuwerfen und es nicht bei einer bloßen »Scheinsouveränität« zu belassen. Indem man mit dieser Haltung den Alliierten »die Unmöglichkeit ihrer Gewaltpolitik« demonstrieren würde, werde man eine Milderung des Friedens erzielen39. Delbrücks Kalkül war noch ein weiteres: Sollte der Versuch scheitern, die Friedensbedingungen auf solchem Wege zu mildern, wäre der Vertrag in der Weltöffentlichkeit desavouiert, da er dann tatsächlich nur noch mittels unmittelbarer Gewaltanwendung durchzusetzen wäre40. Eine solche Taktik war der Versuch einer Erpressung. Sie war zudem in hohem Maße verantwortungslos, und Delbrück hätte wissen müssen, dass sie für das Reich in einer Katastrophe hätte enden können. Bereits im Mai, kurz vor seiner Abreise nach Frankreich, hatte Delbrück mit diesem Gedanken gespielt. In einem Gespräch mit dem US-Offizier ­Conger hatte er mit einem solchen Vorgehen Deutschlands gedroht, sollten die Bedingungen nicht gemildert werden41. Dass er dies in diesem Gespräch tat, belegt deutlich die vor allem taktische Absicht des Delbrückschen Vorschlags, weil zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der Weise absehbar war, dass Deutschland keine Verbesserungen des Vertrages erzielen konnte. Vergleichbare Äußerungen Delbrücks an anderen Stellen unterstreichen ebenfalls die eher taktische Absicht. Am 21. Mai, seinem zweiten Tag in Versailles, riet er Justizminister Otto Landsberg, der auch in Frankreich war, die ganze Delegation abzuziehen, um Protest gegen die rein schriftliche Form der Verhandlungen auszudrücken42. Einen Tag zuvor hatte Delbrück dem mitgereisten Journalisten Ernst Friedegg 38 Hans Delbrück: »Bethmanns Buch«, in: DAZ, 58. Jg., Nr. 278 vom 11. Juni 1919, in: BArch N 1017/2. 39 Denkschrift Delbrücks vom Juni 1919 mit dem Titel »Die letzte Konsequenz«, in: ebd. 40 Delbrücks Memorandum vom 6. Juni 1919 mit dem Titel »Verweigerung des Friedensschlusses« in: SBB NL Delbrück, Fasz. 67.1. 41 Delbrück teilte Conger mit, dieser Gedanke werde zur Zeit »in weiten Kreisen von Deutschland erörtert« (Aufzeichnung über ein Gespräch mit Conger am 18. Mai 1919, in: ebd., Fasz. 27). 42 Hans Delbrück an Lina Delbrück am 21. Mai 1919, Abschrift in: BArch N 1017/78, S. 248.

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ein Interview gegeben43, das am 22. Mai in der »Neuen Berliner Zeitung« erschien. Hier warnte Delbrück davor, den Vertrag in der vorliegenden Form zu unterzeichnen, da dann die pazifistischen Kräfte in den Ländern der Entente geschwächt würden. Diese könnten dann nicht mehr argumentieren, dass der Friede unmöglich sei und die radikalen Kräfte würden dort dominieren44. Und noch am 12. Juni schrieb Delbrück dem ehemaligen Reichskanzler Bethmann Hollweg, er sei sicher, »wesentliche Verbesserungen« zu erzielen, »[w]enn wir jetzt fest bleiben«45. Dies alles unterlegt also, dass Delbrück tatsächlich an einen Erfolg konfrontativer Taktik glaubte. All diese Ausführungen kennzeichnen eine Taktik, die einem Vabanquespiel gleichkam. So sehr man deutscherseits mit guten Argumenten Kritik an der Form der Verhandlungen und dem Inhalt der Bedingungen üben konnte, wäre ein Vorgehen, wie es Delbrück vorschlug, für das Reich erst recht gefährlich geworden. Gerade Brest-Litowsk hatte dies gezeigt: Nur ein Jahr zuvor hatte dort Leo Trotzki mit derselben Taktik versucht, die Friedensverhandlungen zu führen. Die Deutschen hatten diese Haltung Russlands brutal ausgenutzt und mit schlichter Gewalt beantwortet. Der Friedensplan, den Deutschland Russland zunächst vorgelegt hatte, war einem Verständigungsfrieden nach Delbrücks Vorstellung durchaus nahegekommen. Nachdem aber Trotzki sich geweigert hatte, diesen anzunehmen und den Krieg einfach ohne Vertrag für beendet erklärt hatte, setzten sich in Deutschland die militärischen, radikalen Kräfte durch. Der Frieden, den Russland wenige Monate später durch Gewalt zu unterschreiben gezwungen war, war dann ein Siegfrieden nach dem Muster der Alldeutschen46. Das Gleiche war auch umgekehrt in Versailles zu erwarten, weshalb Delbrücks Plädoyer schlicht verantwortungslos bleibt und sich nur mit einem hohen Grad an Resignation darüber, dass die Entente zu keiner Veränderung bereit war, erklären lässt. Aber er war nicht der einzige Deutsche, der sich mit solchen Gedanken beschäftigte, im Gegenteil: Nicht nur sein Kommissionskollege Max Weber schlug vor, den Vertrag abzulehnen und gleichzeitig den Krieg für beendet zu erklären47. Für dieses Vorgehen plädierte schließlich ein Großteil der deutschen Delegation. Am 25. Mai teilte Delbrück seiner Frau mit, der Verhandlungsführer Brockdorff-Rantzau habe sich sehr für seine, Delbrücks, Idee ausgesprochen, »dass wir den Frieden ablehnen sollten in der Form, dass wir die Anderen auf43 Hans Delbrück an Lina Delbrück am 20. Mai 1919, Abschrift in: ebd., S. 246 f. 44 Hans Delbrück: »Wilsons Umfall«, in: Neue Berliner Zeitung, Nr. 110 vom 22. Mai 1919, in: BArch N 1017/2. 45 Delbrück an Bethmann Hollweg am 12. Juni 1919, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Bethmann, Bl. 17 f. 46 Vgl. Baumgart, Brest-Litovsk, S. 64 f. 47 Für Max Weber war die Zurückweisung des Vertrags die einzige Möglichkeit, eine fatale Rückwirkung auf die Innenpolitik zu vermeiden: Die Demokratie als neue Staatsform wäre mit dem Vertrag als oktroyiert betrachtet und nicht akzeptiert worden (Wolfgang J. Mommsen, Max Weber and the peace treaty of Versailles, S. 544 f).

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fordern sollten, unsere Regierung zu übernehmen.«48 Inwieweit also Delbrück auf diese dann von Brockdorff-Rantzau offiziell vertretene Linie Einfluss gehabt hat, ist schwer zu ermessen. Der Diplomat wird diese Handlungsweise auch nur aus eigener Überzeugung der Reichsregierung nahegelegt haben. Dennoch wird ihn die Empfehlung gewichtiger Sachverständiger wie Delbrück und Weber in seiner Auffassung bestärkt haben49. Noch am 19. Juni bekräftigte Delbrück in einem Schreiben an Vizekanzler Bernhard Dernburg, es sei der richtige Weg, den Vertrag abzulehnen und »der Entente die Regierung von Deutschland anzubieten.«50 Die Anspannung, unter der Hans Delbrück litt, illustriert ein Brief seiner Frau an ihre Mutter vom selben Tag, in dem sie einen geplanten Besuch bei ihr in Leipzig absagte mit den Worten: »Hans ist in so schmerzlicher Aufregung in der Voraussicht, dass der Friedensvertrag angenommen wird trotz des Protestes Rantzaus und der ganzen Friedensdelegation, dass ich gerade in den kommenden kritischen Tagen mit ihm zusammen sein möchte.«51 Der Frieden von Brest-Litowsk wirkte noch in anderer Weise auf den Versailler Vertrag. Für die Alliierten war er der Beweis gewesen, dass im Falle eines deutschen Sieges nicht mit Gnade zu rechnen sei. Dies hatte den Kriegswillen der Entente gestärkt und führte in Versailles dazu, wenig Rücksicht auf Deutschland zu nehmen52. Umgekehrt ignorierte man in Deutschland den Brester Frieden und tat in der Mehrheit so, als wäre dieser nicht auch als eine Messlatte für den Versailler Frieden zu betrachten53. Hans Delbrück bildete hier allerdings eine Ausnahme. In seiner Arbeit für den Reichstags-Untersuchungsausschuss54 schrieb er über den Brester Frieden: »[A]uf jeden Fall liegt hier ein Fall des direkten Eingreifens der O. H. L. in die Politik vor, das auch auf die Verhältnisse im Westen eine sehr schwere Rückwirkung ausübte«, da sich die Alliierten in ihrer Auffassung bestätigt fühlten, die rechte Strömung dominiere in Deutschland und ein Verständigungsfrieden sei nicht möglich55. Da Hans Delbrück den Frieden von Brest-Litowsk auch schon zum Zeitpunkt seiner Entstehung kri­tisiert hatte, war er berechtigt, den Versailler Vertrag in gleicher Weise abzulehnen. Dies konnte er allerdings nur als Einzelperson tun – er verschloss 48 Hans Delbrück an Lina Delbrück am 25. Mai 1919, Abschrift in: BArch N 1017/78, S. 252. 49 Zu Brockdorff-Rantzaus Strategie, den Vertrag abzulehnen vgl. Schwabe, Aims, S. 55. Auch andere Politiker hatten bereits vor Übergabe des Vertragsentwurfs am 7. Mai mit einer Nichtunterzeichnung »kokettiert« (Dreyer / Lembcke, Diskussion, S. 111). 50 Delbrück an Dernburg am 19. Juni 1919, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Dernburg, Bl. 1. 51 Lina Delbrück an Johanna Thiersch am 19. Juni 1919, Abschrift in: BArch N 1017/78, S. 252 f. 52 Vgl. Baumgart, Brest-Litovsk, S. 58. 53 Vgl. Winkler, Weimar, S. 96. 54 Siehe hierzu Kapitel V.2. 55 WUA IV,3, S. 327–329, Zitat S. 329. Auch in seiner Schrift »Ludendorffs Selbstporträt« von 1922 betonte Delbrück »die überaus verderblichen Folgen« (S. 32) der Friedensschlüsse von Brest-Litowsk und Bukarest auf den Fortgang des Krieges gegen die Westmächte.

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sich zu sehr der Tatsache, dass die Deutschen in ihrer Mehrzahl anders urteilten und vergaßen, was sie im Krieg noch an Eroberungszielen gefordert hatten. Hans Delbrücks Wirken in Versailles fügte sich ein in die Gesamtstrategie von Brockdorff-Rantzau. Sowohl sein Vorschlag, den Vertrag abzulehnen und der Entente oder dem Völkerbund die Regierung anzutragen, als auch das Ansinnen, die Kriegsschuldfrage in den Mittelpunkt zu stellen, waren Ideen, die beide vertraten. Für den Verhandlungsführer kam es hauptsächlich darauf an, den Vertrag moralisch in der Weltöffentlichkeit zu diskreditieren, um in der Folge einen Ansatzpunkt zur Revision zu haben. Dies tat er, indem er die von den Alliierten zunächst nur beiläufig bearbeitete Schuldfrage in den Fokus rückte56. Dies führte allerdings dazu, dass die Entente ihre Anklagen die Kriegsschuld betreffend überhaupt erst genauer fassten, da sie diese eigentlich nur genutzt hatten als Begründung für die Reparationsforderungen57. Dabei stellt sich die Frage, inwiefern die Siegermächte in Versailles tatsächlich Deutschland eine Alleinschuld am Kriegsausbruch zugeschrieben hatten, oder ob es sich hierbei vielmehr nur um eine Wahrnehmung der Deutschen handelte. Fest steht, dass es insbesondere Frankreich sehr darauf ankam, Deutschland auch moralisch zu diskreditieren. Dies unterstreicht beispielsweise die Tatsache, dass mehrere schwer gesichtsverletzte französische Soldaten während der Unterzeichnung des Vertrages im Raum standen, um den Deutschen ein Gefühl der Schuld zu vermitteln58. Im Vertragstext selbst hieß es in Artikel 231 lediglich: »Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, daß Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben.«59

Dieser Artikel diente im Vertrag lediglich zur juristischen Begründung der dann nachfolgend erläuterten Wiedergutmachungsleistungen. In der Mantelnote vom 16. Juni jedoch, in der die alliierten Mächte Deutschland ultimativ zur Unterzeichnung aufforderten, präzisierten sie die Schuldanklage, und vor allem wurde sie damit zu einem offiziellen Dokument – anders als die Kommissions56 Vgl. Wolfgang J. Mommsen, Der Vertrag von Versailles, S. 357; Schwabe, Gerechtigkeit, S. 85. 57 Dickmann, Kriegsschuldfrage, S. 77 schreibt hierzu: »Die Erörterung, die der deutsche Protest auslöste, zwang beide Parteien zu einer Präzisierung ihrer Standpunkte und damit des Sinnes der Kriegsschuldthese überhaupt, einer Präzisierung, die einer erheblichen Verschärfung gleichkam und deshalb von fataler Bedeutung für die Folgezeit geworden ist.« Siehe auch Jäger, Forschung, S. 18–33. Zur Verquickung der Kriegsschuldfrage mit der Reparationsfrage auf der Versailler Konferenz vgl. Peter Krüger, Deutschland, S. 41–51. 58 Vgl. Audoin-Rouzeau, Delegation. 59 Artikel 231 des Friedensvertrags von Versailles, abgedruckt im Reichsgesetzblatt 1919, S. 985 (http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid=dra&datum=1919&size=30&page=1187, abgerufen am 26. März 2015).

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denkschrift. In diesem Memorandum führte die Entente keine Details mehr an und ging auch auf keine Einzelheiten ein, mit denen sich die Viererkommission beschäftigt hatte, obwohl es eine unmittelbare Antwort auf deren Arbeit war. Vielmehr wurde ganz allgemein dem Deutschen Reich unterstellt, bestrebt gewesen zu sein, »ein unterjochtes Europa zu beherrschen und zu tyrannisieren«. Deutschland habe planmäßig auf einen Eroberungskrieg hingearbeitet und ihn gewollt60. Entscheidend für die vorliegende Untersuchung ist jedenfalls, dass Hans Delbrück genauso wie die überwiegende Mehrheit der Deutschen mit dem Versailler Vertrag auch die Anklage der Alleinkriegsschuld verband. Denn er stufte die Vorwürfe als sachlich falsch ein, sah in ihnen den Grund für den Versailler Vertrag und wollte sie aus der Welt schaffen, um eine echte Versöhnung zu ermöglichen61. Das Hauptproblem, das sich in den Folgejahren für die Weimarer Republik aus dem Friedenswerk ergab, war ein anderes: Die Deutschen hatten nicht verstanden, dass es kein unter Partnern ausgehandeltes Abkommen war, sondern eher den Charakter eines Kapitulationsdokuments trug62. Dies rührte aus der Verweigerung der Deutschen her, die militärische Niederlage zu akzeptieren. Hier kam hinzu, dass die militärisch und politisch Verantwortlichen für die Niederlage sich von Beginn an ihrer Verantwortung zu entziehen vermochten. Da die Träger der neuen Staatsform die Folgen der alten übernehmen mussten, indem sie es waren, die den Vertrag unterzeichneten, verband sich schnell der Versailler Vertrag inklusive allem, was ihm negativ anhing, mit der Republik und den Demokraten. Verantwortlich hierfür waren zwar eindeutig die Männer gewesen, die das Reich in die Niederlage geführt hatten, aber diese Erkenntnis verschloss sich vielen. Eine üble, aber geschickte politische Strategie sicherte den Rechten bald die Deutungshoheit über diese Zusammenhänge. Insofern wirkte der Friedensvertrag fatal, weniger wegen seines Inhalts, als vorrangig wegen der sachlich falschen Ausdeutung seiner Hintergründe63.

60 Die Note ist abgedruckt in: Schwabe, Quellen, S. 357–369, Zitat S. 358. 61 Dickmann, Kriegsschuldfrage, S. 93, führt dazu aus, dass, auch wenn die deutsche Verhandlungsführung letzlich dazu geführt hatte, den Vertrag noch demütigender für Deutschland zu machen, es für Brockdorff-Rantzau dennoch keine wirkliche Alternative als Strategie gegeben habe. 62 Die alliierten Regierungen mussten im Übrigen auch selber Rücksicht auf die Stimmungen in ihren Völkern nehmen, die genauso leidenschaftlich erregt waren wie die Deutschen. Lentin, Comment, S. 240–242, argumentiert allerdings, dass der Zwang zu Kompromissen zwischen den Regierungen der Entente der wesentliche Grund gewesen sei für die Art der Konferenz und nicht innenpolitischer Druck durch die öffentliche Meinung. 63 Die Republikaner hatten im Übrigen auch selbst durch ein ungeschicktes Verhalten zu dieser Deutung beigetragen. Indem sie sich zunächst weigerten, zu unterschreiben, es später aber unter Druck doch taten, bewirkten sie den Eindruck von Unglaubwürdigkeit (vgl. Thomas Lorenz, Weltgeschichte, S. 76–99, mit einer Analyse der Debatten zum Vertrag in der Nationalversammlung, wenngleich der historische Kontext durchgehend zu wenig erläutert wird). Zu Delbrück und der Dolchstoßlegende siehe Kapitel V.

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In der Sache war Versailles allerdings nicht das »Todesurteil«, als das ihn auch Hans Delbrück sah64. Langfristig wurde das Reich nur leicht geschwächt und hatte alle Möglichkeiten eines Wiederaufstiegs; vor allem entlastete die Nachkriegsordnung Deutschland vom jahrzehntelangen Druck einer gleichzeitigen Bedrohung von West und Ost, da sich Russland aus den Beziehungen mit den Westmächten herausgezogen hatte65. Aber das System Weimar wurde mit dem System Versailles gleichgesetzt. Unter diesem Aspekt gewinnt der Vorschlag Delbrücks und seiner Gesinnungsgenossen, den Vertrag abzulehnen, eine andere Bedeutung: Hätte sich Deutschland tatsächlich geweigert, zu unterzeichnen, und die Regierung den Siegermächten angetragen, wären diese auch in der Wahrnehmung des Volks vollauf verantwortlich für die Friedensbedingungen gewesen, und eben nicht die Republik. Sachlich vernünftig und verantwortungsbewusst wäre ein derartiges Vorgehen freilich nicht gewesen. Wie Friedrich Sell schreibt, habe man die Wahl gehabt »zwischen Freiheit und Stolz«66, also zwischen Selbstregierung und Selbstgerechtigkeit. Dass Hans Delbrück für den »Stolz« plädierte, lag in seiner patriotischen Grundanschauung begründet. Inwieweit er sich nun mit dem Weg der »Freiheit« arrangierte, mussten die folgenden Jahre zeigen.

2. Der Kriegsschuldprozess Hans Delbrück und seine Mitstreiter aus Versailles erreichte im Sommer 1919, wenige Monate nach ihrer Arbeit in Frankreich, der Vorwurf, unkorrekt gearbeitet zu haben: Es ging um einen Bericht aus den Tagen der Julikrise 1914 vom bayerischen Geschäftsträger in Berlin, Hans von Schoen. Diesen Bericht hatte Kurt Eisner in seiner kurzen Zeit als Ministerpräsident des Freistaats­ Bayern im November 1918 zusammen mit anderen diplomatischen Akten zum Kriegsausbruch veröffentlicht, um zu beweisen, dass Deutschland die Hauptschuld am Weltkrieg trage. Bei der Publikation hatte Eisner Kürzungen vorgenommen, wodurch die Dokumente in ihrer Aussage teilweise einen anderen Tonfall erhielten. Nunmehr wurde in der Rechtspresse der Vorwurf laut, 64 Zitat aus Delbrücks Memorandum vom 6. Juni 1919 mit dem Titel »Verweigerung des Friedensschlusses«, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 67.1. Die Berliner Morgenpost vom liberalen Ullsteinverlag schrieb zehn Jahre später in einer Würdigung Delbrücks anlässlich seines Todes, seine »leidenschaftliche Berechnung war falsch. Wir sehen, daß Deutschland trotz des Versailler Vertrages sich wieder aufrichtet und Delbrück, der sich niemals weigerte, einer besseren Einsicht zu folgen, hat mit stiller Freude den Aufstieg Deutschlands noch gesehen.« (o. V.: »Hans Delbrück †«, in: Berliner Morgenpost vom 16. Juli 1929, in: ebd., Fasz. 12.6). 65 Vgl. Winkler, Weimar, S. 97. Schwabe, Gerechtigkeit, S. 83, betont, dass dieser Vorteil fast allen damaligen Akteuren nicht bewusst gewesen sei. 66 Sell, Tragödie, S. 395.

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die Viererkommission in Versailles, die mit dem (unvollständigen) Dokument gearbeitet hatte, sei hier einer Fälschung aufgesessen und habe nicht sorgfältig genug gearbeitet, sodass nicht alles getan worden sei, um die Entente von der (angeblichen) deutschen Unschuld zu überzeugen67. Aktuell war der Vorgang deshalb geworden, da Schoen, der durch die Publikation im Zwielicht stand, am 2. August 1919 in der »Deutschen Allgemeinen Zeitung« das Wort ergriffen und Eisner der »Entstellung der Wahrheit« bezichtigt hatte. Er schrieb, durch die Art der Veröffentlichung habe Eisner eine völlig falsche Tendenz in seinen Bericht vom 18. Juli 1914 gebracht, der im Übrigen von ihm und nicht wie ursprünglich behauptet von Hugo von Lerchenfeld, der zu der Zeit im Urlaub gewesen war, verfasst worden sei. Tatsächlich zeige der Bericht, dass Deutschland um eine Lokalisierung des Konflikts bemüht gewesen sei; in der veröffentlichten Form sei die Tendenz umgedreht und der Reichsregierung ein Wille zum allgemeinen Krieg unterstellt worden. Eisner habe die kaiserliche Regierung kompromittieren wollen, aber das deutsche Volk in seiner Gesamtheit getroffen, denn die Entente habe sich u. a. auf diesen verfälschten Bericht berufen in ihrer Behauptung der deutschen Alleinkriegsschuld. Die deutsche Viererkommission in Versailles habe das Original nicht einsehen und deshalb nicht widersprechen können68. Es bleibt zwar ein Rätsel, wieso sich Hans von Schoen erst ein dreiviertel Jahr nach der Eisnerschen Aktion und andere hohe Beamte, die involviert gewesen waren, gar nicht dazu äußerten69. Der entscheidende Punkt aber war, dass Schoen dem Bericht eine negative Wirkung auf den Friedensschluss zugeschrieben hatte: Dies entfachte unmittelbar nach der Empörung über das Versailler Diktat einen Skandal, da nun plötzlich erwiesen schien, dass der Vertrag in seiner Form nur deshalb zustande gekommen sei, da ein Deutscher (Eisner) der Entente illegal Material zugespielt hätte und dies obendrein noch im reichsfeindlichen Sinne gefälscht zu haben schien. Mit seiner Argumentation, dass dies eine bedeutend negative Wirkung auf die 67 Von links wurde Eisners Version sogar umgedreht gedeutet: Die fortgelassenen Passagen würden Deutschland nur noch mehr belasten, deshalb könne überhaupt keine Rede von einer Fälschung sein. Dies schrieb beispielsweise ein Friedrich Küster aus Hagen in einem offenen Brief am 29. November 1919 an Hans Delbrück in der Berner »Freien Zeitung«, ein Blatt, das USPD-Positionen nahe stand, von der deutschen Hauptkriegsschuld überzeugt war und Eisners Publikationen sehr begrüßt hatte (Die Freie Zeitung, 3. Jg., Nr. 97 vom 10. Dezember 1919, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 113). Das USPD-Blatt »Freiheit« schrieb ebenfalls, die von Eisner ausgelassenen Stellen würden nicht entlastend, sondern belastend wirken (o.V.: »Der alldeutsche Betrug«, in: Freiheit, Nr. 361 vom 5. August 1921, in: BArch N 1017/49). 68 Hans von Schoen: »Die Entstellung der Wahrheit durch Eisner«, in: DAZ, Nr. 367 vom 2. August 1919, in: BArch N 1017/59. 69 Dies stellt auch Grau, Eisner, S. 396, fest. Schoen selbst bemerkte hierzu in seinem Artikel, dass ihm eine Einsichtnahme in die Akten nicht erlaubt worden sei. Dreyer / Lembcke, Diskussion, S. 75, vermuten, dass das lange Warten sowohl Schoens als auch des AA beweise, dass man sich durchaus dessen bewusst gewesen sei, dass Eisners Überarbeitungen die Kernaussage des Dokuments nicht wesentlich verändert hatten.

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Friedensbedingungen gehabt habe, brachte Schoen auch Delbrück und seine Mitstreiter in Verlegenheit. Sie verfassten deshalb unmittelbar nach dem Schoenschen Artikel eine Erklärung, in der sie dazu Stellung nahmen: Sie hätten bei der Erarbeitung ihrer Denkschrift gewusst, dass das Dokument Irrtümer enthielt, aber nicht welcher Art. Erst Schoen habe nun die Aufklärung gebracht, dass Auslassungen gemacht worden seien. Gerade diese Stellen aber bewiesen besonders, dass die Reichsleitung den Krieg nicht gewollt habe70. Kurt Eisner, radikaler Pazifist und führende Person in der bayerischen USPD, hatte am 8. November 1918 den Freistaat Bayern ausgerufen. Nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten durch die Arbeiter- und Soldatenräte Münchens versuchte er bis zu seiner Ermordung am 21. Februar 1919 durch einen rechtsextremen Offizier maßgeblichen Einfluss auf die Neugestaltung Deutschlands und die Friedensverhandlungen zu nehmen71. Mit der am 23. November 1918 betriebenen Veröffentlichung von Auszügen bayerischer diplomatischer Akten zum Kriegsausbruch verfolgte er zwei Ziele: Vor allem ging es ihm darum, den Alliierten zu beweisen, dass die Deutschen vollkommen mit ihrer Vergangenheit gebrochen hätten und sich zu ihrer Schuld am Weltkrieg – von der Eisner überzeugt war – bekannten. Davon erhoffte er sich erträglichere Friedensbedingungen. Daneben wollte er durch eine Aufklärung über die Fehler des alten Systems das deutsche Volk demokratisch erziehen72. Wenngleich er mit seiner einsei­tigen Sicht in der Kriegsschuldfrage nicht richtig lag und sich vor allem völlig verschätzte in der Meinung, Einfluss auf die Alliierten ausüben zu können73, waren es also vornehme Motive, die ihn antrieben. Vor diesem Hintergrund muss man die von ihm getätigte Überarbeitung und Publikation des Schoen-Berichts beurteilen. Eisner hatte aufgrund der Länge das Dokument gekürzt, was aber wegen der von ihm dann vorgenommenen Zusammenfassungen erkennbar blieb. Allerdings hatte er durch die Art der Auslassungen die Kernaussage des Berichts tatsächlich etwas verschoben und seiner Sicht angepasst74. Es ist aber davon auszugehen, dass er im Eifer des Gefechts den Bericht 70 Abschrift der Erklärung Delbrücks, Mendelssohn-Bartholdys, Montgelas‹ und Webers vom 3., 4. und 5. August 1919 in: SBB NL Delbrück, Fasz. 107.2, 27. 71 Zum Leben Kurt Eisners vgl. Grau, Eisner, der feststellt, dass sich der Sozialist in der ersten Phase der Republik »eines ungewöhnlichen Ansehens« erfreut habe (S. 363). 72 Vgl. Grau, Eisner, S. 385–405 sowie Jäger, Forschung, S. 22 f. Bernhard Grau stellt dabei fest, dass der äußere Anstoß für die Publikation der Dokumente nicht von Eisner selbst, sondern von seinen Gesandten in Bern, Friedrich Wilhelm Foerster, in Berlin, Friedrich Muckle, sowie vom Vertrauten Wilsons, George D. Herrons, und Maximilian Harden ausgegangen war (S. 389 f). 73 Grau, Eisner, S. 396 f, stellt sogar fest, dass Eisners Veröffentlichungen negativen Einfluss auf die Alliierten gehabt haben müssen. Denn die von ihm provozierte Gegenkampagne des nationalen Lagers habe der Entente zeigen müssen, dass sich Deutschland eben nicht radikal verändert hatte, wie es Eisner eigentlich demonstrieren wollte. 74 Diese Einschätzung teilt auch Grau, Eisner, S. 396 Anm. 114 (S.  591 f). Zu dem Gesamtvorgang im Kontext der Weimarer Kriegsschulddebatte vgl. Dreyer / Lembcke, Diskussion, S. 63–77.

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für die Öffentlichkeit etwas reizvoller machen wollte, und nicht, dass er eine vorsätzliche Fälschung betrieben hat. Die Stellungnahme Schoens im Sommer 1919 verursachte eine größere Debatte. Die »Deutsche Allgemeine Zeitung« druckte den in Frage stehenden Bericht vollständig ab unter Hervorhebung der von Eisner ausgelassenen Stellen75. Delbrück sandte auch eine Richtigstellung an den »Berliner Lokal-Anzeiger«, die am 7. August dort erschien. Er verwahrte sich dagegen, dass die Viererkommission sich von Eisners Manipulation habe beirren lassen. In der aktuellen Erklärung habe sie formuliert, dass die jetzt erfolgte Aufdeckung der Fortlassungen ihre Ansichten nur bekräftigt habe. Im Übrigen habe er selbst, Delbrück, bereits im November 1918 nachgewiesen, dass das Dokument keine deutsche Schuld beweise. Die Viererkommission habe sich jedenfalls bei ihrer Arbeit nicht irreleiten lassen76. Delbrück wollte unzweideutig klarmachen, dass die Viererkommission korrekt gearbeitet hatte und die Entente nicht zu ihrer Anklage gekommen war aufgrund einer Nachlässigkeit der Wissenschaftler in Versailles. In ihrer Erklärung hatte die Viererkommission geschrieben, dass die Originalberichte bei Eisners Witwe und seinem ehemaligen Sekretär Felix Fechenbach aufgefunden worden seien. Tatsächlich waren aufgrund der Bitte der Viererkommission vom 5. Mai 1919 an das Auswärtige Amt nach Zusendung der Originalberichte intensive Nachforschungen angestellt worden. Die erbetenen Dokumente waren zwar nach einiger Zeit gefunden worden, dennoch wurden zusätzlich Hausdurchsuchungen bei Eisners Witwe und ehemaligen Mitarbeitern Eisners durchgeführt, bei denen man auf weitere Akten stieß. Dieser Vorgang wurde damals diskret behandelt. Nur wegen der neuen Vorwürfe machten Delbrück und seine Mitstreiter diese Hintergründe öffentlich77. Philipp 75 »Der Bericht des Legationsrats von Schoen«, in: DAZ, Nr. 382 vom 10. August 1919, in: BArch N 1017/59. Ebd. auch die Eisnersche Version (»Urkunden über den Ursprung des Krieges«, in: Bayerische Staatszeitung und Bayerischer Staatsanzeiger, 6. Jg., Nr. 275 vom 26. November 1918) sowie ein vollständiger Abdruck des Berichts mit Kennzeichnung der Kürzungen Eisners. 76 O. V.: »Die irregeführten Wissenschaftler«, in: BLA, 37. Jg., Nr. 365 vom 7. August 1919.­ Delbrücks Entwurf einer »Berichtigung« an den BLA in: BArch N 1017/59. In der Tat hatte Delbrück schon Ende November 1918 im Vorwärts geschrieben, der von Eisner veröffentlichte Bericht werde fälschlicherweise so ausgelegt, als beweise er die deutsche Kriegsschuld. Er interpretiere das Dokument aber anders: Es unterstreiche lediglich die Absicht der Reichsregierung, den Konflikt zu lokalisieren (Hans Delbrück: »Die Schuld am Kriege«, in: Vorwärts, 27. November 1918). 77 Vgl. Dreyer / Lembcke, Diskussion, S. 73. Da sich Dreyer / Lembcke ausdrücklich auf diplo­ matische Akten stützen, ist diese Darstellung als glaubwürdig einzuschätzen. Schueler, Flucht, S. 158, hingegen greift die Viererkommission an wegen des erhobenen Vorwurfs an Fechenbach und beurteilt ihn als haltlos und Teil einer rechten Kampagne, ohne die Hintergründe zu beleuchten. Dies reiht sich ein in die insgesamt recht affirmative Darstellung seines Untersuchungsobjekts, Fechenbach. Schon der Titel von Schuelers Buch (»Auf der Flucht erschossen«) ist irreführend: Der Satz entstammt der NS-Propaganda, die damit den brutalen Mord an Fechenbach durch die SS (bereits 1933) verschleiern wollte. Indem Schueler diesen Satz nicht in Anführungszeichen setzt, suggeriert er, es sei tatsächlich so gewesen.

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Loewen­feld, der Rechtsanwalt Fechenbachs im später wegen dieser Angelegenheit ausgetragenen Gerichtsprozess, lieferte in seinen Erinnerungen eine simple Erklärung hierfür: Kurt Eisner habe nach der Vernichtung einiger diplomatischer Akten durch den Staatsrat Sigmund von Lössl während der Novemberrevolution kein Vertrauen mehr in die Beamtenschaft gehabt und deshalb ihm wichtig erscheinende Akten zunächst mit in seine Privatwohnung genommen. Es habe sich »lediglich [um] ei[nen] Akt der Vorsicht« gehandelt78. Felix Fechenbach, der nun in die Kritik geraten war, verwahrte sich in den »Münchner Neuesten Nachrichten« gegen die Vorwürfe und stellte fest, dass er zu keinem Zeitpunkt im Besitz der fraglichen Dokumente gewesen sei79. Da bei ihm tatsächlich Akten gefunden wurden, wenngleich auch nicht die zur Diskussion stehenden Berichte, bewegte er sich mit dieser Erklärung auf einem schmalen Grad. Am 2. September forderte Delbrück den Pazifisten und Publizisten Friedrich Wilhelm Foerster dazu auf, Eisners Fälschungen »öffentlich an den Pranger zu stellen«. Foerster habe oft genug »im Interesse der Wahrheit« Dinge bekannt gemacht, die dem Reich schadeten. In diesem Fall sei eine Aufklärung umso wichtiger, als die Eisnersche Version des Schoen-Berichts »eine wesentliche Grundlage« des Friedensvertrages bilde80. Foerster schrieb zurück, er sei von seiner Überzeugung von der Hauptschuld Deutschlands nicht abzubringen. Er werde aber einen Artikel als Entgegnung auf Delbrück in den »Preußischen Jahrbüchern« verfassen, der ihm in den nächsten Tagen zugehe. Er verwahrte sich gegen Delbrücks Behauptung, an Eisners Aktion Schuld zu sein. Er habe Eisner nur dazu geraten, Forscher in die Archive hineinzulassen. Er sei »durchaus ein Gegner bloßer fragmentarischer Aktenenthüllungen, die obendrein auch die Schuldfrage verflachen.« Foerster distanzierte sich von Eisners Thesen und Methode, verneinte aber aufgrund seiner Informationen aus Paris »aufs entschiedendste, dass jene Publikation irgendeinen Einfluß auf die Versailler Entscheidungen ausgeübt hat«, denn der Glaube an Deutschlands Kriegsschuld sei dort »unerschütterlic[h]« gewesen81. Dieser Punkt war von entscheidender Bedeutung: Deutschland hatte nahe­ zu keinen Einfluss auf die Versailler Verhandlungen nehmen können, da die 78 Landau / Rieß, Recht, S. 444 f, Zitat S. 445. Ob es nun tatsächlich so war, beweisen diese Aufzeichnungen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs freilich nicht. Dennoch ist unter diesen schwierigen Umständen der Revolutionstage Eisners Handeln durchaus nachvollziehbar. Es bleibt zwar falsch, aber eine böse Absicht kann man ihm nicht unterstellen. 79 »Die Fälschung der bayerischen Gesandschaftsberichte«, in: MNN, Nr. 315 vom 9. August 1919, S. 3. Fechenbach war wohl tatsächlich nicht im Besitz speziell dieses Schriftstücks gewesen. Dass bei ihm aber eine Durchsuchung gemacht wurde und dabei Akten gefunden wurden, ist eindeutig belegt (Dreyer / Lembcke, Diskussion, S. 73, Anm. 121). 80 Hans Delbrück an Friedrich Wilhelm Foerster am 2. September 1919, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Förster [sic], Bl. 1. 81 Foerster an Delbrück am 7. September 1919, Abschrift in: BArch N 1017/78, Bl. 317–320. Nach Grau, Eisner, S. 389 f, hatte Foerster sehr wohl einen wichtigen Anstoß für Eisner gegeben, die Aktenveröffenlichungen vorzunehmen. Für die Art der Publikation, die Kürzungen also, war Foerster aber nicht verantwortlich zu machen.

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Siegermächte fest dazu entschlossen waren, ihr Programm umzusetzen, gleich welche Stimmen dazu aus dem Reich kamen. Dies war vielen Deutschen damals nicht bekannt, sodass sich ein großer Raum für Spekulationen eröffnete. Auch Delbrück ging davon aus, dass Eisners Publikationen Einfluss auf die Friedensbedingungen gehabt hatten. Im Oktoberheft der »Preußischen Jahrbücher« wurde Foersters Aufsatz publiziert. Er schrieb hier, kein anderes Volk auf der Welt habe »das weltpolitische Faustrecht [so] verherrlicht« wie das deutsche. Die deutsche Kriegsführung schließlich habe jede Friedensmöglichkeit verhindert. »Diese falsche Politik war das letzte, unausbleibliche Ergebnis des Aufgehens der deutschen Kultur im preußischen Militärstaat«. Eisners »Auslassungen« entschuldigte er mit der »richtig[en] Intuition« des Sozialisten. Delbrück kommentierte dies in einer Anmerkung mit den Worten, Eisners Publikation sei »eine der frechsten und niederträchtigsten diplomatischen Fälschungen der Weltgeschichte«82. Damit war die Angelegenheit eigentlich beigelegt und wenn auch nicht wirklich ausgetragen, so geriet sie doch wieder in Vergessenheit. In der Juli-Ausgabe der »Süddeutschen Monatshefte« von 1921 aber wärmte der Münchener Historiker Karl Alexander von Müller, bereits vor 1933 im nationalsozialistischen Fahrwasser, den Vorgang unter einem Vorwand wieder auf. Entscheidend war dabei eine Anmerkung der Schriftleitung (Paul Nikolaus Coßmann, der später im Dolchstoßprozess ebenfalls die ausschlaggebende Rolle spielte)83, die die Behauptung in die Welt setzte, Eisners Witwe habe erklärt, nicht ihr Mann habe die (angeblichen) Fälschungen begangen, sondern sein Sekretär Felix Fechenbach84. Mehrere Zeitungen verbreiteten daraufhin diese unbelegte Bezichtigung Fechenbachs, teilweise mit widerwärtiger antisemitischer Rhetorik. Die Wirkung auf die Öffentlichkeit war enorm, wie Loewenfeld später schrieb: »Nicht die militärische Niederlage Deutschlands, nicht seine geschlagenen Feldherren, nicht sein größenwahnsinniger Generalstab, nicht die Wirkung der englischen Blockade, nicht der Rohstoffmangel und der Hunger, nicht die Erschöpfung von Mann und Tier waren am Versailler Vertrag schuld, sondern der Jude Eisner.«85

82 Friedrich Wilhelm Foerster: »Zur Frage der deutschen Schuld am Weltkrieg«, in: PJb 178 (1919), S. 117–130, Zitate S. 117, 125, 129. 83 Siehe Kapitel V.3. 84 Karl Alexander von Müller: »Neue Urkunden«, in: Süddeutsche Monatshefte, Juli 1921, S. 293–296, hier S. 294 Anm. 1: »[Es] wurde uns erzählt, Frau Eisner sage, ihr Mann habe die Fälschung gar nicht gemacht, sondern sein Sekretär Fechenbach; ihr Mann habe nur seinen Namen darunter gesetzt. Die Schriftleitung der Süddeutschen Monatshefte.« Philipp Loewenfeld berichtete übrigens rückblickend, Fechenbach habe im Auftrag Eisners die Veröffentlichung auf der Schreibmaschine getippt (Landau / Rieß, Recht, S. 446). Fechenbach war also unmittelbar involviert gewesen in die Publikation, wenngleich ihn als Sekretär keine unmittelbare Verantwortung dafür traf. 85 Landau / Rieß, Recht, S. 446.

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Diese Zeilen verdeutlichen anschaulich, welch ungeheure politische Dimension die in der Sache simple Angelegenheit bekam: Diese Verfälschung von Ursache und Wirkung im Hinblick auf die deutsche Niederlage und den Friedensvertrag, die von rechts agitatorisch betrieben wurde, war von kaum zu unterschätzender negativer Wirkung auf den neuen Staat. Indem nicht die wahren Zusammenhänge, das Versagen des alten Reichs und dessen Träger, genannt, sondern Sozialisten und Juden in niederträchtiger Weise verantwortlich gemacht wurden, war die Grundlage für die Republik als logische Konsequenz der Unfähigkeit des Kaiserreichs nachhaltig erschüttert. Fechenbach verklagte Coßmann und mehrere Redakteure anderer B ­ lätter wegen Beleidigung. Die eigentlich juristisch zur Debatte stehende Frage, ob Fechen­bach tatsächlich wie von Coßmann behauptet anstelle von Eisner die Dokumente vor der Veröffentlichung 1918 überarbeitet hatte, wurde vor dem Amtsgericht München in sechs Verhandlungstagen vom 27. April bis zum 4. Mai 1922 zügig geklärt: Es zeigte sich, dass Coßmann eine unwahre Behauptung aufgestellt hatte und seine angebliche Information hierüber definitiv falsch war86. Anstatt aber, dass das Gericht nun Coßmann wegen übler Nachrede verurteilte, ließ es sich auf das Vorhaben der beiden Parteien (Fechenbach wird zu dem Zeitpunkt das Thema wegen Aussichtslosigkeit lieber nicht mehr debattiert haben wollen) ein, zu analysieren, ob es sich um eine Fälschung gehandelt hatte und ob diese schädlich für den Friedensvertrag gewesen war – mittelbar also die Frage der Kriegsschuld87. Der Prozess weitete sich zu einem Politikum ersten Ranges aus, was vor allem an der intensiven Presseberichterstattung88 und dem Aufmarsch der zehn von Coßmann benannten Sachverständigen lag. »Der Bedeutendste von ihnen«89 war Hans Delbrück90. 86 Loewenfeld spricht in seinen Erinnerungen davon, dass Coßmanns Behauptung »völlig frei erfunden« gewesen sei (Landau / Rieß, Recht, S. 447). 87 Zum Prozessverlauf vgl. die rückblickende Schilderung Loewenfelds (Landau / Rieß, Recht, S. 443–462). 88 Den Verhandlungen wohnten zahlreiche Vertreter der in- und ausländischen Presse bei und das Auswärtige Amt (AA) hatte einen offiziellen Vertreter entsandt (Prozessheft der Süddeutschen Monatshefte vom Mai 1922, S. 53). Eine umfangreiche Sammlung mit Presse­stimmen verschiedener politischer Richtungen während des Prozesses findet sich in: BArch N 1017/49. 89 So Loewenfeld (Landau / Rieß, Recht, S. 451). Auch Coßmann von der Gegenseite hielt Delbrücks Auftritt für herausragend wichtig, wie sein Brief an ihn illustriert: »Ich glaube, dass der Eindruck Ihrer Ausführungen für Jeden, [sic] der sie hören durfte, lebenslang unvergesslich sein wird.« (Coßmann an Delbrück am 5. Mai 1922, in: BArch N 1017/59). 90 Auch die anderen waren namhafte Persönlichkeiten: Pius Dirr, Eugen Fischer, Georg Karo, Johannes Lepsius, Max Montgelas, Anton von Monts, Karl Alexander von Müller, Ivo Striedinger, Friedrich Thimme. Die sechs von Fechenbach berufenen Sachverständigen hatten bis auf Ludwig Quidde abgesagt oder ihnen wurde vom AA die Aussage verboten (bei Ulrich von Brockdorff-Rantzau und Karl Max von Lichnowsky), was eine eindeutige politisch motivierte Prozesshilfe für Coßmanns Sache war, zumal den zum Teil ebenfalls dem AA unterstehenden Sachverständigen Coßmanns nicht verwehrt worden war, auszusagen.

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Der Militärhistoriker galt auf dem Gebiet der Kriegsschuldforschung als einer der wichtigsten Deutschen. Folglich verlieh sein Auftritt dem Prozess ein großes Gewicht. Er war sich darüber völlig im Klaren, sodass deutlich ist, dass Delbrück genauso wie Coßmann die Beleidigungssache bewusst nutzen wollte, um seiner Sicht in der Schuldfrage Nachdruck zu verleihen. Ihm ging es im Kern um eine Revision des Versailler Vertrages, wie in diesem Zusammenhang u. a. sein Schreiben an den gemäßigten Pazifisten Hellmut von Gerlach zeigt. Er legte dar, dass eine Revision nur zu erreichen sei, wenn man die öffentliche Meinung im Ausland von der deutschen Unschuld (im Sinne der Versailler­ Anklage) überzeuge. Der Prozess war für Delbrück eine geeignete Bühne, um genau das zu erreichen91. Daraus erklärt sich sein großes Engagement, über das sich Coßmann sehr erfreut zeigte92. Dass dabei die Person Felix Fechenbach persönlich leiden musste, nahm Delbrück in Kauf. In seinem am 29. April, dem dritten Verhandlungstag, erstatteten Gutachten zeigte sich Delbrück bereits ein Stück moderater als noch im Sommer 1919. Die Hauptverantwortung für den Kriegsausbruch sah er wie bisher bei Russland und dem Expansionsstreben Serbiens. Zu Eisners Veröffentlichung sagte Delbrück, die eigentliche Aussage des Dokuments, die Lokalisierungsabsicht der Reichsregierung, werde zwar angedeutet, aber alle Stellen, an denen diese eindeutig formuliert sei, seien von Eisner herausgestrichen worden: »Wenn ich auch zugebe, daß ein klug abwägender, wohlwollender Mann aus der Veröffentlichung es herauslesen kann, so hat es doch für die Welt diesen Eindruck nicht gemacht. Wir haben ja von allen Seiten gehört, wie furchtbar der Eindruck der Veröffentlichung gewesen ist.«93

Er sprach im Hinblick auf Eisner nur noch von einem »bedauernswerte[n] Narr[en]«94 und hatte seinen Vorwurf eines »Fälschers« damit bereits deutlich heruntergestuft. Die anschließende Vernehmung durch Philipp Loewenfeld erzielte dann eine weitere Änderung bei Hans Delbrück. Der Sozialdemokrat brachte ihn mit seiner Taktik in große Verlegenheit: Er ließ sich von Delbrück diverse frühere Äußerungen zum Kriegsausbruch von ihm bestätigen, in denen er sich nachweislich geirrt hatte. Als Delbrück schließlich die Gegenfrage nach dem Sinn dieser Befragung stellte, führte Loewenfeld aus: Delbrück habe von Eisner als »bedauernswerte[m] Narr[en]« gesprochen, da er sich seiner Meinung nach politisch geirrt hatte. »Ich wollte Ihnen durch meine Fragestellung zum Bewusstsein bringen, dass man sehr wohl grimmigen politischen Irrtümern Vgl. Schueler, Flucht, S. 162–167, der allerdings Quidde als neutralen Sachverständigen hinstellt – anders Philipp Loewenfeld in seinen Erinnerungen (Landau / Rieß, Recht, S. 450). 91 Delbrück an Gerlach am 16. Mai 1922, in: BArch N 1017/59. 92 Coßmann an Delbrück am 7. März 1922, in: ebd. 93 Nach der verlässlichen Prozessdarstellung der »Süddeutschen Monatshefte«, die sich auf die Berichterstattung der MNN stützte, Maiausgabe 1922, S. 80–82, Zitat S. 81. 94 So Loewenfeld (Landau / Rieß, Recht, S. 452). Ebenso Süddeutsche Monatshefte, Maiausgabe 1922, S. 82.

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unterliegen kann, ohne deshalb ein ›bedauernswerter Narr‹ zu sein.« Diese Ausführungen beeindruckten Delbrück offenbar nachhaltig, denn am Ende des Prozesstages sprach er nach Aussage Loewenfelds zu ihm: »Die Züchtigung, die Sie als ein viel Jüngerer mir altem Mann haben zuteil werden lassen, war wohl verdient. Wenn ich je eine verantwortliche Beratung benötigen werde, darf ich mir wohl erlauben, über Ihren Rat zu verfügen, denn Sie haben mir gezeigt, was es heisst, in einer schweren Sache zum Klienten und zur Idee zu stehen.«95

Im Verlauf des Prozesses nahmen bis auf Ludwig Quidde alle Sachverständigen einen ähnlichen Standpunkt wie Delbrück ein und wiesen den in Versailles formulierten Vorwurf der alleinigen Schuld des Reichs zurück, ohne jedoch dabei die Vorkriegsdiplomatie vollständig von einer Verantwortung auszunehmen. Da die Versailler Behauptung tatsächlich wissenschaftlich leicht zu wider­legen war, gaben zum Schluss der Verhandlungen Fechenbach und Löwenfeld Bezeugungen ab, mit denen sie sich von dieser distanzierten und bekannten, sich ebenfalls gegen die alliierten Vorwürfe zu engagieren96. Das Ergebnis der sechs Verhandlungstage war in der Sache skandalös: Obwohl festgestellt worden war, dass die Unterstellung Coßmanns, Fechenbach und nicht Eisner habe die Dokumente überarbeitet, falsch gewesen war, wurde er freigesprochen. Die Begründung dafür war, dass es sich in der Tat um eine Fälschung gehandelt habe und der Angeklagte Coßmann in der Abwehr des Versailler Vertrages in Übereinstimmung mit dem Interesse der Allgemeinheit gehandelt und somit berechtigte Interessen gewahrt habe97. Diese eigentliche Beleidigungssache war allerdings vollkommen in den Hintergrund getreten, da die Presse – vor allem die rechtsstehende – den Prozess intensiv begleitet hatte und in den Ergebnissen der Sachverständigengutachten und der richterlichen Erklärungen eine juristisch-amtliche Feststellung der deutschen Unschuld am Kriege erblickte. Das war wie dargestellt auch von vornherein das Ziel Coßmanns gewesen und auch die Absicht Delbrücks und der anderen Gutachter. Ihnen ging es darum, die Unsicherheit über diese Frage, die in den Anfangsjahren 95 Landau / Rieß, Recht, S. 460 f, Zitate S. 461. Ob die Worte in der Form authentisch sind, ist durch die zwanzig Jahre später erfolgte Niederschrift zwar fraglich. Es besteht aber wenig Grund zu der Annahme, dass Loewenfeld in der Grundanlage seiner Darstellung erheblich von den Vorgängen abgewichen ist. 96 Zum Prozessverlauf vgl. Schueler, Flucht, S. 162–167; Landau / Rieß, Recht, S. 444–462, das Prozessheft der Süddeutschen Monatshefte (Maiausgabe 1922) sowie die linkspolitische Prozessdarstellung bei Dreyfus / Mayer, Recht, S. 103–297. Zu Delbrücks Gutachten bemerkten die beiden: »In so gehässiger und blinder Einseitigkeit spricht nicht ein Sachverständiger, der den Richtern helfen soll, die Wahrheit zu erkennen, so spricht ein Angeklagter, der sich herausschwindelt oder ein Parteivertreter, der schiefe und falsche Meinungen erzeugen will.« (S. 253) 97 Die übrigen angeklagten Redakteure wurden ebenfalls freigesprochen, nur einer von ihnen wurde zu einer geringfügigen Geldstrafe verurteilt – er hatte unverhohlen zur Lynchjustiz aufgerufen. Vgl. Schueler, Flucht, S. 167, sowie Süddeutsche Monatshefte, Maiausgabe 1922, S. 122–128.

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der Republik in einigen Bevölkerungsteilen noch herrschte, auszuräumen und eine »Einheitsfront« im Kampf gegen die »Versailler Schuldlüge« herzustellen98. Hans Delbrück schrieb hierzu nach der Urteilsverkündung im »Vorwärts«. Er richtete im Organ der Arbeiterschaft das Wort an die linksorientierten Kreise im Reich und rief sie dazu auf, sich an der »Einheitsfront« zu beteiligen. Die wilhelminische Regierung habe zweifellos »Fehler und Torheiten« begangen und der größte Fehler sei es gewesen, dass sie nicht genug für eine frühzeitigere Beendigung des Krieges getan habe. Dies aber sei etwas völlig anderes als der Vorwurf des Versailler Vertrages, Deutschland habe vorsätzlich den Krieg geplant und begonnen. »Wer die Revolution rechtfertigen will […], der kann wirksam nur mit der Kriegsverlängerung arbeiten, aber nicht mit dem Kriegsausbruch.« Für die Klärung dieser Frage sei der Prozess enorm wichtig gewesen. Delbrück bescheinigte zwar Eisner einen guten Willen, betonte aber auch, dass er mit seinem Handeln schweren Schaden angerichtet hätte. Das entscheidende Prozessergebnis, die Feststellung des russischen und französischen Kriegs­ willens, rücke aber mittlerweile in den Hintergrund, da rechts und links nun »Partei-Süppchen« kochten, um »dem Gegner etwas anzuhängen«. Vor Gericht hätten sich beide Seiten vereinigt im Kampf gegen die Kriegsschuldlüge: »Das ganze deutsche Volk sollte sich jetzt um diese Parole sammeln.«99 Dieser Appell ist typisch für das Denken bürgerlicher Kreise in dieser­ Epoche. Man beklagte den politischen Streit, weil man die für das Funktionieren einer Demokratie notwendige Streitkultur kaum verstand, und wünschte sich Geschlossenheit und Einheitlichkeit im Volk. Insofern steht Delbrück mit seinem Programm nicht außergewöhnlich da. Er erkannte immerhin, dass  – wie er schrieb – eine vollständige »Einheitsfront« nicht möglich sei und unternahm nur den Versuch, sie auf dem Feld der Kriegsschuldfrage herzustellen. Hier war er zusammen mit seinen zahlreichen Gesinnungsgenossen sehr erfolgreich. Je mehr Jahre vergingen, desto sicherer wurden fast alle Kreise im Volk in ihrer Gewissheit einer deutschen Unschuld. Mit Ausnahme der Kommunisten hatten sich alle von der Agitation überzeugen lassen. Delbrück als einer der wichtigsten Agitatoren trug hierfür ein hohes Maß an Verantwortung. Denn seine Dialektik  – die scharfe Trennung zwischen dem alliierten Vorwurf des Vorsatzes und der tatsächlichen historisch erwiesenen Mitverantwortung – erwies sich als schlagend. Es drang nur der eine Teil seiner Thesen durch, nämlich die Unschuld der Reichsleitung. Der andere Teil – den Delbrück im Gegensatz zu den Rechten keineswegs verschwieg –, die tieferen politischen Zusammenhänge, die das Reich sehr wohl belasteten, geriet zunehmend in Vergessenheit. Das war durchaus auch Delbrücks Absicht, denn er wollte dieses Feld der Wissenschaft überlassen und aus der Politik heraushalten. Damit förderte er aber nachdrücklich jene gefährliche Stimmung in Deutschland, nach der man tat98 Zitate von Hans Delbrück in: Ders.: »Der Münchener Eisner-Prozeß«, in: Vorwärts, 39. Jg., Nr. 223 vom 12. Mai 1922, in: BArch N 1017/49, /59. 99 Ebd., Hervorhebungen im Original.

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sächlich vollkommen unschuldig und selber das Opfer eines Überfalls geworden sei. Dies bildete später den Nährboden für revanchistisches und chauvinistisches Gedankengut. Delbrücks Artikel erzielte unterschiedliche Reaktionen: Der Chefredakteur des »Vorwärts«, Friedrich Stampfer, antwortete tags darauf zur Wahrung des sozialistischen Standpunktes mit einer Ehrenrettung Kurt Eisners. Er zeigte sich davon überzeugt, dass dessen Veröffentlichungen keine Folgen gehabt hätten, da die Entente ohnehin bei den Deutschen die Schuld gesehen habe. Er glaube im Übrigen nicht daran, dass der Fechenbach-Prozess die Meinung in der Weltöffentlichkeit ändern könne. Die SPD sei immer schon der einsei­tigen Schuldzuschreibung entgegengetreten, könne aber hierbei nicht zusammen mit den Kräften arbeiten, die das alte System rehabilitieren wollten100. Damit gab Stampfer inhaltlich Delbrück weitgehend Recht, widersetzte sich aber – allerdings nur zaghaft  – dessen Plädoyer für eine »Einheitsfront«. Die »Deutsche Zeitung« wiederum griff Delbrück von rechts an: Dessen sorgfältige Unter­ scheidung von Kriegsschuldfrage und Kriegsverlängerungsfrage tat sie als Verschleierung ab und konstatierte: »Schuldlüge, Revolution, Eisner und Friedensvertrag bilden demnach eine unentwirrbare, zusammenhängende Kette.« Diese bewusste Verknüpfung nicht ineinandergreifender Ereignisse sprühte das Gift, das die politische Atmosphäre in der Republik in ihren Grundfesten nachhaltig vergiftete. Delbrück selbst wurde mit den sarkastischen Worten belegt: »Professor Dr. Hans Delbrück, der sich vom Jünger Treitschkes zum ›Vorwärts‹Leitartikler ›hinauf’entwickelt hat […]«101. Dass der national gesinnte und in der Kriegsschuldfrage durchaus rechts stehende Hans Delbrück derart diffamiert wurde, demonstriert, wie weit rechts in Weimar der politische Diskurs geführt wurde. Interessant ist allerdings die Veröffentlichung des Delbrückschen Aufsatzes ausgerechnet im sozialdemokratischen Leitorgan: Zunächst hatte sich Friedrich Thimme, ebenfalls Sachverständiger in München, am 7. Mai an Delbrück gewandt und angeregt, als Sachverständige in gemeinsamer Absprache in verschiedenen Zeitungen das Wort zu ergreifen »und zwar so, daß wir auch nach der Seite der Unabhängigen und Sozialisten möglichst gewinnend, nicht abstoßend à la Cossmann & Co auftreten.« Diese seien im Schlussplädoyer sehr »törich[t]« aufgetreten und er fürchte, dass der erzielte Konsens in der Schuldfrage durch eine zu erwartende Pressepolemik von rechts wieder zerstört werde. Der Mitsachverständige Max Montgelas, mit dem er bereits gesprochen hatte, stimme ihm zu und plane einen Artikel im »8Uhr-Abendblatt«. Er selbst, Thimme, werde für die »Vossische« oder »Kölnische Zeitung« schreiben und gehe davon aus, dass Delbrück sich im »Berliner Tageblatt« zu Wort melden werde. 100 Friedrich Stampfer: »Schuld- und Unschuldlegenden. Eine Antwort an Prof. Hans Delbrück«, in: Vorwärts, 13. Mai 1922, in: BArch N 1017/49. 101 Erich Kühn: »Die Auferstehung der Wahrheit«, in: Deutsche Zeitung, 27. Jg., Nr. 222 vom 16. Mai 1922, in: BArch N 1017/49.

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Georg Karo werde in der »Deutschen Allgemeinen Zeitung« schreiben. Die Artikel sollten alle sofort nach der Urteilsverkündung erscheinen. Insgesamt zeigte er sich vom Prozess »recht befriedigt«, jedoch habe die »Partei Cossmann […] mir in summa einen etwas fatalen Nachgeschmack hinterlassen.«102 Thimme, der im Weltkrieg und danach in politischer Nähe zu Delbrück zu verorten ist, hatte vorausgesehen, dass die Rechte sich nicht scheuen würde, das Prozessergebnis zu instrumentalisieren, um gegen die Linke zu agitieren. Die fatale Folge hiervon war eine zunehmende Aufheizung der politischen Gemüter und Spaltung der Gesellschaft. Insofern sollte Thimmes Plädoyer, das in der Sache vollkommen von Delbrück geteilt wurde103, wie dessen »Vorwärts«-Artikel belegt, zum Wohle der politischen Kultur sein. Dieses Engagement ist umso bedeutender, als es sich bei diesen Männern gerade nicht um Sozialisten handelte, sie aber eine gerechte Beurteilung und Behandlung derselben forderten. Thimme unterschied sich nur darin von Delbrück, dass er Coßmann zu den rechten Kreisen hinzu zählte, während Delbrück von dem Münchener Publizisten in diesem Prozess eine hohe Meinung hatte. Dieser hatte wohl auch seinen »Vorwärts«-Artikel angeregt, denn am 8. Mai hatte Coßmann Delbrück hierum gebeten und dabei – ganz im Sinne Thimmes – vor der Gefahr gewarnt, dass »durch einige Zeitungsschreiber die angebahnte Verständigung im Keime erstickt wird«, wobei er hiermit auch die radikale Linke meinte104. Coßmann demonstrierte damit eine wesentlich moderatere und auf Verständigung zielende Haltung als drei Jahre später beim Dolchstoßprozess vor demselben Gericht105. Es ist schwer zu sagen, ob Coßmann 1922 tatsächlich noch gemäßigter gewesen war als 1925. Manches spricht dafür, wie seine Anregung an Delbrück zu dem »Vorwärts«-Artikel. Auch Coßmanns Bitte an Friedrich Thimme nach dem Prozess, auf die Rechtsparteien einzuwirken, von einer Reichstags-Interpellation 102 Friedrich Thimme an Hans Delbrück am 7. Mai 1922, in: SBB NL Delbrück, Briefe Thimme, Bl. 38. 103 Nach der Mitteilung Delbrücks, dass er im Vorwärts schreiben werde, antwortete Thimme sehr erfreut über die politische Übereinstimmung: »Gegenüber dem Versuch der radikalen Rechten, den Eisnerprozeß taktisch gegen die sozialistischen Parteien auszuschlachten […] ist eine öffentliche Stellungnahme von uns absolut notwendig.« (Thimme an Delbrück am 10. Mai 1922, in: ebd., Bl. 39). 104 Coßmann an Delbrück am 8. Mai 1922, in: BArch N 1017/59. Als ihm Delbrück antwortete und seine Zeilen für den Vorwärts ankündigte, reagierte Coßmann sehr erfreut. Zugleich bat er Delbrück um eine Mitteilung derjenigen führenden Sozialdemokraten, denen er sein Prozessheft zusenden könne (Coßmann an Delbrück am 11. Mai 1922, in: BArch N 1017/59). Coßmann hatte also den Anstoß gegeben, dennoch wird Delbrück keinen Artikel geschrieben oder an Stellen veröffentlich haben, von dem er nicht selbst überzeugt war. Es war auch nicht das erste Mal, dass er sich im sozialdemokratischen Leitorgan zu Wort gemeldet hat. Die Redaktion hatte den Abdruck kommentiert mit den Worten, Delbrück sei eine so herausragende Persönlichkeit, dass er »das Recht [habe], gehört zu werden, wo er gehört zu werden wünscht.« (Hans Delbrück: »Der Münchener Eisner-Prozeß«, in: Vorwärts, 39. Jg., Nr. 223 vom 12. Mai 1922, in: BArch N 1017/49, /59). 105 Siehe hierzu Kapitel V.3.

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zur Kriegsschuld abzusehen106, reiht sich hier ein. Dieses Vorhaben der Rechten, die Schuldfrage in den parteipolitischen Kampf hineinzuziehen, musste eine weitere Polarisierung nach sich ziehen. Coßmanns Engagement zur Verhinderung ist also ein Hinweis darauf, dass er das 1922 nicht wollte. Vieles deutet aber darauf hin, dass sich Coßmann nicht erst im Dolchstoßprozess radikalisierte, sondern bereits den Kriegsschuldprozess im Sinne einer weit rechts stehenden Politik aufgezogen hatte: Sein Prozessgegner Philipp Loewenfeld, der mit Coßmann aus der Zeit vor dem Weltkrieg bekannt war, berichtete, dass dessen politische Veränderung in die Kriegsjahre gefallen sei: Ursprünglich habe er ihn »in jeder Beziehung für einen höchst achtungswürdigen Mann« gehalten, der sich deutlich von rechts abgegrenzt hatte. Im Rahmen der Kriegszieldebatte habe er sich dann aber zu den Alldeutschen gewandt und zu einem rücksichtslosen Vorkämpfer ihrer Ideen gemacht107. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass sich Coßmann auch danach noch weiter nach rechts bewegt haben kann, ist die ideologische Nähe zu den Alldeutschen schon zu Kriegszeiten ein eindeutiger Hinweis darauf, dass er bereits 1922 erheblich weiter rechts stand als­ Delbrück. Es drängt sich der Eindruck auf, dass sich Delbrück von Coßmanns geschickter Agitation im Kriegsschuldprozess hat täuschen lassen. Es ist gut möglich, dass sich Coßmann nur aus taktischen Gründen im Rahmen der Gerichtsverhandlungen von den rechtsradikalen Kreisen abgesetzt hat, um die gemäßigten Kräfte wie Delbrück und Thimme für sich zu gewinnen. Sein perfides Spiel im Rahmen des späteren Dolchstoßprozesses unterlegt, wie skrupellos er für seine politischen Ziele bereit war, zu kämpfen. Bereits die Fußnote in dem Aufsatz von Karl Alexander von Müller, der den Kriegsschuld­prozess ausgelöst hatte, war ein Beweis dieser Hinterhältigkeit. In dem Punkt hatte sich Hans Delbrück in der Tat geirrt: Er war der Ansicht, dass das Vorhaben, den Prozess zu einem politischen zu machen, nur von Fechenbach ausgegangen sei. Die Gegenseite (Coßmann) habe hierauf nur reagiert und die Herausforderung angenommen108. Dies ist nicht richtig. Zwar hatte sich Fechen­bach zunächst vor allem dem Vorwurf der Fälschung entgegensetzen 106 Thimme an Delbrück am 25. Mai 1922, in: SBB NL Delbrück, Briefe Thimme, Bl. 40. 107 Landau / Rieß, Recht, S. 435 f, Zitat S. 435. 108 Delbrück veranlasste seine Fehleinschätzung zu einer scharfen und persönlichen Kritik an Ernst Sauerbeck, dem Leiter der Zentralstelle für Erforschung der Kriegsursachen. Denn das Mitteilungsblatt der Zentralstelle hatte in seinem Prozessbericht davon gesprochen, dass beide Parteien eine politische Absicht verfolgt hätten (Delbrück an Sauerbeck am 5. August 1922, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Sauerbeck, Bl. 2 f). Auch beim Arbeitsausschuss Deutscher Verbände (ADV) hatte sich Delbrück wegen derselben Darstellung in deren Mitteilungsblatt beschwert. Er betonte: »Herr Fechenbach und sein Anwalt glaubten den Prozess benutzen zu können [sic] um im Sinne ihrer Partei-Auffassung dem alten Regiment eine zerschmetternde Niederlage beibringen zu können. Dass das ins Gegenteil verkehrt wurde und sie selber die zerschmetternde Niederlage erlitten, macht den Sieg also noch viel grösser.« (Delbrück an den ADV am 19. Juli 1922, in: ebd., Briefkonzepte Arbeitsausschuß, Bl. 2–4 f). Das entsprechende Mitteilungsblatt vom ADV, das Maidoppelheft 1922, findet sich in: ebd., Fasz. 111.4.

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und aufgrund seiner Treue zu dem ermordeten Eisner dessen Werk verteidigen wollen109. Und zu einem gewissen Grad sah auch er den Prozess in der Tat als politische Bühne, um Eisners und seine Sicht zur Kriegsschuldfrage öffentlich feststellen zu lassen. Die Gegenseite jedoch hatte den Prozess in erheblich anderer Weise vorbereitet. Coßmann hatte ihn sogar vorsätzlich provoziert mit seiner Anmerkung in den »Süddeutschen Monatsheften«. Dabei ging es gar nicht um Fechenbach als Person und die Unterstellung in der Fußnote, sondern um nichts weniger, als die Unschuld Deutschlands am Kriegsausbruch juristisch feststellen zu lassen anhand der Entkräftung des Schoen-Berichts. Fechenbach erkannte dies erst wenige Tage vor Verhandlungsbeginn, als er den Beweisantrag seiner Gegner erhielt. Da wurde ihm klar, »daß die Alldeutschen einen großen Feldzug vorhaben«110 und gedachten, die Verhandlungen politisch aufzuladen, dass sie aber erheblich bedeutendere Ressourcen hierfür mobilisierten111. Folglich hatten zwar beide Seiten von Beginn an die Möglichkeit erwogen, den Prozess zu instrumentalisieren, um juristisch eine politische Klärung herbeiführen zu können. Aber Fechenbach hatte sich völlig verschätzt in seinen eigenen Mitteln und in der Entschlossenheit der Rechten. Fechenbach war derjenige, der in Reaktion und nicht in Aktion handelte, obwohl auch er die Gelegenheit der Beleidigung nicht ungenutzt lassen wollte für eine politische Feststellung der Schuldfrage. Aber er hatte verkannt, dass ihn Coßmann mit der Fußnote manipuliert hatte und von vornherein diese politische Klärung herbeiführen wollte und hier mit seinen ungleich größeren Ressourcen die sicheren Siegeschancen hatte. Hans Delbrück hat sich in dieser Hinsicht täuschen lassen, was damit zusammenhängen mag, dass er inhaltlich auf Seiten Coßmanns stand und die Vorgänge deshalb nicht so kritisch beleuchtete112.

109 Vgl. Schueler, Flucht, S. 159 f. 110 Felix Fechenbach an Karl Kautsky am 16. März 1922, zitiert nach: Schueler, Flucht, S. 160. Auch Fechenbachs Anwalt Philipp Loewenfeld war erst kurz vor dem Prozess durch eine indirekte Information von Richter Frank klar geworden, in welcher Dimension die Gegenseite den Prozess aufzuladen gedachte (Landau / Rieß, Recht, S. 449). 111 Schueler, Flucht, S. 166, veranlasst dies zu der Bemerkung: »Es war das Spiel der Katze mit der Maus.« Otto Graf zu Stolberg schrieb im Vorwort des Prozessheftes der Coßmannschen »Süddeutschen Monatshefte« sogar ganz offen, das Ziel des Prozesses sei es gewesen, die Grundlage des Versailler Vertrages zu erschüttern (Süddeutsche Monatshefte, Mai­ ausgabe 1922, S. 49). 112 Coßmann nutzte auch schmeichelnde Worte, um Delbrück als Sachverständigen zu gewinnen. Siehe z. B. sein Schreiben an Delbrück vom 4. April 1922, in: SBB NL Delbrück, Briefe Cossmann [sic]. Zwei Jahre später schrieb er dann in seinen Süddeutschen Monatsheften in der Ausgabe, die den Dolchstoßprozess auslöste, rückblickend zu Eisners Aktion, sie habe »[i]nternational […] die größte, je zu Deutschlands Ungunsten erzielte Wirkung in der Schuldfrage erreicht.« (Süddeutsche Monatshefte, 21. Jg., Heft 8 vom Mai 1924, S. 117). Dies unterstreicht, dass Coßmann den damaligen Kriegsschuldprozess in politischer Agitation geführt hatte und das Ergebnis in der Sicherheit einigen Abstands ebenfalls in der radikalen Variante ausnutzte.

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Dass ausgerechnet der »Vorwärts« – wenn auch mit leichter inhaltlicher Distanzierung durch Friedrich Stampfer  – Delbrück, und damit dem Anliegen seiner Gesinnungsgenossen, Platz eingeräumt hatte, zeigt, dass man auch im linken Lager zu der von ihm angedachten Verständigung im Anschluss an das Prozessergebnis grundsätzlich bereit war. Es handelte sich also nicht wie von Hermann Schueler dargestellt um eine konzertierte Aktion von rechts, mit der man die Linke überrumpelt und ausgeschaltet hatte. Es war zwar ein abgesprochenes Vorgehen, allerdings der gemäßigt rechten Kräfte. Die radikal rechten Kreise führten eine eigene Kampagne113. Die Artikel von Delbrücks Mitsachverständigen waren in der Richtung ähnlich, aber nicht ganz so pointiert formuliert114. Dafür waren die Stimmen von rechts umso aggressiver: Die »München-Augsburger Abendzeitung«, ein DNVP-nahes Blatt, schrieb beispielsweise noch vor der Urteilsverkündung, nun sei die Unwahrheit der Kriegsschuldlüge erwiesen. Die Republik verteidige aber diese Lüge, da es sonst keine Rechtfertigung mehr für die Revolution gebe und die Republik damit am Ende sei115. Teils aus eigenem Antrieb, weil ihnen das Prozessergebnis nicht genehm war und sie sich nicht in eine »Einheitsfront« mit dem Bürgertum begeben wollte, vor allem aber in Reaktion auf die Gehässigkeit von rechts meldeten sich viele linke Zeitungen zu Wort und griffen den Prozess und die Versuche zur Einigung von ihrer Seite aus an. Hellmut von Gerlach schrieb in seiner »Welt am Montag« von einer »Kampagne der Tintenfische«: Auch er wies eine »Allein113 Schueler, Flucht, S. 167–170, vermischt diese beiden Richtungen zu einer und erkennt nicht den qualitativen Unterschied zwischen den Gemäßigten, denen an einer Verständigung von Bürgertum und Arbeiterschaft gelegen war, und den Radikalen, die eben diese ablehnten und sabotierten (übrigens auf beiden Seiten des politischen Rands). 114 U. a.: Friedrich Thimme: »Die Einheitsfront in der Schuldfrage«, zwei Teile, in: 8 UhrAbendblatt, 75. Jg., vom 31. Mai und 7. Juni 1922, in: BArch N 1017/49; Max Montgelas: »Die Aufrollung der Kriegsschuldfrage«, in: Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 216, 217, 218 vom Mai 1922, Sonderdruck in: ebd.; Eugen Fischer: »Schuldfrage und Münchener Fälschung«, in: Beilage zur Freiheit vom 4. Juni 1922, in: BArch N 1017/59. Eine mittlere Linie nahm das BT ein. Der Ressortleiter Innenpolitik, Ernst Feder, rechtfertigte zwar den Freispruch und folgte damit der Linie des Gerichts des berechtigten Interesses. Auch er begrüßte, dass erstmals gerichtlich die Schuldfrage aufgerollt worden war und schrieb Eisner eine bewusste Fälschung zu, wenn auch mit »lauter[er]« Absicht. Die Wirkung seiner Veröffentlichungen sei »grauenhaft« gewesen: Sie hätten zwar keinen Einfluss auf den Versailler Vertrag gehabt, da dieser nur im Geiste brutaler Machtpolitik diktiert worden sei, hätten aber nachträglich eine willkommene Begründung geliefert, um dem Diktat einen moralischen Anschein zu geben. Zur Kriegsschuld hielt Feder fest, dass nun bewiesen sei, dass Deutschland im Sinne der Versailler Anklage unschuldig sei, gleichzeitig aber seien vor Gericht zahlreiche Fehler der wilhelminischen Diplomatie aufgedeckt worden, sodass man nicht von einer Unschuld im politischen Sinne sprechen könne (Ernst Feder: »Eisners Dokumente«, in: BT, Nr. 222 vom 12. Mai 1922). Max Montgelas zeigte sich gegenüber Delbrück sehr befriedigt über diesen Artikel (Montgelas an Delbrück am 16. Mai 1922, in: SBB NL Delbrück, Briefe Montgelas I, Bl. 32). 115 Gottfried Traub: »Der Zwang zur Lüge«, in: München-Augsburger Abendzeitung, Nr. 191 vom 6. Mai 1922, in: BArch N 1017/49.

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schuld« Deutschlands ab, zeigte sich aber davon überzeugt, dass der Prozess die Hauptverantwortung Berlins und Wiens in den Krisentagen des Julis 1914 erwiesen habe. Alle Sachverständigen mit Ausnahme Quiddes würden diese wichtige Erkenntnis verdunkeln, indem sie von einer angeblich nie amtlich festgestellten »Alleinschuld« sprachen, die nun angeblich widerlegt sei. Im Übrigen brachte er den eigentlichen Prozess sehr gut auf den Punkt und schrieb: »Der lebende Fechenbach muß für den toten Eisner büßen«, erkannte also, wie Fechenbach instrumentalisiert wurde für ein Politikum116. Delbrück schickte am nächsten Tag eine lange Gegendarstellung an Gerlach, verteidigte das juristische Urteil in der Sache und bescheinigte dem Amtsrichter eine »musterhaft[e] und von absoluter Unparteilichkeit« geprägte Prozessführung117. Gerlachs Argumente, mit denen dieser die Verantwortung der Mittelmächte dargelegt hatte, widerlegte Delbrück ausführlich. Dann allerdings schrieb er, dass die Aktion von Eisner eine erheblich negative Wirkung auf die Friedensbedingungen gehabt hätte, da die Kräfte in der Entente, die Deutschland schonen wollten, mit diesen Veröffentlichungen Zweifel an der deutschen Unschuld bekommen hätten118. Gerlach lehnte einen Abdruck dieser Zeilen in seinem Blatt ab mit der Begründung, er habe in einer Wochenzeitung zu wenig Platz für ausführliche Debatten. Er hielt aber an seinem Standpunkt fest und verwies auf Fechenbachs Artikel in der »Freiheit« vom Vortag mit ähnlicher Ansicht. Von den »Tintenfischen« nahm er Delbrück aber ausdrücklich aus und verwies auf die rechten Journalisten119. Hieran wird deutlich, dass die Linke, wenn sie sich nun von der »Einheitsfront« in der Schuldfrage distanzierte, es vorrangig deshalb tat, weil sie von der Rechten aus niederen Motiven angegriffen wurde. Felix Fechenbach hatte am 17. Mai in der USPD-Zeitung »Freiheit« verbittert geschrieben, die eigentliche Frage der Beleidigung sei völlig in den Hintergrund getreten. Die rechten Sachverständigen »und ihr Auftreten mutete an wie ein Gespenstertanz des alten 116 Hellmut von Gerlach: »Monarchistische Ausschreitungen in München. Die Kampagne der Tintenfische«, in: Die Welt am Montag, 28. Jg., Nr. 20 vom 15. Mai 1922, in: BArch N 1017/59. Ebd. weitere Presseartikel mit linken und rechten Stimmen zum Prozessausgang. 117 Philipp Loewenfeld kam (20 Jahre später) zu einer differenzierteren Charakteristik des Richters: Frank sei nur »dem äußeren Anschein nach unparteilich und nur auf Feststellung der Wahrheit erpicht.« In der Tat sei er im technischen Verfahren absolut korrekt, seine zwölfjährige Erfahrung in der Zusammenarbeit habe bei ihm jedoch den Eindruck hinterlassen, dass Frank nicht »wahrhaft unabhängi[g]« gewesen sei, sondern sich immer nach der Seite der Mächtigen gestreckt habe (Landau / Rieß, Recht, S. 448 f, Zitate S. 448). Franks Verhalten im späteren Dolchstoßprozess bestätigt diesen Eindruck Loewenfelds. Hans Delbrück, der 1925 genauso urteilte, hatte sich im Kriegsschuldprozess 1922 also noch irreleiten lassen von dem äußeren Eindruck, zumal der Prozessverlauf und das -ergebnis ihm recht waren. Delbrück hatte auch noch ein Jahr nach dem Kriegsschuldprozess nur Lob für Frank übrig, wie sein Brief an ihn beweist (Delbrück an Frank am 21. Juli 1923, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Frank, Bl. 1 f). 118 Delbrück an Gerlach am 16. Mai 1922, in: BArch N 1017/59. 119 Gerlach an Delbrück am 18. Mai 1922, in: SBB NL Delbrück, Briefe Gerlach, Bl. 8 f.

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kaiserlichen Deutschlands«. Mit Ausnahme Quiddes120 hätten sie alle »Weißwaschungsversuche« unternommen, aber es seien einige neue Tatsachen festgestellt worden, die das Reich belasteten. Die Tatsache, dass das AA den vollständigen Schoen-Bericht damals nicht rechtzeitig an die Viererkommission weitergeleitet hatte, beweise entweder, dass Eisners Weglassungen die eigentliche Aussage des Berichts – die deutsche Kriegsschuld – nicht verfälscht hätten, oder es handele sich um ein »schweres Verbrechen« seitens des AA, wenn die Vollversion denn entlastend gewesen wäre. Die Wirkung des Prozesses auf das Ausland sei jedenfalls negativ, da man den Eindruck habe, das republikanische Deutschland sei »nur eine Maskierung des kaiserlichen«121. Max Montgelas zeigte sich über Fechenbachs Aufsatz »arg enttäuscht. Das war nicht loyal. Allerdings ist das Urteil im Kostenpunkt sehr hart und mir nicht sympathisch.« Fechenbach hatte also seine Ansicht seit dem Prozessende geändert und war von seiner damaligen Aussage über die Kriegsschuldfrage wieder abgerückt. Dies lag auch an der Art, wie die Rechte das Ergebnis zu instrumentalisieren versuchte. Dass Fechenbach die Prozesskosten zu übernehmen hatte, wird seinen Unmut verstärkt haben. Aber Montgelas wies auch noch darauf hin, dass es »eben schwer begreiflich zu machen« sei, dass die Weitergabe der in Frage stehenden Berichte im Außenministerium an die Versailler Kommission aus technischen Gründen nicht innerhalb von zwei Tagen funktioniere. Fechenbach sei mit den bürokratischen Abläufen in einem Ministerium zu wenig vertraut, sodass er die falschen Schlussfolgerungen aus der Tatsache ziehe, dass die Viererkommission die vollständigen Berichte nicht rechtzeitig genug bekommen hatte122. Denselben Vorwurf richtete Montgelas allerdings auch nach rechts: In einer Entgegnung auf einen Artikel des Münchener Althistorikers Walter Otto in der »München-Augsburger Abendzeitung« bekräftigte er nochmals, dass es sich nicht um ein Verbrechen des Außenministeriums handele, 120 Der spätere Friedensnobelpreisträger Ludwig Quidde hatte auf den entscheidenden Punkt hingewiesen, dass Eisner die Dokumente als Journalist behandelt hatte und man an seine Publikationen nicht die Maßstäbe einer wissenschaftlichen Edition anlegen dürfe, wie es das Gericht und die anderen Gutachter getan hätten (Ludwig Quidde: »Ein Gegenstück zu Eisners ›Fälschungen‹«, in: Berliner Volks-Zeitung, 70. Jg., Nr. 236 vom 20. Mai 1922, in: BArch N 1017/59; ähnlich auch: Ders.: »Eisners Publikation«, in: 8Uhr-Abendblatt, 75. Jg., Nr. 120 vom 23. Mai 1922, in: ebd.). 121 Felix Fechenbach: »Deutsche Diplomatie und bayerische Justiz«, in: Beilage zur Freiheit, Nr. 217 vom 17. Mai 1922, in: ebd. 122 Montgelas an Delbrück am 22. Mai 1922, in: SBB NL Delbrück, Briefe Montgelas I, Bl. 34 f. Denselben Fehler macht auch Schueler, Flucht, S. 158, indem er die Nichtweitersendung der Akten durch das AA nach Versailles kritisiert. Philipp Loewenfeld, der seinen Militärdienst wenige Jahre vor dem Weltkrieg im von Max Montgelas befehligten Bayrischen Infanterie-Leibregiment abgeleistet hatte, hielt menschlich viel von seinem ehemaligen Vorgesetzten. Wenngleich Montgelas im Prozess von 1922 eine teils deutlich andere Sicht vertrat, attestierte Loewenfeld ihm, er habe »nach Form und Inhalt Anstand und Ritterlichkeit bewahrt, im Gegensatz zu manchen anderen Prozessbeteiligten.« (Landau / Rieß, Recht, S. 52 f, Zitat S. 53).

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den Bericht nicht schneller an die Viererkommission weitergeleitet zu haben. Zudem verteidigte er die Arbeit der vier, die zwar »nicht das Muster eines geschichtlichen Dokuments« sei, aber in Anbetracht der damaligen Umstände nach bestem Wissen und Können erstellt worden sei123. Hans Delbrück verfasste in gewisser Weise als Abschluss zur intensiven Pressedebatte einen längeren Artikel, der in der Juniausgabe der »Deutschen Nation« erschien. Er legte noch einmal das aus seiner Sicht positive Prozessergebnis dar, das für ihn »einen Zug von Großartigkeit« trug. Fechenbach und Loewenfeld hätten mit ihrer Erklärung, dass sie nun ebenfalls gegen die »Versailler Schuldlüge« kämpften, die »Einheitsfront« hergestellt. Nun aber sei diese von rechts und von links wieder erschüttert worden. Er klagte vor allem die Rechten an, die mit ihrer Schlussfolgerung, die Republik sei mit der erwie­ senen Unschuld des kaiserlichen Regimes nicht länger legitimiert, die Linke von der Gemeinschaft in der Kriegsschuldfrage wieder ausgestoßen hatten: »Die nationale Einheitsfront ist also wieder zerrissen und die deutsch-nationalen Heißsporne, die sich auf ihre patriotische Gesinnung so viel zu gute tun, haben die Schuld.« Auf Fechenbachs Artikel, in dem er sich von seiner Ansicht zur Schuldfrage wieder distanziert hatte, reagierte Delbrück verständnisvoll, da ihm der Verfahrensausgang für Fechenbach persönlich sehr leid tat. Er nutzte dessen Ausführungen nun für eine neuerliche Darstellung der Julikrise. Zum Schluss zeigte sich Delbrück erneut verbittert darüber, dass die von ihm gewünschte »Einheitsfront« nicht so leicht zustande zu bringen war. Er würde gern eine Diskussion über die Kriegsschuld im Reichstag sehen, die aber deshalb nicht gemacht würde, da dies Thema dort nur im Parteikampf enden würde. »Schrittmacher« seien diesmal der DNVP-Politiker Gottfried Traub und der alldeutsche Publizist Max Maurenbrecher. Da dürfe man sich über scharfe Reaktionen von links nicht mehr wundern124. Hans Delbrück hatte sich damit wieder einmal mit einem nationalen Programm mehr gegen rechts als gegen links gewandt, weil er dort die größeren Gefahren für die Gesellschaft und Politik erblickte. Die Tatsache, dass er selbst ein prominenter Konservativer war, machte ihn für die rechten Kreise viel gefährlicher als jede Agitation von links. Alles in allem brachte der Kriegsschuldprozess 1922 dennoch eine weitgehende Klärung einer leidenschaftlich diskutierten Frage in der Weimarer ­Republik. Wenngleich selbst die MSPD von Anfang an die alliierten Vorwürfe einer deutschen Alleinkriegsschuld zurückgewiesen hatte, herrschte in den Anfangsjahren der Republik eine gewisse Uneinigkeit über diese Frage. Denn die Haltung entsprach eher einer inneren Überzeugung und wurde durch Propaganda ge123 Max Montgelas: »Ungerechtfertigter Angriff. Der Schoensche Bericht und die deutsche Viererkommission«, in: MNN, 75. Jg., Nr. 229 vom 1. Juni 1922, in: BArch N 1017/59. 124 Hans Delbrück: »Der Eisner-Prozeß und das österreichische Ultimatum«, in: Die Deutsche Nation, 4. Jg., 6. Heft vom Juni 1922, S. 440–445. Die Druckfahnen hierzu finden sich in: SBB NL Delbrück, Fasz. 111.6.

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schürt, als dass sie tatsächlich in größerem Umfang wissenschaftlich erörtert worden wäre. Das Amtsgericht München brachte zum ersten Mal eine juristische, amtliche Feststellung der Vorgänge, die zum Krieg geführt hatten. Auch wenn die vor Gericht vorgetragenen Thesen nach Kenntnis der heutigen Forschung zum Gutteil fehlgingen, brachten die Ergebnisse der Bevölkerung eine Sicherheit in der Angelegenheit. Das war auch von vornherein das Ziel sowohl der Partei Coßmann, als auch der Sachverständigen um Delbrück ge­wesen. Darum werteten sie das Urteil in der Presse so intensiv aus. Und sie waren erfolgreich damit: Auch wenn die »Einheitsfront« durch die Attacken von rechts schnell Risse bekam, wurde von rechts außen bis zur MSPD keine Debatte mehr über die Frage einer deutschen Schuld am Weltkrieg geführt. Dies blieb fortan eine Domäne der linksradikalen Kreise, die ohnehin außerhalb jedes politischen Konsenses im Reich standen und somit in dieser Frage keine Wirkung mehr erzielen konnten. Hans Delbrück hat am Zustandekommen des Urteils und vor allem an der dann erfolgten propagandistischen Ausnutzung des Ergebnisses maßgeblichen Anteil gehabt als einer der führenden Forscher über die Kriegsschuldfrage. Er war ein scharfer und erfolgreicher Agitator auf diesem Gebiet, denn er konnte sich damit durchsetzen, zwischen der in Versailles formulierten »Anklage« einer deutschen Alleinschuld und den tieferen Zusammenhängen der Kriegsursachen eine wissenschaftlich aus heutiger Sicher nicht haltbare Unterscheidung einzuführen, denn in einer historischen Betrachtung gehört nun einmal beides zusammen. Sein Ziel war aber politisch, die Revision des Versailler Vertrages125. Der Prozess war also nur Mittel zum Zweck gewesen und das Schicksal von Felix Fechenbach hatte man dabei missachtet. Ihn traf es in den Folgemonaten noch erheblich härter als vor dem Amtsgericht: Die Staatsanwaltschaft hatte die Vorwürfe, die im Rahmen des Verfahrens gegen ihn erhoben worden waren, aufgegriffen und ihn vor dem Volksgericht München wegen Landesverrats angeklagt. Die Volksgerichte waren ein Überbleibsel aus der Revolutionszeit und verfassungswidrig, unter anderem da sie keinerlei Rechtsmittel gegen ein Urteil vorsahen. Fechenbach wurde nach schweren Verfahrensfehlern am 22. Oktober 1922 zu elf Jahren Zuchthaus verurteilt, was einen Skandal im ganzen Reich auslöste, in dem sich auch rechtsstehende Juristen wegen der eklatanten Rechtsverletzungen empört zu Wort meldeten. Erst im Dezember 1924 wurde Fechenbach im Rahmen einer Amnestie entlassen  – gleichzeitig übrigens mit Adolf Hitler, der nach seinem gescheiterten Putsch vom November 1923 in Festungshaft saß126. Dieser für Weimar typische Justizskandal war freilich für Delbrück 125 Insofern greift Schueler, Flucht, S. 167, zu kurz mit seiner Aussage: »Der Rest war reine Stimmungsmache für die alten Gewalten.« So einfach war es eben nicht, die Revision des Versailler Vertrages war etwas völlig anderes als die Rehabilitierung des alten Reichs. 126 Vgl. Weber, Rechtsanwalt, S. 69 f. Siehe auch die nachträgliche Empörungsschrift von 1925 Hirschberg, Fall Fechenbach, in der der Verteidiger Fechenbachs in diesem Prozess die juristischen Fehler herausarbeitete, sowie Hirschbergs bereits 1922 veröffentlichten Prozessbericht, der sich an die deutsche Öffentlichkeit wandte und in der er schrieb, ihm scheine

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nicht voraussehbar gewesen127, dennoch blieb Fechenbach in jeder Hinsicht der Leidtragende in der gesamten Angelegenheit. 1933 war er dann eines der ersten Opfer Hitlers und wurde von SA- und SS-Angehörigen auf einem Gefangenentransport ermordet128. Delbrück hatte seine Ansicht zu der Veröffentlichung Eisners geändert  – nicht unbedingt so plötzlich, wie von Loewenfeld berichtet, aber er hatte es: Sprach er 1919 von Eisner als »eine[m] gewissenlosen Fälscher«129, so im Prozess nur noch von einem »bedauernswerte[n] Narr[en]«130 und nach dem Urteil schrieb er im »Vorwärts«, er habe keinen Zweifel mehr am guten Willen Eisners131. Die Gründe hierfür waren vielfältig: Zunächst hatte sich bei ihm zumindest etwas der nüchterne Verstand des Wissenschaftlers langsam wieder gegen die Augenblicksempörung durchgesetzt. Hinzu kam aber auch, dass er stets bereitwillig war, seine Meinung zu ändern, wenn man ihn mit guten Argumenten überzeugen konnte, auch im hohen Alter (Delbrück war zum Zeitpunkt des Prozesses 74 Jahre alt). Ein wichtiger Anstoß zu seiner zunehmend moderaten Haltung dürfte aber auch von der Art herrühren, wie die Rechte den Prozess instrumentalisierte im innenpolitischen Kampf gegen links. Delbrück wollte das Gerichtsverfahren ebenfalls nutzen – aber in der Außenpolitik. Er arbeitete daran, eine »Einheitsfront« herzustellen zwischen allen politischen Lagern, um gegenüber den Siegerstaaten zu Zwecken der Revision geschlossen auftreten zu können132. Diese »Einheitsfront« sah er auf das höchste gefährdet durch die rechte Polemik. Man kann und muss Delbrücks Sicht auf die Kriegsschuldfrage als national befangen kritisieren, sie war Ausdruck seiner konservativen Gesinnung. Aber in der Weise, wie er den politischen Kampf führte, hob er sich von einem Großteil des nationalen Lagers ab. Er bestritt zu keinem die Rechtsauffassung des Gerichts »in der Geschichte der deutschen Justiz ohne Beispiel zu sein« (Hirschberg, Volksgericht, S. 51). Philipp Loewenfeld berichtete, dass hinter dem neuen Verfahren wegen Landesverrats ebenfalls Coßmann steckte (Landau / Rieß, Recht, S. 462–474). Siehe auch die Prozessdarstellung bei Dreyfus / Mayer, Recht, S. 298–496. 127 Delbrück schrieb nach der Verkündung an Montgelas: »Das Fechenbach Urteil [sic] ist furchtbar, völlig sinnlos. […] Das kann eine deutsche Dreyfus Affaire [sic] werden.« (Delbrück an Montgelas am 31. Oktober 1922, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Montgelas, Bl. 10 f). 128 Vgl. Schueler, Flucht, S. 242–248. 129 Delbrücks Entwurf einer »Berichtigung« vom 8. August 1919 an den BLA in: BArch N 1017/59. 130 Nach Loewenfeld (Landau / Rieß, Recht, S. 452). 131 Hans Delbrück: »Der Münchener Eisner-Prozeß«, in: Vorwärts, 39. Jg., Nr. 223 vom 12. Mai 1922, in: BArch N 1017/49, /59. Am 16. Mai 1922 äußerte Delbrück gegenüber Gerlach sogar die Ansicht, dass Eisners Veröffentlichungen auch ohne Kürzungen übel gewirkt hätten (Delbrück an Gerlach am 16. Mai 1922, in: BArch N 1017/59) – damit war die heiß diskutierte Frage Fälschung oder nicht obsolet geworden. 132 Das unterstreicht z. B. auch sein Brief an Montgelas vom 17. April 1922 (in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Montgelas, Bl. 1 f)), in dem er die Ansicht äußerte, sofern der Prozess zu einer großen »Schulddiskussion« werde, erübrige sich damit auch seine Debatte mit dem Franzosen Victor Basch (siehe hierzu Kapitel IV.4.e)) – eine Auseinandersetzung, die er nur aus außenpolitischen Gründen führte.

Fehler oder Vorsatz? Die Entwicklung der Schuldfrage 

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Zeitpunkt die Legitimation der Republik und tat dies durch die Trennung der zwei Komplexe 1914 und 1918: Die Republik legitimierte sich für ihn durch das Versagen der Monarchie 1918 und nicht durch eine  – von ihm bestrittene  – Schuld am Kriegsausbruch 1914. Die Linke argumentierte häufig mit dem Versagen des Kaiserreichs in der Julikrise, um Weimar zu rechtfertigen. Die Rechte aber vermischte die Kriegsschuldfrage und die Niederlagenfrage zu einem Thema und sah in der Widerlegung der Kriegsschuld das Ende der Berechtigung des neuen Staates. Deshalb warb Delbrück stets für eine Zusammenarbeit von gemäßigtem Bürgertum und Arbeiterschaft  – dem Erfolgsgeheimnis der erfolgreichen Weimarer Jahre, wie es insgesamt Heinrich August Winkler feststellt133. Dass er dies auf der Grundlage seines gemäßigt rechten Programms tat und nicht im Geiste von Liberalismus oder Sozialdemokratie, konnte man von einem überzeugten Konservativen kaum anders erwarten.

3. Fehler oder Vorsatz? Die Entwicklung der Schuldfrage »[U]m den Versailler Frieden loszuwerden [sic] muss auch die Versailler Schuldlüge bekämpft werden und die linken Parteien müssen sich klarmachen, dass gerade sie darin noch viel mehr tun müssen als bisher. Denn man kann mit keinem Argument besser gegen die Republik agitieren als dass man sie anklagt in der Bekämpfung der Schuldlüge lau zu sein und dadurch Deutschlands internationale Stellung zu schädigen.«134

Mit diesen Worten markierte Hans Delbrück in einem Brief an den Chefredakteur des »Berliner Tageblatts« Theodor Wolff im Herbst 1922 seine Haltung zur Kriegsschuldfrage. Sein Ziel, die Schaffung einer »Einheitsfront« gegen die »Schuldlüge«, war damit motiviert, dass er die Republik nach rechts sichern wollte. Hans Delbrück entwickelte seine Agitation zur Kriegsschuldfrage hauptsächlich innenpolitisch, wenngleich es für ihn letztlich darum ging, auf die Meinung in anderen Staaten Einfluss zu nehmen. Für ihn kam es zunächst darauf an, eine »Einheitsfront« im deutschen Volk herzustellen. Die nationale und internationale Klärung der Kriegsschuldfrage sei »ein nationales Interesse ganz ersten Ranges«, wie er im November 1924 in einem Wahlaufruf für die DDP zu den Reichstagswahlen in der »Frankfurter Zeitung« schrieb. Er verband dies mit einer Kritik an den Rechtskräften: Diese würden sich als Vorkämpfer in der Abweisung der Versailler Anklage aufführen, hätten hierauf aber keinerlei Anspruch. Denn in ihren Reihen säßen die früheren Kriegshetzer, und es seien vorrangig DDP-nahe Forscher, die durch ihre Arbeit zur Aufklärung beigetragen hätten. Dennoch gebe es nach wie vor Stimmen im Linkslager, die bei der 133 Winkler, Weimar, S. 277. 134 Delbrück an Wolff am 10. Oktober 1922, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Wolff, Bl. 3–5.

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kaiserlichen Regierung die maßgebliche Kriegsschuld sähen, da sie in einer Diskreditierung des alten Reichs eine Legitimation für das neue erblickten. Delbrück sah hierin einen Grund, diese Parteien nicht zu wählen, denn man müsse scharf unterscheiden zwischen einer Kritik am Kaiserreich und der Versailler Schuldlüge. Gegen letztere müsse stets geeint gekämpft werden: »Das verlangt ebenso die historische Gerechtigkeit, wie das Interesse Deutschlands, wie das Interesse der Völkerversöhnung.«135 Innenpolitisch stand Delbrück nach wie vor nicht rechts, sondern blieb der gemäßigte Konservative. In dem Ansinnen der Deutschnationalen, den Kampf um die Kriegsschuldfrage für sich zu vereinnahmen, sah er deshalb eine Gefahr, weil damit die Linkskräfte im Reich ausgegrenzt werden mussten. Ließen diese sich das gefallen, war – so Delbrück – der Weg frei für eine Dominanz der Rechten, die er zeitlebens zu verhindern suchte. Denn die allgemeine Anschauung in Deutschland lag auf der Linie, dass das Reich zu Unrecht des Kriegsausbruchs beschuldigt wurde. Politische Kräfte, die eine andere Sichtweise propagierten, brachten sich also selbst ins Abseits. Deshalb war es Delbrück so wichtig, auch (Links-)Liberale und Sozialdemokraten mit einzuspannen, und er flößte ihnen Selbstvertrauen ein: Sie seien in vieler Hinsicht Vorreiter bei der Aufklärung und hätten also jedes Recht, sich hierzu zu bekennen. Damit wurden sie auch für gemäßigt rechte Kreise wählbar, die alternativ weiter rechts gewählt hätten. Dazu passte auch ein Brief, den Delbrück wenige Tage vor seinem Wahl­ aufruf an Hugo Preuß verfasste. Er schrieb davon, dass sein Entschluss, die DDP zu wählen, feststehe, ihn aber ein Punkt im Aufruf des republikanischen Reichsbundes irritiert habe: Dort habe es geheißen, die alten Zustände hätten das deutsche Volk in das Elend gestürzt. Delbrück betonte, die damalige Reichsleitung sei doch unschuldig am Krieg: »Das unsühnbare Verbrechen der alten Regierung ist, dass sie nicht rechtzeitig den Verständigungsfrieden abgeschlossen hat, den sie hätte haben können. Das wird mein Gutachten für den parlamentarischen Untersuchungsausschuss [sic] das jetzt endlich erscheinen soll [sic] wie ich denke einwandfrei darlegen. Mit derselben Entschiedenheit muss ich aber auch den Kampf gegen die Kriegschuldlüge [sic] führen.«136

Delbrück kam es darauf an, dass sich die Republik nicht legitimierte über die – seiner Meinung nach nicht vorhandene – Verantwortung des alten Reichs für den Kriegsausbruch. Als Legitimation reichte für ihn dessen Verantwortung für die Niederlage vollkommen aus. Diese Sichtweise versuchte er immer wieder, im republikanischen Lager durchzusetzen. Damit hob er sich von den meisten Agita­toren bezüglich der Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik ab: Die wesentlich von rechts dominierte Deutung einer angeblichen Unschuld 135 Hans Delbrück: »Für die Demokratie«, in: Frankfurter Zeitung vom 4. November 1924, in: ebd., Fasz. 88e. 136 Delbrück an Preuß am 28. Oktober 1924, in: ebd., Briefkonzepte Preuss. Zum Untersuchungsausschuss siehe Kapitel V.2.

