Umwelt, Natur und Moral: Eine Kritik an Hans Jonas, Vittorio Hösle und Georg Picht 9783495479766, 9783495997482

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Umwelt, Natur und Moral: Eine Kritik an Hans Jonas, Vittorio Hösle und Georg Picht
 9783495479766, 9783495997482

Table of contents :
Cover
Vorwort
Siglen
Kapitel 1 Einleitung
1.1 Zum Naturverständnis in der Umweltdebatte
1.2 Fragestellung und Aufbau der Arbeit
Kapitel 2 »Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden« - Hans Jonas’ ontologische Ethik für die technologische Zivilisation
2.1 Einleitung
2.2 Der Charakter von Jonas' Werk und die Stellung des Themas »Verantwortung« im Gesamtwerk
2.3 Der Organismus als ontologisches Paradigma
2.3.1 Die Kritik am Dualismus der Gnosis und an Heideggers Daseinsanalyse
2.3.2 Der Organismus als ontologisches Paradigma: Zusammenfassung
2.4 Die ontologische Position des integralen Monismus als Gegenposition zum Dualismus, zum Materialismus und zum Idealismus
2.4.1 Die Kritik am Dualismus und am Materialismus
2.4.1.1 Die Kritik an evolutionstheoretischen Auffassungen von Lehen
2.4.1.2 Die Kritik an systemtheoretischen Beschreihungen des Organismus
2.4.1.3 Die Kritik an einer materialistischen Konzeption des Leih-Seele-Prohlems
2.4.2 Die Kritik am Idealismus und Jonas' Gegenposition eines kosmogonischen Mythos
2.4.3 Der integrale Monismus: Zusammenfassung
2.5 Der Seinshegriff
2.5.1 Die Grundhestimmungen des Seinshegriffes
2.5.2 Die Legitimation des Anthropomorphismus
2.5.3 Der Seinshegriff als Grundlage der Ethik - die Begründung von Wert als Gut an sich im Sein
2.5.4 Begriff und Theorie der Verantwortung
2.5.5 Der Seinshegriff: Zusammenfassung
2.6 Die Analyse der technologischen Zivilisation
2.6.1 Das veränderte Wesen menschlichen Handelns in der technologischen Zivilisation
2.6.2 Die Aufgahe der Verantwortungsethik in der technologischen Zivilisation
2.6.3 Die Analyse der technologischen Zivilisation: Zusammenfassung
Kapitel 3 Hösles objektiv-idealistische Ontologie der Intersubjektivität als Alternative zur lebensphilosophischen Ontologie des Organismus
3.1 Einleitung
3.2 Der ohjektive Idealismus der Intersuhjektivität
3.2.1 Die zyklentheoretische Begründung der ohjektividealistischen Intersuhjektivität
3.2.2 Die reflexive Letztbegründung der objektiv-idealistischen Intersubjektivität
3.2.2.1 Begriff und Problemstellung der Letztbegründung bei Hösle
3.2.2.2 Durchführung und objektiv-idealistische Interpretation der Letztbegründung
3.2.3 Der objektive Idealismus der Intersubjektivität: Zusammenfassung
3.3 Die ökologische Krise als metaphysisches Problem
3.3.1 Die Fundierung der ökologischen Krise in der neuzeitlichen Metaphysik
3.3.2 Intersubjektivität als Versöhnung von Natur und Geist
3.3.2.1 Der Begriff der realen Intersubjektivität bei Hösle
3.3.2.2 Der Übergang zur Versöhnung von Natur und Geist in der realen Intersubjektivität
3.3.2.3 Die moraltheoretische Bedeutung der objektividealistischen Intersubjektivität
3.3.3 Die ökologische Krise als metaphysisches Problem: Zusammenfassung
Kapitel 4 »Vernunft ist möglich als Gestalt des Lebens« - Georg Pichts Begriff von Humanökologie
4.1 Einleitung
4.2 Richtigkeit und Wahrheit
4.2.1 Die Kritik an der neuzeitlichen Wissenschaft
4.2.2 Richtigkeit und Wahrheit: Zusammenfassung
4.3 Der oikos als das wahre Sein
4.3.1 Die Bestimmung des oikos als die »in der Allgemeinheit der Gesetze fundierte Einmaligkeit von Situationen«
4.3.2 Die naturwissenschaftliche Explikation der »in der Allgemeinheit der Gesetze fundierten Einmaligkeit von Situationen«
4.3.3 Die kommunikationstheoretische Explikation der »in der Allgemeinheit der Gesetze fundierten Einmaligkeit von Situationen«
4.3.4 Die mythisch-religiöse Explikation der »in der Allgemeinheit der Gesetze fundierten Einmaligkeit von Situationen«
4.3.5 Pichts philosophische Methode
4.3.6 Der oikos als das wahre Sein: Zusammenfassung
4.4 Die Endlichkeit des Menschen als Orientierungsstiftung für die technologische Zivilisation
5. Kapitel Schluss
5.1 Zusammenfassung
5.1.1 Begründungs- und Anwendungsprohleme von Jonas' ontologischer Ethik
5.1.2 Begründungs- und Anwendungsprohleme von Hösles ohjektiv-idealistischer Intersuhjektivität
5.1.3 Begründungs- und Anwendungsprohleme von Pichts Konzeption von Humanökologie
5.2 Üher die Rolle von Naturhegriffen in moralphilosophischen Analysen der Umweltprohlematik
Literatur

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A

Gertrude Hirsch Hadorn

Umwelt, Natur und Moral Eine Kritik an Hans Jonas, Vittorio Hösle und Georg Picht

BAND 63 ALBER PRAKTISCHE PHILOSOPHIE https://doi.org/10.5771/9783495997482 .

B

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495997482 .

Zu diesem Buch: Die Philosophen Jonas, Hösle und Picht haben erkannt, daß die mora­ lischen Fragen der Dmweltproblematik alle Bereiche des menschlichen Handelns betreffen. Sie sehen die Dmweltproblematik als ein Zeichen dafür, daß die Herrschaft der neuzeitlichen Vernunft ein metaphysi­ sches Seinsprinzip verletzt und treten daher ein für einen Begriff abso­ luter Vernunft in der Tradition von Heideggers Seinsphilosophie, der in der technologischen Zivilisation Orientierung stiften kann. Doch werden die Begründungsprobleme einer ontologischen Ethik theologisch beantwortet, und den intrinsischen Zielkonflikten kollektiven Handelns kann nicht Rechnung getragen werden. Die Ana­ lyse der Bewertungsprobleme zeigt, daß ökologische, ökonomisch­ technische und kontemplative Beziehungen des Menschen zur Natur bei der Bestimmung moralisch wünschenswerten Handelns wichtig sind: »Natur« ist nicht als ontologisches Prinzip gefragt. All kinds of human actions directly or indirectly affect the natural envi­ ronment. Authors in the metaphysical tradition of continental philosophy as Jonas, Hösle and Picht question the concept of subjecti'vlty and reason that has come up in philosophical thinking since Descartes as a principle for environmental ethics. 1t is shown that all three fail in their arguments for an ontological foundation of ethics. Furthermore their concepts of reason which are inspired by Heidegger in different ways are not helpful to catch the complexi'ty of moral problems in environ­ mental assessments in respect to the ecological, the economic and the contemplative relations between men and nature in the technological civilization. The book will find its readers in philosophy, environmental sciences, and the public. Die Autorin: Priv.-Doz. Dr. phil. Gertrude Hirsch Hadorn, geb. 1953, ist wissenschaftliche Adjunktin am Departement Dmweltnaturwissenschaften der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich und lehrt Philosophie an der Dniversität Konstanz.

https://doi.org/10.5771/9783495997482 .

Gertrude Hirsch Hadorn Umwelt, Natur und Moral

https://doi.org/10.5771/9783495997482 .

Alber- Reihe Praktische Philosophie Hnter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Deiner Hastedt, Ekkehard Martens, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep und Jean-Claude Wolf herausgegeben von Günther Bien, Karl-Heinz Musser und Annemarie Pieper Band 63

https://doi.org/10.5771/9783495997482 .

Gertrude Hirsch Hadorn

Umwelt, Natur und Moral Eine Kritik an Hans Jonas, Vittorio Hösle und Georg Ficht

Verlag Karl Alber Freiburg/München

https://doi.org/10.5771/9783495997482 .

Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Hirsch Hadorn, Gertrude: Umwelt, Natur und Moral : eine Kritik an Hans Jonas, Vittorio Hösle und Georg Picht / Gertrude Hirsch Hadorn. Freiburg i. Br. ; München : Alber, 2000 (Alber-Reihe praktische Philosophie ; Bd. 63) ISBN 3-495-47976-7 Texterfassung: Autorin Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte Vorbehalten - Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg/München 2000 Einbandgestaltung: Eberle D Kaiser, Freiburg Einband gesetzt in derRotis SemiSerifvon Otl Aicher Satzherstellung: SatzWeise, Föhren Inhalt gesetzt in der Aldus und Gill Sans Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg 2000 ISBN 3-495-47976-7

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Inhalt

Vorwort........................................................................................

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Siglen...........................................................................................

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Kapitel 1 Einleitung..................................................................................

17

1.1 Zum Naturverständnis in der Umweltdebatte................... 1.2 Fragestellung und Aufbau der Arbeit...................................

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Kapitel 2 »Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden« - Hans Jonas’ on­ tologische Ethik für die technologische Zivilisation

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2.1 Einleitung.............................................................................. 2.2 Der Charakter von Jonas' Werk und die Stellung des The­ mas »Verantwortung« im Gesamtwerk............................... 2.3 Der Organismus als ontologisches Paradigma................... 2.3.1 Die Kritik am Dualismus der Gnosis und an Hei­ deggers Daseinsanalyse......................................... 2.3.2 Der Organismus als ontologisches Paradigma: Zusammenfassung..................................................

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Umwelt, Natur und Moral

^ 7 https://doi.org/10.5771/9783495997482 .

57 67 67 88

Inhalt

2.4 Die ontologische Position des integralen Monismus als Gegenposition zum Dualismus, zum Materialismus und zum Idealismus..................................................................... 2.4.1 Die Kritik am Dualismus und am Materialismus . 2.4.1.1 Die Kritik an evolutionstheoretischen Auffassun­ gen von Lehen........................................................ 2.4.1.2 Die Kritik an systemtheoretischen Beschreihun­ gen des Organismus............................................... 2.4.1.3 Die Kritik an einer materialistischen Konzeption des Leih-Seele-Prohlems......................................... 2.4.2 Die Kritik am Idealismus und Jonas' Gegenposi­ tion eines kosmogonischen Mythos ...................... 2.4.3 Der integrale Monismus: Zusammenfassung . . . 2.5 Der Seinshegriff..................................................................... 2.5.1 Die Grundhestimmungen des Seinshegriffes . . . 2.5.2 Die Legitimation des Anthropomorphismus . . . . 2.5.3 Der Seinshegriff als Grundlage der Ethik - die Be­ gründung von Wert als Gut an sich im Sein .... 2.5.4 Begriff und Theorie der Verantwortung................ 2.5.5 Der Seinshegriff: Zusammenfassung................... 2.6 Die Analyse der technologischen Zivilisation ................... 2.6.1 Das veränderte Wesen menschlichen Handelns in der technologischen Zivilisation ............................ 2.6.2 Die Aufgahe der Verantwortungsethik in der tech­ nologischen Zivilisation......................................... 2.6.3 Die Analyse der technologischen Zivilisation: Zusammenfassung ..................................................

90 96 97 100 108 116 131 134 140 152 156 166 184 187 187 194 205

Kapitel 3 Hösles objektiv-idealistische Ontologie der Inter­ subjektivität als Alternative zur lebensphilosophi­ schen Ontologie des Organismus.................................. 3.1 Einleitung.............................................................................. 3.2 Der ohjektive Idealismus der Intersuhjektivität................ 3.2.1 Die zyklentheoretische Begründung der ohjektividealistischen Intersuhjektivität............................ 8

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

209 209 213 213

Gertrude Hirsch Hadorn

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Inhalt

3.2.2

Die reflexive Letztbegründung der objektiv-ideali­ stischen Intersubjektivität...................................... 3.2.2.1 Begriff und Problemstellung der Letztbegründung bei Hösle.................................................................. 3.2.2.2 Durchführung und objektiv-idealistische Interpre­ tation der Letztbegründung................................... 3.2.3 Der objektive Idealismus der Intersubjektivität: Zusammenfassung.................................................. 3.3 Die ökologische Krise als metaphysisches Problem........... 3.3.1 Die Fundierung der ökologischen Krise in der neu­ zeitlichen Metaphysik............................................ 3.3.2 Intersubjektivität als Versöhnung von Natur und Geist........................................................................ 3.3.2.1 Der Begriff der realen Intersubjektivität bei Hösle 3.3.2.2 Der Übergang zur Versöhnung von Natur und Geist in der realen Intersubjektivität................... 3.3.2.3 Die moraltheoretische Bedeutung der objektiv­ idealistischen Intersubjektivität............................ 3.3.3 Die ökologische Krise als metaphysisches Problem: Zusammenfassung..................................................

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Kapitel 4 »Vernunft ist möglich als Gestalt des Lebens« Georg Pichts Begriff von Humanökologie................... 4.1 Einleitung.............................................................................. 4.2 Richtigkeit und Wahrheit..................................................... 4.2.1 Die Kritik an der neuzeitlichen Wissenschaft . . . 4.2.2 Richtigkeit und Wahrheit: Zusammenfassung. . . 4.3 Der oikos als das wahre Sein............................................... 4.3.1 Die Bestimmung des oikos als die »in der All­ gemeinheit der Gesetze fundierte Einmaligkeit von Situationen«..................................................... 4.3.2 Die naturwissenschaftliche Explikation der »in der Allgemeinheit der Gesetze fundierten Einmalig­ keit von Situationen« ............................................

303 303 308 308 322 324

324

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Umwelt, Natur und Moral https://doi.org/10.5771/9783495997482 .

Inhalt

4.3.3

Die kommunikationstheoretische Explikation der »in der Allgemeinheit der Gesetze fundierten Ein­ maligkeit von Situationen«.................................. 4.3.4 Die mythisch-religiöse Explikation der »in der All­ gemeinheit der Gesetze fundierten Einmaligkeit von Situationen«..................................................... 4.3.5 Pichts philosophische Methode............................ 4.3.6 Der oikos als das wahre Sein: Zusammenfassung . 4.4 Die Endlichkeit des Menschen als Orientierungsstiftung für die technologische Zivilisation....................................

335

358 366 371 374

5. Kapitel Schluss

10

....................................................................................

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5.1 Zusammenfassung ............................................................... 5.1.1 Begründungs- und Anwendungsprohleme von Jonas' ontologischer Ethik...................................... 5.1.2 Begründungs- und Anwendungsprohleme von Hösles ohjektiv-idealistischer Intersuhjektivität. . 5.1.3 Begründungs- und Anwendungsprohleme von Pichts Konzeption von Humanökologie................ 5.2 Üher die Rolle von Naturhegriffen in moralphilosophi­ schen Analysen der Umweltprohlematik............................

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Literatur.....................................................................................

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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

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Gertrude Hirsch Hadorn

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Vorwort

»Umwelt, Natur und Moral« ist ein komplexes Thema, denn die mo­ ralischen Fragen der Umweltprohlematik stellen nicht einfach nur Probleme einer speziellen angewandten Ethik dar. Sie herühren viel­ mehr alle Bereiche des Handelns, werfen moraltheoretische Fragen auf und verlangen Auskunft darüber, welche Zukunft für die tech­ nologische Zivilisation wünschenswert ist. Dadurch ist auch ein neu­ es Interesse an Naturphilosophie entstanden. Doch was kann Natur­ philosophie zu diesen Orientierungsfragen überhaupt beitragen? Diese Frage ist innerhalh der Philosophie sehr umstritten. Hans Jonas, Vittorio Hösle und Georg Picht stehen in der Tradition von Martin Heidegger. Sie sehen in der Umweltprohlematik ein Anzei­ chen dafür, dass die Herrschaft der neuzeitlichen Vernunft ein meta­ physisches Seinsprinzip verletzt und wollen deshalb zur Orientie­ rungsstiftung in der technologischen Zivilisation einen Begriff des Absoluten philosophisch rehabilitieren. Die folgende Rekonstruktion zeigt nicht nur Probleme der Begründung und Ausarbeitung dieser Konzeptionen auf. Sie befasst sich auch damit, ob ein normativer Naturbegriff für die konkreten moralischen Beurteilungsprobleme des menschlichen Umgangs mit der Natur überhaupt fruchtbar ist. Die Untersuchung dieser Fragen bei Jonas, Hösle und Picht verdeut­ licht die Vielschichtigkeit der moralischen Beurteilungsprobleme und die Rolle von Naturbegriffen in moralphilosophischen Analysen der Umweltproblematik. Angesichts der Umweltproblematik geht es nicht darum, Moralität überhaupt einzuklagen, sondern das mora­ lisch Wünschenswerte einsichtig zu begründen und hinreichend kon­ kret zu bestimmen. Die Begründungsfragen können nicht durch einen normativen Naturbegriff gelöst werden. Naturbegriffe sind bei der Bestimmung moralisch wünschenswerten Handelns relevant. Hier bedarf es moralischer Prinzipien und Kriterien, um angesichts von kontextbedingten Zielkonflikten zwischen ökonomischen, öko­ logischen und kontemplativen Beziehungen der Menschen zur Natur vernünftig entscheiden zu können. ^ 11

Umwelt, Natur und Moral https://doi.org/10.5771/9783495997482 .

Vorwort

Zur philosophischen Auseinandersetzung mit dem komplexen Verhältnis von Natur und Moral angesichts der Umweltprohlematik hat mich meine Tätigkeit im Departement für Umweltnaturwissen­ schaften an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich hewogen. Den Vorstehern Theodor Koller, Dieter Imhoden und Alhert Waldvogel danke ich sehr, dass sie mir dieses Projekt ermöglicht und ihm während Jahren Vertrauen entgegengehracht hahen. Das vorlie­ gende Buch enthält meine leicht üherarheitete Hahilitationsschrift mit dem Titel »Natur und Moral in der Umweltdehatte«, die im Fehruar 1998 von der Philosophischen Fakultät der Universität Kon­ stanz angenommen wurde. In diesem Zusammenhang hin ich für Unterstützung und Verhesserungsvorschläge Paul Hoyningen-Huene ausserordentlich dankhar, sowie auch Dieter Groh, Kurt Lüscher, Jürgen Mittelstraß, Peter Schaher und Gereon Wolters. Aus Gesprä­ chen üher Kapitel dieses Buches hahe ich von Almut Beck, Michael Esfeld, Andreas Fischlin, Sahine Güsewell, Kurt Hadorn, Lisa Rigendinger, Alois Rust, Martin Scheringer, Peter Schulthess und Thomas Köllner viel gelernt. Bei Senta Niederegger und Andreas Spiegel hedanke ich mich für ihre flexihle und zuverlässige Hilfe hei den Kor­ rekturen und heim Verleger, Herrn Dr. Falk Redecker, für die hervor­ ragende Zusammenarheit. Winterthur, im März 1999

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Gertrude Hirsch Hadorn

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Gertrude Hirsch Hadorn

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Siglen

APF AS BEN BG BI

BM BNG BV CP DWP EF EG EV

GA GEN GGKP GM GMS GPR GSG1

Jonas, H. 1930b. Augustin und das paulinische Freiheitsproblem. Göttin­ gen: Vandenhoeck & Ruprecht Jonas, H. 1953/54. Der Adel des Sehens. Eine Untersuchung zur Phänome­ nologie der Sinne. In: OF, 198-225 Jonas, H. 1993a. Dem bösen Ende näher. Gespräche über das Verhältnis des Menschen zur Natur. Frankfurt am Main: Suhrkamp Jonas, H. 1953. Bewegung und Gefühl. Über die Tierseele. In: OF, 151-163 Hösle, V. 1987. Begründungsfragen des objektiven Idealismus. In: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hrsg.). Philosophie und Begründung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 212-267 Picht, G. 1979b. Zum Begriff des Masses. In: HF, 418-426 Picht, G. 1989. Der Begriff der Natur und seine Geschichte. Stuttgart: Klett-Cotta Picht, G. 1967. Der Begriff der Verantwortung. In: WVV, 318-342 K., Nora & Hösle, V. 1996. Das Cafe der toten Philosophen. Ein philo­ sophischer Briefwechsel für Kinder und Erwachsene. München: Beck Hösle, V. 1992b. Die dritte Welt als ein philosophisches Problem. In: PPW, 131-165 Jonas, H. 1983/84. Evolution und Freiheit. In: PUMV, 11-33 Picht, G. 1981b. Ist eine philosophische Erkenntnis der politischen Gegen­ wart möglich? In: HJ2, 229-332 Jonas, H. 1991. Erkenntnis und Verantwortung: Gespräch mit Ingo Her­ mann in der Reihe »Zeugen des Jahrhunderts«. Hrsg. von I. Hermann. Göttingen: Lamuv Jonas, H. 1984. Der Gottesbegriff nach Auschwitz. In: PUMV, 190-208 Jonas, H. 1952. Gnosis, Existentialismus und Nihilismus. In: OF, 292-316 Hösle, V. 1991c. Grösse und Grenzen von Kants praktischer Philosophie. In: PPW, 15-45 Jonas, H. 1951. Ist Gott ein Mathematiker? Vom Sinn des Stoffwechsels. In: OF, 107-150 Kant, 1.1785 (zit.n. 1965). Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hrsg. von K. Vorländer. Hamburg: Meiner Hegel, G. W. F. 1821 (zit. n. 1970). Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hrsg. von E. Moldenhauer & K. M. Michel. Frankfurt am Main: Suhrkamp Jonas, H. 1934. Gnosis und spätantiker Geist. Erster Teil. Die mythologi­ sche Gnosis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht

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Siglen

GSG2a GSG2b

HF HGW HJ1,2 HJE

HP HS1 HS2

HT

IHM KdrV KdU KGVP KM KZ LSS MGS MOS

MP NB OPHJ

OF OGZ PAD

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Jonas, H. 1954. Gnosis und spätantiker Geist. Teil 11,1. Von der Mythologie zur mystischen Philosophie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Jonas, H. 1993c. Gnosis und spätantiker Geist. Zweiter Teil. Von der My­ thologie zur mystischen Philosophie: erste und zweite Hälfte. Hrsg. von K. Rudolph. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Eisenhart, C. (Hrsg.) 1979. Humanökologie und Frieden. Stuttgart: KlettCotta Jonas, H. 1957. Harmonie, Gleichgewicht und Werden. In: OF, 92-106 Picht, G. 1980/1981a. Hier und Jetzt. Philosophieren nach Auschwitz und Hiroshima I/II. Stuttgart: Klett-Cotta Hans Jonas zu Ehren 1992. Reden aus Anlass seiner Ehrenpromotion durch die Philosophische Fakultät der Universität Konstanz am 2. Juli 1991. Konstanzer Universitätsreden 183. Konstanz: Universitätsverlag Jonas, H. 1961. Homo Pictor: Von der Freiheit des Bildens. In: OF, 226-257 Hösle, V. 1988a. Hegels System. Der Idealismus und das Problem der Inter­ subjektivität, Bd 1: Systementwicklung und Logik. Hamburg: Meiner Hösle, V. 1988b. Hegels System. Der Idealismus und das Problem der Inter­ subjektivität, Bd 2: Philosophie der Natur und des Geistes. Hamburg: Mei­ ner Jonas, H. 1964. Heidegger und die Theologie. In: Noller, G. (Hrsg.) 1967. Heidegger und die Theologie. Beginn und Fortgang der Diskussion. München: Kaiser, 316-340 Picht, G. 1979a. Ist Humanökologie möglich? In: HF, 14-123 Kant, I. 1781/1787 (zit.n. 1976). Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. von R. Schmidt. Hamburg: Meiner Kant, I. 1799 (zit.n. 1974). Kritik der Urteilskraft. Hrsg. von K. Vorländer. Hamburg: Meiner Hösle, V. 1990a. Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie. München: Beck Picht, G. 1986. Kunst und Mythos. Stuttgart: Klett-Cotta Jonas, H. 1953. Kybernetik und Zweck. In: OF, 164-197 Jonas, H. 1991. Last und Segen der Sterblichkeit. In: PUMV, 81-100 Jonas, H. 1988. Materie, Geist und Schöpfung. In: PUMV, 209-255 Jonas, H. 1981. Macht oder Ohnmacht der Subjektivität. Das Leib-Seele­ Problem im Vorfeld des Prinzips Verantwortung. Frankfurt am Main: Suhrkamp Hösle, V. 1997. Moral und Politik. Grundlagen einer Politischen Ethik für das 21. Jahrhundert. München: Beck Münster, C. & Picht, G. 1954. Naturwissenschaft und Bildung. Weltbild und Erziehung 3. Würzburg: Werkbund-Verlag Hösle, V. 1994. Ontologie und Ethik bei Hans Jonas. In: Böhler, D. (Hrsg.). Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas. München: Beck, 105-125 Jonas, H. 1973. Organismus und Freiheit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Jonas, H. 1985. Zur ontologischen Grundlegung einer Zukunftsethik. In: PUMV, 128-146 Jonas, H. 1951. Philosophische Aspekte des Darwinismus. In: OF, 60-91

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Gertrude Hirsch Hadorn

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Siglen

PGT PI PK PLLLS PPW PRV PT

PUMV PV PWNV1,2

SP

SS SUZ TGP TMP TS UH UHP UP VGP1,2,3

VW WB WBG WG

Jonas, H. 1959. Vom praktischen Gebrauch der Theorie, ln: OP, 264-291 Hösle, V. 1996. Philosophiegeschichte und objektiver Idealismus. München: Beck Hösle, V. 1991a. Philosophie der ökologischen Krise. Moskauer Vorträge. München: Beck Jonas, H. 1965. Das Problem des Pebens und des Peibes in der Pehre vom Sein. ln: OP, 19-41 Hösle, V. 1992. Praktische Philosophie in der modernen Welt. München: Beck Jonas, H. 1993b. Philosophie. Rückschau und Vorschau am Pnde des Jahr­ hunderts. Prankfurt am Main: Suhrkamp Jonas, H. 1964. Plotins Tugendlehre: Analyse und Kritik. ln: Wiedmann, P. (Hrsg.) Ppimeleia. Die Sorge der Philosophie um den Menschen. München: Pustet, 143-173 Jonas, H. 1992. Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen. Prankfurt am Main: Insel Jonas, H. 1979 (zit.n. 1984). Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Pthik für die technologische Zivilisation. Prankfurt am Main: Suhrkamp Vico, G. B. 1744 (zit.n. 1990). Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, 2Bde. Übers. von V. Hösle & Ch. Jermann, hrsg. von V. Hösle. Meiner: Hamburg Hösle, V. 1995. Soll Pntwicklung sein? Und wenn ja, welche Pntwicklung? ln: Peisinger, K. M. & Hösle, V. (Hrsg.). Pntwicklung mit menschlichem Antlitz: die dritte und die erste Welt im Dialog. München: Beck, 9-38 Hösle, V. 1991b. Sein und Subjektivität. Zur Metaphysik der ökologischen Krise. ln: PPW, 166-197 Heidegger, M. 1927 (zit. n. 15. Aufl. 1979). Sein und Zeit. Tübingen: Nie­ meyer Hösle, V. 1988c. Tragweite und Grenzen der evolutionären Prkenntnistheorie. Zeitschrift für Allgemeine Wissenschaftstheorie 19, 2, 348-377 Jonas, H. 1985. Technik, Medizin und Pthik. Zur Praxis des Prinzips Ver­ antwortung. Prankfurt am Main: Suhrkamp Hösle, V. 1992. Warum ist die Technik ein philosophisches Schlüsselpro­ blem geworden? ln: PPW, 87-108 Picht, G. 1979c. Utopie und Hoffnung. ln: HP, 438-457 Jonas, H. 1961. Unsterblichkeit und heutige Pxistenz. ln: OP, 317-339 Hösle, V. 1994. Was sind die wesentlichen Unterschiede zwischen der anti­ ken und der neuzeitlichen Philosophie? ln: Pl, 13-36 Hegel, G. W. P. (zit. n. 1971). Vorlesungen über die Geschichte der Philoso­ phie, 3 Bde. Hrsg. von P. Moldenhauer & K. M. Michel. Prankfurt am Main: Suhrkamp Jonas, H. 1990/91. Vergangenheit und Wahrheit. Pin später Nachtrag zu den sogenannten Gottesbeweisen. ln: PUMV, 173-189 Jonas, H. 1970. Wandel und Bestand. Vom Grunde der Verstehbarkeit des Geschichtlichen. ln: PUMV, 50-80 Jonas, H. 1985. Werkzeug, Bild und Grab. Vom Transanimalischen im Menschen. ln: PUMV, 34-49 Hösle, V. 1984. Wahrheit und Geschichte. Studien zur Struktur der Philo-

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Umwelt, Natur und Moral https://doi.org/10.5771/9783495997482 .