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Deutschlands am Kriegsausbruch verband sich dort immer mit dem Vorwurf an die linken Kräfte, die Niederlage verschuldet zu haben. Kriegsunschuldslegende und Dolchstoßlegende (siehe hierzu ausführlich Kapitel V) bildeten bei den Rechten stets eine Einheit. Die Verknüpfung dieser beiden Legenden hatte die fatale Wirkung, das Ansehen der jungen Demokratie in Deutschland auszuhöhlen. Deshalb wird von der späteren Geschichtsschreibung die Agitation der Weimarer Forscher zur Kriegsunschuld häufig kritisiert137. Delbrück jedoch kann dieser Vorwurf nur bedingt treffen, denn er trennte diese beiden Komplexe in seiner Analyse scharf. Bereits im September 1922 verfasste Delbrück in der sozialistischen Wochen­ zeitschrift »Die Glocke« eine Entgegnung zu einem Aufsatz von Hermann­ Wendel, der geschrieben hatte, dass die Republik ihren Rechtstitel verlieren würde, wenn die kaiserliche Regierung tatsächlich keine Schuld am Kriegsausbruch treffe. »Da ich in der Republik die einzige Staatsform sehe, in der Deutschland jetzt weiterleben kann,« halte er, Delbrück, diesen Satz für gefährlich. In Deutschland und auch in anderen Ländern sei bereits eine Änderung in der Beurteilung der Julikrise zugunsten Deutschlands festzustellen. Aber dies dürfe sich nicht an die neue Staatsform koppeln. Die Schulddebatte sei ein »Hilfsmittel […] für die Reformierung des Versailler Friedens«. Dafür brauche es in Deutschland eine »Einheitsfront«. »Kann es ein besseres Agitationsmittel gegen die Republik und für die Herbei­f ührung einer Restauration geben, als wenn die dahinstrebenden Parteien immer wieder darauf verweisen können, daß es gerade die Hauptträger der republikanischen Verfassung sind, die sich in dem Kampf gegen die Schuldlüge entweder lau verhalten, oder den Kämpfenden gar in den Rücken fallen? Dies ist doch wohl einleuchtend, daß nichts der Republik mehr zugute kommen würde, als wenn es ihr gelänge, die Völker für die Aufhebung des Versailler Friedens zu gewinnen, und ein Mittel für diese Aufhebung, und nicht das kleinste, ist die internationale Aufklärung über die Kriegsschuld-Frage.«138

Deutlich wird hier, wie Delbrück die Kriegsschuldfrage zugunsten der Republik ausdeutete. Seine inhaltliche Sicht in der Sache war zwar durchaus rechtsstehend und nicht auf der Linie, wie sie die heutige Forschung erarbeitet hat. Aber er sah in einer Revision, die für ihn vor allem über die Widerlegung der Versailler Anklage erreichbar schien, als außenpolitischen Erfolg eine wertvolle Stabilisierung Deutschlands und damit der Republik als Staatsform. Weil er positiv für die Republik wirken wollte, trat er auch und gerade gegenüber den republikanischen Kräften nachdrücklich für eine Agitation in der Schuldfrage ein. Damit grenzte

137 Heinemann, Last, beispielsweise verknüpft diese beiden Komplexe. Siehe auch Winkler, Weimar, S. 98. 138 Hans Delbrück: »Schuld oder Schuldlüge«, in: Die Glocke, 8. Jg., Nr. 26 vom 25. September 1922, S. 676–678, Zitate S. 677 f, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 86a.

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er sich deutlich von den Rechten ab, die mit einer Reinwaschung des alten Reichs tatsächlich eine Desavouierung des neuen erreichen wollten. Einige Bedeutung in der Weimarer Kriegsschulddiskussion hatte Karl K ­ autsky. Der Philosoph und Mitbegründer der USPD war Ende 1918 vom Rat der Volksbeauftragten mit der Sichtung und der Herausgabe diplomatischer Akten zum Kriegsausbruch betraut worden. Für die sozialistische Übergangsregierung war er deshalb besonders geeignet für diese Aufgabe, weil er zu den prominentesten Kritikern der wilhelminischen Politik gehört hatte und davon überzeugt gewesen war, dass diese mit Vorbedacht den Weltkrieg entfesselt hätte. Nachdem er nach mehrmonatiger Arbeit im März 1919 fertig geworden war, untersagte die Reichsregierung unter Philipp Scheidemann jedoch die Veröffentlichung, da sie eine negative Wirkung auf die Versailler Verhandlungen befürchtete139. Als er Ende des Jahres auf der Grundlage seiner Arbeiten an den Akten ein Buch mit dem Titel »Wie der Weltkrieg entstand« veröffentlichte, gab er damit Anlass zu einer größeren Kontroverse. Auf den über 180 Seiten zeichnete er ein Bild der Entstehung des Weltkriegs, das unter Bezugnahme auf die deutschen diplomatischen Akten das Reich als den Hauptverantwortlichen in der Julikrise darstellte. Allerdings räumte Kautsky nun ein, dass auf Seiten Deutschlands im Juli 1914 eine »Absicht, einen europäischen Krieg zu entfesseln«, nicht bestanden habe. Vielmehr gestand er den Zentralmächten zu, dass sie mit einem schnellen Schlag gegen Serbien den Weltkrieg hätten verhindern wollen – eine Politik, die Kautsky freilich in schärfster Weise kritisierte, die aber etwas völlig anderes war, als ein Vorsatz zum Krieg140. Hans Delbrück antwortete mit einer Besprechung im Januarheft 1920 der »Preußischen Jahrbücher«141, die er kurz darauf als Broschüre veröffentlichte, zusammen mit einem anderen Aufsatz aus dem Dezemberheft 1919, »Maxi­ milian Harden als Zeuge«, unter dem Titel »Kautsky und Harden«142. In dem­ 139 Vgl. Jäger, Forschung, S. 23–42. 140 Kautsky, Weltkrieg, S. 64 f und passim, Zitat S. 48. Kautsky übersandte seine Schrift Delbrück mit den Worten: »Leider ist meine Auffassung in der Frage des Kriegsausbruch [sic] der Ihrigen entgegengesetzt; ich bedauere das umsomehr, als ich Sie als Historiker außerordentlich hoch schätze.« Dem vorausgegangen waren mehrfache Zusendungen Delbrücks an Kautksy mit dessen Arbeiten zum Krieg (Kautsky an Delbrück am 13. Dezember 1919, in: SBB NL Delbrück, Briefe Kautsky). Kautsky hatte bereits im Kaiserreich für seine Strategiedebatten des deutschen Sozialismus methodische Anleihen bei Delbrücks historischen Studien genommen. Vgl. hierzu Llanque, Mittel. 141 Hans Delbrück: »Die Kautsky-Papiere«, in: PJb 179 (1920), S. 71–100. 142 Inwieweit das Schuldreferat des Auswärtigen Amts (siehe hierzu Kapitel IV.5) bei der Herausgabe der Broschüre involviert gewesen ist, bleibt aufgrund eines Schreibens von Friedrich Thimme unklar: Dieser hatte im Januar 1920 Delbrück geschrieben, seinen Plan für das Buch halte er für hervorragend und riet ihm, sich in diesem Zusammenhang an den Referatsleiter Hans Wilhelm Friedrich zu wenden, »der insgeheim die Aktion gegen ­Kautsky zu dirigieren sucht« (Thimme an Delbrück am 14. Januar 1920, in: SBB NL­ Delbrück, Briefe Thimme, Bl. 32 f).

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Harden-Aufsatz sprach Delbrück Harden den guten Glauben ab, titulierte ihn als »Betrüger« sowie »Giftmischer« und zieh ihn der »Verlogenheit«. Deshalb und aufgrund ständig wechselnder Meinungen habe er als Publizist jeden Anspruch verloren, ernst genommen zu werden143. Delbrücks Schrift gegen ­Kautsky war in sehr polemischem Tonfall gehalten und in der ihm eigenen Dialektik zwar bestechend, aber respektlos gegenüber seinem Gegner. ­Delbrück schrieb, ­Kautskys Kommentar zu dem amtlichen Quellenwerk sei »eine wahre Karikatur auf die historische Quellenforschung«. Kautsky sei es erkennbar nur darum gegangen, die kaiserliche Politik zu diskreditieren, und er habe sich hierzu methodischer »Kunstgriffe« bedient. Delbrück unterstellte Kautsky, aufgrund un­sauberer Methodik das Ergebnis seiner Untersuchung zur Kriegsschuld bewusst manipuliert zu haben, um Deutschland als schuldig darstellen zu können, obwohl ihm selbst aufgrund der Aktenlage klar sein müsse, dass das Reich in der Julikrise den Frieden habe retten wollen. Kautsky beging Delbrück zufolge den methodischen Fehler, die Handelnden nicht nach ihrer eigenen Logik zu beurteilen, sondern nach seiner eigenen. Kautsky habe das russisch-serbische Bestreben zur Vernichtung der Habsburgermonarchie verschwiegen. Delbrück argumentierte daher ausführlich für das Recht dieses Staats, die serbische Gefahr nach dem Thronfolgermord gewaltsam auszuschalten, bevor aufgrund der Weiterentwicklung der europäischen Lage ein Weltkrieg unvermeidbar geworden wäre. Deutschland wiederum habe deshalb auf eine schnelle Aktion seines Bündnispartners gedrängt, um die internationale Lage nach dem Entsetzen über das Attentat auszunutzen und einen sonst eher möglichen großen europäischen Krieg zu vermeiden. Delbrück setzte sich dann noch mit Kautskys Angaben über die Daten der Mobilmachungen der beteiligten Staaten auseinander und warf ihm vor, nicht objektiv vorgegangen zu sein. Er behandelte sodann einige weitere Einzel­ heiten  zur Julikrise, wie zum Beispiel die umstrittenen kaiserlichen Randbemerkungen, denen er eine sachliche und ausgewogene Beurteilung zukommen ließ. Auf Fehler der deutschen Politik ging Delbrück hingegen so gut wie gar nicht ein144. In einer »Vorbemerkung« bat Delbrück Kautsky vorab um Entschuldigung für die Nebeneinanderstellung mit dem unredlichen Maximilian Harden. Sie seien aber beide Personen, die »der Wiederherstellung des Friedens unter den Völkern die allerschwersten Hindernisse entgegenlegen«. Kautsky habe »mit 143 Hans Delbrück: »Maximilian Harden als Zeuge«, in: PJb 178 (1919), S. 538–542. Der Wiederabdruck in »Kautsky und Harden« (S.  41–47) ist nur leicht verändert. Maximilian­ Harden war ein wichtiger und umstrittener Publizist im Kaiserreich, dem Delbrück die Redlichkeit absprach und den er verachtete. 144 Delbrück, Kautsky und Harden, Zitate S. 6. Bethmann Hollweg, dem Delbrück seine Schrift vorab zugeschickt hatte, meinte zu dem Aufsatz: »Wäre es nur möglich, solche Worte an die breiteste Oeffentlichkeit zu bringen. Aber einstweilen vollzieht sich die Politi­sierung unseres Volkes in den sumpfigsten Niederungen.« (Bethmann Hollweg an Delbrück am 5. Januar 1920, in: SBB NL Delbrück, Briefe Bethmann, Bl. 53).

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der ganzen Einseitigkeit und Verblendung des Parteimannes geschrieben«145. Hierdurch herausgefordert, erwiderte Kautsky mit einer weiteren Schrift, »Delbrück und Wilhelm II.«. Einleitend schrieb Kautsky, Delbrück sei sein einziger Kritiker, auf den er einzugehen für nötig erachte: »Um der Person ihres Verfassers willen muß ich mich mit Delbrücks Kritik ausein­ andersetzen. Ich schätze ihn hoch wegen seiner historischen Arbeiten, namentlich über die Geschichte des Kriegswesens, die bahnbrechend gewirkt haben, und ich achte ihn auch als aufrechten Charakter.«

Er wolle diese Wertschätzung ausdrücklich voranstellen, obwohl Delbrück in der Art seiner Darstellung ihn selbst persönlich habe herabsetzen und verletzen wollen. Er deutete dies aber umgekehrt als Schmeichelei: »Wenn Delbrück als mein direkter Antipode in der Kriegsfrage auftritt, dabei noch eine besondere persönliche Gereiztheit an den Tag legt und mit aller seiner, sicher umfassenden Gelehrsamkeit gegen mich nicht mehr zu sagen weiß, als er in der hier besprochenen Abhandlung sagt, gibt mir das die beruhigende Versicherung, daß ich auf dem richtigen Wege bin.«146

Dass es Delbrück war, den Kautksy für seinen bedeutendsten Gegner hielt, weshalb er ihm ein ganzes Buch zur Erwiderung widmete, unterlegt die heraus­ ragende Rolle, die Hans Delbrück in der Kriegsschulddebatte der Zeit spielte. Und umgekehrt belegt die Tatsache, dass es Delbrück für nötig hielt, einen scharfen polemischen Ton gegen Kautsky anzuschlagen, die ebenfalls bedeutende Stellung, die Kautsky in der Diskussion hatte. Die Kapitel, in die Kautsky seine Arbeit gliederte, entsprachen den Themen von Delbrück in seiner Auseinandersetzung mit Kautsky. Kautsky ging auf den gut 50 Seiten detailliert auf Delbrücks Vorwürfe ein. Es gelang ihm aber nicht immer, Delbrücks eigentliche Deutung der Vorgänge zu erkennen und zurückzuweisen, wie zum Beispiel bei der Frage der Reihenfolge und Bedeutung der Mobilmachungen. Aber Kautsky sprach nun auch davon, dass nach den Erkenntnissen der Zeit um 1920 die Annahme »irrig« sei, dass die Mittelmächte den Weltkrieg »geplant und gewollt« hätten147. Was Kautsky mit seiner Gesamtdarstellung bezweckte, war hingegen der Nachweis, dass die Welt genau dies habe glauben müssen, weil die Berliner Politik in der Julikrise fatale Fehler begangen habe. Insofern erhob er durchaus schwere Vorwürfe an die kaiserliche Politik, wobei er in der Deutung einzelner Handlungen der Reichsleitung erheblich größere Fehler unterstellte, als es Delbrück zuzugeben bereit war. In seinen Schlussfolgerungen für eine deutsche Politik der Gegenwart kam­ Kautsky dazu, dass nur in einer Politik, die Deutschland in den Völkerbund führe, eine Zukunft liege. Er zeigte sich überzeugt davon, dass der Völkerbund 145 Delbrück, Kautsky und Harden, S. 3. 146 Kautsky, Delbrück, S. 7 f. 147 Ebd., S. 28.

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seine momentane Gestalt noch ändern und zum Wohle der Menschheit beitragen werde – andernfalls »wehe der Menschheit!«148 Hier traf sich der Unabhängige Sozialdemokrat mit dem konservativen Delbrück, der an anderer Stelle ebenfalls eine Politik in die Richtung des Völkerbunds als die einzige Möglichkeit für Deutschland skizzierte und genauso wie Kautsky darauf hoffte, dass der Bund sich ändern werde (siehe hierzu Kapitel III.1.c)). Karl Kautsky, während des Krieges noch fest von einem Vorsatz der deutschen Regierung zum Krieg überzeugt, hatte nach der Einsichtnahme in die amtlichen Akten festgestellt, dass ein solcher Vorsatz nicht bestanden hatte. Gleichwohl war er erschreckt von dem Ausmaß an Ungeschicklichkeit und Verantwortungslosigkeit, das die Politik nicht nur der Julikrise kennzeichnete. Deshalb blieb er dabei, in seiner Abhandlung die Mittelmächte als die Hauptschuldigen darzustellen. Hans Delbrück, der zwar selbst stets zahlreiche Fehler anprangerte, ging das zu weit. Für ihn war Deutschland keine besondere Schuld nachzuweisen. Damit sich die Sicht des prominenten Sozialdemo­ kraten nicht durchsetzen konnte, polemisierte er in scharfer Weise gegen dessen Schrift. Kautsky sah sich hierdurch herausgefordert und präzisierte in seinem zweiten Buch nochmals seine Vorwürfe. Dabei betonte er deutlicher als noch in seinem ersten Werk, dass man dem Reich einen Willen zum Weltkrieg nicht unterstellen könne. Damit befand er sich auf einer Linie mit Hans Delbrück, dem es in seinem publizistischen Kampf um die Kriegsschuldfrage stets nur um diese Feststellung, die Widerlegung eines angeblichen Vorsatzes, ging. Insofern war er in seiner Auseinandersetzung mit Kautsky durchaus erfolgreich, weil er auch ihn zu einer Präzisierung und Unterscheidung in dieser Frage zwang. Delbrück instrumentalisierte Kautsky in den Folgejahren immer wieder. In einer Denkschrift vom Juni 1920 schrieb er, sogar Kautsky habe zugestanden, dass er zu seiner eigenen Überraschung festgestellt habe, dass das Reich den Weltkrieg nicht gewollt habe. Kautsky würde sich darauf beschränken, diplomatische Fehler und Dummheiten herauszustreichen. Die gleiche Argumentation findet sich auch in einem Artikel Delbrücks für das »Berliner Tageblatt« vom September des Jahres149. Und in der Wochenschrift »Deutsche Politik« legte er im Sommer 1921 dar, dass »die Vorstellung […], daß die Deutschen ein Verbrechervolk seien«, wesentlich und nach wie vor den Versailler Vertrag begründe und damit einen echten Frieden in Europa verhindere. Kautsky habe »dazu beigetragen«, dass sich in der Welt eine solch falsche Wahrnehmung der Deutschen durchgesetzt habe. Dass Kautsky trotz mittlerweile besserer Einsicht immer noch bereits aktenmäßig widerlegte Behauptungen zum angeblichen deutschen Militarismus vor 1914 in die Welt setze, erklärte sich Delbrück mit 148 Ebd., S. 53. 149 Hans Delbrück: »Denkschrift« vom 7. Juni 1920, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 107.1; Ders.: »Kriegsschuld-Diskussion«, in: BT, 49. Jg., Nr. 453 vom 25. September 1920, in: ebd., Fasz. 89a.

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dessen »bös[em] Gewissen«: Kautsky wisse um die schädliche Wirkung seiner früheren Vorwürfe und suche nun nach anderen Beschuldigungen, um die Bedeutung seiner falschen Behauptungen abzumildern150. Delbrück versuchte also, Kautsky für seine Agitation zu vereinnahmen, indem er sich auf diesen prominenten Kritiker des Wilhelminismus berief, der ebenfalls Deutschland von dem Vorwurf der planmäßigen Vorbereitung des großen Krieges freigesprochen habe. Kautsky selbst argumentierte 1924 bereits selbst in genau dieser Weise: Im »Vorwärts« schrieb er, in den Akten habe er »ein ganz tolles Chaos von Dummheit, Verlogenheit, Leichtfertigkeit und Kopflosigkeit, aber keine Spur eines weitauschweifenden und systematisch verfolgten Planes [gefunden]. Merkwürdigerweise haben die deutschen Nationalisten der verschiedensten Richtungen geglaubt, als ich dies feststellte, das als Ehrenrettung der kaiserlichen Regierung für ihre Zwecke ausbeuten zu können.«151

Mit den »Nationalisten« hatte Kautsky allerdings weniger Delbrück gemeint, als die weiter rechts Stehenden, die ihn in erheblich gröberer Weise angegangen waren nach der Delbrück-Kontroverse. Gleichwohl bleibt festzustellen, dass sich Kautsky mit der eindeutigen Unterscheidung von Vorsatz und Fehler nunmehr auf die Delbrücksche Dialektik eingelassen hatte – ein Beleg für die Wirkmächtigkeit des Historikers152. Eine wesentliche Änderung seiner Ansichten durchlief Delbrück im Jahr 1922. Im September dieses Jahres schrieb er an Max Montgelas: »Mir scheint viel darauf anzukommen, dass wir statt der Formel ›Deutschland nicht allein schuldig‹ jetzt ein mehr offensive [sic] finden. Diese Formel hat mir von Anfang an nicht so recht zugesagt und sie hat jedenfalls ihre Leistungsfähigkeit je [sic] erschöpft, da man ihr mit der Wendung aber ›hauptschuldig’entggegtritt. [sic] ›Deutschland unschuldig‹ dürfen wir natürlich nicht sagen, das [sic] auch Freiheit von allen Fehlern und Missgriffen einschliessen [sic] würde.«153 150 Hans Delbrück: »Karl Kautskys Gewissensbisse«, in: Deutsche Politik, 6 (1921), S. 713–719, Zitate S. 713, 717. 151 Karl Kautsky: »Die Frage der Kriegsschuld«, in: Vorwärts, 41. Jg., Nr. 427 vom 10. September 1924, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 112.4, Hervorhebung ebd. Dieser Satz ist angestrichen, vermutlich von Delbrück. Im selben Jahr, 1924, schrieb Delbrück, Kautskys Buch »Wie der Weltkrieg entstand« habe Deutschland »unermeßlich geschadet«, da er die Gefährlichkeit Serbiens für Österreich-Ungarn nicht genügend dargestellt hätte, ohne die die Julikrise überhaupt nicht zu verstehen sei (Delbrück, Stand, S. 308). 152 Das Gleiche belegt ein Schreiben von Paul Nikolaus Coßmann an Hans Delbrück vom Frühjahr 1922, in dem er den Historiker darum bat, bei seinem Kriegsschuldprozess (siehe Kapitel IV.2) als Sachverständiger zu erscheinen, da Kautsky von der Gegenseite berufen wurde: »Schon deshalb erscheint mir Ihre Anwesenheit so wichtig, weil gewiß niemand so gut wie Sie über die früheren und jetzigen Irrtümer Kautskys Bescheid weiß.« (Coßmann an Delbrück am 4. April 1922, in: SBB NL Delbrück, Briefe Cossmann). 153 Delbrück an Montgelas am 30. September 1922, in: ebd., Briefkonzepte Montgelas, Bl. 12.

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Einen Monat später bereits benutzte er dann allerdings das Wort »unschuldig«: In einem Brief an den Arbeitsausschuß Deutscher Verbände (ADV)154 betonte er, dass es »nicht richtig ist, dass der Streit der Deutschen sich nicht um ein politisch-historisches [sic] sondern ein Moral-Problem drehe. Neben diesem sogenannten moralischen Problem gibt es auch politisch-historische Fragen im Schuldproblem [sic] worüber sich die deutsche öffentliche Meinung nicht einig ist.«

Delbrück spielte damit an auf den Schlachtflottenbau, provozierende Reden Wilhelms II., radikale Äußerungen der Alldeutschen und die Art der deutschen Kriegserklärung – all diese Aspekte hätten im Ausland das Gefühl geweckt, das Reich strebe nach der Welthegemonie. »In allen diesen Punkten werden der deutschen Regierung Vorwürfe gemacht [sic] die doch mit der Versailler Anklage nichts zu tun haben, sondern Fragen der diploma­ tischen Geschicklihkeit. [sic] Man kann behaupten [sic] dass Deutschland in dem einen oder anderen dieser Punkte mit Schuld [sic] am Kriege trage und dennoch im Sinne von Versailles absolut unschuldig sein [sic].«155

Hier wird sichtbar, mit welcher Deutlichkeit Delbrück Fehler der deutschen Vorkriegspolitik erkannte und auch aussprach – worin er sich von dem Gros der Agitatoren der Unschuldslegende unterschied. Zugleich trennte er diese Fragen der tieferen Analyse der Kriegsursachen scharf von dem, was die Alliierten in Versailles zum Kriegsausbruch festgestellt hatten. Einen eindeutigen Vorsatz wies Delbrück ab und konnte daher formal korrekt von »Unschuld« sprechen. Dass diese Art von Dialektik hochgradig missverständlich wirken konnte, hatte er zugleich selbst erkannt, wie seine Gedanken an Montgelas zeigen. Denn­ »unschuldig« am Weltkrieg war Deutschland – auch nach Delbrücks Einschätzung  – keineswegs. Die Trennung, die er zwischen tatsächlicher Schuld und Verantwortung einerseits sowie Wahrheitsgehalt des Versailler Schuldspruchs andererseits machte, konnte sich nicht durchsetzen. Was sich durchsetzte, war das »unschuldig«, und zwar im weiteren Sinne des Wortes: Kaum ein Deutscher gestand noch eine Mitverantwortung der eigenen Vorkriegspolitik ein, weil man sich auf das »unschuldig« im Sinne der Versailler Anklage versteifte. Das Schlagwort von der deutschen »Unschuld«, dessen Gefährlichkeit Delbrück zwar selbst genau sah, aber trotzdem immer wieder anwandte, war eine leicht einprägsame und massentaugliche Formel für die überaus komplizierten Vorgänge, die zum Krieg geführt hatten. Es verwundert kaum, dass sich damit eine fehlerhafte allgemeine Anschauung im Volk durchsetzte. Gleichwohl ließ Delbrück nicht darin nach, die von ihm eingeführte Abgrenzung zu betonen. Im Sommer 1923 wies er in Zeitungsartikeln darauf hin, dass 154 Hierzu siehe Kapitel IV.5. 155 Delbrück an den ADV am 17. Oktober 1922, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Arbeitsausschuß, Bl. 5 f, Hervorhebung durch den Verfasser.

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man sorgfältig unterscheiden müsse zwischen einer Schuld durch Fehler und einer Schuld durch Vorsatz, ein Kontrast, mit dem man eines Tages in der Welt durchdringen werde156. Einen anderen Standpunkt nahm der ehemalige Chefredakteur der »New Yorker Staatszeitung«, Georg von Skal, ein. Dieser schrieb Delbrück eine Gegendarstellung, in der er aus seiner langjährigen AmerikaErfahrung berichtete: Das deutsche Volk müsse vor allem der Welt »den Beweis liefern, dass wir friedliebend sind und nicht eroberungslustig und herrschsüchtig«. Um das zu erreichen, müsse man offen eigene Fehler eingestehen und künftige vermeiden. Es sei klar, dass Deutschland keine direkte Schuld am Kriegsausbruch treffe, aber man umgebe sich mit einem Schein von Schuld. Die Verfehlungen der kaiserlichen Regierung, Wilhelms II. und der Alldeutschen hätten die Welt Glauben gemacht, Deutschland strebe nach der Weltherrschaft. Dieselben Leute, die hieran schuld seien, wunderten sich nun darüber, warum das deutsche Volk in der Welt so gehasst werde. Folglich müsse man sich endlich frei machen von dem »widerlich[en]« Chauvinismus. Nur dann werde man den Versailler Schuldvorwurf abstreifen können157. Skal wies also darauf hin, dass die Trennung von Schuld durch Fehler und Schuld durch Vorsatz künstlich und nicht zielführend war. Denn diese Unterscheidung machten die Regierungen und Völker der Entente nicht. Sie hatten schlicht das Gefühl einer deutschen Schuld, was seine Gründe in den von Delbrück durchaus anerkannten Fehlern der Vorkriegszeit (und Kriegszeit) hatte. Nur wenn man diese Ursachen, den von weiten Kreisen in Deutschland vertretenen Chauvinismus, beseitige, könne auch die Einschätzung der Feindländer im Hinblick auf die Schuldfrage ge­ändert werden. Im Jahr 1924 veröffentlichte Delbrück in der »Zeitschrift für Politik« einen Aufsatz unter dem Titel »Der Stand der Kriegsschuldfrage«, der auch als Broschüre erschien und 1925 in zweiter Auflage publiziert wurde. Hier trug er all die Gedanken zusammen, die er sonst nur vereinzelt in knappen Sätzen darlegen konnte und brachte zudem eine Darstellung der Schuldfrage auf aktuellstem Forschungsstand. Zugleich wies er aber schon mit dem Titel darauf hin, dass die Arbeit nur eine Momentaufnahme ermöglichen konnte, da die Forschungen weitergingen. Zunächst lieferte er eine Definition des Begriffs »Kriegsschuldfrage«: Es war für ihn die weniger im Artikel 231 des Versailler Vertrags, sondern in der Mantelnote vom 16. Juni 1919 ausgedrückte Feststellung, Deutschland habe aus Eroberungssucht planmäßig und vorsätzlich den Weltkrieg entfesselt. »Das ist die Anklage, und von ihr dürfen wir sagen, daß an ihr kein wahres Wort ist. Im Sinne dieser Anklage dürfen wir behaupten, Deutschland ist durchaus und vollständig unschuldig.« Auch hier sprach Delbrück also von »Unschuld«, schränkte diesen Begriff jedoch sofort ein, indem er 156 Hans Delbrück: »Reichstag und Kriegsschuldfrage«, in: BT, 52. Jg., Nr. 317 vom 8. Juli 1923, in: BArch N 1017/2; Ders.: »Die Behandlung der Kriegsschuldfrage«, in: DAZ vom 27. Juni 1923, in: ebd. 157 Georg von Skal an Hans Delbrück am 25. Juli 1923, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 112.5.

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ausführte, man dürfe aber nun nicht von einer ganz allgemeinen Unschuld sprechen. Denn dies würde auch bedeuten, es habe überhaupt keine Fehler in der deutschen Politik gegeben »und das wäre nicht nur eine falsche, sondern auch eine unsinnige Behauptung. Eine fehlerlose Politik gibt es nicht, hat es nie gegeben, und kann es nicht geben«. Er beharrte darauf, dass die Formel, Deutschland sei nicht alleinschuldig, zwar gut gewesen sei »als Übergang«, aber nun nicht mehr tauge. Zum einen könne man damit immer noch behaupten, dass Deutschland, wenn nicht allein-, so doch hauptschuldig gewesen sei. Zum anderen bringe man damit die Fehler des Reichs »auf das gleiche Niveau mit dem Willen jener Mächte, die tatsächlich nicht bloß Fehler gemacht haben, sondern mit voller Absicht und Bewußtsein den Krieg vorbereitet, gewollt und endlich herbeigeführt haben.« Für diese komplizierten Zusammenhänge habe man noch keine »kurze und schlagende Formulierung« gefunden, weshalb man weiterhin von unschuldig im Sinne der Anklage sprechen und anschließend die Verhältnisse weiter ausgreifend erklären müsse. Als Punkte, die für Delbrück gegen einen deutschen Vorsatz und Plan zum Krieg sprachen, führte er die dafür ungenügende militärische Rüstung im Vergleich zu Frankreich und Russland an sowie den Flottenbau, der militärisch nutzlos und nur als politisches Mittel gedacht gewesen sei, aber dem Landheer die entscheidenden Ressourcen abgezogen hätte. Außerdem habe im Gegensatz zu allen anderen Großmächten nur das Hohenzollernreich äußere Ziele verfolgt, die gänzlich ohne kriegerische Auseinandersetzungen erreichbar gewesen seien, nämlich die wirtschaftlich-kulturelle Förderung des Osmanischen Reichs. Die Macht, die wie keine andere zum Krieg getrieben habe, sei Russland gewesen, das die Kontrolle über Konstantinopel und den Zugang zum Schwarzen Meer habe erlangen wollen. Den Russen sei hier als Bundesgenosse die serbische Nationalbewegung zupass gekommen, deren Träger das serbische Königreich gewesen sei. Dieses habe auf dem Balkan einen großserbischen National­staat schaffen wollen, der Österreich-Ungarn »in seiner Existenz bedroht« hätte. Umgekehrt hätte dieses ohne die Unterstützung Russlands das Habsburgerreich niemals derart herausfordern können. England sei durch die unnötige deutsche Flottenpolitik in Gegnerschaft zum Reich getrieben worden. Die Weltmeinung als Bundesgenossen habe Deutschland verschmäht. »Statt dessen machte sich in Deutschland, wie nicht zu bestreiten ist, ein Geist der nationalen Überheblichkeit geltend, der in dem sogenannten Alldeutschtum alle anderen Völker reizte und mit Sorge erfüllte.« Der Thronfolgermord des 28. Juni 1914 in Sarajevo hätte nicht nur die Gefahr auf dem Balkan aller Welt demonstriert, sondern auch Wien den Anlass gegeben, mit aller Härte gegen das serbische Streben vorzugehen, um sich als Großmacht zu retten. Deshalb sei das österreichische Ultimatum von vornherein so scharf abgefasst worden, dass es nicht angenommen werden konnte, um dann einen Kriegsgrund zu haben. Berlin habe seinem Bundesgenossen hierbei freie Hand gelassen, da das Bündnis mit Österreich für Deutschland existenziell gewesen sei und dieses Reich sonst in naher Zukunft womöglich untergegangen

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wäre. Man habe aber in Berlin keine Details über das Ultimatum wissen wollen, um dann später als Vermittler eingreifen und die Krise auf dem Balkan lokalisieren zu können. All diese Bestrebungen seien aber zunichte gemacht worden durch die der österreichischen Kriegserklärung an Serbien folgende russische Gesamtmobilmachung vom 29. Juli. »Es [Russland, d. Vf.] machte mobil mit dem vollen Bewußtsein, daß diese Mobilmachung der Krieg sei.« Dies beweise den unbedingten Kriegswillen des Zarenreichs, das die einmalige Gelegenheit habe nutzen wollen, um die Vormacht Österreich-Ungarns auf dem Balkan für sein Ziel, Konstantinopel, zu brechen. Unterstützt worden sei Russland von Frankreich unter Raymond Poincaré, der einen Revanchekrieg gegen Deutschland vorbereitet hätte. »Der Erfolg der russischen Mobilmachung war mithin nicht nur, daß Deutschland jetzt auch mobilisierte, nicht nur, daß es sofort den Krieg erklärte und zuschlug, sondern auch, daß es den ersten Schlag nicht gegen die Russen selbst, sondern gegen ihren Bundesgenossen im Westen richtete und zu diesem Zweck die Neutralität des an dem Streit ganz unbeteiligten Belgien verletzte. Kein Wunder, daß die Welt diesen Zusammenhang nicht sofort verstand.«

Der Überfall auf Belgien sei nur gerechtfertigt gewesen durch die Notlage, in die das Deutsche Reich geraten sei. Es habe in einem längeren Zweifrontenkrieg keine Chance gesehen und die einzige Rettung in der Ausnutzung seiner Fähigkeit, schneller zu mobilisieren und unter Umgehung der französischen Grenzbefestigungen sofort zuzuschlagen. Diese Verletzung der belgischen Neutralität habe aber die öffentliche Meinung in England zum Kriegsentschluss gebracht, ohne die die bereits kriegswillige britische Regierung den Krieg nicht hätte erklären können. Resümierend stellte Delbrück fest: »Der Weltkrieg ist entfesselt worden durch die mit der Absicht dieses Erfolges angeordnete russische Mobilmachung, zu welchem Entschlusse wiederum die von Poincaré geleitete französische Politik die Russen antrieb.« Sein letzter Absatz aber richtete sich an Deutschland: »Nicht nur die absolute Unschuld Deutschlands in Hinsicht der Versailler Anklage ist dargetan, sondern auch die Fehler, die der deutschen Politik vorzuwerfen sind, sind deutlich genug bezeichnet«: Diese seien zwar nicht irgendwelche politischen Ziele gewesen und auch nicht das Verhalten in der Julikrise, aber der Schlachtflottenbau, mit dem man sich England zum Feind gemacht habe, die Unterschätzung der Kriegsgefahr sowie der deutsche Kriegsplan mit dem Einmarsch in Belgien158. In dieser Schrift Hans Delbrücks, »Der Stand der Kriegsschuldfrage«, waren seine Angriffe auf die anderen Mächte nicht mehr so aggressiv wie sonst. We158 Hans Delbrück: »Der Stand der Kriegsschuldfrage«, in: Zeitschrift für Politik 13 (1924), S. 293–319. Ein Sonderdruck der ersten Auflage mit handschriftlichen Korrekturen Delbrücks für die zweite Auflage sowie die Broschüre in zweiter Auflage sind in: SBB NL Delbrück, Fasz. 86a.

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sentliche Teile seines Aufsatzes beschäftigten sich mit Fehlern der deutschen Vorkriegspolitik, die er schonungslos herausarbeitete. In seinen ersten Schriften nach dem Krieg – namentlich in seiner Auseinandersetzung mit Karl Kautsky  – hatte er sich noch gar nicht mit deutschen Fehlern auseinandergesetzt. Dadurch, dass er dies nun tat, gewannen seine Vorwürfe in Richtung Russland und Frankreich ein anderes Gewicht. Zudem widmete er sich der Darstellung des Gefahrenherds auf dem Balkan, der so entscheidend für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs gewesen war. Wenngleich er auch in diesem Aufsatz zu Fehlurteilen kam (etwa der Freispruch der deutschen Politik in der Julikrise, Kriegswille in Paris), nahmen sie im Vergleich zu den Punkten, die erst Jahrzehnte später in der internationalen Forschung anerkannt worden sind (verhängnisvolle Wirkung der Kaiserreden bei im Grunde friedvoller Absicht, Gefährlichkeit des Panslawismus), einen nicht übermäßigen Raum ein. Seine Argumentation für den Mangel an Kriegswillen in Deutschland und das Streben zum Krieg in Russland stand neben einer offenen Darstellung schwerer Fehler der Reichsleitung, aber auch der deutschen Zivilgesellschaft. All dies erst so kurze Zeit nach dem furchtbaren Krieg. Offenbar gelang es Delbrück nur in längeren Texten, seine ausgewogene Sichtweise zur Anschauung zu bringen. In kürzeren Texten (Zeitungsartikeln oder Briefen) war der Raum wohl zu knapp für eine Darstellung der komplexen Zusammenhänge159. Hans Delbrück blieb trotz allem im nationalen Denken verhaftet. Dies zeigte sich etwa an der schrittweisen Entfremdung von Theodor Wolff: Der Chefredakteur des linksliberalen »Berliner Tageblatts« wollte nicht mit den Rechten, die sich bei der Kriegsschuldfrage stets radikal aufführten, gemeinsame Sache machen160. Delbrück zeigte dafür zwar Verständnis, meinte dennoch wie üblich, »Patriotismus wie Taktik« erforderten die »Einheitsfront«161. Wolff wiederum hielt es zwar für »sehr richtig, daß es nur darauf ankomme, eine gemeinsame Front gegenüber der Versailler Schuldformel zu erzielen.« Die Thesen, die Delbrück mittlerweile (1924) zu den Kriegsursachen vertrat, wolle er sich 159 Hermann von Kuhl, ein bedeutender Weltkriegsgeneral, brachte Delbrück für dessen Schrift seine »volle Zustimmung«, rieb sich nur an seiner Kritik am Kriegsplan (Kuhl an Delbrück am 6. April 1924, in: ebd., Briefe Kuhl, Bl. 9). Auf der anderen Seite bekam Delbrück auch Lob vom Pazifisten Otto Lehmann-Rußbüldt, der lediglich in der abschließenden Bewertung der unmittelbaren Schuld von Delbrück abwich und hier Deutschland in der Hauptverantwortung sah (Lehmann-Rußbüldt an Delbrück am 16. Juni 1924, in: ebd., Briefe Lehmann-Rußbüldt, Bl. 55 f). Und auch der linksliberale Historiker Johannes Ziekursch schrieb in einer Besprechung des Aufsatzes, er sei verfasst »mit so meisterhafter Klarheit, daß man dieser Schrift die weiteste Verbreitung innerhalb und außerhalb Deutschlands aus vollem Herzen wünschen muß.« (Besprechung von Ziekursch in unbekannter Zeitschrift, in: ebd., Fasz. 92c). 160 Sogar Max Montgelas äußerte nach dem Rathenau-Mord Bedenken, ob bezüglich der Kriegsschuld noch mit der DNVP zusammengearbeitet werden könne (Montgelas an Delbrück an 28. Juni 1922, in: ebd., Briefe Montgelas I, Bl. 45). 161 Delbrück an Wolff am 1. August 1924, in: ebd., Briefkonzepte Wolff, Bl. 8.

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aber nicht mehr zu eigen machen162. Damit meinte Wolff Texte wie einen Zeitungsartikel zur zehnjährigen Wiederkehr des Kriegsausbruchs. Delbrück vertrat hier nun nicht mehr nur die Ansicht, dass Deutschland keinen Vorsatz zum Krieg gehabt hätte, sondern dass hingegen Frankreich und Russland den Krieg gewollt hätten. Diese Zusammenhänge müssten nun der Welt bekannt gegeben werden. »Man pflegt für diesen Kampf jetzt die Formel zu gebrauchen, dass Deutschland nicht mit der Alleinschuld für den Ausbruch des Krieges belastet werden dürfe. Diese Formel genügt nicht. Das Versailler Ultimatum und die öffentliche Meinung der uns feindlichen Welt beschuldigen uns, den Weltkrieg mit Absicht und Vorbedacht vorbereitet und entfesselt zu haben. Dieser Anklage gegenüber dürfen und müssen wir behaupten, dass wir nicht nur nicht allein schuldig, sondern schlechthin unschuldig sind; daß an dieser Anklage kein wahres Wort ist; daß unsere Politik zwar, wie es in der Natur der Dinge liegt, auch gewisse Fehler gemacht hat, daß aber zwischen solchen Fehlern, mag man sie größer oder kleiner einschätzen, und der verbrecherischen Absicht vorsätzlicher Herbeiführung des Weltkrieges ein himmelweiter Unterschied besteht, und daß schließlich die verbrecherische Absicht nicht bei uns, sondern auf der Gegenseite war. […] [D]er weitere Kampf in der Kriegsschuldfrage darf sich von unserer Seite nicht darauf beschränken, die Anklage des Versailler Ultimatums zurückzuweisen, sondern wir müssen zur Offensive vorgehen und immer wieder aussprechen, daß der Weltkrieg nicht nur das größte Verbrechen in der Weltgeschichte, sondern auch die Behauptung, daß Deutschland der Urheber dieses Verbrechens gewesen sei, die größte Lüge in der Weltgeschichte gewesen ist. Die Urheber leben in Paris und in Petersburg.«163

Hiermit hatte sich Hans Delbrück verrannt. So sehr nach heutigen Erkenntnissen zwar auch Paris und St. Petersburg ihren Teil an der Verantwortung für 1914 trugen, war die Unterstellung eines dortigen Vorsatzes zum Krieg übertrieben und falsch. 1928 schrieb Delbrück, die These, alle Mächte seien gewissermaßen in den Krieg hineingeschlittert, sei »nichts als eine klägliche Ausrede«: An einer Stelle müsse der Mann gesessen haben, der den Krieg gewollt habe164. Diese An162 Wolff an Delbrück am 4. August 1924, in: ebd., Briefe Wolff, Bl. 16 f. 163 Hans Delbrück: »Der Einbruch der Weltkatastrophe«, in: Liebenwerdaer Kreisblatt vom 1. August 1924, in: ebd., Fasz. 89a, Hervorhebungen ebd. Das Manuskript hierzu ist in: ebd., Fasz. 86a. Ähnlich auch Ders.: »Eine Pflicht und ein Anspruch der Demokratie«, in: NWT vom 1. November 1924, in: ebd. (»Wir müssen aus der Defensive übergehen zur Offensive.«). Dahinter stand auch Kurt von Lersner, Präsident des Arbeitsausschusses Deutscher Verbände (ADV), der sich im selben Zeitraum (Spätsommer 1924) an Delbrück wandte und sich »[s]ehr einverstanden« mit Delbrücks Vorschlag zeigte, nicht »nur die Formel der deutschen Alleinschuld zu bekämpfen, sondern offensiv vorzugehen« und die Verantwortung der Entente zu benennen. Er regte an, hierzu im Berliner Tageblatt zu schreiben, da sich bislang eher die Rechtspresse in diese Richtung bewegt hatte und es im Sinne der Einheitsfront nötig sei, auch die demokratische und linke zu gewinnen (Lersner an Delbrück am 30. September 1924, in: ebd., Briefe Lersner, Bl. 6, Hervorhebungen im Original). 164 Hans Delbrück: »Der Kellogg-Pakt und die Kriegsschuldlüge«, in: DAZ, 67. Jg., Nr. 426 vom 11. September 1928, in: ebd., Fasz. 89a.

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sicht war zwar unzutreffend, entsprang aber bei Delbrück, genauso wie bei den Entente-Völkern, dem Empfinden, dass es für einen solch furchtbaren Weltkrieg irgendwo einen Schuldigen geben müsse. Sehr deutlich wird dies beispielsweise an der Überschrift eines Artikels für die »Neue Freie Presse« am 1. August 1924: »Das Verbrechen des Weltkrieges. Wer sind die Schuldigen?«165 Und während die Alliierten diese in Deutschland sahen, entwickelte Delbrück zunehmend die These, dass die russische und die französische Politik auf den Krieg hingearbeitet hätte. Das ist vielleicht psychologisch verständlich, bedeutete aber einen Rückschritt von Delbrück auf das ­Niveau der Alliierten, das er von Beginn an bekämpft hatte166. Im April 1929 beschwerte sich Delbrück bei Theodor Wolff und stellte eine Reihe von Punkten auf, in denen sie mittlerweile unterschiedlicher Meinung geworden waren. Einer davon war die Kriegsschuldfrage. Wolff hatte am 28. März in seinem »Berliner Tageblatt« geschrieben, es sei unbegreiflich, dass die Mittelmächte in der Julikrise 1914 an eine Lokalisierung geglaubt hätten. Delbrück kritisierte dies in scharfen Worten und schrieb, diese Zeilen seien »wie ein Dolchstoss [sic]«. Es sei heute allen klar, dass man sich in der Lokalisierungsabsicht getäuscht hatte, aber damals hätten sehr viele an einen Erfolg dieser Taktik geglaubt. Man müsse also in der deutschen Presse die französischen Fehler aufdecken und nicht auf den deutschen bestehen, da man sonst den Kampf in der Kriegsschuldfrage desavouiere167. Wolff reagierte verärgert und wies­ Delbrück darauf hin, dass er sehr viel getan habe gegen die Versailler Anklage. Er sei aber nicht bereit, bei allem mitzugehen, »was nun unsere sogenannte offizielle Kriegsschuldforschung herausbringt und behauptet.« Er sei nicht der Meinung, dass Frankreich den Weltkrieg verursacht habe und dass die deutsche Regierung gar keine Schuld treffe168. Wolffs Position blieb über die 20er Jahre hinweg weitgehend konstant moderat. Delbrücks hingegen wanderte langsam nach rechts – ganz wie der Zeitgeist. Dass es Delbrück war, der sich bei der Kriegsschuldfrage im Laufe der Jahre radikalisierte, belegt auch ein Bericht des Historikers Peter Rassow über die Diskussion auf einem Mittwoch-Abend an seinen abwesenden Onkel Hans ­­ Delbrück vom September 1924. Mehrheitlich sei von den Anwesenden die An165 Hans Delbrück: »Das Verbrechen des Weltkrieges. Wer sind die Schuldigen?«, in: NFP vom 1. August 1924, in: ebd. Im Text formulierte er dann wie im Liebenwerdaer Kreisblatt, dass die Formel, Deutschland sei nicht alleinschuldig, nicht mehr genüge und man in die Offensive gehen müsse. 166 Clark, Schlafwandler, S. 716 f, postuliert, die Überzeugung, in einem Konflikt müsse es immer einen Schuldigen geben und einen, der im Recht sei, helfe bei den Kriegsursachen nicht weiter. Das System sei zu komplex gewesen für eine solche Bewertung, die zudem den Entscheidungsträgern eine klare Handlungsstrategie unterstelle, die sie nicht gehabt hätten. Clarks Thesen haben aber den Abstand von 100 Jahren gebraucht, um formuliert zu werden und international zur Anerkennung zu gelangen. 167 Delbrück an Wolff am 2. April 1929, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Wolff, Bl. 18. 168 Wolff an Delbrück am 11. April 1929, in: ebd., Briefe Wolff, Bl. 23.

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sicht vertreten worden, es sei ratsam, die Kriegsschuldfrage gar nicht mehr zu bearbeiten, sondern sich in der Außenpolitik mit tagespolitischen Fragen auseinanderzusetzen. Der Kaufmann Julius Treuherz, Ministerialdirektor von Janquièreos und der Diplomat Joachim Kühn hätten sich in diesem Sinne ausgesprochen169. Delbrück hingegen vertrat den Standpunkt, auch wenn viele »der Kriegsschuldfrage überdrüssig« seien, müsse man aus politischen Gründen die Debatte immer wieder aufnehmen, denn: »Es ist die stärkste, vielleicht sogar die einzig starke Karte in unserem Spiel.«170 Er fixierte sich dabei immer mehr auf den französischen Staatspräsidenten Raymond Poincaré, dem er den Willen zum Krieg mit Deutschland unterstellte. In einer Besprechung des vierten Bandes von Poincarés Memoiren in der »Neuen Freien Presse« bezeichnete Delbrück diese als »Reinigungsversuch« von der Anklage, den Krieg vorsätzlich herbeigeführt zu haben171. Und für eine amerikanische Nachrichtenagentur schrieb Delbrück aus eigenem Antrieb Ende 1927 einen Artikel, mit dem er zwar einerseits um Verständnis für die französische Vorkriegspolitik warb, damit zugleich aber schwerste Anklagen gegen Poincaré erhob: »Als objectiver Historiker möchte ich der Welt einmal klar zu machen versuchen, dass der Präsident Poincare [sic] auch vom deutschen Standpunkt und unter der Voraus­ setzung des deutschen Standpunktes kaum anders handeln konnte, als er gehandelt hat.«172 Was er dann schrieb, fand in ganz ähnlicher Weise auch in der »Deutschen Allgemeinen Zeitung« am 17. Februar 1929 Verbreitung: Man sei in Deutschland bereit, Fehler, die zum Kriegsausbruch beigetragen hätten, »zuzugestehen«. 169 Peter Rassow an Hans Delbrück am 20. September 1924, in: ebd., Briefe Rassow, Bl. 41. 170 Delbrück an die Redaktion der DAZ am 14. August 1928, in: ebd., Briefkonzepte DAZ, Bl. 6. 171 Hans Delbrück: »Poincaré und der Weltkrieg. Der neueste Band der Memoiren des französischen Staatsmannes«, in: Neue Freie Presse, Nr. 23093 vom 30. Dezember 1928; Ders.: »Poincaré und der Weltkrieg. Die Rechtfertigung des französischen Staatsmanns im neuesten Band seiner Memoiren. II.«, in: NFP, Nr. 23107 vom 13. Januar 1929, beide in: ebd., Fasz. 112.6. 172 Delbrück an den Anglo-American Newspaper Service (AANS) am 29. November 1927, in: ebd., Briefkonzepte AANS, Bl. 3. Am 16. Dezember bestätigte der AANS Delbrück, dass er einen solchen Artikel annehmen wolle und bat ihn zugleich darum, von nun an jeden Monat einen Artikel einzureichen, was das Ansehen des Historikers unterstreicht (AANS an Delbrück am 16. Dezember 1927, in: ebd., Briefe AANS, Bl. 5). Delbrück sandte seinen Poincaré-Artikel noch vor Weihnachten ein und schrieb zu der neuen Bitte: »Was Ihren Wunsch betrifft, ich möchte Ihnen monatlich einen Artikel schreiben, so werde ich meinen Entschluss davon abhängig machen, ob ich zu der Ueberzeugung gelange, dass diese meine Artikel eine wirklich sehr weite Verbreitung finden. Ich bitte Sie deshalb mir hierüber Beleg-Nummern zukommen zu lassen. Ich schreibe ja nur, wenn ich etwas ganz besonderes glaube sagen zu können und schätze deshalb meine Artikel auch als wissenschaftliche Arbeiten ein. Das Honorar ist bei mir, wenn ich schreibe [sic] eine Nebensache, allerdings aber wünsche ich, dass es dem wissenschaftlichen Ruf, den ich in der Welt geniesse, entspricht.« (Delbrück an den AANS am 18. Dezember 1927, in: ebd., Brief­konzepte AANS, Bl. 4). Diese Zeilen sind sehr aufschlussreich für sein Selbstverständnis als Publizist. In welchen Organen Delbrücks Artikel schließlich publiziert worden sind, lässt sich nicht nachvollziehen.

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Aber gegen eine »Alleinschuld« »verwahr[e]« man sich: »Denn was wir verbrochen haben, waren bloße Fehler, die anderen aber hatten das, was uns fälschlich vorgeworfen wird, und wovon wir gänzlich frei waren, nämlich die Absicht und den Willen, den allgemeinen Krieg zu entfesseln.« Aus der französischen Perspektive sei es aber nachvollziehbar, den Krieg begonnen zu haben. Denn in Frankreich hätten viele seit 1871 auf Revanche gesinnt. Poincaré habe Frankreich vor dem Niedergang bewahrt. »Als Historiker wie als Politiker erkenne ich das an.«173 Damit konstruierte Delbrück einen Vorsatz zum Krieg bei Frankreich (und Russland) und stützte sich dabei auf Fälschungen in den Memoiren Poincarés. Delbrück war durchaus ehrlich von seiner Ansicht überzeugt, was zeigt, wie schädlich und geradezu dumm die fehlerhaften Darstellungen von Poincaré waren, weil sie eine Missdeutung wie die Delbrücksche provozierten. Der Geograph Georg Wegener machte Delbrück aber auf den entscheidenden Denkfehler in dieser Argumentation aufmerksam: Sein Artikel sei zwar »prachtvoll«, aber wenn er Poincaré das Recht zugestehe, einen Revanchekrieg vorbereitet zu haben, dann müsse er ihm auch zugestehen, nun die Errungenschaften dieses Krieges zu sichern174, also den Versailler Vertrag akzeptieren. Delbrück konnte damit schwerlich die aktuelle Deutschlandpolitik des französischen Staatsmannes kritisieren. Etwa zeitgleich formulierte er an anderer Stelle, Frankreich habe nach 1871 nur noch den zweiten Platz nach Deutschland in Europa innegehabt, und es sei absehbar gewesen, dass es künftig noch weiter abgesunken wäre. »Poincare [sic] mit seinen Freunden ist es gewesen, der sein Volk vor diesem Schicksal bewahrte und ihm wieder wie in älteren Zeiten den ersten Platz unter den Völkern des europäischen Continents verschaffte Unter [sic] kluger Ausnutzung der inter­ nationalen Constellation und der schweren Fehler der deutschen Politik wurde der allgemeine Krieg gegen Deutschland eingeleitet [sic] entfesselt und endlich zum siegreichen Abschluss geführt. Man sollte meinen, das französische Volk würde seinem Präsidenten für diese Politik Dank wissen und er selber sich ihrer rühmen.«

Aber die Opfer des Weltkriegs seien zu grausam hierfür gewesen, weshalb man die Schuld den Mittelmächten zugeschoben habe175. 173 Hans Delbrück: »Poincaré und die Kriegsschuld«, in: DAZ, 68. Jg., Nr. 81 vom 17. Februar 1929. Zumindest in Ansätzen hat die moderne Forschung Delbrücks Thesen untermauert: So schreibt Clark, Schlafwandler, S. 383, seit 1912 habe Frankreich die Bereitschaft dazu entwickelt, auch für Verwicklungen Russlands auf dem Balkan mit Russland in einen Krieg zu ziehen. Die »treibende Kraft« hierbei sei Poincaré gewesen. Der Historiker Rainer F. Schmidt urteilt sogar in Delbrückscher Linie, Poincaré habe seit 1911/1912 einen Revanche-Krieg gegen Deutschland systematisch vorbereitet (Sven Felix Kellerhoff: »Trieb Frankreich Deutschland in den Krieg?«, in: Welt Online, 16. Oktober 2016, URL: https://www.welt.de/geschichte/article158782749/Trieb-Frankreich-Deutschland-in-denKrieg.html, abgerufen am 11. Juni 2017). 174 Wegener an Delbrück am 17. Februar 1929, in: SBB NL Delbrück, Briefe Wegener, Bl. 12. 175 Aufsatzmanuskript mit dem Titel »Zur Kriegsschuldfrage«, o. D. [t.p.q. 22. Januar 1929], in: ebd., Fasz. 67.1.

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Der Chefredakteur des sozialdemokratischen »Vorwärts«, Friedrich ­Stampfer, argumentierte dagegen: Als sich Delbrück 1928 bei ihm über einen Artikel zum Kriegsausbruch beschwerte, antwortete dieser, es sei »ganz falsch«, »der Gegenseite die Alleinschuld aufzubürden« und jegliche Fehler der Zentralmächte zu leugnen. Er sei zudem nicht davon überzeugt, dass der Versailler Vertrag revidiert werden könne durch eine Verteidigung der Wiener und Berliner Politik in der Julikrise: »Ich gehöre gewiss nicht zu denen, die die Bedeutung moralischer Faktoren im Weltgeschehen leugnen, aber es heisst [sic] doch, wie mir scheint, sie ganz gewaltig überschätzen, wenn man glaubt, von der moralischen Seite her die Revision von Verträgen herbeiführen zu können, für deren Entstehung und Erhaltung materielle Interessen ausschlaggebend sind. […] Die Kriegsschuldfrage ist heute wirklich zu 99 Prozent nur eine historische und nur zu 1 Prozent eine politische Frage.«176

Damit hatte Stampfer den entscheidenden Punkt getroffen: Auch wenn man in Rechnung stellen muss, dass er als Marxist einer materialistischen Weltanschau­ ung folgte, hatte seine Deutung des Versailler Vertrags doch einiges für sich: Der Vertrag war in Form und Inhalt ein Ausdruck von Machtpolitik unter dem Deckmantel einer moralischen Anklage bezüglich der Kriegsschuld. Selbst wenn es gelungen wäre, diesen Deckmantel zu heben, wäre damit der eigentliche Grund für den Vertrag nicht ausgehebelt worden. Dies war eher zu erwarten, wenn sich die praktische Durchführung als unmöglich erwies und die Entente materiell zu einer Änderung gezwungen wurde. Die Erfüllungspolitik von Joseph Wirth war also in dem Sinne erfolgversprechender. Es bleibt erstaunlich, dass ausgerechnet ein solch herausragender Historiker der Kriegs- und Weltgeschichte wie Hans Delbrück nicht erkennen wollte, dass es in Versailles um Macht und nicht um Moral gegangen war. Unter diesem Aspekt liest sich Delbrücks Antwortschreiben an Stampfer geradezu hilflos: Er gestand schwere Fehler Deutschlands wie den Flottenbau und den Schlieffen-Plan ein, bestand aber darauf, dass hierfür nur das deutsche Volk seine alte Regierung zur Rechenschaft ziehen dürfe. Der Kriegswille sei ein ganz anderer Aspekt, der für Deutschland abzuweisen sei. Russland und Frankreich aber hätten einen Krieg gewollt, weshalb er dann auch gekommen sei. Auch wenn man über diese Ansicht streiten könne, müsse man wenigstens darin einig sein, dass die Versailler Anklage bekämpft werden müsse177. Delbrück hatte den Kern von Stampfers Argumentation gar nicht verstanden.

176 Stampfer an Delbrück am 13. August 1928, in: ebd., Briefe Stampfer, Bl. 3. Delbrücks Beschwerde vom 6. August in: ebd., Briefkonzepte Stampfer, Bl. 1 f. 177 Delbrück an Stampfer am 14. August 1928, in: ebd., Briefkonzepte Stampfer, Bl. 3. Gleichwohl hatte Delbrück die Grundidee einer Erfüllungspolitik bereits drei Jahre vor deren Umsetzung durch Joseph Wirth vorgeschlagen (siehe Kapitel III.1.c)).

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In einer Auseinandersetzung Delbrücks mit dem Sozialdemokraten Carl Seve­ ring Anfang 1929 zeigten sich alle Elemente aus seinem Engagement in der Kriegsschuldfrage, die sich im Laufe der Weimarer Republik entwickelt hatten, zugleich. Der Reichsinnenminister hatte auf einer Kundgebung des Reichs­ banners in Hamburg am 27. Januar gegen den ehemaligen Kaiser Stellung bezogen und betont, dieser sei kein Friedenskaiser gewesen. Empört verfasste Delbrück einen offenen Brief, der in der »Deutschen Allgemeinen Zeitung« vom 30. Januar publiziert wurde. Die Wendung Severings, der Kaiser habe »die Geister des Unfriedens« gerufen, bezeichnete Delbrück als »eine Verschleierung der Kriegsschuldfrage«. Der Historiker gestand zu, dass Wilhelm II. häufig Reden gehalten habe, die nicht einschüchternd, sondern provozierend gewirkt hätten. Allein deshalb könne man ihm aber nicht den Friedenswillen absprechen, nur »weil er sich in der Wahl seiner Mittel vergreift«. Immerhin habe der Hohen­ zoller 25 Jahre lang Frieden gehalten und viele günstige Gelegenheiten für einen Angriffskrieg nicht wahrgenommen, was seine im Kern friedliche Gesinnung unterstreiche. Er, Delbrück, wolle Wilhelms Fehler zwar nicht bestreiten, aber man dürfe den Unterschied nicht verwischen, »dass bei den leitenden Staatsmännern in Petersburg und Paris der positive Kriegswille herrschte, Kaiser ­Wilhelm aber und seine Berater friedliche und nichts als friedliche Zwecke hatten.« Er forderte die SPD wieder einmal auf, ihr Parteiinteresse, das sich gegen das alte Reich wende, hinter das nationale Interesse zurückzustellen, da das deutsche Volk eine »Einheitsfront« bilden müsse178. Der Reichsinnenminister setzte sich mit Delbrücks Schreiben auseinander – ein Zeichen für dessen Stellung im politischen Diskurs179 – und antwortete am 3. Februar im »Vorwärts« und in der »Vossischen Zeitung«. Er verwies darauf, dass er in der Schuldfrage immer schon einen ausgewogenen Standpunkt vertreten habe und erläuterte die Hintergründe seiner Hamburger Rede: Unmittelbar vorausgegangen sei eine Aktion der dortigen DNVP, die über Wilhelms Verbannung geklagt und ihn als Friedenskaiser und Sozialpolitiker gelobt hätte. Am Tag des Kaisergeburtstags (27. Januar) habe er, Severing, diese Darstellung nicht unkommentiert stehen lassen können. Er betonte, er habe dasselbe wie Delbrück zu den Kaiserreden gesagt, dass Wilhelm damit Deutschlands Fein178 Hans Delbrück: »Offener Brief an Herrn Reichsminister Karl [sic] Severing«, in: DAZ vom 30. Januar 1929, in: ebd., Fasz. 89a, Manuskript in: ebd., Fasz. 67.1. Die Redaktion der DAZ übersandte Delbrück einen Leserbrief, in dem es hieß: »Selten aber hat mich ein Zeitungsartikel derart begeistert geradezu, wie dieser. So leidenschaftslos sachlich, klug und würdig und vornehm liest man leider heute nur selten Artikel in der Presse. Wenn alle Zeitungen solche Artikel brächten, gäb es nicht soviel Zerrissenheit im deutschen Volke. Man würde dann auch nicht so viel Wahlmüdigkeit und Parlamentsdesinteressement mehr finden.« (Herbert Lipski an die DAZ am 30. Januar 1929, Abschrift in: ebd., Briefe Klein, Bl. 1). 179 Severing hatte drei Monate zuvor in einem Telegramm an Delbrück die Glückwünsche der Reichsregierung zu seinem 80. Geburtstag überbracht (Severing an Delbrück am 10. November 1928, in: ebd., Fasz. 7), auch ein Zeichen seiner Wertschätzung für den Historiker.

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den Waffen in die Hand gegeben habe. Er habe sich aber zu oft in der Wahl der Mittel vergriffen, als dass man von ihm noch als einem Friedenskaiser sprechen könne. Der Minister schrieb, diese Feststellungen dürften ihm nicht verwehrt werden, da er den Versailler Schuldvorwurf bekämpfe. »Die Schuld am Kriege ist eine Kollektivschuld, von der keine der beteiligten Mächte ausgenommen ist oder durch Diktat des Siegers freigesprochen werden kann.«180 Delbrück wechselte in seiner neuerlichen Antwort zu einem Privatbrief, da er sich davon überzeugt zeigte, dass man sachlich fast auf einer Linie lag. Am 4. Februar führte er seine üblichen Gedanken aus und beschuldigte die russische und französische Politik, auf einen Krieg hingearbeitet zu haben. Die Taktik, Deutschland eine Mitschuld einzugestehen, sei mittlerweile überholt. Im Übrigen habe man die Drohreden des Kaisers in den Regierungen der anderen Länder durchaus richtig einschätzen können, weshalb Severings Darstellung, die Welt sei durch diese von einem deutschen Streben nach Weltherrschaft überzeugt worden, falsch sei181. In einem diesen Vorgang abschließenden Schreiben bestätigte der Sozialdemokrat am 9. Februar, dass man in der Kriegsschuldfrage nicht weit voneinander entfernt sei. Er erläuterte nochmals die Hintergründe seiner Rede, die er spontan auf den Hohenzollern habe abstellen müssen und verwies darauf, dass die Berichterstattung kein ganz korrektes Bild seiner Ansprache geliefert habe182. Hans Delbrück wiederholte damit erneut seine bekannte Forderung nach einer »Einheitsfront« in der Kriegsschuldfrage, die er deshalb formulierte, weil er die Republik stabilisieren wollte. Er wollte verhindern, dass die Republikaner ihren neuen Staat selbst diskreditierten durch eine – Delbrücks Ansicht nach – falsche Beschuldigung des alten Reichs, was die Opposition der Rechtskräfte gegen die Republik gestärkt hätte. Weil er den prominenten Sozialdemokraten überzeugen wollte, schrieb er ihm überhaupt und stimmte auch einen moderaten Tonfall an. Die sonstigen (rechten) Agitatoren in der Schuldfrage machten sich nicht nur keine Mühe damit, sondern bekämpften offensiv die Linkskräfte. Darin unterschied sich Delbrück von den rechts orientierten Kräften183. Das zweite Element, das in seinem Brief deutlich wurde, war seine scharfe Trennung von Fehlern der alten Regierung, die er nicht verschwieg, und einem Vorsatz 180 Carl Severing: »Eine Erwiderung«, in: Vossische Zeitung, Nr. 58 vom 3. Februar 1929, in: ebd., Fasz. 111.2; »Severings Antwort an Delbrück. Offener Brief an Herrn Professor Hans Delbrück«, in: Vorwärts, 46. Jg., Nr. 57 vom 3. Februar 1929, in: ebd., Fasz. 92c. 181 Delbrück an Severing am 4. Februar 1929, in: ebd., Briefkonzepte Severing, Bl. 1 f. 182 Carl Severing an Hans Delbrück am 9. Februar 1929, in: ebd., Briefe Severing. 183 Wie wichtig Delbrück die Zusammenarbeit mit der SPD war, illustriert ein Schreiben von ihm an die Redaktion der Deutschen Allgemeinen Zeitung nur wenige Wochen später in einem anderen Zusammenhang: »Es scheint mir nicht ganz aussichtslos die Sozialdemokraten schliesslich doch noch mehr oder weniger in die Einheitsfront gegen die Kriegsschuldlüge zu bringen. Ich habe mit einem Vorwärtsredakteur darüber sehr ausführlich gesprochen und habe den Mann sehr vernünftig gefunden.« (Delbrück an die DAZRedaktion am 28. Februar 1929, in: ebd., Briefkonzepte DAZ, Bl. 7).

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zum Krieg. Er unterstellte insbesondere dem Kaiser, aber auch seinem Kanzler Bethmann Hollweg, stets einen Willen zum Frieden. Dieser war in Versailles bestritten worden, wogegen sich Delbrück scharf zur Wehr setzte. Etwas anderes waren für ihn immer die tatsächlichen Handlungen, die er – auch damals schon – heftig verurteilte. Er führte damit eine Unterscheidung zwischen Absicht und Wirkung ein. Der dritte Aspekt, der in der Polemik mit Severing zutage trat, ist die Radikalisierung, die auch Delbrück im Laufe der 20er Jahre durchmachte. Er sprach von einem »positiven Kriegswillen« bei Russen und Franzosen. Diese Sicht war nicht nur in der Sache genauso falsch, wie sie für Deutschland war, sondern auch in der Taktik: Derartige Gegenangriffe in der Kriegsschuldfrage konnten die Entente schlechterdings nicht überzeugen. Für eine Aussöhnung und Revision des Friedensvertrages hätte man auf solche Vorwürfe verzichten müssen. »Einmal endlich noch sollte er [Delbrück, d. Vf.], umkleidet mit der ganzen Autorität, die er sich als Gelehrter und Politiker erworben hatte, Wortführer des ganzen deutschen Volkes sein, als er es übernahm, im Juli 1929 in der akademischen Gedenkstunde zum zehnten Jahrestag des Abschlusses des Vertrages zu Versailles die Rede zu halten.«184

Mit diesen Worten leitete Peter Rassow die Betrachtung der Rede seines ­Onkels Hans Delbrück ein. Delbrück selbst hatte sich sehr »dagegen gesträubt«, die Ansprache am 28. Juni 1929 in der Aula der Berliner Universität zu halten185. Als einer der herausragenden Köpfe der Kriegsschuldforschung und vor allem als allseits anerkannter unabhängiger Geist wurde Delbrück auf Beschluss des Deutschen Hochschultages die Rolle des Hauptredners auf der Gedenk­ veranstaltung der fünf Berliner Hochschulen angetragen, der er sich nicht entziehen konnte und wollte. Als er jedoch bereits das Manuskript ausgearbeitet hatte, kam plötzlich von der preußischen Regierung die Anweisung, die Veranstaltung aus außenpolitischen Gründen abzusagen. Ebenfalls in diesen Tagen erkrankte Delbrück, hielt aber seine Rede am 28. Juni im Bett zu einigen wenigen Freunden. Am 14. Juli erlag Delbrück seiner schweren Krankheit, seine Ansprache aber fand noch in den »Preußischen Jahrbüchern« Verbreitung, die ihm damit letztmalig als Forum dienten. Zudem wurde sie in großer Auflage als Broschüre gedruckt186. 184 Rassow, Delbrück, S. 433. 185 Delbrück an Montgelas am 14. Juni 1929, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Montgelas, Bl. 57. Auch Hellmut von Gerlach berichtete wenige Wochen später, Delbrück habe ihm zu der Aufforderung, die Rede zu halten, gesagt: »Es ist mir scheußlich. Aber wenn ich es nicht tue, besteht die Gefahr, daß entweder ein Alldeutscher oder einer von der Richtung Georg Bernhards die Rede bekommt. Das gibt dann entweder Kriegshetze oder Verbeugung vor Frankreich. Von mir wird wenigstens die mittlere Linie gewahrt.« (Hellmut von Gerlach: »Delbrück«, in: Weltbühne vom 30. Juli 1929, S. 182 f, in: ebd., Fasz. 12.6). 186 Zahlreiche Zeitungen brachten sie in Auszügen oder Zusammenfassungen zum Abdruck (z. B.: »Die letzte Rede Hans Delbrücks«, in: Kölnische Volkszeitung, 70. Jg., Nr. 492 vom

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»[S]ein letztes Wort an die Welt«187 war gekennzeichnet von einem düsteren Unterton und einer ungewohnt nationalistischen Färbung. Die Situation Deutschlands 1919 bezeichnete er als »nicht nur besiegt und verstümmelt, sondern auch entehrt und zu dauernder wirtschaftlicher Sklaverei verdammt«. Dieser Tag der zehnjährigen Wiederkehr gebe »Anlaß zum Reden, zu klagen, anzuklagen, aufzusuchen, was etwa zum Troste gereichen könnte. Die Klage kann nicht ohne Anklage bleiben und die Anklage muß sich nicht bloß gegen unsere Feinde, sondern auch gegen das eigene Volk richten. Eine solche Katastrophe kommt nicht über ein Volk ohne Verschulden.«

Das waren aber auch schon die einzigen selbstkritischen Worte, die er fand. Denn die »Sünde«, die »vor dem Kriege und während des Krieges die Seele unseres Volkes befleckt hat«, wollte er nicht näher bezeichnen, da dies eingreife in den Parteistreit und jeder die »Sünde« an anderer Stelle suche. Stattdessen setzte sich Delbrück intensiv mit den ehemaligen Feinden Deutschlands auseinander, entgegen seiner zunächst gemachten Aussage, er wolle heute keine »Anklage« an diese Staaten formulieren, weil er sie auch gegen das eigene Volk unterlasse. Dann aber konzentrierte er sich auf die in Versailles formulierte These zur Kriegsschuld, die die Deutschen »als ein Verbrechervolk« gebranntmarkt habe. »Mit diesen Sätzen hat die Feindschaft und der Uebermut des Siegers sich überschlagen.« Denn man habe mit viel Mühe nachweisen können, dass die Thesen nicht nur falsch, sondern »nicht einmal in gutem Glauben« formuliert worden seien. Er legte sodann wie schon öfter die seiner Meinung nach existenzielle Bedrohung des Habsburgerreiches durch den serbischen Nationalismus in Verbund mit dem russischen Panslawismus dar, gegen die sich Österreich in »Verzweiflung« zur Wehr gesetzt habe. Deutschland habe in der Julikrise ehrlich auf einen Kompromiss hingearbeitet, der aber durch die russische Mobilmachung zunichte gemacht worden sei. Vielleicht, so Delbrück, seien von der Reichsleitung »Fehler« gemacht worden, »[a]ber nirgends, an keiner Stelle und an keinem Punkt liegt irgend etwas vor, was dahin ausgelegt werden müßte, daß Deutschland oder Oesterreich aus Herrschsucht oder Eroberungslust auf den allgemeinen Krieg hingearbeitet oder ihn entfesselt hätte.« Damit kam er zu seiner Frage, wenn die Mittelmächte »vollständig unschuldig« am Kriegsausbruch gewesen seien, wer denn dann Schuld am Krieg war. Die These von David Lloyd George, alle Staaten seien »in den Krieg hineingeschliddert«, wies er ab: »Also bloßer Zufall und Ungeschicklichkeit sollen die Welt in diese entsetzliche Katastrophe gestürzt haben. Es kann keine trostlosere Vorstellung von der Natur der Völkerschicksale geben, als einen derartigen Kultus des Zufalls.« In der Folge fixierte Delbrück sich auf Frankreich unter Poincaré, der den Krieg gewollt und gewünscht hätte. Das Deutsche Reich habe keine Ziele 16. Juli 1929, in: ebd., Fasz. 11.1; Hans Delbrück: »Der Friede von Versailles«, in: DAZ, 68. Jg., Nr. 298 vom 30. Juni 1929, in: ebd., Fasz. 89b). 187 Meinecke, Nekrolog, S. 702.

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verfolgt, die es nur mittels eines Krieges hätte erreichen können, weswegen ein solcher in der Tat »das größte Verbrechen der Weltgeschichte« gewesen wäre. »Die französische Politik, die auf den Weltkrieg hinsteuerte, darf man tadeln vom Standpunkt der Humanität und des Pazifismus, aber vom Standpunkt der nationalen Machtpolitik kann man ihr die Berechtigung nicht absprechen.« Denn die einstige Vormacht in Kontinentaleuropa sei nach 1871 immer weiter in die Defensive geraten und habe ihren Status als Großmacht retten wollen mit dem Krieg gegen Deutschland. Eine schwere Anklage erhob Delbrück schließlich an den moralischen Anspruch der Siegermächte in Versailles: »Die Sieger haben verkündet, daß sie der Welt den Frieden schenken wollen, aufgebaut auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker. Aber allenthalben, wo es sich um Deutsche handelte, wurde dieses Selbstbestimmungsrecht außer Kraft gesetzt.« Weiter betonte er, den »moralischen Anspruch« aus den Waffenstillstandsbedingungen nach den Wilsonschen 14 Punkten habe man aber nach wie vor188. Der Pessimismus kam zu Beginn und zu Ende der Rede zum Vorschein: Er stellte sich zunächst die Frage, ob man auf dem Weg in eine »neue Epoche der Weltgeschichte« sei, in der die internationalen Beziehungen nicht mehr durch Krieg, sondern durch das moralische Empfinden der Völker entschieden würden (siehe hierzu Kapitel III.1.b)). Treffe dies nicht zu und würden »doch wieder Krieg und Blutvergießen die Welt regieren, so würde auch dieser Zukunftskrieg in seiner Gestalt derart verwandelt sein, daß Schlüsse aus Vergleichen mit früheren Volkserhebungen sich kaum noch ziehen ließen.« Zum Schluss seiner Ansprache verglich Delbrück den Versailler Frieden mit dem Frieden, der Karthago auferlegt worden war  – der einzige Frieden in der Weltgeschichte, der 188 Hier zitiert nach der Version: Delbrück, Friede. In einem nahezu identischen Entwurf dieser Rede in Delbrücks Nachlass findet sich ein kleiner, aber bedeutender Unterschied: In dem Abschnitt, dem er dem Vorwurf, zunächst einen Waffenstillstand auf der Basis der 14 Punkte von Wilson erhalten zu haben, widmete, hieß es in der gedruckten Fassung: »Nun stellte sich heraus, daß Deutschland in völlige militärische Auflösung verfallen war, und die Sieger benutzten diese Ohnmacht, um nach dem Recht des Stärkeren die Waffenstillstandsbedingungen zu verleugnen und die Friedensbedingungen festzustellen, wie es ihnen gefiel.« (S. 15). In der Entwurfsfassung war zwischen »Deutschland« und »in völlige militärische Auflösung« eingefügt und wieder gestrichen: »infolge der Revolution« (Entwurf Delbrücks mit dem Titel: »Versailler Rede zum 28. Juni 1929«, 64 Seiten, hier S. 45, in: BArch N 1017/64). Diese drei Wörter konnten an dieser Stelle als Darstellung der Dolchstoßlegende interpretiert werden. Gemeint waren sie wohl schlicht als Feststellung, da sie nichts über den Ursprung der Revolution aussagten (diese entsprang nach Delbrück der militärischen Niederlage und nicht umgekehrt, siehe Kapitel V). Um jeglichen Missdeutungen vorzubeugen, hatte er diese Wörter wieder herausgenommen. Ein weiteres Manuskript ist in: SBB NL Delbrück, Fasz. 48, hier mit einer geringen Abweichung an der Stelle, an der er von der »Sünde« sprach: Die Fassung hier war etwas schwächer formuliert, zugleich liegt bereits die Alternative, die dann auch gedruckt wurde, vor, die die Anklage an das eigene Volk etwas schärfer fasst in der Formulierung. Anhand dieser zwei Änderungen in den Manuskripten wird also deutlich, dass Delbrück mit seinem Text minimal nach links gerückt war. Mehrere Druckbögen mit Korrekturen, die lediglich Schreibfehler bezeichneten, finden sich in: ebd., Fasz. 61.

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vergleichbar schwere Reparationen beinhaltet hätte. Karthago habe damals 50 Jahre lang alle Kontributionen loyal bezahlt und sei anschließend von Rom vollständig vernichtet worden. »Sollen wir uns dem schwarzen Gedanken hingeben, daß dem Deutschen Reich vielleicht auch einmal ein solches Schicksal bereitet werden könnte?« Dies wies er aber zurück unter Hinweis darauf, dass in der Antike der Gleichgewichtsgedanke nicht vorhanden gewesen sei und heute die »Weltmeinung« als »entscheidend[e] Weltmacht« Deutschland zu Hilfe kommen werde. Delbrück schloss seine Rede mit den Worten des Apostels (2. Korinther 6,4–9): »Suchen wir uns zu beweisen als die Diener Gottes in Geduld, in Trübsal, in Nöten und Aengsten, in dem Wort der Wahrheit, durch Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken, als die Gezüchtigten und doch nicht ertötet, als die Sterbenden, und siehe, wir leben.«189

Diese Ansprache fügt sich nur schwer ein in die sonstige Motivlage, die Delbrücks Agitation in der Kriegsschuldfrage kennzeichnete. Seine Weigerung, sich mit den eigenen, deutschen Fehlern zu befassen, entsprang seinem Streben nach einer »Einheitsfront«. Hier aber kam die vollständige Auslassung dieses doch ganz erheblich wichtigen Aspekts fast schon einer Leugnung nahe. Sein sonst häufig und immer wieder unternommenes Anliegen, die Behandlung der Schuldfrage positiv für die Republik anzuwenden, kommt hier überhaupt nicht mehr zum Vorschein. Dafür suchte er in ungleich schärferer Weise als je zuvor eine Kriegsschuld bei den ehemaligen Feinden Deutschlands, allerdings weniger – wie bislang – bei Russland, sondern auf einmal in sehr ausführlicher Form bei Frankreich. Möglicherweise war er in seinen Anklagen radikaler geworden, weil die bisherige Taktik nicht erfolgreich gewesen war und sich noch keine Revision im durchgreifenden Sinne eingestellt hatte. So sehr es Delbrück also auszeichnete, dass ihm die Hauptrolle bei der angedachten Gedenkstunde angetragen wurde, so wenig fügte sie sich ein in seine sonstige Arbeit – hatte er doch noch im Februar des Jahres mit Severing seine übliche Haltung gezeigt – und so wenig kann sie als herausragend bewertet werden. Die Veranstaltung sollte eine einmütige Kundgebung des deutschen Volks werden gegen den Versailler Vertrag. Folglich musste Delbrück eine mittlere Linie wählen, um alle politischen Kräfte mitzunehmen. Wenn aber diese Rede die mittlere Linie in der Kriegs-

189 Delbrück, Friede. In der Broschüre schloss sich ein weiterer Aufsatz aus den Preußischen Jahrbüchern an, in dem Delbrück als Anlage zahlreiche »Beweisstücke« für den Kriegs­ willen Poincarés anführte. Da er den Text nicht mehr vollenden konnte, hatte es sein Freund Max Montgelas übernommen, ihn fertigzustellen (ebd., S. 19–32). Die angeführten Aktenstücke legten eine Haltung Frankreichs seit 1912 nahe, die einen Krieg mit Russland gegen Deutschland und Österreich zumindest nicht zu verhindern suchte, wenn nicht sogar begrüßte. Im Zusammenhang mit der vorliegenden Studie kann allerdings auf eine genaue Nachprüfung verzichtet werden, weil hier nicht die Kriegsschuldfrage selbst untersucht werden soll, sondern die Art ihrer Behandlung durch Hans Delbrück.

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schulddebatte im Sommer 1929 in Deutschland kennzeichnete190, dann war das Reich und seine Außenpolitik bereits in sehr nationalistisches und unversöhnliches Fahrwasser geraten. Gleichwohl fand die Rede bei den Zeitgenossen großen Anklang, was diese Annahme bestätigt. Friedrich Meinecke schrieb Delbrück, sie habe den »großen Zug, den alle Ihre Werke haben. Sie wird, weil sie von Ihnen kommt, auch im Auslande wirken und stärker wirken als […] das Gelärme von Rechts.«191 Damit meinte er, dass Delbrück anders als die Rechtskräfte eine auch im Ausland geachtete Persönlichkeit war, weshalb man dort seine Anklagen eher zu hören bereit war, als wenn sie jemand anders formuliert hätte. Max Montgelas, dem Delbrück seine Rede vorab zur Durchsicht gegeben hatte192, zeigte sich ebenfalls sehr begeistert – seine Korrekturvorschläge gingen sogar in die Richtung einer Verschärfung193. Dennoch entging nicht allen der finstere Unterton. Paul Rühlmann schrieb: »Hoffen wir, daß sein [Delbrücks, d. Vf.] leuchtender Glaube an Deutschlands Zukunft unser Weggenosse sein wird und nicht die düstere Ahnung von Karthagos Schicksal aus seiner ungehaltenen letzten Universitätsrede. Have pia anima.«194 Delbrück hatte sich aber mit seiner übertriebenen Behauptung zur Schuldfrage zum Werkzeug der Rechten gemacht: So bemühte zum Beispiel der »Tag« zwei Monate später in einer Abhandlung zur Schuldfrage Hans Delbrücks Rede als Zeugen für seine eigene, rechtsradikale Deutung195. In ähnlicher Weise geschah dies auch aufgrund des kurzfristigen Verbots der Veranstaltung: Die »Berliner Morgenzeitung« berichtete, die »völkische Studentenschaft hatte den Boykott dieser Rede beschlossen.« Nachdem aber die Gedenkfeier von der Regierung untersagt worden war, »protestierte dieselbe Studentenschaft gegen Preussen und trat damit für Delbrück ein. Auf diese Weise ist Hans Delbrück Gegenstand der Ovationen von rechts geworden.«196 Die 190 Dass sie tatsächlich »die mittlere Linie« in Deuschland ausdrückte, hatte Delbrück selbst gesagt. Und selbst der linke Publizist Hellmut von Gerlach bezeichnete sie als »ein Meister­ stück« (Hellmut von Gerlach: »Delbrück«, in: Weltbühne vom 30. Juli 1929, S. 182 f, in: SBB NL Delbrück, Fasz.12.6). 191 Meinecke an Delbrück am 12. Juli 1929, in: ebd., Briefe Meinecke, Bl. 43. 192 Delbrück an Montgelas am 14. Juni 1929, in: ebd., Briefkonzepte Montgelas, Bl. 57. 193 Montgelas an Delbrück am 16. Juni 1929, in: ebd., Briefe Montgelas IV, Bl. 63–65. ­Delbrück las seine Rede im Krankenbett seiner Familie vor. Der anwesende Emil Daniels berichtete darüber später, Delbrück habe dabei die Kritik, die u. a. Adolf von Harnack übte, wie immer aufgenommen, allerdings nur im Stil (Emil Daniels: »Am frischen Grab«, in: PJb 1929, Sonderdruck in: ebd., Fasz. 11.2). Delbrück wollte also in dieser wichtigen Ansprache seine eigenen Vorstellungen durchsetzen. 194 Paul Rühlmann: »Professor Hans Delbrück †«, in: Der Tag, Nr. 168 vom 16. Juli 1929, in: ebd. Das lateinische »have pia anima« bedeutet in etwa: »Lebe wohl, fromme Seele«. 195 O. V.: »Unsere Ketten«, in: Der Tag, vom 29. August 1929, in: ebd., Fasz. 11.1. 196 O. V.: »Hans Delbrück †«, in: Berliner Morgenzeitung, vom 15. Juli 1929, in: ebd., Fasz. 12.6. Hans Rothfels zeigte sich auch schwer empört über die Absage der Veranstaltung (»Innerpolitisch ein schwerer Schlag für alle, die sich bemühen, Universität und Studentenschaft in eine politisch=staatliche Linie zu stellen, außenpolitisch eine schwere Desavou-

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Rektoren und Senate der Friedrich-Wilhelms-Universität und der Technischen Hochschule legten beim Kultusminister »in eindringlichster Form Verwahrung« ein, da »das Recht der Selbstverwaltung durchbrochen« worden sei. »Die Person des Redners, Geheimen Regierungsrats Prof. Hans Delbrück, bot jegliche Gewähr für eine sachliche wissenschaftlich begründete Behandlung des Gegenstandes.«197 Insgesamt zeigte sich der zehnte Jahrestag des Versailler Vertrags im Deutschen Reich nach Friederike Schubart als ein »Katalysator, der einen realpolitischen Entwicklungsprozess auf dem Weg der Symbolpolitik nach außen sichtbar machte: Der Graben zwischen den zunehmend nach rechts driftenden bürgerlichen Parteien und der nach links blickenden SPD wurde größer.«198 Insgesamt bewegte sich Hans Delbrück bei seinem Engagement in der Kriegsschuldfrage auf einer mittleren Linie: Die Untersuchung der Kriegsursachen betrieb er als Historiker mit seinem Streben nach der Wahrheit. Dabei war er stets davon überzeugt, dass es keinen Kriegswillen bei den leitenden Stellen gegeben habe, wie ihn die Entente in Versailles den Deutschen vorgehalten hatte. Gleichwohl sah Delbrück zahlreiche Fehler in der deutschen Vorkriegspolitik, die für ihn mit der alliierten Anklage jedoch nichts zu tun hatten. Er versteifte sich deshalb auf die Abweisung der Unterstellung eines geplanten und vorsätzlich entfesselten Krieges. Mit der Zeit ging er dann aber dazu über, bei Deutschlands Gegnern diesen Willen zu suchen, der allerdings ebenso wenig bestanden hatte wie beim Reich selbst. Dieser Kampf um die Frage des Kriegswillens war für Delbrück ein politischer, da sich aus seiner Sicht mit ihr der Versailler Vertrag und dessen etwaige Revision verband. Die Analyse der tieferen Ursachen und Zusammenhänge, die zu 1914 geführt hatten, waren für ihn eine Aufgabe der Geschichtsschreibung, bei der er keineswegs Fehler Deutschlands verschwieg. Dass Delbrück bei der Kriegsschuldfrage insgesamt eine mittlere Linie vertrat, wird auch deutlich mit Blick auf seine Abgrenzung nach rechts. Mehrfach wandte er sich in seiner Publizistik gegen eine zu weitgehende Darstellung der deutschen Unschuld199. Dabei war seine Haltung zur Kriegsschuld 1­ 919–1929 nicht vollständig neu. Er hatte die wesentlichen Gedanken bereits während des Kriegs immer wieder formuliert200. rierung«) und fragte Delbrück, wie er sich dazu stelle (Rothfels an Delbrück am 28. Juni 1929, in: ebd., Briefe Rothfels, Bl. 9). 197 Rundschreiben des Rektors an alle Dozenten der Universität Berlin vom 9. Juli 1929, darin das genannte Schreiben vom 28. Juni, in: ebd., Briefe Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin. 198 Schubart, Weimar, S. 151. 199 »Erklärung Delbrücks«, in: MNN vom 23. November 1925, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 89a; Hans Delbrück: »Deutsche Flotte und Kriegsschuld«, in: DAZ vom 23. Dezember 1927, in: ebd., Fasz. 95.2. 200 Siehe exemplarisch Hans Delbrück: »Englands Schuld am Kriege«, ein Flugblatt der »Deutschen Korrespondenz«, herausgegeben von Martin Hobohm, Mai 1918, in: ebd., Fasz. 86a. Hier sagte er voraus, dass die Nationen sich auch nach dem Ende des Kriegs nicht einig werden würden über die Frage, wer die Schuld trage. Deshalb müsse das Ziel

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Dass Delbrück trotz seiner nach heutigen Einschätzungen sehr weit rechts stehenden Ansicht eine wichtige und stabilisierende Rolle für die Weimarer­ Republik einnahm, illustriert anlässlich seines 75. Geburtstages 1923 eine Charakteristik von Theodor Heuss: »Und doch kann nur von einem Standpunkt her, wie er ihn einnimmt, und nicht von sentimentalem Pazifismus oder selbstgerechtem Chauvinismus in dieser Frage fester Boden gewonnen werden.«201 Was Heuss meinte, war, dass Delbrück sich, soweit er sich auch rechts von liberalen Einschätzungen bewegte, stets scharf nach rechts außen abgrenzte, weil er erkannte, dass es der »selbstgerechte Chauvinismus« gewesen war, der Deutschland zum größten Schaden gereicht hatte. Zugleich hatte er auch nichts gemein mit den Strömungen, die vorrangig mit dem Ziel, das Kaiserreich zu diskre­ ditieren, eine Selbstbezichtigung betrieben. Delbrück stand immer auf einem nationalen Standpunkt. Nur so lässt er sich verstehen. Er akzeptierte die militärische Niederlage. Was er nicht akzeptierte, war der moralische Deckmantel der Siegermächte in Form der »Kriegsschuldlüge« zur Verhüllung ihrer Machtpolitik. Von Delbrück finden sich daher auch quasi keine Äußerungen, in denen er beispielsweise eine Revision der Grenzen verlangte. Er kämpfte auf ideellem Gebiet und wenn überhaupt auf materiellem, dann hinsichtlich der Reparationen. Somit verfolgte er keine revanchistische Politik, sondern wollte das Klima internationaler Beziehungen verbessern, um eben ein Streben nach Revanche durch bestimmte Kreise in Deutschland zu verhindern. Als Max Montgelas im Herbst 1928 an Delbrück schrieb, »[i]hre Briefe sind mir stets eine Aufmunterung, auf dem Gebiete der Kriegsschuldfrage weiterzuarbeiten. Sonst möchte man die Sache mitunter lieber aufgeben angesichts des Schadens, der angerichtet wird.«202, wurde damit deutlich, welche Vorbild- und Führungsfunktion Delbrück in dem Diskurs besaß. Insgesamt zeigte sich, dass Delbrück besonders dem Konflikt ÖsterreichSerbien eine herausragende Rolle für den Ausbruch des Weltkriegs zuwies und ihn immer wieder ausführlich auseinandersetzte. Die Historiographie hat diesen zumeist marginalisiert und in ihm nur ein kurzes, von den Großmächten instrumentalisiertes Vorspiel gesehen. Erst Christopher Clark widmet der Vorgeschichte auf dem Balkan eine eigene Darstellung auf breitem Raum – in gewisser Hinsicht eine späte Bestätigung Delbrücks.

nicht eine Einigung auf eine Wahrheit sein, sondern die Ausschaltung von Irrtümern. Er formulierte auch hier schon, dass nicht England, sondern Russland die Hauptverant­ wortung treffe. Die gleiche Ansicht vertrat Delbrück bereits am 24. Oktober 1915 in der Morgenzeitung »New York American«, in der er den russischen Expansionismus als die Wurzel des Militarismus in Europa darstellte (Interview in: BArch N 1017/16). 201 Theodor Heuss: »Hans Delbrück. Zum 75. Geburtstage am 11. November«, in: Frankfurter Zeitung, Nr. 838 vom 11. November 1923, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 5. 202 Montgelas an Delbrück am 22. September 1928, in: ebd., Briefe Montgelas IV, Bl. 35–37.

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4. Die Disputationen mit ausländischen Kriegsschuldforschern Im Folgenden werden sechs Diskussionen Delbrücks mit angesehenen Kriegsschuldforschern aus Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika analysiert. Diese werfen ein Schlaglicht auf die internationalen Beziehungen zu den ehemaligen Feindländern Deutschlands und auf die Entwicklung der Kriegsschuld-Debatte seit der Konfrontation in Versailles. Hier musste sich zeigen, inwieweit Hans Delbrück bereit war, auf seine Widersacher einzugehen und ob er damit eher eine Verhärtung der Fronten oder eine Versöhnung der Völker erstrebte und erreichte. Es gab keinen anderen namhaften Intellektuellen in der Zwischenkriegszeit, der wie Delbrück derartige Disputationen geführt hat. Interessant ist daher auch, wie Delbrück sich verhielt in Ton und Form der Auseinandersetzung. a) Ernest Lavisse, Frankreich Wenige Tage bevor Hans Delbrück nach Versailles gerufen wurde, schrieb er einen offenen Brief an den französischen Historiker Ernest Lavisse. Dieser hatte in der einflussreichen französischen Tageszeitung »Le Temps« am 2. Mai 1919 anklagende Worte gefunden für die deutsche Delegation in Versailles: Er warf ihr vor, sich der Anerkennung einer deutschen Kriegsschuld zu widersetzen. Er bezeichnete Brockdorff-Rantzau und dessen Stab als Vertreter des alten Regimes, mit denen man nicht verhandeln könne. Auch die Führungsschicht in der deutschen Verwaltung sei noch dieselbe wie im Kaiserreich. In Deutschland sei nach wie vor ein großer Hass auf Frankreich verbreitet203. Lavisse traf zwar richtige Punkte, nämlich die hohe Eigenmächtigkeit des deutschen Verhandlungsführers gegenüber der demokratisch legitimierten Reichsregierung und die hohe Kontinuität des Beamtenapparats. In den Vorwürfen und Unterstellungen ging er aber zu weit und provozierte damit eine Gegenreaktion: Hans Delbrück nahm diese Anschuldigungen zum Anlass für eine eigene Darstellung in der »Deutschen Allgemeinen Zeitung«. Er begründete diese damit, dass er wie kaum jemand sonst durchweg national gesinnt sei, aber vor und im Krieg die alldeutschen Exzesse öffentlich bekämpft habe. Er nahm also selbstbewusst für sich eine ausgewogene Sichtweise in Anspruch. Im Artikel machte er den deutschen Standpunkt in der Kriegsschuldfrage deutlich und verwies auf das Gefühl der Bedrohung, das man durch das französisch-russische Bündnis gehabt habe. Am Ende sei es die russische Mobilmachung gewesen, die das Reich zum Losschlagen gezwungen habe. Er fühle sich in dieser Deutung bestätigt,

203 Ernest Lavisse: »Lettre à MM. les plénipotentiaires de L’Allemagne«, in: Le Temps vom 2./3. Mai 1919.

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da die Entente eine Untersuchung der Vorgänge durch eine internationale Kommis­sion abgelehnt habe. Als Alternative forderte er nun Lavisse persönlich auf, »in der Form eines öffentlichen Gesprächs, mündlich oder schriftlich, die Frage bis in die letzten Winkel zu erörtern.«204 Was bewog Delbrück dazu, seinen angesehenen französischen Kollegen in dieser Weise herauszufordern? Es war ein gewisses Maß an Hilflosigkeit erkennbar. Deutschland, militärisch besiegt und durch die Revolution vollständig jeder tatsächlichen Macht beraubt, war bei den Friedensverhandlungen zur Passivität genötigt. Dies war bereits klar, noch bevor diese eigentlich losgingen und bevor das Reich durch den Vertragsabschluss und das Ultimatum zur Anerkennung einer angeblichen Alleinkriegsschuld gezwungen wurde. Da die­ (angebliche) deutsche Kriegsschuld maßgeblich zur Begründung für die Vertragsbestimmungen herhalten musste, war sie sowohl faktisch von Bedeutung als auch moralisch. Wenn also die Frage der Kriegsschuld bei den Verhandlungen und für den Vertrag eine derart herausragende Bedeutung bekam, war es nur logisch, dass man deutscherseits versuchte, die eigene Sichtweise dagegen durchzusetzen. Wenngleich die mehrheitlich sozialdemokratische Regierung Verfehlungen der vorausgegangenen Regierung keineswegs verschwieg, war auch für sie der alliierte Vorwurf der vorsätzlichen Herbeiführung eines Eroberungskrieges nicht hinnehmbar. Eine Untersuchung des Kriegsausbruchs durch eine internationale, neutrale Kommission wäre zwar die objektiv beste, weil sachlichste, Lösung gewesen. Für die Siegermächte konnte aber eine vorbehaltlose Öffnung ihrer Geheimarchive nicht in Frage kommen. In Deutschland, Österreich und Russland war dies nur deshalb möglich geworden, weil es zu revolutionären staatlichen Umwälzungen gekommen war und die neuen Regierungen auch für ihre eigene Legitimierung die Fehler der Vorgänger anprangern konnten und wollten. Für die alliierten Regierungen kam eine Öffnung der sensibelsten aller Akten nicht in Frage, und zwar weniger aus der Furcht vor der Aufdeckung eigener Fehler, als aus prinzipiellen Erwägungen. Geheime diplomatische Akten sind in der Geschichte noch nie sofort und vorbehaltlos von der sie verantwortenden Regierung geöffnet worden. Dies war auch Hans Delbrück bewusst205. Das einzige, was also noch blieb, um die Kriegsschuldfrage in der Weltöffentlichkeit sachlich zu erörtern, war die wissenschaftliche Debatte unter angesehenen Intellektuellen der beteiligten Staaten. Dies war eine wenig ver-

204 Hans Delbrück: »Eine Antwort an Herrn Ernest Lavisse«, in: DAZ, 58. Jg., Nr. 217 vom 6. Mai 1919, in: BArch N 1017/ 2, SBB NL Delbrück, Fasz. 89a. 205 In der Auseinandersetzung mit Headlam-Morley (siehe Kapitel IV.4.c)), schrieb Delbrück in der gemeinsamen Broschüre 1921, die deutschen, österreichischen und russischen Akten seien nur veröffentlicht worden, da die neuen Regierungen »die Revolution und ihre eigene Existenz […] rechtfertigen« wollten (Delbrück, Schuld-Diskussion, S. 6). Damit hatte er selbst den Grund, wieso die Entente-Regierungen ihre Archive nicht öffnen konnten, indirekt benannt.

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bindliche Form der Aufklärung, aber vorerst der einzige Weg. Folglich beschritt ihn Hans Delbrück und betonte: »Ich bin des Ergebnisses völlig sicher.«206 Er setzte sich im Einzelnen mit den Anwürfen von Lavisse auseinander und nahm vor allem den deutschen Delegationsleiter Brockdorff-Rantzau in Schutz. Dieser sei immer schon ein Anhänger der Versöhnung gewesen. Dann führte er aus, dass das neue Reich – anders als von Lavisse vorgeworfen – tatsächlich demokratisch sei, demokratischer sogar als Frankreich. Er verwies auf die demokratisch-republikanische Einstellung von SPD, DDP, DVP und Zentrum207, die gegenwärtig fünf Sechstel der Stimmen auf sich vereinigt hätten. Er betonte weiterhin die von ihm bedauerte Stärke des deutschen Föderalismus, der das Reich nach außen hin schwäche, und erklärte die Neuaufstellung der Armee mit der Notwendigkeit durch die bolschewistische Bedrohung. Die von Lavisse angeführten chauvinistischen Kriegsziele versuchte Delbrück zu entkräften durch den Hinweis darauf, dass nunmehr diejenigen Kräfte in Deutschland an der Regierung seien, die im Krieg diesen widersprochen hätten. Mit diesen Erklärungen über die deutschen Verhältnisse versuchte Delbrück, die deutsche Position in Versailles zu stärken und Vorwürfe an das Reich, es habe nicht vollständig mit seiner Vergangenheit gebrochen, zu widerlegen. Er warnte vor den Folgen einer zu repressiven antideutschen Politik, die wiederum nur das Alldeutschtum stärken werde. Er beteuerte, ihm ginge es nicht um die Frage, welche Bedingungen Deutschland im Detail bekomme, sondern »ob die auf Macht und Eifersucht beruhende Politik der Vergangenheit auch die Politik der Zukunft sein wird, oder ob die Menschheit einmal diesen Kongreß preisen wird als den Ausgangspunkt eines neuen Zeitalters der Beziehungen der Völker, eines Zeitalters, in dem nicht der Gegensatz, sondern die Gemeinsamkeit ihrer Interessen und ihres Strebens den Richtpunkt abgeben wird für ihr Tun.«208

Lavisse reagierte mit längeren Ausführungen zum historischen Recht Frankreichs auf Elsaß-Lothringen und dem angeblich brutalen Unterdrückungs206 Hans Delbrück: »Eine Antwort an Herrn Ernest Lavisse«, in: DAZ, 58. Jg., Nr. 217 vom 6. Mai 1919, in: BArch N 1017/ 2, SBB NL Delbrück, Fasz. 89a. 207 Für die DVP kann man zwar 1919 nur bedingt eine republikanische Überzeugung behaupten. Dennoch ist die allgemeine Richtung dieser Argumentation Delbrücks durchaus korrekt, bei den Wahlen zur Nationalversammlung hatte mit der Abgabe der Stimme für SPD, DDP und Zentrum ein Großteil der Bevölkerung den Weg zur Republik gefordert. 208 Hans Delbrück: »Eine Antwort an Herrn Ernest Lavisse«, in: DAZ, 58. Jg., Nr. 217 vom 6. Mai 1919, in: BArch N 1017/ 2, SBB NL Delbrück, Fasz. 89a, Hervorhebungen ebd. Dieser letzte Satz war von Delbrück gar nicht so utopisch gemeint. Siehe hierzu Kapitel III.1.b). Zustimmung erhielt Delbrück u. a. vom ehemaligen Mitglied der deutschen Waffenstillstandskommission, Generalmajor Detlof von Winterfeldt. Auch er räumte in einem Schreiben an Delbrück große Fehler der deutschen Politik ein, bezeichnete die Behauptung eines planmäßigen Eroberungskrieges aber als »ungeheuerliche Geschichts­ fälschung«. Aktionen wie die Delbrücksche seien richtig und wichtig: »Wir haben die Pflicht, es zu tun [sic] und auch das Recht dazu!« (Winterfeldt an Delbrück am 8. Mai 1919, Abschrift in: BArch N 1017/78, S. 276–278).

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regime, das Deutschland dort seit 1871 geführt hätte. Konkret zur Kriegsschuld­ frage äußerte er sich nicht mehr209. Delbrück urteilte daher, Lavisse habe »gekniffen«210. Im Zusammenhang mit den Versailler Verhandlungen war es also nicht zu einer öffentlichen Schulddebatte gekommen. b) James Beck, Vereinigte Staaten von Amerika Einen neuen Anlauf nahm der Berliner Historiker ein Jahr später, als er mit dem Amerikaner William C. Dreher, Korrespondent für US-amerikanische Zeitungen in Berlin, im Juni 1920 ins Gespräch kam. Diesem hatte Delbrück von dem Scheitern der Debatte mit Lavisse berichtet, was Dreher auf die Idee brachte, eine neue Diskussion, diesmal mit einem Amerikaner, zu vermitteln. Er schlug Delbrück vor, den angesehenen Anwalt James Beck herauszufordern zu einer öffentlichen Debatte in Den Haag. Dieser hatte sich bereits seit Kriegsausbruch einen Namen gemacht als Ankläger gegen Deutschland. Den Aufruf wollte er in der großen Tageszeitung »New York Tribune« unterbringen. Für den Fall, dass Beck die Herausforderung nicht annehme, schlug Dreher Delbrück vor, ihn zu autorisieren, einen Herausgeber einer der führenden New Yorker Zeitungen zu vermitteln211. Delbrück antwortete sofort: »ausgezeichnet«, erbat sich aber ein paar Tage Zeit zur genauen Formulierung212. Tatsächlich wollte er diesen Schritt nicht ohne die Rückendeckung des Auswärtigen Amts tun – ein Kennzeichen für Delbrücks Loyalität gegenüber seinem Staat – und wandte sich sofort an Minister Walter Simons213. Dieser hatte wohl zunächst eingewilligt214, nach Konsultation seiner Mitarbeiter aber Delbrück offiziell darum gebeten, von dem Plan Abstand zu nehmen. Die amerikanische Abteilung im AA hatte in ihrer Stellungnahme davon gesprochen, die öffentliche Meinung in den USA sei noch nicht reif für eine Neubewertung der Schuldfrage, was Delbrück zu der Randbemerkung veranlasste: »Wird sie das je, wenn wir nichts thun?« Außerdem sei die Aufmerksamkeit im amerikanischen Volk zu sehr auf die Präsidentenwahl fixiert, weshalb Delbrücks Vorhaben bis auf Weiteres aufgeschoben werden solle215.

209 Ernest Lavisse: »Lettres au ›Temps‹«, in: Le Temps vom 3. Juni 1919. 210 Hans Delbrück an Walter Simons am 26. Juni 1920, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 157.38, Bl. 13. 211 Brief Drehers an Delbrück vom 25. Juni 1920, in: BArch N 1017/48. Dreher bestimmte dabei auch der journalistische Reiz, aber in der Sache sympathisierte er durchaus mit Delbrück. 212 Delbrück an Dreher am 26. Juni 1920, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 157.38, Bl. 13. 213 Delbrück an Simons am 26. Juni 1920, in: ebd. 214 Delbrück an Rohrbach am 7. Juli 1920, in: ebd., Bl. 16 f. 215 Simons an Delbrück am 30. Juni 1920, in: BArch N 1017/48, SBB NL Delbrück, Briefe­ Simons, Bl. 3.

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Daraufhin schaltete sich der ehemalige Reichskanzler Max von Baden in den Vorgang ein. Resigniert über die »Geheimratspolitik schlechtester Art« hatte Delbrück den Paten seiner Tochter Helene, Paul Rohrbach, über den Vorgang informiert und geklagt, man erkenne nicht, »welch eine Trumpfkarte ich ihnen [den Diplomaten, d. Vf.] in die Hand« gegeben habe216. Rohrbach wiederum hatte Max davon in Kenntnis gesetzt, der sich dann mit einem eindringlichen Appell an Simons wandte. Max handelte also aus eigenem Antrieb. Er bedauerte gegenüber Simons, dass sich große Volksteile angesichts der wirtschaftlichen Not nicht mehr um »die Ehrenfragen« kümmerten und es meist die Chauvinisten seien, die sich bei diesen Themen zu Wort meldeten. Das Engagement von Delbrück, einem Mann, »dessen nationale und internationale Zuverlässigkeit unbestritten ist«, sei deshalb in hohem Maße zu schätzen. Max gab zwar zu, dass der Schritt in den USA keine größere Resonanz erzielen würde, vermutete aber eine bedeutende Wirkung in England, Deutschland und dem neutralen Ausland. Die Art der Auseinandersetzung, ein Rededuell, erscheine ihm sinnvoll, da der sportliche Instinkt der Angelsachsen hierdurch gereizt würde217. Als Max am 21. Juli eine Abschrift dieses Schreibens an Delbrück sandte, ermutigte er ihn, nicht lockerzulassen, da ein Zurückziehen »die denkbar schädlichsten Wirkungen« hätte. Den einzigen Weg für eine Revision des Versailler Vertrags sah er darin, in der Öffentlichkeit der ehemals feindlichen Länder Druck aufzubauen, da jede Hoffnung auf ein freiwilliges Nachgeben der Entente illusorisch sei. Kurz vor der Absendung dieses Briefs an Delbrück erreichte Max noch ein Antworttelegramm Walter Simons, das er Delbrück beilegte. In diesem teilte der Außenminister mit, nach Abschluss der Spa-Konferenz habe er keine Bedenken mehr218. Bereits einen Tag vorher hatte Simons Delbrück brieflich dasselbe mitgeteilt219. Kurz darauf erschien am 24. Juli in der »New York Tribune« die wochenlang diskutierte Aufforderung220. In der folgenden Woche sprach dieselbe Zeitung dann zynisch vom »Good Old German Way« und davon, »that Germans, like leopards, do not change their spots.« Delbrück sei früher eine geachtete Persönlichkeit gewesen, gehöre nun aber zu der langen Liste deutscher Intellektueller, die den Angriff auf die Zivilisation rechtfertigten. Seine Haltung in der Kriegsschuldfrage werde geteilt von dem gebildeten und führenden Teil  der Deutschen. Damit sei das Reich unverändert gefährlich wie vor dem Krieg, 216 217 218 219

Delbrück an Rohrbach am 7. Juli 1920, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 157.38, Bl. 16 f. Prinz Max an Walter Simons am 14. Juli 1920, Abschrift in: BArch N 1017/48. Max an Delbrück am 21. Juli und Telegramm von Simons an Max am 22. Juli 1920, in: ebd. Simons an Delbrück am 21. Juli 1920, in: ebd. Hier sprach der Minister davon, dass er Delbrück bereits vor der Spa-Konferenz telefonisch die beginnende Konferenz als den einzigen Gegengrund genannt hatte. Dass das Eingreifen des Prinzen Max Einfluss auf die neuerliche Entscheidung des AA gehabt hatte, darf also bezweifelt werden. 220 William C. Dreher: »Delbrueck Challenges J. M. Beck to Debate. Germany’s Defender Invites New Yorker to a Discussion on War Guilt«, in: New York Tribune vom 24. Juli 1920, S. 7, in: BArch N 1017/49.

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was einen großen Fehler Wilsons enthülle: Dieser habe stets gedacht, das deutsche Volk sei anders eingestellt als seine Führer. Tatsächlich aber gebe es keinen Unterschied. Aus diesen Gründen müsse Deutschland entwaffnet und gewaltsam niedergehalten werden, um die Welt vor neuen Aggressionen zu schützen221. Hans Delbrück hatte mit seinem Vorgehen also das Gegenteil seines Zieles erreicht: Die antideutschen Kreise in den USA fühlten sich in ihrer Meinung bestätigt und sahen in der Aktion eine Aggression. Zwar zeigte der Artikel deutlich, wie wenig die inneren Verhältnisse im Reich wirklich verstanden wurden und wie falsch Delbrück eingeschätzt wurde. Er stand nicht in einer Reihe mit den Annexionisten und Alldeutschen, sondern hatte sich stets um eine gemäßigte Politik bemüht und hatte darin nicht wenige Anhänger. Auch wurde das Volk nun in einem anderen Geist regiert als vor der Revolution, man stand lediglich gegen die Versailler Anklage weitgehend geschlossen zusammen. Aber all dies ist nur von nachrangiger Bedeutung, entscheidend war die Wahrnehmung von Delbrücks Aktion als ein weiterer kriegslüsterner Ausdruck des deutschen Wesens. Somit hat seine Herausforderung sicherlich teilweise negative Auswirkungen gehabt, man darf aber die Frage stellen, ob diejenigen Kreise, die von diesem Artikel in der »New York Tribune« repräsentiert wurden, überhaupt auf irgendeine Art und Weise von ihrer antideutschen Haltung abzubringen gewesen wären. Weder Beck noch ein anderer Amerikaner hatte in den folgenden Wochen auf Delbrück reagiert. Dies lag zunächst daran, dass sich Beck, was Delbrück und Dreher nicht wussten, auf einer zweimonatigen Europareise befand. Dennoch hatte ihn der Artikel vom 24. Juli erreicht, wie er nach seiner Rückkehr in einer kurzen Notiz in der »New York Tribune« am 11. September bekannte: »Mr. Beck said if he had known of it in time he would have accepted the challenge provided his German opponent spoke as good English as he [Mr. Beck] spoke German.«222 Dies musste man als Absage verstehen, denn es gab keinen Grund, wieso die Diskussion nicht auch jetzt noch hätte stattfinden können und die Frage der Sprache hätte sich mit Dolmetschern oder anderweitigen Geschäftsordnungsregeln klären lassen können. Delbrück interpretierte Dreher gegenüber also richtig und meinte, es sei wohl eine Ablehnung223. Dreher hatte ihm zuvor Becks Artikel zugesandt und geschrieben, Beck werde sich wahrscheinlich nicht darauf einlassen, da man in Amerika »einfach nichts mehr 221 O. V.: »The Good Old German Way«, in: New York Tribune vom 30. Juli 1920, in: BArch N 1017/48. Delbrück zeigte sich entrüstet über diese falsche Darstellung seiner politischen Verortung und schrieb Dreher: »Es ist doch nicht schön, dass wenn man sich vertrauensvoll an eine amerikanische Zeitung wendet, man dafür über den Kopf geschlagen wird« (Delbrück an Dreher am 27. September 1920, in: ebd.). 222 O. V.: »League Is Dead Abroad, Beck Says On Return«, in: NYT, Nr. 26963 vom 11. September 1920, S. 4, in: Chronicling America: Historic American Newspapers. Lib. of Congress. , abgerufen am 28. Januar 2015. 223 Delbrück an Dreher am 27. September 1920, in: BArch N 1017/48.

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davon hören« wolle224. Eine Debatte über die Kriegsschuld in Amerika bzw. mit einem Amerikaner hatte Delbrück nicht zustande bringen können. Enttäuscht hatte er im »Berliner Tageblatt« den Vorgang öffentlich gemacht, kurz bevor ihn der Artikel mit Becks ablehnenden Worten erreichte, da er zu dem Zeitpunkt davon ausging, dass Beck entweder abgelehnt hatte oder weiterhin gar nicht reagieren würde. Er schrieb, es handele sich um ein »neue[s] Zeugnis [davon], wie sehr unsere Gegner jedes sachliche Eingehen auf die Schuldfrage scheuen.« Er bat die deutsche und die neutrale Presse um Unterstützung bei der Aufarbeitung der bereits veröffentlichen Quellen zum Kriegsausbruch225. Delbrück war allerdings von vornherein davon ausgegangen, dass seine Herausforderung in Amerika nicht angenommen werden würde. Dies belegen seine vorausgegangene Äußerung gegenüber Paul Rohrbach226 sowie sein im Oktober verfasster Brief an Walter Simons227. Hatte er also das Ganze nur initiiert, um ein wenig nationalistische Agitation zu betreiben? Dann wäre mit dem einzigen Ergebnis, dem Artikel der »New York Tribune«, nur ein negativer Zweck verfolgt und erreicht worden. Delbrücks Schritt hatte in jedem Fall eine polarisierende Wirkung, aber er tat es nicht um derentwillen. Er wollte die übertriebene Deutung der Vorgänge von 1914 durch die Entente zu Fall bringen. Damit beabsichtigte er nicht nur eine Revision des Versailler Vertrages, sondern wollte auch dem sich daraus entwickelnden revanchistischen Klima in Deutschland begegnen. Die gerechte Beurteilung der Frage der Kriegsschuld und vor allem die Herausnahme dieser Frage aus den politischen Verhältnissen der Nachkriegswelt war für Delbrück die Voraussetzung für eine Versöhnung der Völker. Folglich ist seine Agitation positiv motiviert gewesen. Die negativen Folgen, wie die Reaktion der »New York Tribune« und die Bestätigung der antideutschen Kreise, waren zwar voraussehbar gewesen, aber Delbrück ging es vor allem um die Überzeugung der Unentschlossenen. Hier hätte eine öffentlich geführte, wissenschaftliche Debatte zumindest bei einigen aufgeschlossenen Beobachtern möglicherweise zu einer Neubewertung der Schuldfrage führen können.

224 Dreher an Delbrück am 24. September 1920, in: ebd. 225 Hans Delbrück: »Kriegsschuld-Diskussion«, in: BT, 49. Jg., Nr. 453 vom 25. September 1920, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 89a. Offenbar hatte er seinen Artikel zeitgleich in der Deutschen Tageszeitung untergebracht, der er ein paar Tage später, als er Becks Erwiderung erhalten hatte, eine Korrektur zusandte (Delbrück an Deutsche Tageszeitung am 28. September 1920, in: ebd., Briefkonzepte Deutsche Tageszeitung, Bl. 2). 226 Delbrück an Rohrbach am 7. Juli 1920, in: ebd., Fasz. 157.38, Bl. 16 f. 227 Delbrück an Simons am 13. Oktober 1920, in: ebd., Briefkonzepte Simons, Bl. 1. Auch der Diplomat und mit Delbrück befreundete Bernhard Wilhelm von Bülow hatte noch im Juni gemeint, die Aussicht auf Annahme sei sehr gering. Er halte aber Delbrücks Vorgehen, »an den Sportssinn der Amerikaner zu appellieren«, für das Beste (Bülow an Delbrück am 29. Juni 1920, in: BArch N 1017/48, ähnlich skeptisch auch am 14. Dezember 1920, in: SBB NL Delbrück, Briefe Bernhard Wilhelm Bülow, Bl. 17–20).

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c) James Wycliffe Headlam-Morley, Großbritannien Im Übrigen ergab sich aus dem Versuch, eine Diskussion in den USA zustande zu bringen, eine andere Option: Die britische »Contemporary Review« hatte in der Folge von Delbrücks Initiative eine Darstellung von ihm zu dem in Diskussion stehenden Thema erbeten228. Der liberale Politiker und Journalist George Peabody Gooch in London, langjähriger Herausgeber der »Contemporary Review«, hatte von Delbrücks Wunsch erfahren, in einer englischen Zeitschrift zu schreiben. Im August 1920 bot Gooch Delbrück seine »Contemporary Review« an, für die dieser bereits vor dem Krieg geschrieben hatte. Der langjährige Leser der »Preußischen Jahrbücher« hatte ähnliche politische Ansichten bezüglich der Vorgeschichte des Weltkriegs und erhoffte sich durch Delbrücks Abhandlung einen Beitrag zur Verständigung229. Delbrück sandte Anfang Oktober sein Manuskript über den Ärmelkanal230. Gooch hatte zwar eine Arbeit über Deutschland nach dem Krieg erwartet, dennoch zeigte er sich über den Kriegsschuldaufsatz in gleicher Weise erfreut und ließ ihn zügig übersetzen231. Parallel hierzu hatte im Mai, also noch vor Delbrücks Amerika-Aktion, George Saunders mit Delbrück Kontakt aufgenommen. Der ehemaliger »­ Times«Korrespondent in Berlin war durch Hermann Oncken und den DDP-Politiker Wilhelm von Blume auf Delbrück aufmerksam geworden232. Delbrück regte an, nach dem Versanden der Schulddiskussion mit Frankreich (Lavisse) auf England auszuweichen. In Frage käme dort Headlam-Morley, den Delbrück hierfür herausfordern wollte233. James Wycliffe Headlam-Morley, britischer Historiker und einflussreicher Mitarbeiter des Foreign Office (FO), war bereits im Krieg in die Propaganda involviert gewesen und publizierte über die Schuldfrage.­ Saunders zeigte sich skeptisch, ob Headlam-Morley sich auf eine solche Diskussion einlassen würde angesichts seiner Beratertätigkeiten für das FO. Zudem teilte er Delbrück seine Einschätzung mit, dass man in Großbritannien davon überzeugt sei, dass das Reich in jedem Fall den Krieg begonnen hätte – gleich,

228 Zudem hatte die »Gazette de Lausanne« seinen Artikel aus dem »Berliner Tageblatt« zum Anlass genommen für eine böse Replik und darin die Forderung aufgestellt, die Kriegsschuldfrage vom Völkerbund klären zu lassen. Dem Historiker konnte dies nur Recht sein, vertrat er die Forderung nach einer internationalen, neutralen Untersuchungskommission bereits länger. Dem Außenminister gegenüber schlug er vor, dass die »DAZ« diese Idee aufgreife (Delbrück an Simons am 13. Oktober 1920, in: ebd., Briefkonzepte Simons, Bl. 1). Simons Antwort vom 27. Oktober 1920, die nicht auf Delbrücks Gedanken eingeht, befindet sich in: ebd., Briefe Simons, Bl. 4. Siehe auch Delbrück an Deutsche Tageszeitung am 28. September 1920, in: ebd., Briefkonzepte Deutsche Tageszeitung, Bl. 2. 229 Gooch an Delbrück am 9. August 1920, in: ebd., Briefe Gooch, Bl. 1–3. 230 Delbrück an Gooch am 28. September 1920, in: ebd., Briefkonzepte Goock [sic], Bl. 1. 231 Gooch an Delbrück am 1. November 1920, in: ebd., Briefe Gooch, Bl. 4. 232 Saunders an Delbrück am 27. Mai 1920, in: BArch N 1017/48. 233 Delbrück an Saunders am 30. Mai 1920, Kopie in: ebd.

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wie sich England verhalten hätte. Eine öffentliche Debatte hierüber werde in England zurzeit keinen Einfluss auf den Versailler Vertrag haben234. Delbrück antwortete, die Differenzen in der Betrachtung der Julikrise seien so bedeutsam, dass »eine Klarstellung in Rede und Gegenrede« für die Beziehungen der Völker sehr wichtig sei. Wenn Headlam-Morley hierfür nicht in Frage käme, wollte er mit einem anderen Briten disputieren. Er habe jedenfalls den Eindruck, dass Großbritannien und Frankreich alle entscheidenden Publi­kationen aus Deutschland über das Thema totschwiegen235. Saunders versprach Delbrück, Headlam seine Schreiben zuzuleiten, äußerte aber die Ansicht, »dass öffentliche Disputationen heutzutage wenig nutzen«, da das Ende nur eine »Selbstzufriedenheit bezw. Selbstverärgerung« sei und das Publikum lediglich eine »schadenfreudige Unterhaltung« bekomme. In der Sache bekräftigte er seine Auffassung, dass Deutschland aufgrund seiner unsteten und säbelrasselnden Vorkriegspolitik die »Hauptschuld« am Kriegsausbruch trage236. Delbrück setzte noch einmal nach und stimmte Saunders in vielen Vorwürfen an die deutsche Außenpolitik vor 1914 zu und betonte, dass er ähnliches auch vor und während des Krieges schon öffentlich gesagt habe. Ihm gehe es aber nun ausschließlich um die Behauptung, die die Grundlage für den Versailler Vertrag bilde, dass Deutschland den Weltkrieg vorsätzlich herbeigeführt hätte. Erst eine Klärung dieser Frage könne der Kulturwelt eine echte Aussöhnung bringen. Er bat Saunders noch einmal, zu versuchen, Headlam-Morley für eine Debatte zu gewinnen237. Es zeigte sich zum wiederholten Male, dass in der Kriegsschuldfrage auf verschiedener Grundlage diskutiert wurde. Die Welt im Allgemeinen legte die Vorwürfe, die im Rahmen des Versailler Vertrages gegenüber Deutschland erhoben worden waren, nicht so eng aus, sondern sah die Hauptverantwortung für den Kriegsausbruch ganz einfach deshalb bei den Deutschen, weil die berüchtigte wilhelminische Außenpolitik das diplomatische Klima aggressiv aufgeheizt hatte. Delbrück und die meisten Deutschen verengten sich in der Debatte gewissermaßen auf den Wortlaut der Anklage, dass das Reich den Weltkrieg langfristig geplant und vorsätzlich aus purer Eroberungslust begonnen habe. Diese in der Tat falsche Behauptung wollte und konnte Delbrück widerlegen, die Probleme des Wilhelminismus hingegen nicht in diese Diskussion mit hineinziehen. Auch wenn er diese immer schon angeprangert hatte, schieden sie für ihn aus der Frage der unmittelbaren Schuld aus. Seine Gegner wollten sich aber häufig genug gar nicht auf seine enge Auslegung der Kriegsschuldfrage einlassen, weshalb die Debatten häufig den Stil des Aneinandervorbeiredens hatten. Headlam-Morley lehnte eine öffentliche Diskussion ab, als er von ­Saunders hiervon erfuhr. Er stimmte Delbrück zwar zu in der Auffassung, dass die Kriegsschuldfrage für die künftigen internationalen Beziehungen bedeutsam sei, aber: 234 235 236 237

Saunders an Delbrück am 4. Juni 1920, in: ebd. Delbrück an Saunders am 5. Juni 1920, in: ebd. Saunders an Delbrück am 6. Juni 1920, in: ebd. Delbrück an Saunders am 9. Juni 1920, in: ebd.

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»the matter seems to me to be too complicated and too large to be adequately dealt with in that manner.« Er versprach jedoch, dass er eine schriftliche Abhandlung von Delbrück sorgfältig beachten werde238. Wenngleich er auch Arbeitsüberlastung als Grund für seine in letzter Zeit rare Schreibtätigkeit anführte, war sein Plädoyer gegen eine mündliche und für eine schriftliche Diskussion der Materie nicht unvernünftig. Bereits Saunders hatte vor einer mündlichen Debatte gewarnt. Das Thema war nicht nur viel zu komplex, um in einer Diskussionsrunde abgehandelt zu werden, sondern erzeugte auch so viele Leidenschaften, dass die Bereitschaft etwaiger Zuhörer, ernsthaft zuzuhören, als gering einzuschätzen war. Eine schriftliche Auseinandersetzung bot vielmehr die Chance, bei den Kreisen, die dazu bereit waren, sich auf die Darstellungen einzulassen, Gehör zu finden. Außerdem ließen sich schriftlich komplizierte Gedanken erheblich besser transportieren als auf einer Versammlung. Delbrück ging auf den Vorschlag Headlams ein, der ihm immerhin das erste Mal die Möglichkeit zu einer – wenn auch nur schriftlichen – internationalen Debatte über die Schuldfrage bot. Dies überschnitt sich mit seinem zeitgleich mit Gooch vereinbarten Beitrag für die »Contemporary Review«. Im Dezember 1920 hatte dieser Delbrücks übersetzten Artikel ihm zur Kürzung vorgelegt239. Diesen Aufsatz, konzipiert als Auseinandersetzung mit Headlams bisherigen Werken, nahm der Brite wiederum als Grundlage für eine Entgegnung und seine Darstellung der Vorkriegsereignisse. In der Märzausgabe 1921 erschien schließlich die gut zwanzigseitige Diskussion. Unter dem Titel »Did the Kaiser want the war?« setzte Delbrück dem englischen Publikum seine Sicht auf die Ereignisse auseinander: Wie immer bemühte er den Panslawismus, das von Russland gedeckte Großmachtstreben Serbiens und die französischen Kriegsvorbereitungen als Hinweise dafür, dass die Mittelmächte sich in Gefahr gewähnt hätten und nach der Ermordung des Erzherzogs zu einer energischen Reaktion gezwungen gewesen seien. Es sei die russische Mobilmachung gewesen, die im entscheidenden Augenblick alle internationalen Friedensbemühungen zerstört habe, da Deutschland hierdurch in die höchste Gefahr gebracht worden sei und unmittelbar habe losschlagen müssen. Den Überfall auf Belgien rechtfertigte er durch den Vergleich mit dem Bombardement Kopenhagens 1807, mit der die Engländer in höchster Not eine sonst möglicherweise dem Feind zufallende Kriegsmacht ausgeschaltet hatten. Im Fazit wandte er sich direkt an die englische Elite und schrieb: »The English Professors will investigate these statements. I am convinced they will stand the test, and I anticipate that many an English reader will say: If that is Germany’s case, some things have become clear to us which up to now we could not understand from the countrymen of Goethe and Beethoven.«240 238 Headlam-Morley an Saunders am 1. Juli 1920, in: ebd. Saunders übersandte Delbrück diesen Brief am 3. Juli, in: ebd. 239 Gooch an Delbrück am 13. Dezember 1920, in: SBB NL Delbrück, Briefe Gooch, Bl. 5. 240 Hans Delbrück: »Did the Kaiser want the war?«, in: Contemporary Review, Nr. 663 vom März 1921, S. 322–332, Zitat S. 332, in: ebd., Fasz. 86a. Delbrück nahm mit diesem Schluss-

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Headlam-Morley antwortete direkt darunter in selber Länge mit den Worten, der Aufsatz des Deutschen sei »impossible to ignore«. Headlams Verehrung für die Aufrichtigkeit und Seriosität des Kollegen war auch das Erste, was er betonte. In der Sache distanzierte er sich von den Aussagen aus der Denkschrift der alliierten Schuldkommission in Versailles, dass Deutschland den Krieg vorsätzlich geplant habe. Diese sei den Deutschen auch nie offiziell übergeben worden, sodass es nicht nachvollziehbar sei, dass sich Delbrück hierauf beziehe. Headlam beschuldigte Deutschland, aber in der abgeschwächten Form: Zur Erzielung eines politischen Vorteils habe sich das Reich in einer Weise verhalten, dass ein Krieg »extremely probable« geworden sei. Er stellte als das deutsche Streben die Erlangung der Vorherrschaft über den Balkan und die Meerengen bei Konstantinopel dar. In diesem Ziel habe Deutschland mit Russland konkurriert, worüber es dann aufgrund des deutschen Drängens zum Krieg gekommen sei. In der Julikrise sei es den Deutschen weniger um eine Strategie der Vermeidung des Krieges gegangen, als vielmehr darum, die Schuld für einen etwaigen Kriegsausbruch Russland zuzuschieben241. Im Ergebnis redete man also aneinander vorbei. Während Delbrück wie immer die Versailler Anklage zur Grundlage der Kriegsschulddiskussion gemacht hatte und diese zurückwies, hatte sein Gegner diese als inoffiziell und daher irrelevant abgetan und stieg ein in eine tiefergehende Auseinandersetzung über die Vorgeschichte des Krieges. Als positiv muss man beurteilen, dass nur zwei Jahre nach diesem fürchterlichen Krieg national gesinnte Intellektuelle beider Länder sich um eine sachliche und wissenschaftliche Diskussion untereinander bemühten. Hans Delbrück wertete Headlams Ausführungen als großen Erfolg, da dieser sich von der Versailler Anklage vollständig distanziert hatte. Ihm ging es immer nur genau hierum, da er in der alliierten Denkschrift zur Schuldfrage die Grundlage für den Friedensvertrag sah und diesen damit moralisch und rechtlich aushebeln wollte. Im »Berliner Tageblatt« versuchte er auch sofort, die Diskussion für sich auszuschlachten und bezeichnete den Briten am 9. März als »unverhoffte[n] Bundesgenosse[n]«. Er schrieb, die Versailler Anklage, die auch vom britischen Premierminister David Lloyd George als Begründung für die Reparationsforderungen herangezogen werde, habe nun ein Engländer, der das Foreign Office berate, zurückgewiesen. Headlam-Morley sei der Meinung, die Vorwürfe seien Deutschland nie offiziell zugestellt worden, worin er sich aber irre. Die Auslegung des Artikels 231 des Versailler Vertrages durch die Mantelnote vom 16. Juni 1919 und die Annexe seien eindeutig. Die englische Deutschlandpolitik sei also nun von einem namhaften britischen Regierungsberater als satz auf die britische Zwei-Deutschland-Theorie Bezug: Nach dieser besonders im Ersten Weltkrieg (und später auch im Zweiten) aufgekommenen Lesart trennte man das geistig und kulturell hoch angesehene Deutschland mit »Goethe and Beethoven« von dem als militaristisch und für die anderen europäischen Staaten gefährlich eingeschätztes politischen Deutschland. 241 James Wycliffe Headlam-Morley: »A Reply to Professor Delbrück«, in: Contemporary Review, Nr. 663 vom März 1921, S. 322–332, Zitate S. 333 f, in: ebd.

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falsch entlarvt worden und in diesem Sinne sei Headlam-Morley ein »Bundesgenosse« in der Zurückweisung der Anschuldigungen an Deutschland242. Diese Delbrück-typische Dialektik, mit der er den ihm eigentlich scharf widersprechenden Headlam-Morley den Deutschen gegenüber für sich vereinnahmte, verärgerte den Engländer sehr. Er zeigte sich enttäuscht, da seine eigentlichen Aussagen missverständlich interpretiert worden seien. Er verfasste deshalb eine neuerliche Antwort mit der Bitte, sie ebenfalls im »Berliner Tage­ blatt« veröffentlichen zu lassen. Er wies noch einmal darauf hin, dass er sich den Bericht der alliierten Kriegsschuldkommission nie zu eigen gemacht und dieser auch zu keinem Zeitpunkt offiziellen Charakter gehabt hätte, weshalb er ihn nicht verteidigen werde. Er wiederholte dann noch einmal seine wesentlichen Argumentationspunkte243. George Gooch wandte sich Ende April an Hans Delbrück und teilte ihm seinen Unmut darüber mit, dass das »Berliner Tageblatt« die Entgegnung Headlam-Morleys nicht gebracht habe. Seinen, Delbrücks, Artikel aus dem »Berliner Tageblatt« sowie die dort nicht gedruckte Erwiderung Headlam-Morleys werde er nun in seiner »Contemporary Review« zum Abdruck bringen244. Kurz darauf schrieb Delbrück an Headlam-Morley, er habe sofort beim Herausgeber des »Berliner Tageblatts«, Theodor Wolff, angerufen. Dort sei offenbar nie ein Schreiben von ihm eingetroffen, Wolff werde aber gern eine Replik veröffentlichen. Zudem gab Delbrück einen inhaltlichen Fehler in seiner Arbeit zu und versprach, diesen im »Tageblatt« zügig zu berichtigen. Ansonsten hielt er es für eine »vortreffliche Idee« des Briten, die beiden Aufsätze auch in Deutschland zu publizieren245. Der Verlag für Politik und Wirtschaft, der die deutsche Fassung publizierte, fragte im Juni noch einmal offiziell bei der »Contemporary Review« um Erlaubnis246. Gooch leitete das Schreiben an Headlam-Morley weiter, der dem Verlag antwortete, er habe Delbrück bereits zugestimmt und bitte nun, alles Weitere direkt mit ihm zu verhandeln247. Diese Vollmacht zeigt erneut, welche Stellung 242 Hans Delbrück: »Ein unverhoffter Bundesgenosse«, in: BT, 50. Jg., Nr. 113 vom 9. März 1921, in: BArch N 1017/2. 243 Headlam-Morley an Gooch am 16. März 1921, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 114. 244 Gooch an Delbrück am 24. April 1921, in: ebd. 245 Delbrück an Headlam-Morley am 28. April 1921, in: ebd. Am 2. Mai schrieb Delbrück ihm noch einmal in der Angelegenheit und teilte mit, er habe bereits einen Verleger gefunden. Er schlug nun vor, dass beide ihre Aufsätze überarbeiten sollten und er selbst ein Schlusswort verfasse (in: ebd.). Dem stimmte Headlam zu (Headlam-Morley an Delbrück am 6. Mai 1921, Kopie in: ebd.). Auch an Gooch wandte sich Delbrück und teilte mit, dass es beim Berliner Tageblatt wohl einen Fehler und keine böse Absicht gegeben habe. Zudem bat er ihn um Zustimmung zur Veröffentlichung der Kontroverse in Deutschland (Delbrück an Gooch am 3. Mai 1921, in: ebd., Briefkonzepte Goock [sic], Bl. 2–4). 246 Peter Rattow an die Redaktion der CR am 14. Juni 1921, in: ebd., Fasz. 114. 247 Headlam-Morley an Peter Rattow am 27. Juni 1921, in: ebd. Headlam-Morley wandte sich am 27. Juni 1921 auch nochmals an Delbrück und verwies auf seine bereits gegebene Zustimmung vom 6. Mai (in: ebd.). Delbrück antwortete am 30. Juni, das Schreiben vom 6. Mai habe er nie erhalten. Er habe den Verlag aber heute angewiesen, unverzüglich mit

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Delbrück in der Weltmeinung besaß, dass ein Engländer ihm trotz des Kriegs und des dadurch aufgestachelten Völkerhasses in einer hierfür so bedeutenden Angelegenheit voll vertraute. Bei der Aufbereitung der Aufsätze für die deutsche Version unterstützte Max Montgelas seinen Kollegen248, auch Gottlieb von Jagow wurde von Delbrück um Zuarbeit gebeten249. Beides sind Zeichen dafür, welch Wert der Veröffentlichung zugeschrieben wurde. Die im September 1921 erschienene Broschüre enthielt eine wortgetreue Übersetzung der Kontroverse aus der »Contemporary Review« sowie ein Schlusswort von Delbrück. Im Vorwort erläuterte er nochmals seine Motivation: Es gehe ihm nicht nur um die Revision des Versailler Vertrages, wofür dessen Grundlage, der Kriegsschuldvorwurf an Deutschland, widerlegt werden müsse, sondern hauptsächlich »um die Wiederherstellung des moralischen Ansehens des deutschen Volkes in der Welt.« Denn die Völker könnten solange nicht wieder in freundliche Beziehungen zu den Deutschen treten, solange sie von ihnen glaubten, sie hätten vorsätzlich den furchtbaren Krieg entfacht250. Das unterstreicht, dass es Delbrück nicht nur um die Zurückweisung der Versailler Anklage ging aus nationalem Stolz, sondern auch um die Suche nach einem Weg, die europäische Gemeinschaft der Kulturvölker – wie er sie verstand251 – wiederherzustellen. In dem verabredungsgemäß von ihm verfassten Schlusswort hatte Delbrück die Gelegenheit, noch einmal auf Headlam-Morley einzugehen. Dabei benutzte er eine deutlich offensivere Diktion als in seinem Ursprungsartikel. Er wies nicht nur Headlams Thesen ab, sondern versuchte nun nachzuweisen, dass Russland und Frankreich planmäßig an dem Krieg gearbeitet hätten und die Mittelmächte militärisch völlig unvorbereitet gewesen seien252. Hier war Delbrücks Argumentation plötzlich erheblich anders: In seinem ersten Aufsatz war es ihm nur darum gegangen, die Versailler Vorwürfe zu widerlegen, also den fehlenden Vorsatz bei Deutschland nachzuweisen. Er tat dies in einem um Verständnis bemühten Tonfall und enthielt sich jeder Schuldzuweisung. Er legte zwar dar, dass das Verhalten der Mittelmächte einen Krieg wahrscheinlich gemacht hatte, erklärte dies aber aus einer als Notlage empfundenen Situation der Übersetzung zu beginnen. Er fragte Headlam-Morley nochmals, ob er möglicherweise im verloren gegangenen Brief Sonderwünsche mitgeteilt hatte (in: ebd.). Auch dies ist ein Zeichen für Delbrücks Fairness. Als er nach einiger Zeit noch keine Antwort hierüber erhalten hatte, fragte Delbrück zur Sicherheit erneut bei dem Engländer nach (Delbrück an Headlam-Morley am 20. Juli 1921, in: ebd., Briefkonzepte Headlam-Morley, Bl. 1). Dieser entschuldigte sich für die späte Antwort, gab Delbrück jede Vollmacht und bat nur um die Zusendung eines Belegexemplares (Headlam-Morley an Delbrück am 15. August 1921, in: ebd., Fasz. 114). 248 Montgelas an Delbrück am 9. August 1921, in: ebd.; Montgelas an Delbrück am 16. Juni 1921, in: ebd., Fasz. 107.2. 249 Delbrück an Jagow am 17. Juni 1921, in: ebd., Fasz. 119.7a. 250 Hans Delbrück: »Vorwort des Herausgebers«, in: Delbrück, Schuld-Diskussion, S. 3 f, Zitat S. 3. 251 Siehe hierzu Kapitel III.1.a). 252 Hans Delbrück: »Antwort«, in: Delbrück, Schuld-Diskussion, S. 33–48.

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durch die serbische Bedrohung. Seine Replik auf Headlam-Morley war nun verhältnismäßig aggressiv, sowohl inhaltlich als auch im Ton. Dies ist mög­ licherweise dadurch zu erklären, dass sich sein Schlusswort an die deutsche Leserschaft wandte, während sein Ursprungstext vor allem an das englische Publikum gerichtet war, Delbrück also seine Diktion und Argumentation am Leser ausrichtete. Aber es war auch ein dreiviertel Jahr vergangen zwischen beiden Arbeiten, und der neue Ton passte in die allgemeine Entwicklung bei ihm, da er sich immer überzeugter von einer Schuld der Russen und Franzosen gab. Der ehemalige Außenminister Walter Simons bedankte sich übrigens bei Delbrück für dessen Einsatz und schätzte die Wirkung wie folgt ein: »Wenn auch leider nicht gehofft werden darf, dass die Abfuhr, die Sie dem Engländer erteilt haben, so weit bekannt wird [sic] wie sie es verdient, so hilft sie doch die Lügenmauer lockern, die der Feind um uns gezogen hat, und damit die Basis für den Versailler Frieden in’s Wanken zu bringen.«253

Auch Bernhard Wilhelm von Bülow, Teil der Delegation in Versailles und später hoher Beamter im AA, gratulierte Delbrück zu seinem Artikel: »Niemand konnte klarer, sachlicher und objektiver schreiben.«254 Die »Merkblätter zur Schuldfrage«, das seit Oktober 1921 erscheinende Organ der Zentralstelle für Erforschung der Kriegsursachen (ZEK)255, berichteten in ihrer ersten Ausgabe vom 1. Oktober von Delbrücks Kontroverse mit Headlam-Morley. Delbrücks Engagement wurde als positives Beispiel dafür gelobt, wie einzelne Persönlichkeiten aufklärend wirken könnten, solange die Regierungen und Parlamente hierfür nicht bereit standen256. Zwei Wochen später, in der dritten Ausgabe, beschäftigten sich die Merkblätter genauer mit der Schulddiskussion. Sie begrüßten es, dass erstmals zwei Forscher aus Deutschland und England eine Diskussion über die Kriegsschuldfrage geführt hatten mit dem Ziel einer Verständigung. Das entscheidende Ergebnis der Kontroverse sei, dass Delbrück gezeigt habe, wie man »die wichtigste Voraussetzung, die Klarheit der Fragestellung, erreichen kann.«257 253 Simons an Delbrück am 19. September 1921, in: SBB NL Delbrück, Briefe Simons, Bl. 6. Delbrück hatte offenbar angeregt, die Diskussion auch ins Spanische zu übersetzen, was der Arbeitsausschuss Deutscher Verbände (ADV) sehr begrüßte, aus Kostengründen aber vertagte (ADV an Delbrück am 8. Dezember 1921, zerrissen in: ebd., Fasz. 152.1). 254 Bülow an Delbrück am 5. April 1921, in: BArch N 1017/48. Widerspruch in der Sache bei Verehrung der Person Delbrücks kam vom Pazifisten Otto Lehmann-Rußbüldt (Lehmann-Rußbüldt an Delbrück am 6. März 1922, in: SBB NL Delbrück, Briefe LehmannRußbüldt, Bl. 43–45). 255 Siehe hierzu Kapitel IV.5. 256 O. V.: »Zur Einführung«, in: Merkblätter zur Schuldfrage, 1. Jg., Nr. 1 vom 1. Oktober 1921, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 110. 257 O. V.: »Die Anklage von Versailles«, in: Merkblätter zur Schuldfrage, 1. Jg., Nr. 3 vom 15. Oktober 1921, in: BArch N 1017/52, Hervorhebung ebd. In dieser Ausgabe sind auch einige kritische Randbemerkungen Delbrücks. Ein paar Monate später berichteten die Merkblätter nochmals von der Auseinandersetzung, die »beiderseits in vornehmen Tone

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Für den innenpolitischen Kampf in Deutschland also hatte Delbrück den richtigen Ton getroffen, eine mittlere Position auf sachlicher Ebene. Aber gerade in der Auseinandersetzung mit dem Ausland zeigte sich, dass er national befangen war und mit seiner Dialektik, der Trennung von Schuld und Verantwortung, nicht durchdrang. Es bleibt die Frage, ob er hieraus für die nächsten Debatten Schlussfolgerungen zog. d) François-Alphonse Aulard, Frankreich Wenige Monate später, am 7. Februar 1922, ergriff der bedeutende französische Historiker François-Alphonse Aulard das Wort in der französischen Presse und griff Hans Delbrück direkt an. Der Aufhänger war Delbrücks Weigerung gewesen, ein Manifest der Deutschen Liga für Menschenrechte (DLfM) zu unterzeichnen. Diese war Ende 1914 als Bund Neues Vaterland (BNV) gegründet worden und eine bedeutende pazifistische Vereinigung. Der Bund hatte einige hundert Mitglieder und war schwerpunktmäßig in Berlin als Elitenverein tätig258. Die wichtigste Person wurde Otto Lehmann-Russbüldt, der über die Jahre hinweg eine intensive Korrespondenz mit Hans Delbrück – auch ein Mitglied im BNV – pflegte. Als sich der BNV in der Nachkriegszeit der Französischen Liga für Menschenrechte annäherte, wurde beschlossen, den Namen zu ändern in Deutsche Liga für Menschenrechte. In diesem Zusammenhang wurde von der deutschen und der französischen Seite ein gemeinsames Manifest erarbeitet und verabschiedet, in dem unter anderem Deutschland dazu aufgefordert wurde, sich juristisch und moralisch zur Wiedergutmachung der Kriegsschäden in Frankreich zu bekennen. Weiter war die Rede von »versteckte[m] Widerstand« gegen die Entwaffnung seitens der Deutschen, aber auch von der gehalten und sehr lehrreich« sei (Hermann Lutz: »Das englische Schrifttum zur Schuldfrage seit Kriegsausbruch«, in: Merkblätter zur Schuldfrage, 1. Jg., Nr. 16 von Januar 1922, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 110). Einige Jahre später übersandte Delbrück seinem Diskussionspartner seine Rezension des neuen Buchs des vormaligen Kronprinzen. Im Begleitschreiben äußerte er die Hoffnung, dass Headlam-Morley sich noch einmal öffentlich zur Kriegsschuldfrage melden würde, da mittlerweile zahlreiche neue Dokumente erschienen seien. Um seinen Vorwürfen an die Entente mehr Authentizität zu verleihen, verwies er auf seine eigene, scharfe Kritik an Deutschland für das Jahr 1918. Diese sei wohl auch in England bekannt geworden (Delbrück an Headlam-Morley am 26. August 1925, in: ebd., Briefkonzepte Headlam-Morley, Bl. 2). Der Brite antwortete, er habe es sich zur Pflicht gemacht, alle Publikationen zur Kriegsschuldfrage zu lesen. Er messe Delbrücks Arbeiten dabei eine besondere Wichtigkeit bei. Er verwies außerdem auf den Beschluss in England, diplomatische Akten zu veröffentlichen, was einer langjährigen Forderung Delbrücks entspreche. Er halte es auch für wichtig, dass der englische Standpunkt in der Schuldfrage im Licht des neuen Materials diskutiert werde, könne aber nicht zusagen, dass er selbst hierzu in der Lage sei (Headlam-Morley an Delbrück am 3. Oktober 1925, in: ebd., Briefe­ Headlam-Morley, Bl. 2). 258 Vgl. Takemoto, Außenpolitik, S. 51–53.

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Forderung, dass alle beteiligten Staaten ihre Archive öffnen sollten zur Erforschung der Kriegsursachen259. Delbrück unterschrieb das Papier nicht, da es zu pazifistisch für seine Gesinnung und zu losgelöst vom deutschen, nationalen Standpunkt war. Sein Ablehnungsschreiben an Lehmann-Russbüldt wurde gemäß seinem Wunsch weiter verbreitet260 und erreichte auch Alphonse Aulard, den französischen Präsidenten der dortigen Liga für Menschenrechte. Aulard war entrüstet über Delbrücks Weigerung und verglich ihn im »Berliner Tageblatt« mit dem Geist der Alldeutschen im Weltkrieg. Die deutschen Professoren seien »die wahren Vergifter der Volksseele«261. Wenige Tage später antwortete Delbrück in derselben Zeitung mit einem offenen Brief und erklärte seine Stellung zu dem umstrittenen Manifest: Moralisch habe sich Deutschland nur die Kriegsverlängerung zuzuschreiben, diese Last werde aber aufgewogen durch den Kriegsbeginn, den seiner Meinung nach Frankreich zu verschulden habe. Außerdem werde übergangen, dass mittlerweile nicht nur die Kosten für den Wiederaufbau Nordfrankreichs verlangt würden, sondern entgegen der Zusicherung im Waffenstillstand auch die für alle militärischen Pensionen. Dies verdreifache die Reparationslast und führe zur aktuellen wirtschaftlichen Not im Reich. Zum deutschen Widerstand gegen die Entwaffnung schrieb Delbrück, wer wegen lächerlicher deutscher Verstöße die französische Abrüstung aufhalten wolle, betreibe das Gegenteil von Abrüstung. Dann kam er auf den Punkt der Archivöffnung zu sprechen und bemängelte den fehlenden Hinweis im Manifest, dass Deutschland und Österreich dies bereits getan hätten. Er schlug­ Aulard vor, in eine öffentliche Diskussion einzutreten über die Kriegsschuldfrage. Als Ort käme das deutsche, aber französisch besetzte Köln in Frage, ein neutraler Gelehrter solle den Vorsitz haben und jeder in seiner Sprache reden262. Es entspann sich 1922 erstmals nach dem Krieg eine Debatte zwischen einem Deutschen und einem Franzosen über die Frage des Kriegsausbruchs. Aulard wiegelte Delbrücks Herausforderung allerdings deutlich ab und meinte, »die wahre öffentliche Auseinandersetzung erfolgt durch Vermittlung der Zeitungen. Hier soll Herr Delbrück seine These vortragen, und ich werde dann sehen, ob es nötig ist, auf sie zu antworten.« In der Sache richtete Aulard zwei Fragen an Delbrück: erstens, wieso in der deutschen Kriegserklärung nur ein angeblicher Bombenabwurf auf Nürnberg genannt worden sei. Da dieser nie stattgefunden hätte und es sich deshalb eindeutig um eine Lüge handele, hätte Deutschland den wahren Grund angegeben, wenn Frankreich wirklich schuldig gewesen 259 Das Manifest vom 22. Januar 1922 mit der Bitte um Unterschrift ist in: SBB NL Delbrück, Fasz. 117.2. 260 Delbrück an Lehmann-Russbüldt am 26. Januar 1922, in: ebd., Briefkonzepte LehmannRussbüldt, Bl. 4. 261 »Professor Aulaire [sic] gegen Professor Delbrück. Der Streit um die ›moralische Schuld‹ Deutschlands«, in: BT vom 8. Februar 1922, in: ebd., Fasz. 117.1. 262 Hans Delbrück: »Offener Brief an Herrn Professor A. Aulard, Paris«, in: BT, 51. Jg., Nr. 81 vom 17. Februar 1922, in: BArch N 1017/2.

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wäre. Und zweitens wies er darauf hin, dass Deutschland wichtige französische Festungen verlangt hatte, wenn Frankreich sich hätte neutral erklären wollen. Damit sei es in jedem Fall in den Krieg gezwungen worden263. Aulard legte Ende Februar noch einmal nach und schrieb nach dem Bericht des »Berliner Tageblatts« erneut, Delbrück »ziehe der Polemik in den Zeitungen die mittelalterlichen Methoden eines Kolloquiums vor«. Aulard konzentrierte sich auf die deutsche Kriegserklärung und warf Delbrück vor, mit der Vertei­ digung der offiziellen deutschen Sicht eine Lüge zu stützen. Das gipfelte in dem Ausspruch: »Ich bin gerechter gegen ihr Volk als Sie, der Universitätsprofessor und Verteidiger der Lüge.«264 Die Zeitung »L’Œuvre« druckte daraufhin Aussagen Delbrücks, die er dem Berliner Korrespondenten des Blatts gegenüber gemacht hatte, und Aulards Antworten hierauf ohne Kommentierung ab. Erneut war es das »Berliner Tageblatt«, das hierüber in Deutschland berichtete: Delbrück hatte sich zunächst scharf von den Alldeutschen abgegrenzt und eine Lanze für den Kaiser gebrochen, der im Kern friedfertig gesinnt gewesen sei. Er sagte, die Art der Kriegserklärung sei ungeschickt und ein Fehler gewesen, die moralische Verantwortung für den Kriegsausbruch liege dennoch bei der Entente. Zu Aulards ablehnender Haltung gegenüber einer öffentlichen Diskussion stellte Delbrück fest: »Deutschland muß ein großes Gewicht auf die Klärung dieser Frage legen. Da die Entente uns die ganze Schuld aufgebürdet hat, müssen wir uns bemühen, diese Last zu erleichtern. Man kann dabei nur gewinnen; zu verlieren haben wir nichts mehr.« Aulard kommentierte Delbrücks Auslassungen mit den Worten: »Deutschland verkleidet sich als Pazifist, um seinen Kaiser und die kaiserliche Regierung zu verteidigen.« Damit zeigte er, wie wenig er die Person Delbrück und ihre Rolle in Deutschland verstanden hatte. A ­ ulard 263 »Aulards Antwort an Delbrück«, in: BT, 51. Jg., Nr. 86 vom 20. Februar 1922, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 117.1, Hervorhebungen ebd. Einen Tag später, am 21. Februar, berichtete das BT über eine Mitteilung des französischen Generals und Pazifisten Martial Justin Verraux in der französischen Zeitung L’Œuvre, ein Organ sozialistischer und pazifistischer Kreise. Verraux erzählte von einem Gespräch mit Delbrück in Berlin, in dem der Historiker zwar gesagt habe, die meisten der deutschen Professoren seien chauvinistisch eingestellt, die Schuld hieran trage aber Frankreich mit seiner antideutschen Politik. Dann wurde Verraux zitiert mit dem Ausspruch, dass ihn Delbrücks Aufforderung an Aulard nicht wundere, es aber doch besser sei, wenn man »die Entscheidung über die Vergangenheit der Geschichte« überlasse und nach Wegen suche, »die Rückkehr dieser Vergangenheit zu verhindern« (»General Verraux über Delbrück«, in: BT vom 21. Februar 1922, in: ebd., Fasz. 117.2.). Auf deutscher Seite hatte Lehmann-Rußbüldt in die Debatte eingegriffen. Am 27. Februar schrieb er seinem Liga-Kollegen Aulard, in der Sache sei er zwar mit ihm einig. Er solle aber Delbrück als Persönlichkeit ernst nehmen und nicht vermengen mit den Alldeutschen. Er führte dann Nachweise für Delbrücks Kampf gegen die Rechten schon seit dem Kaiserreich an und betonte, er sei »ein im besten Sinne deutscher Mann«. »Wie tapfer und ehrlich er dasteht,« werde Aulard auch an Delbrücks neuester Schrift­ »Ludendorffs Selbstporträt« (siehe hierzu Kapitel V.1) erkennen (Lehmann-Rußbüldt an Aulard am 27. Februar 1922, Abschrift an Delbrück in: ebd., Fasz. 117.2). 264 »Aulards Antwort auf den offenen Brief Delbrücks«, in: BT, Nr. 99 vom 28. Februar 1922, in: ebd., Fasz. 117.1.

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fragte Delbrück dann, wieso das Reich 1899 auf der Haager Friedenskonferenz die Einrichtung eines Schiedsgerichtshofes abgelehnt habe und wieso Wilhelm II. in der Julikrise nicht den russischen Vorschlag angenommen hatte, den Konflikt dem Schiedsgericht zu unterbreiten265. Am 5. März meldete sich Aulard in der »Ere Nouvelle« erneut zu Wort, nachdem ihm ein Landsmann ein Ausweichen vor Delbrück vorgeworfen hatte. In der Sache brachte er nichts wesentlich Neues. Die Schuld Deutschlands sah er im Verhalten in der Julikrise, aber noch mehr in dem Widerstand gegen alle Bemühungen zu internationalen Friedenssicherungen in den Jahren vor dem Krieg. Allerdings äußerte er auch die Forderung, dass alle Länder ihre diploma­ tischen Akten veröffentlichen müssten266. Am 7. März schrieb Max Montgelas im »Berliner Tageblatt« zu Aulards Vorwurf, die deutsche Kriegserklärung habe sich nur auf einen angeblichen Bombenabwurf bei Nürnberg bezogen. Er wies darauf hin, dass bereits die Viererkommission in Versailles festgestellt habe, dass dieser nicht stattgefunden habe, es aber zahlreiche andere Grenzverletzungen durch Frankreich in jenen Tagen gegeben habe. Die Gründe für die Falschmeldung ließen sich nicht mehr klären, aber problematisch sei auch die Störung des Telegraphenverkehrs zwischen Berlin und der deutschen Botschaft in Paris gewesen, durch die die Kriegserklärung verstümmelt angekommen sei. Die Verantwortung hierfür trage Frankreich267. Damit hatte ein anerkannter Experte auf dem Gebiet der Kriegsursachenforschung zu diesem Punkt in der Ausein­ andersetzung Delbrück-Aulard Stellung genommen, sodass dieses Thema für Delbrück erledigt war. Inwiefern Montgelas seinen Artikel in vorheriger Absprache mit seinem Freund Delbrück konzipiert hatte, ist nicht erkennbar. In jedem Fall aber wollte er seinen Mitstreiter unterstützen. Am 10. März publizierte Delbrück seinen zweiten offenen Brief an Aulard268. Er beklagte dessen Ablehnung einer öffentlichen Diskussion und sah in der Art 265 »Die Auseinandersetzung Delbrück-Aulard. Neue Erklärungen«, in: BT vom 2. März 1922, in: ebd. Auch die Kölnische Volkszeitung berichtete tags drauf von den neuesten Stellungnahmen. Zusätzlich vermerkte sie noch, dass Delbrück auf seine Diskussion mit Headlam-Morley hingewiesen hatte, die er als sehr fruchtbar bezeichnete (»Zum Duell Aulard-­ Delbrück«, in: Kölnische Volkszeitung, 63. Jg., Nr. 174 vom 3. März 1922, in: ebd.). 266 »Neue Aeußerungen Aulards zur Kriegsschulddebatte«, in: BT, Nr. 111 vom 7. März 1922, in: ebd. 267 Max Montgelas: »Der angebliche Bombenabwurf bei Nürnberg. Die deutsche Kriegserklärung an Frankreich«, in: BT, 51. Jg., 7. März 1922, in: ebd., Fasz. 111.5. 268 Am 9. März hatte die Kölnische Volkszeitung noch von einem Gespräch ihres Pariser Korrespondenten mit Aulard berichtet. Aulard verwahrte sich gegen den Vorwurf des Drückens vor einer öffentlichen Debatte und sagte dazu, er halte eine solche Form der Kontroverse für mittelalterlich: »Ich kann mir einfach nicht denken, daß ein münd­ licher Meinungsaustausch auf der angeregten Grundlage zur Entdeckung der historischen Wahrheit führen wird.« Dafür gebe es bei dem Thema zu viele technische und methodische Probleme. Er sei aber gerne bereit, die Diskussion in der Presse fortzusetzen ­(Ferdinand Laven: »Bei Professor Aulard«, in: Kölnische Volkszeitung, 63. Jg., Nr. 190 vom 9. März 1922, in: ebd., Fasz. 117.1).

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seiner Antwort als wahren Grund ein Ausweichen. Denn Aulard habe in seinen Äußerungen Delbrücks Fragen nicht beantwortet und sie den französischen Lesern noch nicht einmal mitgeteilt. Mit »diesem Kunstgriff« würde er bei einer öffentlichen Diskussion nicht bestehen. Delbrück schloss dann zahlreiche Fragen an, unter anderem, wieso das französische Volk über den Tag der russischen Mobilmachung »belogen« worden sei, und Aulards Einschätzung des Zeugnisses von Poincarés Privatsekretär, Poincaré habe auf einen Krieg hingearbeitet. Er fragte auch, ob die Einführung der dreijährigen Dienstzeit 1913 nicht ein klares Zeichen von Kriegsvorbereitung gewesen sei, ob Poincaré von den russischen Plänen zur Eroberung von Konstantinopel gewusst habe und wieso der prominente französische Kriegsgegner Jean Jaurès am 31. Juli 1914 ermordet, der Prozess erst nach dem Krieg geführt und der Mörder freigesprochen wurde. Zur Frage des angeblichen Bombenabwurfs auf Nürnberg verwies Delbrück auf den Artikel von Max Montgelas. Er schloss seinen Brief mit dem Appell: »Befolgen Sie das Beispiel unseres englischen Kollegen Professor H ­ eadlam-Morley! Eine solche internationale Diskussion muß, wie ich denke, für die Wiederannähe­ rung der Kulturvölker, der wir beide zu dienen wünschen, Nutzen bringen.«269 Delbrück vertrat bei einigen Fragen einen zu einseitigen Standpunkt und versuchte, mit eher vagen Hinweisen als klaren Beweisen bei Frankreich den Vorsatz zum Krieg nachzuweisen. Insofern unterschied sich diese Debatte von der vorausgegangenen mit Headlam-Morley: Da war es ihm nur darum gegangen, diesen Vorwurf von Deutschland zu nehmen und zu beweisen, dass von einer planmäßigen Herbeiführung eines Eroberungskrieges nicht die Rede sein könne. Nur ein Jahr später drehte er bereits den Vorwurf um und wollte Frankreich belasten. Dies war überzogen. Dennoch zeigt die Art seiner Herangehensweise seine lautere Absicht: Er suchte nach der Wahrheit zum Kriegsausbruch, um auf dieser Grundlage wieder zu einer Aussöhnung in Europa zu gelangen. »Für die Wiederannäherung der Kulturvölker« zu wirken, war sein Bekenntnis und alles andere als eine hohle Phrase, sondern ein Kernpunkt seiner historisch-kulturellen Bildung und Überzeugung270. Am 26. März 1922 veröffentlichte Aulard in der »Temps« eine Antwort an Delbrück. Hier behandelte er zunächst die deutsche Kriegserklärung an Frankreich, die seiner Meinung nach vom deutschen Botschafter in fahrlässiger Weise unvollständig überbracht worden sei. Er wies zudem die deutsche Sichtweise zurück, wonach aufgrund einer Störung der Telegraphenleitung durch die Franzosen das Telegramm vom Berliner Auswärtigen Amt mit der Kriegserklärung in der Pariser Botschaft verstümmelt angekommen sei271. Delbrück verfasste 269 Hans Delbrück: »Zweiter offener Brief an Herrn Professor A. Aulard, Paris« vom 8. März, in: BT, 51. Jg., Nr. 117 vom 10. März 1922, in: ebd. 270 Siehe hierzu besonders Kapitel III.1.a). 271 François-Alphonse Aulard: »Les Responsables de la Guerre«, in: Le Temps vom 26. März 1922. Nach einem Bericht des Berliner Tageblatts hatte sich Aulard – nicht in Zusammenhang mit Delbrück – am 16. März durchaus kritisch zur französischen Vorkriegspolitik geäußert: Demnach nahm er zwar die Mittelmächte nach wie vor nicht aus der Verant-

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einen dritten offenen Brief, der am 12. April im »Berliner Tageblatt« abgedruckt wurde. Hierin beklagte er sich, von seinen 17 Fragen des letzten Briefes habe Aulard lediglich eine und nur teilweise beantwortet. Aulards Behauptung, das deutsche Telegramm mit der Kriegserklärung sei in der Pariser Botschaft gar nicht verstümmelt angekommen, begegnete er mit der Aufforderung, einen französischen Vertrauensmann zu benennen, mit dem zusammen er in das Auswärtige Amt gehen werde zur Nachprüfung des Vorgangs272. Albert Einstein berichtete Delbrück am 28. April über ein Gespräch mit­ Aulard, das er mit ihm auf einer Parisreise geführt hatte. Aulard sei jemand, »dem es ehrlich um die Wahrheit und um die Besserung der französisch-deutschen Beziehungen zu tun ist.« Über Delbrück habe er das Vorurteil gehabt, dieser sei »nicht als Individuum [sic] sondern als Sprecher einer politischen Clique« aufgetreten. Er habe sich aber bereitwillig von ihm, Einstein, vom Gegenteil überzeugen lassen. »In dieser Sache wie überall lässt sich das angehäufte Misstrauen nur durch persönlichen Verkehr überwinden.« Er sei im Übrigen der Ansicht, dass die Debatte bereits positiv gewirkt habe und eine weitere Fortführung im privaten Rahmen dies noch mehr tun würde273. Einstein traf damit einen entscheidenden Punkt, wann immer es um die Aussöhnung zwischen Völkern geht: Das wichtigste ist der Austausch der Menschen untereinander, um den anderen überhaupt erst einmal zu verstehen. Hans Delbrück antwortete erst einige Wochen später, am 7. Juni 1922, und zeigte sich kritisch gegenüber Einsteins Eindruck: »Wenn er wirklich ehrlich die Wahrheit sucht, was ja wohl zutreffen mag, so hat er jedenfalls nicht die Charakterkraft seine Gedanken zu Ende zu denken, und das genügende Verantwortungsgefühl, das was er drucken lässt, sorgsam durchzuarbeiten.« Delbrück klagte, Aulard ignoriere schlicht seine Fragen274. Zuvor hatte Delbrück sich in einem vierten offenen Brief an Aulard Ende Mai beschwert, dass dieser seine Artikel stets in unterschiedlichen Zeitungen veröffentliche und sie ihm, Delbrück, nicht zusende, sodass es sehr schwierig sei, von den Antworten zu erfahren. Zur Verstümmelung des Kriegserklärungswortung, erklärte aber, dass die neuen Dokumente des russischen Botschafters Iswolski in P ­ aris eine Mitverantwortung Frankreichs an der europäischen Katastrophe belegten (»Aulard über die Iswolski-Dokumente«, in: BT, 51. Jg., Nr. 130 vom 17. März 1922). 272 Hans Delbrück: »Dritter offener Brief an Professor Aulard«, in: BT vom 12. April 1922, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 117.1. Selbst Karl Kautsky, Sozialdemokrat und von der Reichsregierung bestellter Herausgeber der Vorkriegsakten, hielt den Vorgang um das Kriegserklärungstelegramm übrigens für rätselhaft und hielt dem Botschafter Wilhelm von Schoen zugute, sich um den richtigen Text bemüht zu haben (Kautsky an Lehmann-Russbüldt am 15. April 1922, Abschrift an Delbrück in: ebd.). Der Gegner Delbrücks in der Kriegsschuldfrage stand hier also eher auf seiner Seite. Schoen selbst bekräftigte in einer elfseitigen Niederschrift, die er auf Veranlassung der Kontroverse Delbrück-Aulard getätigt hatte, er halte an seiner Darstellung der Vorgänge fest, wie er sie in seinem Buch »Erlebtes« auseinandergesetzt habe, und wies Aulards Vorwürfe zurück (Denkschrift von Schoens o. D. [1922], in: ebd.). 273 Einstein an Delbrück am 28. April 1922, in: ebd., Briefe Einstein, Bl. 3. 274 Delbrück an Einstein am 7. Juni 1922, in: ebd., Briefkonzepte Einstein, Bl. 1.

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telegramms stellte Delbrück fest, dass Aulard nun offenbar zustimme, da er auf seine Aufforderung, einen Vertrauensmann zu benennen für die Nachprüfung im AA, nicht reagiert habe. Aulards Artikel von Mitte April in der »Dépêche de Toulouse«275 bezeichnete Delbrück als erstes Entgegenkommen. Aulard hatte offenbar geschrieben, der Krieg wäre möglicherweise verhindert worden, wenn Poincaré die deutschlandfreundliche Politik von Joseph Caillaux (Premier­ minister der Jahre 1911–1912) fortgesetzt hätte. Aulards Vorwurf, die deutschen Heeresgesetze seien auf Eroberungen ausgelegt gewesen, begegnete Delbrück mit dem Hinweis darauf, dass das Reich nur zwei Drittel aller Wehrfähigen ausgebildet hatte und Frankreich alle. Deutschland hätte ökonomisch leicht eine erheblich größere Armee unterhalten können, anders auch als Russland, dass schon am finanziellen Limit war. »Ist es denkbar, daß ein Volk auf Eroberungen ausgeht, das mit seiner militärischen Entwicklung im Verhältnis zu seinen Nachbarn so weit zurückbleibt?« Der Anschuldigung, Deutschland habe den russischen Vorschlag in der Julikrise, das Haager Schiedsgericht anzurufen, ignoriert, hielt Delbrück entgegen, dass das Zarenreich am selben Tag mobilgemacht hatte, was zwingenderweise eine Kettenreaktion auslösen musste. Der Vorschlag habe also nur eine »Torheit oder eine Maske« gewesen sein können. Diese russische Mobilmachung, ohne Grund und unerwartet erfolgt, habe den Krieg ausgelöst. Die Welt sei über diese Zusammenhänge jahrelang getäuscht worden durch falsche französische Berichte276. In der Mai / Juni-Ausgabe der »Revue de Paris« antwortete Aulard und bekannte, er halte Delbrück für einen aufrechten Charakter, halte ihn aber für befangen wegen seiner Karriere im alten Regime. Die von ihm vorgeschlagene öffentliche Debatte habe er als mittelalterlich abgelehnt und stattdessen eine schriftliche angeboten. Im Folgenden setzte Aulard sich dann mit der deutschen Kriegserklärung auseinander. Er schrieb, der angebliche französische Bombenabwurf auf Nürnberg sei selbst vom Nürnberger Bürgermeister als Erfindung bezeichnet worden und es gebe keine Beweise für Delbrücks Behauptung, dass Frankreich die Zerstümmelung des Kriegserklärungs-Telegramms vom Auswärtigen Amt an die Pariser Botschaft zu verschulden habe. Statt­dessen bezichtigte er den deutschen Botschafter Wilhelm von Schoen des unwahrhaftigen Verhaltens. Letzten Endes vermindere die Erzählung vom zerstörten Telegramm nicht die Schuld der deutschen Regierung, sondern verschlimmere sie277. 275 Dieser ist nicht auffindbar. 276 Hans Delbrück: »Vierter offener Brief an Professor Aulard«, in: BT, 51. Jg., Nr. 243 vom 25. Mai 1922, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 117.1. Kurz zuvor hatte Schoen an Delbrück geschrieben, dass Verstümmelungen im Telegrafenverkehr zwischen der Pariser Botschaft und der Berliner Zentrale im Juli 1914 häufiger vorgekommen seien. Er benannte Mitarbeiter, die dies bezeugen könnten und verwies auf die Akten, die das nachweisen müssten (Schoen an Delbrück am 15. Mai 1922, in: ebd., Briefe Schoen, Bl. 1 f). 277 François-Alphonse Aulard: »Ma Controverse avec Le Professeur Delbrück«, in: Revue de Paris, Mai / Juni 1922, S. 28–43.

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Delbrück reagierte hierauf mit der Feststellung, Aulard gehe immer noch nicht auf seine Fragen ein. Außerdem beharre er auf der Behauptung der Fälschung des Kriegserklärungstelegramms durch den deutschen Botschafter W ­ ilhelm von Schoen. Diese Debatte überlasse er nun Schoen278. Delbrück legte noch einmal seine Auffassung zur Kriegsauslösung dar: Der Grund, warum Deutschland statt des angeblichen wahren Kriegsgrunds, des Vernichtungswillens Frankreichs und Russlands, falsche Meldungen über französische Grenzverletzungen angegeben hatte, sei die strategische Lage des Reichs gewesen: Deutschland habe sich in einem Zweifrontenkrieg nur durch Schnelligkeit retten können und daher sofort und ohne Verzug losschlagen müssen. »Das hatte die verhängnisvolle Folge, daß Deutschland, während es tatsächlich überfallen wurde, die Rolle des Angreifers übernehmen mußte.« Man sei sich der nega­tiven Wirkung auf die Weltmeinung bewusst gewesen und habe daher einzelne vorgebliche Grenzverletzungen angeführt. Diese Zusammenhänge seien zwar für die Wahrnehmung der Verantwortlichkeiten verhängnisvoll gewesen, in der S­ ache aber nur Detailfragen. Entscheidend sei, dass Russland mobilgemacht habe in dem Moment, in dem England und Deutschland einen Kompromiss zu erzielen versuchten. Indem Aulard hiervon ständig abweiche, »erregen Sie den Verdacht, daß Ihre Versicherung, Sie suchten nichts als die Wahrheit, ohne durch Ihren französischen Patriotismus darin beschränkt zu sein, wenn auch gewiß ehrlich, doch nicht mit dem Mut und der Willensstärke gepaart ist, die für die Durchführung einer solchen Aufgabe unerläßlich sind.«279

Hans Delbrück hatte hier seine zu diesem Zeitpunkt gefestigte Ansicht zur Kriegsschuldfrage niedergelegt. Die nationale Einseitigkeit, die er seinem französischen Kollegen vorwarf, hatte allerdings auch ihn selbst eingeholt. Sein Hinweis auf den Zwang des militärischen Plans, im Kriegsfall nur durch einen sofortigen Einmarsch über Belgien nach Nordfrankreich bestehen zu können, ist zwar nicht unerheblich für das Verständnis der Eskalation in der Julikrise. Aber das gesamte Verhalten der Reichsleitung in diesen entscheidenden Wochen hatte – ohne unmittelbare Kriegsabsicht – eher den Charakter eines Vabanquespiels gehabt und nicht den eines ehrlichen und auf Frieden bedachten Vermittlers. Der Gefahr, den tatsächlich falschen Kriegsschuldvorwurf der Entente an Deutschland abzuweisen und sich dabei zu verstricken in einem ebenfalls falschen und einseitigen Vorwurf an die Siegermächte, war auch der große Militärhistoriker erlegen. Er hatte zwar wirklich rückhaltlos die Fehler der deutschen Führung im Krieg herausgearbeitet, glaubte aber damit, über den Vorwurf einer 278 Wilhelm von Schoen verfasste erneut eine mehrseitige Rechtfertigung unter dem Titel »Professor Aulards ›Controverse avec le professeur Delbrück‹«, die er auch Delbrück überließ (in: SBB NL Delbrück, Fasz. 117.2). Er schrieb, man müsse Aulards Thesen schnellstens widerlegen in Abstimmung mit dem AA und ggf. auch dem Reichstags-Untersuchungsausschuss (Schoen an Delbrück am 22. Juni 1922, in: ebd., Briefe Schoen, Bl. 5 f). 279 Hans Delbrück: »Der vierte offene Brief an Professor Aulard. Ein Nachtrag«, in: BT vom 28. Mai 1922, in: ebd., Fasz. 117.1.

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einseitig nationalen Sicht auch zur Frage der deutschen Politik vor dem Krieg erhaben zu sein. Das war er nicht. In der Suche nach einem Schuldigen für den Kriegsausbruch, den es nicht gab, verrannte er sich genauso wie fast alle damaligen Forscher in allen Ländern. Insofern ist Delbrücks scharfe Charakterkritik an Alphonse Aulard, einen Historiker von Weltruf, der als Funktionär der Liga für Menschenrechte nicht in dem Verdacht stand, Nationalist zu sein, falsch, wenngleich Aulard in seinen inhaltlichen Ausführungen nicht weniger fehl ging als sein deutscher Kollege. Damit war die Debatte Delbrück-Aulard beendet. Für die deutsche Unschuldspropaganda war sie durchaus wertvoll, was die Anfrage der ZEK vom Juli 1922 belegt, ob Delbrück die Disputation als Sonderdruck publizieren lassen wolle280. Der Vorschlag wurde zwar nicht realisiert, aber die »Königsberger Hartungsche Zeitung« würdigte sieben Jahre später in ihrem Nachruf auf den nun verstorbenen Historiker, seine Diskussion mit Aulard habe der Völkerverständigung geholfen281. Das hatte sie insoweit, als es ein Fortschritt war, dass ein Franzose und ein Deutscher 1922 überhaupt in halbwegs sachlichem Ton über den Weltkrieg debattierten. e) Victor Basch, Frankreich Schon während der Auseinandersetzung mit Aulard entwickelte sich eine weitere mit Victor Basch. Der Germanist mit einem Lehrstuhl an der Sorbonne war Pazifist und stand sozialistischem Gedankengut nahe. 1944 wurde er von der Gestapo ermordet. Zunächst hatte es so ausgesehen, als würde Aulard im April 1922 mit einer Gruppe Pazifisten zu Gesprächen nach Deutschland reisen. Der BNV wollte deshalb versuchen, in dem Rahmen ein Treffen mit ­Delbrück zu organisieren. Als sich dessen Reisepläne aber nicht konkretisierten und stattdessen der sehr gut Deutsch sprechende Victor Basch reisen wollte, informierte Lehmann-Russbüldt Delbrück hierüber282. Delbrück erklärte sich zu einer Diskussion mit einem von beiden auf einer privaten Veranstaltung des BNV bereit283. Er arbeitete zügig eine Disposition aus, wie eine solche Debatte inhaltlich und geschäftsordnungsmäßig ablaufen könnte: Der Entwurf sah eine Debatte in einem privaten Raum vor, zu der jeder Freunde einladen dürfe. Den Vorsitz sollte Harry Graf Kessler übernehmen mit je einem Beisitzer beider Seiten; die Debatte sollte stenographisch festgehalten und anschließend veröffentlicht werden. In § 4 hatte Delbrück vorgesehen, nur den beiden Diskutanden Rede280 Alfred von Wegerer an Hans Delbrück am 17. Juli 1922, in: ebd., Briefe Wegerer, Bl. 4. 281 Erich Hellmut Wittenberg: »Delbrücks Vermächtnis«, in: Königsberger Hartungsche Zeitung vom 20. Juli 1929, in: ebd., Fasz. 12.4. 282 Otto Lehmann-Russbüldt an Delbrück am 10. März 1922, in: ebd., Briefe Lehmann-Russbüldt, Bl. 46. 283 Delbrück an den Bund Neues Vaterland am 15. März 1922, in: ebd., Fasz. 117.1.

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recht zu geben, allerdings dürften sie für die Beantwortung von Spezialfragen auf Mitarbeiter verweisen. Die Debatte sollte dann enden, wenn beide dies erklärten; eine Abstimmung oder ein Urteil über den Ausgang sollte es nicht geben. Inhaltlich entwickelte Delbrück sechs Thesen als Diskussionsgrundlage. Diese waren: – Die Behauptung im Zusammenhang mit dem Versailler Vertrag, Deutschland habe vorsätzlich den Krieg entfacht, sei falsch; – Deutschland habe durch die Unterstützung Österreich-Ungarns gegen Serbien die Krise lokalisieren wollen, es dabei aber nicht ausschließen können, dass sich hieraus ein Weltkrieg entwickeln würde; – Der allgemeine Krieg sei ausgelöst worden durch die Mobilmachung Russlands; – Die französische und russische Regierung hätten gewusst, dass die russische Mobilmachung unweigerlich Krieg bedeute; – Frankreich habe nicht alles getan, um Russland zurückzuhalten; – Schließlich sei Deutschland weniger gerüstet gewesen als ökonomisch möglich284. Joachim Kühn, Mitarbeiter in der Presseabteilung des AA und Frankreichspezialist, stellte diese in Delbrücks Auftrag auf dem Mittwoch-Abend am 22. März vor, auf dem Delbrück selbst nicht teilnehmen konnte. Viele hatten sich kritisch zu dem § 4 geäußert, anderen als den beiden Diskutanden das Wort zu erteilen. Montgelas meinte: »Welches Schauspiel würde das geben, wenn Gerlach, Lehmann Russbüldt usw. für Aulard eintreten?«285 Kühn selbst gab zu bedenken, dass es Aulard oder Basch gar nicht möglich sei, Spezialisten für Einzelfragen mitzunehmen. In dem Sinne hatte sich auch der ehemalige Außenminister Friedrich Rosen geäußert. Diskutiert worden war auch die Frage, ob Beifalls- bzw. Missfallensbekundungen erlaubt sein sollten, wer das Gespräch eröffnen und wer es schließen solle. Kühn resümierte gegenüber Delbrück, er sehe der für den 9. April geplanten Aktion »immer mehr mit Skepsis entgegen.« Außerdem hielt er Basch für unseriös286. In der Folge strich Delbrück den umstrittenen Satz in § 4 der Geschäftsordnung und ergänzte ein Verbot von Beifall und Missfallensäußerungen287. Auch Gustav Roloff zeigte sich skeptisch, ob die Veranstaltung zustande kommen würde, da er Aulard für borniert hielt. Resigniert schrieb er aber dazu: »Wir brauchen uns ja darüber nicht zu wundern, wenn wir unsere eigenen Landsleute u. Zunftgenossen betrachten.«288 Damit traf er einen wichtigen Punkt: Wenn sich schon ein Mann wie Delbrück schwer tat, in der Kriegsschuldfrage sachlich-nüchtern zu bleiben, war dies anderen erst recht kaum möglich. Und 284 285 286 287 288

Der Geschäftsordnungs-Entwurf sowie sechs Thesen als Diskussionsgrundlage in: ebd. Montgelas an Delbrück am 23. März 1922, in: ebd., Briefe Montgelas I, Bl. 23. Joachim Kühn an Hans Delbrück am 24. März 1922, in: ebd., Briefe Kühn, Bl. 15–17. Siehe die Überarbeitungen im Entwurf der Geschäftsordnung in: ebd., Fasz. 117.1. Roloff an Delbrück am 14. April 1922, in: ebd., Briefe Roloff II, Bl. 22–24.

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warum sollte die Situation in Frankreich eine andere sein als in Deutschland? Es waren fast unüberbrückbare Schwierigkeiten, die sich für eine solche Debatte, selbst unter den angesehensten Intellektuellen, auftaten. Und doch führte kein Weg an einem solchen Austausch vorbei, wie Albert Einstein bemerkt hatte. Ende März kam die Meldung, dass die Franzosen ihren Besuch verschieben würden, eine Diskussion mit Basch im Mai allerdings feststehe289. Zwischenzeitlich hatte sich Delbrück offenbar bereits selbst an Basch gewandt; dieser schrieb jedenfalls am 30. März, er freue sich über Delbrücks Schreiben und werde ein Treffen gern einplanen290. Ende Mai kam dann allerdings eine endgültige Absage durch die Franzosen, eine öffentliche Debatte in der geplanten Form zu führen. Die Französische Liga für Menschenrechte hatte sich überlegt, eine persönliche Aussprache zwischen Basch und Delbrück sei sinnvoller. Delbrück hatte sich hierfür sofort bereit erklärt, sodass er dann am 12. Juni am Rande eines offiziellen Besuchs französischer Pazifisten in Deutschland Victor Basch empfing291. Das Gespräch zwischen den beiden verlief dann sehr positiv. Delbrück schrieb Montgelas, in der dreistündigen Unterhaltung habe Basch »einen sehr guten Eindruck« gemacht292. Und Basch gegenüber drückte Delbrück seine »hohe Befriedigung über die Art und Weise [sic] wie es uns gelungen ist bei alle [sic] Verschiedenheit der Auffassung das Gespräch durchzuführen« aus. Zudem hatte er Aufzeichnungen angefertigt, die er Basch bat, durchzusehen. Eine Veröffentlichung sei nicht das Ziel, aber es könne einmal dazu kommen293. Die Diskussion hatte sich gedreht um die Frage des deutschen Vormachtstrebens, die Bemühungen, den Konflikt mit Serbien zu lokalisieren, die Bedeutung der russi­schen Mobilmachung, die deutsche Rüstung und die Art des französisch-russischen Bündnisses294. Man war in der Debatte – anders als bei Delbrücks vorausgegangenen – sehr nah an der Sache geblieben. Die Gefahr, aneinander vorbeizureden, war in einem persönlichen Gespräch viel geringer. Dies war für die Auseinandersetzung enorm hilfreich, da man sich schnell auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede einigen konnte. Vor allem war es beiden gelungen, sich ernsthaft auf die Argumente und die Sicht der Gegenseite einzulassen und sie zu verstehen295. 289 Lehmann-Russbüldt an Delbrück am 26. März 1922, in: ebd., Briefe Lehmann-Russbüldt, Bl. 47. 290 Basch an Delbrück am 30. März 1922, in: ebd., Briefe Basch, Bl. 2. 291 Delbrück an Molinski am 2. Juni 1922, in: ebd., Briefkonzepte Montgelas, Bl. 3 f. In diesem Schreiben sprach Delbrück davon, dass man die Absage »ja immer schon erwartet« hätte. 292 Delbrück an Montgelas am 26. Juni 1922, in: ebd., Bl. 6 f. 293 Delbrück an Basch am 14. Juni 1922, in: ebd., Briefkonzepte Basch, Bl. 1 f. 294 Zwei Exemplare der fünfseitigen Aufzeichnungen in: ebd., Fasz. 117.1. Die zwölfseitige Niederschrift von Basch in: ebd., Fasz. 116 und Delbrücks Bemerkungen hierzu in: ebd., Fasz. 117.1. 295 Das wird deutlich in Delbrücks Brief an Montgelas vom 26. Juni 1922, in dem er sich beeindruckt zeigte von den Ausführungen Baschs im Hinblick auf die französische Angst vor einem erneuten Zusammengehen Russlands mit Deutschlands (in: ebd., Brief­ konzepte Montgelas, Bl. 6 f).

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Große Differenzen blieben bestehen, aber sie waren in den Bereich einer sachlichen Diskussion geholt worden und nicht mehr bloße Polemik. Das war der entscheidende Erfolg dieser Disputation. Anfang September trafen sich die beiden erneut in Tschagguns, einer kleinen Ortschaft in Österreich, vermutlich zufällig im Rahmen ihres Urlaubs296. Delbrück legte im Nachgang noch einmal die wesentlichen Streitpunkte schriftlich nieder. Es handelte sich um das österreichische Ultimatum an Serbien, die französische Außenpolitik in der Julikrise, die deutsche Absicht zur Lokalisierung des Kriegs, den Stand der deutschen Rüstungen, die Rolle des französischen Botschafters Maurice Paléologue in St. Petersburg und die des russischen Botschafters Alexander Petrowitsch Iswolski in Paris sowie die russische Mobilmachung. Offenbar hatten sich die beiden zudem auf eine Veröffentlichung ihrer Aufzeichnungen geeinigt297. Hierzu kam es aber nicht. Basch hatte Anfang 1923 im Alleingang in der argentinischen Zeitung »La Prensa« seine Sichtweise publiziert, ohne Delbrück zu informieren. Basch ordnete in diesen Veröffentlichungen Delbrück zunächst als einen Mann des freien und kritischen Urteils ein, der mit den Alldeutschen nichts gemein habe. Damit unterschied er sich von seinen Landsleuten Lavisse und­ Aulard. Dann gab er in groben Zügen den Inhalt der Gespräche wieder. Er selbst habe eingeräumt, Deutschland habe den Krieg nicht gewollt, aber riskiert – dies habe auch Delbrück zugestanden. Es sei ein Verbrechen gewesen, dass Deutschland den englischen Vermittlungsvorschlag nicht an Österreich-Ungarn weitergeleitet hätte. Bei der Frage des Zeitpunkts der russischen Mobilmachung sei die Diskussion heftig geworden, aber Delbrück habe, wie mittlerweile erwiesen, Recht damit, dass die Russen als erste mobilgemacht hatten. Aber in der Interpretation dieses Schritts sei man sich nicht einig. Während Delbrück für das Reich gar keine andere Möglichkeit als die Kriegserklärung gesehen habe, sei er, Basch, der Meinung, dass in dem Moment sehr wohl eine friedliche Einigung zwischen dem Zaren- und dem Habsburgerreich möglich gewesen wäre. Deshalb sei die deutsche Reaktion verbrecherisch gewesen. Basch legte außerdem dar, dass Frankreich seinen Bündnispartner Russland habe unterstützen müssen und sehr wohl mäßigend gewirkt habe. Abschließend schrieb der Franzose, mittlerweile seien aber zahlreiche neue Dokumente erschienen und er habe nun seine Ansicht geändert: Deutschland habe den Krieg nicht nur riskiert, wie er immer geglaubt hatte, sondern seit 1909 planmäßig vorbereitet und sei voll schuldig298. In der Wiedergabe der Unterhaltung mit Delbrück war Basch nahe bei den ausgetauschten Aufzeichnungen geblieben. Seine plötzlich vollständig geänderte 296 Basch an Delbrück am 4. September 1922, in: ebd., Briefe Basch, Bl. 3. 297 Delbrück an Basch am 18. September 1922, in: ebd., Briefkonzepte Basch, Bl. 3–10. 298 Es handelte sich um eine Artikelserie, die Basch zwischen Januar und März 1923 in der La Prensa platziert hatte. Ein spanischer Originalartikel und eine deutsche Übersetzung sind in: ebd., Fasz. 116.

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Ansicht musste ihn aber mit Delbrück entzweien. Seinen Gesprächspartner zudem nicht über diese Publikation zu informieren, war ein zusätzlicher Affront, wenngleich es rätselhaft bleibt, wieso Basch ausgerechnet eine spanischsprachige Zeitung in Südamerika hierfür gewählt hatte. Delbrück jedenfalls erfuhr erst im Mai 1923 von den Artikeln299. Er verfasste einen Aufsatz zur Erwiderung und beklagte seine durch Basch falsch ausgelegte Äußerung zur Kriegsschuldfrage. Er habe zwar davon gesprochen, dass Deutschland den Weltkrieg riskiert habe, allerdings in dem Sinne, wie ein Arzt das Leben eines Patienten durch eine gefährliche Operation retten will, dabei aber dessen Leben riskiert. Die großserbischen Bestrebungen hätten den Balkan nachhaltig destabilisiert und den Weg in einen Weltkrieg bereitet. Die einzige Möglichkeit, einen solchen zu verhindern, sei es gewesen, Serbien unschädlich zu machen, bevor Russland als slawischer Bundesgenosse vollständig bereit gestanden hätte. In Wien und Berlin habe man 1914 geglaubt, dass dies ohne Gefahr gelingen könne, sich hierin aber schwer getäuscht, denn es entwickelte sich der Weltkrieg. »So wie es aber eine Ungerechtigkeit wäre, einen Arzt wegen einer verunglückten Operation einen Mörder zu schelten, so ist es eine nicht geringere Ungerechtigkeit, von Deutschland zu behaupten, dass es das Verbrechen begangen habe, mit Absicht und Vorbedacht den Weltkrieg herbeigeführt zu haben.«

Delbrück beklagte weiter, dass Basch von dieser Hauptfrage ablenke durch die Diskussion um das Lebensrecht Serbiens. Auch wenn dieses zwar bestanden habe, bleibe Serbien der Aggressor in der Staatenwelt. Der entscheidende Punkt, der den Krieg schließlich zum Ausbruch gebracht habe, die russische Mobilisierung, sei von der Entente neun Jahre lang durch ihre Propaganda verhüllt worden. Nun sei aber die Wahrheit dieser Vorgänge erwiesen. Baschs Argumente für seine neue Ansicht, dass Deutschland seit 1909 auf einen Krieg hingearbeitet habe, bezeichnete Delbrück als haltlos. Die Tatsache, dass Basch ihm von seiner Veröffentlichung nicht berichtet hatte, deutete Delbrück schließlich als Ausdruck des schlechten Gewissens wegen der lückenhaften und falschen Beweisführung300. Damit war die eigentlich fruchtbar verlaufene private Debatte der beiden Intellektuellen öffentlich geworden und hatte zu einer Entzweiung geführt. Die Verantwortung hierfür trug Victor Basch, der plötzlich seine Meinung geändert und diese ohne weitere Rücksprache mit Hans Delbrück veröffentlicht hatte. Wie Otmar Jung in seiner Analyse von Baschs Wirken als Pazifist in Deutschland feststellt, neigte der Franzose in seinen Auftritten und Aussagen häufig zu Polarisierungen, sodass er bei aller persönlicher Integrität 299 Redaktion der Süddeutschen Monatshefte an Delbrück o. D. [1923], in: ebd., Briefe Süddeutsche Monatshefte, Bl. 8; Manuskript Delbrücks unter dem Titel »Professor Basch und die Frage der Kriegsschuld«, in: ebd., Fasz. 116. 300 Hans Delbrück: »Professor Basch und die Frage der Kriegsschuld«, Manuskript o. D. [1923], in: ebd. Ob dieser Aufsatz veröffentlicht wurde, ist fraglich. Möglicherweise handelt es sich um die Erwiderung, die Delbrück der La Prensa schickte.

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»als Kommunikator nicht taugte«301. Das mag sicher dazu beigetragen haben, die Debatte Delbrück-Basch zu erschweren, wenngleich Delbrück ebenfalls zu polarisierender Dialektik neigte. Zu einem letzten Aufeinandertreffen der beiden kam es im Herbst 1924, als Basch in Berlin auf Einladung der DLfM sprach302 und sich dabei erneut an Delbrück rieb. Vorausgegangen war der Rede am 1. Oktober eine öffentliche Erklärung Delbrücks und zweier Mitstreiter. Nach der Verabschiedung des DawesPlans im Reichstag veröffentlichte die Reichsregierung am 29. August 1924 eine Erklärung zur Kriegsschuldfrage. Darin erklärte sie, dass sie die Feststellung im Zusammenhang mit dem Versailler Vertrag, Deutschland habe den Kriegs­ ausbruch verschuldet, nicht anerkenne. Eine Völkerversöhnung und -verständigung sei nicht möglich, solange dieser Vorwurf auf dem deutschen Volk laste303. Hans Delbrück meldete sich daraufhin am 16. September gemeinsam mit Max Montgelas und Paul Rohrbach öffentlich zu Wort. Die drei, die sich als Vorkämpfer »gegen die Kriegsschuldlüge« bezeichneten, tadelten die Aktion von Kanzler Wilhelm Marx, »da auf diesem Wege politische Kräfte auf den Kampfplatz gerufen werden, deren Interesse es nicht sein kann, die Wahrheit aufzudecken.« Sinnvoller sei es vielmehr, die internationale wissenschaftliche Debatte fortzuführen. Sie verwiesen sodann auf die bisherigen Erfolge in ihrer Arbeit und hofften, dass eines Tages eine internationale Kommission zur Untersuchung der Schuldfrage eingesetzt würde. Auf jeden Fall müsse es eine Klärung geben vor einem Eintritt in den Völkerbund304. Die Aktion war von Delbrück ausgegangen, auch der Text entsprach seiner Diktion. Die Reichsregierung war durch ihre amtliche Erklärung in außenpolitische Schwierigkeiten geraten und Delbrück hatte zunächst mit dem Staatssekretär Ago von Maltzan im AA Rücksprache gehalten. Am 10. September hatte er ihm den Entwurf zu der Mitteilung zugesandt und ihm angeboten, durch die Veröffentlichung der Regierung zu helfen305. Joachim Kühn, Mit301 Jung, Kulturen, S. 283. 302 Zu den Hintergründen, der Zusammenarbeit von Französischer und Deutscher Liga für Menschenrechte, vgl. Jung, Kulturen, hier besonders S. 254–258. 303 Die Erklärung ist abgedruckt in: Michaelis / Schraepler, Ursachen VI, Nr. 1265, S. 122. 304 »Eine Erklärung Prof. Delbrücks, Graf Montgelas’ und Rohrbachs«, in: Kölnische Volkszeitung, Nr. 719 vom 16. September 1924. Aus einem Entwurf dazu geht hervor, dass Friedrich Thimme, Alfred von Wegerer und Bernhard Schwertfeger auch gefragt werden sollten (in: SBB NL Delbrück, Fasz. 111.1). Gustav Roloff war auch angefragt worden, wollte aber nicht mitzeichnen (Roloff an Delbrück am 13. September 1924, in: ebd., Briefe Roloff II, Bl. 39). 305 Delbrück an Maltzan am 10. September 1924, in: ebd., Briefkonzepte Maltzan, Bl. 1. Kurt von Lersner, Präsident des ADV, erreichte eine Anfrage von Delbrück zur Mitzeichnung zu spät. Er bedauerte dies, da er ansonsten »dringend« abgeraten hätte. Zudem brachte er dagegen eine Stellungnahme. Offensichtlich wusste er nichts von Delbrücks Rücksprache mit dem AA (Lersner an Delbrück am 17. September 1924, in: ebd., Briefe Lersner, Bl. 5). Max Montgelas sprach Delbrück zunächst von einem »Unstern, der über unserer Erklärung gewaltet hat«, da offenbar Friedrich Thimme und Alfred von Wegerer, die mitzeichnen

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arbeiter im Außenministerium, berichtete wenig später auf dem MittwochAbend, dass Marx die Erklärung sehr positiv aufgefasst habe306. Hans Delbrück schrieb daraufhin selbstbewusst an Maltzan, er glaube, der Regierung in der schwierigen Situation »eine gewisse Stütze« gewesen zu sein307. Dies war er in der Tat, da Marx die Note nur wegen des Drucks der DNVP herausgegeben und Deutschland damit in eine schwierige Lage gebracht hatte. Delbrücks Aktion war also innenpolitisch motiviert gewesen308. In seiner Rede im ehemaligen Herrenhaus in Berlin am 1. Oktober bezog sich Basch auf diese Äußerung von Delbrück und Montgelas als zwei herausragende Kriegsschuldforscher, die missbilligt hatten, die Debatte in parteipolitische Auseinandersetzungen hineinzuziehen. Basch plädierte dafür, dieses Thema der Wissenschaft zu überlassen und kritisierte die Kundgebung des Reichskanzlers scharf, die die Völker erneut mit Misstrauen gegenüber Deutschland erfülle. Inhaltlich positionierte er sich diesmal wieder etwas gemäßigt. Als tieferen Grund für den Weltkrieg bezeichnete Basch »die ganze europäische Lage«. Dann bezog er sich auf sein Gespräch mit Delbrück zwei Jahre zuvor und die damals gemachte Feststellung, dass es in der Geschichtsphilosophie zwei Prinzipien gebe, das Recht der Großstaaten und das Recht der Individualität. Delbrück habe damals dazu gesagt: »Ja, Sie haben recht, es ist die Tragödie von Kreon und Antigone; Kreon: das Gesetz, das starre historische Gesetz, Antigone: der Widerstand der Einzelseele«309. Er, Basch, habe sich dann für Antigone ausgesprochen und damit für das Lebensrecht Serbiens, das von Österreich-Ungarn unterdrückt worden sei. In diesem Sinne trage das Habs­burgerreich die Hauptschuld am Krieg, danach das Hohenzollernreich, das seinem Partner »blindlings« gefolgt sei. Dann kam er zu den Reparationen und sprach wieder von einer moralischen Pflicht zum Wiederaufbau der verwüsteten Provinzen. Abschließend sollten, nicht erwähnt worden waren und seine Bitte, in jedem Fall Einverständnis mit der Regierung herzustellen, aufgrund der schlechten Postverbindung zu spät gekommen sei (Montgelas an Delbrück am 17. September 1924, in: ebd., Briefe Montgelas II, Bl. 14 f). Nach einer Antwort von Delbrück zeigte er sich dann beruhigt (Montgelas an Delbrück am 27. September 1924, in: ebd., Bl. 20 f). 306 Vgl. den Bericht über den Mittwoch-Abend von Peter Rassow an Hans Delbrück vom 20. September 1924, in: ebd., Briefe Rassow, Bl. 41. Die Erklärung wurde sogar in der­ »Times« gebracht (Delbrück an Montgelas am 2. Oktober 1924, in: ebd., Briefkonzepte Montgelas, Bl. 13). 307 Delbrück an Maltzan am 4. Oktober 1924, in: ebd., Briefkonzepte Maltzan, Bl. 2. Maltzan ließ den Referatsleiter Friedrich Stieve antworten (Stieve an Delbrück am 8. Oktober 1924, in: ebd., Briefe Stieve, Bl. 10). Delbrück hatte schon vor der Aktion, im Juni 1924, gesagt, er halte nichts von einer Vermischung der Reparationsfrage mit der Kriegsschuldfrage (Hans Delbrück an Hermann Lutz am 2. Juni 1924, in: ebd., Briefkonzepte Lutz, Bl. 2 f). 308 Siehe hierzu auch Heinemann, Niederlage, S. 223 f. 309 Kreon und Antigone sind Gestalten der griechischen Mythologie: Antigone bestattet gegen das geltende Gesetz ihren Bruder Polyneikes, da sie den Göttern mehr verpflichtet zu sein glaubt. Daraufhin verurteilt Kreon, König von Theben, sie zum Tode. Antigone steht damit für das moralische Recht und Kreon für das starre juristische Gesetz.

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kommentierte er eine Äußerung Gustav Stresemanns, dass eine Brücke vom alten zum neuen Reich geschlagen werden müsse: »Ich sage, das ist eine unmögliche Aufgabe. Man kann die Republik nicht mit dem Kaisertum, die Demokratie nicht mit dem Militarismus verheiraten.«310 Zwei Wochen später antwortete Delbrück311. Seine Erklärung, die er zusammen mit Max Montgelas und Paul Rohrbach veröffentlicht hatte, habe sich nur gegen die Umstände der Schuldnote gerichtet und deutlich gemacht, dass mit einem Eintritt in den Völkerbund die Kriegsschuldfrage aufgehoben werden müsse. Die Schuldzuweisung, die in der Mantelnote zum Versailler Vertrag gemacht worden war, werde mittlerweile nicht einmal mehr von den schärfsten Gegnern Deutschlands aufrecht erhalten. Deshalb solle auch der Völkerbund sich hiervon distanzieren: »Einen Bund des Friedens und der Freundschaft kann man doch nicht mit jemand schließen, den man amtlich für einen Verbrecher erklärt hat, ehe diese Erklärung zurückgenommen ist.« Zur Reparationsfrage bemerkte Delbrück erneut, die Forderungen seien vertragswidrig verdreifacht worden durch die Einbeziehung der militärischen Pensionen. Dann äußerte er sein Unverständnis darüber, dass Basch einerseits Österreichs Handeln gegen Serbien als notwendig bezeichnete, es andererseits aber für schuldig erklärte. Zu dem Vergleich Antigone-Kreon bemerkte Delbrück, es handele sich dabei um den Zusammenstoß zweier gleich berechtigter Rechtsprinzipien, und er habe damit Serbien nicht das Recht der Antigone zugesprochen312. Basch wies die Verquickung der Schuldfrage mit dem Völkerbundseintritt als »schwere[n] Mißgriff« ab. Er bekräftigte noch einmal die deutsche Pflicht zum Wiederaufbau des zerstörten Nordfrankreichs, selbst im Falle einer französischen Kriegsschuld, und nahm die Pensionsforderungen aus. Zum Verhalten Österreich-­ Ungarns schrieb er, es habe vielleicht so handeln müssen, aber nicht sollen. Die Alternative sei ein Trialismus auf dem Balkan aus Österreich, Ungarn und Serbien unter der Krone der Habsburger gewesen313. Delbrück erhielt vom Pazifisten und Völkerrechtler Hans Wehberg die Möglichkeit, in dessen Zeitschrift »Friedens-Warte« die Diskussion fortzusetzen. Wehberg wollte dazu eine Stellungnahme von Basch abdrucken, um »eine Verständigung anzubahnen«. Dieser hatte sich aber nicht auf seine Anfrage gemel­det. 310 Victor Basch: »Die europäische Lage und die deutsch-französische Verständigung«, in: Deutsch-Französische Wirtschaftskorrespondenz, 2. Jg., Nr. 38 vom 10. Oktober 1924, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 112.1. 311 Bei der Wiedergabe von Baschs Rede in der deutschen Presse waren seine Aussagen massiv entstellt worden. Nur die Deutsch-Französische Wirtschaftskorrespondenz brachte den originalen Wortlaut, der allerdings kaum noch durchdrang (vgl. Jung, Kulturen, S. 257 f, 267). Delbrück, der zunächst aus der Presse ebenfalls falsche Informationen hatte, bezog sich in seiner Antwort aber ausdrücklich auf die tatsächliche Rede. 312 Hans Delbrück: »Auseinandersetzung mit Victor Basch«, in: Finanzpolitische Korrespondenz, V. Jg., Nr. 38 vom 24. Oktober 1924, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 116. 313 Victor Basch: »Schlußwort«, in: Deutsch-Französische Wirtschaftskorrespondenz vom 12. November 1924, in: ebd., Fasz. 112.1.

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So druckte das pazifistische Blatt allein Delbrücks Sichtweise ab314. Delbrück bekannte sich zwar auch zum Ideal des Trialismus zur Lösung des Serbienkonflikts, sah aber darin nachträglich keinen Weg, wie der Krieg hätte verhindert werden können. Die Serben hätten damit nicht ihrem Nationalismus abgeschworen und die Russen nicht ihrem Drang nach Konstantinopel. Die österreichische Politik sei nur Selbstverteidigung gewesen, was ein Recht und keine Schuld sei. Serbien hingegen habe kein Recht dazu gehabt, für sein nationales Ideal einen Weltkrieg zu entfachen. Baschs Gleichnis mit Antigone funktioniere nicht, da sich Antigone um ihres Ideals willen selbst geopfert habe, Serbien aber die ganze Menschheit. Befriedigt stellte Delbrück jedoch fest, dass Basch die Behauptung aus Versailles als falsch bezeichnete. »Nicht nur die Ehre Deutschlands, sondern auch das Wesen des Völkerbundes« verlange eine Absage dieser Anklage durch den Völkerbund. Da in Frankreich viele immer noch an die deutsche Alleinkriegsschuld glaubten, müsse Basch aufklärend in seinem Volk wirken315. Die Debatte mit Basch war insgesamt fruchtbar verlaufen. Der persönliche Austausch hatte sich als sehr wertvoll erwiesen, denn die beiden Kontrahenten hatten dadurch eine sachliche Ebene gefunden und einen Gutteil ihrer Polemik weggelassen. Inhaltlich hatte sich keiner von beiden bewegt. Aber die Standpunkte waren präzisiert worden und damit die Felder weiterer Forschungen benannt worden. f) Charles Sarolea, Großbritannien Eine weitere und letzte größere Debatte führte Delbrück 1923 mit dem schottischen Romanisten Charles Sarolea. Diese ist weniger aus inhaltlichen Gründen von Bedeutung, als mehr, da Sarolea sich bemühte, Delbrück die Mentalität der deutschen Kriegsgegner verständlich zu machen und seine bisherige Methodik in den internationalen Debatten kritisierte. Die beiden hatten sich bereits 1906 auf einer Schottlandreise Delbrücks persönlich kennengelernt, und Delbrück bezeichnete ihn als »alte[n] Freund« und »aufrichtige[n] Versöhnungspolitiker«. Im Sommer 1922 machte Sarolea auf einer Berlinreise auch bei Delbrück Station und unterhielt sich mit ihm einige Stunden lang über die Kriegsschuldfrage316. 314 Hans Wehberg an Hans Delbrück am 8., 12., 18. und 29. November 1924, in: ebd., Briefe Wehberg, Bl. 6–9, Zitat im Schreiben vom 18. November. 315 Hans Delbrück: »Victor Basch und die Schuldfrage«, in: Die Friedens-Warte, XXIV Jg., Heft 12 von Dezember 1924, S. 321 f, Zitat S. 322, in: ebd., Fasz. 86a, Druckfahnen in: ebd., Fasz. 117.1. 316 Delbrück an Montgelas am 22. Juli 1922, in: ebd., Briefkonzepte Montgelas, Bl. 8. Zur Schottlandreise im Herbst 1906, an der Delbrück als Teil der Abordnung der Universität Berlin anlässlich der 400-Jahr-Feier der Universität Aberdeen teilnahm, vgl. die Aufzeichnung Lina Delbrücks, Abschrift in: BArch N 1017/70, Delbrücks Leben, Bd. VI 1906, S. 39–54.