Siglen

WI WKT WPE WVV

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sophiegeschichte unter paradigmatischer Ananlyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon. Stuttgart-Bad Cannstadt: frommann-holzboog Picht, G. 1963. Vom Wesen des Ideals. ln: WVV, 203-228 Jonas, H. 1950. Wahrnehmung, Kausalität und Teleologie. In: OP, 42-59 Jonas, H. 1987. Wissenschaft als persönliches Erlebnis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Picht, G. 1969. Wahrheit - Vernunft - Verantwortung. Philosophische Stu­ dien. Stuttgart: Klett-Cotta

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Gertrude Hirsch Hadorn

https://doi.org/10.5771/9783495997482 .

Kapitel 1

Einleitung

1.1 Zum Naturverständnis in der Umweltdebatte In jüngerer Zeit ist ein Interesse an Naturphilosophie entstanden, das sich nicht der wissenschaftstheoretischen Bemühung um eine Meta­ theorie der Naturwissenschaften verdankt, sondern einem zivilisa­ tionskritischen Interesse, dem es darum geht, die »Identifikation der >Logik der Verhältnisse< mit der >Vernunft der Verhältnissen (Mit­ telstraß 1982a, 14) in der technologischen Zivilisation zu problema­ tisieren. Grund dieses zivilisationskritischen Orientierungsbedürf­ nisses ist die öffentlich-politische Diskussion über die »ökologische Krise« oder die »Umweltproblematik«. Damit ist die Auffassung ge­ meint, dass die mit der Zivilisation verbundenen direkten und indi­ rekten Veränderungen der Natur aufgrund ihres globalen Ausmasses und ihres irreversiblen Charakters die Zukunft der Zivilisation ge­ fährden.1 Ausgelöst wurde die Umweltdebatte durch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die auf anthropogene Veränderungen von Klima, Gewässern, Böden und Biodiversität aufmerksam mach­ 1 Ob von einer ökologischen Krise oder von der Umweltproblematik bzw. von Umwelt­ problemen gesprochen wird, zeigt zunächst einmal einen Unterschied in der Bewertung der anthropogenen Folgen an. Mit »Problem« ist lediglich die negative Bewertung die­ ser Auswirkungen formuliert, während der Ausdruck »Krise« mehr behauptet, nämlich ein Ausmass der Schäden derart, dass die Weiterexistenz der Zivilisation durch die an­ thropogenen Veränderungen von Ökosystemen gefährdet ist. Auch mit der Wortwahl »ökologisch« oder »Umwelt« ist ein Unterschied verbunden, insofern der Ausdruck »Umwelt« als Umwelt der Zivilisation verstanden wird, so dass damit eine auf die menschliche Zivilisation orientierte Sichtweise zum Ausdruck kommt, was mit dem Wort »ökologisch« nicht der Fall ist. Da im allgemeinen Sprachgebrauch diese begriff­ lichen Unterschiede jedoch nicht konsequent durch die entsprechende Wortwahl »öko­ logische Krise« oder »Umweltproblematik« zum Ausdruck gebracht werden, werde auch ich im folgenden mit den verschiedenen Termini keinen begrifflichen Unterschied ver­ binden. ^ 17

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Kapitel 1: Einleitung

ten und davor warnten, dass diese Veränderungen die Zivilisation gefährden. Denn die Zivilisation ist von einem für sie günstigen Zu­ stand der Natur abhängig. Wenn von anthropogenen Veränderungen der Natur die Rede ist, so sind nicht Veränderungen von physika­ lisch-chemischen Gesetzmässigkeiten gemeint, sondern Veränderun­ gen des Zustandes der Natur, insbesondere der lebendigen Natur (siehe Wilson 1989; Wilson 1992). Die ökologische Forschung bezeichnet die lebendige Natur als Biosphäre und versteht darunter eine Vielzahl von untereinander durch Stoff- und Energieflüsse verbundenen Ökosystemen. Als offe­ nes System ist die Biosphäre vom ständigen Energiefluss abhängig, der aus Sonnenenergie gespeist wird. Ein Ökosystem wird als eine funktionale Einheit definiert, die von einer Lebensgemeinschaft von Tier- und Pflanzenpopulationen und Mikroorganismen mit ihrer abiotischen Umwelt an einem bestimmten Standort gebildet wird. Der Funktionszusammenhang in einem Ökosystem ergibt sich aus den vielfältigen Beziehungen zwischen den Organismen. Ein solcher Funktionszusammenhang ist beispielsweise die Nahrungskette zwi­ schen Produzenten, Konsumenten und Destruenten. Als »Diversität« oder »Biodiversität« wird die Vielfalt von Arten, die Vielfalt von Biotoptypen sowie auch die genetische Vielfalt bezeichnet. Biodiversitätsforschung ist ein transdisziplinäres Forschungsfeld, das sich nicht nur mit Interaktionen zwischen Organismen, sondern zu­ nehmend auch mit den Auswirkungen der Zivilisation auf die biolo­ gische Vielfalt befasst.2 Zu den Arbeiten, die bei der Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Umweltproblematik eine Pionierrolle spielten, gehören der »Der stumme Frühling« (Carson 1963) - ein Buch über beobachtete Langzeitauswirkungen des chemischen Pflanzenschutzes auf die Ar­ tenvielfalt - und »Die Grenzen des Wachstums« (Meadows, Mea2 Zum Konzept der Biodiversität und den damit verbundenen Problemen siehe Harper & Hawksworth (1994). Die Autoren bemerken zur vergleichsweise jungen Geschichte des Terminus das Folgende: »The concentrated form >biodiversity< was evidently coined by Walter G. Rosen in 1985 for the first planning conference of what was to be a key meeting, the >National Forum on BioDiversityrepresents, as well as any term can, the vast array of topics and perspectives covered during the Washington forum< (Wilson 1988, vi) ... The word >biodiversity< first appears in the Biological Abstracts >Biosis< database in 1988 with four references, and by the end of April 1994 that number had escalated to 888.« (Harper & Hawksworth, 1994, 6). 18

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1.1 Zum Naturverständnis in der Umweltdebatte

dows, Randers & Behrens III1972) - ein Bericht an den Club of Rome mit Prognosen zur globalen Langzeitentwicklung von Bevölkerung, Kapital, Nahrungsmitteln, Rohstoffvorräten und Schadstoffbela­ stungen auf der Grundlage eines Weltmodelles, das die Wechsel­ wirkungen dieser fünf Grundgrössen auf dem Computer simuliert. Neben populärwissenschaftlichen Büchern haben auch Umwelt­ schutzorganisationen und natürlich die Medienberichterstattung we­ sentlich dazu beigetragen, die Öffentlichkeit für die Umweltproble­ matik zu sensibilisieren. Ein dafür bedeutendes Ereignis war die UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro, an der sich Staaten aus den Industrie- und aus den Entwicklungs­ ländern zu nachhaltiger Entwicklung verpflichtet haben.3 Die diese Debatte in ihren Anfängen prägende Definition von »sustainable development« des sog. Brundtlandberichtes lautet: »Sustainable de­ velopment is development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs.« (World Commission on Environment and Development 1987, 43). Nachhaltige Entwicklung soll der Naturabhängigkeit der Zivilisation vom moralischen Standpunkt intra- und intergeneratio­ neller Gerechtigkeit Rechnung tragen. Damit ist die strategische Auffassung verbunden, dass sektorale Vorgehensweisen zur Lösung von Problemen in den Bereichen der Umwelt, der Wirtschaft oder der Gesellschaft langfristig nicht erfolgreich sein können und statt des­ sen Strategien gefordert sind, die berücksichtigen, dass Umweltpro­ bleme, wirtschaftliche Probleme und gesellschaftliche Probleme ein­ ander funktional beeinflussen.4 3 Diese Verpflichtung wurde eingegangen mit der Unterzeichnung einer Konvention zum Schutz des Klimas, einer Konvention über die Biologische Vielfalt, einer Rio-Deklaration und einer Walderklärung sowie der sogenannten Agenda 21, einem von mehr als 170 Staaten verabschiedeten Aktionsprogramm für das 21. Jahrhundert (siehe UNCED 1992a; UNCED 1992b). 4 In Anlehnung an die wirtschaftspolitische Devise des »magischen Dreiecks«, die be­ sagt, wirtschafts- und finanzpolitische Massnahmen zur Aufrechterhaltung eines steti­ gen und angemessenen Wirtschaftswachstums so zu treffen, dass ein stabiles Preis­ niveau, ein hoher Beschäftigungsgrad und ein aussenwirtschaftliches Gleichgewicht gleichzeitig erreicht werden, spricht man heute auch von einem »Nachhaltigkeitsdrei­ eck«. Das Nachhaltigkeitsdreieck bezieht sich auf wirtschaftliche Ziele, ökologische Zie­ le und soziale Ziele. Da ökologische, ökonomische und soziale Aspekte funktional von­ einander abhängen, lautet die Empfehlung, solche Vorgehensweisen zu wählen, die möglichst nicht zu gegenläufigen Effekten in den anderen Zielbereichen führen (siehe Dierkes 1985, 44ff.; Huber 1995, 39ff.). ^ 19

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Kapitel 1: Einleitung

In der politischen Diskussion dienen Begriffe aus der ökologi­ schen Forschung nicht nur dazu, die Natur zu beschreiben, sondern sie werden auch in orientierungsstiftender Funktion für die Gestal­ tung der menschlichen Zivilisation verwendet. So lautet beispiels­ weise die politische Hauptempfehlung in »Die Grenzen des Wachs­ tums«, die »Wachstumstendenzen zu ändern und einen ökologischen und wirtschaftlichen Gleichgewichtszustand herbeizuführen, der auch in weiterer Zukunft aufrechterhalten werden kann« (Meadows et al. 1972, 17). Carson fasst auf der letzten Seite ihres Buches die Orientierung für den menschlichen Umgang mit der Natur in den Worten zusammen: »Durch alle diese neuen, einfallsreichen und schöpferischen Bemühungen um eine Lösung des Problems, wie wir gemeinsam mit anderen Geschöpfen diese Erde bewohnen können, zieht sich ein Leitmotiv: das Bewusstsein, dass wir es hier mit lebenden Wesen zu tun haben. Es handelt sich um Populatio­ nen, die einen Druck ausüben und Gegendruck erzeugen, die sich jäh ver­ mehren und wieder zusammenschmelzen. Nur wenn wir solche lebendige Kräfte berücksichtigen und sie vorsichtig in Bahnen zu lenken suchen, die für uns günstig sind, können wir hoffen, zwischen den Insektenhorden und uns zu einem vernünftigen Vergleich zu kommen.« (Carson 1963, 298)

Mit dem Eingang ökologischer Begriffe wie »Gleichgewicht«, »Sta­ bilität«, »Kreislauf«, »carrying capacity« (Tragekapazität) oder »Biodiversität« in die politische Diskussion erfahren diese einen Bedeu­ tungswandel. Sie werden nicht mehr deskriptiv-analytisch mit Bezug auf einen bestimmten theoretischen Kontext verwendet, sondern normativ für die Gestaltung der menschlichen Gesellschaft (Hobohm 1994; Vogt 1996).5 Ökologie erhält die Rolle einer »Leitwissenschaft« (Amery 1978; Trepl 1987; Bayertz 1988) oder »Orientierungswissen­ schaft« (Holderegger 1997) für sozio-politische Bewegungen. Dabei kann sich auch der kognitive Gehalt eines Begriffes ändern wie im Falle des Begriffes der Tragekapazität. Mit dem umweltpolitischen Begriff der Tragekapazität ist eine durch die Biosphäre und durch die Produktionsbedingungen vorgegebene und bestimmbare Wachs­ 5 »Gleichgewicht«, »Stabilität« und »Kreislauf« sind allerdings auch Begriffe der neo­ klassischen ökonomischen Theorie schon bevor sich die Ökonomie mit Umweltfragen befasst hat (siehe z.B. Helmstädter 1983). Zudem kamen wichtige Impulse bei der Ent­ stehung der Ökologie aus der Ökonomie (siehe Bayertz 1988, 86 f.). Im umweltpoliti­ schen Kontext findet somit gewissermassen ein Rückimport der Terminologie in die Ökonomie statt. 20

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tumsgrenze für die Weltbevölkerung und ihren Ressourcenver­ brauch gemeint (Daily & Ehrlich 1992, Renn 1996, Mohr 1996, Seidl & Tisdell 1999). Der populationsbiologische Begriff der Kapazität wurde zum Zweck der Modellierung des dichteabhängigen Wachs­ tums einer Population eingeführt, wobei für die Kapazität, die durch die Ressourcen für die Population in diesem Ökosystem bestimmt ist, zum Zweck der Modellbildung ein Wert angenommen wird. Ökologische Konzepte werden in einer schwachen und in einer starken Weise normativ für die Gestaltung der Zivilisation verwen­ det.6 Mit der schwachen Verwendungsweise meine ich die Forderung an die Zivilisation, bestehende Ökosysteme zu erhalten. Strukturen und funktionale Beziehungen von Ökosystemen werden hier als zu erhaltende Bedingungen, nicht jedoch als Modelle für die Gestaltung der Zivilisation selbst verstanden. Die schwache normative Verwen­ dungsweise vertritt Carson im obigen Zitat, indem sie fordert, dass die lebendigen Kräfte zwischen Populationen vorsichtig in eine für die Zivilisation günstige Richtung gelenkt, aber nicht zerstört wer­ den dürfen. Mit der starken normativen Verwendungweise meine ich die Forderung, dass die Zivilisation selbst gemäss ökologischen Be­ ziehungen zu gestalten ist. Die starke normative Verwendungsweise vertreten Meadows et al. im obigen Zitat, indem sie nicht nur einen ökologischen, sondern auch einen ökonomischen Gleichgewichts­ zustand fordern, was bedeutet, die gesellschaftlichen Beziehungen nach ökologischen Konzepten zu regeln. Ganz in diesem Sinne kom­ mentiert auch Odum »Die Grenzen des Wachstums«: »Die Einsichten der vielen Mitarbeiter an den Studien des Club of Rome und die Ergebnisse der Weltmodelle stehen weitgehend in Einklang mit den zen­ tralen Konzepten der Ökosystemtheorie, insbesondere mit den folgenden drei Grundsätzen: Der Umgang mit komplexen Systemen erfordert einen holistischen Ansatz; wenn Grenzen (etwa in den Ressourcen) erreicht werden, hat kooperatives Verhalten einen grösseren Überlebenswert als Konkurrenz; eine geordnete, tragfähige Entwicklung menschlicher und biologischer Ge­ 6 Rolston (1979) unterscheidet »sieben Weisen, in denen wir der Natur folgen können; zuerst, aus allgemeiner Perspektive, in einem absoluten, einem artefaktischen und einem relativen Sinn; dann detailliert in vier spezifischen Bedeutungen, einem homöo­ statischen, einem imitativ-ethischen, einem axiologischen und schiesslich einem erzie­ herischen Sinne« (Rolston 1979, 246). Rolston differenziert verschiedene Weisen, wie die starke normative Verwendung von »der Natur folgen« gemeint sein kann. Der schwachen normativen Verwendung entspricht bei Rolston die homöostatische Bedeu­ tung. ^ 21

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Kapitel 1: Einleitung

meinschaften erfordert sowohl negative als auch positive Rückkopplungen.« (Odum 1991, 270)

Grundlage dieses ökologisch orientierten ethischen Naturalismus7 sowohl in seiner schwachen als auch in seiner starken Form ist die Tatsache, dass die Menschen, da sie Organismen sind, als eine Popu­ lation aufgefasst werden können, die mit nichtmenschlichen Popula­ tionen Lebensgemeinschaften bilden und die auch durch Stoff- und Energieflüsse mit ihrer abiotischen Umwelt in Beziehung stehen. Es wird in diesem Falle auch von anthropogenen Ökosystemen gespro­ chen um auszudrücken, dass die Strukturen dieser Ökosysteme so­ wie auch ihre Stoff- und Energieflüsse wesentlich durch die Zivilisa­ tion geprägt sind, d. h. durch Kulturleistungen.8 Unter ökologischer Perspektive erscheinen menschliche Kulturleistungen als Überfor­ mung von Strukturen und Funktionen eines natürlichen Ökosystems zu einem anthropogenen Ökosystem. Daher liegt die Forderung na­ he, dass die Entwicklung der Zivilisation - als kulturelle Überfor­ mung natürlicher Strukturen und Funktionen - ökologischen Prinzipen Rechnung zu tragen hat. Diese Forderung muss sich den Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses gefallen lassen, wenn die moralische Wünschbarkeit der Erhaltung von Biodiversität und Ökosystemen nicht als zusätz­ liche Prämisse des Argumentes formuliert und begründet wird.9 Nicht nur die Begründung entsprechender normativer Prämissen wirft jedoch philosophische Fragen auf, sondern auch die Bestim­ mung dessen, was es denn genau zu erhalten gilt, wenn der Zustand 7 Als ethischer Naturalismus werden seit Moore (1970) Positionen bezeichnet, die die Bedeutung moralischer Ausdrücke und vor allem die Bedeutung von »gut« durch Aus­ drücke für natürliche Eigenschaften von Objekten definieren. Dabei bleibt nach Moore jedoch die Frage offen, was diese deskriptiven Eigenschaften als gut auszeichnet (siehe Hügli 1984). 8 Im folgenden verwende ich »Kultur« synonym mit »Zivilisation« und fasse darunter alle Arten von Techniken, von materiellen und geistigen Produkten, von Institutionen und von Werten. 9 Der sogenannte »naturalistische Fehlschluss« bezieht sich auf das begründungslogi­ sche Problem, dass Sollenssätze nicht logisch aus Tatsachenbeschreibungen folgen, son­ dern mindestens eine normative Prämisse verlangen (siehe Wimmer 1984). Hält man das Argument des naturalistischen Fehlschlusses für gültig, dann kann die Natur nicht als »alleinige Grundlage und Massstab ethischen Handelnsc dienen. Jeder Versuch, sich durch den Rückgriff auf eine objektiv vorgegebene Natur von der Aufgabe (und der Verantwortung) einer eigenen Bewertung und Entscheidung zu entlasten, ist zum Scheitern verurteilt« (Birnbacher 1991b, 65; siehe Birnbacher 1991a, 287ff.). 22

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1.1 Zum Naturverständnis in der Umweltdebatte

der Biosphäre erhalten werden soll, wenn die mit der Umweltprohlematik verhundenen Risiken - z. B. mögliche negative Auswirkungen des Klimawandels (siehe Watson, Zinyowera & Moss 1996) -, nicht wünschenswert sind. Um diese Prohleme aufzuzeigen, gehe ich auf den Begriff des Ökosystems und einige damit verhundene Begriffe etwas näher ein. Die ökologische Forschung versteht unter einer Lehensgemein­ schaft verschiedene Tier- oder Pflanzenpopulationen, die unterein­ ander in Beziehungen stehen. Eine Population hesteht aus Indivi­ duen, die einer Art angehören und sich untereinander fortpflanzen. Die verschiedenen Populationen stehen miteinander üher Nahrungsheziehungen und weitere Interaktionen in Verhindung (siehe Odum 1991, 39). Ernst Haeckel (1866) hat die Ökologie als Wissenschaft von den Beziehungen der Organismen zu ihrer Umwelt definiert.10 Es kann sich dahei um eine ahiotische oder um eine hiotische Umwelt handeln. Die Betrachtung kann auf der Ehene des Organismus (Autökologie), auf der Ehene der Population (Demökologie) oder auf der Ehene der Lehensgemeinschaft (Synökologie) stattfinden. Die Auffassung einer Lehensgemeinschaft als Ökosystem geht auf Tansley (1935) zurück. Tansley hat die systemtheoretische Betrachtung in die Ökologie eingeführt, um die Beziehungen einer Lehens­ gemeinschaft mit ihrer ahiotischen Umwelt als ein organisiertes Ganzes zu konzeptionalisieren, das sich in Richtung auf ein ideales Gleichgewicht hin entwickelt (siehe Odum 1991, 50 f.; Küppers 1984, 1068 f.; Trepl 1987, 184 f.). Der für die Weiterentwicklung der Öko­ systemforschung entscheidende Gesichtspunkt ist die funktionale Auffassung des Ökosystems, derzufolge die Teile nur vom Ganzen her, d. h. aufgrund ihrer funktionalen Rolle im Ökosystem, verstan­ den werden können (siehe Trepl 1987, 181, 190). Ökosysteme kön­ nen auf dreifache Weise heschriehen werden: erstens populationshiologisch durch die Strukturen der Lehensgemeinschaften, zweitens durch die Stoff- und Energieflüsse zwischen einer Lehensgemein­ schaft und ihrer ahiotischen Umwelt und drittens durch die Informa­ 10 Diese Definition der Ökologie erfolgte im Zusammenhang mit der Unterscheidung und Klassifikation hiologischer Forschungsgehiete. Haeckel selhst hat nicht im Bereich der Ökologie gearheitet und hat sie damit auch nicht konzeptionell-methodisch hegründet (siehe Trepl 1987, 114 Fussnote; Bayertz 1988, 86; Engels 1997, 169ff.). Eine heute verhreitete Lehrhuchdefinition der Ökologie lautet: »Ecology is the scientific stu­ dy of the interactions that determine the distrihution and ahundance of organisms.« (Krehs 1972, zit.n. Begon, Harper & Townsend 1996, x) ^ 23

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Kapitel 1: Einleitung

tionsflüsse auf der genetischen Ebene und auf der Verhaltensebene. Die physikalisch-chemische Beschreibung eines Ökosystems auf der Ebene der Stoff- und Energieflüsse zwischen einer Lebensgemein­ schaft und ihrer abiotischen Umwelt geht unabhängig von Tansley auf Lotka (1925) zurück (siehe Odum 1991, 83). Alle drei For­ schungstraditionen arbeiten heute mit einem breiten methodischen Spektrum, welches Feldforschung, experimentelle Methoden, Me­ thoden der Computersimulation und mathematische Systemmodelle umfasst. »Der stumme Frühling« ist der populationsbiologischen Forschungstradition zuzurechnen, »Die Grenzen des Wachstums« hingegen der physikalisch-chemischen. Im Kontext der Umweltdebatte ist die Frage der Stabilität und Dynamik bestehender Ökosysteme von vorrangiger Bedeutung.11 Der Stabilitätsbegriff bezieht sich auf bestimmte Zustandsvariablen eines Ökosystems, z.B. auf die Dichte einer bestimmten Population. Mit dem Begriff »Stabilität« ist gemeint, dass diese Zustandsvaria­ blen konstant bleiben bzw. innerhalb einer definierten Schwan­ kungsbreite variieren, oder dass sie nach einer exogenen Auslenkung wieder zum Ausgangswert zurückkehren. »Stabilität« ist also nicht gleichbedeutend mit »Stillstand«, denn jedes Ökosystem ist stets einer gewissen Dynamik unterworfen. Dies ergibt sich aus den Pro­ zessen, die zwischen den verschiedenen Komponenten eines Öko­ systems ablaufen und die die Zustandsvariablen beeinflussen. So wird z.B. die Dichte einer Population durch die Prozesse der Natalität, Mortalität, Immigration und Emigration reguliert. In ihrem Zu­ sammenwirken können die vier Prozesse dazu führen, das sich die Populationsdichte stabil oder instabil verhält, wobei letzteres oft auch eine Frage der betrachteten räumlichen und zeitlichen Skala ist.12 Ein Begriff, der vor allem im Rahmen der Systemmodellierung von Bedeutung ist, ist der Begriff des Gleichgewichts. Wenn eine Anzahl von miteinander gekoppelten Prozessen so zusammenwirkt, dass die Werte der modellierten Zustandsvariablen konstant bleiben, befindet sich das Modellsystem in einem Gleichgewichtszustand. Dies trifft normalerweise nur für bestimmte Werte der Zustands­ 11 Vergleiche beispielsweise das Executive Summary des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) zu den Auswirkungen des Klimawandels auf Wälder (siehe Kirschbaum & Fischlin 1996, 97f.). 12 Das Stabilitätskonzept wird durch sogenannte Differenzierungsmodelle wie Kon­ stanz, Persistenz, Beharrung/Widerstand/Resistenz, Elastizität, Resilienz u.a. weiter präzisiert (siehe Scherzinger 1996,168ff.). 24