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Einige Monate später meldete sich der Schotte mit einer schriftlichen Ausarbeitung zu dem Thema und erinnerte Delbrück daran, dass sie eine Schulddiskussion in der englischen und amerikanischen Presse vereinbart hatten. Er schlug eine Sammlung von vier Artikeln vor, sodass jeder zweimal zu Wort kommen könne. Außerdem wünschte er sich eine Publikation auch in Deutschland317. In seinem 14seitigen offenen Brief an Delbrück, der später in der einflussreichen Edingburgher Zeitung »The Scotsman« abgedruckt wurde, ging Sarolea aus von der Ruhrbesetzung und sah die Wurzel des deutschen Hasses in der Überzeugung von der eigenen Unschuld. Dieser wiederum verstärke den repressiven Kurs der Franzosen. Die Kriegsschuldfrage, die mit den Reparationen, der wirtschaftlichen Lage und der Angst vor einem Revanchekrieg eng verwoben sei, habe also eine herausragende Bedeutung, die er mit Delbrück als Bestqualifiziertem auf diesem Gebiet diskutieren wolle. Sarolea beklagte die Weigerung der Deutschen, sich ernsthaft mit dem Material der anderen Länder ausein­anderzusetzen und appellierte an Delbrücks Historikerehre: »It must certainly strike you as a trained historian, that such an attitude of mind which deliberately refuses even to consider the point of view of the enemy, caanot [sic] be conducive either to the elucidation of the truth or to mutual unterstanding.« Seine Schriften gegen Headlam-Morley und an anderen Stellen in der angloamerikanischen Presse seien an die Völker der Entente gerichtet, aber hierfür habe er die Artikel falsch konzipiert: Die britische Öffentlichkeit werde Delbrück nicht einmal zuhören, wenn er nicht das Bemühen zeige, sein Gegenüber zunächst zu verstehen und sich auf seine Mentalität einzulassen. Dann kritisierte er Delbrücks Herangehensweise bei der Kriegsschuldforschung: »You imagine that the problem which is before us is mainly a problem of scientific criticism, or diplomatic history, when it is primarily a question of international psychology and political ethics.« Als Beispiel nannte er Delbrücks These, die Mittelmächte hätten in der Julikrise richtig gehandelt, ohne dazu zu erklären, wieso die ganze Welt dies offenbar falsch verstanden habe. Nach einigen Vorwürfen an die deutsche Politik gab er noch einen ausführlichen Hinweis und schrieb, er möge in der Sache falsch liegen, aber selbst wenn dies so sei, sollte Delbrück das nicht beiseite schieben, da es die Sicht von 90 % der gebildeten Briten und Amerikaner sei. Als deutscher Patriot würde er versuchen, die Tragweite der europäischen Situation zu verstehen und moralische Lehren aus den vergangenen, furchtbaren Jahren ziehen. Er würde vollständig mit der Vergangenheit brechen, deutsche Fehler eingestehen und Europa mit einer konsequenten Versöhnungspolitik beruhigen. Er selbst lehne auch den Versailler Vertrag ab, aber als Deutscher würde er sich daran erinnern, dass es Deutschland war, das mit den Frieden von Frankfurt, Brest-Litowsk und Bukarest die Präzendenzfälle für Gewaltfrieden geschaffen habe. Auch er sehe die französische Re-

317 Sarolea an Delbrück am 24. und am 29. Januar 1923, in: SBB NL Delbrück, Briefe Sarolea, Bl. 31 f.

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parationspolitik kritisch, aber als Deutscher würde er eingestehen, dass im Falle eines deutschen Sieges Deutschland viel härter mit Frankreich umgegangen wäre, wie ein Blick auf die Weltkriegspublizistik zeige318. Zum ersten Mal verlief eine Kriegsschulddiskussion nicht nach dem Muster, dass jeder seine Sichtweise niederschrieb, ohne großartig auf den anderen einzugehen. Sarolea, der um eine Verständigung bemüht war, gelang es, sich über seinen eigenen Standpunkt hinwegzusetzen und auf den deutschen einzulassen. Vor allem reflektierte er Delbrücks Arbeit in vorbehaltlos ehrlicher Weise. In vielen Punkten hatte er Recht: So sehr sich Delbrück nicht von der rein nationalistischen Strömung hinreißen ließ und sich stets ein eigenständiges und kritisch durchdachtes Urteil bildete, verließ ihn doch die Ausgewogenheit beim Thema der Kriegsschuld. Ihm gelang es nicht, sich nachhaltig auf seine Gegner einzulassen und zu verstehen, wieso alle Welt an Deutschlands Schuld glaubte. Mit dem bloßen Beteuern und Beweisen, dass es doch anders sei, war es schwer, in der Weltmeinung durchzudringen. Derartige Ausführungen wurden als Rechtfertigungsstrategie wahrgenommen, weshalb man ihnen häufig keinen großen sachlichen Wert beimaß und Delbrück  – fälschlicherweise  – als Vertreter des nationalistischen Deutschlands abtat. Sarolea stieß seinen deutschen Freund auf diese Problematik und wies ihm Hilfestellungen. Sein Hinweis darauf, dass die Deutschen im Falle eines Sieges mutmaßlich ihren Gegnern keinen weniger repressiven Vertrag zugemutet hätten, ist mehr als berechtigt. Mit der Kritik traf er allerdings in Delbrück  – Vertreter eines Verständigungsfriedens319 – den Falschen. Dennoch musste auch Delbrück sich klarmachen, dass er mit seinem Alternativweg im Krieg gescheitert war, weil er schlichtweg zu wenige Anhänger gehabt hatte, und dass es also in der Tat sehr wahrscheinlich gewesen wäre, dass das Reich im Siegesfall auch eine Art Versailler Vertrag diktiert hätte. Er stand zwar als Person völlig dagegen, aber das ändert nichts daran, dass man in Frankreich und England diese Einschätzungen mit guten Gründen vertrat. Diese Zusammenhänge musste Delbrück sich klarmachen und Saroleas Hinweise befolgen, seine eigene Agitation in der Kriegsschuldfrage auch hieran auszurichten. Es kam also nun darauf an, wie Hans Delbrück auf Saroleas Ausführungen reagierte. Dies war zu einem gewissen Grad enttäuschend: Er ließ sich nicht auf dessen wohlmeinende Ratschläge ein, sondern nahm eine Verteidigungshaltung ein. Delbrück bestand auf der Richtigkeit seiner Methodik. Er habe nie behauptet, dass das Reich keine Fehler gemacht habe, ihm gehe es immer nur um die Zurückweisung des Vorwurfs, Deutschland habe den Krieg vorsätzlich und planvoll herbeigeführt. Zu Saroleas Gedanken, wieso die Welt an Deutschlands Schuld glaube, schrieb Delbrück nur, dass die ganze Welt systematisch belogen

318 Charles Sarolea: »An open Letter to privy councillor Hans Delbrück« vom 29. Januar 1923, in: ebd., Fasz. 118. 319 Zur Kriegszieldebatte siehe Kapitel II.

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worden sei von der Entente. Saroleas Kritik, dass zu wenige englische Bücher ins Deutsche übersetzt würden, begegnete er mit dem wenig schlagenden Hinweis, dass Übersetzungen nicht nötig seien, da viele Deutsche des Englischen mächtig seien. Nach einigen Argumenten zur Schuldfrage kam er dann noch auf Saroleas Vorwurf zu sprechen, Deutschland hätte Frankreich bei einem Sieg genauso behandelt. Er nahm zumindest für sich selbst das Recht in Anspruch, Kritik üben zu dürfen, da er in einem solchen Fall auch Deutschland in gleicher Weise kritisiert hätte. Insgesamt wies er aber die Ratschläge des Schotten zurück, da dieser kein Wissen von der deutschen Politik habe320. Damit hatte Delbrück eine insgesamt eher aggressive Argumentation gegen Sarolea verfasst und damit erneut in seiner alten Weise lediglich die vermeintliche deutsche Unschuld propagiert. Er hatte sich nicht auf das eigentliche Anliegen seines Kollegen, die Methodik, eingelassen. Seine Erwiderung hierbei erschöpfte sich in einem Zurückweisen, Sarolea kenne sich nicht aus. Auch­ Saroleas Beispiel, wieso denn die Welt an die deutsche Verantwortung in der Julikrise glaube, wenn sie in der Sache gar nicht zuträfe, nahm er nicht ernst. Mit dem schlichten Hinweis, dass eben alle Welt belogen worden sei, machte Delbrück es sich zu einfach: Sarolea war es mit dem Beispiel darum gegangen, seinen Freund darauf hinzuweisen, dass Delbrück sich viel mehr auf die Mentalität und Psyche der anderen einlassen müsse, wenn er überhaupt Gehör finden wolle. Das hatte der Historiker jedoch nicht verstanden. Charles Sarolea nahm den Artikel seines Kollegen dennoch sehr freundlich auf, ließ ihn gleich übersetzen und leitete ihn dem »Scotsman« zu, der beide Briefe veröffentlichte321. Er bemühte sich auch, statt der zuerst geplanten vier Aufsätze den Platz für sechs zu erhalten, und verwahrte sich nur gegen Delbrücks Vorwurf der Ignoranz, denn er teile schlichtweg Delbrücks Meinung nicht322. Die Veröffentlichung lief allerdings nicht so einfach ab, wie der Romanist gedacht hatte. Der »Scotsman« hatte sich zuerst geweigert, Delbrücks Artikel überhaupt zu bringen, weil er seiner eigenen Sicht vollständig widersprach. Nur unter Anwendung moralischen Drucks war es Sarolea dann gelungen, zumindest die zwei Artikel zur Publikation zu bringen. Weitere Beiträge, wie ursprünglich geplant, waren aber ausgeschlossen. Dafür wollte er es bei der »New York Times« versuchen und schickte Delbrück eine Erwiderung auf seine Niederschrift323. In seiner Antwort ging er nicht erneut auf Delbrücks Herangehensweise ein, das schien nach dessen Reaktion sinnlos. Er konzentrierte sich auf einige Argumente in der Sache und gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass eine solche Diskussion bei allen Differenzen dennoch nützlich sei zum besseren Verständnis der 320 Neunseitiges Manuskript mit dem Titel »Reply by Professor Hans Delbrück of the University of Berlin. To an Open letter from Professor Charles Sarolea. On The responsibilities of the World War« vom 29. Januar 1923, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 118. 321 Ein Zeitungsausschnitt mit den beiden Artikeln ist in: ebd. 322 Sarolea an Delbrück am 6. Februar 1923, in: ebd., Briefe Sarolea, Bl. 34–36. 323 Sarolea an Delbrück am 13. Februar 1923, in: ebd., Bl. 37.

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Völker untereinander324. Dies war ein Punkt, den stets alle Diskutanden betonten und der im Grunde der wichtigste in allen Auseinandersetzungen war. In seiner erneuten Antwort ging Delbrück auf einzelne Punkte ein, betonte aber, dass für die Debatte entscheidend sei, ob Sarolea die Versailler Anklage teile oder nicht. Falls ja, solle er sie beweisen, falls nein, gebe es keinen Grund für eine weitere Diskussion. Dass sich die deutsche Vorkriegspolitik viele Vorwürfe zu machen habe, sei kein Subjekt einer Kontroverse zwischen ihnen. Außerdem sei es schwer abzuschätzen, ob die Fehler größer waren als bei anderen Nationen325. Die beiden tauschten noch jeweils einen Artikel aus326, aber aus der geplanten Veröffentlichung in der »New York Times« wurde nichts. In einem in der Angelegenheit letzten Brief versuchte Sarolea noch einmal, Delbrück die Bedeutung der Mentalität der Briten und Amerikaner nahezubringen, die er für seine Agitation unbedingt in Rechnung stellen müsse, wenn er Erfolg erzielen wolle327. Dass Delbrück dies beherzigte, lässt sich in seiner weiteren Publizistik zur Kriegsschuldfrage nicht feststellen. Damit hatte sich Delbrück wie immer auf die enge Auslegung der Kriegsschuldfrage zurückgezogen und jede Debatte über die tieferliegenden Ursachen abgelehnt. Zwar hat er in einer Schonungslosigkeit wie wenige seiner Landsleute Torheiten der deutschen Politik schon vor dem Weltkrieg und auch danach aufgearbeitet. Ein Verschließen vor diesen Fehlern kann man ihm nicht vorwerfen. Dennoch hängen genau diese Fehler und Ungeschicklichkeiten der deutschen Vorkriegsdiplomatie auf das Engste zusammen mit der Frage der Kriegsursachen. Insofern ließ sich dieser Bereich gar nicht ausschließen aus einer Debatte hierüber. Daran wird deutlich, dass Delbrück seine Diskussionen politisch führte und nicht wissenschaftlich: Als Historiker war ihm klar, dass bei der Kriegsursachenforschung zahlreiche Momente in Betracht gezogen werden mussten. Bei den Disputationen mit ausländischen Forschern ging es ihm aber immer nur darum, die Versailler Anklage zu widerlegen, um damit den Versailler Vertrag einer Revision unterziehen zu können. Dies war eine rein politische Motivation und deshalb lehnte er in diesen Zusammenhängen jedes Mal eine weiterführende Diskussion ab. Das war zwar einerseits hilfreich, wenn es nur um diese Versailler Behauptung ging. Andererseits war auch wenig damit gewonnen, wenn diese unhaltbare These von keinem Wissenschaftler weiterhin vertreten wurde. Entscheidend war  – wie Charles Sarolea ausgeführt hatte  – die

324 Das achtseitige Manuskript unter dem Titel »Professor Sarolea’s Reply to Professor Delbrück on the Responsibilities for the War« ist in: ebd., Fasz. 118. 325 Delbrücks sechsseitige Antwort an Sarolea unter dem Datum des 19. Februar 1923 ist in: ebd. 326 Saroleas Artikel, datiert auf den 3. März 1923, sowie Delbrücks dritte Antwort mit ­Datum 14. März 1923, in der er selbstbewusst feststellte, dass Sarolea nun auch den Versailler Schuldvorwurf ablehne und man damit die Diskussion schließen könne, finden sich in: ebd. 327 Sarolea an Delbrück am 8. Mai 1923, in: ebd., Briefe Sarolea, Bl. 43 f.

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Wahrnehmung der Völker, welchen Anteil an Verantwortung Deutschland am Krieg hatte. Und diese Wahrnehmung wurde ganz erheblich auch davon bestimmt, ob man deutscherseits zu Eingeständnissen bereit war oder nicht. Eine Haltung, wie sie Delbrück an den Tag legte, die bloße Behauptung der deutschen Unschuld (im Sinne der Versailler Anklage), und die Zurückweisung jeder tiefer gehenden Debatte, konnte kaum vertrauenerweckend im Ausland wirken. Vertrauensbildend wäre es gewesen, wenn aus Deutschland die eindeutige Haltung gekommen wäre, dass man diplomatische Fehler vor dem Krieg gemacht habe, sich aber nicht die alleinige Schuld anlasten lasse. Ein solches Verhalten wäre als aufrichtig und entgegenkommend viel eher bei den anderen Völkern angekommen und hätte zu einer Revision in der Einschätzung der Schuldfrage führen können, als das schlichte und monotone Zurückweisen jedweder deutschen Verantwortung. In dieser Hinsicht ist das Engagement Delbrücks ambivalent zu beurteilen. Delbrück bekam bei seinen Debatten übrigens nicht den einhelligen Beifall auch von rechts: Der »Hannoversche Kurier« beispielsweise polemisierte im Februar 1922 scharf gegen ihn wegen seiner aktuellen Ludendorff-Broschüre328. Bezogen auf Delbrücks Auseinandersetzung mit Aulard schrieb der »Kurier« dann, jemand wie Delbrück sei nicht »befugt, sich als deutschen Wortführer gegen das Ausland aufzuwerfen«. Und weiter: »Wir sollten auf derartige wiederholte Betonungen unserer ›Unschuld‹ lieber verzichten. Die Rolle als flehende Bittsteller um die Meinung des feindlichen Auslands erhöht die deutsche Würde nicht. Sie ist bei Delbrück erst recht nicht in guten Händen.«329 Ähnliches wird auch deutlich in der Darstellung der Auseinandersetzung Delbrück-Aulard im »Mitteilungsblatt des Arbeitsausschusses Deutscher Verbände« vom April 1922. Von Delbrücks Formulierung, Deutschland trage die moralische Verantwortung dafür, den Krieg unnötig verlängert zu haben, distanzierte sich die Schriftleitung sehr deutlich. Selbst dieses Bekenntnis war ihr schon zu entgegenkommend330. Die Rechte wollte keine tolerante Diskussionskultur und sich erst recht nicht einlassen auf eine rationale Argumentation; ihr ging es um Emotionen und die schroffe Ablehnung alles Ausländischen. Dagegen standen die gemäßigten Kräfte von SPD bis DDP, die durchaus aufgeschlossen waren für offene Diskussionen und die Bereitschaft hatten, zuzuhören und sich auf sachliche Argumente einzulassen. Dies war eine bürgerliche Tugend, die von rechts verabscheut wurde. Mit dieser Militanz spaltete die Rechte die Gesellschaft und nötigte die Linke wiederum, sich ein Stück weit anzupassen an diese Art des Diskurses, wodurch die politische Kultur langfristig immer polarisierter wurde und die Grundlage der Demokratie erodierte. 328 Siehe hierzu Kapitel V.1. 329 P. St.: »Delbrück gegen Ludendorff«, in: Hannoverscher Kurier, Nr. 89 vom 22. Februar 1922, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 121.2. 330 »Der Streit Delbrück-Aulard«, in: Mitteilungsblatt des Arbeitsausschusses Deutscher Verbände, 2. Jg., Nr. 7, 1. Aprilheft 1922, in: ebd., Fasz. 111.4, 117.1.

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Hans Delbrück verfolgte mit seinen internationalen Schulddiskussionen, die er gern einsetzte331, einen doppelten Ansatz: Zunächst wollte er die als Schmach empfundene Anklage, das Reich habe vorsätzlich den Krieg herbeigeführt, wissenschaftlich fundiert widerlegen. Damit unterschied er sich von keinem Zeitgenossen, die Kommunisten ausgenommen. Während aber im rechtsextremen Milieu, wie das Beispiel des »Hannoverschen Kuriers« zeigt, gar keine Bereitschaft bestand, sich überhaupt mit den Vorwürfen auseinanderzusetzen (so wie es auch in den ehemals feindlichen Ländern bedeutende Strömungen gab, die nicht einmal deutsche Pazifisten zu Wort kommen lassen wollten), einfach deshalb, weil sie aus dem Ausland kamen, stand Delbrück dafür ein. Er kämpfte damit nicht nur in der Sache für sein Land, sondern hielt allein durch die Tat­ sache, dass er zu Debatten bereit war, ein Stück bürgerlicher Tugend hoch. Damit tat er bereits einiges für eine erste Verständigung zwischen den leidenschaftlich verfeindeten Völkern. Seine Motivation hierfür schöpfte er aus seiner Überzeugung von der kulturellen Gemeinschaft des Abendlandes. Auch eine weitere, historisch begründete politische Ansicht trieb ihn zu einer Verständigung mit dem Ausland: Als Militärhistoriker war Delbrück davon überzeugt, dass politische Mäßigung des Siegers bei einem Friedensvertrag fundamental wichtig sei, da im Übermut entstandene radikale Friedensbedingungen in der Regel eine langfristig fatale Auswirkung hätten. Diese Erkenntnisse aus seiner »Weltgeschichte« übertrug er auf den Versailler Vertrag: Die seiner Auffassung nach zu einseitige Stoßrichtung gegen die Mittelmächte würde dazu führen, dass das Friedenswerk nicht akzeptiert werde und damit den Keim für neue Konfrontationen in sich trage. In den Diskussionen mit ausländischen Forschern leitete Delbrück letztlich auch diese Sorge um den europäischen Frieden. Dabei zeigte er vielfach einen moderaten Tonfall. Für ihn als nationalen Mann war es nicht leicht, sich in dieser so emotional diskutierten Frage ernsthaft mit den Ansichten der anderen auseinanderzusetzen und seine eigene so zu formulieren, dass sie nicht allzu aggressiv wurde. Dies gelang ihm aber nicht immer, in der Diktion und in der inhaltlichen Bewertung der Schuldfrage ging er häufig sehr offensiv vor; es gelang ihm letztlich nicht, sich von der nationalen Sicht freizumachen.

331 Auch gegenüber dem amerikanischen Historiker Bernadotte Schmitt betonte Delbrück 1924, dass es »keinen besseren Weg« gebe, die Welt über die Kriegsursachen aufzuklären, als mittels wissenschaftlicher Disputationen, und dankte ihm für sein Streben nach der Wahrheit (Hans Delbrück an Bernadotte Schmitt am 8. Mai 1924, in: ebd., Briefkonzepte Schmitt, Bl. 4–16). Selbst den belgischen Premierminister Georges Theunis wollte Delbrück herausfordern zu einer öffentlichen Debatte. Im August 1923 hatte er einen offenen Brief vorbereitet, den er dann allerdings nicht absandte (»Offener Brief« Hans Delbrücks an Georges Theunis am 8. August 1923, Konzept in: ebd., Fasz. 112.3).

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5. Die offiziösen Propagandastellen »Die Demokratie ist heute in der Regierung, und man hofft von ihr, dass es ihr gelingen werde, den großen Gedanken der Völkerverständigung zu fördern. Wollte sie aber zu diesem Zweck den Kampf gegen die Kriegsschuldlüge aufgeben, so würde sie damit nicht nur ihren moralischen Kredit im deutschen Volke selber untergraben, sondern auch auf das beste Mittel, die ehemaligen Feindvölker wieder an uns heranzuziehen, verzichten.«332

Mit diesen Zeilen in der »Deutschen Allgemeinen Zeitung« wandte sich Hans Delbrück gegen Überlegungen im Juli 1928, das sogenannte Kriegsschuldreferat im Auswärtigen Amt (AA) aufzulösen. Er hielt die Agitation gegen die »Kriegsschuldlüge« für die wichtigste Aufgabe auch der amtlichen Politik, um eine Revision des Versailler Vertrages zu erreichen. Delbrück sah in der Anklage gegen Deutschland bezüglich der Kriegsschuld das Fundament des Vertrages. Deshalb vertrat er die Ansicht, eine von den Alliierten anerkannte Widerlegung dieser Behauptung würde den Vertrag erschüttern. Im Folgenden wird deshalb Delbrücks Zusammenarbeit mit den amtlichen und halb-amtlichen Einrichtungen im Reich, die sich mit der Propaganda zur Schuldfrage befassten, untersucht. Als die deutsche Außenpolitik die Kriegsschuldfrage zu ihrem wichtigsten Thema erhob, wurden mehrere offizielle und halb-offizielle Stellen geschaffen, die sich im amtlichen Apparat mit der Bearbeitung dieses Themas beschäftigten. Die Schnittstelle hierfür war ein eigenes Referat im AA, das aus dem Spezial­büro entstand, das vor und während der Friedensverhandlungen unter der Leitung von Bernhard Wilhelm von Bülow die Schuldfrage bearbeitet hatte. Die Aufgaben waren zunächst die Sammlung der diplomatischen Akten zur Vorgeschichte des Krieges gewesen sowie deren Aufbereitung zur Agitation gegen die Schuldanklage. Das Büro hatte damit wichtige Vorarbeiten geleistet für die Viererkommission in Versailles. Die Denkschrift hat also gewissermaßen die amtliche Propaganda eingeleitet333. Die Aufgaben weiteten sich nach dem Vertragsabschluss schnell aus: So koordinierte das Referat die Herausgabe der amtlichen Dokumente zum Kriegsausbruch, die maßgeblich unter Friedrich Thimme erfolgte334. Es entwickelte sich zudem zunehmend zu »ein[er] Art amtlich[er] Zensurbehörde«: Alle Publikationen, die in Deutschland zur Schuldfrage erschienen, wurden vom Kriegsschuldreferat überwacht. Außerdem hatte es Vertreter im Reichstags-Untersuchungsausschuss und lenkte auch die dorti332 Hans Delbrück: »Kriegsschuldfrage und Völkerverständigung«, in: DAZ vom 21. Juli 1928, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 89a. Das Manuskript hierzu ist in: ebd., Fasz. 67.1. 333 Vgl. Fischer, Krieg, S. 668. 334 Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871–1914. Sammlung der Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes. Im Auftrage des Auswärtigen Amtes hrsg. v. Johannes Lepsius / Albrecht Mendelssohn-Bartholdy / Friedrich Thimme, 40 Bde., Berlin 1922–1927.

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gen Arbeiten zu einem gewissen Grad, indem es beispielsweise Akteneinsicht verwehrte335. Unter der Leitung des Referats durch den Historiker und Diplomaten Friedrich Stieve von 1922 bis 1928 entwickelte sich die Einrichtung zu der wichtigsten Institution in der Weimarer Kriegsschulddiskussion. Hans Delbrück stellte seine Arbeitskraft in den Dienst der Bekämpfung der »Kriegsschuldlüge« und kam dadurch von Anfang an in enge Berührung mit dem Schuldreferat, das ihn als herausragenden Intellektuellen gern für sich vereinnahmte. Exemplarisch hierfür steht ein Vorgang vom August 1924: Der deutsche Gesandte in Stockholm, Frederic von Rosenberg, hatte seiner Zentrale in Berlin von einer Rede Hjalmar Brantings berichtet. Der Sozialdemokrat Branting war in den 20er Jahren wiederholt Ministerpräsident von Schweden und hatte in seiner Ansprache auf einer sozialistischen Kundgebung offenbar Deutschland für den Kriegsausbruch verantwortlich gemacht. Friedrich Stieve wandte sich daraufhin an Hans Delbrück und bat ihn, Branting mit einem offenen Brief zu antworten, denn dieser sei als Friedensnobelpreisträger und Vertreter Schwedens im Völkerbund außerordentlich angesehen in der Welt. Stieve regte an, das »Berliner Tageblatt« zu nutzen, das von den linksorientierten Kreisen in Schweden von allen deutschen Zeitungen am aufmerksamsten verfolgt werde336. Wenige Tage darauf erschien in diesem Organ tatsächlich ein offener Brief an den Schweden von Hans Delbrück gezeichnet. Er schrieb, ein »Bekannter« hätte ihn über Brantings Rede informiert, die ihn in »Staunen« versetzt habe. Delbrück wies wie gewohnt auf die vorgebliche panslawistische Gefahr und das Selbstverteidigungsrecht Österreich-Ungarns sowie den angeblichen französischen Kriegswillen hin. Er klagte auch Frankreich an wegen der Ruhrbesetzung vom Vorjahr und hoffte, bei Branting Gehör zu finden, da er sich mit ihm 1914 in Berlin getroffen habe337. Dieser Vorgang zeigt deutlich, wie eng Delbrück mit den offiziellen Stellen zusammenarbeitete und sich von der amtlichen Außenpolitik einspannen ließ. Er tat dies deshalb, weil er von der Richtigkeit und Wichtigkeit dieser Politik selbst überzeugt war. Dabei verschleierte er bewusst diese Zusammenhänge, wie seine Formulierung eines »Bekannten« unterstreicht, um die Wirkung nicht abzuschwächen. Die wesentliche Aufgabe des Schuldreferates war neben der Herausgabe der Akten die Steuerung zweier Einrichtungen, der »Zentralstelle für Erforschung der Kriegsursachen« (ZEK) und des »Arbeitsausschußes Deutscher Verbände« 335 Vgl. Jäger, Forschung, S. 46–61, Zitat S. 60. Zur Entstehung des Schuldreferats, das erst ab 1921 seine Arbeit umfassend aufnahm, siehe auch Geiss, Kriegsschuldfrage; Heinemann, Niederlage, S. 56–73. 336 Stieve an Delbrück am 11. August 1924, in: SBB NL Delbrück, Briefe Stieve, Bl. 9. 337 Hans Delbrück: »Offener Brief an Herrn Hjalmar Brantling [sic]«, in: BT, 53. Jg., Nr. 394 vom 20. August 1924, in: ebd., Fasz. 89a. Branting nahm zu den Vorwürfen in einer Rede in Gotenburg Stellung und distanzierte sich von dem Wortlaut des Versailler Vertrags, betonte aber die Verantwortung der Militärparteien der Mittelmächte für den Kriegsausbruch (»Antwort Brantings an Delbrück. Ueber die Schuldfrage«, in: BT, o. D. [1924], in: ebd., Fasz. 95.2).

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(ADV). Beide zeigten nach außen hin einen privaten, nicht-amtlichen Charakter, wurden aber finanziert und organisatorisch angeleitet vom AA338. Die ZEK sollte die Schuldfrage vor allem wissenschaftlich untersuchen, während der ADV mehr den Charakter einer Propagandaeinrichtung besaß, die die Thesen zur Schuldfrage in das Volk tragen sollte. Die ZEK wurde am 1. April 1921 ins Leben gerufen und hatte die Aufgaben, »im Geiste strengster Sachlichkeit« alles Material zur Schuldfrage zu bearbeiten, Quellen zu sammeln und sie publizistisch zu verwerten, wissenschaftliche Auskünfte zu erteilen, Arbeiten zu vermitteln, Forscher und Einrichtungen zu vernetzen sowie eine Bibliographie zur Schuldthematik herauszugeben. Zudem wurde eine Vereinigung gegründet, die Wissenschaftler und Politiker, die auf dem Gebiet der Kriegsschuldfrage tätig waren, einander näher bringen sollte. Der eigene Vertrieb von Drucksachen und weitere Propaganda waren ausdrücklich ausgenommen339. Das Ziel war eindeutig: Es sollte auf wissenschaftlicher Basis die These der deutschen Unschuld erörtert werden, um Argumente für die Außenpolitik zu finden. Die klare Abhängigkeit vom AA, die nicht nur finan­ ziell bestand, sondern auch darin, dass die Publizistik kontrolliert wurde, konnte dabei durch die nach außen hin unabhängige Form kaum verdeckt werden. Den Schweizer Arzt Ernst Sauerbeck, dem die Leitung der ZEK zunächst anvertraut worden war, hielt Hans Delbrück für unfähig. Dies machte er allerdings mitunter an Punkten fest, bei denen er selbst einer fehlerhaften Einschätzung aufsaß: Nach dem Kriegsschuld-Prozess 1922 in München etwa vertrat ­Delbrück, wie dargestellt, die Ansicht, nur von Fechenbach sei die Absicht verfolgt worden, die Beleidigungssache in eine politische Demonstration zu überführen. Nachweislich war dieses Ziel in gleicher Weise von Coßmann verfolgt worden, wenn er nicht sogar mit seiner Beleidigung von vornherein nur diese Absicht gehabt hatte (siehe Kapitel IV.2). Delbrück nahm die Prozessdarstellung in den von der ZEK herausgegebenen »Merkblättern«, in der beiden Parteien diese Intention zugeschrieben worden war, zum Anlass für einen heftigen Brief an Sauerbeck. Am 5. August 1922 schrieb er ihm, er mache ihm deshalb »kein [sic] Hehl daraus […], dass ich Sie für Ihre Stellung nicht geeignet halte. Ihren sachlichen Eifer und Ihre Kenntnisse will ich gern anerkennen, aber das spezifische Talent, das ein Posten wie der Ihre erfordert, ist Ihnen offenbar versagt.«340 Zwei Monate zuvor hatte Delbrück auf der Rückfahrt vom Münchener Prozess mit Sauerbeck zusammengesessen und anschließend Max Montgelas 338 Geiss, Kriegsschuldfrage, S. 32, bezeichnet den ADV und die ZEK als »Frontorganisationen« des AA. 339 Entwurf eines Gründungsdokuments der ZEK in: BArch N 1017/52. Siehe auch Jäger, Forschung, S. 49. Die Deutsche Liga für Völkerbund war im Übrigen beteiligt bei der Gründung der ZEK. Unter anderem war die ZEK untergebracht in deren Räumlichkeiten (vgl. Wintzer, Deutschland, S. 225). Zur ZEK vgl. ausführlich Heinemann, Niederlage, S. 95–119. 340 Delbrück an Sauerbeck am 5. August 1922, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Sauerbeck, Bl. 2 f.

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berichtet, dieser sei »in der Unterhaltung sehr sympathisch«. Schon damals aber urteilte er über die damalige Ausgabe des »Merkblatts« negativ und bekannte gegenüber Montgelas, er wolle eine bessere Person in der ZEK341. Auch das Außenministerium hielt Sauerbeck recht bald für ungeeignet342. Als Delbrück im September 1922 bei Friedrich Stieve vorsprach, um eine Neuorganisation der ZEK zu erbitten, erfuhr er, dass es bereits konkrete Vorstellungen für eine Umstrukturierung gab. Neben der auch von dem Beamten eingeschätzten Unfähigkeit Sauerbecks waren es finanzielle Nöte, die hierzu zwangen. Der Plan sah vor, nur noch zwei Beamte zu bezahlen, die von einer ehrenamtlichen Kommission unterstützt werden sollten. Dieser sollten Bernhard Wilhelm von Bülow, Hans Delbrück, der Hallenser Archäologe Georg Karo, Max Montgelas sowie auch Ernst Sauerbeck angehören, um ihm die Kündigung zu erleichtern. »Das ganze ist ein Uebergang [sic] um die wirkliche Leitung an Montgelas zu bringen«, wie Delbrück an Kurt Hahn noch am selben Tag berichtete343. Zwei Tage darauf informierte Delbrück auch Montgelas selbst und berichtete, die Neuformierung sei »beschlossen«. Er halte sie zwar für »absurd«, aber als Zwischenlösung, um Sauerbeck einen gesichtswahrenden Abschied zu ermöglichen und ihm schrittweise die neue Leitung zu übertragen, sei sie geeignet. Das AA habe zugesichert, die finanziellen Mittel bereitzustellen, um Montgelas von München nach Berlin zu holen344. Eine Woche später teilte Delbrück ihm mit, dass nach seinem Vorschlag nun auch Eugen Fischer in das neu zu schaffende Direktorium aufgenommen werden solle345. Doch die tatsächliche Umstrukturierung der ZEK zog sich noch monatelang hin, was letzlich vor allem mit finanziellen Problemen zusammenhing. Ende Oktober 1922 ging Delbrück erneut zu Stieve, da Montgelas immer noch keine offizielle Zusage erhalten hatte. Delbrück wies Stieve darauf hin, dass er dem Plan nur zugestimmt hatte als Möglichkeit, Sauerbeck durch Montgelas abzu­lösen. Stieve äußerte nun die Ansicht, dass auch er dieses Ziel erreichen wolle, entscheidend sei aber für ihn, dass das Direktorium funktioniere und Anweisungen gebe. Delbrück entgegnete, nicht die Anweisung, sondern die Ausführung sei wichtig, und forderte erneut die Geldmittel für Montgelas. Stieve widersprach dem nun mit dem Argument, dies laufe der Absicht einer Verkleinerung der ZEK zuwider. Als Delbrück dann eine Vereinigung der ZEK mit dem ADV ins Spiel brachte, machte Stieve »den mir [Delbrück, d. Vf.] rein doktri­när erscheinenden Einwand, dass das eine [sic] wissenschaftliche und das andere eine propagandistische Institution sei.« In seinem Bericht über dieses Gespräch an Montgelas fügte Delbrück an, dass er anschließend zum Reichs341 Delbrück an Montgelas am 2. Juni 1922, in: ebd., Briefkonzepte Montgelas, Bl. 3 f. 342 Vgl. Heinemann, Niederlage, S. 96. 343 Delbrück an Hahn am 21. September 1922, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Hahn, Bl. 1. 344 Delbrück an Montgelas am 23. September 1922, in: ebd., Briefkonzepte Montgelas, Bl. 9. 345 Delbrück an Montgelas am 30. September 1922, in: ebd., Bl. 12.

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innenminister Adolf Köster gegangen sei, um ihn zur Unterstützung für seine Pläne zu gewinnen. Köster – ein Sozialdemokrat – habe ihm zugestimmt und es für lächerlich gehalten, dass das AA die Mittel verweigerte346. Am 18. November 1923 fand schließlich ein erstes Treffen der Personen des neu zu schaffenden Direktoriums mit Stieve zur Neustrukturierung statt. Montgelas kündigte sich für den Vortag bei Hans Delbrück zur Rücksprache an und äußerte zugleich seine Meinung zu den Plänen: Sofern die Reichsregierung aktiv in den Kampf bezüglich der Schuldfrage eintreten wolle, brauche man den geplanten Apparat unverzüglich. Andernfalls solle man sich vorerst auf die Sammlung von Materialien zur Schuldfrage beschränken, um in späteren Zeiten in die Agitation einzutreten347. Erst am 11. Dezember aber teilte Stieve Delbrück »streng vertraulich« mit, dass das Finanzministerium die Weiterfinanzierung der ZEK genehmigt und Sauerbeck seine Entlassung beantragt habe348. Schließlich wurde die Leitung der ZEK Alfred von Wegerer übertragen, einem 1920 als Major verabschiedeten Berufsoffizier, der bereits seit Herbst 1921 Mitarbeiter der ZEK gewesen war. Das Direktorium zur ehrenamtlichen Unterstützung und wissenschaftlich-politischen Anleitung, dessen Vorsitz dann Delbrück erhielt, wurde wie geplant eingerichtet, allerdings erweitert um den DDP-nahen Sachverständigen im Reichstags-Untersuchungsausschuss Hermann Lutz aus München349. Wegerer verfasste im Januar 1923 eine Denkschrift darüber, wie er sich die künftige Arbeit der ZEK vorstellte. Seine Grundauffassung zur Bedeutung der Kriegsschuldfrage legte er in dem Satz nieder, die Aufklärung über die Kriegsursachen »ist eine historisch-wissenschaftliche, eine politische, eine ethische und nicht zuletzt eine praktische Gegenwartsfrage von größter Bedeutung.« Dieses erste Element, das historisch-wissenschaftliche, sei die Hauptaufgabe der ZEK. Sie verfüge für ihre Tätigkeiten über eine Spezialbibliothek sowie ein eigenes Archiv, habe aber die Herausgabe der »Merkblätter« wegen der Geldentwertung im Sommer 1922 einstellen müssen. Man beschränke sich fortan auf »Wochenberichte«, eine offene Bibliographie, die regelmäßig alles neu erschienene Material zur Kriegsschuldfrage zusammentrage. Diese seien auch das »Hauptbindeglied« zwischen der ZEK und Wissenschaftlern im In- und Ausland. Eine Hauptaufgabe der Mitarbeiter der ZEK sei das Verfassen von Aufsätzen für einflussreiche Zeitungen im Reich. Wegerer forderte, die bisherige Unterstützung durch das Reichsarchiv umzuwandeln in eine offizielle Zusam­ 346 Delbrück an Montgelas am 31. Oktober 1922, in: ebd., Bl. 10 f. 347 Montgelas an Delbrück am 10. November 1922, in: ebd., Briefe Montgelas I, Bl. 62. 348 Stieve an Delbrück am 11. Dezember 1922, in: ebd., Briefe Stieve, Bl. 4. Erst im April 1923 stand schließlich die endgültige Entscheidung über die weitere Finanzierung der ZEK fest: Sie erhielt fortan zwei Millionen Mark monatlich, wovon die eine Hälfte für Personal- und Sachkosten der ZEK und die andere für Publikationen vorgesehen war. Damit gab es zwar keine zusätzlichen Mitarbeiter, aber mehr Mittel für Veröffentlichungen (Stieve an Delbrück am 12. April 1923, in: ebd., Briefkonzepte Stieve, Bl. 7). 349 Jäger, Forschung, S. 49, Anm. 11.

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menarbeit. Er bedauerte, dass die Anzahl an Publikationen zu der Thematik mittlerweile unüberschaubar und damit der wissenschaftliche Kampf um die Kriegsschuldfrage planlos geworden sei. Daher plädierte Wegerer dafür, die ZEK im großen Umfang zu erweitern, um ihre Funktion als Koordinierungsstelle erfüllen zu können. Die politische Aufgabe bei der Kriegsursachenforschung sei der Auftrag des ADV mit dem Ziel der Schaffung einer »Einheitsfront gegen die Schuldlüge«. Weiterhin nötig sei hierbei aber auch die Aufklärung ausländischer Intellektueller, wofür Wegerer die Unterstützung oder der Aufbau kleiner Organisationen im Ausland durch die ZEK vorschwebte. Für den außenpolitischen Kampf schlug er diverse Maßnahmen vor, zu denen er abschließend bemerkte, die öffentliche Meinung werde sich nicht ewig für die Schuldfrage interessieren, deswegen müsse man das Eisen schmieden, solange es noch heiß sei350. Die Arbeit der ZEK verlief aber auch nach Sauerbecks Absetzung nicht reibungs- und kritiklos. Im Sommer 1923 kam es zu einer Kontroverse zwischen Hermann Lutz und Alfred von Wegerer. Auf die Ankündigung Wegerers, dass eine Zeitschrift mit dem Titel »Kriegsschuldfrage« zur wissenschaftlich-publizistischen Erörterung dieses Themas in Herausgeberschaft der ZEK gegründet werden solle, reagierte Lutz zwar grundsätzlich erfreut, äußerte am 25. Juni aber deutliche Kritik hinsichtlich der Zusammenarbeit mit Forschern aus dem Ausland: Da die ZEK eindeutig einen amtlichen Charakter habe, sei es eine »Anstandspflicht«, diejenigen Ausländer, die man um Beiträge für die Zeitschrift bitten wolle, über die Trägerschaft der ZEK zu informieren. Diese Forscher, die in der internationalen Kontroverse um die Kriegsschuld für Deutschland Partei ergriffen, würden in ihren Ländern ohnehin »meistens ausserordentlich [sic] angefeindet«. Deshalb müsse von Seiten Deutschlands alles unterbleiben, »was die Stellung dieser wackeren Leute noch mehr erschweren würde.« Darum dürfe die Herausgeberschaft nicht in den Händen der offiziösen ZEK liegen, ohne die ausländischen Mitarbeiter auf die Finanzierung der ZEK durch das AA hinzuweisen. Lutz kritisierte, dass dieser Beschluss kurzfristig gefasst worden war ohne Konsultation der Direktoriumsmitglieder außerhalb Berlins und erinnerte daran, dass er seine Sicht in der Aprilsitzung vorgetragen hatte. »Nicht Oppositionsgeist, sondern schwerwiegende Bedenken drängen mich zu diesem Schreiben.«351 Wegerer antwortete zwei Tage darauf, Lutz überschätze den amtlichen Charakter der ZEK. Außer der Finanzierung gebe es »absolut keine Bindungen« an das AA. Die Finanzierung der geplanten Zeitschrift erfolge im Übrigen privat, speziell durch die Rhein-Ruhr-Hilfe und die Siemens-Schuckert-Werke sowie auch durch mehrere ausländische Privatpersonen (u. a. Gooch, Fay und Demartial). 350 Achtseitige Denkschrift Alfred von Wegerers vom Januar 1923 mit dem Titel »Der Kampf um die Verantwortlichkeit für die Entstehung des Weltkrieges und Die [sic] Zentralstelle für Erforschung der Kriegsursachen«, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 110. 351 Der gesamte Briefwechsel ist in: ebd.

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Er halte es für »irreführend und schädlich«, im Ausland von dem amtlichen Charakter der ZEK zu berichten. Hierauf entgegnete Lutz am 29. Juni mit einem »Exempel […]: Fordern Sie Herrn Gooch oder Fay auf, einen Beitrag zu liefern, und klären Sie die Herren genau über die Verhältnisse auf, dieselben Herren, die Ihnen Mittel für die Zeitschrift gegeben haben; sagen Sie ihnen, dass die Zentralstelle vom A. A. finanziert ist, dass das Personal vom A. A. bezahlt wird, dass die Räumlichkeiten, Heizung, Beleuchtung, kurzum nahezu alles vom A. A. beglichen wird, dass das A. A. den auswärtigen Mitgliedern des Direktoriums die Reisespesen bezahlt: und wenn dann die Herren erklären, dass sie trotzdem keinen Anstand nehmen, Beiträge für die Zeitschrift zu liefern, erkläre ich mich in dieser Sache völlig geschlagen und werde alle meine Bedenken zurückziehen.«

Als Alternative schlug Lutz vor, die Herausgeberschaft den Personen des Direktoriums zu übertragen und Wegerer die Schriftleitung. Da es aber nun zu spät sei und ihm nicht vorab die Möglichkeit zur Äußerung gegeben worden sei, erkläre er nun für die Akten, keine Verantwortung für die Herausgeberschaft der Zeitschrift übernehmen zu können352. Wegerer ging am 6. Juli auf diesen Vorschlag ein und kündigte für die Oktobersitzung des Direktoriums eine entsprechende Vorlage an. Er bekräftigte aber, es sei ausgeschlossen, die Ausländer zu informieren. Sie würden die Zusammenhänge ohnehin nicht verstehen können und selbst wenn, hätten sie mit Sicherheit keine Bedenken. Als Lutz hierauf am 13. Juli Wegerer zurückschrieb, reagierte er zunehmend gereizt. Er stelle fest, es sei »unfair« gegenüber Ausländern, diese zur Mitarbeit für die Zeitschrift aufzufordern, ohne sie zugleich über die Verbindung dieser zum AA aufzuklären. Auf Wegerers lapidare Äußerung, die Ausländer hätten ohnehin kein Problem mit dieser Information, kündigte Lutz an, drei ihm bekannte ausländische Forscher in Kenntnis zu setzen, wenn er bis zum 18. Juli nichts weiter höre. Wegerer habe dagegen sicherlich keine Einwände. Außerdem forderte Lutz, die Korrespondenz den anderen Mitgliedern des Direktoriums zu überstellen. Wegerer telegraphierte am 16. Juli, er lehne diesen Schritt ab und bitte darum, das Direktorium entscheiden zu lassen. Am selben Tag verfasste er noch einen Brief an Lutz, in dem er das »unfair« als Beleidigung seiner Arbeit interpretierte und den Vorgang Montgelas zuzuleiten ankündigte. Dies tat er noch am selben Tag. Montgelas, stellvertretender Direktoriumsvorsitzender, übersandte den gesamten Briefwechsel am 18. Juli den anderen Direktoriumsmitgliedern mit der Bitte um Stellungnahme353. Ebenfalls am 18. Juli schrieb Lutz aufgrund der Mitteilung Wegerers selber an Montgelas. Er sei der Ansicht, dass Wegerer nicht im Einvernehmen mit dem Direktorium handele. Er bekräftigte erneut seine Ansicht zum Charakter der Zeitschrift und teilte mit, dass ihm Stieve in einer Unterhaltung vor vier Tagen

352 Ebd. 353 Der gesamte Briefwechsel ist in: ebd., Hervorhebung im Original.

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zugestimmt habe354. Am 2. August schrieb Lutz erneut an Montgelas, nachdem ihm dieser auf seinen ersten Brief geantwortet hatte. Die vier Berliner Direktoriumsmitglieder hatten nämlich der Zeitschrift in der geplanten Form zugestimmt, was Lutz nicht gewusst hatte. Er teilte nun mit, er respektiere diese Zustimmung, beharre aber auf seiner nachträglichen Kritik und lehne weiterhin jede Verantwortung ab. Er bat Montgelas, Wegerer seine Entschuldigung für das »unfair« zu übermitteln, das er nicht auf ihn persönlich bezogen hätte. Da es aber bereits häufiger zu Auseinandersetzungen innerhalb des Direktoriums gekommen sei, halte er es für erforderlich, die ZEK vom AA »völlig unabhängig zu machen«355. Diese zwei Briefe leitete Lutz dann an Delbrück weiter mit der Bitte um eine Einschätzung der Zeitschrift356. Eine direkte Stellungnahme von Hans Delbrück innerhalb des Direktoriums ist zwar nicht überliefert. Jedoch lässt sich aus Delbrücks Zustimmung zu der Einrichtung der Zeitschrift in diesem Gremium sowie aus dem Fehlen jeglicher Dokumente im Nachlass über ein Eingreifen Delbrücks in dieser Angelegenheit schließen, dass er die Einschätzung von Hermann Lutz nicht teilte. Im Gegenteil, Delbrück bewarb die »Kriegsschuldfrage« mit überaus positiven Worten: Im »Berliner Tageblatt« zeigte er im Juli seine Freude über die Neuerscheinung der ZEK und lobte die Befähigung Wegerers357. Und in einem Artikel, der ein Jahr später in mehreren Zeitungen erschien, schrieb Delbrück: »Ein Abonnement auf diese Zeitschrift ist die Unterstützung, die jeder Deutsche im Kampf gegen die Schuldlüge leisten kann.«358 Dabei war es in der Tat »unfair«, ausländische Forscher um Zuarbeit zu einem offiziösen Organ zu bitten und ihre Arbeiten damit für außenpolitische Aktivitäten gegen ihre eigenen Länder zu instrumentalisieren, ohne sie hierüber ausreichend aufzuklären. Wegerers Aussage, außer der Finanzierung der ZEK bestünden »absolut keine Bindungen« an das Außenministerium, ist absurd. Die ganze Einrichtung als solche war ein Instrument der amtlichen Außenpolitik. Wegerers Äußerung lässt daher nur zwei Schlüsse zu: Entweder wollte er an dieser Vertuschung mitwirken und verhielt sich dann aber tatsächlich 354 Lutz an Montgelas am 18. Juli 1923, Abschrift in: ebd., Briefe Lutz, Bl. 4–7. 355 Lutz an Montgelas am 2. August 1923, Abschrift in: ebd., Bl. 8–14. 356 Lutz an Delbrück am 2. August 1923, in: ebd., Bl. 15. 357 Hans Delbrück: »Reichstag und Kriegsschuldfrage«, in: BT, 52. Jg., Nr. 317 vom 8. Juli 1923, in: BArch N 1017/2. Auch gegenüber Max Montgelas zeigte Delbrück sich befriedigt über die Zeitschrift (Montgelas an Delbrück am 16. September 1923, in: SBB NL Delbrück, Briefe Montgelas I, Bl. 83–85). 358 Hans Delbrück: »Der Einbruch der Weltkatastrophe«, vierseitiges Manuskript, in: ebd., Fasz. 86a. Der Artikel erschien u. a. im Liebenwerdaer Kreisblatt vom 1. August 1924, in: ebd., Fasz. 89a, dort allerdings ohne den zitierten Satz. Ebenso im Grunewald-Echo, dem Delbrück aber einige Tage später speziell diesen Satz noch nachlieferte (Grunewald-Echo, 25. Jg., Nr. 33 vom 10. August 1924, in: ebd.). Hintergrund für Delbrücks Werbung war vermutlich ein Schreiben Wegerers, mit dem er Delbrück darum bat, in der Presse auf die »Kriegsschuldfrage« hinzuweisen und zugleich auf deren prekäre Finanzierungslage. (Wegerer an Delbrück am 7. Juli 1924, in: ebd., Briefe Wegerer, Bl. 15).

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»unfair«, oder er glaubte wirklich an eine Unabhängigkeit von seinem Arbeitgeber359, was ihn wiederum intellektuell entlarvt. In beiden Fällen war auch er damit keine geeignete Person auf dieser Position. Wenn man schon amtlicherseits eine Kampagne gegen die »Kriegsschuldlüge« in Gang setzte im Rahmen der langfristigen offiziellen Außenpolitik, was kritikwürdig genug ist, musste man die Agitation wenigstens in einer solch untadeligen Weise durchführen, die zu keinem Zeitpunkt einen Anlass zur Kritik wegen Unkorrektheit, Einseitigkeit oder Unwissenschaftlichkeit böte. Es ist deshalb bemerkenswert, dass Hermann Lutz das einzige360 Mitglied im Direktorium war, das diese Dimension erkannte. Für Hans Delbrück bedeutet seine zu vermutende Ablehnung gegenüber Lutz oder zumindest Gleichgültigkeit in dieser Angelegenheit, dass er sich in seiner Arbeit zur Kriegsschuldfrage bisweilen zur Einseitigkeit verleiten ließ. Die Ausrichtung der Zeitschrift wurde übrigens nicht geändert. Ebenso­ wenig zog Lutz weitere Konsequenzen aus seiner Zusammenarbeit mit der ZEK. Anfang 1924 korrespondierten Lutz und Delbrück über ein Gutachten, das Lutz für den Reichstags-Untersuchungsausschusses verfasst hatte. In diesem Zusammenhang äußerte Delbrück, er halte es für sinnvoll, wenn die Direktoriumsmitglieder der ZEK in ihren Aussagen nach außen hin »harmonisieren«. Lutz stimmte dem zu, allerdings nur in einer engen Auslegung, nämlich dem Widerspruch gegen Artikel 231 des Versailler Vertrages. »Das ganze übrige Feld aber, die vielen krausen Linien, die daneben herlaufen, können nach meiner Ansicht leider nie die Möglichkeit zu einer einheitlichen Auffassung von einer Gruppe unabhängiger Forscher bieten. […] [W]ir sollten uns hüten, einer ganz bestimmten Auffassung das Wort zu leihen. Sie könnte eines Tages umgestossen [sic] werden, zum Schaden des ganzen Direktoriums.«361

Delbrück erwiderte: »Ich bin ganz Ihrer Meinung, dass es keinen wesentlichen Schaden tut, wenn die Sachverständigen überdiesen [sic] oder jenen einzelnen Punkt differieren, nur immer wieder deutlich hervortreten, dass sie in der Hauptsache einig sind.«362 Diese Korrespondenz zeigt wieder einmal Delbrücks Anliegen, eine »Einheitsfront« zu schaffen. Dabei wurde er aber häufig missverstanden, in dem Sinne, dass man bei einer solchen Forderung schnell verstehen konnte, dass er keinerlei abweichende Meinung zulasse. Dass er seine Forderung 359 Geiss, Kriegsschuldfrage, S. 37, weist nach, dass Wegerer einen Dienstvertrag als Angestellter des AA hatte. 360 Wilhelm Mommsen, kein Mitglied des Direktoriums, aber bisweilen Autor für die ZEK, störte sich in ähnlicher Weise wie Lutz an der Zeitschrift: Im Herbst 1928 schrieb er Delbrück, er halte es »zu mindest [sic] für unlogisch«, wenn »unsere ›Nationalisten‹ sich auf die ›Pazifisten‹ der Gegenseite berufen« und für die »falsche Taktik«, nur solchen Ausländern Platz in der Zeitschrift zu geben, die den deutschen Standpunkt teilten. So werde die Zeitschrift im Ausland nicht als seriöses Organ wahrgenommen werden können (Mommsen an Delbrück am 31. Oktober 1928, in: SBB NL Delbrück, Briefe Mommsen, Bl. 13–17). 361 Lutz an Delbrück am 9. Januar 1924, in: ebd., Briefe Lutz, Bl. 16 f. 362 Delbrück an Lutz am 11. Januar 1924, in: ebd., Briefkonzepte Lutz, Bl. 1.

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nur eng umgrenzt auf die Abweisung der Behauptung bezog, Deutschland habe planmäßig und vorsätzlich den Krieg entfacht, war offensichtlich auch für viele Zeitgenossen nicht immer verständlich. Das Ziel einer »Einheitsfront« war typisch für die Weimarer Gesellschaft, in vielen Bereichen. Das war mitunter schädlich und stand der Idee einer pluralistischen Demokratie entgegen. Hans Delbrück ist damit als Konservativer in seiner Zeit gekennzeichnet363. Die Zeitschrift »Kriegsschuldfrage« entwickelte sich zum »eigentlichen Forum« der ZEK und erreichte eine Auflage von 2.000–4.000 Exemplaren, wovon jedes vierte Abonnenten im Ausland erreichte. Dabei waren es nur wenige, dafür aber kontinuierlich schreibende Autoren, deren Artikel häufig gleichzeitig in zahlreichen weiteren Presseorganen erschienen364. Erst als Wegerer im Frühjahr 1929 die Zeitschrift umbenannte in »Berliner Monatshefte«, übte Delbrück erstmals Kritik. Er schrieb dem Leiter der ZEK, dieser Schritt sei offenbar dazu gedacht, nun auch andere Fragestellungen im Zusammenhang mit dem Weltkrieg zu erörtern, wie den deutschen Kriegsplan und die Tirpitzsche Flottenpolitik. Der aktuelle Artikel des Admirals Hollweg, der sich mit dem Einsatz der deutschen Flotte im Weltkrieg befasste, solle wohl diese neue Ausrichtung des Blattes unterstreichen. Carl Hollwegs Darstellung sei jedoch bewusst unwahr; durch den Abdruck habe Wegerer diese Sicht nun zum Programm der Zeitschrift erhoben365. Wegerer antwortete in der Hoffnung, Delbrücks Zweifel ausräumen zu können und erklärte die Namensänderung nur mit dem technischen Argument, dass die Verbreitung der Zeitschrift so leichter werde. An der Ausrichtung solle sich nichts ändern366. Für Hans Delbrück hingegen musste die Verbreitung von Thesen wie Hollwegs durch die ZEK ein Warnsignal sein: Die von zahlreichen hohen und höchsten Marineoffizieren betriebene Umdeutung der Vorgänge zum Flotteneinsatz im Weltkrieg war ein gefährliches Element der Dolchstoßlegende. Delbrück hatte sich darüber in den 20er Jahren immer wieder Auseinandersetzungen mit Marinevertretern geliefert (siehe Kapitel V.1) und wandte sich scharf dagegen, wenn deren fatale Deutungen von amtlichen Stellen übernommen wurden. Umgekehrt hatte 1925 ein Artikel Delbrücks 363 Gleichwohl weist Müller, Demokratie, S. 578 f, darauf hin, dass Begriffe wie »Volksgemeinschaft« zeitgenössisch nicht im Sinne einer antiliberalen Exklusion verstanden wurden, sondern häufig genug im Sinne einer Gleichheit und Integration der Bürger in das demokratische Gemeinwesen. Die Umdeutung erfolgte erst durch die Nationalsozialisten. 364 Heinemann, Niederlage, S. 98 f, Zitat S. 98. Noch Ernst Sauerbeck hatte im August 1922 eine Denkschrift erarbeitet, in der er die Gründung einer solchen Zeitschrift vorschlug (Ernst Sauerbeck: »Denkschrift über eine Zeitschrift ›Die Schuldfrage‹« vom August 1922, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 110), erst unter Wegerer aber wurde die Idee dann ab Sommer 1923 umgesetzt. 365 Delbrück an Wegerer am 19. April 1929, in: ebd., Briefkonzepte Wegerer, Bl. 17 f. Dabei hatte Delbrück die Zeitschrift noch 1927 gegenüber Headlam-Morley in Schutz genommen und ihr eine unparteiische Haltung zugeschrieben (Hans Delbrück: »Die englischen Dokumente zum Kriegsausbruch«, in: Zeitschrift für Politik, Bd. XVI, Heft 6 vom Mai 1927, S. 561–570, hier S. 568). 366 Wegerer an Delbrück am 22. April 1929, in: SBB NL Delbrück, Briefe Wegerer, Bl. 60 f.

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in der »Kriegsschuldfrage«, in dem er das Verhalten von Tirpitz im Weltkrieg scharf kritisiert hatte, für erhebliche Erregung in Marinekreisen gesorgt367, was die Einseitigkeit des politischen Diskurses unterstreicht. Zwischen Alfred von Wegerer und Hans Delbrück hatte sich im Laufe der Jahre ansonsten eine funktionierende Zusammenarbeit in der Kriegsschuldfrage entwickelt. Zwar waren es vorrangig Lutz, Montgelas und Schwertfeger, die Arbeiten zur Entstehung des Weltkrieges für die ZEK erstellten368, aber auch Delbrück stand in enger Abstimmung mit der ZEK. Wegerer übersandte ihm immer wieder auch vertrauliche Dokumente zur Kriegsauslösung, erbat Texte von ihm und schickte ihm aktuelle Publikationen für Rezensionen oder Delbrück sandte seinerseits Arbeiten ein369. Die Bedeutung, die der Historiker für die ZEK einnahm, illustrieren zwei Schreiben aus späteren Jahren: Im November 1928 ersuchte die ZEK von Delbrücks Schwiegersohn Ernst Bräuer die Adressen aller zu Hans Delbrücks 80. Geburtstag eingeladenen Gäste, um ihnen das Novemberheft der »Kriegsschuldfrage« mit einer Würdigung des Forschers zuzuschicken370. Und im April 1929 erbat die ZEK ein Bild samt biographischer Notizen von Delbrück anlässlich einer für das Juniheft der »Berliner Monatshefte« geplanten Ehrung derjenigen Personen, die sich im Laufe der zehn Jahre seit Abschluss des Versailler Vertrages besonders in der Agitation zur Kriegsschuldfrage hervorgetan hatten371. Dennoch häufte sich auf verschiedenen Gebieten die Kritik an der Arbeit der ZEK. Schon im Jahr 1924 zeigte sich beispielsweise Montgelas entsetzt über eine neue Publikation der ZEK und schrieb Delbrück, das Direktorium sollte sich lieber auflösen, um nicht kompromittiert zu werden. Von der Zeitschrift »Kriegsschuldfrage« habe er sich ohnehin schon sehr distanziert372. Zwei Jahre später beschwerte er sich über einen ähnlichen Vorgang und klagte bei Delbrück: »Wenn schon das Direktorium stillschweigend zu existieren aufgehört hat, so wird uns von der öffentlichen Meinung doch noch eine Mitverantwortlichkeit zugeschrieben«373. In ähnlicher Weise hatte auch Walther Schücking 1923 von »Fälschung« hinsichtlich einer Veröffentlichung der ZEK gesprochen374. Und Bernhard Schwertfeger schrieb 1927 an Delbrück nach einem Vortrag Gustav Roloffs in der Gesellschaft zur Erforschung der Kriegsursachen: »Was war das für ein trostloser Abend«. Das Referat sei gut gewesen, aber das

367 Wegerer an Delbrück am 21. April 1925, in: ebd., Bl. 21 f. 368 Somit beteiligten sich an der engeren Zusammenarbeit keine ausgebildeten Historiker. Vgl. Jäger, Forschung, S. 49 f. 369 Dokumente dieser Art finden sich in: SBB NL Delbrück, Fasz. 107.2, 110, 120.6 sowie in der Korrespondenz der beiden in: ebd., Briefe Wegerer, Briefkonzepte Wegerer. 370 Wroblewski an Bräuer am 8. November 1928, in: ebd., Fasz. 9. 371 Wegerer an Delbrück am 20. April 1929, in: ebd., Briefe Wegerer, Bl. 59. 372 Montgelas an Delbrück ohne Datum [1924], in: ebd., Briefe Montgelas II, Bl. 1. 373 Montgelas an Delbrück am 27. Mai 1926, in: ebd., Briefe Montgelas III, Bl. 4. 374 Schücking an Delbrück am 21. Februar 1923, in: ebd., Briefe Schücking, Bl. 14.

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»endlose Gepladder, [sic] der Allzuvielen, die auch einmal etwas sagen wollen, zerstörte den ganzen Eindruck.«375 Als Ernst Sauerbeck im Spätsommer 1923 auch seine Tätigkeit im Direktorium beendete, gab es eine Diskussion über die politische Ausrichtung. Am 3. August hatte Wegerer Delbrück telefonisch und brieflich über den Rücktritt Sauerbecks in Kenntnis gesetzt376. Delbrück strebte bei der Frage der Neubesetzung von Sauerbecks Posten eine Einbeziehung politisch Andersdenkender an. Sein Direktoriumskollege Eugen Fischer zeigte sich davon nicht überzeugt: »Bisher nahm ich an, daß es sich dem mehr wissenschaftlichen Charakter der Stelle entsprechend darum handle, wirkliche Sachkenner im Direktorium zusammenzubringen.«377 Montgelas wollte gar keinen nachberufen, da er an dem Sinn der Einrichtung überhaupt zweifelte in Anbetracht des politischen Kurses der Reichsregierung378. Das Direktorium hatte allerdings insgesamt nur eine sehr schwache Bedeutung und war vielmehr eingerichtet worden, um mit der Prominenz seiner Mitglieder das Ansehen der ZEK zu erhöhen. Wirkliche Entscheidungen und Einflussnahme waren ihm nicht zugedacht – es sollte hauptsächlich »Repräsentationszweck[e]« erfüllen und wurde 1928 stillschweigend wieder aufgelöst379. Die Unzufriedenheit mit der Arbeit der ZEK und Alfred von Wegerer im Speziellen hatte 1929 ein Ausmaß erreicht, das Hans Delbrück dazu brachte, seinen Umgang mit dem Leiter auf das Notwendigste zu minimieren. Er verfolgte aber die Strategie, im Sinne der Sache über Persönliches hinwegzusehen und also die ZEK als solche nicht anzugreifen380. In diese Richtung ging auch die Idee Delbrücks Ende 1928, Wegerer eine Ehrendoktorwürde anzutragen. Dies betrieb er über seinen Freund Gustav Roloff in Gießen. Die dortige Fakultät promovierte Wegerer auf Roloffs Antrag hin im Dezember 1928. Die Gründe waren für Delbrück und Roloff ausschließlich politisch: »[I]ch hoffe, die Angelegenheit wird weitere Kreise wieder etwas auf die Kriegsschuldfrage hinweisen«, schrieb Roloff seinem Freund381. Durch diese Auszeichnung des Leiters 375 376 377 378

Schwertfeger an Delbrück am 20. Dezember 1927, in: ebd., Briefe Schwertfeger, Bl. 21. Wegerer an Delbrück am 3. August 1923, in: ebd., Briefe Wegerer, Bl. 10. Fischer an Delbrück am 13. August 1923, in: ebd., Briefe Fischer, Bl. 12. Montgelas an Delbrück am 16. August 1923, in: ebd., Briefe Montgelas I, Bl. 80. Der Ausgang der Kontroverse ist unklar. 379 Heinemann, Niederlage, S. 96. 380 Diese Einschätzung und Haltung geht eindeutig aus einem Schreiben von Montgelas hervor, in dem er Delbrück in diesen Punkten zustimmte (Montgelas an Delbrück am 10. Mai 1929, in: SBB NL Delbrück, Briefe Montgelas IV, Bl. 49–51). Heinemann, Niederlage, S. 109, schreibt dazu: »Die Unzulänglichkeit der Zentralstelle gegenüber kritischen Einwänden der Geschichtswissenschaft hat die wenigen zur Kooperation bereiten Historiker dazu veranlaßt, ihr publizistisches Engagement mit der Zeit einzuschränken oder gar einzustellen.« Delbrück, zunächst »einer der rührigsten Autoren des Instituts«, habe nach 1926 seine Mitarbeit beendet. 381 Roloff an Delbrück am 30. Dezember 1928, in: ebd., Briefe Roloff II, Bl. 70–72. Siehe auch Roloffs Schreiben vom 14. Dezember 1928 und vom 12. Mai 1929, in: ebd., Bl. 66–69, 73 f.

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der ZEK, die Delbrück durch eine größere Feier noch prominenter machen wollte382, beabsichtigte Delbrück, der Propaganda in der Kriegsschuldfrage wieder mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Seine persönliche Kritik an Wegerer stellte er dafür hinten an. Dadurch aber kommt ihm für die auch von Zeitgenossen mehr und mehr kritisierte Arbeit der ZEK eine Mitverantwortung zu. Die vom Schuldreferat geplante Arbeitsteilung zwischen ZEK und ADV hat in der Praxis nur mit häufigen Reibungen funktioniert. Wilhelm von Schweinitz, Präsident des ADV 1923 und 1924, klagte in einem Schreiben an Delbrück im Januar 1924, er sei von dem Verhältnis zur ZEK »nicht besonders befriedigt«. Er erstrebe eine Aussprache hierüber, um im Sinne der Sache zu einer guten Zusammenarbeit zu gelangen383. Zwei Jahre später kam es dann zu einem offenen Konflikt der beiden Institutionen. Dieser hatte sich daran entzündet, dass Alfred von Wegerer, Leiter der ZEK, nicht mehr als Mitglied, sondern nur als Gast mit beratender Stimme zur Kuratoriumssitzung des ADV am 26. Januar 1926 eingeladen worden war. Wegerer fühlte sich düpiert und sagte vollständig ab384. Hans Delbrück, der am 19. Januar von Wegerer um Unterstützung ersucht wurde, wandte sich an Heinrich Schnee, den Präsidenten des ADV seit 1925. Er schrieb, eine reibungslose Zusammenarbeit von ADV und ZEK sei so wichtig, dass er es für sinnvoll halte, die Einrichtungen zu fusionieren. Wenn man dies nicht wolle, müsse aber wenigstens sichergestellt werden, dass ein gutes Verhältnis bestehe. Hierfür sei unter anderem auch eine Personalunion in den Gremien nötig, weshalb er, Delbrück, auch Schnees Aufnahme in das Direktorium der ZEK beantragen werde385. Bereits in den Wochen zuvor hatte es zwischen der ZEK und dem ADV Unstimmigkeiten gegeben: Die ZEK hatte den ADV um Hilfe bei dem Vertrieb ihrer Zeitschrift »Kriegsschuldfrage« in Breslau gebeten. Der ADV hatte sich jedoch einer Vermittlung zu den örtlichen Vereinen verweigert. Empört hatte sich Wegerer deshalb bereits am 18. Januar an Delbrück gewandt mit der Bitte, seinen Einfluss geltend zu machen386. Friedrich Stieve lud nun Alfred Wegerer sowie Hans Draeger, den Geschäftsführer des ADV, zu einer Besprechung bei ihm vor. Es wurde vereinbart, Wegerer auch künftig zu den Kuratoriumssitzungen des ADV hinzuzuziehen, und auch in der Zeitschriften-Angelegenheit wurde eine Einigung erzielt. Eine engere Verzahnung von ZEK und ADV lehnte Stieve gegenüber Delbrück jedoch ab mit seiner bekannten Argumentation, dass beide »einen genau umgrenzten und voneinander getrennten Wirkungskreis besitzen.«387 382 383 384 385 386 387

Delbrück an Wegerer am 11. März 1929, in: ebd., Briefkonzepte Wegerer, Bl. 15. Schweinitz an Delbrück am 16. Januar 1924, in: ebd., Briefe Arbeitausschuß, Bl. 14. Wegerer an Delbrück am 19. Januar 1926, in: ebd., Briefe Wegerer, Bl. 34 f. Delbrück an Schnee am 19. Januar 1926, in: ebd., Briefkonzepte Schnee, Bl. 2 f. Wegerer an Delbrück am 18. Januar 1926, in: ebd., Briefe Wegerer, Bl. 28–33. Stieve an Delbrück am 22. Januar 1926, in: ebd., Briefe Stieve, Bl. 13. In einem Schreiben vom selben Tag teilte auch Wegerer Delbrück mit, dass der Konflikt durch Stieve geklärt worden sei und bedankte sich bei Delbrück für dessen Unterstützung (Wegerer an Delbrück am 22. Januar 1926, in: ebd., Briefe Wegerer, Bl. 36).

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Der ADV war ein Verband von Verbänden. Er wurde am 30. April 1921, fast zeitgleich mit der ZEK, gegründet als ein formal eigenständiger Dachverband, in dem von vaterländischen Verbänden über christliche Gewerkschaften bis hin zum Deutschen Städtetag mehrere tausend deutscher Spitzenverbände organisiert waren. Er sollte die Propaganda der Mitglieder koordinieren und in einer publizistischen Offensive zur Schuldfrage die rechten Verbände von einer zu aggressiven Agitation abhalten sowie die linken mit einbinden. Die Überparteilichkeit »wurde zum Leitprinzip«. Die Finanzierung erfolgte wie bei der ZEK wesentlich durch das AA, ebenso wie auch die inhaltlichen Leitlinien von dort kamen388. Durch die massenhafte Verbreitung von Flugblättern, Broschüren, dem »Merkblatt zur Kriegsschuldfrage« sowie eine intensive Pressearbeit erzielte der ADV eine »Breitenwirkung«, die »kaum zu überschätzen« ist389. Hans Delbrück war Kuratoriumsmitglied des ADV und damit in die inhaltliche Leitung der Propagandastelle eingebunden, wenngleich das Kuratorium nie bedeutenden Einfluss gewann, da die Steuerung beim AA lag. Außerdem beteiligte Delbrück sich selbst rege an der Agitation zur Kriegsschuldfrage. Er hielt vom ADV organisierte Vorträge, wurde als Experte um die Vorprüfung von Publikationen gebeten, verfasste selbst Schriften für Veröffentlichungen des ADV, erhielt Drucksachen zur Werbung in seinem Bekanntenkreis und beteiligte sich an öffentlichen Aufrufen des ADV390. Der ADV hat beispielsweise auch Delbrücks Broschüre »Der Stand der Kriegsschuldfrage« (siehe hierzu Kapitel IV.3) im Sommer 1924 in mehreren hundert Exemplaren gekauft und verbreitet391. Bereits im Dezember desselben Jahres regte das Institut eine Neuauflage bei ihm an und stellte einen finanziellen Zuschuss in Aussicht392. Dies sind Belege dafür, welch hohe Gewichtung der ADV gerade Hans Delbrück in der Schuldpropaganda beimaß. Er schmückte sich nicht nur gern mit dessen Namen, um in seinen eigenen Produkten die Prominenz des Historikers für sich zu vereinnahmen393, sondern Delbrücks eigene Agitation ging Hand in Hand mit der offiziellen. 388 Jäger, Forschung, S. 48. Ausführlich zum ADV vgl. Heinemann, Niederlage, S. 120–154. 389 Heinemann, Last, S. 376. 390 Vgl. die Korrespondenz Delbrücks mit dem ADV, in: SBB NL Delbrück, Briefe, Briefkonzepte Arbeitsausschuß, und in: ebd., Briefe Kurt Lersner. Siehe auch entsprechende Dokumente in: ebd., Fasz. 111 sowie in: BArch N 1017/48. 391 ADV an Delbrück am 15. August 1924, in: SBB NL Delbrück, Briefe Arbeitsausschuß, Bl. 18 f. 392 ADV an Delbrück am 18. Dezember 1924, in: ebd., Bl. 25. Hans Delbrück zeigte großes Interesse an dem Vorschlag und bat um Mitteilung dessen, was er in der Neuauflage ergänzen solle (Delbrück an ADV am 26. Dezember 1924, in: ebd., Briefkonzepte Arbeitsausschuß, Bl. 10). Die Broschüre erschien dann auch wenig später in zweiter Auflage. 393 Dies illustriert z. B. das Glückwunschschreiben Heinrich Schnees zu Delbrücks 80. Geburtstag: »Wir sind stolz darauf, Sie seit unserer Gründung zu unserem Kreise zählen zu dürfen.« (ADV an Delbrück am 11. November 1928, in: ebd., Fasz. 6.2). Umgekehrt hatte Delbrück Heinrich Schnee in seinen Mittwoch-Abend geladen, zu dem Schnee allerdings seit Herbst 1925 nicht mehr ging (Delbrück an Montgelas am 9. September 1925, in: ebd., Briefkonzepte Montgelas, Bl. 25–27).

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Nach dem Rücktritt Kurt von Lersners als Präsident des ADV wurde der Verband Anfang 1925 umstrukturiert und ein Kuratorium geschaffen, welches das Präsidium wählte und Arbeitsrichtlinien erstellte. Hans Delbrück wurde sogleich zum Mitglied berufen394. Es kam dann allerdings zu einer Kontroverse um die parteipolitische Ausrichtung: Max Montgelas, den Delbrück nach Rücksprache mit dem neuen Präsidenten Heinrich Schnee um einen Beitritt in das Kuratorium bat, lehnte seine Berufung ab: Der ADV »sei nicht wirklich paritätisch zusammengesetzt«, ihm fehle ein Vertreter der SPD. Delbrück schloss sich diesen Bedenken an und brachte Otto Braun ins Spiel395. Schnee schrieb­ Delbrück, er sei sehr dafür, im Sinne des »überparteilichen Charakte[rs]« den preußischen Ministerpräsidenten zu gewinnen und bat ihn, bei Braun vorzufühlen396. Eine Woche später sandte Delbrück einiges Material über den ADV an diesen und bat ihn um Beitritt in das Kuratorium: »Es ist so sehr wichtig, dass alle Parteien darin vertreten sind.«397 Otto Braun lehnte jedoch ab. Bereits 1924 hatte Montgelas geklagt, es liege »eine stark innenpolitische Tendenz zu Grunde, man spricht von ›überparteilich‹, handelt aber ›rechtsparteilich.‹«398 Seine Vorbehalte gegenüber einem Eintritt in das Kuratorium nur wenige Monate später entsprachen demnach einer tiefer gehenden negativen Einschätzung der politischen Ausrichtung des Instituts. Diese hatte durchaus ihre Gründe: Wilhelm von Schweinitz schrieb 1924 beispielsweise an Delbrück, er sei der Ansicht, für die deutsche Politik nach Bismarck wäre »die Patentlösung ein Präventivkrieg gewesen«399. Wenn der Geschäftsführer des Hauptagitationsinstituts gegen den alliierten Vorwurf der deutschen Kriegsschuld derartige Meinungen vertrat, war die Einrichtung tatsächlich auf einem gefährlichen Weg. Und wenn also selbst für Montgelas als Vertreter der gemäßigt Rechten der ADV zu weit rechts stand, nimmt es kaum Wunder, dass ein Sozialdemokrat seine Mitarbeit versagte. Umso mehr erstaunt die jahrelange, tatkräftige Mitarbeit von Hans Delbrück. Er kritisierte an der Arbeit des ADV weniger den Inhalt, als mehr das Verfahren: Er empfahl 1924, weniger neue Publikationen zu erstellen, sondern lieber die bewährten massen­ haft zu vertreiben400. Immerhin versuchte er Anfang 1926 erneut, einen Sozial­ 394 395 396 397 398

ADV an Delbrück am 15. Januar 1925, in: ebd., Briefe Arbeitsausschuß, Bl. 26. Delbrück an Schnee am 15. Februar 1925, in: ebd., Briefkonzepte Schnee, Bl. 1. Schnee an Delbrück am 19. Februar 1925, in: ebd., Briefe Schnee, Bl. 2. Delbrück an Braun am 26. Februar 1925, in: ebd., Briefkonzepte Braun, Bl. 2. Montgelas an Delbrück, ohne Datum [1924], in: ebd., Briefe Montgelas II, Bl. 1. Mont­gelas hatte offenbar insgesamt ein diffuses Gefühl: Er schrieb weiter, das Auftreten des ADV mache eine weitere Zusammenarbeit schwierig. »So genau beweisen kann man das nicht, auch nicht öffentlich behaupten.« Ein anderes Mal fragte er bei Delbrück nach, ob auch er vom ADV um einen Beitrag für einen Kalender gebeten worden sei, denn es werde behauptet, man habe sich an alle Parteien gewandt. »Solche Versicherungen hört man häufig, und schließlich kommen doch nur ganz rechts stehende Politiker zusammen.« (Montgelas an Delbrück am 24. August 1924, in: ebd., Bl. 4 f). 399 Schweinitz an Delbrück am 16. Januar 1924, in: ebd., Briefe Arbeitsausschuß, Bl. 14. 400 Delbrück an ADV am 12. August 1924, in: ebd., Briefkonzepte Arbeitsausschuß, Bl. 8.

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demokraten und Montgelas für das Kuratorium zu gewinnen, um einen politischen Ausgleich in dem Gremium herzustellen401. Dennoch lässt sich hieran beobachten, dass auch Delbrück auf der politischen Achse ein Stück weit nach rechts rückte. So wichtig ihm die Zusammenarbeit mit den linksstehenden Kräften im Reich auch war, die Abweisung der »Kriegsschuldlüge« war ihm wichtiger. Eine weitere Behörde, die sich – zumindest teilweise – mit der Kriegsschuldfrage befasste, war die Reichszentrale für Heimatdienst (RfH). Die RfH war in gewisser Hinsicht die Vorläuferorganisation der Bundeszentrale für politische Bildung. Ihre Hauptaufgabe war die politische Bildungsarbeit, das bedeutete vor allem die Aufklärung über den Versailler Vertrag und die Weimarer Reichsverfassung. Zusätzlich übte sie Tätigkeiten aus, die heute der Verfassungsschutz und das Bundespresseamt ausüben: Über ihre 18 Landesabteilungen und ein viele Tausend umfassendes Vertrauensmännersystem im ganzen Reich erhob sie dauernd die politische Stimmung in der Bevölkerung und konnte der Reichsregierung hierüber wichtige Auskünfte erteilen. Aber sie funktionierte auch andersherum, indem sie Öffentlichkeitsarbeit für die jeweilige Reichsregierung betrieb. Die RfH war dabei weitgehend republikanisch eingestellt. Sie war als Behörde der Reichskanzlei unterstellt, allerdings beim AA etatisiert. Im Rahmen ihrer Tätigkeiten zur Bildungsarbeit über die Versailler Nachkriegsordnung nahm die Agitation gegen die »Kriegsschuldlüge« als opinio communis einen wichtigen Raum ein402. Hier gab es bisweilen eine Zusammenarbeit auch mit Hans Delbrück. Diese begann im Januar 1924, als die RfH aktuelle Publikationen an Hans Delbrück sandte mit der Bemerkung, er gehöre zu denjenigen, »bei denen für die Aufklärungsarbeiten der Reichszentrale für Heimatdienst Interesse zu erwarten sein dürfte.«403 Er wurde dann als Experte unter anderem herangezogen für die inhaltliche Prüfung von Veröffentlichungen der RfH zur Schuldfrage vor der Drucklegung404 und trat selber als Autor für die RfH-Zeitschrift »Der Heimatdienst« auf405. Im Dezember 1924 hielt Delbrück einen Vortrag 401 Delbrück an Schnee am 19. Januar 1926, in: ebd., Briefkonzepte Schnee, Bl. 2 f. Auch 1924 hatte er schon darauf gedrungen, Sozialdemokraten mit einzubeziehen: Im Rahmen eines von ihm gehaltenen Vortrags zur Schuldfrage für den ADV bat er darum, auch Gewerkschaftsfunktionäre und SPD-Politiker einzuladen (Delbrück an ADV am 25. März 1924, in: ebd., Briefkonzepte Arbeitsausschuß, Bl. 7). Heinemann, Niederlage, S. 70, schreibt, der ADV sei »zweifellos eine rechtsorientierte Gründung« gewesen. 402 Ausführlich zur Institution RfH vgl. Richter, Reichszentrale; Wippermann, Propaganda. 403 RfH an Delbrück am 17. Januar 1924, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 121.1. Delbrücks Adresse hatte die RfH von Montgelas erhalten. 1928 übersandte die RfH Delbrück eine Rede von Gustav Radbruch zur Verfassungsfeier der Reichsregierung (RfH an Delbrück am 8. September 1928, in: ebd., Fasz. 66.2). Radbruch war Sozialdemokrat und 1921–1923 Reichsjustizminister gewesen. Der Vertrieb seiner Rede belegt also die grundsätzlich republikanische Ausrichtung der RfH. 404 RfH an Delbrück am 16. März 1925, in: ebd., Briefe Reichszentrale, Bl. 4. 405 Diese Halbmonatsschrift hatte eine Auflage von über 40.000 und erreichte hauptsächlich führende Schichten. Zu den Autoren gehörten Persönlichkeiten wie Rudolf Breit-

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zu diesem Thema im Radio, der von der RfH organisiert wurde. Am 27. Oktober hatte er mit der RfH hierüber ein Gespräch, in dem er für ein Honorar von 100 Mark einen zwanzigminütigen Vortrag zum »Kampf um die Schuldfrage« zusagte. Der RfH kam es hierbei darauf an, »die politische und moralische Notwendigkeit unseres Kampfes in der Schuldfrage zu erklären, die Hauptpunkte in der wissenschaftlichen Diskussion herauszuheben und schliesslich [sic] auch kurz den Stand der Erörterungen im Ausland zu skizzieren.«406 Dies deckte sich mit Delbrücks eigenständigem Engagement, sodass er die Anfrage gern angenommen hat. Als Delbrück am 14. Dezember 1924 in den Räumen der »Funkstunde« sprach, begann er wie stets mit dem serbischen Nationalismus, der die Donaumonarchie existenziell bedroht hätte. Die Serben hätten sich zudem mit den Russen verbündet, die die Sprengung der Vorherrschaft Österreich-Ungarns auf dem Balkan ebenfalls gewollt hätten, um ihr eigenes Ziel, die Kontrolle über Konstantinopel, zu erreichen. Die serbisch-russische »Verschwörung war fertig und musste binnen wenigen Jahren zum Weltbrand führen«, zumal Frankreich auch angeblich Kriegsvorbereitungen getroffen habe. Ein scharfes Vorgehen Österreichs gegen Serbien sei unabdingbar gewesen, um den gefährlichen Panslawismus zu brechen. Bei der Gelegenheit hierzu, die sich nach dem Thronfolgermord im Sommer 1914 ergeben hätte, habe Deutschland seinem Verbündeten den Rücken gestärkt, letztlich aber auf eine Lokalisierung des Konflikts hingearbeitet. Der Weltkrieg sei dann nur ausgebrochen des russischen Kriegswillens wegen. Einzelne Fehler der deutschen Diplomatie entschuldigte Delbrück pauschal und meinte, diese im Nachhinein festzustellen, sei »nachträgliche schulmeisterliche Kritik«407. Dieser Vortrag wird aufgrund seiner Verbreitung über das Radio zwar vor allem die wohlhabenderen Schichten erreicht haben, da die Technik zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der Masse verbreitet war408.

scheid, Theodor Heuss, Carl Severing, Gustav Stresemann und Arnold Zweig. Vgl. Richter, Reichszentrale, S. 121–123. 406 RfH an Delbrück am 27. Oktober 1924, in: SBB NL Delbrück, Briefe Reichszentrale, Bl. 3. Siehe auch das Schreiben der RfH vom 3. Oktober [vermutlich ein Fehler und November gemeint, d. Vf.] 1924, in: ebd., Bl. 1 und die »prinzipielle Anfrage« des Radiosenders Funkstunde, ob Delbrück bereit sei, Vorträge zu Themen seiner Wahl zu halten (Funkstunde an Delbrück am 9. Oktober 1924, in: ebd., Briefe Funkstunde, Bl. 1). 407 Achtseitiges Manuskript Delbrücks mit dem Titel »Grundgedanken des Schuldvortrages am 14. Januar 1924«, in: ebd., Fasz. 66.1. Entweder ist hier der Monat falsch angegeben (Delbrück sprach im Radio am 14. Dezember 1924), oder Delbrück hatte bereits im Januar einen Vortrag zum selben Thema gehalten, dessen Manuskript er nun auch als Grundlage für den im Radio nahm (jedenfalls ist dieses Manuskript das, welches er für seinen Radiovortrag benutzte; das geht eindeutig aus der Gesamtakte hervor). 408 Entgegen der weit verbreiteten Meinung war das Radio bis Anfang der 1930er Jahre aufgrund der hohen Kosten ein Medium der Oberschicht. Auch durch die Technik, die die Ausstrahlung lange Zeit auf große Städte beschränkte, war es in der Weimarer Republik kein egalitäres Massenmedium. Vgl. Ross, Media, S. 128–140.

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Gegen die Kriegsschuldlüge

Dennoch konnte Delbrück vor diesem Forum sehr viele ansprechen; die Deutsche Liga für Menschenrechte beispielsweise hörte den Vortrag in ihrem Club gemeinschaftlich an409. Delbrück hatte in seinen Ausführungen seine Sichtweise zu den Kriegsursachen wiedergegeben, wie er sie immer schon vertreten hatte. Deutlich klang sein Vorwurf an Russland und Frankreich durch, wenngleich noch nicht in der Schärfe wie in späteren Jahren. Die Abweisung der Anklage gegen Deutschland war vielleicht berechtigt. Allein deshalb aber einen solchen Vorsatz zum Krieg den anderen Staaten zu unterstellen, war eindeutig nicht haltbar. Dies entsprang der fehlerhaften Einschätzung, dass es an irgendeiner Stelle einen Schuldigen gegeben haben müsse. Damit verkannte auch Delbrück immer wieder die komplexe Verwobenheit des imperialistischen Zeitalters, in dem es keine unmittelbar schuldigen Länder gab. Die Verantwortung für den Ersten Weltkrieg lastete letztlich auf allen beteiligten Staaten, wenngleich auch in unterschiedlichem Maße. Jedenfalls war es von fataler Wirkung, in einem Vortrag zur Kriegsschuld dann auch noch die Erörterung der Fehler der kaiserlichen Regierung mit der Formulierung »schulmeisterliche Kritik« schlicht abzuweisen. Delbrück erkannte grundsätzlich durchaus viele Fehler wie den Flottenbau und den Kriegsplan an, wie er an anderer Stelle immer wieder bekannte. Insofern hat er in seinem Radiovortrag bewusst eine andere Darstellungsweise gewählt. Dies wird seinem generellen Ziel geschuldet gewesen sein, das Volk in eine »Einheitsfront« zur Abweisung der »Kriegsschuldlüge« zu bringen. Um das agitatorisch leichter zu erreichen, meinte er auf die Darstellung komplexerer Zusammenhänge verzichten zu müssen. Insofern war aber das Ziel falsch. Speziell vor diesem Forum, dem Radio, konnte die Wirkung negativ sein: Auch wenn 1924 noch hauptsächlich die wohlhabenderen und damit gebildeteren Schichten diesem Vortrag folgen konnten, war das Radio als Medium der Propaganda wesentlich wirkungsvoller in der Manipulation des Volks, als es eine Zeitung sein konnte. Zwar war es wiederum die Logik dieses Mediums, die Delbrück zu einer vereinfachten Version der Schuldfrage zwang. Aber das Ergebnis war verhängnisvoll, da die Behauptung einer völligen Unschuld Deutschlands nicht nur sachlich falsch war, sondern das deutsche Volk erneut nationalistisch-überheblich prägte. Und genau diese Haltung (in allen Ländern) war es gewesen, die Europa in den Weltkrieg gestürzt hatte. Wollte man also diese wirklichen Kriegsursachen beheben, musste man darauf hinarbeiten, die Völker vom Nationalismus zu befreien. Eine selbstherrliche Behauptung der eigenen Unschuld war das Gegenteil hiervon. Folglich ist dieser Radio-Vortrag innerhalb der Gesamtarbeit Delbrücks zur Kriegsschuldfrage als negativ zu bewerten. Seine sonstigen Reden, die er ab diesem Zeitpunkt häufiger in der Funkstunde hielt, hatten im Übrigen keinen politischen Charakter, sondern waren historischen Themen vergan­gener

409 Lehmann-Rußbüldt an Delbrück am 13. Dezember 1924, in: SBB NL Delbrück, Briefe Lehmann-Rußbüldt, Bl. 59.

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Epochen gewidmet410. Für die RfH war Delbrücks Vortrag nichts als laufendes Geschäft. Sie organisierte fast jeden Sonntag politische Reden in der Funkstunde411. Insgesamt aber nahm die Zusammenarbeit mit der RfH für Hans Delbrück nur einen geringen Platz ein, verglichen mit der ZEK und dem ADV. Bezeichnend ist die Debatte vom Juli 1928 über die Weiterführung des Schuldreferats, als dessen Leiter Friedrich Stieve als Gesandter nach Riga wechselte. Die »Vossische Zeitung« schrieb, man hätte davon ausgehen können, dass das Referat in diesem Zusammenhang aufgelöst würde, da es an politischer Bedeutung verloren habe nach der Herausgabe der Vorkriegsakten und der Aufklärung über die Schuldfrage. Die verbliebene Arbeit würde man auf die anderen Referate verteilen können412. Hans Delbrück antwortete hierauf drei Tage später in der »Deutschen Allgemeinen Zeitung«: Zwar sei es verständlich, dass das Volk kein großes Interesse mehr an der Kriegsschulddebatte habe, da es mittlerweile genügend aufgeklärt worden sei. Aber im Ausland sei man noch nicht durchgedrungen mit dem deutschen Standpunkt. Denn wenn man dort von der deutschen Unschuld überzeugen könne, werde man eine Revision des Versailler Vertrages erreichen. Daher bleibe die Aufklärung über die Kriegsschuldfrage die wichtigste Aufgabe der deutschen Außenpolitik und der historischen Forschung. Dies habe die demokratisch gesinnte »Vossische Zeitung« nicht verstanden und einen »Mangel an nationaler Gesinnung« gezeigt. Dann schrieb er, wie eingangs zitiert: »Die Demokratie ist heute in der Regierung, und man hofft von ihr, dass es ihr gelingen werde, den großen Gedanken der Völkerverständigung zu fördern. Wollte sie aber zu diesem Zweck den Kampf gegen die Kriegsschuldlüge aufgeben, so würde sie damit nicht nur ihren moralischen Kredit im deutschen Volke selber untergraben, sondern auch auf das beste Mittel, die ehemaligen Feindvölker wieder an uns heranzuziehen, verzichten.«413

Hans Delbrück sah, dass die Hauptströmung im Volk die »Kriegsschuldlüge« ablehnte und dass eine Regierung, die hier eine gegensätzliche Meinung vertrat, keinen Rückhalt im Volk haben konnte. Das bedeutete, dass dann auch die Republik als Staatsform vom deutschen Volk nicht anerkannt würde. Dieser Zusammenhang ist zwar nicht von der Hand zu weisen, dennoch hat D ­ elbrück in all den Jahren selber tatkräftig daran mitgewirkt, diese Ansicht im Volk überhaupt erst durchzusetzen. Folglich war dies ein schwaches Argument. Sein 410 Siehe die Vortragsnotizen in: ebd., Fasz. 65, 66 sowie die Korrespondenz mit der FunkStunde, in: ebd., Briefe und Briefkonzepte Funk-Stunde. 411 Vgl. Richter, Reichszentrale, S. 53 f. Außerdem hatte sie mit ihrem stellvertretenden Leiter Wilhelm Ziegler einen Verbindungsmann zum ADV, mit dem sie hinsichtlich der Kriegsschuldfrage zusammenarbeitete (vgl. ebd., S. 41). 412 O. V.: »Immer noch Kriegsschuld-Referat«, in: Vossische Zeitung vom 18. Juli 1928, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 111.2. 413 Hans Delbrück: »Kriegsschuldfrage und Völkerverständigung«, in: DAZ vom 21. Juli 1928, in: ebd., Fasz. 89a. Das Manuskript hierzu ist in: ebd., Fasz. 67.1.

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zweiter Punkt war anders gelagert: Die Völkerverständigung konnte für ihn nur gelingen, wenn die entzweiende Kriegsschuldfrage geklärt wurde. Deshalb forderte Delbrück die Fortführung der Agitation auf diesem Gebiet. Erst wenn das Ausland die deutsche Sichtweise würde übernommen haben und auf dieser Grundlage der Friedensvertrag revidiert würde, konnte für ihn die Welt zu einer echten Aussöhnung gelangen. Aus diesem Grund stellte sich Delbrück Überlegungen wie die der »Vossischen Zeitung«, das Schuldreferat aufzulösen, Zeit seines Lebens energisch entgegen414. In der Praxis der Zusammenarbeit Delbrücks mit dem Schuldreferat, der ZEK, dem ADV und der RfH zeigte sich immer wieder seine Unabhängigkeit. Seine häufig geäußerte Kritik an der Teilung von ZEK und ADV belegt dies. Der ZEK war wohl auch seitens des AA nur eine untergeordnete Rolle zugedacht. Anders lässt es sich nicht erklären, dass diese Einrichtung nur zwei Mitarbeiter erhielt und selbst diese Stellen zeitweise unsicher waren, während die RfH über viele dutzend hauptamtliche Mitarbeiter verfügte415. Am effektivsten arbeitete der ADV, da es ihm gelang, die Zivilgesellschaft einzubinden und auf die amtliche Linie festzulegen. Ein Ziel des AA bei der Gründung von ZEK und ADV war es gewesen, durch eine staatlich gelenkte Propaganda in Sachen Kriegsschuldfrage eine Radikalisierung der äußersten Rechten auf diesem Gebiet zu vermeiden und zugleich die politisch Linke einzubinden. Dies gelang, besonders beim ADV, nur unzureichend: Die SPD wollte nicht zusammenarbeiten mit Kreisen, von denen sie offen als »Vaterlandsverräter« bekämpft wurden, und den Kräften am rechten Rand war die Arbeit des ADV nicht radikal genug416. Auch hier zeigte sich aber eine Übereinstimmung Delbrücks mit der offiziellen Politik: Ihm war genauso an der Schaffung einer »Einheitsfront« gelegen, und er versuchte daher auch, sozialdemokratische Kreise für den ADV zu gewinnen. Gegen die Übermacht der Rechten, die die Sozialisten von der Mitarbeit abhielten, konnte er allerdings auch nicht ankommen. Hans Delbrücks Agitation in der Kriegsschuldfrage ging Hand in Hand mit derjenigen der offiziösen Stellen im Reich. Deshalb wäre es falsch, von einer Instrumentalisierung oder Vereinnahmung Delbrücks durch die amtliche Außenpolitik zu sprechen417. Wann immer er sich zur Zusammenarbeit bereit zeigte, entsprach dies seiner eigenen Überzeugung in der Sache. Vielmehr zeigt diese häufige Kooperation, wie sehr er auch in seiner selbstständigen Publizistik in 414 Allein dieser Vorgang widerlegt übrigens die Charakteristik des Schuldreferats von Imanuel Geiss: »Insgesamt dürfen Existenz und Wirksamkeit des Schuldreferats als eines der bestgehüteten Staatsgeheimnisse der Weimarer Republik gelten.« (Geiss, Kriegsschuldfrage, S. 31) Die »Existenz und Wirksamkeit« war der breiten Öffentlichkeit bekannt, sonst hätte man über diese beiden Punkte in der Presse nicht diskutieren können. 415 Eine Übersicht über die Stellen in der RfH ist in: Richter, Reichszentrale, S. 47, 110. 416 Vgl. Heinemann, Niederlage, S. 136–151. 417 Dies tut z. B. Geiss, Kriegsschuldfrage, S. 33, ohne explizite Nennung von Delbrück, aber eindeutig im Hinblick auf alle dem Schuldreferat zuarbeitenden Forscher.

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Übereinstimmung mit der offiziellen Linie Deutschlands handelte (im Übrigen hatte er sich schon vor 1921, als ZEK und ADV erst gegründet wurden, in diesem Sinne publizistisch hervorgetan). Als führender Experte auf dem Gebiet prägte er diese Publizistik zwar in erheblicher Weise mit, steht aber auch exemplarisch für die deutsche Nachkriegspolitik. Delbrück sah genauso wie die Spitzenbeamten im AA in der »Kriegsschuldlüge« das Fundament des Versailler Vertrages und ging deshalb davon aus, dass dieser Vertrag zusammenbreche, sobald man die deutsche Sichtweise zur Schuldfrage in den alliierten Staaten zur Anerkennung gebracht hätte. Das Engagement in der Kriegsschuldfrage war für Delbrück und die deutsche Politik also nur Mittel zum Zweck der Revision und kein Ziel an sich. Zugleich wird hiermit aber auch eine große Überschätzung deutlich: Denn selbst wenn die Versailler Anklage von den ehemaligen Feindstaaten offiziell als ungenügend anerkannt worden wäre, hätten sich diese Länder kaum nur deshalb auf eine grundlegende Änderung des Friedensvertrags eingelassen. Dieser war im Wesentlichen Ausdruck klassischer Machtpolitik auf der Grundlage des deutschen Zusammenbruchs. Die Schuldanklage erfüllte die Funktion eines moralischen Deckmantels, und in Deutschland war man nicht bereit, diesen Zusammenhang von Niederlage und Friedensbedingungen zu akzeptieren. Auch Hans Delbrück versteifte sich auf die für die alliierte Machtpolitik letztlich nicht ausschlaggebende Kriegsschuldfrage, so sehr er auch als einer der wenigen Konservativen die deutsche Niederlage vollauf anerkannte. So ist festzuhalten, dass Hans Delbrück eine wichtige Persönlichkeit für die amtlichen Propagandastellen war und daher in besonderer Weise mithalf, die »Kriegsunschuldslegende« im deutschen Volk zu festigen. Die wesentlichen Ziele der offiziösen Institutionen – unter anderem die Herstellung einer »Einheitsfront«  – entsprachen den seinen. Er stand hier weiter rechts als andere Konservative wie Montgelas und verfiel bisweilen in Einseitigkeit, wie die Kontroverse Lutz-Wegerer zeigt. Damit stärkte er die gefährliche Tendenz der Selbstgewissheit und Abschottung der Weimarer Gesellschaft, was er eigentlich nicht wollte. Hans Delbrück wandte hier eine zwar erfolgreiche, aber folgenschwere Methode an mit der Trennung von Schuld und Verantwortung. Denn außenpolitisch bewirkte er damit das Gegenteil einer Aussöhnung.

V. Gegen die Dolchstoßlegende »Unserm [sic] Volk hätte das Schlimmste erspart bleiben können, wenn Ihre Stimme mehr Gehör gefunden hätte [sic] als die Sinnlosigkeit der Alldeutschen und der Vaterlandspartei.«1

Mit diesen Worten ehrte der Heidelberger Altphilologe Franz Boll Hans ­Delbrück kurz nach dem Abschluss des Waffenstillstands 1918 und brachte klar auf den Punkt, wer für den deutschen Zusammenbruch die Verantwortung trug: das Rechtslager. Für die Bevölkerung – auch für die führenden Schichten – war der militäri­ sche Zusammenbruch im Herbst 1918 völlig überraschend gekommen. Man suchte deshalb nach Erklärungen für die scheinbar binnen kürzester Zeit so vollständig umgeschlagene Schlagkraft des Heeres. Die Revolution, die tatsächlich die Folge der sich anbahnenden Niederlage war, wurde von rechts rasch umgedeutet zur Ursache des Zusammenbruchs. Damit war die Dolchstoßlegende geboren, die die Gründung der Republik mit der Verantwortung für den verlorenen Krieg verband. Kaum etwas hat Weimar so schwer belastet wie dieses fatale Konstrukt. Von verheerender Wirkung war dabei auch, dass es fast nur Verteidiger der Republik – Sozialdemokraten und Linksliberale – waren, die der Wahrheit auf den Grund zu gehen versuchten. Damit wurde indirekt der Vorwurf des Dolchstoßes an die Republik verstärkt, denn die Rechten aller Coleur gaben sich kaum Mühe, zum Kern der Vorgänge vom Herbst 1918 vorzudringen. So schieden sich von Beginn an die ideologischen Befürworter und Gegner der Republik an der Dolchstoßlegende – sie war damit zum Gradmesser der Zustimmung zum Parlamentarismus geworden. Hans Delbrück war dem marxistischen Historiker Joachim Petzold zufolge der »bedeutendste Gegner der Dolchstoßlegende vom bürgerlichen Klassenstandpunkt aus«2. Er setzte sich vorbehaltlos mit der Niederlage auseinander und entlarvte die Dolchstoßthesen schonungslos als das, was sie waren: ein Lügenkonstrukt. In der Absicht, die Siegeszuversicht im Volk aufrecht zu erhalten, wurde die öffentliche Meinung seit Kriegsbeginn systematisch über die E ­ ntwicklung der militärischen Lage getäuscht3. Mit der rapiden Verschlechterung der Situation 1 Franz Boll an Hans Delbrück am 14. November 1918, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 4. 2 Petzold, Dolchstoßlegende, S. 81. 3 Siehe die bis zuletzt beschönigenden Amtlichen Kriegs-Depeschen in acht Bänden. Vgl. Gatzke, Drive, S. 284. Delbrück schrieb in einem Kommentar zum Gutachten Johann Viktor Bredts über den Reichstag im Weltkrieg: »Die künstliche Täuschung des deutschen Volkes durch die falschen Heeresberichte sei kein Ausfluß unwahrhaftiger Gesinnung, sondern Ausfluß der Annexionspolitik, die von dem deutschen Volke mit viel größerer Energie verworfen worden wäre, wenn man den ungünstigen militärischen Stand gekannt hätte.« (einseitige Niederschrift, ohne Datum [1926], in: SBB NL Delbrück, Fasz. 108.2).

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insbesondere nach der gescheiterten Frühjahrsoffensive von 1918 verschärfte sich die Diskrepanz zwischen tatsächlicher Lage und ihrer Einschätzung im Volk zunehmend. Allerdings traf dies nicht nur auf die breite öffentliche Meinung zu, sondern auch auf den Reichstag, die Regierung und sogar den Kaiser. Auch Hans Delbrück, der führende zivile Militärexperte im Kaiserreich4, konnte sich zwar stets ein eigenständiges Urteil bewahren, was in der Kriegszieldebatte5 immer wieder zum Ausdruck kam. Dennoch überraschte ihn das Eingeständnis der drohenden Niederlage durch die Oberste Heeresleitung (OHL) im September 1918 genauso wie fast alle anderen auch6. Die »totale Desinformation«7 des Volks führte dazu, dass die von der OHL urplötzlich und ultimativ gestellte Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand in Verbund mit der Einleitung eines Regierungswechsels und Verfassungswandels die Bevölkerung und die Truppe geradezu schockartig traf. Bis dahin hatte man an einen deutschen Sieg geglaubt und daher bereitwillig gekämpft8. Mit der Nachricht der unmittelbar bevorstehenden Niederlage schien aber nun jedes weitere Opfer sinnlos. Zusammen mit der enormen materiellen Not – im Deutschen Reich waren während des Krieges hunderttausende Menschen schier verhungert  – musste daher jede weitere Widerstandskraft zusammenbrechen9. Diese tieferen Ursachen führten dann im Oktober 1918 zu den Meutereien auf der Hochseeflotte, als diese den Befehl zum Auslaufen erhielt. Diese breiteten sich dann wie ein Flächenbrand zur Revolution im gesamten Reich aus. Es sind viele Ereignisse und Taten, die erst im Zusammenwirken die vollständige Umdeutung dieser Entwicklungen erzielten und aus der militärischen Niederlage, der die Revolution folgte, die Dolchstoßlegende entstehen ließen, mit der der Revolution die Verantwortung für die Niederlage zugeschoben wurde. Ein wichtiger Aspekt dabei war die zeitliche Parallelität der Waffenstillstandsbitte an die Entente mit der Regierungsumbildung im Reich. Es musste der Bevölkerung erscheinen, als wäre die neue Regierung von Prinz Max 4 So bezeichnet ihn Craig, Delbrück, S. 99. 5 Siehe Kapitel II. 6 Vgl. Craig, Delbrück, S. 106. 7 Deist, Zusammenbruch, S. 231. 8 Im Heer herrschte noch bei Beginn der Frühjahrsoffensive große Zuversicht, da die Truppen einen nahen Frieden erwarteten. Umso stärker schlug die Stimmung dann um in eine massive Enttäuschung, als offenbar wurde, dass der erhoffte Sieg ausblieb. Dies führte zu einem von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkten »verdeckt[en] Militärstreik« enormen Ausmaßes: In den letzten Kriegsmonaten drückten sich circa eine Million Soldaten vor dem Fronteinsatz. Dies hatte allerdings nichts mit irgendeiner defätistischen Agitation zu tun, sondern entsprach dem schlichten Wunsch nach einer Beendigung der Kampfhandlungen, egal zu welchen Bedingungen. Dieser »verdeckte Militärstreik« musste als Vorbote der drohenden Niederlage somit ein dringendes Alarmzeichen für die militärische Führung sein. Eine psychologische Wirkung im Reich hatte er jedoch nicht, da er nicht in die Öffentlichkeit drang. (ebd., S. 219–231, Zitat S. 231). 9 Thoß, Entscheidung, S. 23, stellt zudem fest, dass die annexionistische Propaganda der Vaterlandspartei 1918 bei der Bevölkerungsmehrheit negativ auf die Stimmung gewirkt hat.

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Schuld an den Waffenstillstandsverhandlungen, obwohl sie in Wahrheit nur der »Sündenbock«10 der Militärs war. Max hatte diese fatale Wirkung vorausgesehen und sich deshalb der von der OHL ultimativ vorgetragenen Forderung zunächst widersetzt. Er hatte eigentlich vorgehabt, Fühler für einen Verständigungsfrieden auszustrecken, musste sich dann aber dem militärischen Votum der OHL fügen11. Dass Erich Ludendorff am 26. Oktober 1918 von Wilhelm II. aus der Heeresleitung entlassen wurde und somit die Waffenstillstandsverhandlungen und -unterzeichnung nicht mehr durch ihn als den eigentlich verantwortlichen Militär geschah12, ist ein weiterer Baustein in der Entstehung der Dolchstoßlegende: »Die Bürger hatten den Waffenstillstand dem Militäradel abgenommen und ihn dadurch zugleich an jeder moralischen Reinigung gehindert; nun fiel ihnen erst recht der Abschluß des Friedens zu«, wie es der antifaschistische Schriftsteller Emil Ludwig 1935 formulierte13. Andererseits arbeitete speziell Ludendorff selbst von Anfang an gezielt an dem Aufbau dieses Lügen­ konstrukts mit: »Ich habe aber S. M. [Seine Majestät, d. Vf.] gebeten, jetzt auch diejenigen Kreise an die Regierung zu bringen, denen wir es in der Hauptsache zu danken haben, daß wir so weit gekommen sind. Wir werden also diese Herren jetzt in die Ministerien einziehen sehen. Die sollen nun den Frieden schließen, der jetzt geschlossen werden muß. Sie sollen die Suppe jetzt essen, die sie uns eingebrockt haben!«14

Diese vielzitierte Äußerung Ludendorffs vor seinen Offizieren am 1. Oktober 1918 steht beispielhaft für seine Absicht, die Verantwortung für die Niederlage von sich als »Diktator«15 abzuwälzen auf seine politischen Gegner, die Libera10 Moses, Wirkung, S. 248. 11 Diese Zusammenhänge arbeitete beispielsweise der sozialdemokratische Abgeordnete Eduard David in einer Reichstagsrede am 7. Juli 1922 heraus (VdR 356, S. 8368–8370). Friedrich Meinecke schrieb hierzu rückblickend: »Die militärische Niederlage von 1918 erzwang in den Oktobertagen vieles von dem, was wir vorher gefordert hatten. Wir hatten es uns als freie Gabe der Krone und der bisher herrschenden Schichten verliehen gewünscht. Es verlor nun an innerem Werte und innerlicher Wirksamkeit dadurch, daß es eben durch die Niederlage erzwungen war und mit der Erinnerung an den Zusammenbruch fortan belastet blieb. Auch der Parlamentarismus war darunter« (Meinecke, Straßburg, S. 282). 12 Dass mit Matthias Erzberger ein Zivilist am 11. November den Waffenstillstandsvertrag unterschrieb, entsprach zwar einer Forderung der Amerikaner, die damit den deutschen Militarismus brechen wollten. Aber in der innenpolitischen Wirkung war dieser Rollentausch fatal. Erzberger wurde zur Hassfigur der Rechten und fiel keine zwei Jahre später einem rechtsextremen Terrorakt zum Opfer. 13 Ludwig, Hindenburg, S. 167. Siehe auch Lentin, Comment, S. 236 f. Diesen Zusammenhang beobachtete auch die »Freiburger Tagespost« zehn Jahre nach dem Waffenstillstand: Man hätte Erzberger Offiziere beigeben sollen zur Unterzeichnung, um die Verantwortlichen vor aller Welt zu benennen (Artikel vom 13. November 1928, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 8). 14 Ludendorff am 1. Oktober 1918 vor seinen Offizieren nach der Tagebuchaufzeichnung bei Thaer, Generalstabsdienst, S. 235, Hervorhebungen ebd. 15 Nebelin, Ludendorff, S. 520; Ritter, Staatskunst III, S. 551. Friederike Krüger, Verantwortung, S. 383 f, geht der Begriff der Diktatur hingegen zu weit. Allerdings fußt ihre Arbeit

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len und Sozialisten. Er drängte auf die – durchaus auch von den Amerikanern als Vorbedingung für die Aufnahme von Waffenstillstandsverhandlungen formulierte16 – Forderung nach einem Verfassungswandel, nach einer Parlamentarisierung des Reiches17. Einen Höhepunkt in der Entstehungsgeschichte der Dolchstoßlegende bildete der Auftritt Ludendorffs und Hindenburgs vor dem Untersuchungsausschuss des Reichstags18 1919. Paul von Hindenburg hatte dort am 18. November erklärt, die OHL habe in der »geschlossen[en] und einheitlich[en] Zusammenwirkung von Heer und Heimat […] das Mittel zum Siege« gesehen. Es habe aber durch »Parteiinteressen« eine Spaltung gegeben und revolutionäre Agitation in der Heimat habe schließlich das Heer zu Fall gebracht. Dann wiederholte er den einem englischen General in den Mund gelegten Satz: »Die deutsche Armee ist von hinten erdolcht worden.«19 Dadurch, dass der ehemalige Generalfeldmarschall diese seine Sichtweise öffentlich feststellen ließ, erhielt diese Deutung der Niederlage für viele quasi amtlichen Charakter. Die Bevölkerung, die zumeist den Tatsachen gar nicht auf den Grund gehen konnte20, musste diese Aussage aufgrund der ungebrochenen Autorität Hindenburgs21 als glaubwürdig auffassen. Überhaupt geriet der Auftritt Hindenburgs vor dem Untersuchungsausschuss zu einer einzigen machtvollen Demonstration gegen die Republik22. Für den »Vorwärts« war der Auftritt der »moralisch[e] Bankerot[t] des Militarismus«. Dennoch stellte er keine zwei Monate später fest, dass aufgrund der unzureichenden und verfälschenden Berichterstattung hierüber seitdem die Rechtspresse eine Darstellung verbreitete, »als hätten sich ihre Halbgötter glänzend gerechtfertigt.«23 Die Beobachtung des »Vorwärts« zeigt, wie schnell sich das Meinungsklima zugunsten der Rechten verändert hatte. auf einer recht dünnen Quellenbasis und zeigt zudem einen Mangel an Quellenkritik: So nutzt sie weitgehend nur die Memoirenliteratur der Zwischenkriegszeit, die sie vielfach ungeprüft als wahrheitsgetreue Darstellungen übernimmt. 16 Vgl. Wilsons Noten vom 8., 14. und 23. Oktober 1918, in: Amtliche Urkunden, Nr. 37, 48, 76, S. 85, 109 f, 190–192. 17 Siehe hierzu auch Winkler, Weimar, S. 23; Rauscher, Hindenburg, S. 168–171. 18 Siehe zur Arbeit des Untersuchungsausschusses Kapitel V.2. 19 Hindenburgs Erklärung vor dem Untersuchungsausschuss am 18. November 1919, in: Micha­elis / Schraepler, Ursachen IV, S. 7 f. Der englische General Maurice musste immer wieder herhalten als angeblicher Urheber des Bilds vom Dolchstoß. Tatsächlich entstammte der zitierte Satz der Feder eines Journalisten in einem Kommentar zu einem Artikel von Frederick Maurice in der »Neuen Zürcher Zeitung«. Vgl. Seiler, Dolchstoß, S. 5. 20 Wirsching, Augusterlebnis, S. 198, spricht von einer »Überforderung« der »kollektiv[en Psychologie der Deutschen«, sich objektiv und vorbehaltlos mit der Kriegslage auseinanderzusetzen. 21 Zur Wechselwirkung des Hindenburg-Mythos mit der Dolchstoßlegende vgl. Hoegen, Held, S. 256–258. 22 Vgl. die bildreiche Schilderung bei Ludwig, Hindenburg, S. 190–197. Siehe auch Pyta, Hindenburg, S. 405–409. 23 O. V.: »Zwei Warner«, in: Vorwärts, 37. Jg., Nr. 17 vom 10. Januar 1920, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 119.6.

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Hans Delbrück gehörte zu den wenigen Weimarer Historikern, die energisch gegen die Dolchstoßlegende vorgingen und wurde aufgrund seiner Expertise in militärhistorischen Fragen zu einem der wichtigsten Kämpfer gegen diese fatale Deutung des Zusammenbruchs. Die »Deutschen Nachrichten« aus Sao Paulo gaben Delbrücks Ansprache auf seinem 70. Geburtstag am 11. November 1918 im Jahr 1948 – dreißig Jahre später – wie folgt wieder: »Es kommt nun, fuhr er fort, ungeheuer viel darauf an, ganz gleich, wie auch immer der Friede aussehen wird, dass wir uns klar darüber werden, wie uns dies schwere Geschick treffen konnte. Wir dürfen uns nicht nationalistischen Illusionen hingeben, die uns über die Niederlage und ihre wahren Gründe täuschen; es heisst, sie zu erkennen und daraus zu lernen. Täten wir das nicht, folgten wir den alldeutschen Heissspornen, die bereits am Werke wären, die Tatsachen zu entstellen zugunsten eines falschen Nationalstolzes, so wäre für die Zukunft, vielleicht in einer Generation schon, eine wahrscheinlich dann noch schwerere Katastrophe für das deutsche Volk zu befürchten. So etwa war der Gedankengang seiner Worte, und wer wollte heute sagen, dass sie nicht wahrhaft prophetisch die Zukunft erfassten?«24

Auf den ersten Blick mag es verwundern, dass ein Mann der konservativen Elite nicht die Dolchstoßlegende verbreitete, wie es die meisten seiner Standesgenossen taten. Aber es lag dabei ganz in der Logik der Delbrückschen Auffassungen und politischen Orientierung, dass er sie dekonstruierte. Gehörte sie doch zum Repertoire des alldeutschen Lagers, das das nationale Gedankengut stets übersteigert hatte. Vor den Gefahren, die ein solcher Rechtsruck nach sich ziehen musste, hatte Delbrück schon im Kaiserreich immer wieder gewarnt. 1926 schrieb er, »daß die alldeutsche Bewegung gefährlicher sei als die sozialdemokratische.« Die Alldeutschen hätten zwar den Weltkrieg nicht entfacht, aber einen immer wieder möglichen Verständigungsfrieden verhindert25. Im Grunde war sein Kampf gegen die Dolchstoßlegende die Fortsetzung seiner Agitation in der Kriegszieldebatte: Indem er während des Krieges für einen Verständigungsfrieden geworben und sich damit nicht hatte durchsetzen können, fühlte er sich durch das Scheitern der Siegfriedenspolitik bestätigt und kämpfte gegen dieselben Kreise an, die nun ihrerseits behaupteten, Recht behalten zu haben wegen angeblich defätistischer Propaganda. Im Vorwort zu den 1922 von Brockdorff-Rantzau herausgegebenen »Dokumenten« brachte Delbrück diesen Zusammenhang nochmals auf den Punkt: »Des nach außen gekehrten Chauvinismus, dessen uns die Welt anklagt, sind 24 O. V.: »Hans Delbrück (Zu seinem 100. Geburtstage)«, in: Deutsche Nachrichten, Sao Paulo, 4. Jg., Nr. 403 vom 11. November 1948, in: KULF, FA Delbrück, Z De 53–008. 25 Delbrück, Weltkrieg, S. 404. Bereits 1898 hatte er im Zusammenhang mit der Dreyfus-­ Affäre ganz ähnlich geschrieben: »Das ist ja eben das Wesen und das Entsetzliche des Fanatismus, daß er das Böseste tut, indem er sich selbst weismacht, er tue etwas Gutes.« (Hans Delbrück in seinen Preußischen Jahrbüchern im November 1898, zitiert nach: Aufzeichnung Lina Delbrücks, Abschrift in: BArch N 1017/68, Delbrücks Leben, Bd. IV 1898, S. 431).

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wir nicht schuldig; wir litten aber an einem nach innen gekehrten Chauvi­ nismus […] und diese innere Verirrung vergiftete auch unsere auswärtige Politik.«26 Das ist das zentrale Motiv, das ihn antrieb in der Beschäftigung mit dem Kriegsverlauf: Er war überzeugt davon, dass »das deutsche Volk nicht gesunden kann, solange es sich nicht zur vollen Wahrhaftigkeit in diesem Punkte durchringt.«27 Es ging ihm um eine Aufklärung des Volkes, letztlich mit dem Ziel, zu einer vernunftgeleiteten Außenpolitik zurückzukehren. Schon in seiner »Weltgeschichte« hatte er sich mit Dolchstoßlegenden allgemein in der Geschichte auseinandergesetzt und diese als typisches Merkmal einer Niederlage herausgearbeitet28. Delbrück bezweifelte zwar nicht das Vorhandensein revolutionärer Agitation mit defätistischer Stoßrichtung während des Krieges. Aber er legte dar, dass diese kaum oder keinen Einfluss auf die militärische und politische Entwicklung gehabt hatte29. Er beschäftigte sich intensiv mit den Hintergründen der Ereignisse des Jahres 1918, und weil er einer der überzeugtesten Anhänger des alten Regimes war, wurde er auch zu einem der gefährlichsten Gegner von­ Ludendorff und seinesgleichen. Die Anklagen gegen die Rechten mussten aus dem Mund eines exponierten Vertreters des Kaiserreichs wesentlich schärfer wirken, als beispielsweise von den Sozialdemokraten, die vor 1914 häufig genug als »vater­landslose Gesellen« ausgegrenzt worden waren. Delbrück strebte danach, den Tatsachen auf den Grund zu gehen und wollte Männern wie Ludendorff und Tirpitz nicht durchgehen lassen, dass sie sich mit Hilfe der Dolchstoßlegende ihrer Verantwortung zu entledigen versuchten. Sie waren in seinen Augen aber als militärische und politische Führer im Krieg nicht nur verantwortlich für die Niederlage, sondern geradezu schuldig. Denn Delbrück war seit 1914 davon überzeugt, dass Deutschland zu wenig dafür getan hatte, um einen Verständigungsfrieden zu erzielen. Schuld hieran waren seiner Meinung nach die Militärs, die die Oberhand über die politische Leitung gewonnen und in Selbstüberschätzung eine Siegfriedenspolitik verfolgt hatten. Deshalb formulierte Delbrück schwere Anklagen an diese Männer und drehte deren Vorwurf des Dolchstoßes kurzerhand um in einen Vorwurf der »Kriegsverlängerung«30, 26 Hans Delbrück: Vorwort, in: Brockdorff-Rantzau: Dokumente, Berlin 1922, S. IX–XVII, Sonderdruck in: SBB NL Delbrück, Fasz. 86a. 27 Hans Delbrück: »Abbau des Völkerhasses«, in: Neues Wiener Tagblatt, Nr. 352 vom 25. Dezember 1923, in: ebd., Fasz. 88e. Vier Jahre zuvor schon hatte Delbrück geschrieben: »Ehe sich nicht der deutsche Patriotismus unverwischbar vom alldeutschen Patriotismus getrennt hat, kann Deutschland nicht wieder gesunden.« (Hans Delbrück: »Der Waffenstillstand«, in: PJb 177 (1919), S. 463–468, Zitat S. 468). 28 Delbrück, Weltgeschichte II, S. 105. 29 Diese Argumentationslinie arbeitete er beispielsweise im Dolchstoßprozess 1925 aus. Siehe Kapitel V.3. 30 Delbrück äußerte im »Vorwärts« die Ansicht, die »Kriegsverlängerung« sei eine Rechtfertigung für die Revolution (Hans Delbrück: »Der Münchener Eisner-Prozeß«, in: Vorwärts, 39. Jg., Nr. 223 vom 12. Mai 1922, in: BArch N 1017/49).

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für ihn »das Hauptproblem des Weltkrieges«31: In einem Artikel für die »Deutsche Allgemeine Zeitung« kurz nach Abschluss des Versailler Vertrags schrieb er, ein Verständigungsfrieden auf der Basis des status quo ante sei nach urkundlichem Beweis möglich gewesen32. An anderer Stelle klagte er die Strategie an, der Öffentlichkeit immer wieder ein beschönigendes Lagebild vermittelt zu haben: »Der Kaiser wurde veranlaßt, dem Feldmarschall Hindenburg dieselbe Auszeichnung zu verleihen, die einst Fürst Blücher für Belle-Alliance erhalten hatte. Wie hätte man da dem deutschen Volke einen Frieden auf dem status quo ante begreiflich machen können?«33

Dass die Thematisierung der schweren Fehler der militärischen Führung im Meinungsklima der Weimarer Republik nicht erwünscht war, zeigt beispielhaft die Ablehnung eines Delbrückschen Artikels mit dem Titel »Kriegsschuldfrage und Kriegsverlängerungsfrage« durch die »Deutsche Allgemeine Zeitung« 1926: Es sei »nicht opportun, die Debatte weiterzuspinnen«, schrieb deren Chefredakteur Fritz Klein zur Begründung34. Sein Freund Max Montgelas schrieb ihm, er halte die Idee der Sache nach für völlig richtig, taktisch sei sie allerdings hoffnungslos: »Ein Zweifrontenkampf nun, beim Kriegsausbruch gegen links, bei der Kriegsverlängerung gegen rechts ist aussichtslos.«35 Wie wenig die korrekte Deutung der Umstände der Niederlage von 1918 im kollektiven Gedächtnis der Weimarer Republik verankert war, zeigt exempla31 Hans Delbrück: »Payers Kriegserinnerungen«, in: Frankfurter Zeitung, 68. Jg., Nr. 14 vom 6. Januar 1924, in: BArch N 1017/2, SBB NL Delbrück, Fasz. 89b. Weiter schrieb er, eine Verständigungspolitik hätte die Regierung »nur durchsetzen können in einem Kampf auf Leben und Tod mit der Obersten Heeresleitung«. Bereits 1919 schrieb Delbrück, die Armee müsse »unpolitisch« sein. »Daß sie es während des Krieges nicht geblieben ist, ist ja der wesentlichste Grund unserer endlichen Niederlage geworden.« (Hans Delbrück: »Die Regierung Bauer-Noske-Erzberger«, in: PJb 177 (1919), S. 298–301, S. 301). 32 Mit Blick auf die Debatte über die Kriegsschuld meinte er, »die Frage verliert an Wichtigkeit, wenn man sich […] vergegenwärtigt hat, wie furchtbar unsere Versündigung gewesen ist, indem wir den Krieg nicht rechtzeitig beendigten.« (Hans Delbrück: »Die Enthüllung über den Verständigungsfrieden«, in: DAZ, 58. Jg., Nr. 356 vom 27. Juli 1919, in: BArch N 1017/2, SBB NL Delbrück, Fasz. 89b). Zeitgleich schrieb er auch in den »Preußischen Jahrbüchern«, ein »Verständigungsfriede« sei möglich gewesen, »aber er fand ein nahezu unüberwindliches Hindernis an der alldeutschen Kriegspsychose« (Hans Delbrück: »War unser Niederbruch unabwendbar?«, in: PJb 177 (1919), S. 301–311, Zitat S. 303). 33 Delbrück, Weltkrieg, S. 405. »Belle-Alliance« wurde von der preußischen Geschichtsschreibung die Schlacht bei Waterloo am 18. Juni 1815 genannt. In dieser erlitt Napoleon eine vollkommene und endgültige Niederlage. Das preußische Kontingent, das die Schlacht entschied, wurde von Generalfeldmarschall Blücher kommandiert. Dieser wurde daraufhin im kulturellen Gedächtnis der Deutschen zu einem populären Helden und erhielt vom preußischen König Friedrich Wilhelm III. den »Blücherstern«, eine Sonderform des Eisernen Kreuzes mit goldenen Strahlen, die in der Form nur noch Hindenburg verliehen wurde. 34 Fritz Klein an Hans Delbrück am 7. Oktober 1926, in: SBB NL Delbrück, Briefe DAZ, Bl. 5. 35 Montgelas an Delbrück am 23. Oktober 1926, in: ebd., Briefe Montgelas III, Bl. 9–11.

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risch ein Schreiben des Redakteurs der »Frankfurter Zeitung«, Wilhelm Cohn­ staedt, an Hans Delbrück vom Herbst 1928: Er erbat anlässlich der zehnjährigen Wiederkehr einen Artikel über den militärischen Zusammenbruch, da die Rechtspresse wieder ihre Entstellungen bringen werde: »Um so notwendiger scheint uns zu sein, dass wir rechtzeitig an die Verantwortlichkeit Ludendorffs erinnern. Es wird jedenfalls besser sein, die Geschehnisse von damals vorher historisch ins Gedächtnis zu rufen, als nachher erst gegen die tendenziösen Entstellungen polemisieren zu müssen.«36

Die Dolchstoßlegende hatte sich als die dominante Deutungsvariante über die Ereignisse von 1918 in der Weimarer Republik durchgesetzt. Dies war deshalb so gefährlich, weil mit ihr die Niederlage mit der Verfassungsform der Republik und der Verantwortung für den als ungerecht empfundenen Versailler Vertrag verbunden wurde. Verstärkt hat dies der Ausspruch des sozialdemokratischen Reichsministerpräsidenten Philipp Scheidemann bei Bekanntwerden der Friedensbedingungen im Mai 1919: »Welche Hand müßte nicht verdorren, die sich und uns in diese Fesseln legt?«37 Diese in der Stimmung der Augenblicksempörung gesprochenen Worte zeitigten eine fatale Wirkung: Da Deutschland am Ende doch nichts anderes übrig blieb, als den Vertrag zu unterzeichnen, musste der Vorwurf der »verdorrten Hand«, den die Vertreter der Republik ausgesprochen hatten, auf sie selbst zurückfallen. Damit hing fortan Weimar der Makel des Versailler Vertrags an, obwohl das kaiserliche Deutschland hierfür verantwortlich war. In ähnlicher Weise galt dies auch für das Regierungssystem: In der Lesart der Dolchstoßlegende war die neue deutsche Staatsform von der Revolution hervorgebracht worden und somit für die Niederlage verantwortlich. Delbrück hingegen betonte an verschiedenen Stellen, »dass es der siegreiche Feind gewesen ist, der uns diese Staatsform auferlegt hat. und [sic] dass der Nationalversammlung nichts übrigblieb, als den Willen des Feindes in Paragraphen zu giessen [sic]«38. Seine Absicht in dieser Rezeption des Systemwechsels war vor allem eine Inschutznahme der Sozialdemokraten, die immer wieder von rechts angefeindet wurden, da sie angeblich die Revolution herbeigeführt hätten. Tatsächlich war die sozialdemokratische Führung vom Ausbruch der Revolution überrascht gewesen und hatte durch ihr verantwortungsbewusstes Agieren in den kritischen Wochen eine beachtliche staatsmännische Haltung 36 Cohnstaedt an Delbrück am 26. September 1928, in: ebd., Briefe Cohnstaedt, Bl. 13. 37 Philipp Scheidemann in einer Rede vor der Nationalversammlung in der Aula der Berliner Universität am 12. Mai 1919, in: VdR 327, S. 1083. 38 In diesem maschinenschriftlichen Konzept eines Briefs an Theodor Wolff hatte Delbrück handschriftlich ergänzt: »der, [der »Wille des Feindes«, d. Vf.] man mag den republikanischen Idealismus noch so hoch einschätzen, jedenfalls ein wesentliches Moment war.« (Delbrück an Wolff am 11. August 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Wolff, Bl. 11). Ähnlich hieß es auch in einem Manuskript Delbrücks für die Vorlesung »Einführung in die Politik« von 1920 (durchgesehen im Mai 1926), Deutschland sei »die Republik von außen auferlegt« worden (in: ebd., Fasz. 85.1).

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gezeigt, mit der sie Deutschland vor einem Abgleiten in anarchische Zustände bewahrt hat39. So schrieb auch Delbrück, die SPD-Führung hätte die Revolution »fast ausnahmslos sehr gern vermieden. Der Regierungswechsel ist dem deutschen Volke auferlegt worden durch den siegreichen Feind und wurde durchgeführt durch eine elementare Bewegung der zur Verzweiflung gebrachten Massen. Es war viel mehr eine Meuterei als eine Revolution.«40

Delbrücks Behauptung, die neue Verfassungsform sei Deutschland oktroyiert worden, ist zwar weit überzogen – wenngleich der Druck insbesondere der USA, innenpolitische Reformen herbeizuführen, sicherlich ein wesentliches Moment gewesen ist41. Aber allein schon ein Blick auf den Ausgang der Wahlen zur verfassungsgebenden Nationalversammlung dokumentiert den Reformwillen der Masse der Deutschen: Hier votierten drei Viertel der Bevölkerung mit der Stimmabgabe für die MSPD, die DDP und das Zentrum für mehr oder minder republikanisch orientierte Parteien42. Aber Delbrück ging es um eine Ehrenrettung der Sozialdemokratie, die in dieser Phase versucht hätte, »zu retten, was zu retten war. Nichts verkehrter, als ihr daraus einen Vorwurf zu machen.«43 Im Folgenden sollen anhand von vier Beispielen (der Person Ludendorff, der 39 Vgl. Winkler, Weimar, S. 23–32. 40 Hans Delbrück: »Graf Waldersee und Wilhelm II.«, in: Neue Freie Presse, Nr. 21192 vom 8. September 1923, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 88c. Bereits Anfang 1919 schrieb Delbrück, die Sozialdemokraten hätten »nach der Revolution die Regierungsgewalt ergriffen mit dem inneren Recht, daß sie die einzige Partei waren, die jener falschen Politik, die uns ins Verderben geführt hat, stets widersprochen hat […]. In bewußter oder unbewußter Anerkennung dieses moralischen Anspruchs« habe sich »das gesamte deutsche Volk […] der neuen republikanischen Regierung unterworfen.« (Hans Delbrück: »Die Folgen der Revolution«, in: PJb 175 (1919), S. 140–146, Zitat S. 140). 41 So schrieb sogar der Vater der Weimarer Reichsverfassung, Hugo Preuß, Ende September 1918 an Delbrück, die USA und Großbritannien zwängen Deutschland nun, »den Parlamen­ tarismus zu intronisieren, was – fürchte ich – weniger gut gelingen kann.« (Preuß an Delbrück am 28. September 1918, in: ebd., Briefe Preuß, Bl. 15). 42 Das Wahlergebnis findet sich bei Büttner, Weimar, S. 802. Dagegen stellt allerdings Bollmeyer, Weg, S. 435F, fest, dass die DDP bei den Wahlen deutlich überbewertet worden sei und die im Grunde nur auf DDP-Programmatik fußende Verfassung damit über linksliberale Kreise hinaus kaum zu positiver Anerkennung kam. Die Verfassung habe von Anfang an nicht dem Mehrheitswillen des Volkes entsprochen. 43 Hans Delbrück: »Der Dolchstoß-Prozeß«, in: Berliner Börsen-Courier vom 3. Dezember 1925, in: BArch N 1017/60. In einem Beitrag für die linksliberale Frankfurter Zeitung schrieb er 1925, dass die SPD die einzige Partei gewesen sei, die während des gesamten Krieges konsequent auf dem Boden eines Verteidigungskrieges gestanden habe, und somit die »Umfälschung« in einen Eroberungskrieg nicht nur durch die Rechtskreise (OHL, Alldeutsche, Wirtschaftsverbände etc.), sondern »auch unter Mitschuld« des Reichstags entstanden sei (Hans Delbrück: »Schuldfragen«, in: Frankfurter Zeitung vom 24. Mai 1925, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 89a). Delbrücks Schüler Martin Hobohm erklärte sich die Attacken der Rechtskreise auf die Republik psychologisch: »Der schwarzweißrote Bürger braucht, um vor sich bestehen zu können, […] eine blutlose, sinnlose, alberne, verbrecherische Republik.« (Hobohm an Molinski am 23. August 1928, in: ebd., Briefe Hobohm V, Bl. 53–56).

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Arbeit des Untersuchungsausschusses des Reichstags, des Dolchstoßprozesses und des Reichsarchivs) die wichtigsten Einzelaspekte des Delbrückschen Kampfes gegen die Dolchstoßlegende dargestellt werden.

1. Der Kampf gegen Ludendorff »[E]s gibt nicht [sic] was Deutschland heute mehr schadet als die Vorstellung [sic] die Partei Ludendorff könne wieder ans Regiment gelangen.«44

Mit diesen an Kurt Hahn, den engen Mitarbeiter des Prinzen Max, gerichteten Worten drängte Hans Delbrück jenen im Herbst 1922 dazu, möglichst bald seine Memoiren zu veröffentlichen45. Deutlich wird, welch hohen Stellenwert Delbrück dem Kampf gegen Erich Ludendorff beimaß und warum er in ihm eine so große Gefahr sah. Im Ausland gab es durchaus Befürchtungen vor einem Wiederaufstieg des ehemaligen Ersten Generalquartiermeisters: So gibt es beispielsweise Äußerungen wie die des Generals Edmond Buat, 1918 Stabschef im Grand Quartier Général, der 1920 Anzeichen für eine Rückkehr von Ludendorffs Beliebtheit sah: »Wer weiss, ob in den Unruhen, welche die Zukunft für Europa haben mag, nicht Raum für einen deutschen und vielleicht für einen europäischen Diktator werden mag.«46 Anschauungen wie diese waren für Hans Delbrück der entscheidende Grund, warum er so engagiert gegen Ludendorff vorging und keine menschliche Schonung walten ließ. Zwar kritisierte er ihn zunächst in seiner Eigenschaft als einen Hauptschuldigen für den deutschen Zusammenbruch. Wie oben dargestellt, wollte er ihm die Flucht aus der Verantwortung nicht durchgehen lassen. Weil Delbrück so sehr am alten Reich hing, wollte er die Schuldigen vor aller Welt festsetzen. Aber bei Ludendorff kam Anfang der 20er Jahre hinzu, dass dieser sich nach seiner kurzen Exilzeit in Schweden wieder intensiv in die politischen Tagesgeschäfte in Deutschland einmischte47. Für Delbrück war dies aus innen- und außenpolitischen Gründen ein Alptraum: Er befürchtete, dass insbesondere Frankreich und England in einer erneut starken Rolle des Generals eine Restaurierung und einen Kurs der Revanche sehen würden. Bestrebungen 44 Hans Delbrück an Kurt Hahn am 4. Oktober 1922, in: ebd., Briefkonzepte Hahn, Bl. 2. 45 Daran wird im Übrigen auch deutlich, dass die Memoiren-Veröffentlichung des Prinzen Max wesentlich als geschichtspolitisches Instrument gedacht war. Vgl. hierzu Machtan, Autobiografie. 46 Abschrift einer Äußerung Buats über Ludendorff in Lausanne 1920, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 121.1. Diese Worte klingen im Rückblick ganz wie eine Prophezeiung des kommenden Adolf Hitlers. Da aber ausdrücklich Erich Ludendorff gemeint war, wird deutlich, welch Potential man ihm Anfang der 20er Jahre zuschrieb. 47 Hierzu, v. a. zu Ludendorffs Rolle als Objekt und Quelle der Militärgeschichtsschreibung, vgl. Pöhlmann, Kriegsgeschichte, S. 259–267.

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dieser Art lehnte Delbrück grundsätzlich ab48. So schrieb er beispielsweise an den ehemaligen Kronprinzen Wilhelm 1922, es sei notwendig, Tirpitz und­ Ludendorff »mit aller Entschiedenheit zu bekämpfen, da die deutsche Weltstellung nicht wieder hergestellt werden kann,« solange im Ausland die Meinung vorherrsche, diese Männer würden wieder eine politische Rolle spielen49. In einem elfseitigen Aufsatz setzte Delbrück 1922 seine Gedanken über die Bedeutung Ludendorffs für die Rolle Deutschlands in der Welt ausführlich auseinander: Da Frankreichs Haltung geleitet werde durch die Angst vor einem deutschen Revanche-Krieg und Ludendorff an der Spitze dieser Bewegung stehe, sei der Nachweis entscheidend, dass Ludendorff diese Stellung nicht habe. Auf der Basis der Arbeiten des 4. Unterausschusses des Reichstagsuntersuchungsausschusses analysierte er Ludendorffs Frühjahrsoffensive von 1918 und kritisierte schwere Fehler in der Konzeption und der Durchführung. Im Hinblick auf sein Verhalten zu Friedensmöglichkeiten während des Krieges sprach Delbrück von »bewusster Unehrlichkeit« und fragte: »Kann es eine grössere Ruchlosigkeit geben?« Er resümierte, Frankreich könne beruhigt sein, denn solch ein Mann könne keine bedeutende Rolle mehr spielen50. Auch im Innern kam für Delbrück in den Anfangsjahren der Republik eine Restauration der alten Kräfte grundsätzlich nicht in Frage: »Wir werden jetzt regiert von den Sozialdemokraten, weil sie mit ihren Anschauungen recht behalten haben«51. Einen Erich Ludendorff als Hauptverantwortlichen für die vorangegangene Katastrophe aber erneut eine herausragende Rolle spielen zu sehen, war für Delbrück nicht akzeptabel. In einem Schreiben an Prinz Max von Baden im Sommer 1925, also zu einem Zeitpunkt, als von Ludendorff mittlerweile keine wesentliche politische Gefahr mehr ausging, legte Delbrück rückblickend noch einmal seine Motivation dar: Für Deutschland schwebe ihm eine »wiederAnknüpfung [sic] an die Tradition in den republikanischen Formen« vor. Die »wertvollen conservativen Kräfte« seien aber diskreditiert durch Männer wie Tirpitz und Ludendorff, »die durch ihre Unfähigkeit und Gewissen­losigkeit unser Verderben heraufbeschworen haben«. Um das Positive aus dem alten Reich nutzbar zu machen für das neue, müssten die negativen Erscheinungen deutlich 48 Zu seinen allgemeinen außenpolitischen Überlegungen siehe Kapitel III.1.c). 49 Delbrück an Kronprinz Wilhelm, ohne Datum [1922], in: BArch N 1017/57. Wilhelm zeigte sich »schmerzlich berührt« über Delbrücks Ludendorff-Kritik (Wilhelm an Delbrück am 15. Juni 1922, in: ebd.). Auch an Kurt Hahn schrieb Delbrück in ähnlicher Weise über die Furcht im Ausland, Deutschland sinne auf einen Revanche-Krieg: »Eins der wenigen Mittel diese Vorstellung zu bekämpfen, ist der immer erneute Hinweis darauf [sic] dass Luden­dorff nicht die Qualitäten und nicht das Vertrauen hat [sic] der Führer in einem Revanchekrieg zu sein.« (Delbrück an Hahn am 21. September 1922, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Hahn, Bl 1). 50 Hans Delbrück: »General Ludendorff«, ohne Datum [1922], in: BArch N 1017/18. Ob dieser Aufsatz publiziert worden ist, lässt sich nicht nachvollziehen. 51 Hans Delbrück: »Waffenstillstand.  – Revolution.  – Unterwerfung. Republik«, in: PJb 174 (1918), S. 425–442, Zitat S. 435.

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ausgemerzt werden. Darum habe er für den General »keinerlei Schonung walten lassen.«52 Am bedeutendsten in seiner Agitation gegen Ludendorff war die im Frühjahr 1922 publizierte Broschüre »Ludendorffs Selbstporträt«. Diese rund 60 Seiten lange Abrechnung mit Ludendorff hatte er »Selbstporträt« genannt, da sie sich im Wesentlichen auf Ludendorffs eigene Äußerungen stützte53. Motiviert hierzu hatte ihn zuletzt Ludendorffs neuestes Buch »Kriegführung und Politik«54. Hier hatte jener nicht nur seine eigenen Handlungen im Krieg gerechtfertigt, sondern auch seine Mitarbeiter und einzelne Armeeführer der Unfähigkeit geziehen sowie das Volk mit der Dolchstoßlegende beleidigt. Delbrück bemerkte hierzu: »Wir anderen glauben, daß das deutsche Volk und das deutsche Heer während des Weltkrieges im Tun und Leiden einen Heroismus bewährt hat, der von keinem Volk und zu keiner Zeit der Weltgeschichte übertroffen worden ist. Wenn der Mann, dessen Führung es sich anvertraut hatte, es jetzt in dieser Weise beschimpft, so mag man das durch den leidenschaftlichen Wunsch, sich selbst zu rechtfertigen, erklären. Entschuldigen kann man es nicht.«55

Und so attackierte er den General mit einer schweren Polemik, die durchaus persönlich wurde. Dabei gelang es ihm, Ludendorff anhand seiner eigenen Aussagen zu entlarven als einen charakterlich schwachen und militärstrategisch unfähigen Führer56. 52 Delbrück an Max am 20. August 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Max, Bl. 4, Hervorhebungen ebd. Schon 1919 hatte Delbrück in den »Preußischen Jahrbüchern« von Tirpitz und Ludendorff als »die Schuldigen« gesprochen, die »mit der Autorität ihrer Stellung und ihrer starken Persönlichkeit […] auf ihrem Irrwege die breiten Schichten der führenden Klassen Deutschlands hinter sich her [zogen].« (Hans Delbrück: »Die Tirpitz-Erinnerungen«, in: PJb 178 (1919), 309–325, Zitat S. 324). 53 Delbrück, Selbstporträt, S. 6. 54 Bereits zu Ludendorffs 1919 erschienenen »Kriegserinnerungen« hatte Delbrück gegenüber seiner Frau festgestellt: »Das Buch ist flott geschrieben, zeigt aber das Gegenteil eines wirklich großen Mannes, es strotzt von Trivialitäten und ist innerlich unwahr.« (Hans Delbrück an Lina Delbrück am 3. September 1919, Abschrift in: BArch N 1017/78, S. 299). Im Oktoberheft 1919 seiner »Preußischen Jahrbücher« hatte Delbrück dies Buch einer eingehenden Kritik unterzogen und die Unfähigkeit Ludendorffs herausgearbeitet: »Man faßt sich an den Kopf, wenn man solche Gedankengänge liest. Jeder Satz eine Absurdität oder ein historisches Falsum.« (Hans Delbrück: »Ludendorff«, in: PJb 178 (1919), S. 83–101, Zitat S. 95). Im Maiheft 1920 setzte er seine Kritik fort (Hans Delbrück: »Falkenhayn und Ludendorff«, in: PJb 180 (1920), S. 249–281). 55 Delbrück, Selbstporträt, S. 16. 56 Schlagend ist beispielsweise Delbrücks Hinweis darauf, dass Ludendorff selbst eine jüdische Urgroßmutter habe, als er dessen antisemitische und rassistische Gedanken auseinandernimmt: »Ludendorff mag sich damit trösten, daß die deutsche wissenschaftliche Rassenkunde schon zu dem Ergebnis gelangt ist, daß es reine Rassen überhaupt nicht gibt, daß auch das deutsche Volk eine Mischung von germanischen, keltisch-romanischen, rätischen, slawischen und anderen Elementen darstellt. Unsere Einheit ist eine geistige, keine physische.

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Bisweilen kam in Delbrücks Formulierungen eine tiefe Verbitterung zum Vorschein, wenn er beispielsweise eine Formel von Ludendorffs Verteidigern übernahm, die es entschuldigten, dass er politisch sei wie »ein Kind. Ganz richtig, nur daß der politische Kindskopf das Deutsche Reich wie ein Spielzeug entzweigebrochen hat.«57 Es gelang ihm aber, darzulegen, dass es die Oberste Heeresleitung (OHL) gewesen war, die tatsächlich vorhandene Chancen auf einen Verständigungsfrieden planmäßig hintertrieben hatte58. Darüber spann er den Bogen zu den Vorwürfen eines angeblichen Dolchstoßes und warf seinerseits der OHL vor, dass sie es gewesen sei, »die den Keil in das Volk getrieben, die Einheit der öffentlichen Meinung, die August 1914 auf der Grundlage des Verteidigungskrieges geschaffen war, durch ihre wahnwitzigen Vergrößerungsabsichten zerstört und den Kriegswillen des deutschen Volkes gebrochen hat.«59

Durch den von Ludendorff betriebenen Sturz von Bethmann Hollweg, Valentini sowie Kühlmann habe er der Monarchie »selbst das Rückgrat gebrochen und damit der zukünftigen Revolution den Weg bereitet«. Aber auch hier kritisierte er wieder schwere Mängel in Ludendorffs Charakter: »War das nicht schon Militär-Diktatur? Sie war es und war es doch noch nicht. Dieser Zweifel ist aber mehr als ein bloßer Wortstreit; er ist bezeichnend für die Halbheit, Inkonsequenz und Unklarheit, die Ludendorffs Wesen ist.«60 So typisch eine offene und polemische Schrift für Delbrück auch war, »Luden­ dorffs Selbstporträt« wies zweifellos eine gänzlich neue Dimension auf. Daher erzielte seine Broschüre auch ein enormes Echo in der Öffentlichkeit und war in ihrer Diktion sehr umstritten. In der »Deutschen Allgemeinen Zeitung« hieß es, derartige Äußerungen kenne man sonst nur aus kommunistischen Wahlversammlungen61. Der Hallenser Historiker Richard Fester konstatierte in einer Besprechung in der »Deutschen Rundschau«, Delbrücks Werk sei »der ärztDer Geist aber ist stärker als die Natur.« (Ebd., S. 11). Hier zeigen sich Parallelen zu Delbrücks »Weltgeschichte« (siehe dazu Kapitel III.1.a)). 57 Delbrück, Selbstporträt, S. 37. 58 Ebd., S. 17–30. Einen weiteren Hauptvorwurf machte er Ludendorff für dessen Versagen als Militärstratege, insbesondere bei der Frühjahrsoffensive 1918 (ebd., S. 42–59), wodurch Deutschland den Krieg schließlich ohne Not verloren habe. 59 Ebd., S. 32 (»Der Zusammenbruch war nicht die Folge der Revolution, sondern die Revolution war die Folge des Zusammenbruchs.«, ebd., S. 61). An anderer Stelle hatte Delbrück bereits 1919 geschrieben, es sei in der Weltgeschichte noch nie vorgekommen, »daß ein Feldherr sich so vollständig über die Stimmung und das Wollen seiner eigenen Armee getäuscht hat« wie die 3. OHL (Hans Delbrück: »War unser Niederbruch unabwendbar?«, in: PJb 177 (1919), S. 301–311, Zitat S. 304). 60 Delbrück, Selbstporträt, S. 39 f. 61 Wieder einmal ein Beispiel dafür, wie schnell sich Delbrücks politischer Ort verschob. Der Artikel äußerte übrigens noch die Aussicht, dass über Delbrück »eine spätere Geschichtsschreibung richten« werde (Hollweg: »Zersetzungserscheinungen«, in: DAZ vom 23. Februar 1922, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 121.2).

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lichen Kontrolle bedürftig«62. Es gab eine Fülle weiterer Kommentierungen, die sich teils sehr stark im Ton vergriffen63. Verwundern konnte das nicht angesichts des scharfen Tonfalls, den Delbrück angeschlagen hatte. Es gab nur wenige Besprechungen, die die Broschüre uneingeschränkt befürworteten. Am deutlichsten wurde die linksorientierte »Welt am Montag«, die »Ludendorffs Selbstporträt« ausdrücklich lobte und über den Autor schrieb: »Ein konservativer Politiker und Geschichtsschreiber, ein Mann, wie ihn die heutigen Universitäten, die sich eifrig mit der Produktion von Streikbrecher-Organisationen, Verfassungsspielereien, monarchistischer Propaganda und Judenriecherei beschäftigen, wohl nicht mehr hervorbringen. Ein aufrechter Mann, bei dem jedes Wort von lauterster Reinheit zeugt.«64

Der Autor dieser Zeilen war Kurt Tucholsky. Dass ein dezidiert linker Publizist solche positiven Worte über Hans Delbrück fand, kennzeichnet erneut die Verschiebung der politischen Maßstäbe. Die DVP-nahe »Kölnische Zeitung« nahm die Broschüre relativ neutral auf65, und die »Berliner Börsen-Zeitung« stellte sich zwar inhaltlich weitgehend auf Delbrücks Seite, kritisierte aber dessen polemischen Stil66. Dem schloss sich der Historiker Johannes Ziekursch an, obwohl er als Linksliberaler und Kritiker des Kaiserreichs Delbrück durchaus nahe stand. In einer Rezension in der »Historischen Zeitschrift« meinte er: »Man debattiert doch, um die andersdenkenden oder unentschiedenen Zuhörer zu überzeugen; bei der in weiten Kreisen nun einmal herrschenden Stimmung hat sich Delbrück die Lösung dieser Aufgabe durch die Bitterkeit seiner Worte arg erschwert.«67 Auch die spätere Forschung hat in Delbrücks Polemik überwiegend eine negative Wirkung erblickt68. So kritisch man den bösartigen Tonfall in Delbrücks Schrift auch sehen kann, war er wahrscheinlich unumgänglich. Ludendorff war in den Jahren 1916–1918 der mächtigste Mann im Deutschen Reich gewesen und hatte  – aus welchen 62 Richard Fester: »Hans Delbrücks Selbstporträt«, in: Deutsche Rundschau, 48,7 (1922), Aprilheft, S 69–72, in: ebd. 63 Eine Vielzahl von Presseausschnitten findet sich in: ebd., Fasz. 121.3. 64 Ignaz Wrobel [Pseudonym von Kurt Tucholsky]: »Kadett Ludendorff«, in: Welt am Montag, 28. Jahrgang, Nr. 15 vom 10. April 1922, in: ebd., Fasz. 121.3. Auch die »Volksstimme« begrüßte das Delbrücksche Werk und beurteilte seine Taktik, nur Ludendorff als Quelle zu nutzen, als sehr geschickt (Müller-Brandenburg: »Betrachtungen«, in: Volksstimme, Nr. 73 vom 27. März 1922, in: ebd.). 65 O. V.: »Welcher Feldzugsplan hätte Deutschland zum Siege geführt?«, in: Kölnische ­Z eitung, Nr. 134 vom 22. Februar 1922, in: ebd. 66 O. V.: »H. Delbrück: Ludendorffs Selbstporträt«, in: Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 89 vom 22. Februar 1922, in: ebd. 67 Johannes Ziekursch in: HZ 1922, S. 527–532, Sonderdruck in: ebd., Fasz. 121.1. 68 Pöhlmann, Kriegsgeschichte, S. 261, etwa beobachtet, dass eine bereits begonnene Entfremdung Ludendorffs vom Offizierkorps gestoppt worden sei durch Delbrück. Dessen­ Attacken auf Ludendorff hätten zu Loyalitätsbekundungen geführt. Auch Bauer, Delbrück, S. 116, meint, Delbrücks maßlose Kritik habe seine Argumentation geschwächt.

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Gründen auch immer – dieses in den Abgrund geführt. In dem Moment, in dem er sich im neuen Staat anschickte, wieder Politik zu machen, musste von ihm eine Gefahr ausgehen. Auch wenn er bei Weitem nicht dazu in der Lage war, sich wie Hindenburg eine Aura aufzubauen und daraus Kapital zu schlagen, so war seine Autorität nach wie vor nicht gänzlich gebrochen. Dass er als Haupt­ verantwortlicher (ob er auch ein Hauptschuldiger im Delbrückschen Sinne war, ist hier nur nachrangig von Bedeutung) nicht die charakterliche Größe besaß, sich seiner Verantwortung zu stellen oder sich zumindest vollständig zurückzuziehen, machte ihn zunächst unberechenbar. Insofern war es richtig von Delbrück, seine eigene Autorität in militärischen Fragen aufzubieten, um die des Generals zu brechen. Eine in rein sachlichem Ton verfasste Schrift wäre höf­ licher gewesen, hätte aber bei Weitem nicht das Echo in der breiten Öffentlichkeit erzeugt, wie »Ludendorffs Selbstporträt«. Dieses Stilmittel, die Gehässigkeit, ist ein wesentliches Merkmal der Weimarer politischen Kultur und, grundsätzlich betrachtet, als fatal einzustufen. Da es hier in dieser Situation für die Republik angewandt wurde, war es vermutlich unumgänglich69. Auffallend ist, dass in den Presseberichten die ablehnende Tendenz überwog, in den persönlichen Zuschriften an Delbrück jedoch das Gegenteil zutraf: Zahlreiche Freunde und auch Unbekannte bedankten sich bei ihm, darunter­ Berthold von Deimling70, Erich Falkenhayn71, Hermann von Hatzfeldt72, Max Lehmann73, Karl Mayr74 und Philipp Scheidemann75. Dies kann man durchaus als Zeichen dafür werten, dass die veröffentlichte Meinung über Ludendorff nicht unbedingt mit der Meinung vieler Zeitgenossen übereinstimmte. Insofern hat Delbrücks Tabubruch zu einem gewissen Grad zu einer Neubewertung des Generals geführt und einer anderen Beurteilung zum Durchbruch verholfen. Rudolf von Valentini bekannte: »Sie haben in ein arges Wespennest ge­stochen und das Getöse der aufgeschreckten und empörten Insekten hat mir viel Spaß gemacht.«76 69 Siegfried Mette, ein Schüler Delbrücks, schrieb dazu 1928: »Daß ein so erbitterter Kampf nicht in Samthandschuhen durchgefochten werden konnte, daß Funken dabei stoben, ist klar; daß dieser Kampf auch von Delbrücks Seite in schärfster, oft persönlichster Form geführt wurde gegen den ›Verderber Deutschlands‹ und Zerstörer seines Staatsideals, ist nur zu verständlich, mag man auch bedauern, daß hier das heiße Herz des Patrioten mit dem kühl wägenden Taktiker Delbrück durchgegangen ist. Der Sache nach war es ein guter Kampf, der hier gekämpft wurde.« (Mette, Politiker, S. 185 f) 70 Deimling an Delbrück am 28. Mai 1922, in: SBB NL Delbrück, Briefe Deimling, Bl. 2 f. 71 Falkenhayn an Delbrück am 11. März 1922, in: ebd., Briefe Falkenhayn, Bl. 9. 72 Hatzfeldt an Delbrück am 1. März 1922, in: ebd., Briefe Hatzfeldt, Bl. 42 f. 73 Lehmann an Delbrück am 19. März 1922, in: ebd., Briefe Lehmann IV, Bl. 31. 74 Mayr an Delbrück am 4. April 1922, in: ebd., Briefe Mayr, Bl. 1 f. Mayrs Brief ist der Auftakt zu den freundschaftlichen Beziehungen, die beide in den Folgejahren zueinander entwickelten. 75 Scheidemann an Delbrück am 3. März 1922, in: ebd., Briefe Scheidemann, Bl. 2. Scheidemann schrieb, die Schrift habe »wie ein 42 cm-Geschütz gewirkt.« 76 Delbrücks Buch werde »der künftigen wahren Geschichtsschreibung eine Leuchte sein« (Valentini an Delbrück am 13. März 1922, in: ebd., Briefe Valentini, Bl. 35).

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Delbrücks Polemik forderte Reaktionen des Ludendorff-Lagers heraus. So veröffentlichte Wolfgang Foerster eine Broschüre, in der er versuchte, die Kriegsführung des Generals zu rechtfertigen. In der Einleitung schrieb er, Ludendorff selbst halte es für unter seiner Würde, Delbrück zu antworten77. Delbrück fragte daraufhin im »Berliner Tageblatt«: »Unter seiner Würde? Hat seine Würde es ihm verboten, seine politischen Gegner, und nicht nur seine Gegner, sondern auch vielfach seine Mitarbeiter und Mitkämpfer, Staatsmänner wie Soldaten, in der unerhörtesten Weise zu verdächtigen und zu beschimpfen?«

Inhaltlich bemerkte er zu den Ausführungen Foersters, der Ludendorff zugestanden hatte, an einen ehrenvollen Untergang gedacht zu haben wie Friedrich II.: »Friedrich allerdings durfte mit dem Hintergedanken eines ehrenvollen Unterganges kämpfen, denn für ihn und seine Zeit sind Dynastie und Staat noch eins und das Volk ist nichts. Im Weltkrieg aber handelte es sich nicht nur um Dynastie und Staat, sondern vor allem um die Zukunft des deutschen Volkes.«78

Deutlich wird hier Delbrücks geschichtswissenschaftliche Bildung und Methodik, die ihm immer wieder die Überlegenheit in Auseinandersetzungen sicherten. Zur Wirkung im Ausland, auf die Delbrück auch gezielt hatte, ist zu bemerken: Die rechtsstehende »Deutsche Zeitung« hatte eine solche kritisiert und Delbrück vorgeworfen, während der Verhandlungen in Genua das Volk zu entzweien und damit vor dem Ausland zu desavouieren79. Der »Manchester Guardian« hingegen brachte lange Auszüge aus der Broschüre und versah sie mit einer positiven Kommentierung80.

77 Foerster, Porträtmaler, S. 4. Delbrücks Mitsachverständiger im Untersuchungsausschuss Kuhl brachte eine sachliche Widerlegung der Delbrückschen Vorwürfe (Kuhl: »Ludendorffs Selbstporträt«, in: Militär-Wochenblatt, Nr. 39 vom 25. März 1922, in: ebd., Fasz. 120.1). 78 Hans Delbrück: »Ludendorff-Kritik«, in: Berliner Tageblatt, 51. Jg., Nr. 157 vom 2. April 1922, in: BArch N 1017/2. Ähnlich fragte Delbrück in seinem Gutachten für den Untersuchungsausschuss: »Eine schonendere Form? Welchen Anspruch auf Schonung hat ein Mann, der selber in seinen Büchern und Schriften unausgesetzt nicht nur seine politischen Gegner, sondern auch das deutsche Volk in der ungeheuerlichsten Weise beschimpft und seine eigene Schuld auf Mitarbeiter und Heer abzuschieben sucht?« (WUA IV,3, S. 339). Auch die Sozialistischen Monatshefte schrieben in einem Rückblick über die Dekonstruktion Ludendorffs durch diverse Publizisten, Foersters Schrift habe »die Beweisführung Delbrücks nicht im mindesten erschütter[t].« (Hermann Schützinger: »Der Fall Ludendorff«, in: Sozialistische Monatshefte, November 1924, S. 691–698, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 108.2). 79 O. V.: »Delbrück gegen Ludendorff«, in: Deutsche Zeitung, 26. Jg., Nr. 81 vom 20. Februar 1922, in: ebd., Fasz. 121.2. 80 O. V.: »Ludendorff’s share in the war. Severe German criticism«, in: The Manchester Guardian vom 17. Februar 1922, in: ebd.

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Im militärstrategischen Bereich baute Hans Delbrück seine Kritik an Erich Ludendorff an der Autorität von Carl von Clausewitz auf. Clausewitz galt im 19. bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als die wichtigste Autorität in Kriegsfragen, und zwar nicht nur in der preußischen Armee, sondern auch in anderen Nationen81. Eine der wichtigsten Lehren des Generals und Kriegstheoretikers ist der Satz, »daß der Krieg nichts ist als die fortgesetzte Staatspolitik mit anderen Mitteln.«82 Diese Aussage klingt heutzutage auf den ersten Blick zynisch – man versteht sie so, dass der Krieg ein legitimes Mittel der Politik sei. Tatsächlich ist die eigentliche Bedeutung eine ganz andere: Clausewitz hat davor gewarnt, dass sich die militärische Führung in einem Krieg verselbstständigt und von der politischen Strategie loslöst. Er plädierte demgegenüber für die Einheit der politischen und militärischen Strategie. Eine Kriegsführung, die nur noch nach militärischen Gesichtspunkten erfolgt und das eigentliche politische Ziel aus den Augen verliert, führt seiner Ansicht nach ins Verderben83. Delbrück als der führende zivile Militärhistoriker in Deutschland hatte sein Denken wesentlich auf Clausewitz aufgebaut  – es gab wohl niemanden, der dessen Lektion vom Primat der Politik besser verstanden hatte als er84. In der Tat lässt sich feststellen, dass die von der OHL verfolgte Siegfriedensstrategie sich verabschiedet hatte von politischen Erwägungen und Ludendorff die zivile Reichsleitung dominierte85. Das ist einer der entscheidenden Grundkonflikte des Kaiserreichs, der Dualismus von ziviler und militärischer Macht an der Staatsspitze. Die Bismarcksche Reichsverfassung hatte den Kaiser als Obersten Kriegsherrn der Armee belassen. »Damit ragte ein Stück Absolutismus in 81 Vgl. Bucholz, War Images, S. 6. 82 Clausewitz, Kriege, S. 15, Hervorhebung ebd. 83 »Da der Krieg kein Akt blinder Leidenschaft ist, sondern der politische Zweck darin vorwaltet, so muß der Wert, den dieser hat, die Größe der Aufopferung bestimmen, womit wir ihn erkaufen wollen. Dies wird nicht bloß der Fall sein bei ihrem Umfang, sondern auch bei ihrer Dauer. Sobald also der Kraftaufwand so groß wird, daß der Wert des politischen Zweckes ihm nicht mehr das Gleichgewicht halten kann, so muß dieser aufgegeben werden und der Friede die Folge davon sein.« (ebd., S. 51, Hervorhebungen ebd. Ähnlich auch S. 345 f). Münkler, Krieg, S. 70, interpretiert Clausewitz’ Diktum fehlerhaft, wenn er schreibt: »[…] den Krieg im Clausewitz’schen Sinn als unverzichtbares Instrument der Politik […]«. Das war eben genau nicht der »Clausewitz’sche Sinn«. 84 Vgl. Raulff, Vorwort, S. XXXIX; Scheibe, Marne, S. 364. Clausewitz, Kriege, S. 177, hatte geschrieben: »Unendlich groß wäre das Verdienst, den Krieg in lauter historischen Beispielen zu lehren […]: aber es wäre reichlich das Werk eines ganzen Menschenlebens […]. Wer, von inneren Kräften angeregt, sich ein solches Werk vorsetzen will, der rüste sich zu dem frommen Unternehmen mit Kräften wie zu einer weiten Pilgerfahrt aus. Er opfere Zeit und scheue keine Anstrengung, er fürchte keine zeitliche Gewalt und Größe, er erhebe sich über eigene Eitelkeiten und falsche Scham, um nach dem Ausdruck des französischen Kodex die Wahrheit zu sagen, nichts als die Wahrheit, die ganze Wahrheit.« (Hervorhebung im Original). Dies mag Delbrück als Antrieb und Motivation aufgefasst haben für sein Lebenswerk, die Etablierung der zivilen Militärgeschichte. 85 Vgl. Epkenhans, Politik, S. 220.

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das Verfassungsrecht und die Verfassungswirklichkeit«86, wie Heinrich August Winkler formuliert. Während es der starken Natur Bismarcks in der Regel gelungen war, den Primat der Politik gegenüber dem Heer durchzusetzen, verschob sich in der wilhelminischen Ära die Balance nach und nach in die Richtung der Dominanz des Militärs87. Diese Entwicklung ging einher mit dem Erstarken der rechten Strömung, die in Opposition zur kaiserlichen Politik stand. Bis in den Sommer 1914 hinein gelang es ihr nicht, wesentlichen Einfluss auf die Politik zu nehmen. In der Julikrise spielte die Kriegspartei hingegen bereits eine bedeutende, wenn nicht sogar entscheidende Rolle88. Aber schon während der ersten zwei Kriegsjahre hatte sie eine dominante Rolle: Das in verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen auszumachende Rechtslager bestimmte maßgeblich die Kriegszielpolitik und verhinderte Bemühungen um einen Verständigungsfrieden89. Es war so stark, dass sich der eigentlich verantwortliche Reichskanzler Bethmann Hollweg trotz vielleicht besserer Einsicht nicht zu einer Verständigungspolitik durchringen konnte: Auf Delbrücks bereits seit Kriegsbeginn artikulierte Kritik, man hätte die bedingungslose Wiederherstellung Belgiens erklären müssen als Voraussetzung für die Aufnahme von erfolgversprechenden Friedensverhandlungen, antwortete er im August 1918: »Sie sagen, daß, wie sich die Dinge entwickelt haben, es objektiv wohl das richtigste gewesen wäre, von vornherein die unbedingte volle Wiederherstellung Belgiens ohne jede Klausel zu versprechen. Darf man in der Politik etwas als objektiv richtig bezeichnen, was unmöglich ist? Ich glaube, nein. Tut man es doch, so bleibt an dem, der das unmögliche unterließ, immer der Vorwurf unrichtiger Handlungsweise hängen. Was ungerecht wäre, da Politik doch Kunst des möglichen ist. Und volles Wiederherstellungs-Versprechen war damals auch nach Ihrer Ansicht unmöglich.«90

Als mit Ludendorff und Hindenburg diese chauvinistische Strömung im Sommer 1916 schließlich auch tatsächlich die Macht im Staat übernahm und ihre 86 Heinrich August Winkler: »Und erlöse uns von der Kriegsschuld«, in: Die Zeit, Nr. 32 vom 31. Juli 2014, S. 14. 87 Vgl. Nebelin, Ludendorff, S. 7. 88 Die Meinungen über das Verhältnis von militärischer und ziviler Reichsleitung während der Julikrise gehen auseinander und werden jüngst wieder intensiv diskutiert. Siehe hierzu Kapitel I. 89 Siehe hierzu Kapitel II. 90 Bethmann an Delbrück am 12. August 1918, in: SBB NL Delbrück, Briefe Bethmann, Bl. 40 f, Hervorhebung ebd. Bereits im September 1917, wenige Monate nach seinem Rücktritt, hatte er Delbrück in Reaktion auf dessen Kritik an seiner Amtsführung in den Preußischen Jahrbüchern geschrieben: »Daß jeder Reichskanzler sich dem Vorwurf des ›Lavierens‹ nur zu leicht aussetzt, ist klar. Nach der gegenwärtigen Struktur der Parteien und unserer staatlichen Zustände ist der Kanzler grundsätzlich auf eine Politik der Diagonale angewiesen. Aber auch die Diagonale ist ein gerader Weg, und ich glaube ihn gegangen zu sein. Wenn er bisher nicht zum Ziel geführt hat, so besagt das nicht, daß der Weg falsch war. Die Schuld liegt daran, daß Kräfte, die bei uns allmächtig sind, den Wagen immer wieder aus dem Geleise herauszudrängen suchten.« (Bethmann an Delbrück am 8. September 1917, in: ebd., Bl. 31 f).

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Siegfriedenspolitik im Inneren und Äußeren brachial durchsetzte, war der Primat der Politik endgültig dahin. Diese Strukturschwäche des Kaiserreichs hatte damit zu dessen Zusammenbruch geführt. Hans Delbrück als Zeitgenosse erkannte und abstrahierte diese Zusammenhänge deutlich. Er zog daraus aber nur zum Teil die richtigen Schlüsse: Zwar kämpfte er Zeit seines Lebens gegen einen bestimmenden Einfluss des Militärs, wollte aber nicht unbedingt in der Verfassung einen Fehler sehen. Diese Position markierte er mit Äußerungen wie diesen: »Eben darum darf nicht der Soldat die Politik machen, sondern der Staatsmann, weil das rein soldatische Empfinden mit dem kühl rationellen Abwägen, das dem Staatsmann notwendig ist, im Widerspruch steht. Der Soldat stellt seine militärischen Forderungen, der Staatsmann muß sehen, wieviel er noch davon durchsetzen kann. Die öffentliche Meinung geht naturgemäß mit dem Soldaten.«

Man werfe Wilhelm II. stets Autokratie vor, in Sachen Frieden sei er viel zu wenig autokratisch gewesen, er habe der Kriegspartei nachgegeben. Ein Verständigungsfrieden sei möglich gewesen: »Das schier unüberwindliche Hinder­nis lag in den Mächten des Bösen, in unserem eigenen Innern, dem Unverstand, der Ueberhebung, der Maßlosigkeit, der patriotischen Demagogie.«91 ­Delbrück kämpfte gegen diese »Mächte des Bösen« an, er sah den Urgrund hierfür aber nicht im Konstruktionsfehler des Kaiserreichs, sondern in charakterlichen Schwächen der leitenden Staatsmänner. Denn seiner Ansicht nach hätte es diese Strömungen so oder so gegeben, es sei nur darauf angekommen, dass sich die amtliche Politik von ihnen nicht bestimmen ließ. Deshalb blieb er auch nach 1918 stets ein Gegner des Parlamentarismus, da er in einer Volksherrschaft eine große Gefahr sah. Dass eine Demokratie sich deshalb mit der Einrichtung des Rechtsstaats schützen kann und muss, sah er nicht92. Ludendorff verkörperte für Delbrück diese »Mächte des Bösen« wie kein zweiter, weshalb er ihn so leidenschaftlich bekämpfte: »So ist denn das Deutsche Reich und das große Haus der Hohenzollern zu Grunde gegangen, nicht weil der letzte Vertreter dieses Geschlechtes zu despotisch, zu absolutistisch gewesen wäre, sondern im Gegenteil, weil er, bei allen Anwandlungen von Despotismus doch im Grunde eine schwache Natur war und nicht die Fähigkeit hatte, 91 Hans Delbrück: »Die Enthüllung über den Verständigungsfrieden«, in: DAZ, 58. Jg., Nr. 356 vom 27. Juli 1919, in: BArch N 1017/2. Wenige Wochen zuvor schrieb er auch in den »Preußischen Jahrbüchern«: »Eines der schwersten Probleme im Staatsleben bleibt immer das Verhältnis der bürgerlichen und militärischen Gewalt. Im letzten Grunde sind sie untrennbar, und die ganz großen Männer in der Geschichte sind immer gleichzeitig Staatsmänner und Feldherren gewesen, Gustav Adolph, Friedrich, Napoleon.« Weiter kritisierte er den Mangel an politischer Einsicht im Weltkrieg, der zu einer fatalen Dominanz des Militärs geführt habe. Denn »der wilde Rachedurst in [sic] dem die Entente jetzt gegen uns tobt,« erkläre sich auch durch die radikalisierte deutsche Kriegsführung (Hans Delbrück: »Schuld und Schicksal«, in: PJb 177 (1919), S. 136–141, Zitate S. 140 f). 92 Siehe zu seinen verfassungspolitischen Grundanschauungen Kapitel III.2.

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dem Drachen der öffentlichen Meinung den Fuß auf den Nacken zu setzen und den meuternden General an die Kette der Disziplin zu legen.«93

Die Meuterei bezog Delbrück hier auf den Sturz Bethmanns, den Ludendorff beim Kaiser maßgeblich betrieben hatte unter Androhung seines eigenen Rücktritts. Bei Bekanntwerden, dass Ludendorff Anfang 1918 sogar die Absetzung des Kaisers erwogen hatte, schrieb Delbrück: »Diese Erwägung, der nicht die Strafe des Hochverrats nach Kriegsrecht auf dem Fuße folgte, war schon die innere Auflösung des alten, so lange heilig gehaltenen germanischen Kriegerbegriffs. Nichts hat mich so lange traurig gemacht, wie diese Enthüllung.«94

Insofern sah Hans Delbrück in Ludendorff deshalb das »Böse«, weil er den Primat der Politik außer Kraft gesetzt hatte, der nach Delbrücks Clausewitz-Interpretation im Krieg stets von entscheidender Bedeutung sein musste. Diese Haltung Ludendorffs zog sich durch seine gesamte militärische Strategie. Die Delbrücksche Kritik an Ludendorffs Kriegsführung machte sich immer wieder an diesem Punkt fest, dass der General das politisch Machbare außer acht gelassen habe und rein militärtaktisch vorgegangen sei. Dabei zeigte sich, dass Delbrück den General richtig einschätzte und mit seiner harschen Kritik dessen wunden Punkt traf: In seinem Buch »Kriegführung und Politik«, als dessen Antwort Delbrück sein »Selbstporträt« verfasste, schrieb Ludendorff explizit, dass das Clausewitzsche Diktum vom Krieg als der Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln umgedreht werden müsse in: »›Der Krieg ist die äußere Politik mit anderen Mitteln‹, und muß ergänzt werden durch den Satz, der noch bewiesen wird: ›Die Gesamtpolitik hat ihm zu dienen.‹«95 Deutlicher konnte man sich von der Idee des Primats der Politik nicht entfernen. Die militärische Strategie des Weltkriegs wurde in der Weimarer Republik intensiv diskutiert96. Im Streit um die Deutungshoheit über die strategischen Entscheidungen im Krieg ging es ganz wesentlich auch um die Frage der Legitimität der Novemberrevolution und der Republik. Die Heerführer suchten, ihre Entscheidungen zu verteidigen, und für deren Kritiker war es leicht, in Anbetracht der Niederlage die Kriegsführung zu beanstanden. Ein rückblickender Kritiker hat es immer einfach, da er über Wissen verfügt, das dem Entscheider 93 Delbrück, Selbstporträt, S. 35 f. 94 Hans Delbrück: »Die Republik und das Offizierkorps«, in: BT, 49. Jg., Nr. 222 vom 13. Mai 1920, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 88e. Welche historisch-politische Bedeutung Delbrück dem »germanischen Kriegerbegriff« beimaß, geht aus seiner »Weltgeschichte« hervor (siehe Kapitel III.1.a)). 95 Ludendorff, Kriegführung, S. 23. Indem der Ludendorff-Adlatus Wolfgang Foerster behauptete, Delbrück würde Clausewitz stets falsch zitieren und interpretieren (Foerster, Porträtmaler, S. 9 f), zeigte er wiederum, welch wunden Punkt Delbrück mit seiner auf den Militärtheoretiker gestützten Kritik bei Ludendorff traf. 96 Pöhlmann, Kriegsgeschichte, S. 248, spricht von einem »Erinnerungskulturkampf«.

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in seiner Zeit nicht zur Verfügung steht. Insofern ist die Detailkritik an Einzelbeschlüssen der Generäle nur von begrenztem historischen Interesse. Aber insgesamt zeigt sich bei den strategischen Überlegungen des Generalstabs und bei Ludendorff im Besonderen eine Grundkonstante, die eine wichtige Bedeutung besitzt. Sei es beim Schlieffen-Plan von 1914 oder der Frühjahrsoffensive von 1918: es ist der skizzierte Vorrang militär-taktischer Erwägungen vor einer politischen Strategie. Dies lag neben dem in der Verfassung angelegten Problem in einer Erstarrung des Denkens im Generalstab im Laufe der Jahre: Trainiert in den Kategorien der Vernichtungsstrategie als die angebliche Königsdisziplin war es mentalitätsmäßig und psychologisch dem Gros der Offiziere kaum möglich, sich nach den ersten scheiternden Erfahrungen neu zu orientieren und die Gedanken einer Ermattungsstrategie aufzunehmen97. Damit ist auch eine wesentliche Verknüpfung von Wissenschaft und Politik in Hans Delbrücks Wirken benannt. Der von ihm im Kaiserreich geführte wissenschaftliche Strategiestreit98 fand seine Fortsetzung in der Debatte über die Kriegsführung der Jahre 1914–1918. Schon in den Kriegsjahren betätigte sich Delbrück in der Diskussion über die politischen Ziele. Sein Kampf gegen die Dolchstoßlegende war im Prinzip die Fortführung der Kriegszieldebatte. Der Kernpunkt seiner Plädoyers war die Einstellung auf eine Ermattungsstrategie. Nach dem Scheitern des Schlieffen-Plans erkannte Delbrück, »daß sich hier eine strategische Umwälzung ersten Ranges vollzog.«99 Hatte das napoleonische Zeitalter durch das Aufkommen der Massenheere die Epoche der Vernichtungsstrategie eingeläutet, wurde diese durch die Weiterentwicklung zu den Millio97 Vgl. Bucholz, War Images, S. 86. 98 Der »Strategiestreit« drehte sich insbesondere um die Frage, ob Friedrich der Große eine Ermattungsstrategie (Delbrück) verfolgt habe oder eine Vernichtungsstrategie (Generalstab). Dahinter stand die Auseinandersetzung zwischen dem Zivilisten Hans Delbrück und den Militärs des preußischen Generalstabs, die bis dahin unangefochten die Deutungshoheit über Militärgeschichte beansprucht hatten. Der von Delbrück ausgetragene Strategiestreit ist also nicht nur von militärhistorischem Spezialinteresse, sondern Ausdruck der von Delbrück betriebenen Etablierung des Fachs Militärgeschichte als Teildisziplin der Geschichtswissenschaft. Zusätzliche Brisanz erhielt der Strategiestreit, da es um die Beurteilung des damals sehr populären Friedrichs II. ging. In der vorliegenden Studie wird bewusst die Delbrücksche Terminologie verwendet. Dabei bezeichnete er mit »Vernichtungs-« oder »Niederwerfungsstrategie« eine Kriegsführung, die auf die vollständige Niederringung des Gegners zielt, um ihm dann einen Frieden diktieren zu können. Im Gegensatz hierzu stand für ihn die »Ermattungsstrategie«, die angewandt werden müsse, wenn die eigenen Kräfte für eine Niederwerfung nicht ausreichen. Das Ziel müsse dann sein, durch begrenzte Unternehmungen dem Feind kleinere Niederlagen zuzufügen, um parallel dazu auf politischem Wege zu einem Frieden der Verständigung zu gelangen. Beide Strategien waren für Delbrück gleichwertig und je nach Gesamtlage anzuwenden. Ausführlich zum Strategiestreit vgl. Bucholz, War Images, insbesondere S. 8–15, ­33–39; Lange, Strategiestreit; Ders., Kritiker, S. 17, der die Debatte in ihrer Bedeutung mit der­ Fischer-Kontroverse vergleicht. 99 Craig, Delbrück, S. 100.

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nenheeren und neuer Waffentechniken um 1900 unmöglich100. Ein schnelles und vollständiges Niederringen der französischen Armee gelang 1914 nicht. Hierzu waren die Deutschen nicht nur zahlenmäßig unterlegen, sondern es fehlten grundsätzlich die technischen Voraussetzungen hierfür: Die modernen Riesenheere waren abhängig vom funktionierenden Nachschub. Es mangelte den Armeen aller Nationen an der notwendigen Beweglichkeit für einen entscheidenden Schlag. Im Verlauf des Stellungskrieges an der Westfront hatte sich immer wieder gezeigt, dass bei einer Offensive auch mit einer großen zahlenmäßigen Überlegenheit kein strategischer Durchbruch zu erzielen war. Egal welche Seite dies versuchte, die taktischen Anfangserfolge ließen sich nie ausweiten, da es an zügigem Nachschub mangelte. Erst taktische Innovationen wie das deutsche Spähtrupp-Wesen und der britische Tank brachten zu Kriegsende ein wenig Beweglichkeit, ohne jedoch kriegsentscheidende Wirkung zu entfalten101. Diese Entwicklung zeigte sich spätestens mit der Niederlage an der Marne im September 1914. Hieraus konnte es strategisch nur eine Schlussfolgerung geben: Die Umstellung von der Vernichtungs- auf eine Ermattungsstrategie. Das hätte bedeutet, dass man sich von der vollständigen Niederwerfung Frankreichs und Russlands verabschiedete, auf begrenzte militärische Unternehmen und Erfolge setzte und gleichzeitig in die politische Offensive ging, um einen für alle Parteien akzeptablen Frieden zu erzielen. Es gab nur außer Delbrück kaum jemanden, und erst recht nicht im Generalstab, der diese militärstrategischen Zusammenhänge erkannte102. Deshalb kämpfte er bereits im Weltkrieg, aber auch in den Jahren danach, als es nicht mehr um die Umsetzung, sondern um die Deutungshoheit über die Kriegsentwicklung ging, relativ allein. Dem Gros der militärischen Entscheider erschloss sich diese Gedankenwelt nicht. Dies ist auch ein Grund für das Entstehen der Dolchstoßlegende, die einen alternativen Erklärungsansatz für das militärische Scheitern bot. Zwei wichtige militärstrategische Entscheidungen standen bei Delbrück im Fokus: der Schlieffen-Plan und die Frühjahrsoffensive von 1918. Beide kritisierte Delbrück auf der Grundlage seiner Unterscheidung von Ermattungs- und 100 Vgl. Ebd., S. 99. 101 Kriegsentscheidend war am Ende dann die vollständige Überlegenheit der Entente bei Personal und Ausrüstung, vor allem bedingt durch die Amerikaner, gegenüber den im Verlauf der Jahre völlig ausgelaugten Mittelmächten. Eine neue Epoche der Kriegsstrategie brachte dann der Zweite Weltkrieg: Die »Blitzkriegsstrategie« Deutschlands war im Prinzip eine neu entwickelte Vernichtungsstrategie. Diese war möglich geworden durch den großen technischen Fortschritt, der mit dem Panzer, dem Flugzeug und dem Funk neue Bewegung in den Krieg brachte. Die Wehrmacht beherrschte das taktische Zusammenwirken dieser neuen Waffentypen in besonderer Weise. Frankreich, das in der Zwischenkriegszeit aufgrund der Erfahrungen im Ersten Weltkrieg zu sehr im Gedanken der strategischen Defensive im Rahmen einer Ermattungsstrategie verharrt geblieben war, wurde vor allem deshalb so schnell besiegt. 102 Vgl. Llanque, Mittel, S. 452; Scheibe, Marne, S. 360 f.

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Vernichtungsstrategie. Dem Schlieffen-Plan103, benannt nach seinem Schöpfer Alfred von Schlieffen, lag der Gedanke der Vernichtungsstrategie zugrunde: Der Generalstabschef der Jahre 1891–1906, den das Einkreisungstrauma bestimmte104, sah im Falle eines etwaigen Zweifrontenkrieges für Deutschland nur eine militärische Rettung: Sein Plan basierte auf der Annahme, dass die Mittelmächte einen entscheidenden Vorteil gegenüber ihren potentiellen Feinden hätten, nämlich die Möglichkeit der schnelleren Mobilmachung durch die bessere Infrastruktur. Mit diesem Vorteil in der Hand sollte das deutsche Heer im Kriegsfall durch Luxemburg und Belgien hindurch direkt nach Nordfrankreich einmarschieren, da die unmittelbare Grenze von Frankreich zu stark befestigt war. In einer riesigen Umfassungsschlacht sollte die französische Armee innerhalb von sechs Wochen vollständig besiegt werden, bevor die Russen ihrerseits dazu in der Lage wären, eine Offensive zu beginnen. Auf der Basis dieses Sieges in Frankreich ließe sich dann ein Frieden schließen oder aber zur Not der Kampf gegen Russland ausfechten105. Diese militärische Logik bestimmte im Übrigen auch das Verhalten der Reichsleitung in der Julikrise: Um den scheinbar einzigen militärischen Vorteil Deutschlands, die schnellere Mobilisierung, nicht vollständig aus der Hand zu geben, fühlte sie sich dazu genötigt, den Krieg spätestens in dem Augenblick zu beginnen, als er aufgrund der russischen Generalmobilmachung unausweichlich schien106. Dieser Plan ist in seiner Ausführung gescheitert. Während die meisten Kritiker in den 20er Jahren ihn nach wie vor in seiner Grundanlage begrüßten und nur Fehler in seiner Ausführung bemängelten107, gehörte Delbrück zu den 103 Zu seiner Entstehung und Grundanlage vgl. Wallach, Dogma, besonders S. 86–99. Zur jüngsten Kontroverse um den Schlieffen-Plan vgl. Ehlert / Epkenhans / Groß, Schlieffenplan. 104 Dies bezeichnet ein im Kaiserreich weit verbreitetes Gefühl, in der Mitte Europas von Feinden umgeben zu sein und systematisch eingekreist zu werden. Das wird etwa deutlich in einem Aufsatz Schlieffens von 1909: »Damit ist die militärische Lage Europas gegeben. In der Mitte stehen ungeschützt Deutschland und Österreich, ringsumher hinter Wall und Graben die übrigen Mächte. Der militärischen Lage entspricht die politische.« (Schlieffen: Der Krieg in der Gegenwart, in: Ders., Cannae, S. 273–285, hier S. 283). 105 Allgemein zur Entwicklung der Schlieffenschen Strategie vgl. Bucholz, War Images, S. 55– 70. Inwieweit Schlieffens Überlegungen und seine berühmten Cannae-Studien auf Delbrücks Vorarbeiten zur Kriegsgeschichte beruhten, wie häufig konstatiert (z. B. H ­ obohm, Delbrück, S. 8 f; Haintz, Einleitung, S. 610 f; Konrad Molinski: »Hans Delbrück. Geschichtswissenschaft und Politik«, in: unbekannte Zeitschrift von 1929, S. 158–165, hier S. 164, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 11.1; Buchfinck an Delbrück am 30. Dezember 1922, in: ebd., Briefe Buchfinck, Bl. 28 f), müsste eine eingehendere Untersuchung klären, die aber für die vorliegende Arbeit wenig Bedeutung hat. Schlieffens Plan war der Prototyp einer Vernichtungsstrategie. Zwar misslang er, aber ihm lag eine innere durchdachte Logik zugrunde. Insbesondere hatte Schlieffen auch die Clausewitzsche Lehre von der Einheit von Politik und Krieg verinnerlicht (Schlieffen: Der Feldherr, in: Ders., Cannae, S. 264–272, besonders S. 266 f). 106 Hierzu und zur Debatte um die Kriegsursachen und -auslösung siehe Kapitel I und IV. 107 Man sprach hier immer wieder von »Verwässerung« (dieser Begriff stammte laut Delbrück, Selbstporträt, S. 43, von Hindenburg) und meinte damit, dass der linke Flügel, also

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wenigen Autoritäten, die ihn im Grundsatz in Frage stellten. Zwar kritisierte er genauso vermeintliche Fehler beim Aufmarsch im Westen, wofür er die Verantwortung wiederum Ludendorff anlastete108. Aber er maß diesen Einzelheiten keine entscheidende Bedeutung bei, vielmehr sei die Idee des Planes als solche falsch gewesen: Der Schlieffen-Plan sei zwar für sich genommen sehr gut gewesen, habe aber den politischen Rahmen des Jahres 1914 vollständig außer acht gelassen109. Er skizzierte stattdessen den Plan einer Ermattungsstrategie und führte aus, dass eine defensive Haltung im Westen und eine Offensive im Osten vielversprechender gewesen wäre. Da die deutschen Kräfte für eine vollständige Umfassung und Vernichtung der französischen Armee nicht ausgereicht hätten, hätte man zunächst im Osten in die Offensive gehen müssen. Nach einem größeren Sieg gegen Russland hätte es mit Sicherheit die Chance auf einen Verständigungsfrieden gegeben. Er ging zudem davon aus, dass kleinere deutsche Kräfte ausgereicht hätten zur Verteidigung der Westgrenze und vor allem, dass Großbritannien nicht in den Krieg eingetreten wäre, wenn Deutschland nicht Belgien angegriffen hätte110: »an diesem Einmarsch in Belgien hat Deutschland den Krieg verloren.« Dass dieser Durchmarsch durch Belgien ausschließlich einer militärischen »Notlage« entsprungen sei, habe man der Weltöffentlichkeit während des Krieges nicht begreiflich machen können aus Rücksicht auf das deutsche Volk. Denn dieses hätte darüber dann erfahren, dass man in den Krieg die deutschen Armeen am Oberrhein, stärker aufgestellt worden wären als von Schlieffen vorgesehen und damit der rechte Flügel, also die Heeresteile, die den großen Umfassungsschlag über Belgien nach Nordfrankreich hinein führen sollten, zu schwach gewesen seien. Zu den wichtigsten Vertretern dieser Deutung gehörte u. a. Hermann Kuhl (deutlich z. B. in seinen Briefen an Delbrück vom 16. August 1920 und 6. April 1924, in: SBB NL Delbrück, Briefe Kuhl, Bl. 1, 9). Einer der wenigen Kritiker des Schlieffen-Planes aus den Reihen der Generäle noch vor dem Krieg war Colmar von der Goltz. Dieser baute seine Kritik aber ebenfalls auf dem Gedanken einer Vernichtungsstrategie auf, er sah Schlieffens Plan nur in der Einzelkonzeption kritisch (Krethlow, Von der Goltz, S. 395 f). 108 Delbrück tat dies, da Ludendorff in den Jahren 1908–1913 als Chef der Operationsabteilung im Großen Generalstab zuständig gewesen war für die Aufmarschfragen und es genau jene Jahre gewesen seien, in denen die genannten Änderungen durchgeführt worden seien (Delbrück, Selbstporträt, S. 43 f). 109 Dies schrieb Delbrück z. B. in einer Stellungnahme zu den Gutachten von Borries und Schulte zu Band vier des Reichsarchiv-Kriegswerks (ohne Datum [1926], in: BArch N 1017/51). Seine Kritik machte Delbrück also an der seiner Meinung nach fehlenden Einheit von militärischer und politischer Strategie fest und folgte damit seiner Clausewitz-Interpretation. Zum Reichsarchiv siehe Kapitel V.4. 110 Hans Delbrück: »Hätte Deutschland den Krieg gewinnen können?«, in: Neue Freie Presse, Nr. 22963 vom 19. August 1928, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 89c; Hans Delbrück: »Der Stand der Kriegsschuldfrage«, Berlin 1924, S. 27–29, in: ebd., Fasz. 86a; Hans Delbrück: »Der deutsche Kriegsplan für den Weltkrieg«, in: Leipziger Tageblatt, 119. Jg., Nr. 76 vom 17. März 1925, in: ebd., Fasz. 89a, Manuskript hierfür in: BArch N 1017/18 (hier bedauerte er: »dass unser Generalstab im Dogmatismus erstarrt war, war unser Schicksal.«); Hans Delbrück: »Die strategische Grundfrage des Weltkrieges«, in: PJb 183 (1921), S. 289–308.

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gegangen war, in dem die einzige Chance für einen Sieg die sofortige Niederringung Frankreichs war und dass dieser Plan gescheitert war. So aber habe die Weltöffentlichkeit den Einmarsch in Belgien interpretieren können und müssen als Ausdruck eines deutschen Eroberungsstrebens111. Es gab nur wenige Männer, die Delbrücks grundsätzliche Kritik am Schlieffen-Plan teilten. Hierzu gehörte insbesondere Karl Mayr, der mit Delbrück in dieser Angelegenheit sowie bei der Bekämpfung der Dolchstoßlegende zusammenarbeitete112. Ähnlich profilierte sich auch der Historiker Walter Elze, der bei Erich Marcks und Delbrück 1928 seine Habilitationsschrift zum Kriegsplan von 1914 einreichte113. Wilhelm Groener hingegen verteidigte den Schlieffen111 22seitiger Aufsatz Delbrücks mit dem Titel »Der Einmarsch in Belgien«, ohne Datum [t.p.q. 1918], in: BArch N 1017/48. Delbrück kritisierte die am Ende nicht durchdachte politische Dimension, die der Schlieffen-Plan vor allem durch den Einmarsch in Belgien erhielt (Hans Delbrück: »Deutsche Flotte und Kriegsschuld«, in: DAZ vom 23. Dezember 1928, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 89a). Inwieweit Delbrück seine Alternativen zum Schlieffen-Plan erst nachträglich, auf der Grundlage der Erfahrungen des Scheiterns entwickelte, oder ob er bereits vor 1918 Kritik geübt hatte, müsste eine weitere Analyse seiner Tätigkeiten vor dem Untersuchungszeitraum klären. Da es in diesem Zusammenhang vornehmlich um die Wahrnehmung und Deutung des Weltkriegs durch Delbrück in der Weimarer Republik geht, kann hier darauf verzichtet werden. 112 Vgl. Mayrs Briefe an Delbrück vom 27. Mai und 3. Juni 1925, in: ebd., Briefe Mayr, Bl. 45 f; Grabowsky an Delbrück am 27. Januar 1925, in: ebd., Briefe Grabowsky, Bl. 22; Aufzeichnung Mayrs über eine publizistische Auseinandersetzung Delbrücks mit Kuhl, ohne Datum, in: ebd., Fasz. 119.4; Hans Delbrück: »Der deutsche Kriegsplan für den Weltkrieg«, in: Leipziger Tageblatt, 119. Jg., Nr. 76 vom 17. März 1925, in: ebd., Fasz. 89a, Manuskript hierfür in: BArch N 1017/18. Max Montgelas wiederum kritisierte die Mayrschen Gedanken (Montgelas an Delbrück am 26. März 1925, in: BArch N 1017/54). Karl Mayr war allerdings 1919 noch rechtsradikal gesinnt und militärischer Vorgesetzter von Adolf Hitler. Als Leiter der Nachrichten- und Aufklärungsabteilung des Gruppenkommandos IV in München oblag Mayr damals die Durchführung einer Propagandaoffensive, in deren Rahmen er Hitler förderte. Für Hitler war diese Zeit mitentscheidend für seine ideologische Ausrichtung. Erst später änderte Mayr seine politischen Anschauungen grundlegend (vgl. Wirsching, Authentizität, S. 400–402). 113 Vgl. das Gutachten zur Habilitationsschrift, in dem Delbrück Elze einige Schwächen vorhielt, aber den Wert hervorhob, dass er Alternativen zu Schlieffen aufzeigte (in: SBB NL Delbrück, Fasz. 120.2). Delbrück hielt Elze allerdings für einen »sehr überschätzten Mann« (Delbrück an Jagow am 23. April 1928, in: ebd., Briefkonzepte Jagow, Bl. 7 f). Eine Aufzeichnung über ein Gespräch mit Elze zur Thematik am 8. November 1927 findet sich in: ebd., Fasz. 120.2. Auch Gustav Roloff zeigte sich 1925 immer weniger überzeugt von dem Gedanken der Westoffensive (Roloff an Delbrück am 10. August 1925, in: ebd., Briefe Roloff II, Bl. 46–50). Delbrücks Verhältnis zu Erich Marcks erfuhr im Jahr 1922 eine spürbare Verschlechterung: So schrieb er an Hans Hermann von Berlepsch: »Marcks gehört zu denjenigen Gelehrten [sic] die wohl Kritik genug haben die Wahrheit so ziemlich zu erkennen, aber nicht den Mut die eigene Meinung auch zum Ausdruck zu bringen weder vor sich selber noch vor der Welt.« (Delbrück an Berlepsch am 6. August 1922, in: BArch N 1017/8). Bereits Ende 1921 hatte er Marcks als völlig ungeeignet für die Nachfolge seines Lehrstuhls bezeichnet (Hans Delbrück an Otto Becker am 14. November 1921, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Otto Becker, Bl. 1 f).

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Plan. Hans Delbrück hielt sich ihm gegenüber aber mit Kritik zurück, da er ihn persönlich sehr schätzte114. Er resümierte die seiner Meinung nach falsche Idee der Westoffensive 1929, wenige Wochen vor seinem Tod, mit den Worten: »Aber wie 1806 die Ansichten der Generalität in der Taktik verkalkt waren, so waren sie es 1914 in der Strategie.«115 In ähnlicher Weise verurteilte Delbrück die Frühjahrsoffensive von 1918, die gänzlich Ludendorff zuzuschreiben war und mehr oder weniger unmittelbar zur deutschen Niederlage geführt hatte. Nach dem Ausscheiden Russlands aus dem Krieg bot sich im Jahr 1918 für die Mittelmächte die Möglichkeit, eine neue Offensive zu beginnen und möglicherweise den Krieg zu beenden, bevor die USA in ausschlaggebender Stärke auf dem Kriegsschauplatz anlangten. Mit dem Beschluss zu einer entscheidenden Offensive an der Westfront war Luden­dorff ein hohes Risiko eingegangen, da er hiermit die letzten Ressourcen in die Waagschale warf116. Er hatte darauf gezielt, mit einem Vorstoß die englische von der französischen Armee zu trennen, um die Engländer dann mittels einer großen Einkesselung vernichtend zu schlagen. In der Folge wäre dann auch Frankreich zu Friedensverhandlungen im Sinne der OHL gezwungen gewesen. Tatsächlich gelang dem deutschen Heer im März ein großer taktischer Erfolg, indem es weit durch die feindlichen Linien vorstoßen konnte. Aber die Armeen kamen schnell zum Stillstand, da es schlichtweg an zügigem und ausreichendem Nachschub mangelte. Ludendorff setzte sofort eine weitere Offensive an, die das gleiche Ergebnis erzielte. Insgesamt wiederholte er dies fünfmal. Delbrück urteilte in seinem Reichstagsgutachten: »Diese aufeinanderfolgenden Offensiven sind überhaupt kein strategischer Gedanke.«117 Damit aber kehrten sich die taktischen Erfolge um in eine strategische Niederlage, denn die Front hatte sich durch die Ausbuchtungen von 390 auf 510 km massiv erweitert. In der Folge waren die deutschen Kräfte vollkommen erschöpft. Inzwischen hatten die Amerikaner schneller als erwartet starke Truppenverbände in Frankreich in Stellung bringen und Briten sowie Franzosen umfangreiche Planungen für eine Gegenoffensive vorbereiten können. Nimmt man die psychologische Wirkung 114 Delbrück an Cohnstaedt am 14. November 1926, in: ebd., Briefkonzepte Cohnstaedt, Bl. 1; Notiz über ein Gespräch mit Groener am 8. November 1927, in: ebd., Fasz. 120.2. Auf dem Mittwoch-Abend am 11. Januar 1928 wurde der Plan zwischen Groener und Delbrück debattiert. Hierbei war die allgemeine Meinung wie üblich, dass die Idee richtig gewesen und aufgrund von Mängeln in der Ausführung gescheitert sei (Delbrück an Solf am 19. Januar 1928, in: ebd., Briefkonzepte Solf, Bl. 17 f; 5seitige Niederschrift Delbrücks unter dem Titel »Der Kriegsplan von 1914«, in: ebd., Fasz. 119.3). 115 Delbrück an Roloff am 17. Mai 1929, in: ebd., Briefkonzepte Roloff, Bl. 31. 116 Deist, Zusammenbruch, S. 213, nennt es »erstaunlich und charakteristisch zugleich, daß ein eigentlich zu erwartender, lang andauernder Entscheidungsprozeß auf der höchsten politischen und militärischen Führungsebene über die Grundfrage der Kriegführung 1918, ob nämlich das Potential strategisch offensiv oder aber strategisch defensiv eingesetzt werden sollte, überhaupt nicht stattgefunden hat.« 117 WUA IV,3, S. 309.

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dieser Vorgänge auf die Soldaten hinzu, war die vollkommene deutsche Niederlage seit dem Sommer 1918 nur noch eine Frage der Zeit118. Hans Delbrück, der im Rahmen des 4. Unterausschusses des Reichstagsuntersuchungsausschusses die Kriegsführung von 1918 eingehend untersuchte, kam zu dem Schluss, dass Ludendorff hier vollständig versagt habe. Er habe »die Taktik über die reine Strategie gestellt«119. Delbrück zog damit die Grundanlage der Offensive in Zweifel: Die Idee eines vernichtenden Sieges über die Entente sei völlig illusorisch gewesen. Delbrück unterstellte Ludendorff, sich bewusst darüber gewesen zu sein, dass die deutschen Kräfte für seinen Angriffsplan nicht ausreichten: »Ludendorff war also ein so unklarer Denker und so mangelhafter Strateg, [sic] dass er einen Angriff anordnete, von dem er selber wusste [sic] dass er staegisch [sic] eigentlich nicht richtig sei, und er hat das getan, weil er wusste, dass er für einen Angriff an einer strategisch wirksamen Stelle zu schwach sei. Man kann nicht widersinniger verfahren.«120

Als Alternative schlug Delbrück eine begrenzte Offensive auf dem Nebenkriegsschauplatz Italien vor. Hier sei ein Sieg sehr aussichtsreich gewesen und in einer Verbindung mit einer politischen Offensive, sprich die Erklärung über die Wiederherstellung Belgiens, hätte man im Frühjahr 1918 einen Verständigungsfrieden haben können. Dass Ludendorff aber jegliche politischen Erwägungen ausgeblendet und nur nach einem großartigen militärischen Sieg gestrebt hatte, verurteilte Delbrück. Es zeigte sich also auch hier wieder das Grundproblem, nämlich die Verbindung von Politik und Kriegsführung, sodass Delbrück urteilte, der General habe die Taktik über die Strategie gestellt121.