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1.1 Zum Naturverständnis in der Umweltdebatte

variablen und der in den Modellgleichungen enthaltenen Parameter zu. Die Suche nach solchen Gleichgewichtszuständen ist häufig ein Ziel der Systemmodellierung. Auf reale Ökosysteme lässt sich der Gleichgewichtsbegriff nur beschränkt anwenden, da nie alle Prozesse bekannt sind, welche eine Zustandsvariable beeinflussen. Die dominante Auffassung der Entwicklung einer Lebens­ gemeinschaft bis in die jüngere Zeit besagt, dass es sich hierbei um eine natürliche Sukzession von verschiedenen Gesellschaften (Seralstufen) zu dauerhafteren Gemeinschaften eines Reifestadiums (Kli­ maxstadium) handelt. Das Reifestadium beinhaltet, dass sich die Lebensgemeinschaft »im Gleichgewicht mit dem regionalen Klima sowie den lokalen Substrat-, Wasser- und topographischen Verhält­ nissen befindet beziehungsweise von diesen Faktoren bestimmt wird« (Odum 1991, 196). Diese Auffassung, »dass die Natur, sich selbst überlassen, von selbst gegen alle natürlichen Störungen immer wieder Zuständen zustrebt, die heute schon jeder Schüler als natürli­ ches, als ökologisches Gleichgewicht versteht, [ist] wenn nicht das erste Grundgesetz der Natur, so doch der erste grüne Glaubensartikel über die Natur« (Markl 1991, 196). Obwohl dieser »grüne Glaubensartikel über die Natur« bereits im 19. Jahrhundert kritisiert wurde (siehe Jax 1994, 108), blieb er lange Zeit eine dominante Orientierung. Ein Grund dafür ist die be­ obachtete Konstanz gewisser abiotischer Umweltbedingungen der Biosphäre wie z.B. des Kohlendioxidgehalts, des Sauerstoffgehalts oder der mittleren Temperatur der Atmosphäre und der relativen Stabilität von biologischen Strukturen. Diese Konstanz wird in An­ lehnung an die Homöostase höherentwickelter Organismen als Re­ sultat einer Selbstregulation gedeutet, die in einem weiteren Inter­ pretationsschritt zur Auffassung von Ökosystemen oder gar der ganzen Biosphäre als Superorganismen führt (siehe Odum 1991, 198 f.; Lovelock 1979; Lovelock 1988). Ein weiterer Grund für Gleich­ gewichtsmodelle ist die Orientierung an physikalischen Gleichge­ wichtstheorien als Erkenntnisideal für die Ökologie (siehe Hobohm 1994, 116 f.). Nicht unbedeutend für das Festhalten an Gleichge­ wichtsmodellen dürfte schliesslich auch sein, dass sich der Gleichge­ wichtsbegriff für eine normative Verwendung in sozio-politischen Zusammenhängen anbietet (siehe Hobohm 1994, 117). Zur Entwicklung von Ökosystemen bestehen auch heute noch konkurrierende Auffassungen. Umstritten ist, ob die Orientierung an Gleichgewichtszuständen für das Verständnis der Entwicklung ^ 25

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Kapitel 1: Einleitung

von Ökosystemen überhaupt wichtig ist und auf welche Art und Weise Gleichgewichte gegebenenfalls reguliert werden. Dies hat em­ pirische und theoretische Gründe. Gleichgewichtsmodelle haben sich vielfach als untauglich für die Beschreibung und Prognose von Öko­ systementwicklungen erwiesen (siehe Jax 1994, 108). Nun sind Öko­ systeme arbiträre, raum-zeitlich definierte Systeme, die sowohl zeit­ lich als auch räumlich heterogen sind, wobei kleinräumige und grossräumige Prozesse einander sowie auch die Entwicklung des Ökosystems als Ganzes beeinflussen. Evolutionstheoretisch gesehen ist die »>Beständigkeit< der Natur [also] ... weitgehend eine Illusion aus zu kurzer zeitlicher Perspektive« (Markl 1991, 319). Die Proble­ me betreffen jedoch nicht nur die Abhängigkeit vom räumlichen und zeitlichen Beobachtungsmassstab, sondern auch die Definition des­ sen, was im Gleichgewicht sein soll - Biomasse, Artenbestand u. a. sowie die Festlegung der zulässigen Schwankungsbreiten dieser Pa­ rameter (siehe Gigon 1983). Es wird heute davon ausgegangen, dass das komplexe Interaktionsgefüge von Ökosystemen nicht zwingend stabil sein muss, sondern wiederholt kürzere oder längere Phasen der Instabilität aufweist, die zum Teil aufgrund ihrer Zeitskalen nicht beobachtbar sind. Dazu kommt, dass verschiedene Elemente der Biodiversität in einem Ökosystem redundante Funktionen für die Inter­ aktionen im System haben, was eine funktionale Reorganisation des Systems bei Veränderungen von Strukturen oder Umweltbedingun­ gen ermöglicht. Stabilität und Dynamik von Ökosystemen werden nicht mit einem inhärenten »Bauplan« des Ökosystems erklärt, son­ dern als Wirkung der komplexen Interaktionen im Ökosystem (siehe Weber, Körner, Schmid & Arber 1995,186) und in Abhängigkeit von exogenen Faktoren, so z.B. Habitatveränderungen und Veränderun­ gen der klimatischen Bedingungen (siehe Weber et al. 1995, 190; Jax 1994, 109 f.). Diese beeinflussen über populationsdynamische Pro­ zesse die Biodiversität (siehe Matthies, Schmid & Schmid-Hempel 1995, 199 ff.).13 Für die Erhaltung von Ökosystemen in der Zeit durch das ungeplante, aber präzise und zugleich dynamische Zusammenspiel viel­ 13 Es besteht heute ein breiter Konsens unter Wissenschaftlern, dass die anthropogene Veränderung von Habitaten und Klima zu einer Degradation der Biodiversität und einer Destabilisierung von Ökosystemen auf globaler Ebene führt (siehe Kirschbaum & Fischlin, 1996). Auf regionaler Ebene können sich anthropogene Veränderungen exogener Faktoren jedoch auch positiv auf die Entwicklung von Biodiversität und Ökosystemen auswirken, wie Reichholf (1996) an verschiedenen regionalen Beispielen aufzeigt. 26

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1.1 Zum Naturverständnis in der Umweltdebatte

faltiger Faktoren ist wichtig, dass sich Ökosysteme über die Repro­ duktion der Organismen ständig erneuern: »Wir lassen uns nur zu leicht täuschen, wenn wir selbst in unseren Ökologie­ lehrbüchern die Pyramiden der biologischen Produktion von Primärprodu­ zenten, Primär-, Sekundär- und Tertiärkonsumenten so festgefügt aufgebaut darstellen, dass es einem ganz selbstverständlich scheint, wie stabil so ein natürliches Ökosystem doch in sich ruhen muss. In Wirklichkeit ist ein ande­ res, dynamischeres Bild der belebten Natur weit angemessener, in welchem die Pyramide gleichsam auf der Spitze steht und, von Sonnenenergie getrie­ ben, in ständigem Umlauf kreist: ein Kreisel, der nur steht, wenn er nicht stillsteht, den energiezehrender Lebensumsatz allein am Kippen hindert. Erst wenn wir die ökologische Stabilität der Natur in dieser Weise als eine dyna­ mische Dauerleistung des Lebens sehen, in der die Kraft der Erhaltung aus der Kraft zur Erneuerung kommt, in der alles genauso auf Tod und Zerfall ankommt wie auf Geburt und Vermehrung, und wo dies alles mit ganz un­ geheurer Präzision zusammenspielen muss, erst dann erkennen wir auch, wie unwahrscheinlich, wie gefährdet, wie kostbar, wie bewahrenswert und schutzbedürftig dieser Lebenskreislauf ist, wie ungewiss er ist, welche Störungen er übersteht, ohne aus dem Gleichgewicht zu taumeln.« (Markl 1991, 78f.)

Doch ist es nicht nur so, dass Individuen entstehen und vergehen. Im grossen Zeitmassstab gesehen bleiben auch keine Arten erhalten, und zwar nicht nur aus anthropogenen, sondern auch aus natürlichen Gründen: »Die Dynamik der lebendigen Arten gibt ihren Lebens­ gemeinschaften mittelfristig bewundernswerte Stabilität. Sie garan­ tiert jedoch zugleich aufgrund der ihr innewohnenden Gesetzlichkeit fast allen auf absehbare Frist sicheren Untergang« (Markl 1991, 121 f.). Mit der »innewohnenden Gesetzlichkeit« meint Markl evolu­ tionstheoretische Prinzipien: »Wenn Leben Mangel erzeugt, so forciert der Mangel Einfallskraft, oder ge­ nauer: Der Typ, der sich gegen den Mangel etwas Neues einfallen lässt, wird in der Selektion gegen den mehr Beharrlichen obsiegen - und dann dennoch gerade mit seinem Erfolg nur neuen Mangel und damit den Boden für neue Typen schaffen, die mit den neuen Bedingungen besser zurechtkommen als die, die diese selbst geschaffen haben. So wird das Leben durch immer neue Zyklen von Innovation, Expansion, Intensivierung, Spezialisierung, Diver­ sifikation, Kooperation und endlich einseitige Übertreibung gejagt. Jede Form arbeitet sich auf einen lokalen Fitnessgipfel hoch. Doch Gipfel haben es an sich, dass es von ihnen nur noch abwärts weitergeht. Leben ist in dieser Be­ trachtung ein Strategiespiel mit vielen Mitspielern. Doch ändern sich nicht nur die Strategien dieser Spieler; auch die Regeln, nach denen verschiedene ^ 27

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Kapitel 1: Einleitung

Strategien belohnt werden, wandeln sich ständig mit. Und je besser eine Spe­ zies zu einem Zeitpunkt das Feld beherrscht, um so gewisser rennt sie in die Abseitsfalle.« (Markl 1991, 216)

Erhaltung in der Zeit als Erneuerung ist aufgrund wachstumsbeding­ ter Knappheit von Ressourcen nur mittels Wandel möglich und nicht mittels identischer Erneuerung, da Erhaltung an Innovation in der Ressourcennutzung gebunden ist. Folgt man dieser evolutionstheo­ retischen Auffassung der Entwicklungsbedingungen von Ökosyste­ men, dass die Evolution weder Individuen noch Arten erhält, sondern dass es ihr bisher lediglich »unter unzähligen Artenopfern gelungen [ist], das Leben am Leben zu halten, aber sogar da ohne jede Garantie, dass dies auf gleichem Wege notwendig immer weiter gelingen muss« (Markl 1991, 121),14 und bedenkt man ferner, dass Ökosyste­ me arbiträr definierte, in sich funktionale Zusammenhänge sind, dann stellt sich für den ökologischen Naturalismus nicht nur ein Be­ gründungsproblem was die moralischen Gründe für die Erhaltung der Natur angeht, sondern auch ein Anwendungsproblem: Worauf ist dann die Forderung »Untergang oder Übergang: Natur als Kultur­ aufgabe« (Markl 1991, 316) zu beziehen? Was genau gilt es zu er­ halten? Dieses Anwendungsproblem umfasst drei verschiedene Proble­ me. Das erste Problem betrifft den Standpunkt der Bewertung. Für die Schutzwürdigkeit eines Ökosystems kann vom Standpunkt des Umweltschutzes oder vom Standpunkt des Naturschutzes aus argu­ mentiert werden. Dem Umweltschutz geht es um die Erhaltung von Ökosystemen als Lebensgrundlage für die Menschen. Im Kontext der Umweltdebatte werden daher biologische Strukturen hinsichtlich ihrer funktionalen Bedeutung in einem Ökosystem betrachtet, wobei verschiedene Arten funktional äquivalent sein können. Der Natur­ schutz hingegen ist am Schutz bestimmter Arten als ein kultureller Wert oder um ihrer selbst willen interessiert. Da die Häufigkeit und geographische Verteilung der Arten von Prozessen in Ökosystemen abhängen, sind Ökosysteme auch aus Naturschutzgründen zum Schutz der in ihnen lebenden Arten zu erhalten.15 14 Wessen (1991) zieht aufgrund von zahlreichen empirischen Belegen die Erklärungsprinzpien der neodarwinistischen Evolutionstheorie für die Entwicklung der Biodiversität in Zweifel. 15 Einen dritten Bewertungsstandpunkt bezüglich Natur vertritt der Tierschutz, doch sind hier Ökosysteme nicht einbezogen. Im Tierschutz geht es um den Schutz von Indi­ 28

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1.1 Zum Naturverständnis in der Umweltdebatte

Das zweite Problem besteht in prinzipiellen Wissensdefiziten der naturwissenschaftlich-ökologischen Forschung bezüglich der Fra­ ge, welche Bedingungen für die Erhaltung bestimmter Ökosysteme bzw. Arten nun notwendig oder hinreichend sind. Auf diese Schwie­ rigkeiten gehe ich nicht näher ein. Das dritte Problem besteht darin, dass diejenige Natur, die die Naturwissenschaft als Ökosysteme beschreibt, nicht unbedingt die­ jenige Natur ist, die die Zivilisation als einen kulturellen Wert oder aufgrund von langfristigen Nutzungsinteressen für erhaltenswert er­ achtet (siehe Güsewell & Dürrenberger 1996; Broggi 1996; Ehrenfeld 1978). In der Frage der Auszeichnung einer erhaltenswerten Natur interferieren verschiedene Verhältnisse des Menschen zur Natur, die mit verschiedenen Naturbegriffen und einem je verschiedenen Um­ gang mit der Natur, d. h. eines wertenden Bezuges auf Natur, verbun­ den sind (siehe Honnefelder 1992c). In der Literatur wird oftmals eine Vielzahl von Naturbegriffen aufgezählt.16 Ich unterscheide im folgenden drei Naturbegriffe, die geeignet sind, den Kern des Orien­ tierungsproblems in der Umweltdebatte herauszuarbeiten: einen ökologischen, einen ökonomisch-technischen und einen kontempla­ tiven Naturbegriff. Die Unterscheidung dieser drei Naturbegriffe er­ innert an die aristotelische Unterscheidung von theoretischem Wis­ sen, poietischem Wissen und moralisch-praktischem Wissen.17 Ich viduen per se vor direkten schädigenden Einwirkungen des Menschen vor allem im Rahmen der Tierhaltung, der Jagd und der experimentellen Forschung. 16 So unterscheidet beispielsweise Honnefelder eine ökologische, eine medizinische, eine soziale, eine ökonomische und eine ästhetische Hinsicht des Menschen auf die Natur (siehe Honnefelder 1993, 255). Seel differenziert zwischen dem Naturbegriff der mathematischen Physik, der Bio- und Geowissenschaften, einer medizinischen oder psychologischen Therapie, der Natur eines Nutzgartens und der Erscheinung ästheti­ scher Landschaft (Seel 1996, 13). Schäfer bezieht sich nur auf wissenschaftliche Natur­ begriffe und unterscheidet hier einen kosmologischen und einen physiologischen Natur­ begriff (siehe Schäfer 1993a, 229). Höffe unterscheidet »sieben Gesichter, in denen sich dieselbe Natur dem Menschen schon immer zeigt« (Höffe 1993, 105), wenn er sich mit Interessen und Erwartungen der Natur zuwendet: die schöpferische Natur, die den Men­ schen hervorgebracht hat, die materielle Natur, von der der Mensch abhängig bleibt, die ökonomisch und technisch nutzbare Natur, die ästhetische Seite der Natur, die zerstöre­ rische Gewalt der Natur, die für die menschlichen Bedürfnisse defizitäre Natur und die der menschlichen Bedürfnisbefriedigung widerspenstig entgegentretende Natur (siehe Höffe 1993,105 ff.). 17 Aristoteles bemerkt in der »Metaphysik«, dass jede auf Denken gegründete oder mit Denken verbundene Wissenschaft von Ursachen und Prinzipien in mehr oder weniger strengem Sinne des Wortes handle und unterscheidet dann gemäss den Prinzipien drei ^ 29

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Kapitel 1: Einleitung

werde bei der Bestimmung der drei Naturbegriffe jedoch nicht Ari­ stoteles' Bestimmung der Wissensarten folgen. Die Unterscheidung der drei Naturbegriffe dient dazu, in den folgenden Untersuchungen aufzuzeigen, dass der ausschliessliche Rekurs auf einen der drei Na­ turbegriffe zum Zweck der Moralbegründung und -bestimmung das moralische Orientierungsproblem in der Umweltdebatte verfehlt. Mit dem ökologischen Naturbegriff meine ich die Auffassung von der Natur als Biosphäre bzw. Ökosystem. Dieser Naturbegriff schliesst die Menschen ein, allerdings nicht als Zivilisation verstan­ den, sondern als eine biologische Population.18 Als Population stehen die Menschen zur übrigen Natur im Verhältnis einer biologischen Teilstruktur, die funktional in die Energie- und Stoffflüsse der Biosphäre eingebunden und auf für sie günstige Bedingungen hin­ sichtlich Temperatur, Feuchtigkeit, Sonneneinstrahlung etc. ange­ wiesen ist. Die Bewertung unter Rekurs auf den ökologischen Natur­ begriff nenne ich die ökologische Bewertung. Sie bezieht sich auf die Relevanz von Strukturen und Funktionen für die Stabilität und Dy­ namik von Ökosystemen, die für die menschliche Population günstig sind, und zwar in Abhängigkeit von anthropogenen Einflüssen. In diesem Sinne kann der »Stoffwechsel der Anthroposphäre« (siehe Baccini & Bader 1996) global oder regional beschrieben sowie in sei­ nen Auswirkungen auf die Biosphäre untersucht und bewertet wer­ den.19 Diesem ökologischen Naturbegriff ordne ich auch die Unter­ Wissenschaften: die beobachtenden Wissenschaften, zu denen er Mathematik, Physik und Theologie zählt, die poetischen Wissenschaften wie Handwerk, Dichtung, Medizin u. a. sowie die praktischen Wissenschaften wie Ethik und Politik. Die theoretischen Wis­ senschaften handeln von den Prinzipien des Seienden. Bei »den auf das Hervorbringen gerichteten Wissenschaften ist das Prinzip in dem Hervorbringenden, sei es Vernunft oder Kunst oder sonst ein Vermögen, das Prinzip aber der Wissenschaften, welche auf das Handeln gehen, ist in dem Handelnden der Entschluss; denn dasselbe ist Gegenstand der Handlung und des Entschlusses.« (Metaphysik VI,1,1025b) 18 In ähnlicher Weise unterscheidet Sieferle in seiner Analyse des Gesellschaft-Natur­ Verhältnisses (1) die Natur im Sinne eines ökologisch geordneten Systems, (2) die phy­ sische menschliche Population und (3) die symbolische Kultur, die ich als Zivilisation bezeichne. Er betont dann für die Zwecke seiner Analyse die Doppelstellung der physi­ schen menschlichen Population zum einen als Teil der Natur im einem human-ökologi­ schen System und zum andern als Teil der symbolischen Kultur im sozialen System (siehe Sieferle 1997, 37ff.). 19 Schon Marx betont dieses Mensch-Natur-Verhältnis und verwendet dafür den Be­ griff des Stoffwechsels: »Mit dem stets wachsenden Übergewicht der städtischen Bevöl­ kerung, die sie in grossen Zentren zusammenhäuft, häuft die kapitalistische Produktion einerseits die geschichtliche Bewegungskraft der Gesellschaft, stört sie andrerseits den 30

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1.1 Zum Naturverständnis in der Umweltdebatte

suchung der menschlichen Gesundheit in Abhängigkeit von anthro­ pogenen Umweltveränderungen zu.20 Mit dem ökologischen Natur­ hegriff meine ich keine einheitliche theoretische Konzeption, son­ dern die Auffassung von Natur als Ökosystem unter Einschluss der menschlichen Population als biologische Art. Diese Natur ist Gegen­ stand der empirisch-analytischen ökologischen Forschung. Sie ver­ steht Ökosysteme als in sich funktionale Zusammenhänge von Strukturen, die bezüglich ihrer Relevanz für die Stabilität und Dyna­ mik der Ökosysteme bewertet werden, bezieht allerdings Menschen als physische Population in der Regel nicht in ihre Untersuchung von Ökosystemen ein. Dem ökonomisch-technischen Naturbegriff zufolge bedeutet Natur eine Ressource, die für die menschliche Bedürfnisbefriedigung gezielt umgeformt wird. Es muss sich dabei nicht nur um materielle Bedürfnisse handeln. Auch die Befriedigung seelischer und geistiger Bedürfnisse ist direkt oder indirekt an das Umformen von Stoffen gebunden. Hier geht es also um das gestaltende Verhältnis der Men­ schen zur Natur, wobei die Gestaltung der Naturnutzung die Stoff­ und Energieflüsse zwischen Menschen und der übrigen Natur beein­ flusst. Die Bewertung der Natur als Ressource betrifft Eigenschaften der Natur wie beispielsweise Materialeigenschaften oder die Boden­ fruchtbarkeit in ihrer Eignung für die technische Umformung. Sie schliesst ferner ökonomische Kriterien ein, die den Marktwert des noch ungeformten Rohstoffes oder des geformten Produktes be­ treffen. Das ökonomisch-technische Naturverhältnis wird oftmals auch als Stoffwechsel des Menschen mit der Natur bezeichnet (z.B. Böhme & Grebe 1985, Fischer-Kowalski & Haberl 1997).21 Mit dieser Stoffwechsel zwischen Mensch und Erde, d.h. die Rückkehr der vom Menschen in der Form von Nahrungs- und Kleidungsmitteln vernutzten Bodenbestandteile zum Boden, also die ewige Naturbedingung dauernder Bodenfruchtbarkeit. Sie zerstört damit zu­ gleich die physische Gesundheit der Stadtarbeiter und das geistige Leben der Landarbei­ ter. Aber sie zwingt zugleich durch die Zerstörung der bloss naturwüchsig entstandenen Umstände jenes Stoffwechsels, ihn systematisch als regelndes Gesetz der gesellschaftli­ chen Produktion und in einer der vollen menschlichen Entwicklung adäquaten Form herzustellen.« (Marx 1867, zit.n. Marx 1977, 528) Ich entnehme den Hinweis auf dieses und auch auf das folgende Marxzitat den Aufsätzen von Boehme & Grebe (1985) und Deneke (1985). 20 Schäfer (1993a) verwendet hierfür den Ausdruck »physiologischer Naturbegriff«. 21 Auch diese Verwendung des Stoffwechselbegriffes für die Umformung der Natur findet sich bei Marx: »Die Arbeit ist zunächst ein Prozess zwischen Mensch und Natur, ^ 31

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Kapitel 1: Einleitung

Bezeichnung wird aber nicht deutlich, dass die menschliche Um­ formung der Natur wesentlich kulturell bestimmt ist, in der tech­ nologischen Zivilisation durch die technologisch-wirtschaftliche Ent­ wicklung. Deneke kritisiert aus diesem Grund die doppeldeutige Verwendung des Ausdruckes »Stoffwechsel« sowohl für den Stoff­ austausch als auch für die gezielte Umformung von Stoff, weil die Umformung als Formgebung mit einem physikalisch-chemischen Stoffwechselbegriff nicht zu beschreiben ist, sondern gerade den kul­ turellen Faktor ausmacht: »Hinzukommen müssen Form- und Pro­ zessbegriffe, die die Systeme bezeichnen, in denen oder zwischen denen Stoffwechsel stattfindet, die angeben, in welchem Entwick­ lungszustand sie sich befinden und welche Entwicklungsperspektive sie besitzen.« (Deneke 1985, 47) Das ökonomisch-technische und das ökologische Naturverhält­ nis sind voneinander abhängig. Denn die erfolgreiche Gestaltung der Natur zum Zweck der menschlichen Bedürfnisbefriedigung ist auf kausalanalytisches Wissen über Ökosysteme angewiesen. Und um­ gekehrt gesehen erfolgt die ökologische Bewertung von Ökosyste­ men im Kontext der Umweltdebatte letztlich unter dem Gesichts­ punkt, die natürlichen Voraussetzungen für die Fortsetzung der menschlichen Zivilisation als ein ökonomisch-technisches System zu erhalten. Doch differieren ökonomisch-technische Bewertungen und ökologische Bewertungen, da ihnen aufgrund der unterschiedli­ chen Funktionen dieser Naturverhältnisse innerhalb der Zivilisation verschiedene Wertsysteme zugrunde liegen. Sowohl das ökologische wie auch das ökonomisch-technisch gestaltende Verhältnis des Men­ schen zur Natur sind durch kulturelle Faktoren geprägte Verhältnisse zur Natur und als solche auch variabel. Daher bestehen nicht nur aufgrund der verschiedenen Naturverhältnisse verschiedene Wert­ systeme zur Bewertung von Natur, sondern auch innerhalb jeder dieser Naturbeziehungen besteht ein Pluralismus an Wertkonzepten.

ein Prozess, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur ausser ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eignen Botmässigkeit.« (Marx 1867, zit.n. Marx 1977, 192) 32

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1.1 Zum Naturverständnis in der Umweltdebatte

Dies gilt auch für das dritte Naturverhältnis, die kontemplative Be­ ziehung zur Natur. Kontemplative Beziehungen zur Natur unterscheiden sich von ökonomisch-technischen und von ökologisch-funktionalen dadurch, dass die Natur im kontemplativen Verhältnis gerade nicht Stoff ist, der ausgetauscht oder der geformt wird. Natur ist weder Ressource noch ein blosser funktionaler Zusammenhang von Strukturen, son­ dern sie ist die selbständige Natur, die als ein symbolischer Wert geachtet oder als schön empfunden wird. In der kontemplativen Zu­ wendung begegnet uns Natur in ihrer Natürlichkeit, d. h. als etwas, »das wir in seinen wesentlichen Formen nicht können und das gleich­ zeitig für ein Verständnis unseres Leben im ganzen unverzichtbar ist« (Mittelstraß 1987, 61). Die kontemplativ als natürlich erfahrene Natur kann einer scholastischen Begrifflichkeit folgend (siehe Mit­ telstraß 1984, 966) als schaffende Natur (natura naturans) verstan­ den werden oder als geschaffene Natur (natura naturata) - und zwar vom Schöpfergott oder in menschlicher Kulturleistung wie z. B. historische Kulturlandschaften, die unter den gegenwärtigen tech­ nischen und ökonomischen Bedingungen wohl kaum noch entstehen könnten. Die Zuschreibung von kontemplativem Wert bezieht sich auf Organismen oder auch auf Landschaften im Sinne einheitlicher Ganzheiten aufgrund von spezifischen Eigenschaften, die sie haben, wie Selbständigkeit, Integrität oder Schönheit. Dies bedeutet dann, dass Natur aufgrund von Eigenschaften als ein Gut verstanden wird, dessen Wertcharakter nicht in einem spezifischen Nutzen als ökono­ misch-technische Ressource oder in ihrer ökologischen Funktion be­ steht. Es ist daher die in der Kontemplation erfahrene natürliche Na­ tur, der ein intrinsischer Wert zugeschrieben wird.22 Doch kann der kontemplative Wert auch als ein kultureller Wert für Menschen auf­ gefasst werden, beispielsweise für Menschen, die die Beziehung zu

22 So der biozentrische Holismus (Callicott 1989), den Leopold 1949 durch den Satz charakterisiert hat: »A thing is right if it tends to preserve the integrity, stability, and beauty of the biotic community. It is wrong if it tends otherwise.« (zit.n. Hampicke 1993, 76). Zur Debatte über intrinsische Werte in der Natur siehe Sprigge (1987). Ich spreche im Folgenden der Einfachheit halber zumeist von einer kontemplativen oder ästhetischen Bewertung der Natur im Zusammenhang mit der kontemplativen Natur­ erfahrung, doch muss es sich dabei nicht um ästhetische, sondern es kann sich auch um metaphysische Werte handeln (siehe Rescher 1980). ^ 33

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Kapitel 1: Einleitung

bestimmten Landschaften oder Lebewesen als naturräumliche Bezie­ hungsdimension ihrer Identität erleben (siehe Kapitel 5.2). Die moralische Bewertung der Natur bezieht sich einmal auf die kontemplativ erfahrene Natur. Natur wird in diesem Fall aufgrund ihrer Selbständigkeit, Integrität oder Schönheit als ein Wert aufge­ fasst. Versteht man den kontemplativen Wert als einen intrinsischen nicht-anthropozentrischen Wert, dann ist er durch seinen Charakter als Selbstwert zugleich auch als moralischer Wert ausgezeichnet.23 Werden kontemplative Werte jedoch anthropozentrisch aufgefasst, dann bedarf es eines zusätzlichen Argumentes, um sie als moralische auszuzeichnen. Dieses Argument sehe ich darin, dass kontemplativ als wertvoll erlebte Natur auch einen moralischen Wert darstellt, wenn sie für ein gutes Leben und ein gerechtes Handeln relevant ist. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn bestimmte Landschaften oder Arten Teil einer kulturellen Identität von Menschen sind (siehe Norton & Hannon 1997). Nun hat aber nicht nur die kontemplativ erfahrene Natur eine moralische Dimension, sondern auch die öko­ nomisch-technische Nutzung der Natur. Auch die ökonomisch-tech­ nische Nutzung natürlicher Resourcen ist grundsätzlich moralisch geboten, da sie für die menschliche Lebensgestaltung unverzichtbar ist: nicht ob, sondern wie ist hier die Frage. Dasselbe gilt für die Natur als Ökosystem: auch deren Erhaltung ist aufgrund der organis­ mischen Verfassung des Menschen, die ihn zu einer Teilstruktur bio­ logischer Systeme macht, geboten. Die moralischen Gebote zur öko­ nomisch-technischen Naturnutzung sowie auch zur Erhaltung von bestimmten Ökosystemenfunktionen beruhen darauf, dass diese für die Erhaltung der Menschen notwendig sind, also auf dem Selbstwert von Menschen. So liegt der Selbstwert der Menschen der mora­ lischen Forderung nach einer gerechten Verteilung der natürlichen Ressourcen innerhalb und zwischen den Generationen zugrunde. Die auf ökologischer Analyse, auf ökonomisch-technischer Nut­ zung und auf kontemplativer Erfahrung beruhenden Bewertungen 23 Anthropozentrische Moralbegründungen rekurrieren auf menschliche Rechte, Inter­ essen oder Werte und schreiben der Natur lediglich einen extrinsischen Wert zu, d.h. nur aufgrund ihrer Beziehung zu Menschen. Nicht-anthropozentrische Moral­ begründungen schreiben der Natur intrinsischen Wert zu, wobei hier zwischen Positio­ nen zu differenzieren ist, die dies lediglich für alle empfindungsfähigen Naturwesen fordern (Pathozentrismus), solchen, die dies für alle Lebewesen fordern (Biozentrismus) und der extremsten Position, die bereits der blossen Existenz intrinsischen Wert zu­ spricht (siehe Birnbacher 1991a, 280ff.). 34

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1.1 Zum Naturverständnis in der Umweltdebatte

der Natur können sich extensional decken: Die unberührte Land­ schaft hat auch einen Erholungswert und erfüllt kontemplative Bedürfnisse. Dies kann strategisch benützt werden, indem der Natur­ schutz vorzugsweise für bestimmte Arten oder schöne Landschaften wirbt, die Menschen Identitätsangebote machen (siehe Yearly 1996). Kontemplative Bedürfnisse lassen sich zudem ökonomisch nutzen, denn Menschen sind bereit, dafür Geld zu bezahlen.24 Nun ist die Umweltdebatte jedoch gerade die Folge davon, dass die Interferenz von kontemplativen, ökonomisch-technischen und ökologischen Be­ ziehungen zur Natur zu Wertkonflikten führt. Die zivilisatorische Nutzung der Natur als Ressource zur menschlichen Bedürfnisbefrie­ digung durch die Umformung von Stoff verändert Stoffwechsel und Strukturen der Biosphäre. Sie bedeutet zudem den Tod für viele Or­ ganismen und die Zerstörung von Landschaften, denen möglicher­ weise in der kontemplativen Erfahrung ein Wert zugeschrieben wird. Obwohl die Interferenz der drei Naturverhältnisse nicht neu ist, wer­ den die damit verbundenen Wertkonflikte erst in jüngerer Zeit als Umweltprobleme interpretiert und zugleich der spezifischen Weise der Naturnutzung der technologischen Zivilisation zugeschrieben. Doch hat auch die Nutzung der Natur in »vortechnologischen« Zivi­ lisationen zu Auswirkungen geführt, die wir aus heutiger Sicht als Umweltprobleme beurteilen (siehe z. B. Sieferle 1993). Im Verhältnis dieser drei Naturbeziehungen zueinander ist die Naturnutzung die dynamische Grösse, für die es moralische Normen zu setzen gilt25, und zwar unter Berücksichtigung ökologischer, öko­ nomisch-technischer und kontemplativer Werte. Dafür wurde 1980 der umweltpolitische Leitbegriff sustainable development26 von in­ ternationalen Umweltorganisationen (siehe IUCN, UNEP & WWF 24 Kontemplativen Werten kann zudem ein Geldwert zugeordnet werden, der sich em­ pirisch über die Zahlungsbereitschaft ermitteln lässt. Zur Anwendung der ökono­ mischen Kosten-Nutzen-Analyse in der Bewertung der biologischen Vielfalt siehe Ran­ dall (1992), zur Kritik siehe Schaber (1996), Leist (1996), Hampicke (1999) und Kapitel 5.2. 25 Dies schliesst den eigendynamischen Anteil einer evolutionär verstandenen Natur nicht aus. Dieser ist aber nicht unmittelbar Gegenstand von Regeln für menschliches Handeln, sondern ist allenfalls als Handlungsbedingung relevant. 26 »Sustainable development« wird deutsch zumeist als »nachhaltige Entwicklung« (Schmidheiny 1992, 27), als »dauerhaft-umweltgerechte Entwicklung« (Rat der Sach­ verständigen für Umweltfragen 1994, 47) oder als »zukunftsfähige Entwicklung« (BUND & Misereor 1996, 24) wiedergegeben. Zur Geschichte des Begriffs siehe z.B. (Harborth 1993), Huber (1995) oder Kastenholz, Erdmann & Wolff (1996). ^ 35

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Kapitel 1: Einleitung

1980, Introduction; WCED 1987, 43) geprägt, die eine gemeinsame Strategie für Schutz und Nutzung der Natur initiieren wollten, die den gegenseitigen Abhängigkeiten von Naturschutz und wirtschaft­ licher Entwicklung in den Entwicklungsländern Rechnung trägt. Im Brundtlandbericht steht »nachhaltige Entwicklung« dann für ein glo­ bales gesellschaftliches Leitbild (siehe Groh 1998). Die Lösung dieser Aufgabe wird zumeist in der Forderung gesehen, bei der Nutzung der Natur den Stabilitätsbedingungen der Ökosysteme Rechnung zu tra­ gen und die Ressourcen sowohl innerhalb einer als auch zwischen verschiedenen Generationen gerecht zu verteilen. In den zahlreichen Definitionen von sustainable development werden vor allem, aber nicht nur, die ökologischen Kriterien betont. So definieren die Um­ weltorganisationen sustainable development als »improving the quality of human life while living within the carrying capacity of supporting ecosystems« (IUCN, UNEP, WWF 1991,10). Der Brundtland-Bericht spricht von »development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs« (WCED 1987, 43), wozu »the environment's ability to meet present and future needs« (WCED 1987, 43) als eine Notwendigkeit zu erhalten ist. Der Business Council for Sustainable Development versteht darunter einen »Wirtschaftsprozess, der lang­ fristig aufrechterhalten werden kann, ohne das >Ökosystem< Erde zu überlasten« (Schmidheiny 1992, 27), und der Rat der Sachverständi­ gen für Umweltfragen fordert »die dauerhafte Ausrichtung der sich fortschreitend entwickelnden Ökonomien an der Tragekapazität der ökologischen Systeme« (Rat der Sachverständigen für Umweltfragen 1994, 47). Die ökologischen Kriterien für die Zulässigkeit anthropogener Veränderungen der Biosphäre werden in den zitierten Definitionen mit der Tragekapazität der Ökosysteme umschrieben. Der Begriff der Tragekapazität bezieht sich hier auf Grenzen der menschlichen Nut­ zung der Natur, die - so die Meinung - durch die Natur vorgegeben sind, wenn die menschliche Zivilisation nicht durch Ressourcenman­ gel gefährdet und ein der menschlichen Zivilisation zuträglicher Zu­ stand der Biosphäre erhalten werden sollen. Die Frage lautet hier: Wieviele Menschen erträgt die Erde unter Berücksichtigung der Be­ dingungen der Stabilität und Dynamik von Ökosystemen? (siehe z. B. Sticher, 1996, Mohr 1996) Zum Problem der Tragekapazität der Biosphäre für die menschliche Population schrieb Thomas Robert Malthus schon 1798: 36

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1.1 Zum Naturverständnis in der Umweltdebatte

»The power of the earth to produce subsistence is certainly not unlimited, but it is strictly speaking indefinite; that is, its limits are not defined, and the time will probably never arrive when we shall be able to say, that no further labor or ingenuity of man could make further addition to it.« (zit. n. Mark! 1991, 127)27

Dass die Tragekapazität der Biosphäre für die menschliche Population grundsätzlich begrenzt, zugleich aber nicht allgemein bestimmbar ist - limited but undefined, wie Markl Malthus zusammenfasst (siehe Markl 1991, 136) - hat damit zu tun, dass sie ein Resultat des Zu­ sammenwirkens ökologischer Faktoren und ökonomisch-technischer Faktoren ist (siehe z.B. Renn 1996).28 Die jeweilige Bestimmtheit ist von kulturellen Faktoren wie der Technologieentwicklung und der sozialen Organisation abhängig, was schon Malthus im obigen Zitat bemerkt. Weil die Tragekapazität der Ökosysteme für die mensch­ liche Population kulturabhängig ist, sind auch die Prinzipien der Ge­ staltung der Zivilisation im Hinblick auf die Berücksichtigung ihrer ökologischen Auswirkungen den Menschen aufgegeben und nicht vorgegeben.29 Die Unterscheidung einer ökologischen, einer ökonomisch­ technischen und einer kontemplativen Beziehungsdimension der menschlichen Zivilisation zur Natur deckt sich nicht mit der gängi­ gen Unterscheidung von Ökologie, Ökonomie und Gesellschaft im Kontext der Diskussion um nachhaltige Entwicklung. Der analy­ tische Grundgedanke der Trias von Ökologie, Ökonomie und Gesell27 Für eine detaillierte Analyse der Transformationen, die Malthus' Bevölkerungstheo­ rie auf dem Weg über das ökologische Konzept der carrying capacity in der Biologie zum umweltpolitischen Begriff der carrying capacity erfahren hat, vergleiche Seidl & Tisdell (1999). 28 Daher wird z.B. auch zwischen Bodenfruchtbarkeit und Ertragsfähigkeit des Bodens unterschieden. Die Bodenfruchtbarkeit umfasst den Wirkungsanteil des Bodens an der Ausbildung des Ertrages, während die Ertragsfähigkeit die erwartete Ertragsleistung eines Bodens unter bestimmten Bedingungen der Bearbeitung, der Düngung, der Be­ wässerung, des Pflanzenschutzes u. a. beschreibt (siehe Sticher 1996, 52f.). Das Problem kompliziert sich dadurch, dass nicht nur die ökonomisch-technischen Faktoren, sondern auch die ökologischen Faktoren variabel sind. 29 So besteht das Grundproblem der Welternährung gegenwärtig nicht in einer natür­ lichen Begrenzung des absoluten Ertrages an landwirtschaftlicher Produktion, sondern zum einen in der Verteilung des Ertrages unter der Weltbevölkerung, also in einem Problem der sozio-ökonomischen Organisation (siehe Oltersdorf & Weingärtner 1996, 24 ff.) sowie zum andern in konkurrierenden Nutzungsinteressen für landwirtschaft­ lichen Boden und der Erhaltung der natürlichen Ressourcen bei der landwirtschaftlichen Nutzung (siehe Worldwatch Institute 1996,104ff.). ^ 37

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Schaft zur Konzeption von nachhaltiger Entwicklung besteht darin, dass drei miteinander in Wechselwirkung stehende Systeme - das Ökosystem, das Wirtschaftssystem und das Gesellschaftssystem miteinander »in Einklang« oder »ins Gleichgewicht« zu bringen sind. Ich betrachte im Folgenden das Problem der Konsistenz bzw. Inkon­ sistenz von drei verschiedenen Bewertungsweisen der Natur, die mit den verschiedenen Beziehungsdimensionen der menschlichen Zivili­ sation zur Natur verbunden sind: ökologische, ökonomisch-tech­ nische und kontemplative Beziehungen. Ökologische Kriterien für die Erhaltung des Zustandes der Biosphäre im Interesse einer nachhaltigen Entwicklung sind dem Be­ griff der Natur als Vielfalt lebendiger Strukturen zufolge, die unter­ einander in funktionalen Zusammenhängen stehen, funktionale Kri­ terien, die die Rolle der betreffenden biologischen Strukturen in einem bestimmten Ökosystem betreffen. Ökologische Bewertungen von biologischen Strukturen sind somit relative Bewertungen. Denn aus dieser Perspektive sind Organismen und andere lebendige Struk­ turen dann und nur dann zu erhalten, wenn ihnen eine bestimmte Funktion in einem Ökosystem zukommt, d. h. aufgrund einer kon­ textbedingten funktionalen Rolle und nicht aufgrund von artspezi­ fischen Eigenschaften, die zur generellen Achtung der betreffenden Individuen verpflichten. Mit der räumlichen und zeitlichen Variabili­ tät von Ökosystemen variiert somit auch, was unter ökologischen Gesichtspunkten zu erhalten ist. Ein ökologisches Argument fordert die Rücksichtnahme auf Individuen nicht aufgrund von ihnen zuge­ schriebenen »Eigenschaften« wie Leidensfähigkeit, Interessen oder Rechten, und es fordert diese Rücksichtnahme auch nicht generell, sondern aufgrund ihrer Funktion in einem bestimmten Ökosystem. Die funktionale Rolle von Arten in einem Ökosystem lässt sich dem Stand der Forschung zufolge aber nur in Ausnahmen wissen­ schaftlich gesichert angeben. Wenn zudem die langfristige Erhaltung von Ökosystemen auch an eine gewisse Dynamik der biologischen Strukturen gebunden ist, dann ist auch die Erhaltung von Individuen bzw. Arten mit biologischen Eigenschaften von potentiell funktiona­ ler Bedeutung gefordert. Was jedoch für die aktuelle funktionale Be­ deutung gilt, trifft auf die potentielle funktionale Bedeutung in ver­ stärktem Masse zu, denn wer »weiss den wirklich, ob nicht sogar das Federgeistchen [die Motte Pterophorus monodactylus] in irgendeiner noch ganz unbekannten Weise eine grosse

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1.1 Zum Naturverständnis in der Umweltdebatte

Rolle im >System< spielt, ob es also wirklich so entbehrlich ist, wie es dem Rechner erscheinen muss. Und, wichtiger noch: Wo steckt denn in der ökolo­ gischen Kalkulation die Bewertung der ungeheuerlichen, aber >ökologisch ir­ relevantem Tatsache, dass das Federgeistchen der einzige Schmetterling ist, der seine wie Vogelfedern gebauten Hinterflügel in der Klapp-Tasche seiner mit Längsscharnieren versehenen Vorderflügel verstecken kann?« (Dahl, 1989, 70)

Dieses Zitat von Dahl soll zeigen, dass die Frage »Welche Natur sol­ len wir schützen?« noch komplexer ist, als Honnefelder (1993) dies darlegt. Honnefelder problematisiert, dass »Natur im Sinne einer ... Orientierungsgrösse [für menschliches Handeln] alles andere als ein­ deutig ist« (Honnefelder 1993, 254 f.), da nicht klar ist, welcher zeit­ liche und welcher qualitative Zustand bewahrt werden soll. Dazu kommt nun aber, dass das Wissen über die langfristige Entwicklung von Ökosystemen und Biodiversität auf Fossilfunden und auf Mo­ dellrechnungen beruht. Ferner sind viele für die Anpassungsfähig­ keit von Ökosystemen an veränderte Bedingungen relevante Fakto­ ren unbekannt.30 Auch wenn daher feststünde, welches Ökosystem wir erhalten wollen, wissen wir damit noch nicht unbedingt, was wir dann genau erhalten sollen, und zwar aufgrund von deskriptiv-ana­ lytischen Mängeln und Problemen der ökologischen Bewertung, nicht aufgrund von Problemen der moralischen Bewertungskrite­ rien. Dahl spricht mit seinem Beispiel jedoch nicht nur Wissensdefi­ zite bezüglich der ökologischen Rolle von biologischen Strukturen an, sondern zudem das Problem, dass Eigenschaften wie die Indivi­ dualität des Federgeistchens, die ein ästhetischer Grund für seine Er­ haltung sein können, nicht von ökologisch funktionaler Bedeutung sind. Natur als Ökosystem verstanden ist von einem kontemplativen Naturbegriff nicht nur intensional verschieden, sondern auch extensional (siehe Güsewell & Dürrenberger 1996). »Die >ganze Land­ schaft ist etwas anderes als intakte Ökosysteme« (Trepl 1994, 3), denn erstere zeichnet sich durch ihren konkreten Ort, ihre Eigenheit und ihre Schönheit aus, letztere durch funktional möglichst red­ undante Stabilitätsbedingungen. Erstere soll als ästhetische Land­ schaft »den Reichtum des Menschseins lebendig gegenwärtig halten, 30 Dies zeigt beispielsweise die für die internationale Umweltpolitik wichtige Modellie­ rung der Klimaentwicklung und ihrer Auswirkungen auf Ökosysteme und Biodiversität (siehe z.B. Kirschbaum & Fischlin 1996). ^ 39

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Kapitel 1: Einleitung

dem die Gesellschaft ohne sie weder Wirklichkeit noch Ausdruck zu gehen vermag« (Ritter 1963, 163)31. Daher rekurriert eine kon­ templative Begründung auch darauf, dass sie Individuen oder auch Landschaften im Sinne einheitlicher Ganzheiten aufgrund von spezi­ fischen Eigenschaften, die sie hahen, einen Wert zuordnet respektive anerkennt. Für die geforderte Zusammenarheit von Ethik und ökologischer Forschung in hezug auf die Formulierung von Normen für die zivili­ satorische Naturnutzung gemäss dem Postulat nachhaltiger Entwick­ lung giht es eine gängige Modellvorstellung. Diesem Modell zufolge liefern moralische Wertsysteme, die auf einen kontemplativen Na­ turhegriff rekurrieren, die moralisch-normative Prämisse zur Be­ gründung der moralischen Pflicht zum Schutz der Natur. Funktiona­ le ökologische Bewertungen hezeichnen sodann den deskriptiven Inhalt, der durch menschliche Naturnutzung hedroht und zu schüt­ zen ist. Beide Schritte zusammen sollen dann ermöglichen, Einzel­ handlungen hzw. Handlungsklassen der menschlichen Naturnutzung hinsichtlich ihrer moralischen Zulässigkeit zu klassifizieren hzw. hestimmte Massnahmen als moralisch gehoten auszuzeichnen.32 Die­ sem Modell folgt heispielsweise Markl, wenn er schreiht, es seien »aus hewertender Sicht der augenhlicklichen Gegehenheiten und vorausseh­ haren Entwicklungen der Mensch-Umwelt-Beziehungen einige ganz präzise Schlussfolgerungen für unser Handeln ahzuleiten, ... die alle in den WennDann-Aussagen naturwissenschaftlicher kausalanalytischer Forschung und aus der Anlegung aussernaturwissenschaftlicher Wertmassstähe hegründet sind.« (Markl 1994, 251)

Die hewertende Sicht soll nach Markl im menschlich-gesellschaftli­ chen Argumentationszusammenhang entstehen, wohei für die Be­ gründung dieser Wertentscheidungen »geisteswissenschaftliche philosophische, theologische und andere umfassend kulturwissen­ schaftliche - Beiträge unentbehrlich sind« (Markl 1994, 252). Dieses Modell ist der Sachlage nicht angemessen. Ein erster grundsätzlicher 31 Siehe dazu auch Seels Analyse des ästhetischen Naturverhältnisses als Kontemplati­ on, Korrespondenz und Imagination (Seel 1996). 32 Die im folgenden ausgeführten Einwände treffen sich mit der allgemeinen Kritik von Nida-Rümelin an dieser traditionellen Methode angewandter Ethik. Nida-Rümelin zielt mit seiner Kritik darauf ah, der »Anwendungsdimension« der Ethik den Status eines konstitutiven Teiles ethischer Theoriehildung zu gehen und schlägt vor, von moraltheo­ retisch heterogenen Bereichsethiken anstatt von angewandter Ethik zu sprechen (siehe Nida-Rümelin 1996, 57ff.). 40

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1.1 Zum Naturverständnis in der Umweltdebatte

Einwand gegen ein solches Modell wurde soeben ausgeführt: ökolo­ gisch-funktionale, kontemplative und ökonomisch-technische Be­ wertungen sind inkommensurabel und können kollidieren. Die Be­ wertung aufgrund eines kontemplativen Naturhegriffes stellt also nicht sicher, dass auf diese Weise zugleich auch ökologisch relevante Strukturen und ökonomisch-technisch wichtige Ressourcen erhalten werden.33 Als ein aussergewöhnliches Beispiel hierfür zitiert Ehren­ feld das ökologisch-funktionale Argument gegen die Ausrottung der Tsetsefliege, das sowohl dem ökonomisch-technischen Interesse der Rindernutzung als auch dem Schutz des Lehens der Rinder wider­ spricht: »Sie [der Ökologe David Owen und unabhängig davon der im Gesundheits­ wesen tätige Wissenschaftler W. E. Ormerod] behaupten, dass die Tsetseflie­ ge, die Überträgerin der Rinderkrankheit Trypanosomiasis, für den Erhalt grosser Teile des subsaharischen Afrikas wesentlich sein könnte, da sie die Rinder aus den für Überweidung und Desertifikation anfälligen Gebieten fernhält.« (Ehrenfeld 1978, 151)

Der zweite Einwand gegen die gängige Vorstellung von Bewertung lautet, dass eine moralische Klassifizierung von Einzelhandlungen bzw. Handlungsklassen der Umweltproblematik nicht angemessen ist. Dies ist erstens deshalb der Fall, weil eine ökologische Bewertung der Auswirkungen menschlicher Naturnutzung von der Norm aus­ geht, dass bestimmte Ökosysteme zu erhalten sind. Daher erfolgt die Bewertung von biologischen Strukturen relativ zu ihrer funktionalen Bedeutung für die Stabilität bestimmter Ökosysteme. Anthropogene Nutzungen, die im einen Fall von einem Ökosystem abgepuffert wer­ den oder gar die Entwicklung der Biodiversität fördern, können in einem anderen Fall das Ökosystem destablisieren oder auf eine nicht gewünschte Weise grundsätzlich verändern (siehe Reichholf 1996). 33 Es geht aus dem Text von Markl allerdings nicht klar hervor, ob er unter dem durch die Geisteswissenschaften zu leistenden Beitrag zur Begründung von Wertentscheidun­ gen den Rekurs auf einen kontemplativen Naturbegriff meint, denn es wäre auch eine anthropozentrische Begründung denkbar. Klarer ist die Sachlage im Falle der These von der moralischen Qualität des Naturschönen als Korrektiv ökonomisch-technischer und ökologisch-funktionaler Bewertungen (siehe z.B. Seel 1996, 228; Lesch 1996, 26). Zwar spricht beispielsweise Lesch von einer »Konvergenzargumentation« sowie auch vom ästhetischen Wert als einem Erweiterungswert zu Begründungszwecken. Doch weist er dem Naturschönen in der Formulierung, dass »der Eigenwert der als schön und schützenswert empfundenen Natur die Nutzenkalküle und Funktionsbestimmungen in die Schranken weist« (Lesch, 1996, 26) eindeutig einen übergeordneten Status zu. ^ 41