118 Vgl. Deist, Zusammenbruch, S. 221, 224; Friederike Krüger, Verantwortung, S. 387; Venohr, Ludendorff, S. 349 f, 356 f. Clausewitz, Kriege, S. 187, liest sich wie eine unmittelbare Kritik am Ludendorffschen Streben nach bloßen einzelnen taktischen Erfolgen: »Gewöhnt man sich nicht, den Krieg und im Kriege den einzelnen Feldzug als eine Kette zu betrachten, die aus lauter Gefechten zusammengesetzt ist, wo eins immer das andere herbeiführt, gibt man sich der Vorstellung hin, daß die Einnahme gewisser geographischer Punkte, die Besitznahme unverteidigter Provinzen an sich etwas sei, so ist man auch nahe daran, es als einen Vorteil zu betrachten, den man nebenbei einstecken könnte, und indem man es so, und nicht als ein Glied in der ganzen Reihe der Begebenheiten betrachtet, fragt man sich nicht, ob dieser Besitz nicht später zu größeren Nachteilen führen wird. Wie oft finden wir diesen Fehler in der Kriegsgeschichte wieder.« (Hervorhebung im Original). 119 WUA IV,3, S. 290. 120 Hans Delbrück: »General Ludendorff«, ohne Datum [1922], in: BArch N 1017/18. 121 Delbrück, Selbstporträt, S. 42–59; Hans Delbrück: »Strategie und Taktik in der Offensive von 1918«, in: Militär-Wochenblatt, Nr. 11 von 1925, Sp. 361–363, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 107.2. Genauso auch Venohr, Ludendorff, S. 350. Dass Delbrück seine Alternativen nicht nur nachträglich formulierte, sondern auch während des Krieges so dachte, zeigt beispielsweise ein Brief an seine Frau Lina kurz vor Beginn der ersten Offensive im Februar 1918: »Wir sahen deutlich, dass der Friede erreichbar wäre, wenn Deutschland

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Das moralisch eigentlich Verwerfliche war für Delbrück aber Ludendorffs Verhalten in der Folge des Scheiterns der Frühjahrsoffensive(n). Er wies ihm nach, dass er das Scheitern seines Planes sehr wohl realisiert hätte, ihm aber der »moralisch[e] Mut und die moralische Selbstüberwindung« gefehlt habe, die richtige Konsequenz hieraus zu ziehen, nämlich das unmittelbare Einleiten eines Friedensangebotes122. Stattdessen habe er die Reichsleitung nicht über die wahren Verhältnisse aufgeklärt, sei im September schließlich in grundlose Panik verfallen und habe mit seiner unbedingten Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand die Moral des Volks gebrochen und damit zum Ausbruch der Revolution beigetragen. Zudem habe er die Dolchstoßlegende wesentlich in die Welt gesetzt123. Deshalb erhob Delbrück »nicht nur den Vorwurf ungenügenden Feldherrntums, sondern auch einen sittlichen Mankus«124, hielt Ludendorff für »wirklich dumm«125 und sah in ihm einen egomanen, verantwortungslosen Verderber des Reiches, einen »unselbstädige[n] [sic] Schwachkopf«126. Es lohnt ein kurzer Blick auf Delbrücks Bewertung der Person Hindenburgs in Abgrenzung zu Ludendorff. Denn Hindenburg war im Hinblick auf die Kriegsführung in derselben Weise verantwortlich wie sein Erster Generalquartiermeister. Da aber die tatsächliche Führung in der OHL bei Ludendorff gelegen und Hindenburg eher die repräsentative Rolle nach außen hin eingenommen hatte, bestehen durchaus Unterschiede in der Bewertung der beiden Persönlichkeiten. Während es Hindenburg gelang, seinen seit der Schlacht bei Tannenberg 1914 aufgebauten Mythos auch nach Kriegsende zu bewahren und auszubauen, verlor sich Ludendorff zunehmend in immer neuen Rechtfertigungsversuchen. Da Ludendorff nicht in der Weise über eine Aura wie sein Vorgesetzter verfügte, sondern versucht hatte, seinen Ruhm im Krieg durch militärische Handlungen zu erzielen, musste sein Ansehen nach dem katastrophalen Scheitern seiner Führung massiv leiden. Hindenburg hingegen, der sein Renommee aus seiner Persönlichkeit und seinem bewusst aufgebauten Kult schöpfte, musste sich nicht in der Weise an der Niederlage messen lassen und konnte auch im neuen Staat als orientierende Macht auftreten127. Für die Gründer der Republik führte die staatsmännische Haltung des Generalfeldmarschalls jetzt eine vernünftige Politik machte und namentlich die Erklärung über Belgien endlich­ abgäbe. Aber L[udendorff] erlaubt es schlechterdings nicht« (Hans Delbrück an Lina Delbrück am 19. Februar 1918, Abschrift in: BArch N 1017/77, S. 47–49, Zitat S. 48). 122 Delbrück, Selbstporträt, S. 56. 123 Diese Delbrückschen Vorwürfe sind von der Forschung weitgehend bestätigt worden. Vgl. Nebelin, Ludendorff, S. 461–508; Epkenhans, Politik, S. 218–224; Petzold, Dolchstoßlegende, S. 30–39; Rauscher, Hindenburg, S. 163–188. 124 Delbrück an Schwertfeger am 16. Oktober 1926, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Schwertfeger, Bl. 9. 125 Delbrück an Wehberg am 31. Dezember 1927, in: ebd., Briefkonzepte Wehberg, Bl. 2. 126 Delbrück an Montgelas am 7. August 1925, in: ebd., Briefkonzepte Montgelas, Bl. 17 f. 127 Zum Verhalten Hindenburgs und dem Aufbau seines Mythos’ vgl. Barth, Dolchstoßlegenden, S. 309–311; Pyta, Privilegierung, S. 149 f; Hoegen, Held, S. 247–258.

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während der Revolutionszeit auch zu einem Anwachsen seiner Autorität128. Durch das planmäßige und geschickte Aufbauen seines Mythos’ gelang Hindenburg 1925 sogar der Weg an die Staatsspitze129. Hindenburg war genauso verantwortlich für 1918 wie Ludendorff, verhielt sich aber in der Folge wesentlich gewandter. Für Hans Delbrück war, wie oben dargelegt, ein Hauptmotiv der Agitation gegen Ludendorff dessen Versuche, im neuen Staat wieder zu unmittelbarer politischer Bedeutung zu gelangen. Deshalb stand Hindenburg nicht in der gleichen Weise in seinem Fokus. Denn Hindenburg hatte sich in den ersten Jahren der Republik weitgehend aus der Tagespolitik herausgehalten. Wenngleich seine Rolle in den Revolutionsmonaten in gewisser Weise durchaus eine hohe politische Bedeutung zukam, war sie von gänzlich anderer Ausprägung als bei seinem ehemaligen Untergebenen. Hindenburg beschränkte sich auf seine militärische Rolle als Garant von Sicherheit und Ordnung im Reich. Sein Verhalten im Zuge der Unterzeichnung des Versailler Vertrages war dann durchaus eine Flucht aus der Verantwortung130. Auch sein Auftritt im Untersuchungsausschuss schadete der Republik; anschließend zog er sich aber aus der Öffentlichkeit zurück. Und auch seit dem Wahlkampf und der schließlichen Wahl zum Reichs­ präsidenten 1925 verkörperte Hindenburg vor allem eine überparteiliche Inte­ grationsfigur. Ludendorff hingegen engagierte sich seit seiner Rückkehr aus dem Exil in der Tagespolitik, und zwar in der Fortführung seiner Einstellung in der Kriegszeit, also im rechtsextremen Milieu. Daher ließ Delbrück Hindenburg im Hinblick auf die Kriegsführung nicht aus der Verantwortung und ver-

128 Der Ebert-Groener-Pakt, bei dem Friedrich Ebert für den Rat der Volksbeauftragten und Wilhelm Groener für die OHL eine Zusammenarbeit in der Novemberrevolution ver­ einbarten, erwies sich zwar langfristig durchaus als Belastung für die Republik. Denn damit wurde die alte Armee nahtlos in die Weimarer Republik überführt, mit allen Problemen, die sich aus ihrer antidemokratischen Einstellung ergaben. In den Monaten der Staatsumwälzung jedoch sorgte die OHL loyal für die Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung und die ordnungsgemäße Rückführung der Truppen. Hindenburg hatte hier seine Autorität in den Dienst der nationalen Sache gestellt. Eine Weigerung der OHL zur Zusammenarbeit mit der neuen Regierung hätte schwerwiegende Folgen haben können, allein mit Blick auf die Tatsache, dass für viele Offiziere ein Vakuum entstanden war durch die Abdankung Wilhelms II., dem sie persönlich die Treue geschworen hatten. Hans Delbrück schrieb dem mit ihm befreundeten Botschafter in Tokio Wilhelm Solf, der von Oktober bis Dezember 1918 als Staatssekretär im Auswärtigen Amt in ähnlicher Weise mit der neuen, revolutionären Regierung zusammengearbeitet hatte, um ein Abgleiten ins Chaos zu verhindern, er habe in seinem Reichstagsgutachten Groener, Hindenburg, Kriegsminister Schëuch und ihn besonders gelobt für diese staatsmännische Haltung (Delbrück an Solf am 3. Februar 1926, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Solf, Bl. 13 f). Zum Verhalten Hindenburgs in der Übergangszeit unter dem Fokus seiner symbolischen Ausstrahlung vgl. Pyta, Hindenburg, S. 381–409. 129 Zu der Reichspräsidentenwahl siehe Kapitel III.3.b). 130 Dies arbeitet Pyta, Hindenburg, S. 394 f, heraus.

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schwieg nicht dessen Funktion131, stürzte sich aber nur bei Ludendorff in den rücksichtslosen publizistischen Kampf. Delbrück schätzte die Machtverhältnisse innerhalb der OHL im Sommer 1925 richtig ein: »Der Feldmarschall v. Hindenburg war zwar der Höchstkommandierende, aber Ludendorff war nicht einfacher Untergebener [sic] sondern hatte neben dem Feldmarschall selbständige Verantwortung. Der Feldmarschall faßte daher seine Stellung, wie man es ausdrücken darf, ähnlich der eines konstitutionellen Monarchen auf, der es als seine Pflicht ansieht, dem Rate des ihm Zugewiesenen zu folgen, so erst Ludendorff, dann General Gröners, jetzt des Reichskanzlers.«132

Zieht man die diplomatische Zurückhaltung ab, die Delbrück übte, da Hinden­ burg mittlerweile Reichspräsident war, kommt eine deutliche Kritik an der Schwäche des Feldmarschalls zum Vorschein. Das neue Amt Hindenburgs hatte denn auch insgesamt dazu geführt, dass man sich mit seiner Rolle im Krieg weniger auseinandersetzte. Max Mont­ gelas hatte Hans Delbrück nach der Reichspräsidentenwahl gefragt, ob denn die Gutachten des Untersuchungsausschusses, in denen Hindenburg scharf kritisiert wurde, überhaupt noch veröffentlicht würden: »Kann der aktive Reichspräsident so bloßgestellt werden?«133 Und Delbrück selbst verfolgte seitdem aus übergeordneten Gesichtspunkten die Linie, dass es zur Festigung der Republik sehr wertvoll sei, »sich jetzt um Hindenburg zu scharen, und deshalb ist es auch vom taktischen Gesichtspunkt nicht wünschenswert, die Kritik an der Strategie des Weltkriegs mit seinem Namen zu verbinden.«134 Delbrücks wahre Einschätzung der Person Hindenburg kommt in einem Brief an Wilhelm Solf von 1927 zum Ausdruck. Er berichtete ihm, dass er ein dutzend Anfragen bekommen habe, anlässlich des 80. Geburtstages des Feldmarschalls einen Zeitungsartikel zu verfassen. Er habe aber abgelehnt und lediglich darauf hingewiesen, dass er

131 Vgl. vor allem Delbrücks Gutachten für den 4. Unterausschuss des Untersuchungsausschusses. 132 Hans Delbrück: »Die Katastrophe von 1918«, in: BT, 54. Jg., Nr. 338 vom 19. Juli 1925. Ähnlich schrieb er 1922 auch in seinem Gutachten für den Untersuchungsausschuss, Hindenburg habe »im Banne seines Ersten Generalquartiermeisters [gestanden] und sich von diesem sogar zu Taten […] bestimmen lassen, die seiner innersten Natur zuwider waren.« (WUA IV,3, S. 261) Im zweiten Gutachten von 1925 nahm er den Feldmarschall sogar aus der Verantwortung, »weil er nicht mehr die geistigen Kräfte hatte, sich die Lage völlig klarzumachen und ganz im Banne Ludendorffs stand« (WUA IV,3, S. 350). Dass Delbrück genau erkannte, dass der Hindenburg-Mythos auf Fehleinschätzungen seiner Leistungen im Weltkrieg beruhte, wird z. B. auch deutlich in einem Zeitungsartikel unmittelbar nach dessen Wahl zum Reichspräsidenten: Delbrück schrieb, die Wahl verdanke er dem Glauben an seine Heldentage im Krieg. Hierüber lasse sich allerdings streiten (Hans Delbrück: »Hindenburg Reichspräsident«, in: Neues Wiener Tagblatt, Nr. 121 vom 3. Mai 1925, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 88e). 133 Montgelas an Delbrück am 12. Mai 1925, in: ebd., Briefe Montgelas II, Bl. 39–41. 134 Delbrück an Mayr am 2. November [1927], in: ebd., Briefkonzepte Mayr, Bl. 17 f.

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dieselben Eigenschaften besäße wie Wilhelm I.: »Takt und Würde. Dass damit gesagt sein soll, dass man mit Takt und Würde noch kein Staatsmann und kein Feldherr ist, haben die wenigsten herausgefühlt.«135 Trotz aller zunächst erfolgten Abwehrreaktionen der Rechten gegen D ­ elbrücks Polemik konnte dieser sich mittel- und langfristig mit seiner Bewertung Ludendorffs durchsetzen. Wenige Jahre später spielte der General keine ernstzunehmende politische Rolle mehr und hatte sich in eine sektiererische Ecke bewegt. Oberst Schwertfeger, der ähnlich über Ludendorffs militärische Strategie urteilte, hatte zunächst befürchtet, Delbrück würde anstelle der Vernichtung eines »Götzen« einen »Märtyrer« schaffen136. 1926 bemühte er sich, Delbrück zu versichern, dass es nur »die Taktik« gewesen sei, über die man verschiedener Meinung gewesen sei137. Theodor Wolff schrieb 1925, als Delbrück und er sich politisch bereits ein Stück weit entfremdet hatten: »Wie viel Sie durch Ihren tapferen Sinn, durch Ihr Auftreten bei den Massen und Ihre scharf geführte Fehde gegen Ludendorff zur Gesundung beigetragen haben, empfindet jeder von uns und keine Meinungsverschiedenheit kann etwas an unserer Dankbarkeit und unserer Verehrung ändern.«138

135 Delbrück an Solf am 22. September 1927, in: ebd., Briefkonzepte Solf, Bl. 15 f. Dass das Verhältnis zwischen Hindenburg und Delbrück dennoch intakt war, zeigt die warme Sprache des Kondolenzschreibens Hindenburgs an Lina Delbrück nach dem Tod ihres Mannes (Hindenburg an Lina Delbrück am 15. Juli 1929, in: ebd., Fasz. 10.1, Bl. 44). 136 Schwertfeger an Delbrück am 8. September 1925, in: ebd., Briefe Schwertfeger, Bl. 12. Zu diesem Zeitpunkt fühlte sich Schwertfeger noch in seiner Vorhersage bestätigt. Delbrück erwiderte, zu Beginn sei dies vielleicht zutreffend gewesen. Mittlerweile aber bekäme er sehr häufig die Rückmeldung, er habe doch Recht gehabt (Delbrück an Schwertfeger am 11. September 1925, in: ebd., Briefkonzepte Schwertfeger, Bl. 4 f). 137 Schwertfeger an Delbrück am 17. September 1926, in: ebd., Briefe Schwertfeger, Bl. 13. Delbrück bekräftigte daraufhin nochmals seinen Standpunkt: »Wissenschaftliche Untersuchungen machen niemand [sic] zum Märtyrer. Umgekehrt aber gereicht es dem deutschen Volke dauernd zum schwersten Schaden, dass es sich im Frieden zum grossen Teil immer noch in irrtümlichen Gedankengängen über die strategischen und moralischen Leistungen Ludendorffs bewegt.« (Delbrück an Schwertfeger am 18. September 1926, in: ebd., Briefkonzepte Schwertfeger, Bl. 8). Schwertfeger antwortete, er habe Delbrücks Vorgehen trotz der Gefahr, die Delbrück in Ludendorff sah, aus taktischen Gründen dennoch für falsch gehalten. Zudem sei es »ungerecht«, den General mit dem Wissen der Nachkriegszeit zu beurteilen. (Schwertfeger an Delbrück am 14. Oktober 1926, in: ebd., Briefe Schwertfeger, Bl. 14). 138 Wolff an Delbrück am 12. August 1925, in: ebd., Briefe Wolff, Bl. 19 f. Delbrücks Neffe Axel von Harnack verglich 1952 seinen Kampf sogar mit Voltaire und Lessing und wies darauf hin, dass er sich damit in jenen Jahren in »Lebensgefahr« begeben hätte (Harnack, Delbrück, S. 422). Schumann, Kampf, S. 363, betont, dass die Chancen für die Republik höher gewesen seien, wären die Verantwortlichen für den Krieg und die Niederlage deut­ licher benannt worden. Delbrück hatte mit seinem Kampf gegen Ludendorff allerdings wesentlich hierzu beigetragen.

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Im Rückblick wird häufig konstatiert, dass Ludendorff ungefähr ab 1922 abgedriftet und nicht mehr ernst zu nehmen gewesen sei. Seine Rechtfertigungsversuche hätten sich seitdem zu einem »Amoklauf« entwickelt139. Dass dies ausgerechnet ab 1922 einsetzte, hängt mit »Ludendorffs Selbstporträt« zusammen. Delbrück hatte in dieser polemischen Streitschrift den General vor der breiten Öffentlichkeit militärisch, politisch und moralisch vollauf entlarvt und bloßgestellt. Insofern kommt Delbrück ein großes Verdienst zu bei der Stabilisierung der Republik, war dies doch eine Zeit, die von Gewalt und Unsicherheit geprägt gewesen war. Delbrücks Neffe Hellmuth schrieb darüber einige Jahre später seinem Onkel, er habe zur Zeit der Ermordung Rathenaus über seine sich vermindernde Arbeitskraft geklagt und geäußert: »nun hättest Du nur noch zwei kleine Dinge zu erledigen: Ludendorff beseitigen und eine Weltgeschichte schreiben. Beides ist fertig«140. Folglich hatte Delbrücks Fehde mit dem General »mit nichten [sic] nur posthumen Wert«, wie das »Prager Tagblatt« in einer Würdigung Delbrücks anlässlich seines 80. Geburtstages schrieb: Niemand wisse, ob der Putsch von 1923 auch fehlgeschlagen wäre, wenn Ludendorffs Autorität zuvor nicht bereits von Delbrück untergraben worden wäre141. Erschütternd ist in diesem Zusammenhang die Geburtstagskarte des Generals Ernst Buchfink, eines langjährigen Freundes der Familie Delbrück, vom 10. November 1923: »Hochverehrter, lieber Herr Professor. – Gestern war ich dabei, Ihnen zu schreiben und Ihnen meine Glückwünsche zu Ihrem Geburtstage zu schicken. Da platzte die Nachricht von dem Münchener Streich in meinen Frieden. Und mir ging es, wie vor fünf Jahren: die Empörung über das Heillose machte mich still. Wie kann man an solchem Tage Glück wünschen? Ich habe Ihre Polemik gegen L-ff seinerzeit mit geringer Freude erlebt; heute muß ich zugeben, wie furchtbar recht Sie gehabt haben. Der Mann ist unser Unglück. Ihm gehört, an die Wand gestellt zu werden. Ich kann nichts schreiben, was einigermaßen erfreulich wäre. Nur das wollte ich Ihnen, verehrter Freund, sagen, wie aufrichtig und herzlich ich und die Meinigen heute Ihrer gedenken! In unveränderlicher Gesinnung immer Ihr Buchfink.«142

139 Barth, Dolchstoßlegenden, S. 338. 140 Hellmuth Delbrück an Hans Delbrück am 9. November 1928, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 6.1. 141 O. V.: »Blätterstimmen. Delbrück-Ludendorff«, in: Prager Tagblatt vom 20. November 1928, in: ebd., Fasz. 8. Ähnlich schrieb auch die Danziger Zeitung, Delbrück habe in der Art eines Martin Luthers oder Gotthold Ephraim Lessings »Ludendorffs Selbstporträt« zu einer Zeit veröffentlicht, in der es »nur zu sehr möglich schien, daß der General sich der höchsten Gewalt bemächtigte.« (Friedrich Luckwaldt: »Hans Delbrück«, in: Danziger Zeitung, 71. Jg., Nr. 307 vom 11. November 1928, in: ebd.). 142 Buchfink an Delbrück am 10. November 1923, in: ebd., Fasz. 5. Der Reichspressechef Friedrich Heilbron schrieb zum selben Anlass: »Ich glaube, daß von vielen Seiten heute die Münchener Vorgänge als ein Beweis für die Richtigkeit des Urteils angesprochen werden mögen, das Sie schon seit Jahr und Tag über die Hauptperson in dieser fürchterlichen Münchener Groteske abgegeben haben. Hätte man allgemeiner so richtig gesehen

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In der Auseinandersetzung der Republik mit Ludendorff hing viel ab von der Person Hans Delbrück. Gustav Roloff urteilte: »[A]ußer Ihnen hätte das keiner schreiben können.«143 Und Karl Mayr bekannte: »Er [Ludendorff, d. Vf.] hatte bislang nur einen gefährlichen, weil sachlich unanfechtbaren Gegner, Sie, Herr Geheimrat!«144 »Sachlich unanfechtbar« war nur Hans Delbrück, da er als ehrwürdiger Professor an der Berliner Universität eine zwar sehr umstrittene, aber doch hoch angesehene Autorität in militärischen Fragen war. Zudem hatte er sich durch sein politisches Engagement durch die Jahrzehnte hinweg den Ruf eines ehrlichen, gut informierten und standhaften Mannes erworben, der seine Meinung stets aus konservativer Gesinnung heraus formulierte. Damit war seine Kritik an Trägern des konservativen Reichs viel wirkmächtiger, als es die eines Liberalen oder Sozialisten sein konnten. Dass Delbrück es sich mit seiner Agitation nicht leicht tat, zeigen seine Ausführungen hierzu im Gutachten für den Untersuchungsausschuss: »Es gibt keine schlimmere Untat am nationalen Geist, als dem Volke seine Helden und Geistesgrößen zu verekeln. Es gibt aber auch nichts Verderblicheres für ein Volk, als wenn es sein Schicksal Männern anvertraut, denen der Genius dafür nicht ge­ geben ist. Scheingrößen sind keine Heroen, und hier unberechtigte Vorurteile zu bekämpfen, ist nationales Verdienst, weniger dankbar aber ebenso wichtig wie die Aufstellung von Denkmälern für die wahrhaft Großen.«145

Wie sehr »Ludendorffs Selbstporträt« in Delbrücks grundsätzliche Linie hinein passte und eben keine Ausnahme darstellte, arbeitete die »Königsberger Hartungsche Zeitung« einige Jahre später heraus: »Das, was dieser Schrift weit über den Augenblick hinaus ihre große Bedeutung verlieh, war die Geißelung des alten Regierungssystems in der Charakteristik eines ihrer Hauptrepräsentanten, der in diesem Werk als der ewige Kadett erscheint. Delbrück, dem alten Konservativen, aus seinem mit klarem Bewußtsein vollzogenen Gesinnungswandel einen Vorwurf zu machen, heißt die Situation verkennen. Die Kritik,

wie Sie, so wäre manches Unheil vermieden worden.« (Heilbron an Delbrück am 10. November 1923, in: ebd.). Ähnlich auch der ehemalige Chef der Reichskanzlei Arnold Wahnschaffe: »Gott schütze unser Vaterland vor dem Wahnsinn.« (Wahnschaffe an Delbrück am 9. Novem­ber 1923, in: ebd.). Deutlich wird an diesen Äußerungen im Übrigen, dass viele Zeitgenossen in Ludendorff die treibende Kraft sahen und nicht in Hitler, wie man es aufgrund der späteren Entwicklungen im Rückblick wohl durchaus zurecht deutet. Dies zeigt aber dennoch, wie gefährlich Ludendorff für die Republik in jener Zeit nach damaliger Einschätzung gewesen ist. 143 Roloff an Delbrück am 18. März 1922, in: ebd., Briefe Roloff II, Bl. 17–21. 144 Mayr an Delbrück am 24. März 1923, in: ebd., Briefe Mayr, Bl. 15 f, Hervorhebung ebd. 145 WUA IV,3, S. 278. Rückblickend schrieb auch Delbrücks Frau Lina, ihren Mann habe der Sturm der Kritik durchaus getroffen. Eine pure »Freude am ›Kreuzen der Klingen‹« habe er nie besessen (Aufzeichnung Lina Delbrücks, Abschrift in: BArch N 1017/75, Delbrücks Leben, Bd. XI 1914, S. 75).

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die Delbrück während des Krieges mutig und unerschrocken fortgesetzt an den bestehenden Zuständen übte, führte konsequent zu dem Weg, den er jetzt beschritt.«146

Delbrücks alter Freund Max Lenz hingegen schrieb 1922 empört: »Ich kann es nicht billigen, daß du nicht aufhören kannst u. willst, Ludendorff« zu attackieren und warnte, dass ihm »die Parteien, in denen Du sonst immer Deine Gegner gesehen hast, zujubeln u. Deine alten Freunde befremdet sich von Dir abwenden.«147 Stellt man diese beiden Aussagen zusammen, ergibt sich ein deutliches Zeichen für die Verschiebung der politischen Maßstäbe. Hans Delbrück hatte sich auch durch seinen Feldzug gegen Ludendorff nicht gewandelt. Dass es zu einer Entfremdung mit vielen Weggefährten und an sich konservativen Parteien kam, lag vielmehr an ihnen selbst und eben nicht an dem Historiker. Eine andere Perspektive nahm Adolf Hitler ein. Auch wenn dieser Delbrück nicht direkt beim Namen nannte, sondern die allgemeine Hetze gegen Ludendorff beklagte, ist damit indirekt eben doch Delbrück gemeint, da dieser »das Oberhaupt der Opposition gegen Ludendorff und ihr vornehmster Märtyrer« war, wie Emil Daniels formulierte148. Hitler schrieb in »Mein Kampf«: »Es gehörte aber die ganze bodenlose Verlogenheit des Judentums und seiner marxistischen Kampforganisationen dazu, die Schuld am Zusammenbruche gerade dem Manne aufzubürden, der als einziger mit übermenschlicher Willens- und Tatkraft versuchte, die von ihm vorausgesehene Katastrophe zu verhüten und der Nation die Zeit der tiefsten Erniedrigung und Schmach zu ersparen. Indem man Ludendorff zum Schuldigen am Verluste des Weltkrieges stempelte, nahm man dem einzigen gefährlichen Ankläger, der gegen die Verräter des Vaterlandes aufzustehen vermochte, die Waffe des moralischen Rechtes aus der Hand.«149

2. Der Reichstags-Untersuchungsausschuss Die Nationalversammlung hatte, ohne grundsätzliche Kritik zu erfahren, im August 1919 nach § 34 der Weimarer Reichsverfassung einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss eingesetzt – den ersten in der deutschen Parlamentsgeschichte150. Er hatte die Aufgabe, sich mit den Ursachen des Krieges und der Niederlage zu beschäftigen, und war ursprünglich gedacht als ein Instrument der Republik zur Abrechnung mit dem alten Regime151. Da ein solches Verfahren in der Parlamentsarbeit Neuland war und die gestellten Aufgaben außerordentlich 146 E. H. Wittenberg: »Zum achtzigsten Geburtstag von Hans Delbrück«, in: Königsberger Hartungsche Zeitung vom 11. November 1928, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 8. Auch Ritter, Staatskunst III, S. 549, bezeichnet Ludendorffs Kriegsziele als »Phantasien eines Kadettengehirns«. 147 Lenz an Delbrück am 8. September 1922, in: ebd., Briefe Lenz III, Bl. 54–57. 148 Daniels, Delbrück, S. 30. 149 Hitler, Kampf, S. 252. 150 Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 360. 151 Vgl. Herz, Untersuchungsausschuß, S. 4–7.

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umfangreich, dauerte es eine Zeit lang, bis sich feste Strukturen herausgebildet hatten und die Arbeitsweise feststand. Der Ausschuss wurde in vier Unterausschüsse aufgeteilt, die wie üblich jeweils paritätisch von den Fraktionen besetzt wurden. Der erste Unterausschuss behandelte die Frage nach der Vorgeschichte des Weltkriegs, der zweite analysierte mögliche Friedenschancen während des Krieges, der dritte untersuchte die Vorwürfe der Entente der deutschen Kriegsverbrechen und der vierte arbeitete die Ursachen der Niederlage auf. Der Untersuchungsausschuss hatte das Recht, jeden Deutschen als Zeugen zu vernehmen und Einsicht in alle amtlichen Dokumente zu nehmen. In jedem Unterausschuss waren Abgeordnete der großen Fraktionen vertreten und jeweils ein Sekretär, der dem Ausschussvorsitzenden zur Seite stand152. Dazu wurden zu den jeweiligen Spezialthemen Sachverständige berufen, denen häufig die Hauptarbeit zukam, durch das Material durchzusteigen und Expertisen zu erstellen153. Hans Delbrück wurde als Sachverständiger in den 4. Unterausschuss berufen, um als Gegengewicht zu den beiden Sachverständigen mit militärischem Hintergrund  – Hermann von Kuhl und Bernhard Schwertfeger  – als ziviler Experte für militärische Fragen zu den Ursachen des Zusammenbruchs 1918 zu forschen. Dass die Wahl auf Delbrück fiel, zeigt zunächst, dass die Militärgeschichte in Deutschland nach wie vor ein Hort der Militärs war (da Delbrück immer noch der einzige zivile Militärexperte von Ruf war). Es wird daran aber auch deutlich, welch wichtige Stellung Delbrück im Reich hatte. Er selbst war anfangs nicht begeistert von dem neuen Auftrag und musste seine Lehrveranstaltungen abbrechen154. Dass mit Hermann von Kuhl ein Hauptverantwortlicher für die Kriegsführung von 1918 zum Sachverständigen berufen wurde, ist hingegen kritisch zu sehen: Kuhl war Chef des Stabes der Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht gewesen, der wesentlich die Durchführung der März-Offensive 1918 unterstanden hatte. Zwar hatte Kuhl vorab zu den Kritikern der Idee dieser Ludendorffschen Offensive gehört, sodass ihn für die Anlage der Operation kaum Verantwortung traf, aber dass er im Nachgang zu einer unbefan­ genen Kritik seines eigenen Handelns fähig war, muss doch sehr bezweifelt werden. Einen Sachverständigen zeichnet nicht nur der Sachverstand aus, sondern eben auch die Unabhängigkeit als Voraussetzung für die Erlangung eines objek152 Der Gesamtausschuss war mit 28 Mitgliedern verhältnismäßig groß, um auch den kleineren Fraktionen die Mitarbeit zu ermöglichen (vgl. ebd., S. 6). 153 Zur Entwicklung des Untersuchungsausschusses vgl. Philipp, Ursachen, S. 5–20. 154 Hermann Oncken gegenüber bekannte er, er sei »dringend gebeten« worden und »ein Anderer als ich war schlechterdings nicht zu finden. Da es sich wesentlich um die Strate­ gie und die Person Ludendorffs handelt, so ist die Sache sehr wichtig auch unter dem Gesichtspunkt der zukünftigen Politik. Ich mußte also hinein und die Vorlesung fahren lassen. Ich habe mich aber ausdrücklich nur verpflichtet, so viel Zeit auf diese Arbeit zu verwenden, wie ich sonst auf die Vorlesung verwandt haben würde.« (Delbrück an Oncken am 1. Mai 1921, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Oncken, Bl. 62 f). Seinem Freund Max Lenz schrieb Delbrück, er habe sich »breitschlagen lassen« (Delbrück an Lenz am 16. Oktober 1921, in: ebd., Briefkonzepte Lenz, Bl. 69 f).

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tiven Urteils. Delbrück wies immer wieder auf diesen Punkt hin, betonte aber zugleich, dass Kuhl im Rahmen dieser Möglichkeiten einen großen und ehrlichen Willen zur Objektivität zeige155. Hans Delbrück stürzte sich trotz der Vorbehalte mit einer Mischung aus preußischem Pflichtbewusstsein, seinem unbestechlichen Wahrheitsdrang und dem Wunsch nach Aufklärung der Katastrophe mit voller Energie in die Arbeiten. Durch sein großes Engagement und seine historisch-methodischen Fähigkeiten wurde er schnell zu einer der führenden Persönlichkeiten des Ausschusses. Es gelang ihm vor allem, die Zielrichtung des 4. Unterausschusses auf die Analyse der fehlgeschlagenen Frühjahrsoffensive von 1918 sowie die Missstände im Heer zu lenken und damit die militärische Führung in den Fokus der Kritik zu rücken156. Er sammelte für sein Gutachten eine Fülle von Material, unter anderem zahlreiche schriftliche Aussagen von Soldaten und Offizieren zu den in Frage stehenden Punkten des Krieges157. Viele davon befinden sich im Delbrückschen Nachlass und gewähren einen unmittelbaren Einblick in den Geist der Truppe. Wenngleich die erhaltene Sammlung nur einen winzigen Ausschnitt bietet und vermutlich teilweise von Personen, die ihm politisch nahe standen, ist doch eine gewisse Tendenz erkennbar: Zwar gab es Rückmeldungen wie zum Beispiel die eines Hauptmanns Friedrich Kuntze, der als direkte Ursache für den Zusammenbruch sozialdemokratische Agitation festgestellt haben wollte: Diese sei zwar nicht planmäßig erfolgt, habe aber »Krystallisations-Zentren geschaffen,« an die sich andere revolutionäre Energien »ankrystallisierten.« [sic] Kuntze offenbarte zugleich aber unfreiwillig die psychologische Funktionsweise der Dolchstoßlegende, die er selbst verbreitete: Er schrieb weiter, die »Heerde [sic] der Insurrektion [sic]« müssten sehr klein gewesen sein, da er von 155 Vgl. z. B. Delbrücks Schreiben an Albrecht Philipp vom 17. Dezember 1925, in: ebd., Briefkonzepte Philipp, Bl. 5. Delbrücks Münchener Freund Karl Mayr schrieb in der sozial­ demokratischen Münchener Post über Kuhl als mitverantwortlichen Militär im Weltkrieg, es sei in der Weltgeschichte schon häufiger vorgekommen, dass der Ankläger Richter spiele. »Der Unfug aber, daß der Angeklagte selbst den Richter spielt, ist bisher nur in diesem parlamentarischen Untersuchungsausschuß erlebt worden.« (Karl Mayr: »Der militärische ›Sachverständige‹ Coßmanns«, in: Münchener Post, 39. Jahrgang, Nr. 259 vom 9. November 1925, in: BArch N 1017/60, Hervorhebung ebd.). 156 Vgl. Pöhlmann, Kriegsgeschichte, S. 282, der betont, dies könne »in militär- und wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht gar nicht genug hervorgehoben werden.« 157 Delbrück fragte mit einem Musterbrief ihm bekannte oder empfohlene Kriegsteilnehmer neben den persönlichen Angaben folgende Punkte ab: das Verhältnis von Vorgesetzten zu Untergebenen, die Verpflegung, Ausrüstung, Versorgung, Behandlung, Unterkunft, das Strafenwesen und Burschenwesen, die Erteilung von Urlaub, die Zustände in den Lazaretten, beim Etappenwesen, die Praxis bei Beförderungen und Auszeichnungen, etwaige Benutzung amtlicher Stellen für persönliche Vorteile, Gesundheitspflege, Alkohol, Geschlechtskrankheiten, sittliche Verhältnisse, politische Streitfragen wie die Kriegsziele oder die preußische Wahlrechtsreform, den Einfluss des vaterländischen Unterrichts, der feindlichen und der revolutionären Propaganda sowie einen etwaigen Stimmungsumschwung im letzten Kriegsjahr (der dreiseitige Musterbrief von April 1921 findet sich in: BArch N 1017/52).

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keinem Bekannten, der bis zum Schluss an der Front war, gehört habe, dass man dort auch nur die geringsten Spuren einer Auflehnung bemerkt habe158. Hier zeigt sich deutlich, dass der – tatsächlich eben nicht auf revolutionäre Agitation zurückzuführende – Zusammenbruch der Front so überraschend kam, dass es für viele eine psychologische Überforderung darstellte, sich nüchtern mit den Ursachen auseinanderzusetzen. Es war einfacher, sich eine Deutung zurechtzulegen, die den früher schon als »Reichsfeinde« betitelten Sozialisten die Schuld zuschob und damit das ideologische Vakuum füllte, dass durch das plötzliche Ende der alten Monarchie entstanden war. Daneben überwogen in den Delbrück zugesandten Aussagen aber diejenigen Stimmen, die eindeutig Übelstände in der Armee anprangerten. Beispielsweise schrieb Reichard Spree, im Krieg Unteroffizier, die einfachen Soldaten hätten die annexionistischen Kriegsziele durchweg abgelehnt. Mit zunehmender Dauer der Kampfhandlungen habe sich das Missverhältnis zwischen Offizieren und Mannschaften verstärkt: »Man verlangte vom Mann das Bewußtsein der Pflicht zur Vaterlandsverteidigung. Konnte man dies Bewußtsein wecken, wenn man selbst nicht das Bewußtsein der sozialen Pflicht hatte?«159 Auch Johann Tiedje, ein Landwehroffizier, bekannte: »Nicht die Friedensaussichten, sondern die Notwehr eines Verteidigungskrieges hätte unsere Truppen bei besserer Stimmung gehalten.«160 Generalmajor Paul von Schoenaich, zu Kriegsbeginn Regimentskommandeur an der Front, offenbarte Delbrück, er habe Ludendorff bis zum Ende geglaubt. Im Laufe der Zeit habe er sich aber nun zu der Erkenntnis durchgerungen, dass die Führung aufgrund schöngefärbter Berichte völlig falsche Ansichten von der Stimmung der Truppen gehabt hätte. Er habe eine sehr kritische Ansicht angenommen und kenne einige alte Offiziere, die so dächten wie er. Niemand aber wage dies auszusprechen, »weil er einfach gesellschaftlich unmöglich gemacht wird«161. Zwar muss man in Rechnung stellen, dass sich Schoenaich – sehr ungewöhnlich für einen General – nach Kriegsende zu einem überzeugten Pazifisten und Linksliberalen entwickelt hatte. Somit vertrat er eher radikalere Ansichten. Aber sein Brief bringt deutlich zum Ausdruck, dass im Offizierkorps auch nach 1918 ein ausgeprägtes Standesbewusstsein vorherrschte, sodass viele auch bei womöglich insgeheim formulierter scharfer Kritik vor einer öffentlichen Äußerung zurückscheuten. Gegen die die

158 Friedrich Kuntze an Hans Delbrück am 28. Oktober 1921, in: ebd. Die letztgenannten Überlegungen sind von Delbrück handschriftlich markiert – offenbar waren sie für ihn ebenfalls der Schlüssel zum Verständnis der Funktionsweise der Dolchstoßlegende, zumal Kuntze im weiteren Verlauf freimütig von Missständen an der Front berichtete. 159 Reichard Spree an Hans Delbrück am 10. Oktober 1921, in: ebd. 160 Johann Tiedje an Hans Delbrück am 28. Oktober 1921, in: ebd. Vgl. auch die umfangreiche Materialsammlung »Berichte: Beweismaterial aus den Kriegsakten«, in der Delbrück Armeeberichte von der Westfront gesammelt hatte mit klaren Beweisen für den unglaublich schlechten Zustand der Fronttruppen im Herbst 1918, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 108.4. 161 Schoenaich an Delbrück am 15. Juli 1921, in: BArch N 1017/52.

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politische Atmosphäre beherrschenden Rechten war es ausgesprochen schwierig, anzukommen. Auf Erkenntnissen wie diesen baute Delbrück sein Gutachten auf. In einem ersten, kompakten Referat, das bereits 1922 fertiggestellt wurde, holte er zu einer großen Kritik an Ludendorff aus. Basierend auf den Arbeiten Kuhls und Schwertfegers – Delbrück sollte ursprünglich nur ein Koreferat entwerfen, das sich aber auswuchs zu einem eigenständigen Gutachten – sezierte er die Ludendorffsche Frühjahrsoffensive von 1918162. Er erbrachte den Nachweis, dass diese Offensive fehlerhaft angelegt gewesen war. Sie habe basiert auf der Idee einer vollständigen Niederwerfung der Entente-Streitmacht, obwohl Ludendorff bewusst gewesen sei, dass hierfür die deutschen Kräfte nicht ausreichen würden. Anstatt hieraus die strategische Konsequenz zu ziehen, auf lediglich taktische Erfolge zu setzen und gleichzeitig eine politische Friedensoffensive einzuleiten, habe der General wider besseres Wissens trotzdem versucht, einen operativen Durchbruch zu erzielen, um einen Siegfrieden zu erreichen. Delbrück machte ihm den schweren Vorwurf, dass die Masse der Soldaten und der Bevölkerung der Idee eines Verteidigungskrieges gefolgt sei und daher einen Verständigungsfrieden »mit Jubel aufgenommen« hätte163. Ludendorff habe diese Zusammenhänge zwar gesehen und einen Frieden auf der Basis des status quo ante innerlich durchaus begrüßt, nach außen hin aber eine Siegfriedenspolitik vertreten und damit den Verständigungsfrieden vereitelt. Delbrück urteilte, es sei »kein Ausdruck der Verdammung für dieses Verhalten zu hart«164. 1924 stellten die drei Gutachter wesentlich erweiterte Referate fertig. Delbrück ging nun detailliert auf die Kritik seiner Mitsachverständigen an seinem ersten Gutachten ein und baute seine Argumentation weiter aus. Ausführlich untersuchte er die strategische Berechtigung der Offensive an sich, die Wahl des Kriegsschauplatzes, die von der OHL verpasste Chance der Nutzung des Verrats des Entente-Kriegsplanes, die Anlage der März-Offensive, die Verteilung der Heeresgruppen-Zuständigkeiten bei der Offensive, den weiteren Kriegsplan nach dem ersten Scheitern, Ludendorffs Rechtfertigung, die Haltung der OHL zu einem Verständigungsfrieden und das Zustandekommen des militärischen und politischen Zusammenbruchs unter der Verantwortung Ludendorffs. Sein Gutachten war eine einzige, vernichtende Kritik an den Fähigkeiten und der Sittlichkeit General Ludendorffs165. Der Historiker scheute sich nicht, schärfste Worte in den Mund zu nehmen. Er sprach in Bezug auf die Fortführung der gescheiterten März-Offensive von einem »Fehler, der in der Weltkriegsgeschichte, 162 Siehe hierzu Kapitel V.1. Im Übrigen geht es in dieser Arbeit nicht um eine Analyse der militärischen Vorgänge im Weltkrieg, sondern um den Kampf über die Deutungshoheit hierüber in der Weimarer Republik, sodass ins Einzelne gehende Untersuchungen über den tatsächlichen Verlauf des Weltkriegs hier zu weit abführen würden. 163 WUA IV,3, S. 255. 164 Ebd., S 263. 165 Zum Kampf Delbrücks gegen Ludendorff siehe Kapitel V.1.

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so weit ich sehe, noch nicht vorgekommen ist«166 und im Zusammenhang mit verpassten Möglichkeiten für einen Verständigungsfrieden von »Friedenssabotage«167 sowie von »Widersprüch[en], [die] nicht bloß einen unklaren Kopf, sondern auch eine unerfreuliche, verschlagene Hinterhältigkeit zeigen«168. Zu »ein[em] parlamentarische[n] Skandal sondergleichen«169 kam es, als die Reichsregierung inmitten des Reichstagswahlkampfes Ende 1924 die Veröffentlichung dieser drei Gutachten von Delbrück, Kuhl und Schwertfeger aus politischen Gründen untersagte. Am 7.  November erbat Hans von Seeckt in Vertretung des Reichswehrministers Otto Geßler beim Reichskanzler die Herbeiführung eines Kabinettsbeschlusses über die Frage der Publikation. Er schrieb, der Vertreter des Reichswehrministeriums beim Untersuchungsausschuss, Oberstleutnant Otto von Stülpnagel – ein Ludendorff-Freund170 –, habe in Delbrücks Gutachten »schwerwiegende Lücken« festgestellt. Delbrücks »fortgesetzt scharfe Angriffe gegen den General Ludendorff » würden der Öffentlichkeit ein falsches Bild des historischen Sachverhalts geben. Aus »staatspolitischen Gründen« müsse die Veröffentlichung der Gutachten untersagt werden171. Das Kabinett traf dann am 12. November nach Fürsprache des Kanzlers Wilhelm Marx, des Reichswirtschaftsministers Eduard Hamm (DDP) und des Reichsfinanzministers Hans Luther die Entscheidung, eine Veröffentlichung zu unterbinden, sofern das Auswärtige Amt keine neuen Aspekte mehr beitragen würde172. Hans Delbrück beschwerte sich daraufhin beim Reichsinnenminister Karl Jarres: »Die öffentliche Meinung ist ja schon längst sehr unzufrieden mit dem parlament. Untersuchungsausschuss [sic] weil er so langsam arbeitet. Jetzt liegen endlich AufkläWUA IV,3, S. 310. Ebd., S. 338. Ebd., S. 321. Hans Delbrück an Reichsinnenminister Karl Jarres am 25. Dezember 1924, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Jarres, Bl. 2. 170 Stülpnagel hatte bereits 1920 geschrieben, er hoffe, dass die Männer im Untersuchungsausschuss »Mut genug besitzen, die Erörterung von Fragen abzulehnen, die zur Zeit beim besten Willen nicht zu lösen sind.« (Stülpnagel an Hobohm und Bloch am 9. November 1920, Abschrift in: BArch N 1017/50) Damit bezweckte er nichts anderes als ein Ende der Untersuchungen. 171 Im Einzelnen führte Seeckt vier Punkte an: Die Gutachten würden den geplanten Arbeiten des Reichsarchivs über den Weltkrieg vorgreifen und damit die Öffentlichkeit fehlerhaft informieren, das Ausland würde die kritischen Stellungnahmen propagandistisch ausnutzen, die Verbreitung der angeblich unzureichenden Gutachten würde die Ausbildung des Reichswehrnachwuchses schädigen und schließlich sei ein »Federkrieg« zu erwarten, der die innenpolitische Atmosphäre belasten würde (Der Reichswehrminister am 7. November 1924 an die Reichskanzlei, in: Die Kabinette Marx I / II, Dok. Nr. 350 (»Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik« online; URL: www.bundesarchiv.de/aktenreichskanzlei1919-1933, abgerufen am 29. Mai 2014), Hervorhebungen ebd.). 172 Der Beschluss wurde gefällt vorbehaltlich der Prüfung der Rechtsfrage. Siehe Protokoll der Kabinettssitzung, in: ebd., Dok. Nr. 354 vom 12. November 1924. 166 167 168 169

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rungen von höchsten [sic] sachlichen [sic] Wert vor; es ist ein schlechthin unerträg­ licher Gedanke [sic] dass sie, sei es aus bürokratischem Formalismus [sic] sei es aus irgendwelchen politischen Motiven [sic] dem Volke vorenthalten werden.«173

Auch Eugen Fischer, Generalsekretär des Untersuchungsausschusses, wandte sich am 13. November an den Zentrumspolitiker Peter Spahn, mit der Bitte, »privatim« dem Kanzler Bedenken des Sachverständigen Kuhl und des Ausschussvorsitzenden Walther Schücking beizubringen. Kuhl argumentierte, dass ohne eine Veröffentlichung seines Gutachtens und das Schwertfegers die bereits teilweise bekannte Delbrücksche Beurteilung der militärischen Lage und Entscheidungen von 1918 öffentlich unangefochten bliebe174. Unter Bezugnahme auf Fischers Schreiben führte Seeckt gegenüber der Reichskanzlei aus, nachdem ihm Delbrück bereits unverhohlen mit der Entfachung eines »ungeheuerliche[n] parlamentarische[n] Skandal[s]« gedroht hatte175: »Sollte Herr Geh.Rat Delbrück trotz eines Verbotes durch das Rkab. [Reichskabinett, d. Vf.] unter Nichtachtung der von mir und dem Kabinett als vorliegend erachteten staatspolitischen Interessen an die Öffentlichkeit herantreten, so fällt ihm allein die Verantwortung dafür zu. Ich kann mir aber nicht denken, daß ein an sich national denkender Mann von Ruf sich über das Urteil des RKab. und über die wohl erwogenen Gründe der Reichsstellen einfach hinwegsetzen und somit bewußt seinem Lande schweren Schaden zufügen wird, geleitet einzig und allein von dem Willen, einen im politischen Leben kaum noch eine große Rolle spielenden Feldherrn zu diskreditieren. Es scheint mir aber dringend geboten, auf Herrn Geh.Rat Delbrück, unter Appell an sein nationales Empfinden, mit allen Mitteln einzuwirken, von einem evtl. derartigen Vorgehen abzusehen. Sein Vorgehen würde nur, wie auch sein Gutachten, einen unerhörten Federkrieg heraufbeschwören, was keineswegs im Interesse Deutschlands liegt.«176

Sehr deutlich wird hier die Absicht rechter Kreise, Delbrück mundtot zu machen mit dem perfiden Appell an dessen nationale Gesinnung. Dass noch sechs 173 Delbrück fügte hinzu, er sei »ziemlich sicher zu wissen [sic] was dahinter steckt«, womit er die Machenschaften des Ludendorff-Lagers meinte. Hierüber wollte er dem Minister aber nur »mündlich« berichten. Wie gut Delbrück über die Verhandlungen innerhalb der Reichsregierung informiert war, beweist sein Hinweis im Brief an Jarres, dass Marx die Entscheidung wohl an das Außenministerium abgewälzt habe (Delbrück an Jarres am 17. November 1924, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Jarres, Bl. 1). 174 Fischer an Spahn am 13. November 1924, in: Die Kabinette Marx I / II, Dok. Nr. 350 Anm. 4 (»Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik« online; URL: www.bundesarchiv. de/aktenreichskanzlei1919-1933, abgerufen am 29. Mai 2014). 175 Delbrück an Seeckt am 14. November 1924, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Seeckt. Seeckt antwortete Delbrück wenige Tage später lapidar, die Bewertung der Gründe für die Nichtveröffentlichung, denen der von ihm vertretene Minister »übrigens voll beipflichtet«, obliege dem Kabinett (Seeckt an Delbrück am 20. November 1924, in: ebd., Briefe Seeckt, Bl. 2). 176 Seeckt an die Reichskanzlei am 20. November 1924, in: Die Kabinette Marx I / II, Dok. Nr. 350 Anm. 4 (»Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik« online; URL: www.bundes archiv.de/aktenreichskanzlei1919-1933, abgerufen am 29. Mai 2014).

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Jahre nach Ende des Krieges Ludendorff und seine Gesinnungsgenossen über eine derart feste Machtstellung verfügten, rechtlich zumindest fragwürdige Kabinettsentscheidungen in ihrem Sinne zu beeinflussen, zeugt zugleich von der Bedeutung und Gefährlichkeit, die der ehemalige Generalquartiermeister immer noch hatte. Hans Delbrück antwortete mit einer »Flucht an die Öffentlichkeit«177: Am 30. November sprach er auf einer Wahlkampfveranstaltung der DDP, für die er bei dieser Wahl aus innen- und außenpolitischen Gründen warb, und warnte in aller Schärfe vor Ludendorff und Tirpitz: »Das sind gerade die, denen wir hauptsächlich unser Unglück verdanken.« Er machte die Zurückhaltung der Gutachten bekannt und bedauerte, aufgrund dessen nur seine eigene Meinung über Ludendorff vortragen zu können178. Mit diesem Manöver brachte er zwar den Vorgang an die Öffentlichkeit, beging aber insofern keine Indiskretion, weil er expressis verbis nicht inhaltlich aus den Gutachten vortrug. Sein Vorgehen erzielte ein großes Echo in der Presse. So fragte beispielsweise das »Berliner Tage­ blatt«: »Wann werden die Gutachten veröffentlicht?« Die DDP-nahe Zeitung reagierte verständnislos auf die Zurückhaltung so kurz vor den Wahlen, bei denen Ludendorff erneut als Spitzenkandidat der Nationalsozialisten antrat. Der Hitler-Ludendorff-Putsch liege gerade einmal ein Jahr zurück und aus den Gutachten, die sich mit Ludendorffs Kriegsführung auseinandersetzten, könne das Volk endlich Aufklärung bekommen179. Das Reichskabinett sah sich daraufhin am 4. Dezember zu einer erneuten Beratung über die Gutachtenfrage genötigt. In der Sitzung beharrte Geßler auf dem Standpunkt des Reichswehrministeriums und warnte davor, dem Delbrückschen Gutachten durch eine Freigabe »eine amtliche Autorität zu verleihen«. Sachlich lief dieses Argument ins Leere, da eine Veröffentlichung eines Gutachtens völlig losgelöst von seiner amtlichen Bewertung blieb. Erich Zweigert, Staatssekretär im Innenministerium, begründete hingegen die Notwendigkeit des Festhaltens am Veröffentlichungsverbot mit der Feststellung, dass der Untersuchungsausschuss den Beschluss zur Drucklegung zu einem Zeitpunkt gefällt habe, als der Reichstag sich bereits aufgelöst hatte. Somit besitze 177 Zu dieser hatte ihm auch sein Freund Mayr aus München geraten (Mayr an Delbrück am 20. November 1924, in: SBB NL Delbrück, Briefe Mayr, Bl. 31). Eugen Fischer, den D ­ elbrück offenbar vorab von seinem Vorhaben in Kenntnis gesetzt hatte, legte ihm nahe, diesen Schritt zu unterlassen (Fischer an Delbrück am 26. November 1924, in: ebd., Briefe Fischer, Bl. 24). 178 »Die demokratische Massenkundgebung im Großen Schauspielhaus«, in: unbekannte Zeitung vom 1. Dezember 1924, in: ebd., Fasz. 108.2, Hervorhebung ebd. Das Berliner Tage­blatt berichtete, »[u]nter atemloser Stille des Hauses hält der Gelehrte [Delbrück, d. Vf.] Abrechnung mit Ludendorff«, und griff seine Kritik an der Zurückhaltung der Gutachten auf (Ernst Feder: »Der Vormittag im Großen Schauspielhaus«, in: Berliner Tage­ blatt, 53. Jg., Nr. 570 vom 1. Dezember 1924, Hervorhebung ebd.). 179 O. V.: »Wann werden die Gutachten veröffentlicht?«, in: BT, 53. Jg., Nr. 571 vom 2. Dezember 1924.

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er keine Rechtsgültigkeit. Das Kabinett zog sich auf diese formale Begründung zurück und hielt am Verbotsbeschluss fest180. Dies bedeutete allerdings bereits einen Teilerfolg für Delbrück, da die Reichsregierung offensichtlich keine inhaltlichen Gründe für ihre Entscheidung mehr vortrug. Zusätzliche Brisanz erhielt die Angelegenheit, als ein sozialistisches Ausschussmitglied181 dem »Berliner Tageblatt« und dem »Vorwärts« Auszüge aus Delbrücks Gutachten zuspielte, die diese am 5. Dezember abdruckten. Im Gegensatz zu Delbrücks Vorgehen, der lediglich das Verbot als solches öffentlich machte und nur seine eigenen Erkenntnisse über Ludendorff referierte, war diese Aktion zweifellos nicht korrekt. Außerdem konnte sie leicht ein verzerrtes Bild der Gutachten zeichnen, da unklar war, ob die Fragmente tendenziös ausgewählt worden waren182. Aufgrund der Anonymität lastete manch böswilliger Kommentar diese Indiskretion Delbrück selbst an. Die deutschnationale Zeitung »Der Tag« sprach von »Vertrauensbruch und Wahlschwindel« sowie einem »Tiefstand demokratischer Moral«. Da suggeriert würde, dass die Gutachten Kuhls und Schwertfegers mit dem Delbrückschen im Grundsatz übereinstimmten, forderte das Blatt allerdings selber eine baldige Veröffentlichung der gesamten Gutachten183. Auch der unter Druck geratene Kuhl meldete sich nun öffentlich zu Wort und bekräftigte, dass Schwertfegers und sein Gutachten dem Delbrückschen in der Bewertung Ludendorffs widersprächen. Er wies darauf hin, dass Delbrück dem Teilabdruck fernstehe, kritisierte aber auch die Zurückhaltung der Gutachten. Das gesamte Vorkommnis sei ein schwerer Schlag gegen Ludendorff und eine Beeinflussung der Wahlen184. 180 Siehe Protokoll der Kabinettssitzung, in: Die Kabinette Marx I / II, Dok. Nr. 366 vom 4. Dezember 1924 (»Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik« online; URL: www. bundesarchiv.de/aktenreichskanzlei1919-1933, abgerufen am 29. Mai 2014). Ein am 6. Dezember an den Reichskanzler abgesandter dringender Appell Delbrücks, die Gutachten zu publizieren, um weitere Verwirrungen zu vermeiden, kam folglich zu spät für diese Kabinettsberatung. Schwertfeger und Kuhl, die Delbrück um Mitzeichnung gebeten hatte, verhielten sich zu dem Zeitpunkt noch reserviert (Kuhl an Delbrück am 5. Dezember 1924, in: SBB NL Delbrück, Briefe Kuhl, Bl. 14; Delbrück an den Kanzler in: ebd., Bl. 15). 181 Diese Urheberschaft vermutete jedenfalls Delbrück (Delbrück an Kuhl am 22. Dezember 1924, in: BArch N 1017/53). 182 In dem Teil, den das Berliner Tageblatt abdruckte, bezog sich das Delbrücksche Gutachten mehrfach ausdrücklich auf die beiden anderen Gutachten. Dadurch konnte leicht der Eindruck entstehen, dass Kuhl und Schwertfeger dem Wesen nach auf einer Linie mit Delbrück lagen (»Ludendorffs Verantwortlichkeit«, in: Berliner Tageblatt, 53. Jg. Nr. 578 vom 5. Dezember 1924). 183 Das Volk könne dann sein »Urteil über einen skrupellosen Demagogen fällen« (»Vertrauensbruch und Wahlschwindel«, in: Der Tag, Nr. 293 vom 6. Dezember 1924, in: BArch N 1017/53). Delbrück beschwerte sich über diese Unterstellungen bei der Redaktion und verlangte mehrfach eine Richtigstellung. Sie kam diesen Aufforderungen nur sehr eingeschränkt nach. Vgl. die Briefe Delbrücks an die Redaktion und Presseausschnitte vom Tag in: ebd. 184 Kuhl: »Der Gutachten-Skandal«, in: unbekannte Zeitung vom 11. Dezember 1924, in: ebd. Siehe auch Kuhls Brief an Delbrück vom 6. Dezember 1924, in: SBB NL Delbrück, Briefe

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Die Reichstagswahlen vom 7. Dezember brachten insgesamt eine »Entradikalisierung«185 der Republik. Die extremen Parteien büßten an Stimmen ein, während die Mittelparteien leichte Gewinne verbuchen konnten186. Das noch amtierende alte Reichskabinett beriet acht Tage danach erneut über die eskalierte Gutachtenfrage. Auf Vorschlag Geßlers wurde eine Presseerklärung beschlossen, die das Veröffentlichungsverbot mehr oder weniger leugnete: Man habe lediglich aus formalen Gründen beim Reichstagspräsidenten um einen Aufschub gebeten, da eine Entscheidung über die Publikation nur der neu gewählte Reichstag treffen könne. »Sachlich« würde die Reichsregierung eine vollständige Veröffentlichung sehr wohl »begrüßen«187. Diese Kehrtwende nach den Wahlen zeigt deutlich, wie sehr die Verzögerung politisch motiviert gewesen war. Gleichzeitig ist sie aber auch ein Hinweis darauf, dass es Delbrück mit seinem Vorgehen gelang, einen öffentlichen Druck aufzubauen, dem die Regierung mangels sachlicher Argumente nicht dauerhaft standhalten konnte. Eine ausschlaggebende Rolle dürfte die Gutachtenfrage bei der Wahlentscheidung nicht gespielt haben, die Stabilisierungstendenzen sind eher zurückzuführen auf die wirtschaftliche Prosperität. Dennoch war der gesamte Vorgang ohne Zweifel skandalös. Delbrück brachte dies in einem Beitrag für die Korrespondenz »Aus Wirtschaft und Politik« auf den Punkt: »Man denke eine Reichstagskommission sucht sich drei Gutachter, von denen man annehmen muss, dass sie in jeder Beziehung sachverständig sind; die Reichstags­ kommission erklärt sich für die Publikation der Gutachten, und irgendein Referent in irgend einem Ministerium, von dem man nicht einmal weiss, ob er in der Methode historischer Untersuchungen genügend bewandert ist, setzt es durch, dass dieser Beschluss [sic] der für das deutsche Volk von grösster Wichtigkeit geworden wäre, nicht ausgeführt wird.«188

Das Geschehen verdeutlichte wieder einmal, welche Gefahr von den rechten Kreisen um Ludendorff für die Republik 1924 immer noch ausging. Auch nach der Wende des Kabinetts dauerte es noch über ein halbes Jahr, bis die Gutachten tatsächlich der Öffentlichkeit übergeben wurden189. Delbrück Kuhl, Bl. 16. Delbrück schätzte Kuhl gegenüber die Wirkung der Veröffenlichung als gering ein, da sie wegen der tendenziösen Auswahl angreifbar gewesen sei (Delbrück an Kuhl am 22. Dezember 1924, in: BArch N 1017/53). 185 Winkler, Weimar, S. 271. 186 Die Wahlergebnisse in: Büttner, Weimar, S. 802 f, Tab. 2. 187 Protokoll der Kabinettssitzung, in: Die Kabinette Marx I / II, Dok. Nr. 372 vom 15. Dezember 1924 (»Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik« online; URL: www.bundes archiv.de/aktenreichskanzlei1919-1933, abgerufen am 2. Juni 2014). 188 Hans Delbrück: »Der Ausgang der Wahlen und die Gutachten der Sachverständigen«, in: Aus Wirtschaft und Politik, XIII Jg., Nr. 95 vom 10. Dezember 1924, Sonderdruck in: SBB NL Delbrück, Fasz. 108.1. 189 Delbrück hatte nach der Wendung des Kabinetts gegenüber dem Generalsekretär des Untersuchungsausschusses Fischer darauf gedrungen, die Gutachten »sofort mit tunlichster Beschleunigung« zu publizieren (Delbrück an Fischer am 25. Dezember 1924, in: ebd.,

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versuchte durch das unmittelbare Platzieren einer dreiteiligen Artikelserie im »Berliner Tageblatt«, im »Leipziger Tageblatt«, in der Korrespondenz »Aus Wirtschaft und Politik« sowie im »Neuen Wiener Tagblatt« im Juli 1925, »die öffentliche Meinung von vorn herein zum richtigen Verständnis dieser Enthüllungen anzuleiten.«190 Er kritisierte in den jeweils drei Artikeln insbesondere Ludendorff, dem er vorwarf, »als Stratege vollkommen versagt« zu haben191. Die deutsche Armee habe im Nachgang zu der von Ludendorff fehlerhaft konzipierten Frühjahrsoffensive 1918 im Sommer schwere Niederlagen erlitten. »Es gehört zu den sinnlosen Redewendungen, mit denen auch heute noch das Volk getäuscht wird, wenn man von dem im Felde unbesiegten Heere spricht.«192 Er verwarf damit die Dolchstoßlegende: »Die Revolution hat nicht gesiegt, weil sie von einer alles überwältigenden Kraft strotzte, sondern weil die Vertreter des Kaisertums den Glauben an sich selbst verloren hatten.«193 Delbrücks Mitsachverständiger Kuhl reagierte auf die Delbrückschen Ausführungen im »Militär-Wochenblatt« und warf ihm vor, in seinen Artikeln den Eindruck zu erwecken, als decke sich seine persönliche Sichtweise mit der des gesamten Ausschusses194. Der deutschnationale »Tag« schrieb unter BezugBriefkonzepte Fischer, Bl. 4 f). Fischer artikulierte jedoch diverse verfahrenstechnische Bedenken, sodass Delbrücks Ansinnen nicht zur Ausführung kam (Delbrück an Fischer am 20. und 25. Dezember 1924 und am 1. Januar 1925 sowie Fischer an Delbrück am 20., 23. und 31. Dezember 1924, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Fischer, Bl. 3–6 und ebd., Briefe Fischer, Bl. 25–28). Hans Delbrück hatte sich zugleich auch an den Reichsinnenminister Jarres (Delbrück an Jarres am 25. Dezember 1924, in: ebd., Briefkonzepte Jarres, Bl. 2) sowie an den Reichstagspräsidenten Paul Löbe gewandt. Letzterem kündigte er auch einen Besuch an, um ihm mündlich genauere Aufklärung über die Hintergründe der »Sabotierung« zu geben (Delbrück an Löbe am 2. Januar 1925, in: ebd., Briefkonzepte Löbe, Bl. 2). 190 Delbrück an den Chefredakteur des Berliner Tageblatts Theodor Wolff am 27. Mai 1924, in: ebd., Briefkonzepte Wolff, Bl. 7. Siehe auch Delbrück an das BT am 10. und am 31. Juli 1925, in: ebd., Briefkonzepte BT, Bl. 3, 4. Auch Delbrücks Münchener Freund Mayr enga­ gierte sich in Absprache mit ihm publizistisch, damit »nicht wieder die ludendorfffreundliche Seite das Präveniere hat« (Mayr an Delbrück am 16. Juli 1925, in: ebd., Briefe Mayr, Bl. 48; Mayr an Delbrück am 29. Juli 1925, in: ebd., Bl. 49). 191 Hans Delbrück: »Ludendorffs Strategie im Jahr 1918«, in: BT, 54. Jg., Nr. 340 vom 21. Juli 1925, Hervorhebung im Original. 192 Hans Delbrück: »Ludendorff und das Auswärtige Amt«, in: BT, 54. Jg., Nr. 339 vom 20. Juli 1925, Hervorhebungen im Original. 193 Hans Delbrück: »Die Katastrophe von 1918«, in: BT, 54. Jg., Nr. 338 vom 19. Juli 1925. Das Liegnitzer Tageblatt stimmte in einer Besprechung der Publikation Delbrücks Interpretation zu und bezeichnete ihn als den »zweifellos bedeutendsten historischen Fachmann« (Wolfgang Kraus: »Der Zusammenbruch. Ergebnis der Untersuchung über das Jahr 1918«, in: Liegnitzer Tageblatt, 90. Jg., Nr. 173 vom 26. Juli 1925, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 125.2). Eine ausgewogene Besprechung der drei Gutachten legte auch der Unterausschussvorsitzende Albrecht Philipp (DNVP) in einer Broschüre vor (Philipp, Ursachen). 194 Kuhl: »Die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses über den Zusammenbruch der Offensive 1918«, in: Militär-Wochenblatt, 110. Jg, Nr. 8 vom 25. August 1925, Sp. 241–247, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 107.2. Dabei hatte Delbrück im ersten seiner Artikel explizit

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nahme auf den Kuhlschen Artikel, dass Delbrück »durch den Haß gegen General Ludendorff völlig blind und haltlos geworden ist.«195 Wirklich gehässig wurde Wolfgang Foerster, Oberstleutnant a. D. und Oberarchivrat am Reichsarchiv196, der in einer Serie von sechs Aufsätzen im »Deutschen Offizierbund« (später zusammengeführt in der Broschüre »Der deutsche Zusammenbruch 1918. Glossen zu dem Werk des parlamentarischen Untersuchungsausschusses«) Delbrück in verklausulierter Form Eidesverletzung vorwarf197. Foerster unterstellte ihm, in seinem Gutachten so unsauber gearbeitet zu haben, dass er den Sachverständigeneid nicht mehr befolgt habe. Hinter Foersters vordergründig privat verfasster Schrift stand eine gezielte Aktion des Reichsarchivs, ausgelöst von der Bitte des Reichswehrministeriums in Gestalt Stülpnagels, Delbrücks Gutachten einer gründlichen Kritik zu unterziehen198. Eine zusätzliche Aufladung erhielt der Vorgang, da der »Deutsche Offizierbund« von Delbrücks Mitsachverständigem Kuhl herausgegeben wurde und Delbrück ihn in der presserechtlichen Verantwortung sah. Delbrück verletzten diese ehrenrührigen Anwürfe nicht persönlich. Er fragte dennoch Wilhelm Kahl (dieser war von 1920 bis 1924 Vorsitzender des Unterausschusses gewesen) um Rat, da er sich nicht nur persönlich angegriffen sah, sondern auch die Institution des Untersuchungsausschusses199. Kuhl wiederum schrieb­ Delbrück lapidar, er sei nicht für Foersters Ausführungen verantwortlich und habe selbst niemals den Vorwurf der Eidesverletzung erhoben200. Zu dem Vorgang hatte sich Delbrück sogar ein Gutachten des angesehenen Juristen James Goldschmidt eingeholt und fortan auf den Standpunkt gestellt, für eine moralische Genugtuung einen missbilligenden Beschluss des Untersuchungsausschusses zu verlangen oder alternativ den Vorgang der Staatsanwaltschaft zu-

darauf hingewiesen, dass Kuhl, Schwertfeger und er in der Beurteilung »mehr oder weniger erheblich auseinandergehen.« (Hans Delbrück: »Die Katastrophe von 1918«, in: BT, 54. Jg., Nr. 338 vom 19. Juli 1925). 195 O. V.: »Der Historiker. Merkwürdige Rolle Dr. Delbrücks im Untersuchungsausschuss«, in: Der Tag vom 25. März 1925, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 95.1. Delbrück wiederum wies Kuhls Kritik in einer Replik im Militär-Wochenblatt zurück (Hans Delbrück: »Strategie und Taktik in der Offensive von 1918«, in: Militär-Wochenblatt, Nr. 11, 1925, Sp. 361–363, in: ebd., Fasz. 107.2). 196 Foerster hatte schon drei Jahre zuvor gegen Delbrück polemisiert, als dieser seine Schrift »Ludendorffs Selbstporträt« herausbrachte. Siehe Kapitel V.1. 197 Foerster, Zusammenbruch, u. a. auf S. 12. Einige der Aufsätze finden sich mit Delbrückschen Randbemerkungen versehen in: SBB NL Delbrück, Fasz. 108.7. 198 Vgl. Pöhlmann, Kriegsgeschichte, S. 262. 199 Delbrück an Kahl am 7. Oktober 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Kahl, Bl. 11. Für Delbrück war die Herausgeberschaft des Mitsachverständigen der entscheidende Punkt, warum er sich überhaupt mit der Angelegenheit beschäftigte. Für ihn litt die »Autorität« des Ausschusses (Delbrück an den Ausschussvorsitzenden, o. D. [1925], in: ebd., Fasz. 107.2). 200 Kuhl an Delbrück am 11. Oktober 1925, in: ebd., Briefe Kuhl, Bl. 20.

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zuleiten201. Schließlich wurde der Unterausschussvorsitzende Albrecht Philipp als Vermittler eingeschaltet202, dem es aber nicht gelang, den Streit beizulegen, sodass Delbrück am 28. Dezember bei der Berliner Staatsanwaltschaft Strafantrag gegen Foerster und Kuhl stellte203. Diese stellte jedoch nach einer Prüfung der Artikel fest, dass eine Beleidigung nicht vorliege, da ein wissenschaftliches Urteil kritisiert worden sei. Demnach sei kein öffentliches Interesse vorhanden für eine Strafverfolgung. Eine Privatklage sei Delbrück unbenommen204. Dieser legte beim Generalstaatsanwalt beim Kammergericht Berlin Beschwerde gegen den Bescheid ein205. Auch hier scheiterte er aber mit seinem Anliegen, Foerster wegen seines gehässigen Tonfalls zurechtzuweisen. Der Generalstaatsanwalt urteilte, Foersters Formulierungen seien keine eindeutigen Behauptungen der Eidesverletzung, sondern »lediglich tadelnde Urteile«. Zudem konstatierte er, es läge »nicht im öffentlichen Interesse […], daß die Ursachen, die zu dem Zusammenbruch geführt haben – eine Beweisaufnahme darüber würde sich nicht vermeiden lassen – vor einem Gericht erneut erörtert werden.«206 Hier zeigte sich eine gewisse Müdigkeit der Judikative, über politische Streitfragen auf dem Prozesswege zu entscheiden. In Anbetracht des gerade erst mit größtem Publikumsinteresse durchgeführten Dolchstoßprozesses in München (siehe Kapitel V.3) war dieses Argument nicht von der Hand zu weisen. Vielleicht entsprang diese juristische Entscheidung auch einer politischen Bewertung. In jedem Fall aber zeigt der Vorgang um die Foersterschen Artikel, welch hässliches Niveau die publizistischen Auseinandersetzungen in der Weimarer Republik erreicht hatten. Zugleich wird auch deutlich, dass es den dem Rechtslager zugehörigen Akteuren immer wieder gelang, ihre bösartigen Kommentare so geschickt zu platzieren, dass sie damit durchdrangen. In der Tat waren Foersters Formulierungen zwar eindeutig zu verstehen, aber formaljuristisch schwer zu greifen. Hans Delbrück, der zwar polemische Töne gewohnt war, versuchte nach dem Scheitern anderer Anläufe mit dem Mittel des Rechtsstaats, Debatten dieser Art in einen gemäßigteren Tonfall zu lenken, was ihm an dieser Stelle misslang. Vor allem aber zeigte sich, dass es zu keiner einheitlichen Perzeption der Ergebnisse des Ausschusses kam und die jeweiligen Lesarten unkritisch weiterverbrei201 Hans Delbrück an Eugen Fischer am 3. Dezember 1925, in: ebd., Briefkonzepte Fischer, Bl. 8. 202 Delbrück an Philipp am 14. Dezember 1925, in: ebd., Briefkonzepte Philipp, Bl. 3. 203 Delbrück an die Staatsanwaltschaft Berlin am 28. Dezember 1925, in: ebd., Briefkonzepte Staatsanwaltschaft und in: ebd., Fasz. 107.2. Siehe auch Delbrück an Philipp am 13. Januar 1926, in: ebd., Briefkonzepte Philipp, Bl. 6. 204 Generalstaatsanwalt an Delbrück am 5. Februar 1926, in: ebd., Briefe Generalstaatsanwalt LG, Bl. 1. 205 Delbrück an den Generalstaatsanwalt beim Kammergericht am 13. Februar 1926, in: ebd., Briefkonzepte Generalstaatsanwaltschaft, Bl. 1–3. 206 Der Generalstaatsanwalt an Delbrück am 9. März 1926, in: ebd., Briefe Generalstaatsanwalt KG.

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tet wurden. Damit war aber auch eine aufklärerische Wirkung durch die Gutachten kaum noch zu erreichen, da sie in den politischen Kampf hineingezogen worden waren. Von hoher Bedeutung in der öffentlichen Wirkung der Ausschussergebnisse wurde 1925 der in München stattfindende Dolchstoßprozess207. Da viele der Mitarbeiter im Ausschuss auch in München als Zeugen oder Sachverständige berufen wurden und beide Seiten ihre Erkenntnisse aus dem Ausschuss für die Prozessvorbereitung nutzten, entfalteten die Gutachten darüber eine gewisse Breitenwirkung208. Die Gerichtsverhandlungen erzielten die öffentliche Aufmerksamkeit, die der Untersuchungsausschuss zu dem Zeitpunkt nicht mehr erreichte. Das erklärt auch wesentlich die hohen Erwartungen, die vor allem die Linke in diesen Prozess gesetzt hatte. Der Münchener Prozess hatte allerdings auch umgekehrt Rückwirkungen auf den Berliner Ausschuss: Da verschiedene neue Enthüllungen gemacht worden waren, erweiterte der 4. Unterausschuss seine Fragestellungen. Insbesondere der Ebert-Groener-Pakt209 und der Befehl zum Auslaufen der Hochseeflotte im Oktober 1918 führten zu weiteren intensiven Nachforschungen210. Verschiedene Beobachter erhofften sich von der Weiterführung der Untersuchung der Dolchstoßfrage im Ausschuss eine positive Wirkung211. Delbrück selbst schrieb an den mit ihm befreundeten Reichsgerichtspräsidenten Simons, der nun nach München in Berlin fortgeführte »Dolchstoss-Kampf« nehme »immer gehässigere Formen an. Nicht so unnatür-

207 Hierzu und für die folgenden Ausführungen siehe Kapitel V.3. 208 Krumeich, Dolchstoß-Legende, S. 596, spricht von einem »Umweg«, auf dem die Diskus­ sionen und Ergebnisse des Ausschusses über München die Öffentlichkeit erreichten. 209 Dieser bezeichnet die Vereinbarung zur Zusammenarbeit zwischen Friedrich Ebert als SPD-Vorsitzendem und Mitglied des Rats der Volksbeauftragten sowie General Groener für die OHL in der Novemberrevolution. 210 Der Sekretär des 4. Unterausschusses schrieb an die Sachverständigen am Ende des Prozesses, dass der Ausschuss am 27. November 1925 aufgrund des Verlaufs und der Ergebnisse der Gerichtsverhandlungen beschlossen habe, den Gutachtern die Möglichkeit einzuräumen, »etwaige Irrtümer, Ergänzungen und Berichtigungen« bis zum 1. Januar 1926 einzureichen (Bloch an Delbrück am 30. November 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefe Reichstag, Bl. 3). Delbrück brachte denn auch eine umfangreiche Erweiterung ein, in der er schrieb, seine ursprüngliche Ansicht vom Dolchstoß habe er unter dem Eindruck des Prozesses deutlich verändert (WUA IV,6, S. 61). Hatte er früher revolutionäre Tätigkeiten als durchaus entscheidend eingeschätzt, betonte er jetzt die negative Wirkung der unvermittelten Waffenstillstandsforderung, die mangelnde Bereitschaft des Kaisers abzudanken und die Zumutung an die Schiffsbesatzungen durch den Auslaufbefehl im Oktober 1918 als die drei wesentlichen Momente, die den deutschen Kriegswillen zerbrachen (ebd., S. 72–77). Zur Rolle des Marxismus schrieb er: »Sie [die sozialistische Idee, d. Vf.] gab nicht die Kräfte selber, sondern sie gab nur die Form für die Entladung der Kräfte, die sich als Reaktion gegen die unselige Führung der deutschen Politik im Weltkriege gebildet hatten.« (ebd., S. 78). 211 So z. B. Karl Mayr (Mayr an Delbrück am 2. Januar 1926, in: SBB NL Delbrück, Briefe Mayr, Bl. 64).

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lich, denn die Frage, wem die Schuld an unserem Unglück beizumessen ist, ist für unser Parteileben nahezu ausschlaggebend.«212 Die Untersuchungen der Vorgänge auf der Flotte im Oktober 1918 führten zu mehrjährigen Arbeiten. Delbrück stand hierbei in engem Austausch mit Vizeadmiral Karl Galster, die beide bereits seit der Vorkriegszeit eine Kritik am Tirpitzschen Schlachtflottenbau verband213. Ihnen kam es einmal auf den Nachweis an, dass die Skagerrakschlacht 1916 zwar zunächst einen taktischen Erfolg für Deutschland bedeutet, im Krieg insgesamt jedoch keine entscheidende Wirkung gehabt hatte, da sie an der strategischen Überlegenheit der Royal Navy nichts geändert hatte. Delbrück hatte dies bereits 1919 konstatiert: »Die Zufallsschlacht im Skagerrak hat uns durch einige glückliche Umstände erlaubt, einen gewissen Erfolg zu erfechten und schließlich das Gros der Schiffe wieder in den Hafen zu bringen. Irgend eine strategische oder politische Wirkung hat der Kampf nicht gezeigt.«214

Daraus zogen er und Galster dann den Schluss, dass jede weitere Planung für eine entscheidungssuchende Seeschlacht von vornherein Phantasterei gewesen sein musste, die dann im Oktober 1918 die Kieler Meuterei auslöste215. Delbrück schrieb in der Erweiterung seines Gutachtens für den Untersuchungs­ausschuss mit den Erkenntnissen aus München, der geplante Flottenvorstoß hätte zwar einen »heroischen Untergang« bedeutet, wofür die Flotte »in deutschen Liedern […] gepriesen« worden wäre. Für die Besatzungen aber habe der Befehl schlichtweg »eine psychologische Unmöglichkeit« dargestellt. Aus der Tatsache, dass der Gedanke des Flottenvorstoßes über so viele Jahre hinweg nicht öffentlich gemacht worden war, zog Delbrück den Schluss, dass sich die Marineleitung also dieser »ungeheuren Zumutung« bewusst gewesen sei216. Neben des Kaisers Weigerung zur Abdankung und der enttäuschenden Wirkung aufgrund der unvermittelten Waffenstillstandsforderung sei der Auslaufbefehl das entscheidende 212 Weiter schrieb er: »Die Eindrücke, die ich von den Münchener Verhandlungen gehabt habe, waren für mich, der mit dem Herzen doch noch immer an der alten Zeit hängt [sic] überaus peinlich. Die intellektuelle und moralische Ueberlegenheit [sic] der sozialdemokratischen Zeugen und Sachverständigen überv [sic] die militärische Gegenpartei, [sic] war überwältigend.« (Delbrück an Simons am 18. Dezember 1925, in: ebd., Briefkonzepte Simons, Bl. 7). 213 Die intensive Korrespondenz Delbrücks mit Galster über Marinefragen findet sich in: BArch N 1017/56, SBB NL Delbrück, Briefe Galster und Briefkonzepte Galster. Zur Delbrückschen Einschätzung der kaiserlichen Flottenpolitik siehe Kapitel II. 214 Hans Delbrück: »Die Tirpitz-Erinnerungen«, in: PJb 178 (1919), 309–325, Zitat S. 317. Diese Deutung der größten Seeschlacht der Geschichte ist von der späteren Forschung bestätigt worden. Vgl. Stachelbeck, Heer, S. 79–83; Karsten / Rader, Seeschlachten, S. 333–347. Eine detaillierte Dokumentation der Schlacht bietet Rahn, Seeschlacht, der resümiert, es habe an einer »Gesamtstrategie« in der deutschen Kriegsführung gefehlt (S. 196). 215 Delbrücks Materialsammlung zu der Thematik findet sich in: BArch N 1017/55, SBB NL Delbrück, Fasz. 108.5. 216 WUA IV,6, S. 76.

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Moment gewesen für den vollständigen Zusammenbruch des Kriegswillens in Volk und Truppe: »Diese Kieler Bewegung aber war insofern das Entscheidende, als sie die völlige physische und moralische Ohnmacht der bisherigen Autoritä­ ten offenbarte.«217 Aufgrund dieser Erkenntnisse kämpfte Delbrück energisch gegen die »Marine-Legende«218 an. Wie schwierig es im Ausschuss war, mit­ dieser Interpretation durchzudringen, verdeutlicht ein Schreiben des Sachverständigen Bredts, der seine Arbeiten lieber in den »Preußischen Jahrbüchern« platzieren wollte: »Im Ausschuss kommt nichts mehr zustande, denn es sind dort zu viele willens, die Wahrheit zu vertuschen, anstatt sie heraus zu bringen. Namentlich von Seiten der Marine kommt ja nichts Brauchbares. Ich habe nun keine Lust, mir im Ausschuss die Feindschaft der ganzen Marinevertreter […] auf den Hals zu ziehen. Vor einem wissenschaftlichen Publikum komme ich schon durch.«219

Charakteristisch für die Zustände im Untersuchungsausschuss und das politische Klima ist die Rolle des Delbrück-Schülers Martin Hobohm. Dieser wurde im 4. Unterausschuss als Sachverständiger im März 1926 in der Nachfolge für Simon Katzenstein für die Erforschung des Einflusses der annexionistischen Propaganda im Weltkrieg sowie der Missstände in Heer und Heimat berufen220. In einer Denkschrift, die er kurz nach seiner Berufung verfasste, legte Hobohm dar, wie er sich seine Arbeit vorstellte und welche Bedeutung die Fragestellung hatte. Im Wesentlichen rieb sich der sich im Laufe der Jahre der Sozialdemokratie zuwendende Hobohm an seinem Lehrer Hans Delbrück. Diesem warf er vor, nicht genügend für die Aufklärung der Zustände in der Truppe zu leisten: »Die einschlägigen Verhältnisse des Weltkrieges waren eben doch massiver, als man ohne unmittelbarste Beobachtung voll ermessen konnte. Und Delbrück ist bei aller Starrheit von manchen seiner Begriffe ein zum Verständnis höchst berufener und liberaler Kopf. Wie soll es vollends mit Beurteilern gehen, in welchen diese Qualitäten nicht gleicherweise entwirckelt [sic] sind?«221 217 Ebd., S. 77. 218 Damit bezeichneten er und seine Gesinnungsgenossen die von der ehemaligen Marine­ leitung verfochtene These, der geplante Flottenvorstoß von Oktober 1918 habe gute Aussichten gehabt, das Kriegsglück noch einmal zu wenden. Die Meuterei habe dies verhindert und somit die Niederlage zu verschulden (siehe z. B. Delbrück an Galster am 22. Juni 1927, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Galster, Bl. 18). 219 Bredt an Delbrück am 1. Februar 1927, in: ebd., Briefe Bredt, Bl. 9. 220 Hobohm war bereits einige Jahre zuvor Sachverständiger gewesen, hatte dieses Amt aber im Frühjahr 1921 niedergelegt wegen »politisch-beruflicher Schwierigkeiten« (Hobohm, Untersuchungsausschuß, S. 15). Gemeint war damit seine neue Anstellung im Reichsarchiv, durch die er in Konflikt mit seinem Amt geraten war. Vgl. dazu auch seinen ausführlichen Brief an Delbrück, ohne Datum [1921], in: SBB NL Delbrück, Briefe Hobohm IV, Bl. 64–66. 221 Weiter schrieb er in Bezug auf die Heeresmissstände: »Die Wahrheit aussprechen, ist noch nicht, der Wahrheit zum Siege verhelfen. […] [D]ie Wahrheit über das Geschehene muss

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Hobohms Ausführungen sind nicht nur ein Ausdruck der schrittweisen Entfremdung von Delbrück und ein weiteres Indiz dafür, dass Delbrück sich selbst wenig veränderte, sondern treffen einen wahren Punkt: Das Hauptproblem des Untersuchungsausschusses war nicht die Arbeit selbst, sondern die Vermittlung der Ergebnisse. Die zum Teil wesentlichen Erkenntnisse über verschiedene Aspekte des Weltkrieges drangen kaum durch in die Öffentlichkeit.­ Hobohms beinahe verzweifelte Frage benennt einen wichtigen Grund hierfür: Es mangelte den meisten an Verständigungsbereitschaft und Unvoreingenommenheit bei der Bewertung dieser historisch-politischen Fragen. Nur wenige besaßen die intellektuelle Kraft, um sich vorbehaltlos mit den Vorgängen aus der Weltkriegszeit zu befassen; es war wesentlich bequemer, simpel gestrickten Parolen zu glauben. Aber Hobohm hatte noch ein anderes Problem, das er bereits in der Denkschrift genannt hatte: Ihm war zu wenig Zeit für seine umfangreichen Aufgaben eingeräumt worden. Die kommunistische Zeitung »Rote Fahne« sprach denn auch von einem »neue[n] Vertuschungsskandal zugunsten der Monarchisten« und teilte mit, die KPD werde für Hobohm kämpfen222. Dieser rutschte also automatisch in die Nähe der Kommunisten, weil er von rechts bedrängt wurde – ein ähnlicher Vorgang wie häufig genug bei Hans Delbrück. Für Hobohm war die Zeitnot ein Anschlag auf die Wahrheitsfindung. Er startete deshalb eine »Flucht in die Öffentlichkeit« und legte im April 1926 eine gleichnamige Broschüre vor223. Die Zeit für die Erarbeitung seines Gutachtens war nochmals begrenzt worden, und so schrieb er trotzig: »Es fällt mir nicht ein, mir die Ausübung meines Amtes gutwillig unterbinden zu lassen.« Da er auf die Ausschussbeschlüsse keinen Einfluss nehmen könne, »bleibt nichts übrig, als mich kurzerhand um Beistand an die öffentliche Meinung zu wenden, an das Volk selber, um dessen Selbstachtung und künftigen Frieden es hier geht.« Er kritisierte, dass den Vertretern der Dolchstoßthesen immer wieder breiter Raum, auch im Untersuchungsausschuss, eingeräumt, den Gegnern der Legende aber die Möglichkeit der Aufklärung genommen würde224. Mit einem 15-seitigen Fragenkatalog über viele Details möglicher Missstände im Heereswesen wandte er sich mit seiner Schrift an die Öffentlichkeit, um neben der Erlangung von Unterstützung für die Verlängerung neues Material aus der Bevölkerung zu erbitten225.

der öffentlichen Meinung eingehämmert werden.« (Denkschrift Martin Hobohms mit dem Titel »Bemerkungen zur Vervollständigung der Untersuchung über den Zusammenbruch von 1918« vom 5. März 1926, in: ebd., Fasz. 108.2). 222 O. V.: »Ein neuer Vertuschungsskandal zugunsten der Monarchisten. Abwürgung der ›Dolchstoß‹-Untersuchung«, in: Die Rote Fahne, 9. Jg., Nr. 98 vom 28. April 1926, in: ebd., Fasz. 108.2. 223 Hobohm, Untersuchungsausschuß. 224 Ebd., S. 12, Zitat S. 11. 225 Ebd., S. 17–32.

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Hobohm hielt seinem Lehrer Delbrück vor, Schuld an der Misere zu sein, viel zu wenig Zeit für die Ausarbeitung zu haben. Er schrieb, gerade Delbrück habe im Ausschuss auf große Schnelligkeit gedrungen226. Aber auch sachlich divergierten die beiden: Für die Sitzung des Unterausschusses am 10. Juni 1926 hatte Hobohm einige »[v]orläufige Thesen« aufgestellt. In diesen bezeichnete er die annexionistische Propaganda als »in sehr weittragendem Maße eine Mit­ursache des Zusammenbruchs«, da sie den Kriegswillen der Entente gestärkt und die OHL 1918 zur falschen Strategie getrieben habe. Vor allem habe sie im Volk Illusionen über einen Siegfrieden genährt und somit mittelbar zu der fatalen Enttäuschung beigetragen, die sich bei Bekanntwerden der Waffenstillstandsforderung breit gemacht hatte und eine wesentliche Vorbedingung zur Revolution gewesen war227. Für Delbrück, der an sich ganz ähnlich argumentierte, waren Hobohms Gedanken offenbar zu weitgehend. Denn Hobohm beklagte sich bei seinem Lehrer darüber, dass dieser sein Gutachten über Missstände in Heimat und Heer für überflüssig halte228. Als er zwei Jahre später sein Gutachten schließlich fertiggestellt hatte, war er regelrecht böse auf Delbrück, da dieser es offenbar pauschal ablehnte229. Es ist nicht festzustellen, welche Haltung Delbrück tatsächlich zu Hobohms Gutachten hatte. In Hobohms Vorwürfe spielte sicher auch das zeitweilig schwierige Verhältnis zwischen den beiden hinein230, weshalb er möglicherweise eine Kritik von Delbrück überinterpretierte. Sein Gutachten jedenfalls ist »bis heute historiographisch bemerkenswer[t] und maßstabsetzen[d]«231 . Insgesamt muss festgestellt werden, dass die Arbeit des 4. Unterausschusses zwar wichtige und von der späteren Forschung bestätigte Erkenntnisse über die Verantwortlichkeiten im Kriege zu Tage förderte, es jedoch kaum gelang, diese der breiten Öffentlichkeit zu vermitteln. Immer wieder wurde darüber debattiert, auf welche Weise die Ausschussergebnisse in besserer Form der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden könnten. In der Kritik stand das Verfahren, dass der Ausschuss zu jedem Einzelthema einen Mehrheitsbeschluss 226 Hobohm an Delbrück am 3. Juni 1926, in: SBB NL Delbrück, Briefe Hobohm V, Bl. 38. 227 »Vorläufige Thesen des Sachverständigen Prof. Hobohm über die deutsche annexionistische Propaganda als Mitursache des Zusammenbruchs von 1918«, in: ebd., Fasz. 108.3. 228 Hobohm an Delbrück am 6. Mai 1926, in: ebd., Briefe Hobohm V, Bl. 35 f. 229 Hobohm an Delbrück am 4. Oktober 1928, in: ebd., Bl. 59 f. 230 Hobohm und Delbrück hatten 1920 eine Auseinandersetzung gehabt, da Hobohm sich von seinem Lehrer überfordert und missverstanden fühlte. Delbrück war für Hobohm eine sehr wichtige Bezugsperson und hatte mitunter offenbar psychische Probleme. Siehe seine Briefe an Delbrück in: ebd., Briefe Hobohm IV. 231 Ziemann, Erwartung, S. 167. Eine detaillierte Auswertung und Darstellung von Hobohms Gutachten würde in diesem Rahmen zu weit vom Thema abführen. Eine Lektüre der Publikation ist allerdings nach wie vor lohnenswert (WUA, IV, 11,1: Gutachten des Sachverständigen Dr. Hobohm: Soziale Heeresmißstände als Teilursache des deutschen Zusammenbruchs von 1918, Berlin 1929, hrsg. v. Albrecht Philipp).

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fällte. Dahinter stand die Vorstellung, es gebe eine objektive Wahrheit, die man heraus­finden und per Beschluss festschreiben könne. Während beispielsweise Schwertfeger solche einheitliche Voten erhoffte232, schlug Delbrück eine Alternative vor: »Eine Reichtagskommission ist für die beabsichtigte Untersuchung ein wenig geeignetes Kollegium. Die Mitglieder sind entweder völlig laienhaft oder in ihrem Urteil durch ihre Fraktionszugehörigkeit irgendwie gebunden. Nicht nur die O. H. L. und die Regierung haben doch die Politik von 1918 gemacht, sondern auch der Reichstag. Das prinzipiell Richtigste wäre sicherlich gewesen, wenn die Kommission, ausgestattet mit der Autorität des höchsten Staatsorgans, den Gutachten der Sachverständigen ans Licht verholfen und dann das Urteil der öffentlichen Meinung überlassen hätte. Sie hat sich aber für verpflichtet gehalten, ein Urteil abzugeben. In einer anderen Kommission hat man sogar geglaubt, zu einem einmütigen Urteil kommen zu müssen, und die Folge ist natürlich gewesen, daß das Urteil farblos und inhaltlos geworden ist. […] Um so mehr ist es, möchte ich sagen, bewunderungswürdig, mit wie viel ehrlicher Objektivität hier von Männern, die doch als Parteimänner an ihrer Stelle sitzen, geurteilt worden ist.«233

Weitere Probleme für die Wirkung des Ausschusses waren zum einen die lange Arbeitsdauer, die zwar aufgrund des außerordentlichen Umfangs kaum zu ändern gewesen wäre, aber doch dazu geführt hat, dass sich im Volk schon längst fehlerhafte Ansichten durchgesetzt hatten, bevor die sachlichen Feststellungen des Untersuchungsausschusses veröffentlicht wurden. Zum anderen war es auch von negativer Wirkung, dass der Ausschuss weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit tagte und arbeitete, sodass häufig noch nicht einmal die übrigen Reichstagsabgeordneten informiert waren. Die Aufklärung der Allgemeinheit setzte immer erst dann ein, wenn zu einem Thema eine Entschließung verabschiedet worden war und die Gutachten und Verhandlungsberichte anschließend publiziert wurden. Bei den Veröffentlichungen kam es auch zu Verzögerungen, wie dargestellt teils mit politischer Absicht, aber teils auch aus Nachlässigkeit und aufgrund technischer Schwierigkeiten: Der zunächst beauftragte Verlag Reimar Hobbing erwies sich als so unzuverlässig, dass 1923 ein neuer Vertrag mit der Deutschen Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte geschlossen wurde234. Für den Verlag wurde der Auftrag allerdings ein großer 232 Z. B.: Schwertfeger an Delbrück vom 27. Januar 1924, in: SBB NL Delbrück, Briefe Schwertfeger, Bl. 9. 233 Hans Delbrück: »Die Katastrophe von 1918«, in: BT, 54. Jg., Nr. 338 vom 19. Juli 1925, Hervorhebungen im Original. Bereits bei Einsetzung des Untersuchungsausschusses, Ende 1919, hatte sich Delbrück sehr skeptisch über die Konstruktion gezeigt (Hans Delbrück: »Der parlamentarische Untersuchungsausschuß«, in: PJb 178 (1919), S. 542–550). 234 Walter Bloch an Delbrück am 11. Januar und 20. August 1923, in: SBB NL Delbrück, Briefe Parl. UA., Bl. 2 f. Delbrück hatte sich auch damals an die Öffentlichkeit gewandt und in der Presse die Verschleppung durch den Verlag angeprangert (Hans Delbrück: »Wo bleiben die Gutachten?«, in: unbekannte Zeitung vom 8. Dezember 1922, in: ebd., Fasz. 108.7).

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ökonomischer Misserfolg235. Dies zeigt, wie wenig der Untersuchungsausschuss in die Öffentlichkeit wirkte. Behindernd auf den Fortgang der Arbeiten wirkte auch das allgemeine politische Klima, das es vielen Andersdenkenden schwer machte, Beiträge beizusteuern236. Problematisch an den Publikationen war zudem ihr Umfang und ihr Charakter als Spezialliteratur  – beides war nicht massentauglich. Insofern kam der begleitenden Schriftstellerei eine herausragende Bedeutung zu. Hier engagierte sich Delbrück in besonderem Maße, da er das Manko der Reichstagspublikationen erkannte237. Überhaupt bleibt festzuhalten, dass Hans Delbrück durch seine Autorität den Ausschuss wesentlich aufwertete und durch sein Wirken maßgeblich dazu beitrug, die Arbeiten in eine wichtige Richtung zu lenken238. Dennoch gelang es am Ende nur in unzureichender Weise, die Ergebnisse der jahrelangen Untersuchungen zum Allgemeingut zu machen. Das politisch rechte Spektrum hingegen war wesentlich erfolgreicher dabei, die eigene Deutung in der Öffentlichkeit zu verbreiten239. Dass man mehr zur Aufklärung im Volk hätte machen können, zeigt das Beispiel eines DDP-Antrags im preußischen Landtag: Man wollte eine Schrift zusammenstellen lassen auf der Basis u. a. der Ergebnisse des 4. Unterausschusses mit allen wesentlichen Fakten über die Niederlage, um diese dann an den Schulen zu verteilen und in den Lehrplan aufzunehmen240.

3. Der Dolchstoßprozess »Der Dolchstoss-Prozess ist sozusagen der Exponent des Partei-Kampfes geworden: die Leute, die uns ins Elend gestürzt haben [sic] bestreben sich durch einen systematischen Lügenaufbau die Schuld auf diejenigen abzuwälzen, die den VerständigungsFrieden angeraten und angestrebt haben.«241 235 Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte an Schwertfeger vom 27. Januar 1928, Abschrift in: ebd., Briefe Schwertfeger, Bl. 25. 236 Typisch hierfür ist z. B. das Schreiben eines Hans Beyersdorff, Korvettenkapitän a. D. und Rechtsreferendar in Kiel. Beyersdorff kritisierte gegenüber Delbrück den »geschlossenen Block« im Seeoffizierkorps, der eine »objektive Darstellung der Ereignisse« unmöglich mache. Er bedauerte, aus Rücksicht auf seine Familie und seine wirtschaftlichen Verhältnisse seine Mitarbeit versagen zu müssen und bat um Wahrung seiner Anonymität (Hans Beyersdorff an Hans Delbrück am 12. April 1926, in: BArch N 1017/55). 237 Delbrück an Max Montgelas am 13. August 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Montgelas, Bl. 20 f. 238 Siehe dazu auch das Dankesschreiben des Reichstagspräsidenten Paul Löbe anlässlich des Abschlusses der Arbeiten des 4. Unterausschusses (Löbe an Delbrück am 7. Juli 1928, in: ebd., Briefe Löbe). 239 Dies beklagten unter anderem Herz, Untersuchungsausschuß, S. 18; Fischer-Baling, Untersuchungsausschuß, S. 131. Siehe auch Sammet, Dolchstoss, S. 179. 240 Ferdinand Hoff: »Klärt die Jugend auf!«, in: unbekannte Zeitung vom 31. Oktober 1925, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 107.2. 241 Delbrück an Wilhelm Solf am 19. Dezember 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Solf, Bl. 10–12.

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Gegen die Dolchstoßlegende

Diese Charakterisierung des sogenannten Dolchstoßprozesses von 1925 durch Hans Delbrück bringt dessen Wesen auf den Punkt: In diesem Prozess kulminierte die wissenschaftliche und politische Auseinandersetzung über die Frage nach den Ursachen des Zusammenbruchs von 1918. Im Kern handelte es sich um einen einfachen Beleidigungsprozess, der aber von vornherein eine immense politische Aufladung erhielt: Als im Reichstagswahlkampf vom Frühjahr 1924 der Herausgeber der »Süddeutschen Monatshefte«, Paul Nikolaus Coßmann, zwei Ausgaben seiner Zeitschrift der Verbreitung der Dolchstoßlegende widmete, reagierte die sozialdemokratische »Münchener Post« mit einer scharfen Polemik und beleidigenden Ausdrücken. Coßmann hatte in seinen Heften zahlreiche Autoren zu Wort kommen lassen, die verschiedene Aspekte der Dolchstoßlegende ausarbeiteten. In der Gesamtdarstellung wurden die Thesen in bislang eher ungewöhnlich scharfer Form vorgetragen. Unter anderem hieß es, die Dolchstoßhandlungen zur Zermürbung der deutschen Front seien einheitlich von Großbritannien aus gelenkt worden. Dabei sei es darum gegangen, die Schuld für den Krieg den Alldeutschen zuzuschieben, was Hans Delbrück mit der Randbemerkung versah: »also: Schutz der alldeutschen Bewegung«. Magnus von Levetzow schrieb in seinem Aufsatz im Aprilheft, die militärische Lage sei im Oktober 1918 besser als erwartet gewesen, was Delbrück wiederum mit dem Wort »Lüge« kommentierte242. Die Vorwürfe für die vermeintliche Schuld an der Niederlage durch die systematische Herbeiführung der Revolution wurden auch explizit an die SPD gerichtet. Die Absicht Coßmanns war nur zu deutlich: Es ging ihm um eine Beeinflussung der Reichstagswahlen243. Diese ehrabschneidenden Bezichtigungen nahm die Sozialdemokratie nicht hin. Die »Münchener Post« beschäftigte sich in mehreren Ausgaben mit den Dolchstoßheften, brandmarkte sie als »eine politische Brunnenvergiftung schlimmster Art« und bezeichnete Coßmann als einen »gewissenlose[n] Soldschreiber«244. Zudem schrieb sie, die Darstellung sei eine »Wahllüge und Geschichtsfälschung«. Coßmanns Arbeit sei »journalis­ tische Falschmünzerei«245. Coßmann verklagte daraufhin den Schriftleiter der »Münchener Post«, Martin Gruber, vor dem Münchener Amtsgericht wegen Beleidigung. Gruber und seine Gesinnungsgenossen sahen nun die Chance, vor Gericht den wissenschaftlichen Beweis anzutreten, dass die Dolchstoßthesen nichts als Lügen und Volksverhetzung seien. Aber auch die Klägerpartei zielte auf eine juristische

242 Süddeutsche Monatshefte, 21. Jg., April, Mai 1924, in: BArch N 1017/60. 243 Diese Absicht wird allein schon dadurch illustriert, dass er das zweite Heft, die Mai-Ausgabe, in der Veröffentlichung vorzog auf Ende April. Permooser, Dolchstossprozess, S. 910, spricht sogar von einer »entscheidend[en] Wahlhilfe für die Rechtsparteien.« 244 O. V.: »Das Dolchstoß-Lügenheft«, in: MP, 38. Jg., Nr. 97 vom 25. April 1925. 245 O. V.: »Die Zermürbung der Front. Das Dolchstoß-Lügenheft. IV«, in: MP, 38. Jg., Nr. 100 vom 29. April 1925.