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Kapitel 1: Einleitung

Ob eine Nutzung ökologisch schädlich ist oder nicht, hängt somit von den dadurch betroffenen Ökosystemen ab. Hingegen ist der Zweck, zu dem eine Handlung ausgeführt wird und den wir in unsere intui­ tive moralische Beurteilung einbeziehen, ökologisch nicht unmittel­ bar von Bedeutung. Zwar macht es unseren moralischen Intuitionen zufolge einen Unterschied aus, ob eine Autofahrt für die Erhaltung eines Menschenlebens unter den gegebenen Bedingungen für not­ wendig erachtet wird, ob der damit verbundene Zweck auch auf an­ dere Weise erreichbar gewesen wäre oder ob auf ihn auch hätte ver­ zichtet werden können. Von ökologischer Bedeutung ist jedoch nicht der Zweck, sondern es sind die Auswirkungen, die aus seiner Reali­ sierung entstehen. Sodann ist der anthropogene Schaden zumeist nicht einzelnen Nutzungshandlungen zuzuschreiben - abgesehen von den damit ver­ bundenen Problemen der Zuschreibung von bestimmten Folgen zu bestimmten Handlungen -, sondern er entsteht durch die Kumulati­ on von Auswirkungen einer in den Alltag integrierten Nutzungswei­ se, wie dies das Beispiel der Verkehrsmobilität zeigt. Nicht die Um­ weltauswirkungen einer einzelnen Autofahrt destabilisieren Ökosysteme und zerstören Stukturen von Habitaten. Diese Folgen entstehen, weil die technologische Zivilisation in hohem Grade mo­ bilitätsabhängig ist, was in allen alltäglichen Belangen einen hohen Grad von Mobilität mit der entsprechenden Infrastruktur erfordert.34 An diesem Beispiel kann zudem deutlich gemacht werden, dass die technische Normierung von Handlungsweisen und die daran an­ schliessende Festlegung der rechtlichen Zulässigkeit dieser Hand­ lungsweisen alleine in ökologischer Hinsicht ihren Zweck nicht erfüllen. Zwar können beispielsweise Grenzwerte für zulässige Emis­ sionen von Verbrennungsmotoren oder von Feuerungsanlagen ein­ geführt und mit rechtlichen Mitteln für verbindlich erklärt werden. Nimmt jedoch die Häufigkeit der Nutzung zu, dann wird die Wir­ kung, die durch die Effizienz in der Ressourcennutzung erzielt wur­ de, durch die Zunahme der Nutzung kompensiert. Nur mit der Ein­ haltung von Emissionszielen durch die einzelnen Emittenten ist also 34 In der Ethik-Diskussion ist inzwischen auch erkannt, dass sich moralische Probleme der technologischen Gesellschaft auf kollektives Handeln beziehen, was natürlich mit dem Problem der Identifikation oder Konstitution kollektiver Verantwortungssubjekte verbunden ist (siehe z.B. Lübbe 1998; Lenk & Maring 1995; May 1992; May & Hoffmann 1991; Pfeiffer 1988; French 1984). 42

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1.1 Zum Naturverständnis in der Umweltdebatte

nicht sichergestellt, dass die ökologisch relevanten Immissionsziele erreicht werden. Der dritte grundsätzliche Einwand gegen das Modell der Ver­ mittlung von ökologischer, kontemplativer und ökonomisch-tech­ nischer Naturheziehung besagt, dass nicht nur die kontemplative Be­ ziehung zur Natur eine moralische Dimension hat. Denn wenn ein humanes Lehen als Wert geachtet werden soll, dann ist die ökono­ misch-technische Naturnutzung grundsätzlich moralisch gehoten. Der Kern des Orientierungsprohlems, das in der Umweltdehatte an­ gesprochen ist, betrifft somit das Verhältnis von kontemplativ erfah­ renen Werten, ökonomisch-technischen Interessen und ökologisch­ funktionalen Bewertungen. Es handelt sich dahei in allen drei Fällen um kulturell variahle Wertsysteme, die es unter dem Gesichtspunkt einer vernünftigen Zukunft der technologischen Zivilisation zu ver­ mitteln gilt. Dieses Vermittlungsprohlem ist für die Bestimmung und Begründung der verschiedenen Wertsysteme von Bedeutung.35 Das durch die Umweltdehatte ausgelöste Interesse an Naturphi­ losophie ist auf das mit der Umweltdehatte verhundene Orientierungsprohlem hezogen. So sieht Lothar Schäfer in seinem Buch »Das Bacon-Projekt. Von der Erkenntnis, Nutzung und Schonung der Na­ tur« (Schäfer 1993a) eine philosophische Aufgahe darin, dass die Grundverhältnisse, in denen der Mensch steht - zu sich, zu seines­ gleichen und zur Natur - aufgrund der ökologischen Krise nun vom »Gesichtspunkt einer vertretharen Zukunft für menschliches Lehen her ausgelegt und hestimmt werden« müssen (Schäfer 1993a, 28).36 35 Die Vermittlungsprohleme dieser Wertsysteme sind meines Wissens hislang wenig hearheitet. So diskutiert auch Wolters in seiner Kritik der UN-Ethik in der »Konvention üher die Biologische Vielfalt« (UNCED 1992a) zwar Begründungsprohleme der im er­ sten Artikel der Konvention hehaupteten intrinsischen Werthaftigkeit der Natur, aher nicht auch das Verhältnis dieses Wertekonzeptes zu der dort anschliessend genannten ökologischen Werthaftigkeit der Biodiversität und zum instrumentellen Wert der Biodiversität für die Zivilisation (siehe Wolters 1995, 244ff.). Leist spricht von Dilemmata zwischen der Erhaltung von Naturheständen einerseits und den Handlungs- und Lehenshereichen andererseits, in die eine an Nachhaltigkeit orientierte Politik unvermeid­ lich gerät, geht aher auf die moraltheoretischen Fragen dahei nicht ein (siehe Leist 1996, 440ff.). 36 In gleicher Weise heschreiht Gernot Böhme das aktuelle Interesse an Naturphiloso­ phie im Vorwort zu seiner Aufsatzsammlung »Für eine ökologische Naturästhetik«: »Die Grundfrage jeder Naturphilosophie >Was ist Natur?< ist heute durch das sogenann­ te Umweltprohlem motiviert, d.h. dadurch, dass der Mensch sich wieder dessen hewusst geworden ist, dass er unausweichlich selhst Natur ist und in und mit der Natur lehen muss. Die Frage >Was ist Natur?< wird deshalh von der Philosophie transzendental ge­ ^ 43

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Kapitel 1: Einleitung

Naturphilosophische Arbeiten in diesem Kontext befassen sich viel­ mals mit der Geschichte des Naturverständnisses in Wissenschaft, Philosophie und Kultur (z.B. Rapp 1981; Zimmermann 1982; Schwemmer 1987; Honnefelder 1992a; Heiland 1992; Schäfer & Ströker 1993 ff.; Gloy 1995 f.; Schiemann 1996; Groh & Groh 1996; Seel 1996). Diese geschichtliche Distanzierung vom Selbst- und Na­ turverständnis in der technologischen Zivilisation legt es nahe, von einer historischen Verkehrung des Mensch-Natur-Verhältnisses zu sprechen: »während in mythischen Kulturen der Mensch der Natur gehört, gehört in technischen Kulturen ... die Natur dem Menschen« (Mittelstraß 1982b, 66). Das Orientierungsproblem in Bezug auf die Gestaltung der menschlichen Beziehungen zur Natur wird daher häufig auf die zunächst naheliegende Alternative gebracht: »Entweder ist der Schutz der Umwelt im Namen eines Rechts der Natur ge­ boten, oder er ist im Namen unseres Interesses an einer bekömmlichen Um­ welt empfohlen. Entweder, so scheint es, sind die verbindlichen Formen des Lebens dem Menschen durch die Natur gegeben, oder aber sie sind vom Men­ schen auch gegenüber der Natur gesetzt. Entweder, so scheint es, ist die Natur ein Vorbild, oder sie ist ein Nachbild der Kunst.« (Seel 1996, 11 f.)

Beide Optionen sind für die technologische Zivilisation Ende des 20. Jahrhunderts nicht »zukunftsfähig«. Zwar werden die Umwelt­ probleme vielmals so interpretiert, dass es Grenzen der anthropoge­ nen Veränderungen der Natur durch die technologische Zivilisation gibt, die im Interesse der Erhaltung der Zivilisation nicht überschrit­ ten werden dürfen, was gegen ein Verständnis von Natur als blossem Nachbild der Kultur spricht. Doch kann das Verhältnis von Natur­ ordnung und Sozialordnung nicht mehr wie im Rahmen eines my­ thologischen Weltbildes traditionaler Gesellschaften als eine einfache Einheit gedacht werden, in der die Sozialordnung im Rahmen der Naturordnung gesetzt ist, denn die »Zukunft moderner Gesellschaf­ ten, gerade in ihrer Form als technischer Kulturen, liegt nicht in ihrer stellt, d.h. in der Perspektive der Beziehung des Menschen zur Natur. Im Rahmen der durch das Umweltproblem gestellten Aufgaben fällt es der Philosophie zu, das Verhält­ nis des Menschen zur Natur einer gründlichen Revision zu unterziehen.« (Böhme 1989, 8f.) Die These von Böhme, dass Naturphilosophie heute ausschliesslich durch die Um­ weltprobleme der menschlichen Zivilisation veranlasst ist, muss insofern korrigiert wer­ den, als gegenwärtig auch naturphilosophische Fragen von Bedeutung diskutiert wer­ den, die durch Grundlagenprobleme der Naturwissenschaften ausgelöst worden sind, wie z.B. die Diskussion über Fraktale (Mandelbrot 1987) und Chaos (Gleick 1988) oder über Kosmologie (Hawking 1988). 44

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1.1 Zum Naturverständnis in der Umweltdebatte

Vorgeschichte, sondern in dem, was sie, ohne ihre historische Identi­ tät zu verlieren [d. h. wenn sie sich weiterhin als rationale Kulturen verstehen wollen], vernünftig noch werden können« (Mittelstraß 1987, 53). Die Frage ist hier, woran sich die Vernünftigkeit dessen hemisst, was technische Kulturen noch werden können. Am Begriff von Vernünftigkeit, auf den hierfür zu rekurrieren ist, scheiden sich natürlich die philosophischen Geister. Die philosophische Grundkon­ troverse in hezug auf den Begriff der Vernünftigkeit hetrifft die Fra­ ge, oh eine Vernünftigkeit gefordert ist, die in einem Begriff mensch­ licher Vernunft gründet und die insofern in der Tradition der Aufklärung steht, oder oh für diese Vernünftigkeit die Rehahilitation eines metaphysischen Begriffs des Ahsoluten gefordert ist. Im Rahmen metaphysischer Konzeptionen hat der Naturhegriff eine spezifische Doppelhedeutung. Er meint dort zwar einerseits auch den Gegenstand der sinnlichen Anschauung hzw. der Naturwissen­ schaft, d. h. die Gesamtheit der Dinge (hzw. der Systeme oder der Gesetze) der Natur, andererseits aher auch die Natur der Dinge, d. h. ihr Wesen. Diese zweite Bedeutung des metaphysischen Natur­ hegriffes spielt in der Umweltdehatte ein Rolle zur Legitimation mo­ ralischer Forderungen. Denn mit »Natur« ist in dieser zweiten Be­ deutung eine regulative Idee gemeint, kein gegenständlicher Begriff. Ein metaphysischer Standpunkt üherlässt die vernünftige Vermitt­ lung der ökologischen, der ökonomisch-technischen und der kontem­ plativen Beziehungen der menschlichen Zivilisation zur Natur nicht dem gesellschaftlichen Diskurs, d. h. er üherlässt die Verhindlichkeit der vom Standpunkt einer nachhaltigen Entwicklung geforderten Ve­ ränderungen des Produktions- und Konsumverhaltens sowie der Umverteilungen von Ressourcennutzungen nicht dem realdemokra­ tischen Machtspiel der marktwirtschaftlichen Demokratien unter Be­ dingungen der wirtschaftlichen Glohalisierung. Er entzieht diese For­ derungen vielmehr dem Spiel der Interessen durch Rekurs auf eine ahsolute Instanz, die den moralischen Verpflichtungscharakter der­ artiger Forderungen legitimiert. Angesichts der Umweltprohlematik regt sich das von Kant als »Metaphysik als Naturanlage« (KdrV B21) hezeichnete Bedürfnis der menschlichen Vernunft nach Antworten auf Fragen, die durch keinen Erfahrungsgehrauch der Vernunft, sondern nur durch Speku­ lation üher Transzendentes heantworthar sind. Metaphysische Inter­ pretationen der Umweltprohlematik sind daher dem Vorwurf aus­ ^ 45

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Kapitel 1: Einleitung

gesetzt, dass sie letztlich nichts anderes als Versuche der Säkularisie­ rung religiöser Begründungen sind. Wer einen metaphysischen Standpunkt vertritt, argumentiert hingegen damit, dass der Sinn mo­ ralischen Urteilens letztlich an eine absolute Begründungsinstanz ge­ bunden ist. Denn wenn wir eine absolute Begründungsinstanz ableh­ nen, »wenn uns die Annahme, dass unser Bewusstsein eine transzendente Dimen­ sion hat, nicht mehr einleuchtend erscheinen kann, und wenn wir so eine Voraussetzung, was immer wir selbst glauben mögen, insbesondere nicht mehr bei allen anderen als selbstverständlich vorausetzen dürfen, und wenn es gleichwohl richtig ist, dass ein moralisches Urteil nicht empirisch be­ gründet sein kann, scheinen wir in ein noch tieferes Dilemma zu geraten. Von ihrem eigenen Sinn her müssten moralische Urteile sinnlos werden. Was dann aber tun, wenn moralisches Urteilen uns unverzichtbar erscheint?« (Tugendhat 1993, 15 f.)

Wer angesichts der Umweltproblematik der Überzeugung ist, dass eine universell verbindliche Moral unverzichtbar ist, und wer in dem von Tugendhat skizzierten begründungstheoretischen Dilemma denkt, für den liegt es nahe, eine Prämisse dieses Dilemmas durch die Konzeption einer absoluten Vernunft, die dem Vorwurf einer säkula­ risierten Religion standhält, zu widerlegen. Die folgende Arbeit be­ fasst sich mit metaphysischen Interpretationen der Umweltproble­ matik, die dies für sich beanspruchen. Bei der Auseinandersetzung mit diesen Positionen interessieren nicht nur begründungstheoreti­ sche Probleme einer absoluten Instanz, sondern auch die Explikation des Begriffes des Absoluten im Hinblick darauf, was dieser Begriff für die Orientierungsprobleme technologischer Zivilisationen ange­ sichts der Umweltproblematik leistet.

1.2 Fragestellung und Aufbau der Arbeit Die folgende Rekonstruktion und Kritik metaphysischer Interpreta­ tionen der Umweltproblematik ist von zwei Fragestellungen geleitet, die ich das Begründungsproblem und das Anwendungsproblem die­ ser Metaphysik-Konzeptionen nenne. Beim Begründungsproblem geht es im Kern darum, inwiefern ein Gottesbegriff für die Explika­ tion des Begriffs des Absoluten von Bedeutung ist und inwiefern für die Begründung auf Glaubensannahmen rekurriert wird. Mit dem 46

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1.2 Fragestellung und Aufbau der Arbeit

Anwendungsproblem ist gemeint, ob und inwiefern die jeweilige in­ haltliche Konzeption der Metaphysik eine Klärung des Orientie­ rungsproblems in der Umweltdebatte leistet. Hier geht es um die Frage, was die jeweilige Position für die Bestimmung dessen leistet, was wir erhalten sollen und wie wir uns verstehen sollen, wenn wir einen für die menschliche Zivilisation zuträglichen Zustand der Biosphäre erhalten wollen. Die erste Frage betrifft die Moralfundie­ rung, die zweite die Moralbestimmung. In Kapitel 1.1 ist die These ausgeführt worden, dass eine adäqua­ te Antwort auf die Frage der Moralbestimmung nicht dem Modell folgen kann, dass moralische Wertsysteme, die auf einen kontempla­ tiven Naturbegriff rekurrieren, die moralisch-normative Prämisse zur Begründung der moralischen Pflicht zum Schutz der Natur lie­ fern, dass funktionale ökologische Bewertungen sodann den deskrip­ tiven Inhalt bezeichnen, der zu schützen ist, und dass dies schliesslich erlaubt, Einzelhandlungen bzw. Handlungsklassen zum Zweck öko­ nomisch-technischer Nutzungen hinsichtlich ihrer moralischen Zu­ lässigkeit zu klassifizieren. Eine solche Bewertung von Einzelhand­ lungen oder von Klassen von Einzelhandlungen wird nämlich weder dem kumulativen Charakter der Umweltschäden gerecht, noch dem funktionalen Charakter der Umweltproblematik, der in der funktio­ nalen Bedeutung der Auswirkungen von Handlungen in Ökosyste­ men und in der funktionalen Bedeutung von Handlungen in sozialen Systemen besteht. Sodann sind ökologische, ökonomisch-technische und kontemplative Bewertungen vielmals nicht konsistent. Und zu­ dem hat nicht nur die kontemplative Beziehung zur Natur eine mo­ ralische Dimension. Wenn ein humanes Leben als Wert geachtet wer­ den soll, dann ist auch die ökonomisch-technische Naturnutzung grundsätzlich moralisch geboten (siehe Kapitel 1.1). Das Anwendungsproblem, d. h. die Moralbestimmung, ist aus zwei Gründen philosophisch von Bedeutung. Abstrahiert man vom Anwendungsproblem, dann wird erstens verkannt, worin das mora­ lische Problem besteht. Denn dann erscheint umweltbelastendes Handeln als egoistisches unmoralisches Handeln - eine verbreitete Interpretation der sogenannten »Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln im Umweltbereich« (siehe Diekmann & Franzen 1996; Hirsch 1993) -, während unter Berücksichtigung von prinzipiell un­ verzichtbaren ökonomischen Interessen umweltbelastendes Handeln als moralisch geboten erscheint. Der Einbezug der Anwendungsseite zeigt, dass der Grund für umweltbelastendes Handeln oftmals nicht ^ 47

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Kapitel 1: Einleitung

in der Amoralität des Akteurs zu suchen ist, sondern in Ziel- hzw. Wertkonflikten, die zu einer Prioritätensetzung zwingen. Zur Debat­ te stehen die Kriterien dieser Prioritätensetzung. Man verkennt da­ her »das moralische Grundproblem unserer Zeit« (Tugendhat 1993, 26), wenn man dieses Problem als einen Konflikt zwischen dem Mo­ ralisten und dem unmoralischen Egoisten auffasst und nicht als einen Konflikt zwischen verschiedenen Moralkonzepten (siehe Tugendhat 1993, 26). Dazu kommt nun, dass die begründungstheoretische Seite, allei­ ne betrachtet, noch keine moralischen Probleme klärt. Denn »aus der Idee des Begründetseins als solcher kann, wenn man sich darunter überhaupt etwas vorstellen kann, überhaupt nichts Inhaltliches fol­ gen« (Tugendhat 1993, 24). Diese Seite der inhaltlichen Bestimmung dessen, was es zu erhalten gilt, kann zwar nicht unabhängig von den deskriptiv-analytischen Wissenschaften und nicht unabhängig von der gesellschaftlichen Willensbildung beantwortet werden. Sie kann aber auch nicht an diese beiden Instanzen delegiert werden, wenn es um vernünftige Kriterien dafür geht, welche empirischen Zustände und Entwicklungen moralisch wünschenswert sind. In dieser Frage ist die philosophische Reflexion mit angesprochen. Philosophisch kann hier entweder mit einem Begriff menschlicher Vernunft oder mit einer absolut verstandenen Vernunft argumentiert werden. Die folgenden Untersuchungen beziehen sich auf Positionen, die einen Begriff menschlicher Vernunft zur Klärung der Orientierungspro­ bleme in der technologischen Zivilisation nicht nur für ungeeignet halten, sondern darin gerade den geistesgeschichtlichen Grund der Umweltproblematik sehen. Diese Positionen kritisieren die Meta­ physik des Cartesianismus, d. h. die Auffassung, dass »die vom Men­ schen in der Welt und in den Dingen dieser Welt gesuchte Vernunft von ihm selbst herkommen und in die Welt hineingelegt, hinein­ interpretiert werden muss, wenn die Dinge dieser Welt sollen Ver­ nunft annehmen können« (Wiehl 1990a, 61). Die Rehabilitation einer absoluten Vernunft im Sinne einer re­ gulativen Idee der Natur ist für die Klärung der Orientierungspro­ bleme der technologischen Zivilisation angesichts ihrer Umweltpro­ bleme attraktiv. Denn sie zielt auf eine Theorie des Naturganzen, die den Menschen einschliesst. Allerdings kann die einfache Rehabilita­ tion eines aristotelischen oder eines platonischen Naturbegriffes, also eine Metaphysik des selbständigen Naturdinges oder des vom Schöp­ fergott als feste Ordnung hervorgebrachten Naturganzen die Klä48

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1.2 Fragestellung und Aufbau der Arbeit

rang der Orientierungsprobleme der technologischen Zivilisation kaum leisten. Denn die zu klärende Aufgabe betrifft die vernünftige Bestimmung und Vermittlung ökologischer, ökonomisch-technischer und kontemplativer Werte in einer Zivilisation, wobei sowohl die Zivilisation als auch die Natur geschichtlich zu verstehen sind. Diese als Anwendungsproblem bezeichnete Aufgabe bildet den »roten Fa­ den« der folgenden Rekonstruktion und Kritik metaphysischer Inter­ pretationen der Umweltproblematik. Voraussetzung für die Rekon­ struktion der Anwendungsseite ist natürlich die Rekonstruktion der Metaphysikkonzeptionen und ihrer Begründungsprobleme. Diese doppelte Problemstellung werde ich im folgenden an Hans Jonas' metaphysischer Auslegung des Organismus und dem darauf aufbauenden »Prinzip Verantwortung« (siehe Kapitel 2), an Vittorio Hösles objektiv-idealistischer Intersubjektivität (siehe Kapitel 3) und an Georg Pichts Begriff von Humanökologie (siehe Kapitel 4) unter­ suchen. Ich habe mich für diese Autoren entschieden, weil sie sich in bezug auf ihren deskriptiven und ihren metaphysischen Naturbegriff unterscheiden. Jonas geht von einem organismischen Naturbegriff aus, in dem das Absolute präsent ist, und zwar als kosmogonischer Gott, der sich vollkommen selbst entäussert hat. Hösle versteht in den systematischen Teilen seiner Ausführungen unter »Natur« deterministische Kausalgesetze, die er objektiv-idealistisch als Wirk­ lichkeit des Absoluten interpretiert. Bei der Diskussion der Umwelt­ problematik bezieht er sich dann auch auf Ökosysteme und Organis­ men. Picht schliesslich rekurriert auf einen Begriff von Natur als Ökosystem und deutet die Struktur stabiler Ökosysteme als Indi­ viduation des Absoluten im Sinne eines ästhetischen Ideals. Diese Positionen haben also ein unterschiedliches Potential, um die Orien­ tierungsprobleme der technologischen Zivilisation angesichts der Umweltproblematik zu klären. Indem ich mich auf Jonas, Hösle und Picht konzentriere, bleiben andere Autoren, die ebenfalls eine metaphysische Interpretation der Umweltproblematik vertreten, ausser Betracht. Ich denke hier ins­ besondere an Robert Spaemann (siehe Spaemann 1978; Spaemann 1980; Spaemann & Löw 1981) und an Klaus Michael Meyer-Abich (siehe Meyer-Abich 1984, Meyer-Abich 1988, Meyer-Abich 1990). In bezug auf den deskriptiven Naturbegriff, sind diese beiden Positio­ nen allerdings mit Jonas und mit Picht vertreten. Denn Spaemanns Konzeption von Natur stellt eine teleologische Interpretation des in­ dividuellen Organismus dar, während sich Meyer-Abichs Holismus ^ 49

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Kapitel 1: Einleitung

auf die Natur als Ökosystem bezieht. Ich ziehe Jonas und Picht nun Spaemann und Meyer-Abich vor, da erstere ihre Positionen weiter ausgearbeitet haben. Ausser Betracht bleiben zudem Autoren, die einen metaphysikkritischen Naturalismus vertreten wie Lothar Schäfer (siehe Schäfer 1987; Schäfer 1993a; Schäfer 1996) und Gernot Böhme (siehe Böhme 1989; Böhme 1993). Der deskriptive Natur­ begriff dieser beiden Autoren bezieht sich auf den individuellen Or­ ganismus, und zwar den menschlichen, und ist insofern mit Jonas vertreten.37 Zudem erfordern die Probleme eines metaphysikkriti­ schen Naturalismus eine eigene Auseinandersetzung, die nicht mehr in den systematischen Rahmen dieser Untersuchungen gehört. Für Jonas, Hösle und Picht spricht ferner, dass alle drei Autoren von Heideggers Kritik an der neuzeitlichen Subjektivität als Be­ gründungsprinzip für Erkenntnis und für Moral inspiriert sind und in der Konzeption ihrer Metaphysik an Heidegger anschliessen, al­ lerdings in unterschiedlicher Weise. Jonas geht von der existentialen Auslegung des Daseins in »Sein und Zeit« (SUZ, Heidegger 1927) aus. Hösle bezieht sich auf Heideggers Auseinandersetzung mit der Technik, und zwar insbesondere auf die These vom Seinsgeschick (Heidegger 1938; Heidegger 1962). Auch Picht schliesst an die Spät­ philosophie Heideggers im Zusammenhang mit der Technik an, wo­ bei für ihn Heideggers Begriff von Wahrheit als Unverborgenheit zentral ist (Heidegger 1935/36; Heidegger 1938; Heidegger 1962). Heideggers ontologische Gedanken werden jedoch sowohl von Jonas als auch von Hösle und von Picht heidegger-kritisch reformuliert. Denn alle drei Autoren zielen - ganz im Gegensatz zu Heideg­ gers bloss abwertender Kritik der neuzeitlichen Metaphysik der Sub­ jektivität - auf eine Orientierungsstiftung in der technologischen Zivilisation. Jonas und Picht entwerfen einen je verschiedenen le­ 37 Schäfer verfolgt mit seinem auf den menschlichen Organismus bezogenen empi­ risch-physiologischen Naturbegriff eine dezidiert gegen Jonas gerichtete metaphysik­ kritische Intention (siehe Schäfer 1993a). Böhme bezieht sich im Rahmen einer kultu­ rell-ästhetischen Interpretation der Natur auf den »Leib als die Natur, die wir selbst sind« (siehe Böhme 1993; Böhme 1989), und an dem wir das destruktive Auseinander­ treten von Personsein einerseits und Selbstsein als Natur andererseits erfahren. Honnefelder hingegen vertritt keinen Naturalismus, denn er bezieht sich auf die psychophysi­ sche Natur des Menschen als Kriterium moralischen Handelns nur insofern als die Berücksichtigung psychophysischer Bedürfnisse Voraussetzung für ein sittliches Sub­ jektsein ist. Die Sittlichkeit gründet jedoch für Honnefelder in der Natur des Menschen als Person - nicht als Organismus (siehe Honnefelder 1992b). Daher gehört seine Po­ sition nicht in diesen Kontext. 50

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1.2 Fragestellung und Aufbau der Arbeit

bensphilosophisch gewendeten Existentialismus und stellen damit der Metaphysik begrifflicher Erkenntnis eine metaphysische Sinn­ gebung der individuellen Existenz entgegen. Hösle hingegen setzt Heideggers Technikkritik nicht existenz- bzw. lebensphilosophisch fort, sondern bindet diese Kritik an der neuzeitlichen Subjektivität wieder in die Metaphysik-Tradition ein, und zwar in eine Konzeption des absoluten Geistes im Anschluss an Hegel. Die Umweltproblematik ist für alle drei Autoren ein Indiz dafür, dass die neuzeitliche Subjektivität ein Seinsprinzip verletzt. Die Ori­ entierungsprobleme der technologischen Zivilisation angesichts ihrer Umweltprobleme sind aus ihrer Sicht nur auf der Grundlage einer Ontologie zu klären, die die menschliche Vernunft an eine ab­ solute Vernunft zurückbindet. Daher setzt eine kritische Rekon­ struktion der jeweiligen Interpretationen der Umweltproblematik die Rekonstruktion der Position voraus, auf der sie beruht. Ich folge dabei ihrem Aufbau, um der philosophischen Intention und der me­ thodischen Ausarbeitung der Position bei meiner Kritik gerecht zu werden. Ich zeige dabei auf, inwiefern deskriptive oder regulative Naturbegriffe eingehen und welche Schwierigkeiten damit verbun­ den sind. Eine zusammenfassende Diskussion unter dem Gesichts­ punkt der involvierten Naturbegriffe erfolgt jeweils in den Zusam­ menfassungen am Kapitelende sowie in der Zusammenfassung aller drei Positionen im Schlusskapitel (siehe Kapitel 5.1). Dies ermöglicht es, einzelne Kapitel auch nur im Überblick zu lesen, wenn die zum Teil umfangreicheren Rekonstruktionen, in denen die Probleme im einzelnen ausgearbeitet sind, nicht im Detail interessieren. Da die Ausarbeitung der Thematik und auch der Charakter der Texte bei Jonas, Hösle und Picht verschieden sind, fallen die Rekon­ struktionen unterschiedlich aus. Am ausführlichsten ist die Unter­ suchung von Jonas (siehe Kapitel 2). Jonas hat mit dem systematisch ausgearbeiteten Werk »Das Prinzip Verantwortung« (PV 1979) die moralische Seite der Umweltdebatte wesentlich geprägt. Verant­ wortung ist - als Appell - zu einem moralischen Leitbegriff in der Umweltdebatte geworden. Der Imperativ seiner Ethik für eine tech­ nologische Zivilisation - »Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden« (PV, 36) hat der moralischen Grundhaltung der Verantwortung für künftige Generationen, die hinter dem politi­ schen Leitbegriff der nachhaltigen Entwicklung steht (siehe z.B. WCED 1987, Rat der Sachverständigen für Umweltfragen 1994), ^ 51

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Kapitel 1: Einleitung

den Weg bereitet.38 Innerhalb der Fachphilosophie ist Jonas' ontolo­ gische Ethik zumeist auf Kritik gestossen, insbesondere aufgrund von Begründungsproblemen. Dabei wurde jedoch auf eine systema­ tische Rekonstruktion von Jonas' Metaphysik, deren Ausarbeitung Gegenstand von Jonas' philosophischem Gesamtwerk ist, verzich­ tet.39 Diese Metaphysik ist für die Klärung von Jonas' Verantwor­ tungsbegriff jedoch notwendig und nimmt im folgenden einen grösseren Umfang ein. Bei Hösle (siehe Kapitel 3) ist die philosophische Interpretation der Umweltproblematik lediglich programmatisch in Aufsätzen skiz­ ziert. Hösle kennt die Arbeiten von Jonas und ist davon stark beein­ flusst. Auch Hösle vertritt eine metaphysische Ethik, sieht die Grundlage dafür jedoch nicht in einer lebensphilosophisch-kosmogonisch interpretierten Ontologie des Organismus, sondern in einer objektiv-idealistisch gedeuteten Intersubjektivität und versteht sich insofern auch als Jonas-Kritiker. Die Konzeption seiner Metaphysik ist im wesentlichen der Versuch einer Verbindung von Hegels objek­ tivem Idealismus und Apels Transzendentalpragmatik. Hösle hat das begründungstheoretische Kernargument seiner Position ausgearbei­ tet. Die Ausführung der Metaphysik ist jedoch noch Programm, und die Interpretation der Umweltproblematik findet sich in verschiede­ nen Aufsätzen eher thesenartig angedeutet. Das Potential der objek­ tiv-idealistischen Intersubjektivität für die Klärung der Umwelt­ debatte muss unter Bezug auf die Grundgedanken von Hösles Position beurteilt werden. Daher ist auch für die Analyse von Hösles Interpretation der Umweltproblematik eine Rekonstruktion seiner Position unverzichtbar. Pichts Begriff von Humanökologie hingegen lässt sich im we­ sentlichen auf der Grundlage eines umfangreichen Essays mit dem Titel »Ist Humanökologie möglich?« (IHM, in OF, 14-123) rekon­ struieren. Der Bezug auf das Gesamtwerk, das bei Picht aus publizier­ ten Vorlesungen und aus Aufsätzen bzw. Reden besteht, erfolgt hier nur selektiv zur Explikation gewisser Gedankengänge (siehe Kapitel 4). Picht hat wie auch Jonas bei Heidegger studiert. »Ist Human­ ökologie möglich?« und »Das Prinzip Verantwortung« sind beide 38 Damit ist allerdings ein grundlegender Bedeutungswandel verbunden, da Jonas' Überlegungen im Unterschied zum Konzept nachhaltiger Entwicklung nicht an Gerech­ tigkeitsprinzipien orientiert sind (siehe Kapitel 2.5.4). 39 Erst jüngst sind dazu zwei Dissertationen erschienen (siehe Jakob 1996; Wille 1996). 52

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1.2 Fragestellung und Aufbau der Arbeit

1979 erschienen. Eine gewisse konzeptionelle Gemeinsamkeit liegt im Verantwortungshegriff. Picht hat bereits in einem Aufsatz von 1967 »Der Begriff der Verantwortung« (BV) im wesentlichen den selben Strukturzusammenhang beschrieben, der sich hei Jonas 1979 in PV findet. In den Texten finden sich keine Hinweise darauf, dass sich Jonas und Picht philosophisch miteinander befasst haben, persönlich haben sie sich nicht gekannt.40 Alle drei Positionen können die Begründungsprobleme einer ab­ soluten Vernunft letztlich nicht philosophisch lösen. Zudem schei­ tern sie aus systematischen Gründen an der Frage der Moralbestim­ mung. Denn Umweltprobleme gehen auf intrinsische Zielkonflikte kollektiven Handelns zurück, die sich aus der funktionalen Organi­ sation und Dynamik der Gesellschaft sowie auch der Ökosysteme kontextabhängig ergeben. Gefragt sind deshalb Kriterien für ver­ nünftige Entscheidungen bei kontextabhängigen Zielkonflikten und nicht absolute abstrakte Gebote. Damit ist die These, dass die Orien­ tierungsprobleme der technologischen Zivilisation angesichts der von ihr verursachten Umweltprobleme die philosophische Rehabili­ tation eines Begriffes absoluter Vernunft erfordern, zurückgewiesen (siehe Kapitel 5.1). Das Thema »Natur und Moral in der Umweltdebatte« ist auf­ grund dieser Kritik für die Philosophie jedoch nicht hinfällig gewor­ den. Es ist ein Verdienst von Jonas, Hösle und Picht, dass sie gewisse Probleme auf die Agenda der Philosophie gesetzt haben, auch wenn ihre philosophische Auseinandersetzung mit diesen Fragen nicht überzeugt. Ich nehme deshalb abschliessend die in der Einleitung skizzierten Überlegungen nochmals auf, um die Rolle von Natur­ begriffen in moralphilosophischen Analysen der Umweltproblematik zu diskutieren (siehe Kapitel 5.2). Im Gegensatz zu den drei analy­ sierten Positionen lautet meine These, dass sich die Relevanz von Naturbegriffen in der moralphilosophischen Analyse der Umwelt­ problematik nicht aufgrund von Problemen der Moralbegründung ergibt, sondern dass sie primär bei der Moralbestimmung von Bedeu­ tung sind. Da aber die Antworten auf Fragen der Moralbestimmung nicht unabhängig von begründungstheoretischen Fragen sind und umgekehrt, sind diese auch hier nicht irrelevant. Doch lassen sich

40 Ich verdanke diese Mitteilung Constanze Eisenbart, der langjährigen Mitarbeiterin von Georg Picht. ^ 53

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Kapitel 1: Einleitung

diese begründungstheoretischen Fragen nicht durch einen regulati­ ven Naturhegriff lösen, wie das Resultat der Rekonstruktionen zeigt. Bei diesen abschliessenden Bemerkungen kann es sich nicht um den Entwurf eines alternativen moraltheoretischen Ansatzes han­ deln, denn die Grundlagen dafür lassen sich nicht aus der Rekon­ struktion und Kritik der Positionen von Jonas, Hösle und Picht ge­ winnen. Es handelt sich lediglich um eine Richtungshestimmung für die Diskussion und um eine Liste von Aufgaben, die im Hinblick auf die moralische Beurteilung und Begründung von Handlungen ange­ sichts ihrer Auswirkungen auf die Natur zu bearbeiten sind. Ich stelle zu diesem Zweck die Moralbestimmung ins Zentrum, indem ich frage, wie die moralischen Probleme verfasst sind und wie Natur­ begriffe moralphilosophisch bei der Bestimmung von Kriterien mo­ ralischen Handelns relevant werden, und verweise dabei auf be­ gründungstheoretische Probleme, die sich stellen. Jonas, Hösle und Picht haben erkannt, dass alles Handeln physische Dimensionen hat, nicht nur das intentional auf Natur bezogene. Die Probleme der Be­ stimmung der Kriterien moralischen Handelns sowie auch der Aus­ weis ihrer Objektivität sind deshalb nicht Probleme, die im Rahmen einer angewandten Umweltethik hinreichend geklärt werden können. Sie werfen auch Probleme der normativen Ethik auf, die es in dieser Diskussion vermehrt aufzugreifen gilt.

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Kapitel 2

»Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden« Hans Jonas’ ontologische Ethik für die technologische Zivilisation

2.1 Einleitung Hans Jonas publiziert 1979 im Alter von 76 Jahren ein Buch mit dem Titel »Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die tech­ nologische Zivilisation« (PV), das ihm rasch in der breiten Öffent­ lichkeit als Mahner angesichts der globalen Umweltprobleme Ach­ tung verschafft. 1987 wird ihm der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen, denn »Frieden gründet auf Verantwortung« (WPE, 32), so der Stiftungsrat. Rezipiert wird in der Öffentlichkeit jedoch nicht seine Philosophie, sondern das Schlagwort »Verantwor­ tung«, seine Devise vom Vorrang der schlechten vor der guten Pro­ gnose angesichts von nicht abschätzbaren Folgen technologischer Projekte sowie seine Zweifel, ob die Demokratie eine geeignete Staatsform für die von ihm geforderte gesellschaftspolitische Reakti­ on auf die globalen Umweltprobleme ist. Einfluss auf den Gang der Geschichte hat Jonas seiner Selbsteinschätzung zufolge nicht. Ein In­ terview, das die Zeitschrift »Spiegel« mit Jonas 13 Jahre nach dem Erscheinen von PV anlässlich der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992 führt, erscheint unter der Über­ schrift »Dem bösen Ende näher« (BEN). Jonas hat ohne Zweifel wesentlich dazu beigetragen, dass auch die Fachphilosophie begonnen hat, sich mit der Umweltproblematik der technologischen Zivilisation auseinanderzusetzen. Er hat den Verantwortungsbegriff auf die Agenda der Moralphilosophie gesetzt, ^ 55

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ohne dass sich allerdings seine Position bislang in dieser Sache durch­ gesetzt hätte. Es hat sich noch keine »Jonas-Schule« gebildet. Nicht nur entschiedene Gegner was die Einschätzung der Umweltproble­ matik als Orientierungsproblem der technologischen Zivilisation be­ trifft, sondern auch Befürworter wie Karl-Otto Apel (Apel 1975) kri­ tisieren Jonas' Thesen zur Verantwortung in der technologischen Zivilisation und sehen sich zu eigenen Beiträgen zur Umweltproble­ matik herausgefordert.1 »Prinzip Verantwortung« ist Ziel und systematischer Abschluss von Jonas' philosophischem Werk, dessen Kern in einer Ontologie besteht (siehe Kapitel 2.2). Trotz der breiten Rezeption und Kritik von PV ist die Rekonstruktion von Jonas' Ontologie bislang noch ein Desiderat, und obwohl sie für das Verständnis und die Beurtei­ lung von Jonas' Konzeption von Verantwortung in der technologi­ schen Zivilisation unverzichtbar ist.2 Diese Rekonstruktion von Jonas' Ontologie soll im folgenden vorgenommen werden um auf­ zuzeigen, welche Fragestellung Jonas unter dem Titel »ontologische Ethik« angeht. Ich folge im Aufbau der Kapitel der systematischen Ausarbeitung von Jonas, um den philosophischen Grundgedanken und seine methodischen Ausarbeitung darzulegen. Meine Kritik dar­ an soll deutlich machen, dass dieser Grundgedanke sowohl an seinen Begründungs- als auch an seinen Anwendungsproblemen scheitert. Zunächst zeige ich auf, wie Jonas das ontologische Paradigma des Organismus als eine Kritik und Gegenposition zu Heideggers Da­ seinsanalyse und zum Dualismus der Gnosis einführt (siehe Kapitel 2.3) und behandle dann ausführlicher die damit verbundene lebens­ philosophische Position des integralen Monismus (siehe Kapitel 2.4). Der Seinsbegriff und in diesem Zusammenhang auch der Verantwor­ tungsbegriff sind Gegenstand von Kapitel 2.5. Die Rekonstruktion von Jonas' Ontologie und ihrer Begründungsprobleme in Kapitel 2.3 bis Kapitel 2.5 zeigt, dass Jonas im Kern auf einen kontemplativen Naturbegriff rekurriert, den er in einer anthropomorphen Auslegung des Organismus als sich selbst erhaltendes Sein gewinnt. In einem zweiten Schritt interpretiert Jonas sodann die Selbsterhaltung des 1 Das belegen beispielsweise die Beiträge in dem von Dietrich Böhler herausgegebenen Sammelband »Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas« (Böhler 1994). 2 Auf die Bedeutung der Ontologie verweisen beispielsweise Gethmann-Siefert (1993) und Hösle (1994). In jüngerer Zeit sind nun dazu zwei Dissertationen erschienen (Jakob 1996; Wille 1996). 56

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2.2 Der Charakter von Jonas’ Werk und das Thema »Verantwortung«

Individuums als Gut an sich, und zwar unter Rekurs auf einen kosmogonischen Mythos, demzufolge das Sein von Lebewesen als Weise der Immanenz Gottes in der Welt zu deuten ist. Diese zweite Inter­ pretation soll den kategorischen Imperativ von Jonas' Zukunftsethik begründen. Die Zusammenfassungen zu den Kapiteln 2.3 bis 2.5 he­ ben den roten Faden der Argumentation hervor und erlauben es, die teilweise detaillierten Analysen auch zu überspringen. In Kapitel 2.6 diskutiere ich sodann, was Jonas' Konzeption von Verantwortung in der technologischen Zivilisation zur Klärung der Umweltproblematik beiträgt. Hier gehe ich auf die Anwendungspro­ bleme ein. Jonas rekurriert in seiner Analyse der technologischen Zivilisation und der damit verbundenen Umweltprobleme zwar auf einen ökologischen sowie auf einen ökonomisch-technischen Natur­ begriff. Der normativ verwendete kontemplative Naturbegriff der ontologischen Ethik bietet jedoch keinerlei Grundlage für die Moral­ bestimmung angesichts der Wertkonflikte, die sich aufgrund funk­ tionaler Zusammenhänge in der technologischen Zivilisation und in natürlichen Ökosystemen ergeben.

2.2 Der Charakter von Jonas’ Werk und die Stellung des Themas »Verantwortung« im Gesamtwerk Die philosophische Entwicklung von Jonas ist mit seiner Biographie verknüpft. Jonas wird am 10. Mai 1903 in Mönchengladbach als Sohn eines jüdischen Textilkaufmanns geboren. Noch als Schüler wird er Zionist. Er studiert 1921 in Freiburg im Breisgau bei Husserl und Heidegger, von 1921 bis 1923 in Berlin bei Spranger, Troeltsch und E. Meyer und von 1924 bis 1928 in Marburg bei Heidegger und Bult­ mann, wo er auch 1928 mit der Arbeit »Der Begriff der Gnosis« (Jonas 1930a) promoviert. 1933 verlässt Jonas Deutschland und geht über London, wo er 1934 den ersten Teil von »Gnosis und spätantiker Geist« (GSG1) abschliesst, nach Jerusalem. Von 1940 bis 1945 ist er Soldat der britischen Armee in der Jewish Brigade Group, von 1948 bis 1949 Soldat der israelischen Armee. Jonas verlässt 1949 den Mi­ litärdienst und auch Israel um, wie er in einem Interview mit An­ dreas Isenschmid 1987 sagt, »wieder die Langweiligkeit der Norma­ lität um mich zu haben«, die es für ein Forscherleben braucht, das er 1934 abgebrochen hatte. Er nimmt 1949 seine akademische Tätigkeit als Fellow an der McGill-University in Montreal, Kanada, auf, ist von ^ 57

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Kapitel 2: Hans Jonas’ ontologische Ethik für die technologische Zivilisation

1950 bis 1955 Fellow an der Carleton-University in Ottowa und dann von 1955 an Professor an der New School of Social Research in New York. Seine Publikationen betreffen von nun an zur Hauptsache die Philosophie der Biologie und die Ethik. Er stirbt am 5. Februar 1993 in der Nähe von New York. Jonas spricht in einem 1986 gehaltenen Vortrag zur 600-JahrFeier der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg mit dem Titel »Wissenschaft als persönliches Erlebnis« (WPE) von »drei Etappen meines theoretischen Lebensweges ... Da war die Bemühung um die spätantike Gnosis im Zeichen der Existenzanalyse; dann die Begeg­ nung mit den Naturwissenschaften auf dem Wege zu einer Philosophie des Organismus; zuletzt die Wende von der theoretischen zur praktischen Phi­ losophie - d. h. zur Ethik - in Erwiderung auf die immer unüberhörbarer ge­ wordene Herausforderung der Technik.« (WPE, 11)

Der Ausdruck »Etappen« signalisiert, dass diese auf den ersten Blick ganz verschiedenen Themenkreise für Jonas einen gemeinsamen Be­ zugspunkt haben. Trotzdem sieht er keinen Gesamtzusammenhang in seinem philosophischen Werk. In einem 1993 publizierten Inter­ view mit der Deutschen Zeitschrift für Philosophie sagt er: »Es gibt gewisse Hypothesen darüber, die mehr von anderen stammen als von mir selbst - Interpretationen, die da einen Zusammenhang herstellen wollen. Was mich selbst betrifft, wäre hier der einzige Zusammenhang der, dass ich eine Sache fallengelassen habe - die Weiterarbeit an dem Gnosis-Werk und dem religionsgeschichtlichen Feld überhaupt - und mich zugewandt habe den permanenten Problemen der Philosophie, der Stellung des Menschen im Sein, der Interpretation des Verhältnisses von Natur, Leben und Geist.« (BEN, 27)3

Nun ist aber der Wechsel von der Religionsgeschichte zur systemati­ schen Philosophie, und zwar zur Ontologie und in der Folge zur Ethik das Ergebnis der Gnosis-Arbeiten. Denn dieser Wechsel ergibt sich aus der Auseinandersetzung mit Heideggers Daseinsanalyse in »Sein und Zeit« (SUZ), die die methodische Grundlage von Jonas' Gnosis­ 3 Positiv äussert er sich zu dieser Frage einmal dahingehend: »Wenn ich trotzdem rückschauend auf den ganzen Weg zusammenfassen soll, was mich im Erkenntniswillen bewegt hat und was mir aus dem Erkannten zum Erlebnis wurde, so war es zuerst Ver­ gangenes, das im Wissen gegenwärtig gemacht zu werden verdient; dann Immer-schonGegenwärtiges, das Leben in seiner bleibenden Beschaffenheit, das von sich selbst ver­ standen werden will; zuletzt die Zukunft im Licht der Sorge um sie, als drohende und abzuwendende, als bedrohte und zu wahrende.« (WPE, 30f.; kursiv im Original) 58

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2.2 Der Charakter von Jonas’ Werk und das Thema »Verantwortung«

arbeiten bildet. Es ist hier aufschlussreich, Jonas' eigener Darstellung seiner philosophischen Entwicklung in seinen autobiographischen Vorträgen und Gesprächen (siehe WPE, EV, PRV u. a.) in Auszügen zu folgen. Jonas spricht von seinem »besonderen jüdischen Interesse« (WPE, 12) an religionsgeschichtlichen Fragen während der Gymna­ sialzeit sowie von einer ersten philosophischen Lektüre in dieser Zeit - Kants »Grundlegung der Metaphysik der Sitten«, die er in WPE dahingehend kommentiert, »dass mindestens, auf die eigene Zukunft hin gesehen, das Studium der Philosophie, zu dem ich mich mehr und mehr entschloss, das gleichzeitige der Religion oder der Religio­ nen nicht ausschloss« (WPE, 13). In EV macht er zur Bedeutung sei­ ner frühen Kant-Lektüre eine weitergehende Aussage: »Ich stiess auf Kants >Grundlegung zur Metaphysik der Sitten< ... Und ich weiss heute noch den ersten Satz auswendig, der wie ein Donnerwort durch mein Leben geklungen hat ... >Es ist nichts in der Welt noch auch ausserhalb derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung könnte für gut gehal­ ten werden als einzig ein guter Wille.< Das ist ein enormer Beginn des Trak­ tates über die Lehre von der Sittlichkeit. Das hat mich ungeheuer zum Nach­ denken gebracht.« (EV, 28)

Diese autobiographischen Bemerkungen über Kants Metaphysik der Sitten und über Religionsgeschichte sind aufschlussreich. Jonas ver­ steht nämlich seine ontologische Ethik als ein dezidiertes Gegenpro­ gramm zu einer willenstheoretischen Ethik und entwickelt seinen ontologischen Wertbegriff als eine sogenannte Entmythologisierung manichäischer Lehren über die Kosmogonie (siehe UHE; Kapitel 2.4.2 und Kapitel 2.5.3). Der von Jonas in diesem Zusammenhang geprägte Begriff der Entmythologisierung (siehe Kapitel 2.3) bein­ haltet eine bestimmte Auffassung der Auslegung von Dogmen. Der methodische Grundgedanke besagt, dass das in einem Dogma »ge­ meinte Menschliche, und, ja ... Existentielle, das, was das mensch­ liche Dasein und Leben betrifft, herausgeholt werden kann aus der Verschalung des Dogmas« (EV, 50), und zwar um »den subjektiven Gehalt herauszuholen, der überhaupt dazu geführt hat, dass so ein Dogma gebildet wurde« (EV, 50). Das Studium selbst war für Jonas vor allem durch Husserl, Hei­ degger und Bultmann, geprägt, denn an den grossen Lehrern »erlebte man das Wesen des Faches ..., in ihnen verkörperte es sich. Man wurde >Schüler< in einem ganz besonderen Sinn; und etwas wie ein ^ 59

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Emanzipationsprozess wurde später nötig, wollte man es nicht sein Lehen lang Weihen.« (WPE, 14; siehe EV, 41 f.) Diese Bemerkung gilt in erster Linie für das Verhältnis zu Heidegger. Die Art und Weise, in der Jonas die persönliche Wirkung von Heidegger - den »lange für mich entscheidenden Lehrer« (WPE, 14) - heschreiht, zeigt an, dass es hier der Emanzipation aus einer intellektuellen Ahhängigkeit hedurfte: »Ich werde manchmal gefragt, worin eigentlich das Geheimnis von Heideg­ gers Lehrerwirkung hestand. Von >Geheimnis< darf man sprechen, denn man geriet in seinen Bann, noch ehe man ihn verstand. So wenigstens erging es mir. In meinem ersten Semester, Sommer 1921 in Freihurg, fand ich mich in Heideggers Anfängerseminar üher Aristoteles' >De AnimaUrerlehnis< nannte ... Der Text war jung, nicht alt; jetzig, nicht ehemalig. Durch die Üherlagerung tausendjähriger Tradition hindurch sollte das ursprüngliche Fragen und Sagen des Aristoteles freigelegt, mit ihm das anfängliche Fragen der Philosophie üherhaupt wiedergewonnen und nachvollzogen werden und das nicht aus antiquarischem Interesse, sondern um selher neu anfangen zu können.« (WPE, 14f.)4

Dieses »ursprüngliche Fragen und Sagen« zieht Jonas in Heideggers Bann, dies fasziniert ihn an Heideggers Vorlesungsstil: »Nicht fertige Lehre wie hei Husserl wurde vorgetragen, das arheitende Denken selhst wurde laut, im stockenden Monolog sich vortastend zur verhorgenen Sache« (WPE, 15). Auch Jonas' Philosophie strahlt etwas von der Amhition, selhst neu anzufangen, aus. Jonas' erstes philosophisches Arheitsgehiet - die spätantike Gnosis - ist von Bultmann und von Heidegger geprägt. Durch Bult­ mann entdeckt Jonas dieses religionsgeschichliche Thema.5 Was die 4 Weder Husserl noch Bultmann ühen auf Jonas eine Faszination aus, die einen Eman­ zipationsprozess gefordert hätte. Üher die Bedeutung von Husserl äussert er sich in einem 1992 gehaltenen Vortrag (PRV) dahingehend, dass »die Phänomenologie für den werdenden Philosophen eine wunderhare Schule seines Handwerks ist« (PRV, 12), denn »sie hefreite die Sache der Intuition von dem Geruch der Irrationalität, der ihr von der Mystik her anhaftete« (PRV, 12f.). Das Verhältnis zu Bultmann heschreiht Jonas in seinem Vortrag zu Bultmanns Gedenkfeier 1976 rückhlickend als eines zwischen ehenhürtigen Partnern (WPE, 48), als »Zwiegespräch ... von Philosoph zu Theologe, von Jude zu Christ, vor allem aher: von Freund zu Freund« (WPE, 75). 5 Jonas schreiht dazu: »Mit dem Neuen Testament lernte ich durch Bultmann auch dessen geistige Umwelt kennen, die Geschichtshühne des Urchristentums, und damit das Thema das mich so lange in Bann halten sollte. Welche Zufälle des Lehens, die Schicksal werden! Es war die Episode eines (unmässig langen) Seminarreferates, üher 60

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Gnosis jedoch in der Folge zu einem nicht enden wollenden For­ schungsprojekt für Jonas werden liess6 ist nicht ihre religions­ geschichtliche Bedeutung, sondern dass Jonas das existentialphilosophische Grundthema der »Angst als Antwort der Seele auf ihr In-der-Welt-Sein« (OF, 302) bereits in der gnostischen Literatur ar­ tikuliert findet: »Sie [die Gnosis] nahm mich gefangen - auf viele Jahre, wie sich herausstel­ len sollte. Sie, bis dahin Domäne des Kirchen- und Dogmenhistorikers oder allgemein der Religionswissenschaft, fesselte mich philosophisch. Wieso? ... Es war dies Erlebnis: Beim Eintauchen in die Texte hörte ich daraus Stimmen, für die Heideggers Daseinsanalyse, aber auch das geistige Klima der Zeit überhaupt, mir das Ohr geschärft hatten.« (WPE, 16; kursiv im Original)

Die Deutung dieser Angst wird zur philosophischen Problemstellung von Jonas. Denn er verbindet diese Angst mit einem »Dualismus von Geist und Natur«, den es in einer neuen Metaphysik zu überwinden gilt. Er deutet die gnostischen Mythen als »das Erlebnis eines im Kerne ausserweltlichen, aber der Welt verfallenen und aus ihr sich wiedergewinnenden Selbst« (WPE, 17). Von philosophischer Bedeu­ tung hält Jonas diesen Deutungsansatz für die Ontologie und für die Anthropologie. Er sieht ihre Relevanz »einmal denkgeschichtlich als Gipfelpunkt, ja Ausschweifung alles Dualis­ mus, der die Metaphysik und Religion von jeher verführt hatte; aber mehr noch existentiell als Extremfall einer Krise menschlichen Selbst- und Seins­ verständnisses, einer Entzweiung von Mensch und Welt, Natur und Geist, Welt und Gott, deren blosse Möglichkeit etwas über den Menschen aussagt, also über uns selbst.« (WPE, 17f.)