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Feststellung ihrer Behauptungen246. Coßmann hatte bereits zwei Jahre vorher im Kriegsschuldprozess vorsätzlich einen Prozess herbeigeführt, um seine politischen Thesen amtlich feststellen zu lassen (siehe Kapitel IV. 2). Das Gerichtsverfahren wuchs sich daher zu einem »Monsterprozess«247 aus, dessen Vorbereitung eineinhalb Jahre in Anspruch nahm. Erst im Oktober und November 1925 fanden die insgesamt 24 Verhandlungstage statt. Der Beginn hatte sich mehrfach verschoben, da beide Seiten bei der Ausarbeitung von Schriftsätzen und der Benennung von Sachverständigen sowie Zeugen viel Zeit benötigten248. Der Dolchstoßprozess stand in Wechselbeziehung zu den Arbeiten des 4. Unterausschusses des Untersuchungsausschusses des Reichstages. Nicht nur waren die Sachverständigen Delbrück, Kuhl (in München in doppelter Eigenschaft auch als Zeuge geladen), Schwertfeger und Volkmann in beiden Fällen dieselben (in München waren zudem noch der vormalige sowie der aktuelle Generalsekretär des Untersuchungsausschusses, Ludwig Herz und Eugen Fischer, sowie der Oberst i. G. a. D. Theodor Jochim als Sachverständige benannt)249. Sondern der Münchener Prozess fiel auch in den Zeitraum der Veröffentlichung der Gutachten des Untersuchungsausschusses. Nachdem die Gutachten über Monate hinweg aus politischen Gründen vom Rechtslager zurückgehalten worden waren250, wurden sie schließlich im Juli 1925 publiziert. 246 Dieses Ansinnen geht z. B. recht deutlich hervor aus den einleitenden Betrachtungen zum Prozessbericht der klagenden Partei: Beckmann, Dolchstoßprozeß, S. 7–9. 247 So befürchtete Delbrücks Münchener Freund Mayr im Januar 1925 (Mayr an Delbrück am 13. Januar 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefe Mayr, Bl. 38). 248 Zu den mehrfachen Verschiebungen vgl. die Artikel »Zum Kampf gegen die Dolchstoßlüge«, in: MP vom 14. Mai 1925, in: BArch N 1017/60 sowie »Der Kampf gegen die Dolchstoßlüge«, in: MP vom 19. Mai 1925, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 125.1, in denen die beklagte Partei dem Kläger eine planmäßige Verschleppung vorwarf. Siehe auch die Briefe von Grubers Rechtsanwalt Hirschberg an Delbrück, in: SBB NL Delbrück, Briefe Hirschberg und in: BArch N 1017/60. Noch im August 1925 äußerte Delbrück gegenüber dem Gießener Historiker Gustav Roloff, er gehe davon aus, dass der Prozess »überhaupt nicht mehr stattfinden wird.« (Delbrück an Roloff am 14. August 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Roloff, Bl. 11 f). Ähnlich schrieb Delbrück auch noch am 9. September an Montgelas und mutmaßte, Coßmann würde die Klage noch zurückziehen (in: ebd., Briefkonzepte Montgelas, Bl. 25–27). 249 Als Zeugen sagten aus: Major a. D. Röder, Oberst Heinrich Graf Luxburg, Generalleutnant Karl Hildebrandt, Oberst a. D. Fritz von Mantey, Vizeadmiral a. D. Adolf von Trotha, Dr. Dobring, Konteradmiral Paul Heinrich, Fregattenkapitän a. D. Hintzmann, Konteradmiral a. D. von Levetzow, Fregattenkapitän a. D. Scheibe, Kapitän zur See a. D. von Waldeyer-Hartz, Hauptmann a. D. Max Jüttner, Erich Kuttner, Otto Landsberg, Erhard Auer, Gustav Noske, Otto Wels, Generalleutnant a. D. Wilhelm Groener, Dr. h. c. Robert Bosch, Theodor Leipark, Philipp Scheidemann, Friedrich Thimme, Joseph Seeber und Ludwig von Rudolph. Vgl. die Prozessberichte Dolchstoß-Prozeß sowie Beckmann, Dolchstoßprozeß. Der erste Bericht (Dolchstoß-Prozeß) wird im Folgenden als verlässlich einzustufende Quelle verwendet aufgrund der Bewertung bei Permooser, Dolchstossprozess, S. 904, die ihn abgeglichen hat mit den Prozessakten. 250 Siehe hierzu Kapitel V.2.

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Gegen die Dolchstoßlegende

In der Öffentlichkeit wirkten sie zwar kaum251, für die Vorbereitung der Verhandlungen wurden sie aber als Material intensiv genutzt. Delbrück äußerte im April 1925 die Erwartung einer klärenden Wirkung der Publikation im Hinblick auf die Prozessführung. Da er für Gruber Partei ergriff, genehmigte er dessen Rechtsanwalt Max Hirschberg vorab über einen privaten Kontakt die an sich unerlaubte Einsichtnahme in die drei Gutachten, die dieser für seine Vorbereitung verwertete252. Überhaupt lehnte Hirschberg seine Argumentation für den Prozess stark an die Delbrücksche Linie in Sachen Dolchstoßlegende an: Hirschberg kam es vor allem auf den Nachweis an, »dass die alldeutschen Treibereien zur Unterwühlung der Stimmung im Innern und des inneren Friedens weit mehr beigetragen haben als irgend etwas anderes«253. Die beiden kannten sich aus dem Kriegsschuldprozess, der 1922 vor demselben Gericht stattgefunden hatte. Damals hatten sie noch gegeneinander gearbeitet, dabei jedoch große Wertschätzung füreinander entwickelt. Als die mündlichen Verhandlungen am 19. Oktober 1925 mit den Ausführungen der Rechtsanwälte Max Hirschberg für den Beklagten und Joseph Graf von Pestalozza für den Kläger begannen, war das öffentliche Interesse ausgesprochen hoch254. Die Strategie der beklagten Partei zielte auf eine Umkehrung des Prozesses: Hirschberg wollte die Bühne des Amtsgerichts nutzen, um seinerseits schwere Anklagen an die Rechten zu richten. Die eigentlich zu behandelnde Frage, die Beleidigungen durch seinen Mandanten, spielte nur noch insofern eine Rolle, als sie als gerechtfertigt dargestellt wurden in Anbetracht der Verbreitung der Dolchstoßthesen durch Coßmann. Hirschberg versuchte alles, um den Vorwurf der »Geschichtsfälschung«255 richterlich feststellen zu lassen. Er wollte damit nicht nur die in den Dolchstoßheften heftig angegriffene 251 Hirschberg äußerte gegenüber Delbrück am 11. Mai 1925, die Bände des Ausschusses »dringen nicht ins Volk. Hier [im Dolchstoßprozess, d. Vf.] ist eine ganz andere Möglichkeit, auf die Urteilsbildung des Volkes einzuwirken.« (in: BArch N 1017/60, Hervorhebungen ebd.). Dem widersprach Delbrück. Er stimmte Hirschberg zwar zu in der Einschätzung der mangelnden Wirkung der Ausschussgutachten, versprach sich allerdings von dem Prozess kaum mehr (Delbrück an Hirschberg am 13. Oktober 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Hirschberg, Bl. 4). 252 Hirschbergs Anfragen bei Delbrück vom 24. März 1925, in: ebd., Briefe Hirschberg, Bl. 5 f, sowie vom 2. April, in: BArch N 1017/60, und Delbrücks Erlaubnis vom 3. April in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Hirschberg, Bl. 1. Delbrück äußerte die Ansicht, eine Einbeziehung der Gutachten würde die Prozessführung »gewiss sehr vereinfachen«. Gemeint war damit, dass die Gutachten eine wissenschaftliche Klärung der Dolchstoßfrage bringen würden. Auch Mayr teilte die Einschätzung, dass die Arbeit des Untersuchungsausschusses dem Prozess »sachlich« zu Gute komme (Mayr an Delbrück am 12. Mai 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefe Mayr, Bl. 44). 253 Hirschberg an Delbrück am 2. April 1925, in: BArch N 1017/60. 254 Im Saal verfolgten circa 40 Journalisten die Verhandlungen. Vgl. Dolchstoß-Prozeß, S. 7; Beckmann, Dolchstoßprozeß, S. 9. 255 In 14 Gegenthesen hatte Hirschberg »[d]ie wichtigsten Geschichtsfälschungen der Dolchstosshefte« systematisch widerlegt, um hiermit die Prozessführung zu bestimmen (das Papier findet sich in: BArch N 1017/60).

Der Dolchstoßprozess 

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SPD, sondern auch die Republik als solche von dem Makel des Dolchstoßes reinwaschen. Den eigentlichen Dolchstoß sah er in der Waffenstillstandsforderung der OHL vom 29. September 1918, der eine Panik in der Bevölkerung ausgelöst habe. Diese aufgrund der militärisch aussichtslosen Lage ultimativ gestellte Forderung der OHL habe mangels propagandistischer Vorbereitung Entsetzen bei Regierung und Volk verursacht und damit den Boden für die Novemberrevolution vorbereitet256. Hirschbergs Taktik war geschickt angelegt: Als Sachverständige hatte er keine Sozialdemokraten benannt, sondern mit Männern wie Delbrück prominente Persönlichkeiten aus dem Kaiserreich. Damit war dem Argument der parteipolitischen Aufladung von vornherein der Boden entzogen und die Rechten wurden desavouiert, indem die Anklagen an sie von Vertretern des alten Reichs artikuliert wurden. Bezeichnend für die politische Kultur der Weimarer Jahre ist hingegen die Herangehensweise der Kläger: Diese hatten fast ausschließlich hohe und höchste Offiziere als Sachverständige und Zeugen benannt und damit nicht nur gerade die Mitverantwortlichen für die militärische Niederlage, die durch die Dolchstoßlegende verschleiert werden sollte, sondern auch parteiisch orientierte Männer – eben das Rechtslager – geladen. Die Parteilichkeit dieser Personen wurde aber wie üblich nicht anerkannt, sondern durch den Hinweis auf ihr vermeintlich neutrales Expertentum geleugnet257. Die Prozessführung Hirschbergs, gerade auch seine Fähigkeit, die Zeugen im Verhör festzunageln, zeitigte einen großen sachlichen Erfolg: So sah sich Coßmann genötigt, am siebten Verhandlungstag durch seinen Anwalt Pestalozza die MSPD ausdrücklich von dem Vorwurf des Dolchstoßes freizusprechen: Die »Süddeutschen Monatshefte« hätten »in keiner Weise die MSP. als solche in ihrer vaterländischen Haltung angegriffen. Die von der Redaktion zu vertretenden Artikel geben klar zu erkennen, daß das Ergebnis der hier gebrachten Veröffentlichungen im Sinne der Redaktion so zu werten ist, daß die USP. eine vaterlandsfeindliche Haltung eingenommen hat. Dieser Vorwurf ist nicht erhoben gegen die MSP.«258

Die Beklagten hatten Coßmann derart in die Defensive gebracht durch ihr umfangreiches Material zur Frage der Niederlage, dass er den im April 1924 ausdrücklich an die Sozialdemokratie in Gänze erhobenen Vorwurf zurücknehmen musste, wollte er nicht völlig unseriös wirken. Es war aber nun fortan ein Leichtes, linksradikal motivierte Handlungen als solche nachzuweisen, die während des Krieges auf die Schwächung der Armee gerichtet gewesen wa256 Siehe z. B. Hirschbergs Ausführungen im Rahmen der Zeugenvernehmung von Magnus von Levetzow, in: Dolchstoß-Prozeß, S. 73 f. 257 Vgl. z. B. die Ausführungen des Obersten Gädke im »Steglitzer Anzeiger«, der Delbrück als angeblich voreingenommen bezeichnete und die Generale als wahre Kenner der militärischen Zusammenhänge als die besseren Sachverständigen einstufte (Gädke: »Nochmals der Dolchstoß«, in: Steglitzer Anzeiger, Nr. 281 vom 1. Dezember 1925, in: BArch N 1017/60). 258 Dolchstoß-Prozeß, S. 127 f.

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ren. Diese hatte es zwar vereinzelt gegeben, was angesichts der Größe des Landes bzw. der Bevölkerung nicht verwundern kann. Entscheidend war aber stets die Frage, welche Wirkung diese Aktionen gehabt hatten und ob sie planmäßig organisiert worden waren. Einen solchen qualifizierenden Nachweis wiederum versuchte die Dolchstoßpartei jedoch überhaupt nicht zu erbringen. Für die öffentliche Wirkung reichte es in einem politischen Klima, in dem die Dolchstoßlegende in weiten Kreisen schon längst salonfähig geworden war, völlig aus, den einfachen Nachweis zu erbringen, um die fatale Legende zu bestätigen259. Zugleich machte man sich im Sinne der Anklage Hirschbergs nicht länger angreifbar, da der Vorwurf gegen die SPD ausdrücklich zurückgenommen wurde. Diese ausgesprochen geschickte Taktik ist ein wesentlicher Grund dafür, dass letzten Endes der Prozess trotz einer sachlichen Aufklärung kaum politisch klärende Wirkung erzielen konnte. Die folgende Prozesstaktik der beklagten Partei orientierte sich zwar an dem mit Genugtuung zur Kenntnis genommenen Eingeständnis und forderte eine Ehrenerklärung auch für die USPD. Dennoch lief ihre Argumentation fortan ins Leere, da ihr Hauptvorwurf entkräftet worden war. In der publizistischen Auseinandersetzung, die den Prozess begleitete, konnte sie nicht mehr die Deutungshoheit erringen260. Hans Delbrück war der erste261 Sachverständige und wurde am 2. November gehört. Zuallererst bekräftigte er, dass auch er »mit allen Fasern des Herzens am alten Deutschland häng[e]«, bereits im Deutsch-Französischen Krieg mitgekämpft und unter Bismarck im Reichstag gesessen habe.

259 So führte Pestalozza in einer Replik auf das Schlussplädoyer Hirschbergs im Prozess am 18. November aus, es sei unerheblich, »ob eine Handlung wirkte, es komme darauf an, ob es Handlungen waren, die sich vom Standpunkt der Ehre und Moral und von der Zugehörigkeit zum Volke rechtfertigen lassen.« (Dolchstoß-Prozeß, S. 515). 260 Kritisch bemerkte die »Münchener Post« Anfang November, die Rechtspresse habe bislang stets lange Berichte über den Prozess gebracht, als die Generäle der Coßmann-Partei das Wort hatten. Nun, bei den Vorträgen der Sachverständigen, lese man fast gar nichts in diesen Blättern: Über die Aussage von Ludwig Herz würde die »Kreuzzeitung« 15, die »Deutsche Tageszeitung« elf, die »Tägliche Rundschau« zehn, die »Deutsche Zeitung« fünf, der »Berliner Lokal-Anzeiger« und die »Deutsche Allgemeine Zeitung« null Zeilen bringen (o.V.: »Die ›objektive‹ Rechtspresse«, in: MP, 39. Jg., Nr. 258 vom 7./8. November 1925, in: BArch N 1017/60). Dies ist ein weiteres Indiz dafür, dass die rechte Strömung in Deutschland immer wieder tatsächlich unsachlich und parteiisch agierte – ein Vorwurf, den sie selbst immer gegenüber den Sozialisten und Demokraten erhob. 261 Welchen Stellenwert gerade Hans Delbrück für die Prozessführung der Beklagten einnahm, wird illustriert durch einen Brief Hirschbergs, in dem er sich für Delbrücks Lob für sein Schlussplädoyer bedankte: »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich und stolz mich diese Ihre Anerkennung gemacht hat. […] Es wird für mich aber doch eine bleibende Erinnerung sein, daß Sie es [die positive Wirkung seiner Prozessführung, d. Vf.] mir in dieser Form bestätigt haben.« Er bedankte sich zudem nochmals bei Delbrück »für Ihre entscheidend wichtige Teilnahme an dieser Arbeit.« (Hirschberg an Delbrück am 22. November 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefe Hirschberg, Bl. 7, Hervorhebung ebd.).

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»Aber ich weiß, daß Politik nur gemacht werden kann im Zusammenwirken von Kopf und Herz, und wenn beide miteinander in Widerspruch kommen, muß der Kopf die Oberhand behalten. So habe ich mich zu der Erkenntnis durchgerungen, daß jetzt Deutschland nur in der Form einer demokratischen Republik leben kann und ich muß auf diesem Boden wirken.«

Delbrück schloss ein paar Sätze zu seinem Engagement in der Kriegsschuldfrage an und erinnerte sodann an seine Arbeit als Sachverständiger im Fechenbach-Prozess, bei dem er auf Seiten Coßmanns gegen die Kriegsschuldlüge gestanden hatte262. Indem er dieses Grundmotiv für das Mitwirken am Weimarer Staat sowie sein vielfältiges Engagement im nationalen Sinne zu Prozessbeginn postulierte, entkräftete er von vornherein den etwaigen Vorwurf, ihm sei als angeblichem Republikaner nur daran gelegen, den alten Staat und dessen Träger schlecht zu reden. Zum Thema Dolchstoß führte Delbrück eine wesentliche Unterscheidung ein: So gäbe es die Variante, bei der dem siegreichen Heer in den Rücken gefallen werde, oder alternativ »die Vergrößerung einer vorhandenen Niederlage«. Aber auch diese abgeschwächte Form, die These, die Revolution habe auf den Waffenstillstand und den Friedensvertrag ungünstig gewirkt, lehnte Delbrück ab durch einen schlichten Datenvergleich: Erzberger als Leiter der Waffenstillstandskommission sei bereits am 7. November 1918 abgereist mit dem klaren Auftrag Hindenburgs, zu versuchen, Verbesserungen zu erzielen, notfalls aber alle Bedingungen anzunehmen. Erst am 8. und am 9. November habe sich aber die Revolution tatsächlich bedrohlich ausgeweitet. Damit sei keine Einflussnahme der Revolution auf den Waffenstillstand möglich gewesen263. Delbrück führte als Ursache für die Niederlage seine bekannte Auffassung aus: Der Krieg sei verloren gegangen, da die Frühjahrsoffensive von 1918 »zwar einen ruhmvollen taktischen Erfolg, aber keinen strategischen Erfolg hatte.« Die Angriffe seien von den Truppen »mit tadelloser Bravour« ausgeführt worden. Ihnen sei kein Vorwurf zu machen. Die Verantwortung liege bei der Führung, die »überaus schwere Fehler« gemacht habe. Die Stimmung an der Front sei in der Folge tatsächlich sehr schlecht geworden. Aber für Delbrück war die Frage entscheidend, ob sie durch revolutionäre Agitation oder durch die materielle Not dermaßen herabgesetzt worden war. Er führte aus, dass sich im Volk im Sommer 1918 all262 Dolchstoß-Prozeß, S. 272 f, Zitate S. 272, Hervorhebungen ebd. Delbrücks Arbeit als Sachverständiger für Pestalozza im Kriegsschuldprozess 1922 betonte auch Hirschberg in seinem Plädoyer (O. V.: »Fortsetzung der Plädoyers im Dolchstoß-Prozeß«, in: MNN, Nr. 319 vom 18. November 1925, in: BArch N 1017/60). 263 Dolchstoß-Prozeß, S. 273. Delbrück war hier aber ein Fehler unterlaufen. In einer Zuschrift an eine Zeitung berichtigte er diesen Punkt nachträglich und bekannte, Erzberger sei am 10. und nicht am 7. November entsprechend instruiert worden (dieser Zeitungsausschnitt findet sich in: BArch N 1017/60). Tatsächlich hatte Hindenburg entsprechende Anweisungen am 10. November 1918 gegeben (Telegramm Hindenburgs an das Preußische Kriegsministerium sowie die deutsche Waffenstillstandskommission vom 10. November 1918, in: Amtliche Urkunden, Nr. 107, S. 265).

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mählich die Erkenntnis durchgesetzt habe, von der Führung über die tatsächliche militärische Lage »belogen« worden zu sein, was vollauf ausgereicht habe für die »moralische Zermürbung der Front.«264 In den weiteren Ausführungen beschäftigte er sich eingehend mit den Möglichkeiten eines früheren, annehmbaren Friedens und machte, gemäß seiner Überzeugung bereits während des Krieges, der Führung schwere Vorwürfe, mehrfach Chancen für einen Verständigungsfrieden nicht wahrgenommen zu haben. Damit drehte er den Vorwurf für die Verantwortung der deutschen Niederlage um: Nicht die Sozialdemokraten seien Schuld an der Revolution, die dann den ungünstigen Frieden erzwungen habe, sondern die militärische Führung – und hier insbesondere Ludendorff – trage die Verantwortung dafür, den Krieg nicht bereits viel früher zu günstigeren Bedingungen beendet zu haben265. Die Generale und Admirale, die als Zeugen vor Gericht bereits ausgesagt hatten, hätten naturgemäß diese Zusammenhänge geleugnet: »Denn sie gehören mit in den Kreis der Schuldigen«266. Dieser Satz war zweifellos eine persönliche Kampfansage und musste zu einer schroffen Abwehrreaktion führen, die eine Verständigung in der Sache erheblich erschwerte. So negativ diese Vorwürfe Delbrücks auch gewirkt haben, so waren sie in der Sache angebracht. Um in der Öffentlichkeit gegen die Dolchstoßlegende überhaupt durchdringen zu können, musste die Autorität der Offiziere in Frage gestellt werden. Nur diese Dekonstruktion ihrer Gesinnung konnte einem unvoreingenommenen Betrachter die Augen öffnen. Dem diente auch seine Missbilligung der Tatsache, dass im Prozess bislang lediglich höchste Offiziere vernommen worden waren; eine Anhörung von Frontsoldaten hätte ein anderes Bild ergeben über die tatsächliche Stimmung in den Schützengräben267. Sein Gutachten gipfelte, bezugnehmend auf die eigentlich zur Verhandlung stehende Frage nach der Beleidigung Coßmanns durch die »Münchener Post«, in dem klaren Bekenntnis, die Dolchstoßhefte seien »eine Geschichtsfälschung um so schlimmerer Art, als sie gleichzeitig eine Volksvergiftung darstell[en].« Deshalb seien die scharfen Töne der »Münchener Post« verständlich und nicht zu beanstanden268. In der der Erstattung seines Gutachtens nachfolgenden Vernehmung versuchten sowohl Pestalozza, als auch Coßmann selbst sowie der Mitsachverständige Jochim269, Delbrück in die Enge zu treiben. Er bewies aber 264 Dolchstoß-Prozeß, S. 274 f, 280 f, Hervorhebungen ebd. 265 Ebd., S. 276–280. 266 Ebd., S. 281, Hervorhebung ebd. 267 Ebd., S. 282. 268 »Eine kühle, sachliche Widerlegung gegen sie [die Süddeutschen Monatshefte, d. Vf.] würde nicht durchgedrungen sein, die leidenschaftlichen Angriffe mußten leidenschaftlich beantwortet werden« (ebd., S. 283, Hervorhebungen ebd.). 269 Dieser hatte in seinem Gutachten davon gesprochen, dass »Soldaten anderer Armeen erheblich genügsamer« gewesen seien als die deutschen (ebd., S. 389). Diese schwere Anschuldigung aus dem Munde eines im Krieg gut verpflegten und geringen Gefahren ausgesetzten Stabsoffiziers offenbart einmal mehr die Missstände, die in der Armee geherrscht und mit dazu beigetragen hatten, die Moral der Truppe zu untergraben.

Der Dolchstoßprozess 

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eine außerordentliche Schlagfertigkeit und eine vollständige Beherrschung des Stoffs, sodass es der klägerischen Partei nicht gelang, die Aussagen seines Gutachtens in Zweifel zu ziehen270. In der Presse erzielte Delbrücks Auftritt vor Gericht ein großes Echo. Die »Münchener Post«, die den Prozess für die Sozialdemokratie intensiv begleitete, sprach von einem »geradezu vernichtende[m] Urteil« über die Dolchstoßthesen und bezeichnete das Gutachten als »eine restlose Bekräftigung unseres politischen und auch rechtlichen Standpunktes.«271 Die Coßmann nahestehenden »Münchner Neuesten Nachrichten« hingegen, damals auflagenstärkste Zeitung in München, kommentierten Delbrücks Referat wie folgt: »Von dem ihm heute nicht mehr sehr sympathischen alten preußischen System wurde er mit dem Titel eines Geheimen Regierungsrates geschmückt; eine Verzierung, die er unseres Wissens seinerzeit, als noch Kaiser Wilhelm II. regierte, jedenfalls nicht abgelehnt hat; wie er ihren Gebrauch bei der Anrede auch heute in der ›geistig völlig neuen Zeit‹ noch nicht zurückweist. […] Wir stehen also wieder vor dem gleichen Fall, der in dem Dolchstoßprozeß schon des öfteren eine so betrübliche Rolle gespielt hat, nämlich dem, daß Parteileidenschaft dazu führt, die einfachsten Grundsätze wissenschaftlicher Objektivität und menschlicher Gerechtigkeit außer Acht zu lassen. […] Dieses Gutachten ist das überflüssige Gerede eines fanatischen Stubengelehrten, der aus Gott weiß welchen Gründen das Bedürfnis hat, seine Haltung mit einem wissenschaftlichen Gutachten zu rechtfertigen, das dem heutigen Stand der historischen Quellenkritik in nichts entspricht. – – Das unter Eid abgegebene historisch-wissenschaftliche Gutachten des ehemaligen Professors für Geschichte an der Universität Berlin, Dr. Hans Delbrück, war ein schwarzer Tag für die offizielle deutsche Geschichtsforschung.«272 270 Ebd., S. 285–292. 271 O. V.: »Coßmanns Geschichtsfälschung und Volksvergiftung«, in: Münchener Post, 39. Jg., Nr. 254 vom 3. November 1925, in: BArch N 1017/60. Max Hirschberg sprach rückblickend von einer »unbestechlich[en] Liebe zur wissenschaftlichen Wahrheit« in Delbrücks Auftritt (Hirschberg an Delbrück am 15. November 1928, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 6.1). 272 Fritz Gerlich: »Hans Delbrück – der ›Historiker‹«, in: MNN, 78. Jg., Nr. 306 vom 5. November 1925, in: BArch N 1017/60. Dass Fritz Gerlich nicht der Einzige war, der sich in gehässigen Kommentaren über Delbrück erging, beweist z. B. ein Zeitungsartikel, in dem es hieß, ein »bekannter Historiker« habe folgende Charakteristik über Delbrück eingesandt: »Auf ihn wurde der Ausdruck geprägt, daß er stets ›den Nagel neben den Kopf treffe‹.« (»Der ›Sachverständige‹ Delbrück!«, in: unbekannte Zeitung, o. D. [1925], in: ebd., Hervorhebung im Original). Ähnlich auch eine in der deutschnationalen München-Augsburger Abendzeitung veröffentlichte Zuschrift, in der Delbrück als »Querkopf« bezeichnet wurde (»Ein unsachlicher Sachverständiger«, in: München-Augsburger Abendzeitung vom 8. November 1925, in: ebd.). Auch der Tübinger Historiker Adalbert Wahl kritisierte Delbrück in einem Beitrag für die MNN und sprach von einem »überaus schwachen Sachverständigengutachten« (Adalbert Wahl: »Rückblick eines Nicht-Juristen auf den Dolchstoß-Prozeß«, in: MNN, Nr. 351 vom 20. Dezember 1925, in: ebd.). Oder auch Oberst Gädke: »Der Dolchstoß«, in: Berlin-Steglitzer Anzeiger, 52. Jg., Nr. 268 vom 14. November 1925, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 125.2, der Delbrück eine »fanatisch[e] Voreingenommenheit« zuschrieb. Dem antwortete in sehr moderatem Tonfall Delbrücks Schützling Konrad Molinski: »Prof. Delbrück und der Dolchstoß«, in: Berlin-Steglitzer Anzeiger, Nr. 279 vom 28. November 1925, in: BArch N 1017/60.

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Gegen die Dolchstoßlegende

Delbrücks Gutachten ist aus heutiger Sicht vielmehr als eine Sternstunde der »offiziellen deutschen Geschichtsforschung« zu bezeichnen273 – und damit im Übrigen ein klarer Gegenbeweis für die Behauptung mancher heutiger Historiker, die Weimarer Zunftgenossen hätten bei der Bekämpfung der Dolch­ stoßlegende versagt274. Kaum etwas kennzeichnet die politische Kultur der Weimarer Republik eindrucksvoller als diese Worte einer rechten – nicht etwa nationalistischen – Zeitung. Ein Leser schrieb daraufhin einen empörten Brief an den Aufsichtsratsvorsitzenden der »Münchner Neuesten Nachrichten«. Er habe in einem größeren Kreis politisch Interessierter über den Artikel des Hauptschriftleiters Fritz Gerlich gesprochen. Trotz unterschiedlicher Meinung auch zur Dolchstoßfrage war man sich aber einig, dass man »selten einen in Gesinnung und Form so niedrigen und schamlosen Aufsatz« gelesen habe275. Die »Münchner Neuesten Nachrichten« aber druckten einige Tage später ein von ihnen erbetenes Gutachten zu dem Prozess des Hallenser Historikers Richard Fester ab, der in seinen Ausdrücken gegen Delbrück Gerlich kaum nachstand: Er stimmte dessen Ausführungen vollauf zu und strebte nun danach, in Anbetracht von Delbrücks Gutachten »die Standesehre zu retten.« Noch nie habe sich ein Wissenschaftler »so blamiert« wie Delbrück276. 273 Auch der (der SPD nicht nahestehende) Zeuge Ludwig Ritter von Rudolph schrieb rück­ blickend über Delbrücks Aussage: »Der Verantwortung bewußt, die er als Sachverständiger vor dem Gericht und als Historiker vor der Geschichte trug, machte er seinem Titel Professor mit einem seltenen Bekennermut Ehre.« (Rudolph, Lüge, S. 99). 274 Vgl. z. B. Kolb, Republik, S. 156; ähnlich, etwas allgemeiner gefasst auch Jäger, Forschung, S. 202. 275 Robert Held an den Aufsichtsratsvorsitzenden der MNN am 5. November 1925 [das Datum muss fehlerhaft sein, d. Vf.], in: BArch N 1017/60. Fritz Gerlich hatte sich bereits zuvor über die Entlastung der MSPD durch Coßmann empört und die Vorwürfe an die gesamte Sozialdemokratie erneuert (Fritz Gerlich: »Ueberwindung der Volkszerklüftung«, in: MNN, 78. Jg., Nr. 304 vom 3. November 1925, in: ebd.). Gerlich fiel noch an anderer Stelle unangenehm auf: So berichtete der entschieden republikanisch gesinnte Reichskunstwart Edwin Redslob, er sei im Mai 1927 im Münchener Hofgarten auf eine Gruppe Bekannter getroffen. Auch dabei gewesen sei der ihm unbekannte Fritz Gerlich, der sofort angefangen habe, ihn mit Ausdrücken zu beleidigen wie: »Für 50.000 Mark Gehalt haben Sie Ihre Impotenz an das Reich verkauft.« Oder: »Wie können Sie es wagen, Ihre käufliche Visage durch Deutschland zu tragen.« Redslob hatte daraufhin Straftantrag gestellt, und Gerlich wurde zu 500 Mark Geldstrafe verurteilt (Welzbacher, Formgebung, S. 44 f). Heutzutage hingegen wird Fritz Gerlich als Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus geehrt (vgl. z. B. die Website www.gerlich.com, die eine entsprechende Darstellung enthält, abgerufen am 30. Juni 2014). Diese einseitige Idealisierung kann folglich nicht aufrecht erhalten werden. 276 Richard Fester: »Der Dolchstoß-Prozeß und die geschichtliche Wahrheit«, in: MNN vom 18. November 1925, in: BArch N 1017/60, Hervorhebung ebd. Delbrück reagierte mit einer betont sachlichen Richtigstellung (»Erklärung Delbrücks«, in: MNN, 78. Jg., Nr. 324 vom 23. November 1925). Ludwig Herz, den Fester ebenfalls attackiert hatte (»Herz unterscheidet sich von Delbrück durch die mangelnde Vorbildung und durch die fleißige Vorbereitung.«), erwiderte in der MP (die MNN hatten ihm eine Replik verweigert) und begründete noch einmal auf sachlicher Ebene sein Urteil über die Friedensmöglichkeiten im Krieg. Hans Delbrück habe ihm zugestimmt. »Das genügt mir. Nicht etwa, weil Delbrück

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Die »Münchener Post« schrieb am 6. November über Delbrücks Aussage: »Ehrt eure deutschen Meister!« und schrieb zu den Attacken der MNN und der völkischen Presse: »In der Ordnungszelle darf man nun einmal nicht nur seines Lebens, sondern auch seiner Ehre nicht sicher sein.«277 Dazu brachte sie folgendes Gedicht: »Ich bin es satt! Ich hab’ genug! Ich! Ich! Ich überwinde alle, so sie sich! … Ich sehe, daß es allerhöchste Zeit! Ich greife ein in diesen Dolchstoß-Streit! Ich sehe meines Reiches Herrlichkeit, Ich seh’ sie stürzen, meine alte Zeit! Ich ließ zu lange meine [sic] Langmut schweifen! Ich ließ zu lange meine Zügel schleifen! Ich ließ die Welt zu lange ohne mich! Ich sehe schon: Die Welt entrüstet sich… Ich sehe, daß ein Urteil wird gesprochen… Ich sehe, ohne mich! Das wird gerochen! Ich bin kein Delbrück, Fischer, Landsberg, Gröner! Ich bin der über allen steh’nde Dröhner! Ich bin erhaben über die Gewalt! Ich bin der Wissenschaftler in Gestalt! Ich bin die Sachlichkeit, der sich’re Blick! Ich fasse stets den Kopf nur am Genick! Ich spreche niemals häßlich von Personen, Die meine alte Herrlichkeit verschonen! – Ich bin der überragende Verstand! Ich habe alles früher schon erkannt! Ich bin Aristokrat, zwar nicht von Blut, Ich bin’s, weil ich’s bin: Geist und Geistesmut! Ich bin auch ich! Wer wagt es, ohne mich Den Hintern abzuwischen heimlich sich!? – Ich bin allein der unergründlich Weise! Ich dreh’ mich jahrelang um mich im Kreise! Ich um mich selbst! Ich um die hellste Klarheit! Ich bin die unverstand’ne ew’ge Wahrheit! Ich auch ein Teil vom größten Welt-Malheur?! Ich starker Denke Zeitungs-Redakteur?! – Ich bin Minister, Kanzler, Kaiser, König! Ich sage: ›Das ist alles noch zu wenig! meine Ansichten teilt, sondern weil er ein Historiker von Weltruf ist, und sein Urteil für mich schwerer wiegt als das des Herrn Fester, dessen Name über den Kreis seiner Fachgenossen hinaus kaum bekannt ist.« (Ludwig Herz: »Eine Erwiderung an Herrn Professor Dr. Fester-Halle«, in: MP, Nr. 276 vom 28./29. November 1925, in: BArch N 1017/60). 277 O. V.: »Coßmanns ›Sachverständiger‹ über  – Marxismus!«, in: MP, 39. Jg., Nr. 257 vom 6. November 1925, in: ebd., Hervorhebung im Original.

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Ich bin ein Gott! Die Macht mein Element! Ich bin ein Gott! Und bin es ohne End’! Ich bin ein Gott! Wer anders denkt, der irrt sich! Ich, Ich, ein Gott – allwissend, herrlich: Ich bin ein Gott! Und niemals Fritze Gerlich!«278

Der Prozess verlief weiter mit dem Gutachten von Ludwig Herz, der »Delbrücks Zerstörungswerk im Bezirk der Dolchstoßlegende fort[führte] – etwa nach dem Grundsatz: ›Was schon fällt, das soll man kräftig stoßen.‹«279 Aus Sicht der Beklagten entwickelten sich die Verhandlungen damit zunächst durchaus positiv. Die SPD war von Coßmann ausdrücklich rehabiliert worden und die Fülle an Materialien und Aussagen, die im Prozess zutage getreten waren, boten reichhaltiges Agitationsmaterial. Dennoch war das am 9. Dezember verkündete Urteil des Amtsrichters Frank skandalös: Gruber wurde wegen Beleidigung und übler Nachrede zu 3.000 Mark Geldstrafe verurteilt. In der Begründung hieß es, der Vorwurf der »Münchener Post« der Geschichtsfälschung »ist nicht als wahr erwiesen worden.« Es habe bewusste und absichtlich auf die Zertrümmerung der Wehrkraft gerichtete Handlungen hinter der Front gegeben, welche die Stimmung in der Etappe, beim Ersatz und in der Heimat »erheblich geschädigt« hätten. Die »Süddeutschen Monatshefte« enthielten zwar »verschiedentlich Verallgemeinerungen, die nicht gerechtfertigt sind«, der Kläger habe aber in der Hauptverhandlung deutlich erklärt, dass er keine Vorwürfe an die MSPD gerichtet haben wollte. Die in den Dolchstoßheften festzustellenden Mängel könnten nicht »als bewusst falsche Darstellung bezeichnet werden«, weshalb der Vorwurf der »Münchener Post« der Geschichtsfälschung unzulässig sei280. »Ich bin geradezu starr darüber [über das Urteil, d. Vf.]«, schrieb Hans Delbrück an Max Hirschberg, als er vom Urteil erfuhr, und meinte, dass es »sehr verderblich« auf die öffentliche Meinung wirken werde281. Im linksliberalen »Berliner Tageblatt« schrieb Delbrück, der Prozess habe eine vollständige Widerlegung der Anklage an die Sozialdemokratie gebracht, was aber bei der Urteilsfindung 278 O. V.: »Des Gottes Hymnus an sich selbst. Seinem armen Erdenkinde Paulchen Coßmann zugeeignet«, in: MP, 39. Jg., Nr. 257 vom 6. November 1925, in: ebd., Hervorhebung im Original. Auch am 11. November brachte die MP einen polemischen Artikel gegen Gerlich (o. V.: »Der ›Marxisten‹-Töter«, in: MP, 39. Jg., Nr. 261 vom 11. November 1925, in: ebd.). Auf Delbrücks Mittwoch-Abend am 2. Dezember war der Prozess auch ein Thema, zu dem Brockdorff-Rantzau und Friedrich Meinecke eingeladen waren (Delbrück an BrockdorffRantzau am 18. November 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Brockdorff, Bl. 2; Delbrück an Meinecke am 30. November 1925, in: ebd., Briefkonzepte Meinecke, Bl. 21). 279 O. V.: »Coßmanns Geschichtsfälschung anerkannt!«, in: MP vom 4. November 1925, in: BArch N 1017/60. 280 Das Urteil findet sich in: ebd. 281 Delbrück an Hirschberg am 9. Dezember 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Hirschberg, Bl. 9.

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offenbar überhaupt keine Rolle gespielt habe. Richter Frank habe den Prozess zwar mit einer »tadellosen Unparteilichkeit« geführt. Das »Fehlurteil« sei zu erklären »aus einer falschen Tradition in unserer Judikatur«: Eigentlich hätten die zur Verhandlung stehenden Attacken der »Münchener Post« als eine Verteidigung berechtigter Interessen gewertet werden müssen. Solche seien nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts aber lediglich egoistische und keine ideellen, wie z. B. für eine Partei. Delbrück war es »unbegreiflich«, wie sich die Rechtsprechung »auf einen so niedrigen ethischen Standpunkt hat stellen können«282. Frank war den Beteiligten bekannt aus dem Kriegsschuldprozess 1922. Damals hatte Delbrück ihn hoch gelobt. Hier nun zeigte sich, dass Frank zwar formal korrekt arbeitete, jedoch eindeutig den Rechtskräften zugeneigt war. Nachdem Delbrück Frank seinen Artikel zugesandt hatte283, stellte er sich ihm gegenüber auf den Standpunkt, die »Betrachtungsweise juristischer Dinge durch Juristen ist eine andere und muss eine andere bleiben als die Betrachtungsweise solcher Dinge durch Historiker und Politiker.«284 Reichsgerichtspräsident Simons kommentierte diese Haltung in einem Schreiben an Delbrück als »ein krasses Zeichen der Verkehrung aller Kompetenzen auf dem Gebiete politischer und richterlicher Urteilsfindung. Während unsere Parlamente sich in Untersuchungsausschüssen richterliche Funktionen aneignen, massen [sic] sich erstinstanzliche Richter politisch-historische Urteilsfähigkeit an. Wenn der Richter des Dolchstoßprozesses sich wirklich, wie es in den Urteilsgründen heißt, auf die juristische Seite des Falles beschränken wollte, so durfte er nicht dem Kitzel unterliegen, der Dolchstoßlegende historisch und politisch nachzugehen.«285

Max Hirschberg bekannte gegenüber Delbrück, er habe sich »über die Einstellung des Richters im Dolchstossprozess nie einen Augenblick lang Illusionen gemacht,« erkannte aber auch an, dass Frank während des Prozesses »eine korrekte Haltung eingenommen« habe. Damit habe er »uns unbewusst ermöglicht, die grosse Aufklärungsarbeit dem Volke gegenüber zu leisten. Das juristische Urteil kann demgegenüber nur als Episode betrachtet werden.«286 Dies war allerdings ein Trugschluss: Bereits Simons hatte ausgesprochen, dass »die Klärung wenig nützen [wird]. Die militaristisch eingestellten Geister sind nicht zu 282 Hans Delbrück: »Das Münchener Fehlurteil«, in: BT, 54. Jg., Nr. 595 vom 17. Dezember 1925, in: ebd., Fasz. 89c, Hervorhebungen ebd. Die MNN stellten daraufhin die Frage: »Ist der Historiker Delbrück wissenschaftlich überhaupt noch ernst zu nehmen, wenn für ihn die Bestätigung eigener Ansicht ohne weiteres die Wahrheit, die Behauptung anderer Täuschung ist?« (o.V.: »Die Politisierung der Rechtspflege«, in: MNN, 79. Jg., Nr. 9 vom 9. Januar 1926, in: BArch N 1017/60). 283 Delbrück an Frank am 17. Dezember 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Frank, Bl. 3. 284 Frank an Delbrück am 19. Dezember 1925, in: BArch N 1017/60. 285 Simons an Delbrück am 19. Dezember 1925, in: ebd. 286 Hirschberg an Delbrück am 11. Dezember 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefe Hirschberg, Bl. 9 f.

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überzeugen«287. Am deutlichsten wurde Delbrück in einem Brief an den deutschen Botschafter in Tokio, Wilhelm Solf, dem er mit offenen Worten seinen Gesamteindruck schilderte: »Der Prozess spielte sich ab. [sic] sozusagen als ein Duell zwischen den militärischen Vertretern des alten Staates und den Sozialdemokraten. Dabei entwickelten diese eine derartige intellektuelle und moralische Ueberlegenheit, dass ich ganz erschüttert davon war.«

Außer Kuhl »zeigten sich die anderen Admirale und Generale derart fanatisch und borniert, dass ich die Empfindung hatte, ehe hier nicht ein völliger Gesinnungswandel eingetreten ist, dürfen diese Leute nicht wieder zur Macht kommen und Deutschlands Geschicke nicht mit bestimmen.«288

Insbesondere die politische Linke in Deutschland hatte sich von dem Prozess eine »sachliche Klärung« der Dolchstoßfrage erhofft »für die Entgiftung des innerpolitischen Kampfes«289. Diese hohen Erwartungen wurden kaum erfüllt. Ein Aspekt für das Misslingen war der Umstand, dass die Verhandlungen sich durch das Hinzuziehen zahlreicher Sachverständiger und Zeugen enorm ausgeweitet hatten. Die Gefahr, die dies nach sich ziehen musste, nämlich eine »Verflachung«290 und ein abnehmendes öffentliches Interesse für die Detailfragen, hatten die Verteidiger bereits vorab befürchtet, sich aber der Eigendynamik, die der Prozess entfaltete, nicht vollständig entziehen können. So schrieb Hans Delbrück an Max Hirschberg kurz vor Prozessbeginn Mitte Oktober 1925: »Gerichtsverhandlungen, die sich so lange hinziehen, gewinnen auch den Zeitungslesern nur geringes Interesse ab. Die geschickte Taktik der Gegenpartei, ein Massenaufgebot von Zeugen ins Feld zu führen, ist durch ein Gegenaufgebot von einer eben so grossen Masse nicht zu überbieten. Ein Dutzend Admirale und Generale machen auf das Publikum einen grösseren Eindruck, als alle sachlich noch so ausschlaggebenden Ausführungen.«291 287 Simons an Delbrück am 19. Dezember 1925, in: BArch N 1017/60. 288 Delbrück an Solf am 19. Dezember 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Solf, Bl. 10–12. 289 Hirschberg an Delbrück am 19. Dezember 1924, in: ebd., Briefe Hirschberg, Bl. 3, Hervorhebung ebd. Vgl. auch Barth, Dolchstoßlegenden, S. 516 f. Das Berliner Tageblatt meinte noch während des Prozesses, man müsse Coßmann »beinahe noch Dank wissen, daß er durch seine Anklage die Klärung schon geklärter Dinge noch einmal vor einem volkstümlichen Forum herbeigeführt hat« (Leonhard Adelt: »Ergebnisse des Münchener Prozesses«, in: BT, 54. Jg., Nr. 529 vom 7. November 1925). 290 Hirschberg an Delbrück am 17. Januar 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefe Hirschberg, Bl. 4. 291 Delbrück an Hirschberg am 13. Oktober 1925, in: ebd., Briefkonzepte Hirschberg, Bl. 4. Hirschberg meinte, »der Prozess muss schlagartig wirken und darf nicht durch lange Dauer versanden«, da sonst das Hauptziel, die »Aufklärung des Volkes«, gefährdet sei (Hirschberg an Delbrück am 14. April 1925, in: BArch N 1017/60, Hervorhebung ebd.). Ähnlich auch Mayr in einem Schreiben an Delbrück am 13. Oktober 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefe Mayr, Bl. 57.

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Delbrück hatte bereits im April 1925 versucht, den Prozess in Gänze zu verhindern, da er ihn für »so unsinnig wie möglich« hielt: »Historische Wahrheiten auf dem Prozesswege auszumachen ist ein fast unmögliches Beginnen«292. Gleichwohl hatte Delbrück sich aufgrund seiner Erfahrung im Kriegsschuldprozess eine politisch-sachliche Klärung der Dolchstoßfrage erhofft, weshalb auch er den Prozess als Forum, seine Ansichten durchzusetzen, begrüßt hatte. Kurz vor der Urteilsverkündung hatte Delbrück allerdings behauptet, in diesem Fall sei es nicht richtig, dass die Form des Beleidigungsprozesses ungeeignet sei für die Aufarbeitung historisch-politischer Vorgänge, und der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass die publizistische Ausdeutung des Prozesses »zweifellos ein Beitrag ganz ersten Ranges für die Geschichte und das Verständnis unsrer Zeit sein« würde293. Dabei hatte er außer Acht gelassen, dass der damalige Prozess gänzlich andere Voraussetzungen gehabt hatte. 1922 war es um die Feststellung rechter Thesen gegangen, 1925 um die Feststellung linker Thesen. Dass 1922 zum Erfolg wurde und 1925 nicht in gleicher Weise, zeigt einmal wieder, wie weit rechts die politische Kultur der Weimarer Republik stand. Die amtliche Feststellung zum Geschehen des Jahres 1918 war zwar formal betrachtet nicht gänzlich falsch. In der Wirkung jedoch war der Urteilsspruch fatal: Der bloße Nachweis linksradikaler, defätistischer Handlungen im Krieg sagte eben noch gar nichts aus über deren Einfluss auf die militärische Lage. Ein solch einfacher Nachweis war leicht zu erbringen und nicht zu leugnen, was in einer verfälschten Darstellung für die Rechten als angeblicher Beweis für die Dolchstoßlegende genutzt wurde. Katalysiert wurde diese Auslegung auch durch die Selbstbezichtigung kommunistischer und linksradikaler Kreise, die die Dolchstoßlegende als Teil ihres Klassenkampfes stolz propagierten294. In der unsachlichen und polemischen politischen Kultur der Weimarer Jahre konnte sich somit diese Deutung, nun scheinbar juristisch als Wahrheit festgestellt, weitgehend durchsetzen. Gleichzeitig fühlte sich die Linke insoweit bestätigt vom Prozessinhalt, als sie darin eine sachliche Widerlegung der Dolchstoßlegende erblickte. Das ist auch der eigentliche Grund, weshalb beide Parteien den Prozessverlauf und das -ergebnis systematisch für ihre politische Agitation

292 Delbrück an den von der Gegenseite bestellten Sachverständigen Kuhl am 9. April 1925, in: ebd., Briefkonzepte Kuhl, Bl. 9. Delbrück schlug vor, dass jeder auf seine Partei entsprechenden Einfluss ausüben solle. Kuhl antwortete, ihm sei das Ganze »auch recht unbequem« (Kuhl an Delbrück am 12. April 1925, in: ebd., Briefe Kuhl, Bl. 18), Coßmann lehne den Vorschlag allerdings ab (Kuhl an Delbrück am 25. April 1925, in: ebd., Bl. 19). Auch die Reichsregierung hatte versucht, den Prozess zu verhindern, um die innenpolitische Absicherung der Locarno-Verträge nicht zu gefährden. Vgl. Barth, Dolchstoßlegenden, S. 511. 293 Hans Delbrück: »Der Münchner Dolchstoßprozeß«, in: Neues Wiener Tagblatt vom 29. November 1925, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 89c. Ähnlich auch: Hans Delbrück: »Der Dolchstoß-Prozeß«, in Berliner Börsen-Courier vom 3. Dezember 1925, in: BArch N 1017/60. 294 Vgl. Permooser, Dolchstossprozess, S. 904 f.

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nutzen und sich in ihrer jeweiligen Auffassung bestätigt fühlen konnten295.­ Irmtraud Permooser hingegen konstatiert, »seltsamerweise« hätten beide Seiten sich bestätigt gefühlt296. Sie dringt damit nicht zum Kern des Problems durch. Auch Bernd Seiler verkennt die fatale Wirkung des Prozessausgangs, wenn er schreibt, die Dolchstoßlegende habe nach dem Prozess an Bedeutung verloren, da sie »auch für viele Anhänger der Theorie einen allzu einseitigen und unsachlichen Charakter bekommen« habe297. Ähnlich fehl geht auch Friedrich Hiller von Gaertringen, der meint, das Prozessergebnis habe »mäßigend« gewirkt298. Es ging in den 1920er Jahren selten um eine rationale Analyse der Vorgänge, die zum Zusammenbruch 1918 geführt hatten. Das Gefühlsmoment, das häufig auf fehlerhaften Vorstellungen beruhte, war entscheidend für die politische Wirkung299. Und deshalb kam es auch zu dem von Boris Barth konstatierten »worst case jeder innergesellschaftlichen Kommunikation, der nicht im scharf ausgetragenen Konflikt, sondern im Abbruch der Kommunikation bestand«300. Jedes Lager fühlte sich durch den Prozess und das Urteil in seiner Deutung der Ursachen der Niederlage bestätigt und brandmarkte jeden Abweichler als unehrlich und parteiisch. Eine Aufklärung des Volkes war bei diesen schroff verhärteten Fronten in der Folge kaum mehr möglich. Dadurch perpetuierte sich die Dolchstoß-

295 Dies zeigt sich deutlich darin, dass unmittelbar nach dem Abschluss der mündlichen Verhandlungen und noch vor Verkündung des Urteils beide Seiten umfangreiche Prozessberichte publizierten, um die Ergebnisse aus München jeweils in ihrem Sinne propagandistisch zu verwerten. Vgl. Dolchstoß-Prozeß (für die sozialdemokratische Deutung) sowie Beckmann, Dolchstoßprozeß (für die Rechte). Bezeichnenderweise war die linke Publikation »um objektive Wiedergabe bemüht«, während der Bericht der Klägerseite stark verkürzt war und zahlreiche Angriffe auf die Gegner enthielt (dies stellt Permooser, Dolchstossprozess, S. 904, nach einem Abgleich mit den Prozessakten fest). Auch Karl Mayr, kein Sozialdemokrat, aber hinsichtlich der Dolchstoßlegende auf Delbrücks Seite, bekannte, das sozialdemokratische Buch sei »wissenschaftlich als Material zweifellos brauchbar«, während das andere »geradezu jämmerlich« sei (Mayr an Delbrück am 29. Dezember 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefe Mayr, Bl. 62). Allerdings bleibt festzustellen, dass vom journalistischen bzw. propagandistischen Standpunkt aus betrachtet das Beckmannsche Buch wirkungsvoller war: In der Tat ist es weniger objektiv, aber durch die Art der Darstellung, u. a. finden sich diverse Zeichnungen und Abbildungen, die der Auflockerung dienen, und den packenderen Schreibstil in den zahlreichen Kommentaren sowie die insgesamt kompaktere Form erzielte das Werk eine wesentlich einnehmendere Wirkung. Es zeigt sich, dass die Rechten häufig geschickter waren in politischer Agitation. 296 Permooser, Dolchstossprozess, S. 924. 297 Seiler, Dolchstoß, S. 8. 298 Hiller von Gaertringen, Dolchstoß-Diskussion, S. 36 f, Zitat S. 37. 299 Vgl. Verhey, Geist, S. 361: »Das tieferliegende Problem bestand allerdings darin, daß es in der Diskussion über die Dolchstoßlegende im Grunde nicht um die Geschichte ging, sondern vor allem um Antropologie, um Psychologie und Glauben.« 300 Barth, Dolchstoßlegenden, S. 516, Hervorhebung ebd.

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legende, die von einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung als zutreffend wahrgenommen wurde, und untergrub nachhaltig die Legitimation und Akzeptanz der Republik. Dies machten sich die Nationalsozialisten in geschickter Weise zu Nutze, wenngleich sie der Dolchstoßlegende in ihrer Propaganda noch eine gänzlich andere Aufladung gaben301.

4. Die amtliche Geschichtsschreibung Mit dem Zusammenbruch des Staates von 1871 kam auch die Frage auf, in welcher Weise die Akten des Reichs archiviert werden sollten. Deutschland hatte bis dahin kein nationales Archiv, die archivische Tradition war betont partikularistisch und einzelstaatlich organisiert302. Die Gründung des Reichsarchivs in Potsdam im September 1919303 brachte deshalb wesentliche Neuerungen in der deutschen Archivlandschaft. Es ging darum, mitten in der gewaltigen staatlichen Umbruchphase die alten Akten zu sammeln und zu sichern, anderen Behörden und der Justiz Auskünfte zu erteilen sowie selber wissenschaftliche Forschung zu betreiben. Der wesentliche Impuls für die Gründung des Reichsarchivs war jedoch die Auflage aus dem Versailler Vertrag, den Großen Generalstab aufzulösen, der auch über eine kriegsgeschichtliche Abteilung verfügt hatte. Die Reichswehr hatte ein großes Interesse daran, ihre Einrichtungen unter einem zivilen Deckmantel weiterzubetreiben. Denn die Forschungen waren militärisch relevant im Hinblick auf die Ausbildung des Nachwuchses. Außerdem wollte sie die Kontrolle über die offizielle Militärgeschichtsschreibung behalten und ihre dort angestellten Offiziere weiter beschäftigen. Die treibende Kraft hierbei war Hans von Seeckt304. Als Form wurde dann eine selbstständige Behörde geschaffen, die dem Reichsinnenministerium unterstellt wurde. Die rund 100 Mitarbeiter305 rekrutierten sich vor allen aus ehemaligen Offizieren, die zum Teil im Kriegseinsatz gewesen waren. Ausgebildete Historiker und Archivare kamen erst verzögert hinzu und blieben in der Minderheit. Dies lag auch an der finanzpolitischen Lage des Reichs, die einen größeren Mit-

301 Siehe auch Krumeich, Dolchstoß-Legende, S. 598, der in der Legende »eine der Nahtstellen« zwischen den Konservativen und den Nationalsozialisten erblickt. 302 Der Berufsstand der Archivare bildete im Kaiserreich eine elitäre, abgeschottete und vor allem eng mit den Einzelstaaten verbundene Kaste (vgl. Herrmann, Reichsarchiv, S. 105). 303 Vgl. Demeter, Reichsarchiv, S. 5–13, der zwar eine informative Darlegung der Institution bietet, aber insofern mit Vorsicht behandelt werden muss, als er selber Mitarbeiter gewesen war und seine Schrift affirmative Züge trägt. Eine umfangreiche und detaillierte Darstellung der Gliederung des Reichsarchivs und der Mitarbeiter findet sich bei Herrmann, Reichsarchiv, S. 485 ff. 304 Vgl. Demeter, Reichsarchiv, S. 7 f. 305 Zur Aufschlüsselung der Stellen vgl. Pöhlmann, Kriegsgeschichte, S. 103 f.

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arbeiterstab kaum erlaubte. Aus dieser Mischung von Offizieren und Beamten ergaben sich immer wieder Spannungen306. Um die Forschungen wissenschaftlich zu begleiten, wurde ein wissenschaftlicher Beirat eingesetzt, die »Historische Kommission für das Reichsarchiv« (HK)307. Diese sollte die Beratung und die Verbindung der Forschungen im Reichsarchiv mit der Wissenschaft sicherstellen und deren Unabhängigkeit garantieren, da die Forschungstätigkeiten als die wichtigste Aufgabe für das Archiv angesehen wurden. Die HK wurde angesiedelt beim Reichsinnenministerium (RMI) mit zwölf hochrangigen, ehrenamtlichen Mitgliedern aus Geschichtswissenschaft, Militär und Politik nach Parteiproporz, plus dem Archivpräsidenten. Sie wurden vom Reichspräsidenten auf Vorschlag des Reichsinnenministers für jeweils fünf Jahre ernannt. Die HK sollte die Berichte des Archivpräsidenten prüfen und Vorschläge für neue Aufgaben formulieren sowie über die Veröffentlichung von Arbeiten aus dem Reichsarchiv entscheiden. Zudem hatte sie ein Anhörungsrecht bei der Anstellung oberer Beamter308. Hans Delbrück, der neben Theobald von Bethmann Hollweg, Erich Branden­ burg, Rudolf von Borries, Hugo von Freytag-Loringhoven, Walter Goetz, Paul Fridolin Kehr, Theodor Lewald (Vorsitzender), Erich Marcks, Gustav Mayer, Friedrich Meinecke, Hermann Mertz von Quirnheim (Präsident des Reichsarchivs), Hermann Oncken, Aloys Schulte, Georg Schreiber und Hermann Schumacher in die HK berufen wurde309, stieß in dieser Rolle auf alte Bekannte: Die Mitarbeiter der alten kriegsgeschichtlichen Abteilung beim Großen General­stab waren in den Jahrzehnten zuvor seine Widersacher gewesen, als er die Militärgeschichte als ziviles Fach etablierte und mit ihnen seinen Strategiestreit ausgefochten hatte310. Diese Männer, die nun im Reichsarchiv angestellt waren, mussten es als Herausforderung empfinden, dass der von ihnen als Zivilist verachtete Hans Delbrück plötzlich ihre Arbeit beaufsichtigen sollte311. Im Reichsarchiv wurde mit der Verbindung von Archiv und Forschung etwas grundsätzlich Neues geschaffen. Die wesentliche Aufgabe der Forschung war die Ausbildung für den Reichswehrnachwuchs und die Aufarbeitung der Ge306 Bezeichnend war schon der Standort des neu gegründeten Archivs, die ehemalige Kriegsschule in Potsdam. Dass es sich bei der Gründung des Archivs wesentlich um »Zweckrationalität« handelte, schreibt Herrmann, Reichsarchiv, S. 93, in seiner institutionengeschichtlichen Dissertation. 307 Zur Gründung der HK vgl. Pöhlmann, Kriegsgeschichte, S. 94–104. 308 Reichsinnenminister Koch an Delbrück am 23. Juli 1920, in dem er Delbrück um seine Teilnahme an der ersten Sitzung bat, sowie eine Abschrift des entsprechenden Erlasses des Reichspräsidenten vom 17. Juli 1920 (in: BArch N 1017/50). Delbrück schrieb Koch zurück, er nehme seine Berufung an (SBB NL Delbrück, Fasz. 157.38, Konzeptbuch 1917–1920, Bl. 23). 309 Vgl. die Mitgliederliste in: BArch N 1017/50. Für den 1924 verstorbenen Freytag-Loringhoven rückte Hermann von Kuhl nach. 310 Siehe hierzu Kapitel V.1. 311 Vgl. Pöhlmann, Kriegsgeschichte, S. 94 f.

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schichte des Kaiserreichs und des Weltkriegs312. Dabei ging es letztlich darum, vor der Welt den Nachweis zu erbringen, dass Deutschland den Krieg nicht gewollt und geplant habe. Insofern ist die Forschungstätigkeit politisch motiviert gewesen. Daneben ergab sich aus dem Auftrag der Darstellung des Weltkriegs ebenfalls eine tendenziöse Arbeit, die die Handlungen der Militärs oftmals unkritisch übernahm und damit auch der Dolchstoßlegende Vorschub leistete. Es erwies sich als schwerwiegendes Problem, dass gerade die Forschungsabteilungen im neuen Reichsarchiv ganz wesentlich mit den alten Militärs besetzt wurden und zum Teil auch mit hohen Offizieren, die aktiv am Krieg teilgenommen hatten und damit Mitverantwortliche waren. Diese Männer waren zum Großteil dem Milieu zuzuordnen, in dem sich die Verantwortlichen für 1918 bewegten. Eine kritische Auseinandersetzung mit der militärischen Führung des Weltkrieges war damit kaum zu erwarten. Umso wichtiger war die Frage, welche Rolle die HK mit Männern wie Delbrück, Goetz und Meinecke einnahm. Bereits 1921 kam es zu einem großen Eklat: Das Reichsarchiv plante in der Tradition des Generalstabs, die Herausgabe seiner Werke über den Verlauf des Ersten Weltkriegs als vermeintlich objektive Darstellungen in Form eines großen, anonymen Einheitswerks aufzuziehen313. Damit hätte die naturgemäß subjektive Deutung der Militärs objektiv gewirkt und amtlichen Charakter erhalten. Dies war zum einen vom prinzipiell historisch-wissenschaftlichen Standpunkt aus zu beanstanden, da es objektive Darstellungen historischer Sachverhalte nicht geben kann. Jede geschichtliche Abhandlung gibt den persönlichen Standpunkt ihres Verfassers wider. Zum anderen war das Problem, dass die subjektive Interpretation des Kriegsgeschehens in diesem Fall zum Gutteil von tendenziös eingestellten Personen erfolgt wäre, die im weitesten Sinne dem Rechtslager zuzuordnen waren. Die junge Republik konnte sich das kaum leisten. In der HK regte sich bei Bekanntwerden dieser Planungen sofort heftiger Widerstand, insbesondere von Hans Delbrück und Friedrich Meinecke. Delbrück drohte, aus der HK auszutreten, wenn es zu keiner Änderung käme. In der Tat war in der Sitzung vom November 1920 zunächst festgelegt worden, die Veröffentlichungen des Reichsarchivs in zwei Reihen durchzuführen: einmal Quellenpublikationen unter amtlicher Verantwortung des Archivs und einmal »Forschungen und Darstellungen aus dem Reichsarchiv« unter persönlicher Verantwortung des jeweiligen Bearbeiters314. Der entscheidende Streitpunkt war die Frage, ob die Publikationen unter der Herausgeberschaft des Reichsarchivs erscheinen sollten, oder unter eindeutiger Nennung des Verfassers. Dies war 312 Zur Konzeption und Entwicklung des Reichsarchiv-Werks über den Weltkrieg vgl. umfassend Pöhlmann, Kriegsgeschichte. 313 Tätigkeitsbericht für Oktober 1920 bis Oktober 1921 des Präsidenten Mertz von Quirnheim vom 23. September 1921, in: BArch N 1017/50. 314 Schreiben des Staatssekretärs Lewalds an die Mitglieder der Kommission vom 24. November 1920, in dem er die Beschlüsse der Sitzung vom 6. und 7. November wiederholte (in: SBB NL Delbrück, Fasz. 119.2).

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keine Kleinigkeit: Denn eine anonyme Schriftenreihe, markiert als Forschung aus dem Reichsarchiv, hätte eben den amtlichen Charakter gehabt, den eine Monographie eines Einzelnen niemals haben konnte, da diese Form klar zum Ausdruck bringt, dass es sich um die persönliche Interpretation des Bearbeiters handelt. Delbrück vertrat die Auffassung, die Form des Sammelwerks entspreche nicht den Beschlüssen der HK und dem Auftrag des Reichsarchivs gemäß dem Willen des Reichstags. Der Plan, von den wissenschaftlichen Bearbeitern ledig­ lich Teilmanuskripte zu nehmen und diese dann einer oder wenigen Personen zu überlassen zur Erarbeitung eines »künstlich harmonisierten Tex[tes]«, wider­ spreche der Forderung der HK nach »persönlicher Verantwortung der Bearbeiter«. Er wandte sich gegen das Konzept eines Einheitswerks und forderte die freie wissenschaftliche Meinung315. Nachdem er bei Staatssekretär Lewald als Vorsitzendem der HK um seinen Austritt ersucht hatte, bat dieser ihn zu bleiben, zumindest bis zur nächsten Sitzung am 22. Oktober 1921316. Zuvor hatte bereits Martin Hobohm, Mitarbeiter im Reichsarchiv, im Auftrag seines alten Lehrers Delbrück mit Hans von Haeften gesprochen. Der Generalmajor a. D. war im Krieg zuletzt Verbindungsoffizier der Obersten Heeresleitung (OHL) beim Auswärtigen Amt (AA) gewesen und seit 1919 Direktor der kriegsgeschichtlichen Abteilung im Reichsarchiv. Haeften, der im Laufe der Zeit durchaus gute Beziehungen zu Delbrück entwickelte317, hatte ebenfalls Sorge über einen Rücktritt geäußert. Als einer der Hauptverantwortlichen für die Abfassung des Kriegswerks blieb er allerdings bei seiner Meinung, das Sammelwerk wie geplant zu konzipieren318. Daraufhin wandte sich Delbrück am 12. Oktober mit einem langen Brief an den Präsidenten des Reichsarchivs, Hermann Mertz von Quirnheim319, und breitete ihm zur Vorbereitung der nächsten Kommissions-Sitzung seinen Wider­spruch aus. Er verwies auf den früheren Beschluss der HK, nach dem nicht das Reichsarchiv als Herausgeber fungieren, sondern die Verantwortlichkeit der einzelnen Verfasser klar gekennzeichnet werden solle. Es sei nun nicht mehr »das persönliche Werk des Verfassers«, sondern erhielte »einen amtlichen Charakter«. Es gebe keinen Punkt in der Vorgeschichte des Weltkrieges und 315 Delbrück in einer Denkschrift vom 8. Oktober 1921, in: BArch N 1017/50. 316 Lewald an Delbrück am 29. September 1921, in: ebd. Die beiden hatten ein intaktes Verhältnis, wie das sehr freundliche Beileidsschreiben Lewalds an Lina Delbrück vom 16. Juli 1929, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 10.1, Bl. 61, demonstriert. 317 Das illustriert zumindest sein sehr freundliches und aufrichtiges Beileidsschreiben an Lina Delbrück vom 20. Juli 1929, in: ebd., Bl. 34 f. Ähnliches konstatiert auch Demeter, Reichsarchiv, S. 43. 318 Brief Hobohms an Delbrück am 21. September 1921, in: BArch N 1017/50. 319 Delbrück stand durchaus auf gutem Fuß mit ihm. Das wird beispielsweise deutlich an den netten Glückwünschen von Mertz zu Delbrücks 80. Geburtstag (Mertz an Delbrück am 10. und 11. November 1928, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 6.1, 7) sowie seiner sehr freundlichen Beileidsbekundung an Delbrücks Frau vom 16. Juli 1929, in: ebd., Fasz. 10.1.

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des Kriegs selbst, über den nicht gestritten werde. Folglich sei die Idee einer objektiven Darstellung unmöglich umzusetzen. Der Reichstag werde sich zudem das Vorhaben des Reichsarchivs, die einzige wissenschaftlich korrekte Deutung amtlich zu vertreten, »nimmermehr gefallen lassen«. Zusammenfassend schrieb er: »Ein amtliches Normalwerk ist wissenschaftlich wie politisch unmöglich. Möglich ist aber eine Geschichte des Weltkrieges in Einzel-Darstellungen, wobei jeder Mitarbeiter seine persönliche Auffassung vorträgt, und für diese nur persönlich verantwortlich ist.« Sodann beschwerte Delbrück sich über die Einrichtung des »Zeitgeschichtlichen Archivs«, einer Zeitschrift des Reichsarchivs, ohne die HK vorab konsultiert zu haben. Sachlich wandte er sich ebenfalls gegen diese Zeitschrift, da es »schlechterdings unzulässig« sei, dass eine Behörde ein Heft herausgebe, das subjektive Publikationen enthalte320. Auf der am 22. Oktober 1921 stattfindenden Jahrestagung der HK kam es zum Schlagabtausch. Bis auf Paul Kehr nahmen alle Mitglieder teil sowie Vertreter vom AA (Hermann Meyer) und vom RMI, von Heeresleitung und Marine sowie die Abteilungsleiter vom Reichsarchiv321. Auf die von Delbrück artikulierte Opposition stellte Staatssekretär Lewald fest, das Vorhaben stehe im Einklang mit der Reichsregierung. Zudem seien Änderungen aufgrund bereits abgeschlossener Verlagsverträge nicht mehr möglich. Meinecke bestand wie Delbrück darauf, dass das Werk keinen amtlichen Charakter tragen dürfe und kritisierte, dass ein Verlagsvertrag ohne Kenntnis der Kommission geschlossen worden sei. Georg Schreiber äußerte sich ähnlich. Borries, Freytag-Loringhoven und Marcks sekundierten Mertz von Quirnheim, während sich Goetz und Oncken wiederum für Delbrück aussprachen. Es erging dann zunächst die Bitte an Mertz, seine Archivräte Bergsträsser und Valentin zu Stellungnah320 Delbrück an Mertz von Quirnheim am 12. Oktober 1921, in: BArch N 1017/50. Pöhlmann, Kriegsgeschichte, S. 107 f, unterstellt Delbrück und Meinecke persönliche, ökonomische Motive bei der Gegnerschaft zur geplanten Zeitschrift: Meinecke als Mitherausgeber der HZ und Delbrück als früherer Herausgeber der PJb hätten ein neues Organ als Konkurrenz gesehen und deshalb von Vornherein dagegen opponiert. Zumindest für Hans Delbrück kann diese Vermutung zurückgewiesen werden: Nachdem er seine Preußischen Jahrbücher 1919 verkauft hatte, hatten sie sich politisch von ihm schrittweise entfernt. Er publizierte bereits seit 1920 so gut wie gar nicht mehr in ihnen, sondern vornehmlich in diversen Tageszeitungen. Folgt man überhaupt dem an sich unzutreffenden Gedankengang, Delbrück habe ökonomische Beweggründe für seine publizistischen Tätigkeiten gehabt, dann war seit 1919 seine einzige Einnahmequelle im Rahmen seiner Publizistik das Honorar für selbstständig verfasste Artikel. Er hätte demnach eine neue Zeitschrift begrüßen müssen, da sich dann die Aussicht auf zusätzliche Honorare für seine Veröffentlichungen hätte auftun können. Seine Gegnerschaft zum »Zeitgeschichtlichen Archiv« war folglich nur in der formalen Ausrichtung begründet. 321 Für den zwischenzeitlich verstorbenen Bethmann Hollweg war Ulrich von BrockdorffRantzau nachgerückt. Hermann, Reichsarchiv, S. 91, schreibt, die Berufung Bethmanns und dann Brockdorffs sei lediglich erfolgt »aus repräsentativen und formalen Gesichtspunkten«. 1926 wiederum rückte für den nach Moskau berufenen Diplomaten Wilhelm Groener nach.

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men für die HK aufzufordern. Einstimmig wurde auch die Anlage des »Zeitgeschichtlichen Archivs« geändert, womit Delbrück einen Teilsieg errang (das Projekt wurde schließlich komplett eingestellt). Bei einer Abstimmung über den Charakter der Schriftenreihe im politischen Teil gab es mit sechs zu sechs ein Patt, da Schreiber während der Abstimmung fehlte. Damit war das Verfahren beschlossen im Sinne des Reichsarchivs, da die Stimme des Vorsitzenden (Lewald) bei einem Patt ausschlaggebend war. Delbrück und Meinecke erklärten sofort, »jede Verantwortung für die Herausgabe eines solchen Werkes ausdrücklich abzulehnen.«322 Hans Delbrück war damit in dieser wichtigen Frage unterlegen. Seine Drohung, auszutreten, war ein »Schachzu[g]«323 gewesen, mit dem er gehofft hatte, seine Überzeugung hinsichtlich der Abfassung der offiziellen Weltkriegsdarstel­ lung durchzusetzen. Dieser hatte nicht funktioniert, und Delbrück hätte folgerichtig nun aus der Kommission austreten müssen. Er tat dies nicht, sondern blieb bis zu seinem Tod aktives Mitglied324. Gab er damit dem Weltkriegswerk durch eine Autorität »die akademische Absolution«, wie es Markus Pöhlmann formuliert325? In gewisser Hinsicht schon. Allerdings stellt sich die Frage, was geschehen wäre, hätten Delbrück und Meinecke die Kommission tatsächlich verlassen. Es stand nicht zu erwarten, dass sich die Arbeit des Archivs dadurch noch in ihrem Sinne verbessert hätte. Im Gegenteil, der Verlust der einzigen beiden prominenten Kritiker hätte dazu geführt, dass die militaristischen Geister völlig widerspruchsfrei hätten agieren können. Es ist auch zu bedenken, wie es innen- und außenpolitisch aufgefasst worden wäre, hätte sich das Reichsarchiv durch die klare Distanzierung gemäßigt Rechter wie Delbrück und Meinecke öffentlich radikalisiert. Eine gewisse beruhigende Wirkung wird die weitere Teilnahme der beiden bedeutenden Historiker damit sehr wohl gehabt haben. Konnten sie sich schon nicht durchsetzen, war die weitere Kontrolle und Aufsicht über den Fortgang der Arbeiten das mindeste, was sie noch erreichen konnten. Und zumindest formal hatten sich beide von der Verantwortung für das Werk klar distanziert326. Die weitere Entwicklung bestätigte den Nutzen, den Delbrück und Meinecke durch ihren Verbleib in dem Gremium erbrachten. Ende 1927 brachte die Hindenburg-Spende, eine private Unternehmung zur Kriegsopferversorgung, ein Buch heraus, in dem Oberarchivrat Wolfgang Foerster eine Arbeit über 322 Protokoll der Sitzung vom 22. Oktober 1921, in: BArch N 1017/50. 323 Herrmann, Reichsarchiv, S. 96. 324 Bitte des Reichsinnenministers Martin Schiele vom Sommer 1925 an Delbrück, weitere fünf Jahre in der HK mitzuarbeiten (Schiele an Delbrück am 14. Juli 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefe Reichsminister des Innern). 325 Pöhlmann, Kriegsgeschichte, S. 159. 326 Dass die Darstellung als Einheitswerk auch in der weiteren Fachwelt durchaus auf Kritik stieß, zeigt beispielsweise eine entsprechende Äußerung des Gießener Historikers Gustav Roloff in einem Schreiben an Delbrück vom 10. August 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefe Roloff II, Bl. 46–50.

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»Hindenburg als Feldherr« veröffentlichte. Der Oberstleutnant a. D. war für Delbrück ein alter Bekannter: Als Ludendorff-Anhänger hatte er sich in den vergangenen Jahren immer wieder mit dem Historiker in der Deutung der Niederlage angelegt und ihn mitunter beleidigt. Sein neuestes Werk war wieder einmal eine »Geschichtsfälschung«327: Nach der Foersterschen Darstellung hatte die Oberste Heeresleitung (OHL) mit ihrer Waffenstillstandsforderung vom 28. September 1918 einen Wilson-Frieden erreichen und im Falle einer Ablehnung durch die Entente mit neuer und letzter Kraft weiterkämpfen wollen, um die sonst unvermeidliche Katastrophe zu verhindern. Dann diffamierte er die Regierung des Prinzen Max: »Indessen die heldische Denkart des Feldherrn findet keinen Widerhall im Kabinett der neugebildeten Regierung. […] Damit gibt die Heimat den Kampf auf. […] Das deutsche Feldheer ist im Endkampf gegen die gewaltige Überlegenheit der Feinde auf sich allein gestellt.«328

Delbrück und Meinecke stießen sich nicht nur an der Darstellung, weil sie eine Neuauflage der Dolchstoßlegende bedeutete, sondern auch, da sie durch den Autor Wolfgang Foerster als Mitarbeiter des Reichsarchivs einen amtlichen Anstrich erhielt und eine negative Rückwirkung auf das Ansehen der Arbeit des Archivs haben musste. Sie wollten die Angelegenheit deshalb in der Sitzung der HK am 6. Februar 1928 rügen. Hermann Oncken stand inhaltlich auf ihrer Seite, befürwortete jedoch einen vorsichtigeren Weg, um die Angelegenheit nicht eskalieren zu lassen. In einem Schreiben bat er Delbrück, seine Ansicht in der Sitzung vorzutragen, da er selbst verhindert sei. Er schlug vor, dass die Kommission ihr Bedauern darüber ausspreche, dass ein Mitarbeiter am amtlichen Weltkriegswerk in einer nicht amtlichen Schrift derart tendenziöse Gedanken verbreite und »dadurch das Vertrauen der öffentlichen Meinung in die Objektivität des Kriegsgeschichtswerkes schädigt«329. Genau hierzu kam es dann auch, da Mertz in der Sitzung seinen Mitarbeiter in Schutz nahm und Delbrück sowie Meinecke deshalb von einer scharfen Reaktion absahen. Die HK bat Mertz lediglich, ihre Kritik Foerster mündlich zu überstellen330. Da diese Debatte im Protokoll nur sehr knapp wiedergegeben worden war, kam es zu weiteren Auseinandersetzungen: Borries und Kuhl beschwerten sich beim Vorsitzenden Lewald über die ihrer Meinung nach Foerster rügende Darstellung im Protokoll. Ihr Widerspruch gegen Delbrücks und Meineckes Auffassung sei nicht erwähnt worden. Sie forderten eine nachträgliche Berichtigung des Protokolls sowie eine eingehende Prüfung der 327 Delbrück an Oncken am 3. Februar 1928, in: ebd., Briefkonzepte Oncken, Bl. 70. 328 Foerster, Hindenburg, S. 92. 329 Oncken an Delbrück am 4. Februar 1928, in: SBB NL Delbrück, Briefe Oncken II, Bl. 85, Hervorhebungen ebd. 330 Delbrück an Oncken am 7. Februar 1928, in: ebd., Briefkonzepte Oncken, Bl. 71; Protokoll der Sitzung vom 6. Februar 1928, in: BArch N 1017/51.

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Vorwürfe an Foerster in der nächsten Sitzung331. Lewald bat daraufhin Foerster um eine schriftliche Stellungnahme zu den Vorwürfen gegen ihn. Auf 22 Seiten argumentierte dieser detailliert, dass seiner Ansicht nach die OHL im Oktober 1918 nicht der Auffassung gewesen sei, der Zusammenbruch stehe unmittelbar bevor. Die Forderung nach einem Waffenstillstand sei nur als Atempause gedacht gewesen. Einen Frieden habe sie nur zu den Bedingungen der Wilsonschen 14 Punkte annehmen und ansonsten weiterkämpfen wollen. Die Regierung Max sei aber schwächlich gewesen und der OHL in den Rücken gefallen332. Diese neuerliche Bekräftigung der Dolchstoßlegende diente in der HK-Sitzung vom 31. Oktober 1928 als Diskussionsgrundlage333. Meinecke erwiderte in einer aufgrund seiner Abwesenheit von Lewald verlesenen Stellungnahme, der Versuch einer Rechtfertigung Foersters sei »mißlungen. Ich bleibe dabei, daß seine Darstellung geschichtswidrig und tendenziös ist«. Der Forderung von Borries und Kuhl nach Bildung einer Unterkommission zur genaueren Prüfung erteilte er eine Absage. Delbrück äußerte hierzu die Ansicht, eine solche sei in der Tat zwecklos, »denn zu einer Einigung wäre doch nicht zu kommen.« Einer Protokollergänzung stimmte er zu, sofern dann auch seine Zusätze mit aufgenommen würden. Er lehnte es zwar ab, nochmals in eine inhaltliche Diskussion einzusteigen, konnte sich aber nicht versagen, die Idee der Atempause als »de[n] größt[en] und unverzeihlichst[en] Fehlgedank[en] des ganzen Weltkrieges« zu brandmarken. Kuhl und Borries verteidigten ihren Gesinnungsgenossen erneut, sodass sich die Fronten verhärteten. Der Vorsitzende Lewald stellte schließlich fest, dass Foerster seine Äußerungen privat getätigt und die HK ohnehin keine beamtenrechtlichen Befugnisse habe. Sie könne lediglich die Ansicht äußern, dass Foerster ungeeignet sei für die Arbeit am Weltkriegswerk. Diese Bedenken habe Mertz allerdings in der Februarsitzung entkräftet. Lewald schlug vor, dass sowohl Borries und Kuhl, als auch Delbrück und Meinecke ihre Anschauungen in einer Protokollergänzung niederlegen sollten334. In der daraufhin erfolgten Ergänzung des Februarprotokolls schrieb Meinecke: »Die Darstellung Foersters ist ein schlimmes Beispiel dafür, wie man, ohne direkt Unrichtiges zu sagen, durch Uebergehung [sic] der entscheidenden Kausalitäten das geschichtliche Bild entstellen kann.« Ähnlich äußerte sich auch Delbrück. Beide kritisierten Foersters Darstellung von der Waffenstillstandsforderung der OHL, die nach ihrer Meinung Max von Badens Stellung desavouiert und die Stimmung im Volk nachhaltig erschüttert hatte. Kuhl wiederum hielt fest, Foersters Urteil sei »durchaus zutreffend und steht geschichtlich fest«. Borries vertiefte sogar noch die Anschuldigungen gegen Prinz Max335. 331 Kuhl und Borries an Lewald am 11. Mai 1928, Abschrift in: BArch N 1017/51. 332 Niederschrift Foersters in: ebd. 333 Mertz an Delbrück am 27. Oktober 1928, in: ebd., in dem er Foersters Rechtfertigung im Auftrag Lewalds übersandte. 334 Protokoll der HK vom 31. Oktober 1928, in: ebd. 335 Ergänzung zum Protokoll der HK vom 6. Februar 1928, in: ebd.

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Im Ergebnis kam es also nicht zu einer Revision der Foersterschen Schrift und auch nicht zu einer an sich notwendigen Entbindung des Oberarchivrats von der Mitarbeit am amtlichen Weltkriegswerk. Delbrück und Meinecke waren in der HK erneut unterlegen und konnten sich gegen die »militaristischen Gefahren«336 nicht durchsetzen. Man wird dies als klares Zeichen für die Stärke dieser Partei werten müssen, die der Weimarer Republik empfindlich schadete. Und doch war es immerhin besser, in der HK kam es zumindest zu einer im Protokoll vermerkten scharfen Kritik an einem solchen Vorgang, als dass dieser gar nicht weiter diskutiert worden wäre. Sich in diesem Milieu aber überhaupt noch so selbstbewusst zu äußern, war nur angesehenen Historikern wie Friedrich Meinecke oder Hans Delbrück möglich. Die Alternative – ihr Rücktritt aus dem Gremium – hätte zur Folge gehabt, dass gar keine Debatte mehr über solche Entgleisungen stattgefunden hätte. Außerdem führte ihre nicht erlahmende Kritik dazu, dass sich Männer wie Wolfgang Foerster stets für ihre gefährlichen Halbwahrheiten rechtfertigen mussten. Die Wirkung dieses Drucks auf die Akteure der Dolchstoßlegende darf nicht unterschätzt werden. Auf einem anderen Feld konnte Delbrück durch sein Engagement in der HK einen kleinen Erfolg verbuchen: 1925 setzte er durch, dass die Akten des Reichsarchivs nicht nur von den Mitgliedern der HK frei genutzt werden durften, sondern  – in Einzelfallentscheidungen  – auch von Forschern mit einer Empfehlung eines Mitglieds des Gremiums337. Dies war von einiger Bedeutung, da im Reichsarchiv selbst vornehmlich militaristisch eingestellte Forscher arbeiteten. Für die Benutzung der häufig politisch brisanten Akten der jüngsten Zeit gab es damals noch keine allgemeinverbindlichen Regeln. Der Zugang hierzu war in der Praxis jedoch meistens nicht möglich. Folglich war Delbrücks Ansinnen sehr wichtig, um kritischen Arbeiten Recherchen zu ermöglichen. Zwar hatte er eine generelle Öffnung für jeden Wissenschaftler beantragt, was er jedoch nicht durchsetzen konnte. Aber er hatte immerhin einen Teilerfolg erzielt. Karl Mayr wusste Anfang 1926 von diesem Beschluss noch nichts und erfuhr, dass in alle Kriegsakten von der Division aufwärts nur noch mit Genehmigung des Reichswehrministeriums Einsicht genommen werden durfte. Hierüber äußerte er Delbrück gegenüber die Ansicht, »dass Vertuschung im allergrößtem [sic] Massstab betrieben wird.«338 Dieser verwarf diese Unterstellung, sprach aber immerhin auch von einer »sehr stark[en] Partei-Voreingenommenheit«339. Nach einem kurz darauf geführten Gespräch mit dem Wehrminister und dem Innenminister schrieb er erneut an Mayr und ermunterte ihn, einen Nutzungsantrag zu 336 Bethmann an Delbrück am 3. November 1920, in: SBB NL Delbrück, Briefe Bethmann, Bl. 54. 337 Protokoll der HK-Sitzung vom 30. Oktober 1925, in: BArch N 1017/51. In der Sitzung der HK vom Oktober 1928 begrüßte Delbrück die liberale Handhabung des Archivs bei der Einsichtnahme in die Akten (Protokoll vom 31. Oktober 1928, in: BArch ebd.). 338 Mayr an Delbrück am 26. Januar 1926, in: SBB NL Delbrück, Briefe Mayr, Bl. 70, Hervorhebung ebd. 339 Delbrück an Mayr am 30. Januar 1926, in: ebd., Briefkonzepte Mayr, Bl. 14.

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stellen. Beide teilten seine Meinung über die grundsätzliche Erlaubnis der Einsichtnahme und hatten Delbrück zugesagt, eine Genehmigung für eine Person auf seine Empfehlung hin zu erteilen340. Insgesamt aber war Hans Delbrück am Reichsarchiv, wo es vor allem um die Konzeption des Weltkriegswerks ging, wie dargestellt, nicht erfolgreich. Das Institut entwickelte sich zu einem Hort der rechten Strömung. Martin Hobohm beklagte sich 1925 bei Delbrück: »Mertz, haltlos wie meistens, steht ganz unter dem Terror der Offiziersmehrheit und bläst ohne alle Scheu in deren Horn.«341 Der Hauptgrund hierfür lag in der verfehlten Personalpolitik der Anfangszeit: Durch die weitgehende Übernahme der Belegschaft des alten Generalstabs und die nur in sehr geringem Maße erfolgte Ergänzung durch wissenschaftlich geschultes und vor allem republikanisch gesinntes Personal war eine ideologische Kontinuität vorprogrammiert342. Es kam immer wieder zu Konflikten innerhalb der Beamtenschaft aufgrund der unterschiedlichen Hintergründe. Diese betrafen Fragen der Besoldung343, besonders aber auch der politischen Ausrichtung. Dezidiert republikanisch gesinnte Beamte wie Ludwig Bergsträsser, Martin Hobohm oder Veit Valentin gab es so wenige, dass sie eine wirkliche Außenseiterrolle im Reichsarchiv einnahmen344. Als das Innenministerium im Februar 1923 eine Korrektur versuchte, kam es zu einer »Palastrevolution«345. Es war viel zu spät für einen Umschwung, sodass die wenigen Republikaner im Reichsarchiv in eine noch schwierigere Stellung gerieten346. Reichsinnenminister Rudolf Oeser hatte bei Friedrich Ebert

340 Delbrück an Mayr am 3. Februar 1926, in: ebd., Bl. 15. 341 Hobohm an Delbrück am 11. Mai 1925, in: ebd., Briefe Hobohm V, Bl. 26 f. Ähnlich auch Karl Mayr an Hans Delbrück am 26. Januar 1926, in: ebd., Briefe Mayr, Bl. 70, der schrieb, Veit Valentin berichte ihm, die Reaktionäre hätten sich in Potsdam endgültig durchgesetzt. 342 Herrmann, Reichsarchiv, S. 90, sieht in der Einsetzung Delbrücks ein »bewußt gesetztes Signal des Innenministeriums« und bleibt damit stecken. Ein bewusstes Signal war sie zweifellos, aber eben auch kaum mehr: Es hätte einer umfassenderen Personalpolitik bedurft. 343 Siehe zum Beispiel das Schreiben des Historikers und Archivrats Veit Valentin an Delbrück vom 16. September 1921, in: BArch N 1017/50, in dem er die Gleichstellung der Beamten forderte angesichts der Bevorzugung der ehemaligen Offiziere bei den Pensionsansprüchen. Ein anderes Beispiel ist Hobohms Brief an Mertz vom 4. Juli 1921 (Abschrift in: ebd.), in dem es auch um Besoldungsfragen ging. 344 Vgl. Demeter, Reichsarchiv, S. 33–37. 345 Ebd., S. 16. Bereits 1922 kam es zu Umstrukturierungen aufgrund von Stellenstreichungen und der Debatte um die Konzeption des Kriegswerks. Delbrück schrieb hierzu im Herbst 1922 an den Archivpräsidenten, er habe »gegen diese Neuorganisation viel einzuwenden. Die Sache ist fast hoffnungslos verfahren.« Sein Vorschlag der selbstständigen Einzelarbeiten hätte zu einem guten Ergebnis geführt: »Jetzt sehe ich nicht wie noch etwas befriedigendes herauskommen soll.« (Delbrück an Mertz am 22. September 1922, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Mertz, Bl. 1). 346 Zur folgenden Darstellung der Krise von 1923 vgl. Pöhlmann, Kriegsgeschichte, S. 117–123.

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einen Erlass erwirkt, der eine Abteilung im Archiv schloss347. In dem Zuge hatte er angeordnet, dass republikanisch orientierte Beamte bei der Erstellung des Weltkriegswerks genügend berücksichtigt werden müssten348. Daraufhin machten mehrere nationalistische Verbände am 9. März »in drohender Weise« eine Eingabe an den Archivpräsidenten. Martin Hobohm urteilte in einer vertraulichen Denkschrift für Hans Delbrück, die Ministerverordnung sei, »obwohl formell unangreifbar und sachlich ebenso berechtigt wie bescheiden, doch in der Diktion nicht glücklich.« Unerhört war aber die Reaktion der Generalstabspartei: Die Abteilungsleiter Haeften, Jochim, Solger und Müsebeck hatten eine Protesteingabe an das Kabinett verfasst und rund zwei Drittel der Beamtenschaft zur Unterzeichnung gebracht. Inhaltlich lehnten sie jede Beteiligung nicht militärischer Forscher am Weltkriegswerk ab, da sonst keine objektive Darstellung möglich sei. In der Ministerverordnung sahen sie eine parteiische Aktion gegen sich selbst als vermeintlich neutrale Wissenschaftler. Hobohm forderte eine vollständige Abweisung aller Einwände durch das Kabinett, um die desavouierte Stellung von Mertz noch zu retten349. Es war klar, dass starke politische Kräfte versuchten, den ohnehin schon geringen Einfluss republikanisch Gesinnter im Reichsarchiv völlig auszuschalten, um ihrer Deutung über den Weltkrieg amtlich zum Durchbruch zu verhelfen. Deshalb war wiederum die Haltung der HK von Bedeutung. In der Sitzung vom 26. März 1923 nahm der Reichsinnenminister teil und erläuterte seine Überlegungen. Die Empörung der HK richtete sich aber vor allem dagegen, dass sie mit dem Erlass über die Schließung einer Abteilung erneut übergangen worden war. Ministerialdirektor Brecht sowie Mertz von Quirnheim wandten sich sodann gegen die von General a. D. Borries vorgetragene Forderung, Zivilisten von der Beteiligung am Kriegswerk auszuschließen350. Wirkliche Folgen hatten die Beratungen der HK hingegen nicht. Die Tagung war vielmehr Ausdruck der »tatsächlich[en] Ohnmacht und Fehlkonzeption«351 des Gremiums. Die Idee einer Einbeziehung der politischen Geschichte in das Weltkriegswerk hatte sich letztendlich nicht durchsetzen können. Die Versuche des Innenministeriums zur Korrektur blieben weitgehend erfolglos, da die Militaristen das Reichsarchiv dominierten352. 347 Dies hing zum einen mit dem seit 1922 notwendig gewordenen Personalabbau zusammen und zum anderen mit dem konzeptionellen Streit über das Weltkriegswerk, in dessen Zuge die Abteilung für Politik und Kolonialgeschichte für überflüssig erachtet wurde. 348 Abschrift des Erlasses vom 8. Februar 1923 sowie des entsprechenden Schreibens Oesers vom 21. Februar 1923 in: BArch N 1017/50. 349 »Wachsende Krisis im Reichsarchiv«, vertrauliche Denkschrift von Martin Hobohm vom 11. März 1923, in: ebd. 350 Protokoll der HK-Sitzung vom 26. März 1923, in: ebd. 351 Pöhlmann, Kriegsgeschichte, S. 119. 352 Nach der Sitzung sprach Martin Hobohm mit Hans Delbrück über die Verhältnisse und das weitere Vorgehen, worüber er Mertz vertraulich berichtete. Demnach hatte Delbrück mit anderen HK-Mitgliedern erwogen, zu versuchen, die Kommission aufzulösen und

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Im Nachgang zu der Sitzung erstellte Mertz einen Entwurf für die weitere Konzeption des Kriegswerks, den er an seine Mitarbeiter versandte mit der Aufforderung, ihre Vorstellungen zu äußern. Seine Gegner im Reichsarchiv antworteten mit einer Eingabe an ihn, in der sie forderten, dass bei der Arbeit an den Bänden ausschließlich militärische Beamte teilnehmen dürften353. Martin Hobohm, der seinem Präsidenten in diesen Auseinandersetzungen assistierte, verfasste eine Stellungnahme zu dem Vorgang. Er stellte die führende Rolle von Wolfgang Foerster heraus und kritisierte die Vorgehensweise, die insgesamt 48 Beamte zur Mitzeichnung gebracht hatte: Es seien insbesondere junge und abhängige Beamte bedrängt worden, die in ihrer Stellung zu unsicher seien, um der Aufforderung der Unterzeichnung nicht nachzukommen. Hobohm stellte zudem fest, dass von der Opposition kein Gespräch mit ihm oder dem Präsidenten gesucht worden sei354. Hobohm, der von Mertz als republikanischer Bearbeiter für die politische Geschichte eingesetzt wurde, geriet in eine vollständige Ablehnung durch die Militärpartei in seiner Arbeitsgruppe. Sein führender Gegner war Hans von Haeften. Hobohm wandte sich schließlich mit der Bitte um Unterstützung an Delbrück, da er der »Feindseligkeit der Generalstabs­ partei« im Reichsarchiv nicht mehr Herr wurde355. Die Entwicklung des Reichsarchivs in der Weimarer Republik steht symptomatisch für das schrittweise Erstarken der Rechten und zeigt deutlich die Einflussnahme auf die für die Republik so wichtige Geschichtspolitik durch jene Kreise, die die Niederlage von 1918 maßgeblich zu verantworten hatten356. Die Reichswehr hatte schnell eine beherrschende Stellung im neuen Staat erlangt und konnte, obwohl das Reichsarchiv formell dem Innenministerium unterstand, immer wieder in entscheidender Weise Einfluss auf die Geschichtsschreibung nehmen. Die Reichswehr betrachtete das Archiv ganz unverhohlen als »Nachfolger und Erbe« der kriegsgeschichtlichen Abteilung des Generalstabs eine neue, kleinere und vor allem linksorientierte zu gründen. Hobohm habe Delbrück erläutert, dass Oeser das niemals werde durchsetzen können und selbst wenn, die Korrektur nach rechts schnell nachfolgen würde (Vertrauliche Notizen Hobohms für den Reichsarchiv-Präsidenten vom 5. April 1923, in: BArch N 1017/50). Bereits vorab hatte ­Hobohm Delbrück darum gebeten, Mertz in der Sitzung »nicht erheblich Opposition zu machen« (Hobohm an Delbrück am 25. März 1923, in: SBB NL Delbrück, Briefe Hobohm V, Bl. 3 f). Möglicherweise hat sich Delbrück deshalb auf der Tagung am 26. März nicht verkämpft. 353 Rundschreiben von Mertz vom 29. März 1923 sowie die Eingabe vom 10. April 1923 in: BArch N 1017/50. 354 Stellungnahme von Hobohm vom 13. April 1923, in: ebd. Ein von Hobohm verfasstes Schreiben von Mertz an Foerster, datiert vom 14. April, enthielt lediglich eine inhaltliche und sachliche Zurückweisung der Vorwürfe und keineswegs etwa einen Tadel. Tatsächlich wurde der Entwurf zwar unterzeichnet, am Ende aber noch nicht einmal abgesandt (Entwurf des Schreibens in: ebd.). 355 Hobohm an Delbrück am 4. Mai 1923, in: SBB NL Delbrück, Briefe Hobohm V, Bl. 8. 356 Pöhlmann, Kriegsgeschichte, S. 157, urteilt: »Der Rückblick auf die Geschichte des Reichsarchiv [sic] zeigt eine Institution, in der sich das Werden und Scheitern der ersten deutschen Republik widerspiegelt.«

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und leitete daraus – juristisch unhaltbar – Rechte zur Einmischung ab357. Dass sich das Wehrministerium trotz anderslautender rechtlicher Grundlage gegen das Innenministerium durchsetzen konnte, zeigt in aller Deutlichkeit die Stärke der rechten Strömung in Deutschland in dieser Zeit. Symptomatisch dafür ist auch die Position von Karl von Prager in der Sitzung des engeren Ausschusses der HK im Dezember 1923: Der Vertreter des Reichswehrministeriums bat das Sparkommissariat, bei dem im Zuge der Reichsfinanzkrise nötig gewordenen Personalabbau zu prüfen, ob das Reichsarchiv nicht hiervon ausgenommen werden könne. Denn, so der Oberst, die Reichswehr könne aufgrund der Bestimmungen des Versailler Vertrages keine eigene militärgeschichtliche Forschung betreiben und benötige dafür das Reichsarchiv. Man solle dies also als einen Teil des Heeres betrachten, damit es von den Sparmaßnahmen ausgeschlossen werden könne358. 1928 wurde die »Historische Reichskommission« (HRK) gegründet359. Bereits 1922 war die Erweiterung der Befugnisse und Aufgaben der Historischen Kommission (HK) in eine Reichskommission geplant worden. Anfang 1923 jedoch beendete der neue Innenminister Oeser diese Überlegungen mit dem Hinweis auf fehlende Finanzmittel. In den Folgejahren wurde eine solche Möglichkeit durch die HK immer wieder geprüft360. Am 13. Januar 1928 schließlich wurde die HRK vom RMI gegründet, nun allerdings nicht in Erweiterung, sondern neben der HK. Der Zweck war laut Satzung die Erforschung der Geschichte »des neuen Deutschen Reichs«. Es sollten maximal 16 Mitglieder berufen werden, wobei die Über-70jährigen nicht mitzählten, was zunächst nur Delbrück betraf. Nach der erstmaligen Berufung durch den Minister sollten die weiteren Angehörigen von der HRK selbst gewählt werden361. Die Mitglieder waren ne357 So der Vertreter des Wehrministeriums Oberstleutnant Friedrichfranz Feeser bei einer Besprechung im Innenministerium über die künftige Ausrichtung des Reichsarchivs am 14. Dezember 1922, zitiert nach: Pöhlmann, Kriegsgeschichte, S. 115. 358 Protokoll der außerordentlichen Sitzung der HK vom 18. Dezember 1923, in: BArch N 1017/50. Die Idee wurde nicht umgesetzt. In dem Zusammenhang zeigte sich aber ein weiteres deutliches Indiz für die schwache Position, in die die Republikaner im Reichsarchiv gelangt waren, die Ende 1923 zur Debatte stehende Entlassung von Veit Valentin. Im Zuge des nötig gewordenen Personalabbaus gab es empörte Proteste der Rechten, da auch einige Offiziere betroffen waren. Eine Zeitlang sah es so aus, als würde deshalb der bekennende Republikaner Valentin als ein Bauernopfer ebenfalls entlassen werden. Valentin sowie Hobohm wandten sich daher an Hans Delbrück mit der Bitte um Unterstützung, da das Verhältnis im Reichsarchiv ohnehin schon sehr stark zu Gunsten der Rechten sei (Valentin an Delbrück am 4. Dezember 1923, in: SBB NL Delbrück, Briefe Valentin, Bl. 7 f; Hobohm an Delbrück am 12. Dezember 1923, in: ebd., Briefe Hobohm V, Bl. 11). 359 Hierzu vgl. Goetz, Reichskommission, S. 407–414. 360 Vgl. entsprechende Protokolle, Ausarbeitungen und Korrespondenzen hierzu in: BArch N 1017/50, 51. 361 Die Satzung findet sich in: SBB NL Delbrück, Fasz. 14. Warum am Ende tatsächlich mehr als 16 Mitglieder benannt wurden, kann hier nicht geklärt werden und ist auch nicht von Belang.