Diesen Dualismus diagnostiziert Jonas nun auch in Heideggers Da­ >Gotteserkenntnis< im Johannesevangelium und Bultmanns lebhafte Ermunterung, dies weiter zu verfolgen, die mich Ahnungslosen in den Irrgarten der Gnosis führten - zu­ erst als Dissertationsthema, dem Heidegger auf Bultmanns Fürsprache zustimmte, dann als nicht enden wollendes Forschungsprojekt für manches kommende Jahrzehnt.« (WPE, 49) 6 1930 erscheint »Der Begriff der Gnosis«, ein Teildruck der Dissertation (zudem auch »Augustin und das paulinische Freiheitsproblem. Ein philosophischer Beitrag zur Gene­ sis der christlich-abendländischen Freiheitsidee«). Vom Hauptwerk »Gnosis und spätan­ tiker Geist« erscheint 1934, kurz nach Jonas' Emigration aus Deutschland, noch der Erste Teil (GSG1). Die erste Hälfte des Zweiten Teils folgt dann 1954 (GSG2a). Jonas nimmt die Gnosis-Thematik in den 60er Jahren als Überarbeitung der Neuauflagen seiner Werke wieder auf. Die zweite Hälfte des Zweiten Teils von »Gnosis und spätan­ tiker Geist« erscheint 1994 posthum (GSG2b). ^ 61

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Kapitel 2: Hans Jonas’ ontologische Ethik für die technologische Zivilisation

seinsanalyse, und er sieht in diesem Dualismus zugleich auch den Grund des Nihilismus, auf dessen philosophische Kritik und Über­ windung sein »Nachkriegsprogramm« zielt. Nun geht dieses »Nachkriegsprogramm« aber nicht nur auf die Auseinandersetzung mit der Gnosis und der Existentialphilosophie zurück. Dass Jonas die Überwindung des Nihilismus in einer Philoso­ phie des Organismus sieht, ist auch durch Kriegserlebnisse motiviert, nämlich durch die Erfahrung, dass im physischen Ausgesetztsein »das Schicksal des Leibes sich vordrängt, seine Verstümmelung, zur Hauptfurcht wird« (WPE, 21). Als Jonas nach 1949 das professionelle Philosophieren wieder aufnimmt, setzt er zur Kritik an Heideggers Philosophie in »Sein und Zeit« an, über die er allerdings noch 1986 schreibt, dass Heidegger sich damit »epochemachend in die Annalen der Philosophie eintrug« (WPE, 15). Die Art und Weise, in der Jonas rückblickend sein Vorhaben charakterisiert, lässt seine Ambition deutlich werden. Er will mit seiner Philosophie des Organismus ein Gegenprogramm entwerfen, das das von ihm diagnostizierte duali­ stische Vorurteil der philosophischen Tradition korrigiert und damit einen Neuanfang in der Metaphysik markiert.7 Jonas entwickelt seine Philosophie des Organismus in den 50er 7 Diese Ambition geht aus den Worten hervor, in denen Jonas rückblickend sein phi­ losophisches Programm skizziert: »Der Erfolg der >existentialistischen< Lesung der Gno­ sis lud zu einer quasi >gnostischen< Lesung des Existentialismus und mit ihm des mo­ dernen Geistes ein. Da kam besonders der lange Umgang mit dem Dualismus einer Überprüfung der ganzen deutschen Bewusstseinsphilosophie zugute, in der ich erzogen war und die im Festhalten an der kartesianischen Trennung von Geist und Natur an einer eigentümlichen Weltlosigkeit litt ... Bei Heidegger hörte man vom Dasein als Sorge - in geistiger Hinsicht, aber nichts vom ersten physischen Grund des Sorgenmüssens: unserer Leiblichkeit, durch die wir, selber ein Stück Natur, bedürftig-verletz­ lich in die Umweltnatur verwoben sind - zuunterst durch den Stoffwechsel, die Bedin­ gung alles weiteren. Der Mensch muss essen. Dieses Naturdekret des Leibes ist so kardinal wie die darin mitverfügte Sterblichkeit. Aber in >Sein und Zeit< war der Leib übergangen und Natur ins bloss Vorhandene abgeschoben. Auch die Phänomenologie im Sinne Husserls konnte zwar die Erscheinung der Eigenleiblichkeit im Bewusstsein zum Thema machen, auch etwa den gefühlten Hunger beschreiben; aber dessen objek­ tiver Sinn: dass das Menschentier Nahrung braucht, und so und so viel davon (woran einen wohl die Marxisten erinnerten), lag ausserhalb der Subjektbeschau. Darüber be­ lehrt die Biologie und hinter ihr die Physik. Aber von ihnen hörten wir nichts. . Jedenfalls ging mir die idealistische Befangenheit der philosophischen Tradition vollends auf. Ihren geheimen Dualismus, ein tausendjähriges Vermächtnis, sah ich widerlegt im Organismus, dessen Seinsweise wir mit allem Lebendigen teilen. Sein ontologisches Verständnis würde die Kluft schliessen, die das Selbstverstehen der Seele vom Wissen der Physik schied. Das Ziel einer Philosophie des Organischen oder einer philosophi­ 62

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2.2 Der Charakter von Jonas’ Werk und das Thema »Verantwortung«

und 60er Jahren in einer Reihe von Aufsätzen, die er zumeist, aber nicht ausschliesslich in englischer Sprache schreibt, und die in der Folge übersetzt werden, zum Teil von ihm selbst. Sie erscheinen 1966 in einem Sammelband unter dem Titel »The Phenomenon of Life. Toward a Philosophical Biology«, auf Deutsch dann mit einigen Ver­ änderungen 1973 unter dem Titel »Organismus und Freiheit« (OF) und seit 1994 unverändert unter dem Titel »Das Prinzip Leben«. Sei­ nen philosophischen Standpunkt bezeichnet Jonas als »Philosophie des Lebens«. Die Philosophie des Lebens umfasst die Philosophie des Organismus und die Philosophie des Geistes (OF, 11), und sie schliesst als Philosophie des Geistes die Ethik ein (OF, 340). Der Sam­ melband stellt jedoch keine ausgearbeitete philosophische Theorie vor. Die Beiträge beschreiben vielmehr »verschiedene Facetten einer noch unfertigen Philosophie des Organismus und des Lebens. Deren systematische Vorlage traut sich der Verfasser noch nicht zu; aber die losere Darstellung in der Form von Abhandlungen, d.h. von Versuchen und umschriebenen Einzelanalysen, kann einen Begriff von ihrer werdenden Gestalt geben und hält zugleich einige der Schritte auf dem Wege fest, der schliesslich zu ihr hinführen mag.« (OF, 17 f.)

Jonas versteht sich mit seiner Philosophie des Lebens als ein philoso­ phischer Einzelgänger ohne Bezug zu den zeitgenössischen philoso­ phischen Hauptströmungen wie der Phänomenologie und der Her­ meneutik in Deutschland oder der sprachanalytischen Philosophie im angelsächsischen Raum. Er nennt in seinen autobiographischen Äusserungen einzig Alfred North Whitehead, dem er sich zwar the­ matisch verbunden fühlt, nicht jedoch im systematischen Ansatz (siehe WPE, 25). Doch konzediert er Whitehead in EV, dass er »ein ebenso originales Genie war wie Heidegger« (EV, 43). In OF widmet findet sich ein gerade nur zweieinhalb Seiten langer Kapitelanhang »Bemerkungen zu Whiteheads Philosophie des Organismus« (OF, 148-150). In dem 1972 geschriebenen Vorwort zu OF erwähnt er neben Whitehead noch Teilhard de Chardin, aber auch, um sich von ihm abzugrenzen (siehe Kapitel 2.4). Jonas hält sich seiner »anfänglichen Intuition gemäss (und mehr aristotelisch), an den wirklichen biologischen Organismus und seine Gipfelung im Menschen« (WPE, 25). Seine philosophische Methode schen Biologie erschien vor meinen Augen. Das wurde zu meinem Nachkriegspro­ gramm.« (WPE, 19 f.; siehe PRV, 13f., 21 ff.) ^ 63

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Kapitel 2: Hans Jonas’ ontologische Ethik für die technologische Zivilisation

beschreibt er selbst als in der Hauptsache kritische Analyse und phä­ nomenologische Beschreibung, gepaart mit metaphysischer Spekula­ tion, »wenn Mutmassung über letzte und unbeweisbare (aber darum keineswegs sinnlose) Dinge nötig zu sein schien« (OF, 4). Er versteht sich als ein philosophischer Einzelgänger, der »einem höchst zeitge­ mässen Gegenstand mit einer durchaus nicht zeitgemässen, fast schon archaischen Philosophie zu Leibe« (PV, 11) geht. Anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Konstanz 1991 bemerkt er: »Die anachronistische Metaphysiksüchtigkeit ist teils getadelt, teils um anderer Verdienste willen mir verziehen wor­ den. Von sich hinzugesellenden Weggefährten ist mir bislang nichts bekannt. Doch vielleicht habe ich mich nur noch nicht genügend nach der stille aufrückenden Vorhut umgesehen.« (HJE, 43) Abgesehen von den Gnosisarbeiten legt Jonas nur zur Ethik ein ausgearbeitetes Hauptwerk vor: »Das Prinzip Verantwortung« (PV 1979), mit dem er auch den Anspruch einer systematisch durch­ geführten Begründung verbindet (siehe PV, 9f.). Zwar bemerkt Jonas, seine Ethik sei entstanden »gezwungen vom Schock des Wirk­ lichen« (WPE, 28), gezwungen von der Gefahr, die die »fast unver­ meidlich scheinende Kumulativwirkung unserer gesamten, tagtäg­ lich praktizierten Technologie, selbst in ihrer friedfertigsten Form« (WPE, 28) darstellt. Dieser Schock habe dazu geführt, »dass der Be­ griff der Verantwortung ins Zentrum der Ethik rückte - und zu­ gleich, dass seine Erarbeitung samt der Aufzeigung dessen, was auf dem Spiele steht, für mich zur ersten Pflicht eben jener Verantwor­ tung selbst wurde.« (WPE, 28 f.; kursiv im Original) Die Grundlage für die Arbeit an Begriff und Theorie der Verantwortung ist jedoch die in der Philosophie des Organismus entwickelte Ontologie. Die gelegentliche Bezugnahme auf subjektivitätstheoretische Positionen in der Ethik, vorallem auf Kant, benützt Jonas lediglich um zu zeigen, das eine Zukunftsethik nicht subjektivitätstheoretisch begründet werden kann, sondern einer Ontologie bedarf. Nach PV erscheinen bis zu seinem Tod im Jahre 1993 im Alter von fast 90 Jahren Aufsät­ ze, Reden und Diskussionsbeiträge, in denen er seine Verantwor­ tungsethik in Kurzform erläutert und für ein breiteres Publikum dar­ stellt. Dabei setzt er sich weiterhin mit dem Begründungsanspruch seiner Ethik auseinander, insbesondere mit den metaphysischen bzw. theologischen Thesen, die hier eingehen. Schliesslich äussert er sich auch zu Fragen der angewandten Ethik, und zwar in kasuistischer Form. Er behandelt in seiner angewandten Ethik keine Umweltpro64

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2.2 Der Charakter von Jonas’ Werk und das Thema »Verantwortung«

bleme, sondern befasst sich ausschliesslich mit Technikanwendungen am menschlichen Organismus, d. h. mit Problemen der Medizintech­ nik und Gentechnik (siehe Kapitel 2.6).8 Jonas' direkter philosophischer Beitrag zur Umweltdebatte ist zweifellos seine Theorie der Verantwortung. Da diese aber erst von seiner Ontologie her verständlich wird und letztere auch die Be­ gründungslast zu tragen hat, steht zunächst die Rekonstruktion die­ ser Ontologie und die damit verknüpfte Position eines integralen Monismus im Zentrum. Jonas' philosophisches Programm einer on­ tologischen Begründung der Ethik hat eine doppelte Wurzel: einer­ seits die Kritik am religiösen Dualismus der Gnosis und andererseits die Kritik an Heideggers Daseinsanalyse in »Sein und Zeit« (SUZ) in ihrem Anspruch als Explikation des Sinnes von Sein. Diese doppelte Wurzel bestimmt Problemstellung und Methode seiner Ontologie.9 Zwar wird auf die theologische Komponente in Jonas' Ontologie und auf die Bedeutung von Heidegger für Jonas verschiedentlich hin­ gewiesen. So hat Annemarie Gethmann-Siefert die Funktion von Jonas' Gottesbegriff in seiner Ethik der Verantwortung deutlich gemacht.10 Karl-Otto Apel sieht eine gemeinsame metaphysische Intui­ tion in Jonas' Verantwortungsbegriff und in Heideggers' These vom Menschen als Hüter des Seins.11 Jean-Claude Wolf hält Jonas' Phi­ 8 Eine Bibliographie Hans Jonas für die Zeit von 1929 bis 1977 ist in »Gnosis. Festschrift für Hans Jonas« (Aland 1978, 508-514) enthalten. Eine Bibliographie für die Jahre 1978 bis 1993 findet sich in Böhler (1994, 460-476). Diese zweite Bibliographie enthält auch eine Auswahl von Arbeiten über Hans Jonas und Besprechungen seiner Werke. 9 Für die Bestimmung des Seinsbegriffes orientiert sich Jonas zudem an Aristoteles und an Plotin (siehe Kapitel 2.5.1). 10 »In der Ethik der Verantwortung wird die Metaphysik bzw. die nötige Ontologie als Grundlage der Ethik, damit als inhaltliche Festlegung des Ethos (Inhaltsethik) der mo­ dernen Welt selbst nicht philosophisch, sondern theologisch abgesichert. Die Ontologie fungiert als der zwar für die Plausibilität wichtige, aber letztlich verzichtbare Part einer in ihrer Überzeugungskraft mythologisch bzw. theologisch fundierten Konzeption der Immanenz Gottes, des Gott-Werdens in der Welt und im kosmischen Prozess ihrer Ent­ wicklung.« (Gethmann-Siefert 1993, 194) Ontologie als phänomenologische Beschrei­ bung ist für Jonas' Metaphysik jedoch unverzichtbar, weil Jonas Metaphysik nicht als eine prinzipientheoretische Erörterung im Hinblick auf eine deduktive Begründungs­ struktur auffasst. In diesem Punkt dem Ansatz von SUZ folgend, liegt bei Jonas ein hermeneutisches Verhältnis von Metaphysik und phänomenologischer Beschreibung vor. Jonas versteht seine Metaphysik als universalen Deutungshorizont für phänome­ nologische Erfahrung, die nur in dieser Deutung ihre Legitimation hat. Daher ist die Ontologie für Jonas methodisch unverzichtbar (siehe Kapitel 2.4.2 und Kapitel 2.5). 11 »Ich persönlich finde es .. .-als tiefe metaphysische Intuition - einleuchtend, dass die Menschheit, d. h. die menschliche Gemeinschaft mitverantwortlicher Akteure, dasjenige ^ 65

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Kapitel 2: Hans Jonas’ ontologische Ethik für die technologische Zivilisation

losophie des Organismus im wesentlichen für eine unzulässige Über­ tragung der Heideggerschen Daseinsanalyse auf den Organismus.12 Otfried Höffe führt Jonas' »Heuristik der Furcht« auf Heidegger zurück. Höffe versteht Heideggers »Sein und Zeit« als eine Kritik an Blochs »Geist der Utopie« (1918), die Jonas mit der »Heuristik der Furcht« auf einseitige Weise fortsetzt.13 Vittorio Hösle sieht Jonas' Ablehnung der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie als eine der Gemeinsamkeiten von Jonas und Heidegger.14 Resultat der Evolution und dasjenige Subjekt von Macht ist, dem sich das Sein selber überantwortet hat: die letzte und insofern höchste Stufe der Evolution. Dies ist eine Vision, die man aus Heideggers Rede vom Menschen als dem >Hirten des Seinsc (Hei­ degger 1947, 90) herauslesen kann, und die auch in Hans Jonas' >Prinzip Verantwortung< enthalten ist.« (Apel 1994, 386) Zwar kann zurecht von einer gemeinsamen metaphysi­ schen Intuition gesprochen werden, doch sind dabei auch die Differenzen entscheidend, die Jonas in seiner Kritik am Seinsgeschick im Blick auf seine Verantwortungstheorie betont (siehe Kapitel 2.4.2). 12 »Vom Extrem der Zurückhaltung, die Heidegger bezüglich einer Ontologie der Natur bzw. des Lebens übte, verfällt Jonas ins Extrem einer Leichtfertigkeit, die sich gelegent­ lich mit rednerischen Tricks über sachliche Schwierigkeiten hinwegsetzt. Grosszügige Verwendung von Metaphern und Analogien - Jonas überträgt zum Beispiel Heideggers >Sorgestruktur des menschlichen Daseinsc auf alle Organismen - ist ein Makel der Na­ turphilosophie seit Aristoteles bis zu Schelling und Schopenhauer.« (Wolf 1992, 216). Dieser Kritik ist philosophiehistorisch entgegenzuhalten, dass sich in SUZ Textstellen finden, die für eine anthropomorphe Naturdeutung sprechen (siehe Kapitel 2.3). 13 »Während Blochs Grundbegriffe >Utopiec und >Hoffnungc im Zukunftsbezug vor al­ lem die Chance hervorheben - das noch Ausstehende drängt zu einer reicheren, viel­ leicht sogar einfachhin wahren Wirklichkeit - betont der Begriff der Sorge die gegen­ läufige Möglichkeit. Sein und Zeit charakterisiert aber den Zukunftsbezug nicht bloss durch den gegenüber Bloch kritischen Begriff der Sorge, sondern auch durch Begriffe >Entwurfc und >Seinkönnenc (vgl. §§31, 41, 53-54, 56-58 usw.) -, in denen Bloch seine philosophische Intention wiedererkennen könnte. Auf diese Weise rehabilitiert Heideg­ ger Bloch und kritisiert ihn zugleich in Form einer Erweiterung der Perspektive. Mit den gegenläufigen Begriffen >Sorgec und >Entwurfc bzw. >Seinkönnenc zeigt er ein Span­ nungsfeld auf, das nun Jonas weitgehend zugunsten nur der einen Seite auflöst. Nicht damit zufrieden, einen unberechtigten Exklusivitätsanspruch zurückzuweisen und dem >Prinzip Hoffnungc ein Doppelprinzip >Furcht und Hoffnungc entgegenzustellen, gibt er im Rahmen der technischen Zivilisation der Furcht wenn nicht ein Exklusivrecht, so zumindest ein Privileg.« (Höffe 1993, 86) In der Tat hat die Angst in Jonas' Ontologie keine methodische Funktion wie in SUZ, sondern es geht Jonas um ihre inhaltliche Deutung. In Jonas' Verantwortungsethik hat die Angst allerdings auch eine metho­ dische Funktion für die Bestimmung des Begriffes des Guten (siehe Kapitel 2.5.4 und Kapitel 2.6.2). 14 »Die Originalität und Bedeutung von Jonas' Ansatz erhellt, wenn wir ihn mit der Philosophie desjenigen Denkers kontrastieren, dem er in meinen Augen am meisten verdankt: seines Marburger Lehrers Martin Heidegger. Die Kritik der modernen Tech66

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2.3 Der Organismus als ontologisches Paradigma

Die Bedeutung dieser doppelten Verankerung in Heideggers Ontologie und im gnostischen Dualismus für Jonas' Ontologie und damit für den Begriff und für die Konzeption von Verantwortung in der technologischen Zivilisation ist jedoch bislang noch nicht heraus­ gearbeitet worden. Ohne diese ist sowohl die Fragestellung als auch die systematische Schwäche dieser Position als Ethik der technologi­ schen Zivilisation nicht durchsichtig. Daher wird zunächst in Kapitel 2.3 die doppelte Verankerung von Jonas' Philosophie in der Daseins­ analyse von »Sein und Zeit« und im gnostischen Dualismus einge­ gangen. Da die Kritik am gnostischen Dualismus in die Kritik an Heideggers Daseinsanalyse eingeht, wird sie auch in diesem Zusam­ menhang aufgenommen. In Kapitel 2.4 wird Jonas' Metaphysik und in Kapitel 2.5 Jonas' Ontologie rekonstruiert, zu der auch die Theorie der Verantwortung gehört (siehe Kapitel 2.5.4).

2.3 Der Organismus als ontologisches Paradigma 2.3.1 Die Kritik am Dualismus der Gnosis und an Heideggers Daseinsanalyse Neben autobiographischen Bemerkungen von Jonas über die Bedeu­ tung von Heidegger für seine eigene philosophische Entwicklung vor allem in WPE und PRV gibt es eine philosophische »Programm­ schrift«, in der er seine Philosophie des Organismus als eine Philoso­ phie des Lebens über die Kritik an Heideggers Daseinsanalyse15 nologie, die Suche nach den geistigen, ja metaphysischen Wurzeln der Neuzeit, die unbeirrte Fortsetzung der metaphysischen und spekulativen Tradition, die existentielle Faszination durch die Kategorie des Absoluten (das Heidegger Sein nennt, während Jonas' Absolutes dem traditionellen Begriff Gottes näher steht), das tiefe Misstrauen gegen den Subjektivismus, der Versuch, die neuzeitliche Subjektivität als ein Stadium in der Entwicklung einer Struktur zu deuten, die selbst mehr ist als subjektiv: All das ist Heidegger und Jonas gemeinsam.« (OEHJ, 115f.) Hösle kritisiert an Jonas die phäno­ menologische Methode: Dieser fehle es an Systematik und deshalb seien wesentliche Dimensionen des Organischen wie die Reproduktivität in der Ontologie nicht berück­ sichtigt. In Kapitel 2.4 und 2.5 wirdjedoch gezeigt, dass unter der Perspektive von Jonas' Metaphysik von einem Fehlen an Systematik nicht gesprochen werden kann. Die Reproduktivität hat bei Jonas durchaus einen systematischen Stellenwert, allerdings nicht im Rahmen der Philosophie des Organismus, sondern in der Verantwortungstheorie (siehe Kapitel 2.5.4). 15 Jonas spricht in der Regel nicht von »Daseinsanalyse«, sondern von »Existentialis^ 67

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einführt. Es handelt sich um den 1952 erstmals erschienenen Aufsatz »Gnosticism and Modern Nihilism«, der dann Deutsch unter dem Titel »Gnosis, Existentialismus und Nihilimus« (GEN) als Kapitel 11 in den Band »Organismus und Freiheit« (OF, 292-316) aufge­ nommen wird.*16 Die zweite, der Auseinandersetzung mit Heidegger gewidmete Arbeit ist der 1964 veröffentlichte Aufsatz »Heidegger und die Theologie« (HT). Diese Arbeit beinhaltet eine Kritik an Hei­ deggers Seinsverständnis nach der Kehre, auf die im Zusammenhang mit Jonas' Metaphysik und Ontologie eingegangen wird (siehe Kapi­ tel 2.4.2 und Kapitel 2.5.1). Jonas entwickelt seine Kritik an Heidegger aus einem Vergleich von Daseinsanalyse und spätantiker Gnosis (OF, 292-316).17 Das mus« bzw. »Existentialanalyse«. Ich verwende im folgenden beide Ausdrücke, ohne einen begrifflichen Unterschied zu verbinden, da sich Jonas damit teils spezifisch auf Heidegger, teils aber auch auf eine breitere philosophische Strömung bezieht, dies aber meist nicht explizit festhält. Jonas verwendet entsprechend dann auch die Schreibweise von »existentiell« sowie »existential« und nicht wie Heidegger die von »existenziell« sowie »existenzial«. Ich folge in der Schreibweise zumeist Jonas. 16 Es ist Jonas' vierte Veröffentlichung im Rahmen seines »Nachkriegsprogrammes«. Vorausgegangen sind 1950 »Causality and Perception«, was unter dem Titel »Wahrneh­ mung, Kausalität und Teleologie« (WKT) als 2. Kapitel in »Organismus und Freiheit« (OF, 42-59) wieder erscheint, sowie 1951 »Materialism and the Theory of Organism«, was unter dem Titel »Philosophische Aspekte des Darwinismus« (PAD) zu Kapitel 3 in »Organismus und Freiheit« wird (OF, 60-91). In diesen beiden Aufsätzen werden ver­ schiedene Argumente zu Rechtfertigung des Anthropomorphismus in der ontologi­ schen Beschreibung des Organismus entwickelt. Der ebenfalls 1951 erstmals erschiene­ ne Aufsatz »Is God a Mathematician?«, der deutsch als »Ist Gott ein Mathematiker? Vom Sinn des Stoffwechsels« (GM) zu Kapitel 5 in »Organismus und Freiheit« (OF, 107-150) wird, enthält bereits den ersten Teil von Jonas' dreistufiger Ontologie. Jonas hat also seine Ontologie schon ein Stück weit erarbeitet, bevor er in seiner Programm­ schrift seine Philosophie als Kritik an Heidegger positioniert und in ihren Grundgedan­ ken vorstellt. 17 Er schreibt in der Vorbemerkung zu diesem Vergleich, dieser handle von seiner persönlichen Geschichte als Adept von Heideggers Existentialphilosophie und habe ihn zur Einsicht geführt, »dass der Existentialismus, der die Grundstrukturen menschlicher Existenz überhaupt zu explizieren beansprucht... selber die Philosophie einer bestimm­ ten, historisch erwachsenen Situation menschlicher Existenz ist« (OF, 293). Jonas be­ zieht seinen Vergleich auf allgemeine geistige Grundströmungen, deren Charakterisie­ rung er im Falle der Gnosis nicht belegt, sondern allenfalls durch vereinzelte Zitate illustriert. Auch unter dem modernen Existentialismus will er nicht nur Heideggers Daseinsanalyse verstanden wissen, sondern einen Zeitgeist, der eine lange Entwicklung in der Geschichte der neuzeitlichen Philosophie hat. Die Breite des Anspruches hat eine Art der Auseinandersetzung zur Folge, bei der die Bedeutungen der verwendeten Ter­ mini unexpliziert bleiben und allenfalls eine implizite Klärung aus ihrer Verwendung erfahren. Diese Schwierigkeit stellt sich generell bei den Texten von Jonas. 68