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ben Hans Delbrück zunächst Erich Brandenburg, Michael Doeberl, Heinrich Finke, Walter Goetz, Joseph Hansen, Fritz Hartung, Heinrich Herkner, Otto Hintze, Otto Hoetzsch, Paul Fridolin Kehr, Erich Marcks, Gustav Mayer, Friedrich Meinecke, Hermann Mertz von Quirnheim, Hermann Oncken, Otto Riedner, Georg Schreiber, Aloys Schulte und Heinrich Triepel362. Während sich die HK festgefahren hatte im konzeptionellen Streit über das Weltkriegswerk aus dem Reichsarchiv, sollte mit der HRK eine neue, selbstständige Forschungseinrichtung geschaffen werden ohne Angliederung an eine Institution. Der federführend von Friedrich Meinecke unter Mitarbeit von Erich Brandenburg und Hans Delbrück verfasste Arbeitsplan sah vor, möglichst schnell zu Publikationen zu kommen. Das Vorhaben, dafür auf eine Detaildarstellung aus den Akten zu verzichten, zeigte deutlich die negativen Erfahrungen, die man aus dem Reichsarchiv hatte (die dort entstehende Publikationsreihe über den Weltkrieg zog sich bis 1956 hin). Es sollten Arbeiten verfasst werden über die Entstehung des Reichs in der Zeit von 1859 bis 1871, über die Ausbildung der Weimarer Reichsverfassung sowie eine Bibliographie zur nationalpolitischen Publizistik aus dem Jahrzehnt vor der Reichsgründung. Brandenburg brachte zudem seinen Vorschlag durch, ein Annalenwerk über die deutsche Geschichte seit 1863 in der Form eines Jahrbuchs als Nachschlagewerk in Angriff zu nehmen. Delbrück zeigte 362 Das Mitgliederverzeichnis ist in: ebd. Es kamen später noch dazu: Karl Alexander von Müller (vgl. HRK-Protokoll vom 9. März 1929, in: ebd.), Albert Brackmann, Konrad ­Beyerle, Otto Becker sowie als Vertreter des RMI Max Donnevert und für das AA Hermann Terdenge (vgl. Goetz, Reichskommission, S. 409). Doeberl starb Ende März 1928 und nahm bereits an der ersten Sitzung nicht mehr teil. Eine größere Kontroverse gab es noch um die Aufnahme des Nationalökonomen Hermann Schumacher: Delbrück hielt von Schumacher wissenschaftlich wenig und schätzte ihn als intrigant ein (Delbrück an Goetz am 16. April 1928, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Goetz, Bl. 4). Dennoch war er einer Kooptation gegenüber zunächst durchaus aufgeschlossen (Delbrück an Oncken am 19. Januar 1928, in: ebd., Briefkonzepte Oncken, Bl. 67). Ein Gespräch der beiden lief nach Delbrücks Schilderung allerdings wie folgt ab: »Sie [Schumacher, d. Vf.] sagten zu mir, als ich Sie deshalb [ob Schumacher kooptiert werden wollte, d. Vf.] befragte, und Sie ablehnten: ›Lassen wir diese Demokraten nur unter sich‹, welcher Auffassung ich sofort widersprach mit der Wendung: ›Ich bin doch kein Demokrat!‹« Die HRK sah Delbrück nicht als so bedeutend an, um den Ehrgeiz zu wecken (Delbrück an Schumacher am 6. März 1928, in: ebd., Fasz. 14). Schumacher antwortete, der ganze Vorgang sei ein »Skandal« (Schumacher an Delbrück am 7. März 1928, in: ebd.). Bereits am 5. März hatte Schumacher Delbrück geschrieben, er empfinde es als Beleidigung, nicht aufgenommen zu werden und werde Staatssekretär Zweigert in Kenntnis setzen (in: ebd.). Delbrück wiederum bekräftigte seinen Standpunkt, er habe ihn loyal und offen gefragt, ob er Mitglied werden wolle. Offenbar sei es zu einem Missverständnis gekommen (Delbrück an Schumacher am 8. März 1928, in: ebd.). Delbrück übersandte daraufhin Hoetzsch am 8. März 1928 die Korrespondenz (in: ebd., Briefkonzepte Hoetzsch, Bl. 3 und ebd., Fasz. 14). In der weiteren Auseinandersetzung legte Schumacher eine derartige »Erpressermanier« an den Tag, dass Delbrück sich vollständig gegen ihn wandte (Delbrück an Oncken am 6. April 1928, in: ebd., Briefkonzepte Oncken, Bl. 73). Am Ende konnte sich Schumacher dennoch durchsetzen und wurde in der HRK-Sitzung am 26. Mai 1928 mit neun zu fünf nachgewählt (Protokoll in: ebd., Fasz. 14).

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sich grundsätzlich mit den Überlegungen einverstanden, hielt aber Brandenburgs Idee für verfrüht und nicht durchführbar. In der ersten Sitzung am 9. März 1928 wurde der Plan jedoch mit der Erweiterung Brandenburgs bestätigt363. Auf dieser Tagung wurde auch Friedrich Meinecke zum Vorsitzenden gewählt364. Dem war einiges Taktieren vorausgegangen: Zunächst war Delbrück davon ausgegangen, dass Meinecke kein Interesse am Vorsitz hatte, weshalb er Hermann Oncken den Posten antrug365. Kurz darauf teilte Meinecke Delbrück das Gegenteil mit, woraufhin er Auseinandersetzungen prognostizierte, da ein Teil der Mitglieder Meinecke ablehnten366. Hermann Oncken ließ dann Delbrück wissen, dass Otto Hoetzsch nur ihn, Oncken, als Vorsitzenden unterstütze367. Die Haltung von Hoetzsch bezeichnete Meinecke Delbrück gegenüber wiederum als »nichts anderes als ein[en] Akt deutschnationaler Partei­politik«368. Delbrück schrieb Meinecke nach einem Gespräch auf dem Sonntags-Spaziergang369, beide seien der Meinung, der Vorsitzende müsse mit großer Mehrheit gewählt werden, damit die HRK sich vernünftig entwickele. Er bezweifelte aber die Erfolgsaussichten und war anderer Meinung als Meinecke in der einzuschlagenden Taktik. Dann fragte er, wie die HRK überhaupt funktionieren solle, wenn schon sie beide so sehr differierten370. Im Ergebnis wurde Meinecke tatsächlich mit nur einer Stimme Mehrheit gegen Oncken gewählt. Delbrück berichtete hierüber Gustav Roloff am 13. März und gestand selbstkritisch ein: »Wir Professoren insgesamt erweisen uns als äusserst [sic] mangelhafte Taktiker. Auch mich selbst will ich davon nicht ganz ausnehmen, wenn ich mir auch das Verdienst zuschreibe, Meinecke einigermassen [sic] auf den richtigen Weg gebracht zu haben. Oncken, Götz, [sic] Brandenburg machten Fehler über Fehler.«

363 Vgl. Meineckes und Brandenburgs »Referat über den Arbeitsplan der Historischen Reichskommission« mit Delbrücks Bemerkungen in: ebd., Fasz. 14, sowie Meineckes Schreiben an Delbrück vom 21. Februar 1928, in: ebd., Briefe Meinecke, Bl. 41, mit der Bitte um Durchsicht des Plans und anschließender Übersendung an den zuständigen Ministerialrat im RMI, Max Donnevert, und Delbrücks entsprechender Brief an selbigen vom 23. Februar 1928, in: ebd., Briefkonzepte Donnevert, sowie das HRK-Protokoll vom 9. März 1928 in: ebd., Fasz. 14. In der Folge weitete sich das Aufgabengebiet aus auf die gesamte Geschichte des Kaiserreichs von der Entstehung des Norddeutschen Bundes bis zur Novemberrevolution in verschiedenen Einzelfragestellungen zur Innen- und Außenpolitik. 364 Das Protokoll findet sich in: ebd., Fasz. 14. 365 Delbrück an Oncken am 19. Januar 1928, in: ebd., Briefkonzepte Oncken, Bl. 67. 366 Delbrück an Oncken am 20. Januar 1928, in: ebd., Bl. 68. 367 Oncken an Delbrück am 4. Februar 1928, in: ebd., Briefe Oncken II, Bl. 85. 368 Meinecke an Delbrück am 21. Februar 1928, in: ebd., Briefe Meinecke, Bl. 41. 369 Dieser von Friedrich Meinecke 1914 etablierte 14-tägliche Spaziergang, auf dem aktuelle politische Themen diskutiert wurden, gehört zu den zeittypischen Netzwerken. Vgl. Döring, Kreis, S. 70–72; Meinecke, Straßburg, S. 159. 370 Delbrück an Meinecke am 28. Februar 1928, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Meinecke, Bl. 27.

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Gegen die Dolchstoßlegende

Otto Hoetzsch, der vom DNVP-Innenminister Walter von Keudell installiert worden war, habe sich als einziger als »ein überlegener Taktiker erwiesen« und würde die anderen »in die Ecke dräng[en]«371. Über die Gründe, die die Rechtskreise um Hoetzsch zu einer Parteinahme für Oncken und gegen Meinecke gebracht haben, kann man nur spekulieren. Möglicherweise hatte man sich ausgerechnet, Oncken leichter manipulieren und unter ihm die eigenen Vorstellungen besser durchsetzen zu können, als mit dem bereits aus der HK als starken Gegner bekannten Meinecke. In jedem Fall wurde am Eingeständnis Delbrücks erneut deutlich, dass die Rechten in der Regel besser organisiert waren als die Gemäßigten in Weimar372. Wenngleich die HRK bereits 1935 von den Nationalsozialisten wieder aufgelöst wurde373 und der Untersuchungszeitraum hier nur das erste Jahr der Entstehung umfasst374, zeigt die Problematik bei ihrem Aufbau sehr deutlich, welch schwache Stellung die gemäßigt rechten Kräfte Ende der 20er Jahre nur noch hatten. Dezidierte Sozialdemokraten waren sogar überhaupt nicht mehr berücksichtigt, obwohl sie nach wie vor die größte Partei im Reich waren375. Hans Delbrück stand der Idee der Kommission jedenfalls von Anfang an nicht sehr erwartungsvoll gegenüber. Im Dezember 1927 bereits schrieb er ­Johannes Ziekursch: »Ich mache zwar mit, halte aber nicht viel davon.«376 Und dem im preußischen Wissenschaftsministerium zuständigen Ministerialrat W ­ indelband schrieb er Anfang Januar 1928: »Ich bin nicht so sehr dafür eingenommen, will aber mitmachen«377. Diese Einstellung war typisch für Delbrück. Anfangs 371 Delbrück an Roloff am 13. März 1928, in: ebd., Briefkonzepte Roloff, Bl. 24 f. 372 Delbrück sah nach der Sitzung den weiteren Arbeiten der HRK »mit wenig Zuversicht entgegen«, wie er Oncken am 31. März 1928 schrieb (in: ebd., Briefkonzepte Oncken, Bl. 72). Jener erwiderte, dieser »Pessimismus« entspreche dem von Meinecke. Er führte ihn zurück auf die knapp verlaufene Kampfabstimmung um den Vorsitz und wies Meineckes Deutung von einer Parteipolitik zurück als übertriebene Nervosität (Oncken an Delbrück am 2. April 1928, in: ebd., Briefe Oncken II, Bl. 86 f). Diese Sicht Onckens untermauert die Vermutung, dass er das Vordringen der Rechten nicht richtig erfasste und daher von­ Hoetzsch instrumentalisiert wurde. 373 Vgl. Goetz, Reichskommission, S. 412 f. 374 In diesem Jahr geschah nicht mehr als der Aufbau der Strukturen sowie die Abgrenzung zur HK. Die HK sollte sich auf die Darstellung alles Militärischen konzentrieren und für die Jahre 1914–1918 auch auf wirtschaftliche, technische und soziale Fragen eingehen. Die Innen- und Außenpolitik des Weltkrieges wiederum sollte von der HRK bearbeitet werden, ebenso wie alle amtlichen Akten seit 1848 (damit wiederum grenzte sich die HRK von der Münchener Kommission ab, die sich auf private Nachlässe fokussierte). Vgl. die Sitzungsprotokolle der HRK vom 26. Mai 1928 und 9. März 1929, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 14, sowie der HK vom 6. Februar und 31. Oktober 1928 in: BArch N 1017/51. 375 Der republikanisch gesinnte Gustav Mayer hatte dies in der Sitzung vom 9. März 1928 kritisiert und die Nachwahl von Hugo Sinzheimer gefordert. Die Kommission fällte nach einer Diskussion hierüber nur einen ausweichenden Beschluss (Protokoll der HRK-Sitzung vom 9. März 1928, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 14). 376 Delbrück an Ziekursch am 20. Dezember 1927, in: ebd., Briefkonzepte Ziekursch, Bl. 4. 377 Delbrück an Windelband am 9. Januar 1928, in: ebd., Briefkonzepte Windelband, Bl. 1 f.

Die amtliche Geschichtsschreibung 

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blickte er häufig skeptisch auf neue Einrichtungen. Dies beruhte in diesem Fall sicherlich auf seinen schlechten Erfahrungen, die er in der HK gemacht hatte. Aber vor allem sein insgesamt realistisches Einschätzungsvermögen brachte ihn immer wieder zu klaren Beurteilungen. Das Reichsarchiv war eine Archiv und Forschung verknüpfende, neu geschaffene Institution und dennoch de facto die Nachfolgeorganisation des Großen Generalstabs. Sie hatte den Auftrag des neuen Staates, die Geschichte  – und das beinhaltete auch das Versagen – des alten Staates wissenschaftlich aufzuarbeiten. Es war geradezu absurd, an dieser Stelle die maßgeblich Verantwortlichen für die Verfehlungen des alten Regimes einzusetzen. Hans Delbrück konnte sich in diesem Bereich nicht durchsetzen. »[G]escheitert«, wie es Wilhelm Deist kurzerhand formuliert378, war er dennoch nicht: Sein Engagement war nicht völlig zweck- und ergebnislos. Er war immerhin nach wie vor der »gefürchtetst[e] Generalstabskritiker«379, der sich nie scheute, auch aussichtslose Kämpfe auszufechten. Männer wie Wolfgang Foerster mussten Delbrück stets auf ihrer Rechnung haben, wenn sie ihre geschichtlichen Unwahrheiten verbreiteten. Allein dies musste dazu führen, dass sich die Militaristen mit ihrer Deutung des Weltkrieges eben nicht amtlich und unangefochten durchsetzen konnten380. Als Mertz 1931 in den Ruhestand trat und Haeften sein Nachfolger als Präsident wurde, folgte ihm Wolfgang Foerster als Leiter der Historischen Abteilung. In der HK hatte es darüber zwar noch eine Diskussion gegeben, die Personalie wurde aber ohne Gegenstimme beschlossen381. Hans Delbrück war zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Jahre lang tot.

378 Deist, Delbrück, S. 382. 379 Pöhlmann, Kriegsgeschichte, S. 144. 380 Das hochachtungsvolle Kondolenzschreiben des Stellvertreters des Reichsinnenministers Erich Zweigert vom 15. Juli 1929 an Lina Delbrück, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 10.1, Bl. 120, veranschaulicht den Respekt, den Delbrück sich in der HK erarbeitet hatte. Zweigert, vom sozialdemokratischen Innenminister Sollmann 1923 zum Staatssekretär ernannt, hatte seitdem regelmäßig an den Sitzungen teilgenommen. 381 Vgl. Pöhlmann, Kriegsgeschichte, S. 145.

VI. Schlussbetrachtung »Er war unser aller Gewissen«. »[M]an fühlt sich eines Halts beraubt, der nie wieder ersetzt werden kann«,

schrieb Kurt Hahn, Mitarbeiter und Vertrauter des Prinzen Max, nach Hans Delbrücks Tod im Sommer 1929 in einer Beileidsbekundung an dessen Frau Lina1. Damit brachte er nicht nur seine persönliche Trauer zum Ausdruck, sondern markierte auch die politisch-gesellschaftliche Stellung, die Delbrück innegehabt hatte. Er war einer der wichtigsten Intellektuellen der Weimarer Republik. Als Historiker ohne politische Ämter beteiligte er sich in seinem letzten Lebensjahrzehnt an allen wichtigen politischen Debatten seiner Zeit, weil er auf der Grundlage seiner geschichtswissenschaftlichen Forschungen Deutschland als selbstbewussten Teil der westlichen Gemeinschaft sah und es zugleich vor den größten Fehlern bewahren wollte, die in der Vergangenheit gemacht worden waren. Er war seiner Natur nach zwar ein Anhänger der voraussetzungslosen Wissenschaft, er strebte danach, wissenschaftliches Arbeiten objektiv zu betreiben und nicht mit politischen Absichten zu befrachten. Aber er wollte nicht abseits stehen, wenn es um die zukünftige Entwicklung seines Landes ging2. Für die Weimarer Republik verfolgte Hans Delbrück ein Konzept, nach dem Deutschland sich seiner Niederlage stellen musste, um innenpolitisch zu gesunden, und zugleich weiterhin außenpolitisch einen gleichberechtigten Platz einfordern sollte, da die Schuld Deutschlands am Ausbruch des Weltkriegs seiner Meinung nach nicht größer als die anderer Nationen war. Der Zuspruch, den Lina Delbrück anlässlich des Todes ihres Mannes erfuhr, war enorm. Die ranghöchsten Beileidsbekundungen kamen unter anderen vom preußischen Wissenschaftsminister Carl Heinrich Becker, dem Reichswehrminister Wilhelm Groener, dem Reichskanzler Hermann Müller, dem Reichspräsidenten Paul von Hindenburg und Wilhelm II. Der Tenor der vielen hundert Briefe und Telegramme zeigt sich exemplarisch bei Gustav Roloff: »ich glaube, alle, die Verständnis für eine solche Persönlichkeit haben, werden das Gefühl haben, daß mit ihm ein Stück Gewissen der Nation verloren worden ist [sic] denn je länger desto mehr drang doch die Überzeugung durch, daß er in seiner Persönlichkeit, in der Vereinigung von wissenschaftlichen und ethischen Eigenschaften, aber etwas Besonderes war; das, was seine Freunde schon lange wußten, begannen immer mehr auch Fernstehende zu ahnen und zu fühlen.«3 1 Kurt Hahn an Lina Delbrück am 11. August 1929, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 10.1, Bl. 37 f. 2 Diese Grundhaltung kommt auch zum Ausdruck in Delbrücks selbstgewähltem Grabspruch: »Veritatem coluit, patriam dilexit.« Auf Deutsch etwa: »Er lebte der Wahrheit und liebte sein Vaterland.« (Rassow, Delbrück, S. 441). 3 Gustav Roloff an Lina Delbrück am 17. Juli 1929, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 10.1, Bl. 95. Ebd. die Sammlung aller weiteren Kondolenzen (auch in: Fasz. 10.2 und 10.3). In vielen Glück-

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Schlussbetrachtung

Ähnlich urteilten auch weit über eintausend Zeitungen aller politischen Richtungen deutschlandweit: »O, [sic] hätte man ihn, den unerbittlichen Beobachter, den unbequemen Mahner, den herben Kritiker doch nur mehr ernst genommen, es wäre uns manche bittere Erfahrung erspart geblieben«, schrieb etwa das »Stuttgarter Neue Tagblatt«4. Wilhelm Mommsen schrieb im »Hannoverschen Kurier«, es liege der »seltene Fall« vor, dass alle Gruppierungen im Volk sich einig darüber seien, »einen führenden Vertreter deutschen geistigen und politischen Lebens« zu betrauern. Dies liege vor allem daran, dass er es vermocht habe, »die Kraft der Vergangenheit mit den Aufgaben der Gegenwart zu verbinden« und es »als Historiker wie als Politiker verstand, die großen Traditionen unserer Geschichte nicht gegen, sondern für Gegenwart und Zukunft zu benutzen«5. Der »Vorwärts« schrieb, die Sozialdemokraten neigten vor Delbrück »das Haupt in Dankbarkeit und Verehrung«6, und die KPD-Zeitung »Rote Fahne« äußerte, er »gehörte zu den wenigen ernst zu nehmenden bürgerlichen Geschichtsforschern«7. Auch der Weg von Hans Delbrücks Kindern verdeutlicht, wo er innerhalb der deutschen Geschichte einzuordnen ist: Sein ältester Sohn Waldemar fiel am 4. Mai 1917 in Mazedonien8. Emmie heiratete Klaus Bonhoeffer, einen­ Bruder von Dietrich Bonhoeffer, die beide als Widerstandskämpfer 1945 ermordet wurden. Emmie engagierte sich wie ihr Mann in Widerstandskreisen, entging jedoch der staatlichen Verfolgung im »Dritten Reich«. Justus war Mitglied der Bekennenden Kirche, trat 1935 aus dem Staatsdienst aus, wurde im Zweiten Weltkrieg Mitarbeiter von Hans Oster in der Abwehr und darüber eng in den militärischen Widerstand eingebunden; nach dem 20. Juli 1944 wurde er verhaftet, erlebte aber wie durch ein Wunder das Kriegsende, wurde dann vom NKWD inhaftiert und starb im Oktober 1945 im sowjetischen Speziallager

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wunschschreiben zu Delbrücks 80. Geburtstag (in: ebd., Fasz. 6 und 7) zeigt sich ein ähnlicher Gedanke, dass die Zeitgenossen nur langsam Delbrücks Bedeutung ermessen würden und erst eine künftige Geschichtsschreibung seine Rolle umfänglich zu würdigen wissen werde. Hieber: »Erinnerungen an Hans Delbrück«, in: Stuttgarter Neues Tagblatt, 86. Jg., Nr. 331 vom 18. Juli 1929, in: ebd., Fasz. 12.1. Ebd. sowie in Fasz. 12.2–12.6 die Sammlung mit allen weiteren Zeitungsmeldungen zu Delbrücks Tod. Auch die internationale Presse fand anerkennende Worte: Die »Times« beispielsweise brachte ein ebenso freundliches Porträt nach seinem Ableben wie nahezu alle deutschen Zeitungen (O. V.: »Professor Delbruck. A Famous German Historian«, in: The Times vom 16. Juli 1929, in: ebd., Fasz. 12.1, 12.4). Dabei betonte sie, dass sein Konservativismus »a different thing from that of the Junkers« gewesen sei. Wilhelm Mommsen: »Hans Delbrück. ›Viele Gegner, aber keine Feinde‹«, in: Hannoverscher Kurier vom 20. Juli 1929, in: ebd., Fasz. 12.4. Henning Duderstadt: »Professor Hans Delbrück gestorben. Schwerer Verlust für Volk und Wissenschaft«, in: Vorwärts vom 15. Juli 1929, in: ebd., Fasz. 12.6. O. V.: »Der Geschichtsforscher Delbrück gestorben«, in: Die Rote Fahne vom 16. Juli 1929, in: ebd. Vgl. Aufzeichnung Lina Delbrücks, Abschrift in: BArch N 1017/76, Delbrücks Leben, Bd. XII 1917, S. 171 f, und BArch N 1017/80, Delbrücks Leben, Anhang Bd. II 1917, S. 229–239.

Schlussbetrachtung

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Nr. 69. Max wanderte 1937 in die USA aus und erhielt 1969 den Nobelpreis für Medizin oder Physiologie10. Ein Rückblick auf Hans Delbrücks 70. Geburtstag 1918 im Vergleich mit seiner Feier am 11. November 1928 veranschaulicht, welche Wandlung in der gesellschaftlichen Anerkennung der Historiker in der Weimarer Republik durchlaufen hatte. 1918 kamen zahlreiche Gratulanten zu ihm in den Grunewald und dutzende von Zuschriften erreichten ihn. Trotz aller Not in jenen Tagen zeigte sich eine besondere Wertschätzung11. »Seit Jahren hatte Berlin keine so glänzende Festversammlung gesehen,«12 hieß es dann 1928. Rund 200 Personen, »die geistige Elite der Hauptstadt«, waren in das Hotel Adlon am Brandenburger Tor zusammengekommen13. Eingeladen hatte ein Komitee um Prinz Max. Die Spitzen des Reichs gratulierten ihm: der Reichspräsident, der Reichstagspräsident, der Reichskanzler, der preußische Ministerpräsident, mehrere weitere Minister und Staatssekretäre, seine Fakultät und viele andere hochrangige Persönlichkeiten. Bezeichnenderweise gehörte auch Wilhelm II. hierzu14. Zudem wurde Hans Delbrück als achter Person überhaupt der Adlerschild des Deutschen Reichs durch den Reichspräsidenten verliehen, die höchste Auszeichnung der Weimarer Republik15. Delbrücks Geburtstag 1918 war nicht nur wegen der Wirren der Novemberrevolution bescheidener ausgefallen, als der zehn Jahre später. Er war zwar damals bereits ein über Parteigrenzen hinweg geachteter Intellektueller; aber erst sein kontinuierliches Engagement in den wichtigen Bereichen der Weimarer Republik hatte ihm diese breite Anerkennung eingebracht. Hans Delbrück war also eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der Weimarer Republik, auch wenn dies heutzutage nur noch wenig bekannt ist. Er hat eine exemplarische Funktion als »Gradmesser« für den »Strukturwandel politischer Öffentlichkeit«16 und prägte die politische Landschaft mit: Wie die vorliegende Arbeit zeigt, bestand sein Lebenswerk in seinem letzten Jahrzehnt aus einem Einsatz für eine konservative Republik und gegen Kriegsschuldlüge und Dolchstoßlegende. Delbrück war kein Parteimann und sprach folglich auch 9 Vgl. Weigelt, Umschulungslager, S. 143 f. 10 Zu dem Lebensweg von Max Delbrück unter besonderer Berücksichtigung seines Elternhauses und des geistigen Umfelds, in dem er groß wurde, vgl. O. V., Max Delbrück (43,4, 43,5). 11 Die Sammlung der Glückwunschschreiben findet sich in: SBB NL Delbrück, Fasz. 4. Zur Geburtstagsfeier 1918 vgl. Lüdtke, Kassandra. 12 O. V. »Hans-Delbrück-Feier in Berlin«, in: Neue Freie Presse vom 17. Dezember 1928, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 9. 13 O. V.: »Hans Delbrücks achtzigster Geburtstag«, in: Königsberger Allgemeine Zeitung, 54. Jg., Nr. 536 vom 13. November 1928, in: ebd., Fasz. 8. 14 Die Sammlung der vielen hundert Glückwunschschreiben ist in: ebd., Fasz. 6, 7, die Zeitungsartikel in: ebd., Fasz. 8, 9. 15 Vgl. das Schreiben des Reichspräsidenten Hindenburg an Delbrück vom 11. November 1928, in: ebd., Fasz. 6.1, sowie: »Ehrungen Hans Delbrücks«, in: Deutscher Reichs-Anzeiger vom 13. November 1928, in: ebd., Fasz. 8. 16 Hübinger, Intellektuellengeschichte, S. 11.

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Schlussbetrachtung

nicht für eine homogene Gruppe, weshalb sowohl Zeitgenossen als auch spätere Forscher sich stets schwer damit taten, ihn politisch einzuordnen. Vielmehr folgte er ganz eigenen Ideen, die letztlich im konservativen Spektrum zu verorten waren. Diese sind aber weder demjenigen konservativen Lager zuzuordnen, das dem alten Reich hinterher trauerte, noch dem, welches auf eine neue »konservative Revolution« hoffte. Delbrück skizzierte ein Programm, das den Konservatismus auf die neue Ära anwendete: »Wer das deutsche Volk liebt, muß heute mit deutscher Treue der Republik dienen.«17 Damit leistete er einen stabilisierenden Beitrag zur politischen Entwicklung der ersten deutschen Republik. 1927 schrieb der linksliberale Journalist Carl Misch, Delbrück sei einer der wenigen, »die ihres Landes moralischen Kredit wieder aufgebaut haben. Ein Aufsatz von Delbrück – eine gewonnene Schlacht, Hans Delbrück selbst – Schutzmauer und Streitwagen der geistigen Wehrmacht deutscher Nation«18. Die Katastrophe von 1918 war für Hans Delbrück in gewisser Weise eine Bestätigung seiner Warnungen und seines Programms aus der (Vor)kriegszeit. Er hatte immer für eine Politik der Mäßigung geworben. Obwohl Delbrück selbst ein Träger des alten Systems war, hat er sich auch für das neue eingesetzt: Ausgehend von seinem wissenschaftlichen Werk, der »Weltgeschichte«, in der er die geistig-kulturelle Einheit des Abendlands herausgearbeitet und aus der er ein Plädoyer für eine gemäßigte Politik abgeleitet hatte, folgte er der Vision eines Zeitalters, in dem der Krieg sich als Mittel der Politik überlebt haben würde. In dieser neuen Epoche der Weltgeschichte würde die Furcht vor den Grausamkeiten eines neuen Krieges aufgrund der technischen Entwicklung und des Einflusses der pazifistisch orientierten Bevölkerung einen solchen verhindern. Delbrücks Hoffnung hat sich erst nach einem weiteren, in der Tat alle bekannten Schrecken überbietenden Krieg (vorerst) erfüllt, angesichts der technischen Möglichkeit eines overkill mittels Atomwaffen. Aber dieses Ideal, die Verhinderung künftiger Kriege, hat ihn geleitet. Dabei war er kein Pazifist im herkömmlichen Sinne; er sah, wie die Realpolitik funktionierte. Bei aller Enttäuschung über die Fortsetzung der Machtpolitik durch die Alliierten in Versailles hat Delbrück dennoch an diesem Leitbild der Aussöhnung festgehalten. Ihm stand hierfür die machtpolitische Haltung insbesondere Frankreichs im Wege, die ihm eine versöhnliche Haltung durch die Deutschen unmöglich scheinen ließ. Deshalb bekämpfte er den französischen Deutschlandhass, der sich vornehmlich aus der Überzeugung speiste, dass das Reich den Krieg vorsätzlich begonnen hätte. Dies war der wesentliche Grund, weshalb Delbrück sich so sehr in der Kriegsschuldfrage engagierte: Er bezweckte keine Revanche; er wollte vielmehr dieses Hindernis für den Prozess der Aussöhnung aus der Welt schaffen – freilich auf für Deutschland vorteilhafte Weise. Wenn die deutsche Unschuld be17 Hans Delbrück: »Die Verfassungs-Beratung. Schwarz-rot-gold«, in: PJb 177 (1919), S. 295– 298, Zitat S. 296. 18 Carl Misch: »Deutsche Gelehrte der Gegenwart. Hans Delbrück«, in: Berliner Morgenpost, Nr. 36 vom 11. Februar 1927, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 90.

Schlussbetrachtung

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wiesen und anerkannt sein würde, würde der Versailler Vertrag revidiert werden müssen, Deutschland also von den anderen Staaten als gleichwertig behandelt und auch in den Völkerbund aufgenommen werden, sodass der Grund für die deutschen nationalistischen Leidenschaften wegfiele. Das war das gleiche Programm, das Delbrück auch in der Weltpolitik im Kaiserreich vertreten hatte: kein vorrangiger Platz unter den Nationen, sondern ein gleichrangiger. Das war ein nationales Programm, aber kein nationalistisches. Die Nationalisten wollten Deutschland über die anderen Völker erheben. Das war für diese anderen nicht tragbar, weshalb sich Deutschland mit dieser Politik in der Welt selbst ausgegrenzt hatte. Hans Delbrück war eine Persönlichkeit, die das Recht Deutschlands zu einer gemäßigten Weltpolitik verteidigte, zugleich aber vor den verderblichen Folgen der Torheiten warnte, die Deutschland im wilhelminischen Zeitalter in der Ausführung der Weltpolitik begangen hatte. Deshalb fühlte er sich auch in der Weimarer Republik dazu aufgerufen, die falsche Anschuldigung an Deutschland, es habe den Krieg unprovoziert und planvoll begonnen, in aller Schärfe zurückzuweisen. Für ihn war es nicht schwierig, unumwunden Fehler Deutschlands zuzugeben, da er sie bereits selbst vor und im Krieg offen benannt hatte. Und deshalb kritisierte er auch in der Weimarer Zeit diese Fehler der Vergangenheit so energisch, da sie in den Krieg und zu dem Kriegsschuldvorwurf geführt hatten. Die Verursacher dieses Übels waren in seiner Sicht im Lager der radikalen Rechten. Als Vertreter einer gemäßigten Politik  – wie sie sich in seiner »Weltge­ schichte« zeigte – bekämpfte Hans Delbrück den Versailler Vertrag als ein Friedenswerk, das seiner Ansicht nach aufgrund der bisweilen einseitigen Härte den Keim für künftige Auseinandersetzungen in sich trug. Delbrücks Engagement in der Kriegsschuldfrage nahm im Mai 1919 in Versailles seinen Anfang und fand im Kriegsschuldprozess 1922 einen ersten Höhepunkt, der den Diskurs in Deutschland für die Folgejahre weitgehend festschrieb. In zahlreichen Auseinandersetzungen mit politischen Gegnern wie Karl Kautsky oder Carl Severing prägte sich Delbrücks Ansatz weiter aus und erhielt durch die Debatten mit Forschern aus den ehemaligen Feindländern schließlich eine internationale Dimension. In der Zusammenarbeit mit den amtlichen und halbamtlichen Propagandastellen der Weimarer Republik zeigte sich, wie sehr Hans Delbrück die offizielle Linie vertrat. Dabei achtete er darauf, dass der Diskurs nicht den Rechten überlassen wurde, sondern reklamierte die Aufklärung über die Kriegsschuldfrage für die Republik. Gleichwohl ging er in seinen Angriffen auf Frankreich und Russland zu weit und blieb letztlich im nationalen Denken verhaftet. Die nicht gehaltene, aber in großer Stückzahl publizierte Rede zum zehnjährigen Jahrestag der Unterzeichnung des Versailler Vertrages war schließlich auch das letzte, was die Welt von ihm hörte. Dies alles machte Hans Delbrück in nahezu allen politischen Lagern zu einer respektierten Persönlichkeit. Dass er sich dabei nach den Maßstäben der heutigen Forschung und auch der heutigen politischen Einschätzung zu sehr im nationalen Fahrwasser befand, steht auf einem anderen Blatt. Es gab freilich auch in den 1920er Jahren schon viele

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Schlussbetrachtung

Forscher, Politiker und Intellektuelle, die sich vehement für eine ausgewogenere Betrachtungsweise in der Kriegsschuldfrage engagierten, die den rein deutschen Horizont überwanden und deren Position damit wesentlich fruchtbarer für eine echte Aussöhnung unter den Völkern gewesen wäre. Insofern darf man nicht alles mit dem Zeitgeist entschuldigen, und es bleibt ein kritischer Aspekt, dass Delbrücks anfangs vergleichsweise moderate Deutung des Kriegsausbruchs sich im Laufe der Jahre deutlich verhärtete und er zunehmend Russland und Frankreich den bewussten Willen zum Krieg unterstellte. Andererseits stand Hans Delbrück innerhalb des Weimarer Diskurses zur Kriegsschuldfrage in der Mitte. Da er maßgeblichen Einfluss auf die Debatte ausübte, hat er nicht unwesentlich daran mitgewirkt, dass sich in der deutschen Gesellschaft der Zwischenkriegszeit eine Unschuldslegende durchsetzte, die sehr kritisch zu sehen ist. Aber es bleibt festzuhalten, dass die Alternative nicht die eines Kurt Eisner gewesen ist. Die politische Kultur der Weimarer Jahre hat keine weiter links stehende Entwicklung ermöglicht. Die Alternative wäre eine noch weiter nach rechts orientierte Deutung gewesen, die eine Verständigung der europäischen Nationen noch mehr behindert hätte. Indem Delbrück sich stets gegen rechts außen abgrenzte, trug er dazu bei, den politischen Diskurs in der Mitte zu halten. Das war ein Verdienst, das auch viele Zeitgenossen wahrgenommen haben. Vor allem auch, weil er nicht den Versailler Vertrag verknüpfte mit der Weimarer Verfassung und den Weimarer Parteien, wie es die Rechten vielfach taten, um das »System« in Gänze abzulehnen, sondern sehr genau differenzierte, bleibt Delbrücks Beitrag auf dem Feld der Kriegsschuldfrage herausgehoben. Während sich Delbrücks Engagement in der Frage nach der Schuld am Kriegsausbruch zumeist nach außen, gegenüber anderen Staaten, richtete, befasste sich das andere große Aktionsfeld mit der Frage nach der Schuld an der Niederlage und war zunächst innenpolitisch orientiert. Ihn trieb dabei die große Bitterkeit über den verlorenen Krieg an und vor allem über das untergegangene Reich und die Monarchie. Er wollte die Schuldigen nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Zugleich war er in Sorge, dass diese Kräfte, zeitweise personifiziert insbesondere durch Erich Ludendorff, sich erneut zu einer führenden Rolle in Deutschland aufschwingen könnten und es damit endgültig ins Verderben führen würden. Deshalb kämpfte er so leidenschaftlich im Untersuchungsausschuss des Reichstags, im Dolchstoßprozess, in der Historischen Kommission beim Reichsarchiv und in der Presse gegen die Dolchstoßlegende, mit der die wahren Schuldigen an Deutschlands Niederlage ihre Verantwortung auf die Träger der jungen Republik abwälzen wollten. Delbrück als Konservativer hat sich nicht wie große Teile der bürgerlichen Kreise von der Dolchstoßlegende vereinnahmen lassen, sondern rang sich zu der Erkenntnis durch, dass die Sozialdemokraten zum Sündenbock gemacht werden sollten, womit zugleich jede fruchtbare Entwicklung des neuen Deutschlands behindert werden musste. Hans Delbrück hat den Kampf gegen die Dolchstoßlegende ausgeweitet und ist selber in die Offensive gegangen mit dem Vorwurf der vorsätzlichen Kriegs-

Schlussbetrachtung

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verlängerung durch die die Politik bestimmende alldeutsche Strömung. Er arbeitete auf der Grundlage seiner Expertise als führender Militärhistoriker das Versagen der deutschen Kriegsführung, besonders der 3. OHL, heraus. Dabei kam er zu dem Schluss, dass die radikal rechte Strömung in Deutschland, personifiziert durch Ludendorff, einen möglichen Verständigungsfrieden immer wieder verhindert und sabotiert hatte. Hans Delbrück hat sich auch hier, allerdings in erheblich kleineren Kreisen als in der Kriegsschuldfrage, in seinen letzten zehn Lebensjahren ein großes Renommee erarbeitet. In einer historischen Betrachtung kommt ihm hierbei das Verdienst zu, in dem Moment, in dem Erich Ludendorff sich wieder dazu aufschwang, Politik zu betreiben, durch seinen leidenschaftlich geführten Kampf ganz wesentlich dazu beigetragen zu haben, dessen politische Autorität zu vernichten. Für den inneren Ausbau der jungen Republik, dem dritten wichtigen Betätigungsfeld Delbrücks, verfolgte er ein konservatives, aber nicht rückwärts gewandtes Programm. Er suchte nach Wegen, um das alte mit dem neuen Reich zu versöhnen. Hier sah er, dass ein radikaler Bruch mit der Vergangenheit Gefahren barg, weil die übergroße Mehrheit der Deutschen sich zu keinem Zeitpunkt den Untergang der Monarchie gewünscht hatte. Mit seinen Vorschlägen, beispielsweise die schwarz-weiß-rote Fahne beizubehalten und nicht durch die schwarz-rot-goldene zu ersetzen, agierte er in seiner Logik nicht gegen die Republik, sondern für sie. Anders als die politisch rechten Kreise wollte er, dass die Republik zu einem Erfolg werden würde. Aber er sah den Weg eines Erfolgs nicht in einer linksliberalen Variante, sondern in einer gemäßigt rechten. Wenn die Republik stark genug gewesen wäre, ihrem Vorgänger, dem Kaiserreich, die alte Flagge zuzugestehen, hätte diese niemals zu einem Symbol der Republikgegner werden können. Dieses Denken zieht sich durch alle Bereiche von Delbrücks Ideen für die Gestaltung Weimars hindurch. Im Beispiel der Rückkehr des vormaligen Kronprinzen 1923, bei der er eine wichtige Rolle gespielt hatte, konnte er damit verhindern, dass der Hohenzollern-Prinz als Exilant mög­ licherweise zu einem Märtyrer stilisiert wurde. Delbrück hat der Republik mit seiner manches Mal sehr scharf vorgetragenen Kritik an den überzeugten Liberalen auch geschadet, wie seine Entfremdung von Theodor Wolff oder der DDP zeigt. Trotz allem ist sein Engagement in diesem Bereich insgesamt positiv zu bewerten. 1933 hat Delbrück in gewisser Weise Recht gegeben: Der linksliberale Weg ist gescheitert, die Rechten haben gesiegt. Delbrücks gemäßigt rechte Variante erscheint unter diesem Blickwinkel durchaus in einem anderen Licht. Die Nationalsozialisten haben dann mit dem »Tag von Potsdam« in infamer, aber geschickter Weise den Mythos des alten Reichs für sich in Anspruch genommen. Das zeigt, wie wichtig für die Deutschen das Kaiserreich nach 1918 weiterhin geblieben war19. Das war Delbrück 19 Umgekehrt gab es auch im Lager der Linken patriotische Gefühle: »Es ist ja nicht wahr, daß jene, die sich ›national‹ nennen und nichts sind als bürgerlich-militaristisch, dieses Land und seine Sprache für sich gepachtet haben. […] [M]it genau demselben Recht nehmen

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Schlussbetrachtung

immer bewusst gewesen, und deshalb hatte er stets dafür plädiert, keinen vollständigen Bruch mit der Vergangenheit zu vollziehen, sondern die Elemente, die der Republik nicht grundsätzlich schadeten, in die neue Zeit zu übernehmen. Da Weimar dies nicht tat, blieb dieses Feld der Symbolpolitik den Gegnern der Republik überlassen, sodass auch die Nationalsozialisten – insbesondere ab 1933 – genau dies für sich instrumentalisieren konnten. Das war ihnen nur deshalb möglich, weil die Weimarer Republik dieser Gefühlslage der Mehrheit der Bevölkerung nicht entsprochen hatte: Die aktuelle Forschung bestätigt, dass große Teile der Gesellschaft die Demokratie »nur vorläufig als Modus der politischen Auseinandersetzung angenommen« haben. Den Vernunftrepublikanern habe es »an belastbarer Substanz [gemangelt]«20. Genau diesen Mangel wollte Delbrück beheben. Diese drei Elemente seines politischen Wirkens in der Weimarer Republik, sein Programm zur Ausgestaltung der Republik in Aussöhnung mit dem Kaiserreich, seine Beiträge in der internationalen Debatte über die Kriegsschuldfrage sowie sein Engagement in der Kriegsverlängerungsfrage, zeigen in ihrer Gesamtheit, dass Hans Delbrück eine in seiner Zeit hochbedeutende Persönlichkeit war. Insofern greift die übliche Zusammenfassung seiner Tätigkeiten als bloßer Kampf gegen die »Kriegsschuldlüge« und gegen die Dolchstoßlegende zu kurz: Über sein Engagement gegen den Schuldspruch des Versailler Vertrages kam er zu einer Analyse der Vorkriegspolitik und übte dabei durchaus in vielen Punkten deutliche Kritik an der Reichsleitung. Auf der anderen Seite führte er die Kriegszieldebatte fort in der Form der Kriegsverlängerungsfrage. Die Verantwortung für die Verhinderung der seiner Meinung nach frühzeitigen Möglichkeit einer Beendigung des Krieges trugen für ihn eindeutig die Alldeutschen. Gleichwohl stand er nicht allein – er hatte zahlreiche Gesinnungsgenossen, die sich etwa auf seinem Mittwoch-Abend zusammenfanden, mit ihm publizistische Initiativen abstimmten oder mit denen er in diversen Kommissionen gemeinsam arbeitete. Zudem erhielt er für seine Zeitungsartikel immer wieder Zuspruch – auch von ihm nicht bekannten Personen –, der ihn dazu ermunterte, seinen Weg weiterzugehen. Sein Programm in der Gesamtheit jedoch hatte etwas Eigenes, das in dieser Kombination von keinem anderen so pointiert vertreten wurde. Dabei waren die Einflussmöglichkeiten für ihn als Intellektuellen mitnichten geringer als noch im Kaiserreich: Zwar veränderte sich vieles, aber Delbrück konnte sich die neuen Optionen zunutze machen. Die Presse als wichtigstes Medium der politischen Auseinandersetzung dynamisierte sich wir, die wir hier geboren sind, wir, die wir besser deutsch schreiben und sprechen als die Mehrzahl der nationalen Esel – mit genau demselben Recht nehmen wir Fluß und Wald in Beschlag, Strand und Haus, Lichtung und Wiese: es ist unser Land.« (Tucholsky, Heimat, S. 200). Diese Zeilen von Kurt Tucholsky aus dem Jahr 1929 verdeutlichen, dass es auch im sozialistischen und pazifistischen Milieu den starken Wunsch nach »Heimatliebe« (ebd.) und der Möglichkeit zur Identifikation mit Deutschland gab. Somit war es für die Weimarer Republik umso notwendiger, diese Bedürfnisse zu befriedigen. 20 Thonfeld, Krisenjahre, S. 415.

Schlussbetrachtung

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weiter und Delbrück verstand es, sich in der veränderten medialen Landschaft weiterhin in vielen Lagern Gehör zu verschaffen. Zudem boten die zahlreichen Berufungen als Sachverständigen für ihn, wie dargestellt, die Chance, zusätzlich an anderen Stellen Einfluss auszuüben und nicht nur in der Publizistik. Dass er einen gewissen Einfluss ausübte, war ihm auch selbst bewusst, wenn er etwa 1925 an den Chefredakteuer des »Berliner Tageblatts«, Theodor Wolff, schrieb: »Ich glaube durch meine Entlarvung Ludendorffs soviel für die Republik getan zu haben, wie mancher andere. Ich habe es getan, nicht um die Republik, sondern um der Wahrheit willen, aber ich denke, es ist deshalb nur umso wertvoller. Was wäre aus dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss herausgekommen, wenn ich nicht dabei gewesen wäre. Selbst die Sozialdemokraten sind in ihrer Resolution nicht zur vollen Wahrheit gelangt.«21

Delbrücks wissenschaftliche Arbeit verquickte sich in der Weimarer Republik zunehmend mit seinem politischen Wirken, besonders bei den Strategiedebatten über die Ursachen und den Verlauf des Weltkriegs. Zugleich mischte er sich im Vergleich zu seiner Tätigkeit im Kaiserreich immer weniger in tagespolitische Fragen ein wie die Sozialpolitik, Wirtschaftspolitik u. ä. Ihm ging es um die großen historisch-politischen Leitlinien. Nach den Maßstäben späterer Epochen ist seine Haltung zu vielen Fragen kritisch zu sehen. Er war ein typischer Vertreter der deutschen Geisteswelt der wilhelminischen Epoche, forderte eine aktive Flotten-, Kolonial- und Weltpolitik, sah die Bismarcksche Reichsverfassung als allen anderen überlegen an, war geprägt von einer hohen Staatsgläubigkeit und hielt den Streit zwischen den Parteien in manchen Punkten für schädlich. Nicht zuletzt zeigte sich dies auch in seinem konservativen Frauenbild22. Der elitäre Anspruch, als Gelehrter die politische Vernunft des Reichs zu verkörpern, kennzeichnete Delbrück wie auch viele andere Intellektuelle in den Weimarer Jahren. Aber in seiner Zeit betrachtet, vertrat Hans Delbrück ein mutiges und vielversprechendes Programm, was sich auch indirekt in den Anfeindungen der radikalen Rechten zeigte, denen er sich ausgesetzt sah23. Auch in seiner Rolle als Universitätsprofessor, die er nie verließ, nutzte er einen großen Spielraum und hatte sich im Hohenzollernreich für die Integration der 21 Delbrück an Wolff am 11. August 1925, in: SBB NL Delbrück, Briefkonzepte Wolff, Bl. 11. 22 In seinen PJb schrieb Delbrück Anfang 1919 zur Einführung des Frauenwahlrechts: »Es gehen dabei so viele ethische und Schönheitswerte verloren, daß die Vorteile, die hier und da gewonnen werden, kaum dagegen aufkommen.« (Hans Delbrück: »Das Frauenwahlrecht«, in: PJb 175 (1919), S. 136–140, Zitat S. 137). 23 Sicherlich auch vor diesem autobiographischen Hintergrund schrieb er in seiner »Weltgeschichte«, »Fanatikern ist gerade der Gemäßigte der meistgehaßte Gegner« (Delbrück, Weltgeschichte I, S. 292). 1916 schrieb er seiner Frau, dass sich ihr Sohn Waldemar mit seinem Hauptmann anlegen wolle, da dieser sich über Delbrücks politische Ansichten ausgelassen habe: »Wenn W. alle die Leute fordern will, die auf mich schimpfen, kann er immer mit der Pistole in der Hand herumgehen.« (Hans Delbrück an Lina Delbrück am 20. August 1918, Abschrift in: BArch N 1017/76, Delbrücks Leben, Bd. XII 1916, S. 59).

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Arbeiter­schaft eingesetzt. In der Weimarer Republik setzte er dann viel daran, diesen Weg weiterzugehen, und plädierte für eine politische Zusammenarbeit zwischen der Arbeiterschaft und dem gemäßigten Teil des Bürgertums, indem er das Bürgertum an die Mitte heranführte. Seinem puren Standesinteresse entsprach das nicht unbedingt. Die heutige Forschung betont, dass diese Zusammenarbeit, also die Überwindung der Klassengesellschaft, ein wesentlicher Gelingungsfaktor für Weimar gewesen sei24. Da Hans Delbrücks Position sich im Verlauf der Jahre nur wenig änderte, dient die Betrachtung seiner Rolle als Sonde für die Entwicklung der politischen Kultur der Weimarer Republik. Als ein Ergebnis der vorliegenden Studie kann festgehalten werden, dass die Formen der politischen Auseinandersetzungen zunehmend polemischer und polarisierter wurden, da sich die Fronten verhärteten. Es kam zu einer »Polarisierung der Parteipolitik«, die die Legitimität der parlamentarischen Demokratie schrittweise unterhöhlte25. Im Vergleich zur Stimmung vor dem Weltkrieg, als Deutschland zwar eine ausgeprägte Klassengesellschaft gewesen war, aber in sich weitgehend stabil funktionierte, fällt auf, dass die Weimarer Gesellschaft desolat und instabil war. Der Krieg, die Millionen von Toten, die Niederlage, die Revolution hatten so tiefe Wunden gerissen, dass das politische Geschäft nicht mehr zur Ruhe kam. Der Streit über den Umgang mit dem Versailler Vertrag und die außenpolitische Ausrichtung sowie die Auseinandersetzungen über den Weg, den Deutschland nach dem Bruch 1918 innenpolitisch gehen sollte, beschäftigten besonders angesichts der wirtschaftlichen Verwerfungen und vielfacher Not in den Familien die Menschen tagtäglich. Jeder suchte nach Schuldigen und hatte seine eigene Vorstellung für den künftigen Weg. Es gab keinen Konsens. Dies führte zu einer Katalysierung des politischen Streits, der immer hässlichere Formen zeigte. An Hans Delbrück als wichtigem, aber polarisierenden politischen Publizisten zeigte sich dies besonders, da seine Art zu schreiben meistens unbedingte Verehrung oder schroffe Ablehnung erfuhr. Das wurde vor allem daran sichtbar, dass die Artikel, die er veröffentlichte, häufig eine entsprechende Reaktion auslösten. Seine bereits im Kaiserreich gefestigte Stellung im Kommunikationsraum konnte er damit noch weiter ausbauen. Zwar verkaufte er bereits 1919 seine »Preußischen Jahrbücher« und publizierte danach fast gar nicht mehr in seinem angestammten Presseorgan. Aber dadurch, dass Zeitschriften als Medium in den 1920er Jahren generell an Gewicht verloren und Zeitungen immer 24 Vgl. Winkler, Weimar, S. 277. 25 Dies stellt Fulda, Politik, S. 72, auch am Beispiel der Entwicklung der Presselandschaft fest. Barth, Dolchstoßlegenden, S. 559 f, hält fest, dass die publizistischen Auseinandersetzungen immer nur die vorherrschenden Meinungen bestätigt hätten. Schumann, Kampf, S. 359, resümiert in seiner Studie zur politischen Gewalt in der Weimarer Republik, dass entgegen der landläufigen Wahrnehmung politische Morde und bürgerkriegsähnliche Zustände nicht alltäglich gewesen seien. Vielmehr sei es ein Kampf »um öffentliches Terrain und Symbole« gewesen. Auch er also stellt fest, wie verderblich die polarisierte politische Kultur für die Legitimität der parlamentarischen Demokratie gewesen ist.

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bedeutender wurden, konnte Delbrück umso interessanter werden, da er nun in verschiedenen Blättern publizierte und damit unterschiedliche Milieus erreichen konnte. Seinen Schreibstil passte er dementsprechend an, auch publizierte er überwiegend in Zeitungen und weniger in Zeitschriften. Die Tatsache, dass er sogar häufiger im Radio sprach, einem völlig neuen Medium, unterstreicht seine Offenheit, sich auch im hohen Alter auf Neuerungen einzulassen. Immer wichtiger wurden dabei seine Kontakte zu Journalisten und Redaktionen, da er nunmehr ohne eigenes Publikationsorgan auf die Aufnahme seiner Beiträge durch andere angewiesen war. Hierbei zeigte sich, dass seine Artikel selten abgelehnt wurden, wenn er sie aus Eigeninitiative einsandte. Umgekehrt erreichten ihn häufig Anfragen, die er ebenfalls nur in wenigen Fällen ausschlug. Dabei legte er Wert darauf, dass seine Stellung als Intellektueller sich auch in der Verbreitung und im Honorar widerspiegelte. Dies tat er aber weniger aus egoistischen und ökonomischen Gründen, sondern mehr, um seine Autorität zu wahren. Es zeigte sich gerade an Delbrücks Stellung im politischen Raum, dass es besonders die politische Rechte war, die den Streit einerseits ständig als »undeutsch« beklagte, zugleich aber permanent selbst provozierte. Die radikale Linke suchte zwar auch, die Republik zu diffamieren26. Aber die gemäßigte Linke (sprich die Parteien der sogenannten Weimarer Koalition) befand sich permanent in der Defensive, und wenn sie selbst polemisierte, dann nur in Abwehr der Angriffe von scharf rechts. Delbrücks Plädoyer für Mäßigung und Mitte war vernünftig angesichts der zunehmenden Polarisierung der politischen Landschaft. Nur war er allein zu schwach, um den Diskurs ändern zu können. Es zeigte sich, dass Hans Delbrücks politische Überzeugungen im Laufe der Jahrzehnte weitgehend unverändert blieben, von geringen Veränderungen abgesehen: Im Kampf gegen die Kriegsschuldlüge rückte er im Laufe der Jahre immer weiter nach rechts, im Kampf gegen die Dolchstoßlegende hingegen stückweise nach links. Insgesamt aber war es die politische Grundachse des Reichs, die sich schrittweise nach rechts verschob. Die Schockstarre über die selbst verschuldete Katastrophe von 1918 währte im Lager der radikalen Rechten aufgrund der schnell etablierten Dolchstoßlegende nur kurz. Diese war die Fortsetzung der alldeutschen Propaganda im Weltkrieg gegen die – angeblich defätistische – Verständigungspolitik, die den Anstrengungen für einen brutalen Siegfrieden im Wege stand. In den Folgejahren gelang es den Rechten wieder, den Diskurs zu bestimmen, weil sie unmittelbar an diese Agitation der Kriegsjahre anknüpften. Daher liegen die tieferen Ursachen des Erstarkens der Rechten in den 1920er Jahren in der Kriegszieldebatte. Insoweit löst sich auch die Spannung auf zwischen der Frage nach den Chancen der Weimarer Republik und der Erklärung für den Aufstieg der radikalen Rechten: Chancen waren gegeben durch eine gemäßigt rechte Variante, wie sie beispielsweise Delbrück vorschlug. Der Aufstieg der Rechten begründete sich 26 Zu den linksextremen Bestrebungen, Weimar zu verunglimpfen, vgl. umfassend Bavaj, Weimar.

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damit, dass diese Chancen nur unzureichend genutzt wurden und die radikale Agitation der Rechten dadurch mehr Anziehungskraft besaß. Den Alptraum, dass mit Adolf Hitler schließlich doch die rechtsextreme Strömung in Deutschland erneut – freilich in anderer Form und diesmal mit weitaus verheerenderen Folgen – an die Macht gelangte, tatsächlich zu erleben, ist Delbrück erspart geblieben27. Er starb am 14. Juli 1929, bevor die NSDAP zu einer größeren und wichtigeren Macht wurde. Mithin ist es auch kein Zufall, dass sich einige Jahre später viele Persönlichkeiten aus Delbrücks Umfeld in den Reihen des Widerstands fanden oder Opfer der NS-Gewaltherrschaft geworden sind. Ernst Herse, ein Anwalt und Unternehmer aus Kassel, dessen Frau enger mit Hans Delbrück befreundet gewesen war, schrieb anlässlich des Todes von Delbrück an dessen Frau: »Was das Vaterland an Hans Delbrück verloren hat, dürfte im vollen Umfange erst einer späteren Generation klar werden. […] Es wäre manches anders gekommen, wenn man sie [Delbrücks Stimme, d. Vf.] nicht so oft früher und auch in letzter Zeit überhört hätte. Die Lücke, die durch sein Ableben entstanden ist, wird sich von niemandem ausfüllen lassen, aber das Vermächtnis, das er in dem grossen Kreise seiner Freunde und Verehrer hinterlassen hat, wird sicher fortleben und zum Nutzen des Vaterlandes Früchte tragen.«28

Delbrücks »Vermächtnis« lebte fort in zahlreichen Personen aus seinem Umfeld, die in der Zeit von 1933 bis 1945 vom NS-Regime verfolgt wurden, zur Emigration gezwungen waren oder sich dem Widerstand anschlossen und teils ermordet wurden29. Viele von ihnen engagierten sich gegen die Schreckensherr27 Delbrück war noch wenige Monate vor seinem Tod sehr optimistisch hinsichtlich der weiteren politischen Entwicklungen. So schrieb er, »so viel Trübsal uns auch noch umgibt, wir dürfen wieder mit Hoffnung in die Zukunft schauen. […] Mag der Weg, den wir zu gehen haben, auch steil und steinig sein, er ist, wie ich überzeugt bin, der richtige, und man darf hoffen, daß man so schwere Fehler, wie es ehedem geschehen ist, nicht mehr begehen wird.« (Hans Delbrück: »Danksagung«, in: PJb 214 (1928), S. 265–271, Zitat S. 270 f). 28 Ernst Herse an Lina Delbrück am 15. Juli 1929, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 10.2, Bl. 103. 29 Im Einzelnen waren das Hermann Oncken und Georg Schreiber, die 1935 zwangsemeritiert wurden, Gustav Mayer, der 1933 nach seiner Entlassung durch die Nationalsozialisten auswanderte, und Walther Schücking, der 1933 zwangspensioniert wurde. Gerhard Anschütz trat als NS-Gegner 1933 freiwillig in den Ruhestand, Albrecht Mendelssohn-Bartholdy emigrierte 1934 nach England, nachdem er von den Nationalsozialisten in den Ruhestand versetzt worden war, Richard Delbrück wurde 1940 aus politischen Gründen emeritiert, Georg Karo wurde 1936 entlassen und wanderte 1939 in die USA aus, Hans Rothfels wurde 1934 zwangsemeritiert und verließ 1939 Deutschland. Auch Veit Valentin wurde im »Dritten Reich« entlassen und wanderte aus, 1933 wanderten zudem Philipp Loewenfeld, Ernst Jäckh, Georg Bernhard, Moritz Julius Bonn, Otto Landsberg, Ludwig Quidde, Arthur Rosenberg und Johann Heinrich von Bernstorff aus. Gustav Roloff beantragte 1934 in Protest gegen den Nationalsozialismus seine Emeritierung, Max Sering wurde ab 1933 schrittweise aus allen Ämtern verdrängt, Adolf Grabowsky wurde 1933 entlassen und emigrierte anschließend in die Schweiz. Otto Lehmann-Rußbüldt, Hellmut von Gerlach und Friedrich Stampfer wurden 1933 als drei der ersten ausgebürgert und verließen Deutschland.

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schaft der Nationalsozialisten – darunter viele Konservative, die ebenfalls gegen »nationalen Fanatismus« kämpften. Es war nur eine winzige Minderheit, aber »die moralische Elite der altpreußischen Führungsschicht«30. Ihr Gedankengut knüpfte an die Welt von Hans Delbrück an. Es war das letzte Aufbäumen des anderen Preußens in der Weltgeschichte: des Preußens der Aufklärung, der Reformen und der republikanischen Ära, nicht des Preußens der Reaktion und des Militarismus. Diesen Unterschied betonten bereits 1948 die »Deutschen Erich Koch-Weser wurde 1933 mit Berufsverbot belegt und schiffte sich nach Brasilien aus, Fritz Klein wurde 1933 auf Betreiben der Nationalsozialisten von seinem Posten als Chefredakteur der DAZ entbunden, Arnold Brecht und Ernst Feder emigrierten ebenfalls, Johannes Ziekursch musste nach 1933 mit dem Verbot einiger seiner Werke leben und Ludwig Bergsträsser wurde 1933 die Lehrerlaubnis entzogen. Karl Jarres verlor nach 1933 alle politischen Ämter und Eugen Fischers Werke waren von den »Bücherverbrennungen« betroffen. Wilhelm Groener wurde aufgrund seines Vorgehens gegen die Nationalsozialisten bereits 1932 aus dem Amt gedrängt, die Teilnahme an seiner Beerdigung 1939 wurde allen Offizieren untersagt. Paul von Schoenaich wurde 1933 kurzzeitig rechtswidrig verhaftet, Kurt Hahn wurde 1933 ebenfalls rechtswidrig inhaftiert und konnte erst nach der Intervention des britischen Premierministers im Sommer 1933 nach Schottland auswandern. Müldner von Mülnheim wurde zur politischen Einschüchterung 1934 mehrere Wochen lang rechtswidrig inhaftiert, Max Hirschberg wurde 1933 monatelang rechtswidrig inhaftiert und konnte anschließend aus Deutschland fliehen. Joseph Wirth verließ 1933 Deutschland und unterhielt aus dem Ausland Verbindungen zum Widerstand, Wilhelm Solf verhalf jüdischen Bekannten zur Ausreise nach Japan. Nach seinem Tod 1936 bildeten seine Bekannten um seine Frau den Solf-Kreis. Maximilian von Hagen betätigte sich ebenfalls im Widerstand, Albert Südekum verlor nach 1933 alle Posten und engagierte sich im Widerstand. Auch Otto Geßler war im Widerstand und wurde nach dem 20. Juli 1944 verhaftet. Bernhard Wilhelm von Bülow – bei aller Unklarheit über seine Rolle im Auswärtigen Amt unter Hitler – sollte ursprünglich auch im Rahmen der sog. Röhm-Affäre 1934 ermordet werden. Hermann Mertz von Quirnheim wurde in Sippenhaft genommen aufgrund der Beteiligung seines Sohnes Albrecht am Attentat des 20. Juli 1944. Otto Hintzes Frau wählte 1942 den Freitod, da sie aufgrund ihrer jüdischen Herkunft verfolgt wurde. Karl Kautsky starb 1938 in Emigration, seine Frau Luise wurde 1944 in Auschwitz ermordet. Emil Faktor wurde 1942 im Ghetto Litzmannstadt ermordet. Karl Mayr emigrierte 1933 nach Frankreich, wurde 1940 von der Gestapo verhaftet und starb 1945 im KZ Buchenwald. Auch Theodor Wolff starb 1943 im KZ. Graf Albrecht von Bernstorff wurde als Widerstandskämpfer 1945 von der SS ermordet, der Franzose Victor Basch kämpfte während der Besatzungszeit im Widerstand und wurde 1944 von der Gestapo ermordet und Erwin Planck wurde 1945 als Widerstandskämpfer ermordet. Werner und Hans Bernd von Haeften, Söhne von Hans von Haeften, wurden bereits 1944 als Widerstandskämpfer ermordet. Mehrere enge Verwandte von Adolf Harnack, Schwager und engster Vertrauer Delbrücks, waren ebenfalls im Widerstand aktiv: Sein Sohn Ernst wurde 1945 in Plötzensee erhängt, seine Tochter Agnes unterrichtete im Zweiten Weltkrieg Kinder jüdischer Abstammung, denen der Schulbesuch untersagt war, seine Neffen Arvid (1942 in Plötzensee erhängt) und Falk waren ebenfalls Widerstandskämpfer. Einführend zu den verschiedenen Formen des deutschen Widerstands vgl. Benz / Pehle, Lexikon. 30 Heinrich August Winkler: »Wie Preußen unterging«, in: Spiegel Online vom 21. August 2007, http://www.spiegel.de/panorama/zeitgeschichte/abschied-auf-raten-wie-preussen-unter ging-a-500856.html, abgerufen am 1. September 2015.

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Nachrichten« in Sao Paulo, die zum 100jährigen Geburtstag Delbrücks über ihn schrieben: »Sein Konservativismus war durchaus echt und preussisch. Man übersieht aber vielfach, dass dieses Preussentum zwei Seiten hatte: die reaktionäre, machtgierige, die so verhängnisvoll gewirkt hat, und die liberale, von europäischem Kulturbewusstsein getragene, die bis zu einem gewissen Grade schon in Friedrich dem Grossen verkörpert ist und später in den führenden Geistern der Freiheitskriege zur Reife gelangte, ohne dass es allerdings glückte, Preussen diesen Stempel aufzudrücken. Wäre das geschehen, dann wäre die preussische und deutsche und damit auch die europäische Geschichte anders verlaufen. Delbrück bejahte Preussen und das Bismarck-Reich; sein Streben war, dazu beizutragen, es zu erhalten. Aber er erkannte die Gefahren, die für den Bestand Preussens und des Reichs aus reaktionären, hakatistischen und alldeutschen Strömungen heraufgeführt wurden und trat so jedesmal in die Schranken, wenn billiger und oberflächlicher ›Patriotismus‹ die wahren nationalen Belange verriet und auf bedrohliche Weise hindrängte.«31

Deutschland ist den rechten Weg gegangen, nicht erst seit 1933. Der deutsche Faschismus war weder ein »Sonderweg«, noch ein »Betriebsunfall«. Das rechte Gedankengut war schon in den Jahrzehnten vor der Machtübertragung auf Hitler vorhanden – wie in vielen westlichen Staaten der damaligen Zeit. In Deutschland hat diese Strömung deshalb die Macht erringen können, weil die amtliche Politik letztlich weniger Anziehungskraft besaß. Das lag unter anderem daran, dass die Rechten, wie vorliegend gezeigt, stets besser organisiert und die Republikaner ein Stück weit zu idealistisch waren und ihr Programm keine genügende Basis im Volk hatte. Hans Delbrück nahm in dieser Grundsatzdebatte eine wichtige Rolle ein. Er setzte der Schwäche der Republik und den Angeboten der Rechten ein gemäßigt rechtes Programm entgegen, das zwar vom Standpunkt westlicher Ideale aus betrachtet kritikwürdig war, aber eher die Chance auf Anerkennung einer Mehrheit im Volk gehabt hätte. Damit knüpfte er im Übrigen an seine Tätigkeiten zur Kaiserzeit an: Mit seinem damaligen Programm für eine selbstbewusste Weltpolitik hatte er in ähnlicher Weise versucht, ein mehrheitsfähiges Angebot zu schaffen, das nicht die Gefahr internationaler Verwicklungen barg. Dies entsprach seiner Überzeugung, dass ein Volk Ziele brauche, wenn es sich gedeihlich entwickeln solle. Seine Kritik am Vorrang der militärischen vor der politischen Führung traf den wunden Punkt des Hohenzollernreichs. Auch wenn er hier nicht die strukturelle Schwäche erkannte, wie sie aus der Bismarckschen Reichsverfassung hervorging, sondern nur das Handeln einzelner Personen, gestützt auf die öffentliche Meinung, negativ einschätzte, hat diese entscheidende Problematik kaum ein anderer in seiner Zeit so klar gesehen. In der Weimarer Republik kämpfte er letzten Endes genau an dieser Stelle weiter und wollte verhindern, dass der Primat der Politik erneut in 31 O. V.: »Hans Delbrück (Zu seinem 100. Geburtstage)«, in: Deutsche Nachrichten, Sao Paulo, 4. Jg., Nr. 403 vom 11. November 1948, in: KULF, FA Delbrück, Z De 53–008.

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Frage gestellt würde. Insofern betreffen die Komplexe, die im Zusammenhang mit Delbrücks Wirken in der Weimarer Republik vorliegend untersucht wurden, elementare Fragen der neueren deutschen Geschichte. Die Ausgestaltung des neuen Staates, die Kriegsschuld-Debatte und die Dolchstoßlegende waren die entscheidenden Themen dieses Zeitalters des Epochenwandels. Hans Delbrücks Mahnungen erscheinen dabei nahezu durchweg als »Kassandra«-Rufe32. Das spiegelt sich deutlich in seiner Geburtstagskorrespondenz: 1918 durchzog die Glückwunschschreiben das Bedauern, in der Kriegszieldebatte nicht auf ihn gehört zu haben. Dasselbe geschah zum 11. November 1923 unter dem Eindruck des Hitler-Ludendorff-Putsches in München: Siegfried Mette etwa formulierte, bereits zu Delbrücks 70. Geburtstag habe er die Hoffnung gehabt, er möge nicht den Glauben an das deutsche Volk verlieren. »Heute, nach 5 [sic] Jahren dauernden Rückgangs und im Augenblick schwerster Krisis wiederholte [sic] ich diesen Wunsch trotz allem und füge noch den andern hinzu: vielleicht führt uns diese jetzige Krisis doch noch nach oben«33. Und 1928 schrieb der ehemalige Berliner Polizeipräsident, Freiherr von Lüdinghausen, in Erinnerung an den gemeinsamen Kampf in der Kriegszieldebatte, er sei in all den Jahren immer fester in seiner Meinung geworden, dass Delbrücks Auffassungen richtig gewesen wären, »und es ist traurig genug, dass die Zahl derer, die nichts vergessen und nichts dazu gelernt haben, die, statt ihre eigenen Fehler einzusehen, durch die Legende vom Dolchstoss und andere Verfälschungen der Wahrheit, die Schuld Anderen zuschieben wollen, immer noch eine so grosse [sic] ist.«34

Hans Delbrück übte als Intellektueller in nicht unerheblichem Maße Einfluss aus: Er war als Publizist einer der wichtigsten Vertreter in der Agitation zur Kriegsschuldfrage und half dadurch maßgeblich mit, diese Debatte auf der amtlichen Linie zu halten. Er war der entscheidende Widersacher Ludendorffs und trug erheblich dazu bei, diesen schließlich politisch weitgehend unschädlich machen. Und er konnte in manchen Fragen, die Ausformung der Republik betreffend, seine Positionen durchsetzen – wie etwa bei der Rückkehr des ehemaligen Kronprinzen. Aber sein Einfluss hatte auch Grenzen: Bei der Flaggenfrage wurden seine Vorschläge nicht realisiert und eine tatsächliche Revision des Versailler Vertrages  – das Ziel seines Engagements in der Kriegsschuldfrage – wurde bis zu seinem Tod nicht erreicht. Vielfach erwiesen sich die rechten Kräfte als mächtiger und besser organisiert, sodass er als Sachverständiger 32 So charakterisierte ihn 1918 Gustav Roloff (Roloff an Delbrück am 9. November 1918, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 4). Kassandra ist die tragische Heldin in der griechischen Mythologie, die stets das Unheil voraussah, der aber keiner Glauben schenkte. 33 Mette an Delbrück am 13. November 1923, in: ebd., Fasz. 5. Ebd. die Sammlung zahlreicher weiterer Telegramme, Karten und Briefe zu Delbrücks 75. Geburtstag. 34 Freiherr von Lüdinghausen an Hans Delbrück am 24. November 1928, in: Ebd., Fasz. 6.1.

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wie im Untersuchungsausschuss des Reichstags massiv behindert wurde, ihm im Dolchstoßprozess der an sich positive Verlauf am Ende entglitt oder es ihm wie in der Historischen Kommission des Reichsarchivs kaum gelang, sich gegen die fatale Deutung der jüngsten deutschen Geschichte durchzusetzen. Die Deutschen haben nicht auf politische Ideen wie die von Hans Delbrück gehört. Ein großer Teil sah eher in den Angeboten der Nationalsozialisten für ein neues Zeitalter der nationalen Stärke das Ersehnte. Der schnelle, vordergründige Erfolg des nationalsozialistischen Regimes riss auch die letzten Skeptiker mit, wenn sie nicht aufgrund der ideologischen und rassistischen Anlage des Nationalsozialismus von Anfang an verfolgt wurden. Es hat erst der schlimmsten Abgründe der Menschheitsgeschichte im Verlauf des Zweiten Weltkriegs bedurft, um die politische Klasse in Deutschland nachhaltig und langfristig von jedem rechtsextremen Gedankengut zu läutern. Die bloße Mahnung hiervor, wie sie Hans Delbrück stets hervorgebracht hatte, hatte nicht ausgereicht. Zu verlockend war eine Politik, die vor allem die Gefühle ansprach und nicht den nüchternen Verstand anrief, wie auch die »Neue Zürcher Zeitung« in einer Betrachtung zum 11. November 1928 schrieb: »Delbrück hatte eben in seiner ganzen publizistischen Tätigkeit den Umstand gegen sich, daß er Vernunft zu predigen suchte, während die Leser die Stimme der Leidenschaft zu hören verlangten – gleichgültig von welcher Seite sie komme.«35 So sehr ­Delbrück sich – wie an zahlreichen Stellen gezeigt wurde – auch bewusst war, dass Politik nicht nur verstandesgemäß gemacht werden kann, sondern stets eine emotionale Aufladung braucht: Im Zweifel plädierte er für den Verstand, wo die Menschen lieber Leidenschaft hören wollten. Das ist der tiefere Grund, weshalb sich Hans Delbrück letzten Endes nicht durchsetzen konnte.

35 Eduard Fueter: »Hans Delbrück. Zum achtzigsten Geburtstag am 11. November«, in: NZZ vom 11. November 1928, in: ebd., Fasz. 8.

VII. Abkürzungsverzeichnis

AA Auswärtiges Amt AANS Anglo-American Newspaper Service ADAP Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik 1918–1945 AdR Akten der Reichskanzlei ADV Arbeitsausschuß Deutscher Verbände APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte BArch Bundesarchiv Koblenz BBC Berliner Börsen-Courier BLA Berliner Lokal-Anzeiger BNV Bund Neues Vaterland BT Berliner Tageblatt BVP Bayerische Volkspartei CEH Central European History CR Contemporary Review DAZ Deutsche Allgemeine Zeitung DDP Deutsche Demokratische Partei DLfM Deutsche Liga für Menschenrechte DLfV Deutsche Liga für Völkerbund DNVP Deutschnationale Volkspartei DVP Deutsche Volkspartei FO Foreign Office FS Festschrift GP Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871–1914. Sammlung der Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes GWU Geschichte in Wissenschaft und Unterricht HK Historische Kommission für das Reichsarchiv HRK Historische Reichskommission HU UArch Humboldt-Universität zu Berlin, Universitätsarchiv HZ Historische Zeitschrift KPD Kommunistische Partei Deutschlands KULF Kunstmuseum »Kloster Unser Lieben Frauen« Magdeburg MGM Militärgeschichtliche Mitteilungen MP Münchener Post MNN Münchner Neueste Nachrichten MSPD Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands NFP Neue Freie Presse NGO Non-Governmental Organization (Nichtregierungsorganisation) NKWD Volkskommissariat für innere Angelegenheiten (sowjetischer Geheimdienst) NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NWT Neues Wiener Tagblatt NYT New York Tribune NZZ Neue Zürcher Zeitung OHL Oberste Heeresleitung O. V. Ohne Verfasser PJb Preußische Jahrbücher

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Abkürzungsverzeichnis

RfH Reichszentrale für Heimatdienst RMI Reichsinnenministerium RWZ Rheinisch-Westfälische Zeitung SBB Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands USPD Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands VdR Verhandlungen des Reichstags, stenographische Berichte VfZ Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte WUA Das Werk des Untersuchungsausschusses der Deutschen Verfassungsgebenden Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages ZEK Zentralstelle für Erforschung der Kriegsursachen ZfG Zeitschrift für Geschichtswissenschaft

VIII. Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Quellen a) Archive Bundesarchiv Koblenz: N 1017 Nachlass Hans Delbrück. Geheimes Staatsarchiv – Preußischer Kulturbesitz: VI. HA, Familienarchiv Delbrück, Nr. 25. Humboldt-Universität zu Berlin, Universitätsarchiv: UK Personalia, DO 39 (Hans Delbrück), Bde. 1, 2. Kunstmuseum »Kloster Unser Lieben Frauen« in Magdeburg: Familienarchiv Delbrück, Z De. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz: Nachlass Hans Delbrück.

b) Periodika Berliner Lokal-Anzeiger. Berliner Tageblatt. Deutsche Allgemeine Zeitung. Der deutsche Gedanke. Zeitschrift für auswärtige Politik, Wirtschaft und Auslandsdeutschtum. Deutsche Politik. Wochenschrift für deutsche Welt- und Kulturpolitik. Die Deutsche Nation. Frankfurter Zeitung. Kölnische Volkszeitung. Münchener Post. Münchner Neueste Nachrichten. Preußische Jahrbücher. Revue de Paris. Spiegel Online. Süddeutsche Monatshefte. Süddeutsche Zeitung. Le Temps. Vorwärts. Vossische Zeitung. Die Zeit. Zeitschrift für Politik.

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Quellen- und Literaturverzeichnis

c) Gedruckte Quellen Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik (hg. v. Karl Dietrich Erdmann) [AdR], Die Kabinette Marx III und IV, Bd. 1: Mai 1926 bis Mai 1927, bearbeitet von Günter Abramowski, Boppard am Rhein 1988. Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik 1918–1945 [ADAP], Serie A: 1918–1925, Bd. II: 7. Mai bis 31. Dezember 1919, Göttingen 1984. Amtliche Kriegs-Depeschen. Nach Berichten des Wolff’schen Telegr.-Bureaus, 8 Bde., Berlin o. J. Amtliche Urkunden zur Vorgeschichte des Waffenstillstandes 1918, hg. v. Auswärtigen Amt und Reichsministerium des Innern, Berlin 41927. Beckmann, Ewald: Der Dolchstoßprozeß in München vom 19. Oktober bis 20. November 1925. Verhandlungsberichte und Stimmungsbilder, München 1925. Bund zur Erneuerung des Reiches (Hg.): Die Rechte des Deutschen Reichspräsidenten nach der Reichsverfassung. Eine gemeinverständliche Darstellung, Berlin 1929. Ders. (Hg.): Die Reichsreform, Band I: Allgemeine Grundlagen für die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen Reich, Ländern und Gemeindeverbänden, Berlin 1933. Ders. (Hg.): Reich und Länder. Vorschläge, Begründung, Gesetzentwürfe, Berlin 1928. von Clausewitz, Carl: Vom Kriege, ausgewählt und herausgegeben von Kai Kilian, Köln 2010. Delbrück, Hans: Der Friede von Versailles, Berlin ²1930. Ders.: Der Stand der Kriegsschuldfrage, in: Zeitschrift für Politik 8 (1924), S. 293–319. Ders. (Hg.): Deutsch-englische Schuld-Diskussion zwischen Hans Delbrück und J. W. Headlam-Morley, Berlin o. J. [1921]. Ders.: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte, Bd. 1: Das Altertum. Von den Perserkriegen bis Caesar, Berlin ³1920, ND Hamburg 1964, NA 2000, ND 2008. Ders.: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte, Bd. 2: Die Germanen. Vom Kampf der Römer und Germanen bis zum Übergang ins Mittelalter, Berlin ³1921, ND Hamburg 1966, NA 2000, ND 2008. Ders.: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte, Bd. 3: Das Mittelalter. Von Karl dem Großen bis zum späten Mittelalter, Berlin ²1907, ND Hamburg 1964, NA 2000, ND 2008. Ders.: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte, Bd. 4: Die Neuzeit. Vom Kriegswesen der Renaissance bis zu Napoleon, Berlin 1920, ND Hamburg 1962, NA 2000, ND 2008. Ders.: Kautsky und Harden, Berlin 1920. Ders.: Krieg und Politik, 3 Bde., Berlin 1918–1919. Ders.: Ludendorffs Selbstporträt, Berlin 61922. Ders.: Regierung und Volkswille. Ein Grundriß der Politik, Berlin 11914. Ders.: Regierung und Volkswille. Ein Grundriß der Politik, Berlin 21920. Ders.: Vor und nach dem Weltkrieg. Politische und historische Aufsätze 1902–1925, Berlin 1926. Ders.: Weltgeschichte. Vorlesungen, gehalten an der Universität Berlin 1896/1920. Erster Teil: Das Altertum, Berlin ²1924. Ders.: Weltgeschichte. Vorlesungen, gehalten an der Universität Berlin 1896/1920. Zweiter Teil: Das Mittelalter, Berlin 1925. Ders.: Weltgeschichte. Vorlesungen, gehalten an der Universität Berlin 1896/1920. Dritter Teil: Neuzeit bis zum Tode Friedrichs des Großen, Berlin 1926. Ders.: Weltgeschichte. Vorlesungen, gehalten an der Universität Berlin 1896/1920. Vierter Teil: Neuzeit. Die Revolutionsperiode von 1789 bis 1852, Berlin 1927. Ders.: Weltgeschichte. Fünfter Teil: Neuzeit von 1852 bis 1888, Berlin 1928.

Quellen 

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IX. Personenregister

Althoff, Friedrich  66 Anschütz, Gerhard  134, 169, 404 Antigone 276–278 Auer, Erhard  361 Aulard, François-Alphonse  262–271, 273, 283 Bachem, Julius  10 Bachem, Karl  10 Baden, Max von  45, 48, 60–62, 105, ­147–149, 188, 252, 308 f, 316–318, 381 f, 393, 395 Barmat, Julius  165 Basch, Victor  87, 104, 109, 115, 220, ­270–278, 405 Bauer, Gustav  96, 118, 313 Beck, James  251–254 Becker, Carl Heinrich  144, 393 Becker, Otto  132–134, 166, 331, 388 Below, Georg von  11, 63 Berg, Friedrich von  160, 167 Bergsträsser, Ludwig  379, 384, 405 Berlepsch, Hans Hermann von  46, 331 Bernhard, Georg  156, 241, 404 Bernstorff, Albrecht Graf von  405 Bernstorff, Johann Heinrich von  404 Bethmann Hollweg, Theobald von  17, ­19–21, 44, 55 f, 63, 125, 190, 195–197, 225, 241, 319, 324, 326, 376, 379, 383 Beyerle, Konrad  388, Beyersdorff, Hans  359 Bismarck, Otto von  46 f, 75 f, 80, 88, 111, 123 f, 141, 179, 299, 324, 364 Bloch, Walter  345, 353, 358 Blocher, Eduard  93 Blücher, Gebhard Leberecht von  74, 313 Blume, Wilhelm von  255 Boll, Franz  307 Bonhoeffer, Dietrich  394 Bonhoeffer, Klaus  394 Bonifatius 128 Bonn, Moritz Julius  32, 404 Borries, Rudolf von  330, 376, 379, 381 f, 385 Borsig, Ernst von  32, 134 Bosch, Robert  134, 361

Brackmann, Albert  388 Brandenburg, Erich  33, 376, 388 f Branting, Hjalmar  286 Bräuer, Ernst  35, 295 Braun, Otto  151, 154, 299 Brecht, Arnold  32, 138, 181, 385, 405 Bredt, Johann Victor  49, 307, 355 Breitscheid, Rudolf  91 Brentano, Lujo  92 Briand, Aristide  104, 115 Brockdorff-Rantzau, Ulrich Graf von  42, 81, 93, 96, 110, 188–191, 193, 195, ­197–200, 207, 248, 250, 311 f, 370, 379 Brüning, Heinrich  107 f Buat, Edmond  316 Buchfink, Ernst  338 Bülow, Bernhard Wilhelm von  51 f, 190, 195, 254, 261, 285, 288, 405 Caillaux, Joseph  268 Churchill, Winston  122 Claß, Heinrich  56, 166 Clausewitz, Carl von  22, 88, 323, 326, 329 f, 333 Clemenceau, Georges Benjamin  193 Cohnstaedt, Wilhelm  30, 314, 332 Conger, Arthur  187, 196 Coßmann, Paul Nikolaus  206–209, ­211–214, 219 f, 228, 287, 342, 360–370, 372 f Coudenhove-Kalergi, Richard  101 Dahlmann, Friedrich Christoph  42 Daniels, Emil  11, 32, 38, 116 f, 245, 340 David, Eduard  172, 190, 309 Dawes, Charles G.  88, 107, 112 f, 115, 275 Deimling, Berthold von  321 Delbrück, Adalbert  36 Delbrück, Berthold  35 Delbrück, Clemens von  35 Delbrück, Emilie, genannt Emmie  35, 394 Delbrück, Ernst  35 Delbrück, Hans  passim Delbrück, Heinrich  35 Delbrück, Helene  35, 252 Delbrück, Hellmuth  338

428

Personenregister

Delbrück, Hugo  36 Delbrück, Johanna, genannt Hanni  35, 80 Delbrück, Justus  35, 159, 394 Delbrück, Laura, geb. von Henning  35 Delbrück, Laura Viktoria, genannt Lore  35 Delbrück, Lina, geb. Thiersch  16, 33, 35 f, 40, 47–49, 52, 61–63, 72, 80, 82, 92, 110, 135, 145, 168, 179, 186, 188, 190 f, ­194–198, 278, 311, 318, 333 f, 337, 339, 378, 391, 393 f, 401, 404 Delbrück, Ludwig  44, 48 Delbrück, Max  35 Delbrück, Max Henning Ludwig  35 f, 395 Delbrück, Richard  404 Delbrück, Rudolph von  35 Delbrück, Waldemar Friedrich Viktor Hans  35, 43, 49, 59, 72, 82, 143, 394, 401 Demartial 290 Dernburg, Bernhard  32, 92, 115, 198 Dir, Pius  207 Dobring 361 Doeberl, Michael  388 Dohnanyi, Klaus von  194 Donnevert, Max  388 f Draeger, Hans  297 Dreher, William C.  251–254 Drews, Bill  32, 136 Dryander, Ernst von  35 Ebert, Friedrich  109, 125, 139, 147, 151, 155 f, 175, 180 f, 335, 353, 384 Einstein, Albert  83, 267, 272 Eisner, Kurt  201–212, 214–218, 220, 312, 398 Elze, Walter  331 Engels, Friedrich  76 Erkelenz, Anton  152 Erzberger, Matthias  96, 118, 174, 309, 313, 365 Eulenburg, Philipp  141 Eyre, Lincoln  90 Faktor, Emil  405 Falkenhayn, Erich von  57 f, 318, 321 Fay  290 f Fechenbach, Felix  204–209, 211, 213 f, 216– 220, 287, 365 Feder, Ernst  136, 162 f, 179, 215, 347, 405 Feeser, Friedrichfranz  387 Franz Ferdinand  184 Fester, Richard  319 f, 368 f Filene, Edward  91

Finke, Heinrich  388 Fischer-Baling, Eugen  32, 84, 207, 215, 288, 296, 346 f, 349 f, 352, 359, 361, 369, 405 Foerster, Friedrich Wilhelm  203, 205 f Foerster, Wolfgang  322, 326, 351 f, ­380–383, 386, 391 Frank  214, 216, 370 f Franz I.  71 Freytag-Loringhoven, Hugo von  376, 379 Friedegg, Ernst  196 Friedrich, Hans Wilhelm  224 Kaiserin Friedrich  11, 38 Friedrich I. (Barbarossa)  80 Friedrich II. (der Große)  37, 67, 322, 325, 327, 406 Friedrich III.  9, 37, 52, 76 Friedrich Wilhelm (Großer Kurfürst)  72 Friedrich Wilhelm III.  73, 313 Friedrich Wilhelm IV.  74 Gädke  363, 367 Galster, Karl  31, 41, 354 f Gerlach, Hellmut von  10 f, 94, 149, 208, 215 f, 220, 241, 245, 271, 404 Geßler, Otto  83, 178 f, 345, 347, 349, 405 George, David Lloyd  242, 258 Gerlich, Fritz  367 f, 370 Gneisenau, Neidhardt von  38, 74 Goetz, Walter  36, 117, 132, 146, 376 f, 379, 388 Goldschmidt, James  351 Goltz, Colmar von der  330 Gooch, George Peabody  255, 257, 259, 290 f Gothein, Georg  32, 169 Grabowsky, Adolf  44, 331, 404 Grautoff, Otto  32 Grimme, Adolf  139 Groener, Wilhelm  31 f, 331 f, 335, 353, 361, 379, 393, 405 Gruber, Martin  360–362, 370 Gustav Adolph  325 Gutenberg, Johannes  128 Habsburg, Rudolf von  71 Haeckel, Ernst  56 Haeften, Hans von  32, 378, 385 f, 391, 405 Haeften, Hans Bernd von  405 Haeften, Werner von  405 Hagen, Maximilian von  32, 405 Hahn, Kurt 32  105, 147–149, 288, 316 f, 393, 405

Personenregister Haintz, Otto  143 Hamm, Eduard  345 Hammann, Otto  55 f Hansemann-Pempowo, Ferdinand von  53 Hansen, Joseph  388 Harden, Maximilian  10, 203, 224–226 Hardenberg, Karl August von  74 Harnack, Adolf von  18, 32, 35, 38, 83 f, 130, 147 f, 245, 405 Harnack, Agnes von  405 Harnack, Arvid  405 Harnack, Axel von  18, 36, 38, 67, 337 Harnack, Ernst von  405 Harnack, Falk  405 Hartung, Fritz  388 Hatzfeldt, Hermann von  32, 92, 321 Hauser, Henri  111 Headlam-Morley, James Wycliffe  249, ­255–262, 265 f, 279, 294 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  35, 67, 73 Heilbron, Friedrich  338 f Heinrich, Paul  361 Heinrich I.  70 Heinze, Rudolf  164 Held, Heinrich  151 Held, Robert  368 Hellpach, Willy  151, 168 Henning, Leopold von  35 Herder, Johann Gottfried  92 Herkner, Heinrich  388 Herrons, George D.  203 Herse, Ernst  404 Herz, Ludwig  359, 361, 364, 368–370 Heuss, Theodor  11, 32 f, 38, 43, 54 f, 120, 155, 247, 301 Hildebrandt, Karl  361 Hindenburg, Paul von  16, 37, 57, 60, ­153–157, 165–167, 176–179, 309 f, 313, 321, 324, 329, 334–337, 365, 381, 393, 395 Hintze, Otto  44, 388, 405 Hintzmann, Ernst  361 Hirsch, Julius  109 Hirschberg, Max  219 f, 361–365, 367, ­370–372, 405 Hitler, Adolf  16, 28, 124, 150, 180, 219 f, 316, 331, 339 f, 347, 404–407 Hobe, Georg  35 Hobohm, Martin  23, 32, 43, 56, 124, 132, 143 f, 157, 246, 315, 329, 345, 355–357, 378, 384–387 Hoetzsch, Otto  91, 131, 388–390

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Hollweg, Carl  294 Höpker-Aschoff, Hermann  160 Iswolski, Alexander Petrowitsch  267, 273 Jäckh, Ernst  32, 404 Jagow, Gottlieb von  31, 190, 260, 331 Jahnke, Richard  141 f Janquièreos, Ministerialdirektor von  236 Jarres, Karl  134, 151–153, 345 f, 350, 405 Jaurès, Jean  266 Jochim, Theodor  361, 366, 385 Jüttner, Max  361 Kahl, Wilhelm  32, 83, 130, 134, 149, 152, 172, 351 Kahlden, Ida von  36 Kant, Immanuel  92 Karl der Große  80 Karl der Kühne  71 Karo, Georg  207, 212, 288, 404 Kassandra 407 Katzenstein, Simon  355 Kautsky, Karl  190, 214, 224–228, 233, 267, 397, 405 Kautsky, Luise  405 Kehr, Paul Fridolin  376, 379, 388 Keudell, Walter von  390 Kennemann-Klenka, Hermann  53 Kessler, Harry Graf  270 Klein, Fritz  134, 313, 405 Kloetzh, Hans  87, 111 Koch-Weser, Erich  31, 129, 135 f, 183, 376, 405 Kopernikus, Nikolaus  128 Korodi, Lutz  33 Körte, Wilhelm  48 Köster, Adolf  181, 289 Kreon  276 f Krestinski, Nikolai Nikolajewitsch  110 Krüger, Franz  148 Kuczynski, Robert René  161 Kuhl, Hermann von  50, 233, 322, 330 f, 341 f, 344–346, 348–352, 361, 372 f, 376, 381 f Kühlmann, Richard von  319 Kühn, Joachim  32, 236, 271, 275 Külz, Wilhelm  167 Kuntze, Friedrich  342 f Küster, Friedrich  202 Kutisker, Iwan  165 Kuttner, Erich  361

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Personenregister

Landsberg, Otto  196, 361, 369, 404 Lansing, Robert  189 Lassalle, Ferdinand  76 Lavisse, Ernest  137, 188, 248–251, 255, 273 Lehmann, Max  133, 321 Lehmann-Rußbüldt, Otto  105, 188 f, 233, 261–264, 267, 270–272, 302, 404 Leipark, Theodor  361 Lenz, Max  41, 45, 58, 340 f Lepsius, Johannes  52, 207, 285 Lerchenfeld, Hugo von  32, 202 Lersner, Kurt von  31, 234, 275, 298 f Lessing, Gotthold Ephraim  337 f Levetzow, Magnus von  360 f, 363 Lewald, Theodor  376–382 Lichnowsky, Karl Max von  207 Lichtenberger, Henri  115 Lipski, Herbert  239 Löbe, Paul  350, 359 Loebell, Friedrich von  151 f, 154, 166 f Loewenfeld, Philipp  205–209, 213 f, ­216–218, 220, 404 Lössl, Sigmund von  205 Ludendorff, Erich  12, 26, 47, 50, 54, 58, 60 f, 69, 81, 105, 118, 150 f, 177, 283, 309 f, 312, 314–327, 330, 332–341, 343–351, 366, 381, 398 f, 401, 407 Lüdinghausen, Freiherr von  32, 407 Ludwig, Emil  47 f, 309 Luther, Hans  31, 126 f, 133–137, 152, 160, 165 f, 176–178, 338, 345 Luther, Martin  72, 128 Lutz, Hermann  262, 276, 289–293, 295, 305 Luxburg, Heinrich Graf  361 Mac Elwee, Roy  121 Maltzan, Ago von  32, 109, 275 f Mann, Thomas  14 Mantey, Fritz von  361 Marcks, Erich  331, 376, 379, 388 Martell, Karl  70 Marx, Karl  76 Marx, Wilhelm  135, 151–155, 157, 275 f, 345 f Maurenbrecher, Max  218 Maurice, Frederick  310 Mayer, Gustav  32, 43, 376, 388, 390, 404 Mayr, Karl  83, 321, 331, 336, 339, 342, 347, 350, 353, 361 f, 372, 374, 383 f, 405 Meinecke, Friedrich  32 f, 55, 59, 61, 83 f, 116, 118, 130 f, 133 f, 166, 169, 189, 245, 309, 370, 376 f, 379–383, 388–390

Meissner, Otto  167 Mendelssohn-Bartholdy, Albrecht  106, 188 f, 194 f, 203, 285, 404 Menge, August  109 Mertz von Quirnheim, Albrecht  405 Mertz von Quirnheim, Hermann  376–379, 385, 388, 405 Mette, Siegfried  32, 43, 55, 79, 177, 321, 407 Meyer, Eduard  55, 134 Meyer, Hermann  379 Misch, Carl  396 Molinski, Konrad  32, 42 f, 122 f, 133, 143 f, 272, 315, 329, 367 Moltke, Helmuth von  75 Mommsen, Theodor  43 Mommsen, Wilhelm  118, 293, 394 Montgelas, Albrecht  164 f, 171 Montgelas, Max  32, 51, 83, 92 f, 104–106, 109 f, 113–115, 129, 136, 142 f, 155, 164, 168 f, 178, 188 f, 193, 195, 203, 207, 211, 215, 217 f, 220, 228 f, 233, 241, 244 f, 247, 260, 265 f, 271 f, 275–278, 287–289, 291 f, 295 f, 298–300, 305, 313, 331, 334, 336, 359, 361 Monts, Anton von  207 Muckle, Friedrich  203 Mulert, Oskar  136 Müller, Hermann  393 Müller, Karl Alexander von  206 f, 213, 388 Mülnheim, Müldner von  146, 162, 164, 405 Müsebeck 385 Napoleon I.  55, 74, 313, 325 Napoleon III.  67, 85 Naumann, Friedrich  41, 61, 116, 174 Nikolaus I.  74 Nikolaus II.  85 Noorden, Karl von  35 Noske, Gustav  96, 118, 313, 361 Oeser, Rudolf  384–387 Oncken, Hermann  132, 255, 341, 376, 379, 381, 388–390, 404 Ossietzky, Carl von  84 Oster, Hans  394 Otto, Walter  217 Otto I.  70 Pachnicke, Hermann  32, 138 f Painlevé, Paul  104

Personenregister Paléologue, Maurice  273 Pestalozza, Joseph Graf von  362–366 Peter I. (der Große)  76 Philipp, Albrecht  342, 350, 352, 357 Planck, Erwin  405 Planck, Max  134 Poincaré, Raymond  88, 105, 111, 232, 236 f, 242, 244, 266, 268 Polyneikes 276 Pötzsch, Legationsrat  136 Prager, Karl von  387 Preuß, Hugo  10, 138, 222, 315 Preußen, Waldemar von  37, 150 Priebe, Hermann  72 Quidde, Ludwig  84, 207–209, 216 f, 404 Radbruch, Gustav  131, 300 Rahardt, Carl  60 Ranke, Leopold von  67 Rassow, Peter  32, 43, 235 f, 241, 276 Rathenau, Walter  109, 149, 181, 233, 338 Rattow, Peter  259 Redslob, Edwin  368 Riedner, Otto  388 Riezler, Kurt  32 Röder, Major  361 Rohrbach, Paul  32, 168 f, 251 f, 254, 275, 277 Roloff, Gustav  45, 92, 130 f, 136, 157, 271, 275, 295 f, 331 f, 339, 361, 380, 389 f, 393, 404, 407 Rosen, Friedrich  32, 147, 271 Rosenberg, Arthur  40, 404 Rosenberg, Frederic von  286 Rothfels, Hans  134, 245 f, 404 Rudolph, Ludwig von  361, 368 Rühlmann, Paul  31 f, 106, 245 Rupprecht von Bayern  341 Sarolea, Charles  278–282 Sauerbeck, Ernst  213, 287–290, 294, 296 Saunders, George  255–257 Schacht, Hjalmar  32 f, 168 f Schäfer, Dietrich  56 Scharnhorst, Gerhard von  74 Scheibe, Fregattenkapitän a. D.  361 Scheidemann, Philipp  149, 224, 314, 321, 361 Schëuch, Heinrich  32, 335 Schiele, Martin  380

431

Schiffer, Eugen  31 f, 147 Schiller, Friedrich  68 Schlieffen, Alfred von  329 f Schlüpmann, Hermann  168 Schmid, Heinz  35, 50, 124 f, 132, 167 Schmidt, Ferdinand Jakob  32, 56 Schmidt-Ott, Friedrich  136 Schmitt, Bernadotte  284 Schmoller, Gustav  10 Schnee, Heinrich  32, 297–300 Schoen, Hans von  201–205, 214, 217 Schoen, Wilhelm von  267–269 Schoenaich, Paul von  343, 405 Schotte, Walther  30, 41 Schpoljanski, Aminat  110 Schreiber, Georg  376, 379 f, 388, 404 Schücking, Walther  84, 134, 295, 346, 404 Schulte, Aloys  330, 376, 388 Schumacher, Hermann  376, 388 Schwarz, Wolfgang  84 Schweinitz, Wilhelm von  48, 297, 299 Schwendemann, Karl  32 Schwertfeger, Bernhard  32, 122, 275, 295 f, 334, 337, 341, 344–346, 348, 351, 358 f, 361 Seeber, Joseph  361 Seeckt, Hans von  120, 166, 345 f, 375 Seignobos, Charles  111 f Sering, Max  32, 404 Severing, Carl  239–241, 244, 301, 397 Siemens, Karl Friedrich von  32, 134 Simons, Hans  92, 97 Simons, Walter  32, 81, 91, 115, 129, 151 f, 154, 180 f, 251 f, 254 f, 261, 353 f, 371 f Sinzheimer, Hugo  390 Skal, Georg von  230 Solf, Wilhelm  32 f, 66, 101 f, 104, 110, 114 f, 128, 136, 179, 332, 335, 336 f, 359, 372, 405 Solger 385 Sollmann, Wilhelm  391 Spahn, Peter  91, 346 Spree, Reichard  343 Stählin, Karl  32 Stalin, Josef  110 Stampfer, Friedrich  119, 211, 215, 238, 404 Stein, Heinrich Friedrich Karl vom und zum  74 Stieve, Friedrich  32, 276, 286, 288 f, 291, 297, 303 Stilke, Georg  30

432

Personenregister

Stolberg, Otto Graf zu  214 Stresemann, Gustav  94, 103, 112–115, 138, 149 f, 153 f, 160, 176, 277, 301 Striedinger, Ivo von  207 Stülpnagel, Otto von  345, 351 Südekum, Albert  169, 405 Sybel, Heinrich von  36 Terdenge, Hermann  388 Thälmann, Ernst  151, 154 Theunis, Georges  284 Thiersch, Carl  35 Thiersch, Johanna  62 f, 190, 198 Thimme, Friedrich  207, 211–213, 215, 224, 275, 285, 361 Thyssen, Fritz  134 Tiedemann-Seeheim, Heinrich von  53 Tiedje, Johann  343 Tirpitz, Alfred von  37, 41, 49–51, 118, 124, 153, 294 f, 312, 317 f, 347, 354 Traub, Gottfried  56, 215, 218 Trotha, Adolf von  50, 361 Treitschke, Heinrich von  38 f, 42 f, 66, 211 Treuherz, Julius  32, 236 Triepel, Heinrich  388 Troeltsch, Ernst  32, 62 Trotzki, Leo  197 Tucholsky, Kurt  320, 400 Urban II.  69 Valentin, Veit  173, 379, 384, 387, 404 Valentini, Rudolf von  319, 321 Verraux, Martial Justin  264 Vogelweide, Walther von der  128 Volkmann, Erich Otto  361 Voltaire 337 Wahl, Adalbert  367 Wahnschaffe, Arnold  32, 60, 339 Waldersee, Alfred von  51

Waldeyer-Hartz, Hugo von  361 Warburg, Max  92 Weber, Alfred  32, 155 Weber, Marianne  134 Weber, Max  61, 143, 188 f, 194 f, 197 f, 203 Wegener, Georg  237 Wegerer, Alfred von  32, 143, 270, 275, ­289–297, 305 Wehberg, Hans  105, 277 f, 334 Weismann, Robert  167 Georg Wells, Herbert  67 Wels, Otto  361 Wendel, Hermann  223 Wentzcke, Paul  173 Westarp, Kuno von  156 f Wilhelm (Kronprinz)  135, 146–150, 156, 164, 317 Wilhelm I.  337 Wilhelm II.  17, 28, 37, 45–49, 51, 61, 66 f, 85, 96, 122, 146, 170, 226, 229 f, 239, 265, 309, 325, 335, 367, 393, 395 Winterfeldt, Detlof von  250 Wollenberg, Ernst  160 Wilson, Woodrow  94, 97 f, 100, 102, 108, 197, 203, 243, 253, 310, 381 f Windelband 390 Wirth, Joseph  107, 238, 405 Wittekind 80 Wolff, Theodor  41, 92, 128, 161–163, 170, 176 f, 221, 233–235, 259, 314, 337, 350, 399, 401, 405 Wroblewski 295 Zahn, Karl von  32 Zechlin, Egmont  174 Ziegler, Wilhelm  37, 303 Ziekursch, Johannes  9, 23, 36, 66, 233, 320, 390, 405 Zorn, Philipp  148 f Zweig, Arnold  301 Zweigert, Erich  347, 388, 391