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2.3 Der Organismus als ontologisches Paradigma

Motiv für den Vergleich besteht darin, dass er beide Positionen als nihilistische Positionen versteht, die er auf die Voraussetzungen für diesen Nihilismus hin betrachtet, um dann über eine Kritik an diesen (gemeinsamen) Voraussetzungen sein Projekt einer ontologischen Ethik zu legitimieren. Dieses Vorgehen hat, wie Jonas selbst schreibt, »eine gewisse Zirkelhaftigkeit« (OF, 292), die darin besteht, dass Jonas die »>existentialistische< Lesung der Gnosis« (OF, 294) - seine philosophische Arbeit in der Vorkriegszeit - nun mit einer »>gnostischen< Lesung des Existentialismus« (OF, 294) fortsetzt. Eine Folge dieses Vergleichs von Daseinsanalyse und Gnosis ist, dass Jonas den daseinsanalytischen Standpunkt nicht aufgibt, sondern lediglich an­ ders interpretiert: seine Ontologie ist eine Daseinsanalyse, die auf einen Gottesbegriff bezogen ist. Daher gibt es entgegen Jonas' Selbstäusserung (siehe BEN, 27) engere sachliche Zusammenhänge in seinem philosophischen Werk. Als Ausgangspunkt der Heidegger­ kritik ist die Interpretation der spätantiken Gnosis auch für die On­ tologie von Bedeutung und zwar methodisch für die Hermeneutik als Entmythologisierung.18 Die philosophische Intention dieser »existentialistischen Lesung der Gnosis« besteht in einer Entmythologisierung der religiös-theo­ logischen Auslegung des menschlichen Selbstverständnisses durch eine »Übersetzung mythologischer Ausdrücke in existentiale Begrif­ fe« (HT, 338). Diese Entmythologisierung ist mit der These verbun­ den, dass »man dem eigentlichen Sinn des Dogmas beikommen kann, indem man ... die objektive Fassade, die ihre eigenen Stilgesetze hat, mit ihren eigenen Konstruktionsregeln abbaut auf einen Innengehalt dahinter und den freilegt« (EV, 50). Mit diesem Innengehalt meint Jonas die Selbsterfahrung menschlicher Existenz. Daher ist die Über­ setzung mythologischer in existentiale Begriffe so gesehen eine Rückübersetzung: 18 Gatzemeier unterscheidet drei Bedeutungen von »Gnosis«: Gnosis im Sinne philoso­ phisch-rationaler Erkenntnis, sodann Gnosis als theologisches Wissen, das auf Glauben basiert und Anspruch auf rationale Einsehbarkeit erhebt sowie Gnosis als religiöses Geheimwissen (siehe Gatzemeier 1980, 783). Der letztgenannten Bedeutung sind die religiösen Bewegungen der spätantiken Gnosis, mit denen sich Jonas beschäftigt, zuzu­ ordnen. Jonas' Programm einer Entmythologisierung kann als der Versuch gesehen werden, das Dogma der gnostischen Bewegungen zu einer Gnosis in der zweiten Bedeu­ tung, also zu einem einsehbaren Wissen von Gott, zu entwickeln. Zur Bedeutung der Gnosisforschungen für die weitere philosophische Arbeit von Jonas, insbesondere für seine Ethik, siehe Rudolph (1996). ^ 69

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Kapitel 2: Hans Jonas’ ontologische Ethik für die technologische Zivilisation

»So bedeutete Entmythologisierung die Wiedergewinnung und sozusagen Befreiung dieser Substanz aus der dichtesten, unnachgiebigsten, entfremdendsten Form der Objektivation, in die sie eingeschlossen war. Und hier in der Tat boten die Kategorien, die Heidegger in der Daseinsanalytik von >Sein< und >Zeit< entwickelt hatte, ein überlegenes Mittel dar, um den Ursprung ans Licht zu bringen, von dem die Projektionen der Lehre und des Mythos aus­ gegangen waren und der ihre Wahrheit enthält. Und der dialektische Charak­ ter der Existenz-Begriffe gewährt einen gewissen Schutz gegen die Art ob­ jektiver Fixierung, zu der die Begriffe der Substanzontologie neigen. So sind sie weniger dicht, transparenter, angemessener dem Sachfeld der Theologie, insoweit sie menschliches Selbstverständnis auszulegen hat.« (HT, 338 f.; kur­ siv im Original)

Das Wort und den Begriff der Entmythologisierung führt Jonas in seiner Arbeit von 1930 »Augustin und das paulinische Freiheits­ problem« (APF) ein. Doch geht der Ansatz einer existentialen Her­ meneutik als Entmythologisierung des Dogmas wesentlich auf die Zusammenarbeit mit Bultmann zurück.19 Jonas' ontologische Be­ gründung der Ethik ist letztlich auch als Entmythologisierung eines Gottesbegriffes konzipiert. Jonas führt diesen Gottesbegriff zusam­ men mit seinem ontologischen Verantwortungsbegriff 1961 in »Un­ sterblichkeit und heutige Existenz« (UHE) als einen kosmogonischen Mythos ein (siehe OF, 335 ff.). Die Entmythologisierung geschieht als ontologische Auslegung des Organismus und des spezifisch menschlichen Daseins im Hinblick auf die Entwicklung des Begriffes vom Guten an sich als Zweckhaftigkeit des Seins (siehe Kapitel 2.4.2 und Kapitel 2.5). Die existentiale Hermeneutik als Entmythologisie­ rung des Dogmas ist somit ein methodischer Versuch, über die anthropomorphe Auslegung des Organismus als sich selbst erhaltendes Sein einen kontemplativen Naturbegriff zu gewinnen, der dann im zweiten Schritt als Gut an sich und damit als ein regulativer Natur­ begriff interpretiert wird. Von diesem Gedanken einer existentialen Hermeneutik als Entmythologisierung her gesehen überrascht es nun nicht, dass Jonas in seiner gnostischen Lesung des Existentialismus Heideggers Daseins­ analyse nicht fundamentalontologisch versteht, sondern unter einer 19 Jonas bemerkt dazu in EV: »Ich bin überzeugt, dass ich das irgendwie von Bultmann gelernt habe, der selber noch nicht auf den Begriff gekommen war. Und ich war ihm wohl nur insofern voraus, als ich schon in Worte fasste, was bei ihm noch nicht in Worte gefasst war.« (EV, 50f.) Zum Verständnis und der Bedeutung der Entmythologisierung bei Bultmann siehe Huppenbauer (1992, 123ff.). 70

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2.3 Der Organismus als ontologisches Paradigma

anthropologischen Perspektive betrachtet. Heidegger führt seine Fundamentalontologie zwar als Daseinsanalyse durch, d.h. dass Hei­ degger die Seinsfrage als Frage des Menschen expliziert. Dies des­ halb, weil »Sein« nur über das menschliche Seinsverständnis zugäng­ lich ist. Der Sinn von Sein ist deshalb in einer Hermeneutik der existentiellen Erfahrung zu bestimmen. Doch liegt das Ziel dieser Hermeneutik - die Explikation des Sinnes von Sein - nicht in der Sinnstiftung menschlicher Existenz, sondern ist ein formal-kategoriales: die Bestimmung der Strukturganzheit des Sinnes von Sein, die dann Voraussetzung a priori für die inhaltliche Sinnbestimmung menschlichen Daseins im Rahmen einer Anthropologie ist (siehe Gethmann 1974, 76 ff.). Zu dieser philosophischen Anthropologie kommt es jedoch bei Heidegger nicht, es bleibt dort bei einer fun­ damentalontologischen, d. h. einer methodisch-formalen Struktur­ auslegung des Daseins. Heideggers bloss methodisch-formale Strukturauslegung kriti­ siert Jonas als Nihilismus, den es in einer Metaphysik zu überwinden gelte. Aus der Fundamentalontologie, die als hermeneutische Aus­ legung des faktischen Daseins Ontologie transzendentalphiloso­ phisch verankern will (siehe Gethmann 1974, 92 ff., 114 ff.) wird bei Jonas eine realistische Metaphysik als hermeneutische Auslegung der existentiellen Selbsterfahrung. Jonas führt seine metaphysischen Überlegungen daher nicht als prinzipientheoretische Erörterungen aus - sowohl was die Kritik anderer Positionen als auch was sein Programm betrifft - , sondern bemisst sie immer nur in ihrer Lei­ stung als Auslegung existentieller Erfahrung. Allerdings verwendet er in seinen Nachkriegsschriften den Ausdruck »Hermeneutik« für seine Philosophie nur in der Arbeit »Heidegger und die Theologie« (HT), die als Beitrag zu einer deutschen Diskussion verfasst ist. An­ sonsten charakterisiert er seine Methode als phänomenologische Be­ schreibung, gepaart mit metaphysischer Spekulation (OF, 4; PUMV, 7, 136, 211).20 Im Vorwort von OF schreibt er dazu: »Obwohl meine Werkzeuge in der Hauptsache kritische Analyse und phäno­ menologische Beschreibung sind, bin ich gegen das Ende doch nicht davor zurückgeschreckt, mich auf metaphysische Spekulationen einzulassen, wenn Mutmassung über letzte und unbeweisbare (aber darum keineswegs sinn­ lose) Dinge nötig zu sein schien. Diese Wende ist klar markiert und der mehr 20 Dies könnte eine Konzession an den angelsächsischen Sprachraum sein, für den Jonas seine Arbeiten bis zu PV verfasst. ^ 71

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positivistisch gesinnte Leser ist frei, die Grenze zu ziehen, die er nicht mit mir zu überschreiten willens ist.« (OF, 4)

Es wird im folgenden deutlich werden, dass phänomenologische Be­ schreibung und metaphysische Spekulation nicht zwei aufeinander­ folgende Schritte sind, wobei auf den zweiten auch verzichtet werden kann, sondern dass sie im Sinne eines hermeneutischen Verhältnisses füreinander konstitutiv sind. Phänomenologie und Metaphysik ex­ plizieren einander gegenseitig. Daher wechselt Jonas beim Vergleich von Gnosis und Existentialismus zwischen der Beschreibung des Selbst- und Welterlebens und der expliziten bzw. impliziten Meta­ physik hin und her. Der Vergleich erfolgt in sechs Schritten, denen er in seinem Aufsatz jeweils einen Abschnitt widmet. Im ersten Schritt führt er seine These ein, dass die Voraussetzung des existentialistischen Ni­ hilismus in einer dualistischen Metaphysik besteht. Hinter dieser These steht die Position, die erst im letzten Schritt explizit formuliert wird: Voraussetzung für die Überwindung des Nihilismus ist ein me­ taphysischer Monismus. Im zweiten Schritt identifiziert Jonas einen analogen Dualismus im Falle der spätantiken Gnosis. Der dritte Schritt enthält eine sozialgeschichtliche Erklärung dafür, warum die spätantike Gnosis einen Dualismus vertritt. Der vierte Schritt be­ steht in einer vergleichenden Betrachtung von gnostischem und existentialistischem Dualismus im Hinblick auf bestimmte Kon­ sequenzen für den Gesetzesbegriff. Im fünften Schritt führt er den Nihilismus von Heideggers Daseinsanalyse darauf zurück, dass die Zeitlichkeitsanalyse in »Sein und Zeit« die einer »Zeitlichkeit ohne Ewigkeit« ist. Im sechsten Schritt formuliert er dann sein Programm: die Überwindung des Nihilismus auf der Grundlage einer monisti­ schen Metaphysik, die auf einem regulativen Naturbegriff beruht. Im ersten Schritt - unter der Überschrift »Von der Einsamkeit des Menschen: Von Pascal zu Nietzsche« - formuliert Jonas seine Hauptthese. Sie lautet, »dass ein Wandel im Bilde der Natur, d. h. der kosmischen Umwelt des Menschen, am Grunde der metaphysi­ schen Situation liegt, die zum modernen Existentialismus und seinen nihilistischen Aspekten geführt hat« (OF, 297). Mit dem »Wandel im Bilde der Natur als der kosmischen Umwelt des Menschen« meint er den Übergang vom antiken Weltbild eines ordo rerum zum neuzeit­ lichen Weltbild mit seiner Trennung von res cogitans und res exten­ sowas Jonas in der Folge auch als »Dualismus von Mensch und 72

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2.3 Der Organismus als ontologisches Paradigma

Welt« sowie als »Dualismus von Geist und Natur« bezeichnet.21 Er stellt Heideggers Daseinsanalyse, auf deren Kritik er zielt, mit dieser These in die Tradition des Cartesianismus. Obwohl Heidegger mit dem daseinsanalytischen Grundbegriff der Sorge eine Gegenposition zur Bewusstseinsphilosophie einnimmt, hält Jonas diese Zuordnung für gerechtfertigt, weil in Heideggers Entfaltung der Sorge als Struk­ turganzheit des Daseins die Leiblichkeit des Menschen - erster phy­ sischer Grund der Sorge und der Endlichkeit des Daseins - nicht ein­ bezogen ist (siehe WPE, 19 f.). Diese Verortung von Heideggers Daseinsanalyse als neuzeitliche Philosophie zeigt zugleich, worauf er mit seiner Kritik an Heidegger zielt: nicht auf die Existentialanalyse als Strukturanalyse, sondern auf die Trennung von Geist und Natur, die auch Heideggers Verständnis von Dasein beinhaltet. Diese Kritik betrifft aber nicht spezifisch die Existentialanalyse, sondern dualistische Philosophien der Neuzeit generell. Entsprechend breit ist auch der Vergleich angelegt. Jonas erläutert nun seine These, dass der Übergang vom antiken Weltbild des ordo rerum zur Trennung von Geist und Natur der Grund für den Nihilismus ist, im Hinblick auf Konsequenzen und Voraussetzungen, die für seinen Vergleich von spätantiker Gnosis und Existentialismus wichtig sind: Erstens führt dieser Dualismus zur existentiellen Grundstimmung der Angst, zweitens ist damit ein Nihilismus angelegt, und drittens ist ein solcher Dualismus nicht notwendig an die neuzeitliche Naturwissenschaft gebunden. Jonas legt also die Stimmung der Angst nicht im Sinne einer existentialen Strukturanalyse aus, sondern interpetiert sie metaphysisch, was eine durchgängige Parallelisierung von phänomenologischer Beschrei­ bung und metaphysischen Thesen zur Folge hat. Sowohl das existen­ tielle Gefühl der Angst als auch der Nihilismus sind daher Ausdruck davon, dass eine dualistische Metaphysik keinen Ersatz für die Ein­ ordnung des »menschlichen Geistes« in einen ordo rerum bietet, son­ dern das »Selbst« als radikal Einzelnes versteht, weil es grundsätzlich 21 Jonas verwendet die Ausdrücke »Welt«, »Natur«, »Kosmos«, »Umwelt«, »kosmische Umwelt«, »physisches Universum« und »Wirklichkeit« ohne terminologische Explika­ tionen zumeist synonym zur Bezeichnung des Gegenbegriffes zu »Selbst« oder »Ich«. Nur am Rande, z.B. mittels eines entsprechenden Adjektivs wie im Falle von »antiker Kosmos« geht er darauf ein, dass diese Termini ihre Bedeutung in unterschiedlichen Problemstellungen haben. Zudem führt Jonas seine Überlegungen in einer realistischen Redeweise, er spricht also z. B. über den antiken Kosmos und nicht über den antiken Kosmosbegriff. ^ 73

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Kapitel 2: Hans Jonas’ ontologische Ethik für die technologische Zivilisation

verschieden von allem übrigen Seienden ist und keinen Zusammen­ hang mit dem übrigen Seienden hat. Die existentielle Stimmung der Angst ist der emotionale Ausdruck dieser radikalen Vereinzelung. In diesem Sinne kommentiert er den Pascalschen Satz »Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume schreckt mich« (Pascal, Pensees, Frag. 205): »Eben dasjenige ..wodurch der Mensch aller Natur überlegen ist, seine ein­ zigartige Auszeichnung, der Geist, resultiert nicht mehr in einer höheren Einordnung seines Seins in die Totalität des Seins, sondern bezeichnet im Gegenteil die unüberbrückbare Kluft, die ihn vom Rest der Wirklichkeit scheidet. Entfremdet von der Gemeinschaft des Seins in einem Ganzen, macht gerade sein Bewusstsein ihn zum Fremden in der Welt und bezeugt in jedem Akt wahrer Reflexion eben diese Fremdheit.« (OF, 295)

Diese Vereinzelung kommt aber nach Jonas nicht nur emotional im Selbst- und Welterleben zum Ausdruck, sondern sie hat auch eine moraltheoretische Seite, den Nihilismus als Konsequenz der nicht­ teleologischen Naturauffassung: »Mit der Ausscheidung der Teleologie aus dem System der natürlichen Ursa­ chen hörte die Natur, selber ziellos und zweckfrei, auf, möglichen mensch­ lichen Zwecken irgendwelche Sanktion zu geben. Ein Universum ohne inner­ lich begründete Hierarchie des Seins, wie es das kopernikanische ist, lässt Werte ontologisch ungestützt und das Selbst ist ganz auf sich zurückgewor­ fen in der Suche nach Sinn und Wert. Sinn wird nicht mehr gefunden, son­ dern >gegebenGuten an sichGott ist tot< bedeutet: die übersinnliche Welt ist ohne wirkende Kraft« (Heidegger 1950, 212). Der moderne »Tod Gottes« hat nun insofern dieselbe Konsequenz für das menschliche Selbstverständnis, als sich der Mensch auch in diesem Fall in normativer Hinsicht nicht mehr als Teil eines Naturganzen versteht, sondern ungebunden ist. Darin besteht für Jonas die Analogie von gnostischem und existentialistischem Selbstverständnis: »In dieser [d. h. Heideggers] Konzeption einer trans-essentiellen, sich frei entwerfenden Existenz sehe ich etwas Vergleichbares zum gnostischen Be­ griff von der transpsychischen Negativität des unweltlichen Pneuma. Was keine Natur hat, hat keine Norm, nur was einer Ordnung der Naturen - z. B. einer Schöpfungsordnung - angehört, hat eine Natur. Nur wo es ein Ganzes gibt, gibt es ein Gesetz.« (OF, 310)

Diesem Vergleich von gnostischem und existentialistischem Nihilis­ mus liegt ein an der Antike orientierter Begriff von Gesetz im Sinne einer verbindlichen Lebensordnung zugrunde, der in Jonas' Natur­ begriff eingeht und eine Zweideutigkeit des Ausdruckes Natur zur Folge hat. In der Formulierungen »Natur haben« wie auch »Ordnung der Naturen« ist mit »Natur« zwar ein Gegenbegriff zu »Selbst« ge­ meint, jedoch nicht einfach nur die Welt als das Insgesamt von Din­ gen im Sinne eines gegenständlichen Naturbegriffes, sondern das Wesen der Dinge, und zwar theologisch gedeutet im Hinblick auf eine präskriptive Seinsordnung, also ein regulativer Naturbegriff. Diese Zweideutigkeit von »Natur« - zum einen als das Insgesamt der Naturdinge und zum andern als normativ gedeutetes Wesen ver­ standen - zieht sich durch Jonas' Naturphilosophie und gilt auch für den Ausdruck »Naturphilosophie« bei Jonas. In diesem regulativen Begriff von Natur als das normativ gedeutete Wesen der Dinge sind 80

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2.3 Der Organismus als ontologisches Paradigma

die Grundprobleme von Jonas' Ethik angelegt. Denn damit wird die kontemplative Naturbeziehung zu der für die Moralbegründung al­ lein relevanten (siehe Kapitel 2.5.3), was dann zu Schwierigkeiten bei der Moralbestimmung angesichts der Umweltproblematik (siehe Ka­ pitel 2.6) führt. Auf diese Auszeichnung der kontemplativen Naturbeziehung geht Jonas im fünften Schritt ein. Er diagnostiziert zunächst in SUZ das Problem einer »Zeitlichkeit ohne Gegenwart« (OF, 310). Diese Diagnose entwickelt er in einem Vergleich der gnostischen Zeitlichkeitsauffassung und Heideggers Zeitlichkeitsanalyse. Er ar­ gumentiert dabei mit zwei Bedeutungen von »Gegenwart«: (1) als Zeitmodus bezogen auf Vergangenheit und Zukunft sowie (2) als Zeitlosigkeit im Sinne von Ewigkeit. Bezüglich der ersten Bedeutung von »Gegenwart« stimmen Gnosis und Heidegger überein, bezüglich der zweiten unterscheiden sie sich. Die Zeitlichkeitsauffassung der Gnosis beschreibt Jonas folgendermassen: »Es gibt Vergangenheit und Zukunft, woher wir kommen und wohin wir ei­ len, und die Gegenwart ist nur der Augenblick der Erkenntnis selber, die Pe­ ripetie von der einen zur andern in der höchsten Krise des eschatologischen Jetzt. Ein entscheidender Unterschied allerdings zu den modernen Parallelen ist der: obwohl geworfen in die Zeitlichkeit, hatten wir der gnostischen For­ mel gemäss unseren Ursprung in der Ewigkeit und haben so auch unser Ziel in der Ewigkeit. Dies stellt den innerweltlichen Nihilismus in einen metaphy­ sischen Horizont, der dem modernen Gegenstück fehlt.« (OF, 311)

Was nun dieses »moderne Gegenstück« betrifft, so versucht Jonas, die Existentiale in die Form einer Kategorientafel zu bringen und unter die Titel »Vergangenheit«, »Gegenwart« und »Zukunft« zu ordnen. Dabei stellt er fest, »dass die Kolonne unter dem Titel >Gegenwart< praktisch leer bleibt - wenig­ stens soweit Modi eigentlicher Existenz in Frage kommen. ... Denn die exi­ stentiell >eigentliche< Gegenwart ist die Gegenwart der >SituationGegenwart< gerade Versäumnis eigentlicher Zukunft-Vergangenheits-Relation im >Verfallensein< an Gerede, Neugier und das Man: ein Versagen der Spannung echter Existenz, eine Art Erschlaffung des Seins. In der Tat, >VerfallenheitGegenwart< repräsentiert, sie somit als abkünftigen und mangel­ haften Modus der Existenz ausweist.« (OF, 312; kursiv im Original)

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Kapitel 2: Hans Jonas’ ontologische Ethik für die technologische Zivilisation

Jonas setzt nun jedoch nicht mit einer Kritik der Struktur der Existentialanalyse fort, sondern er kritisiert den formalen Charakter, wodurch die Gegenwart »zum ungastlichen Nullpunkt blosser for­ maler Entschlossenheit« (OF, 313) reduziert wird. Weil er an einer inhaltlichen Bestimmung des Sinnes von Sein und nicht an einer fundamentmentalontologischen Strukturanalyse interessiert ist, zielt er auf eine Existentialanalyse als Anthropologie. Er hält Heideggers Existentialanalyse daher entgegen, dass »die Gegenwart von Dingen, ... meine Mitgegenwart mit ihnen, auch mir eine Gegenwart anderer Art« (OF, 313) in der kontemplativen Schau der Natur an sich gewährt. In diesem Argument verwendet Jonas beide Bedeutungen von »Gegenwart«: die Gegenwart von Dingen im Sinne eines Zeitmodus gewährt eine Gegenwart im Sinne von Zeitlosigkeit. In eins damit verwendet er auch »Natur« in doppelter Bedeutung, zum einen verstanden als Dinge und zum andern als Wesen der Dinge. Diese Gegenwart der Dinge im Sinne von Ewigkeit gibt es in »Sein und Zeit« nicht. Dinge sind dort zuhanden, bezogen auf den Entwurf der sorgenden Existenz, oder sie sind als bloss vor­ handene ausserhalb jeder Relevanz für die existentielle Situation. Mit den zuhandenen Dingen ist der Sache nach die ökonomisch-tech­ nische Naturbeziehung angesprochen und mit den vorhandenen Dingen die ökologische, wobei allerdings die »Dinge« als Dinge noch nicht als Strukturen eines Ökosystems verstanden werden. Das Zu­ handensein und das Vorhandensein sind nun nach Jonas mangelhafte Seinsbestimmungen der Natur und für eine ontologische Ethik nicht geeignet: »Dies ist der Seinssinn, der hier der Natur für den Bezug der Theorie verbleibt - ein mangelhafter Seinssinn - und der Bezug, in dem sie so vergegenständlicht ist, ist ein mangelhafter Modus der Existenz, ihr Abfall von der Zukünftigkeit der Sorge in die müssige Gegenwart der Neugier.« (OF 314) Er spitzt seine Kritik an Heideg­ gers existentialer Analyse der Zeitlichkeit auf die These zu: »es ist der Verlust der Ewigkeit, der für den Verlust einer echten Gegenwart verantwortlich ist. Solch ein Verlust der Ewigkeit ist das Verschwinden des >Bereichs der Ideen und IdealeGott ist tot< sieht: mit anderen Worten, der unbedingte Sieg des Nominalismus über den Realismus. Daher ist dieselbe Ursache, die am Grunde des Nihilismus liegt, auch am Grunde der radikalen Zeitlichkeit von Heideggers Bild der Existenz, worin die Gegenwart nichts als der Moment der Krise zwischen Vergangenheit und Zukunft ist. Wenn Werte nicht ent­ deckt werden in der Schau des Seins (wie das Gute und das Schöne bei Plato), 82

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sondern gesetzt werden als Entwürfe des Willens, dann in der Tat ist Existenz zu fortwährender Zukünftigkeit verurteilt, mit dem Tode als Ziel; und eine bloss formale Entschlossenheit, zu sein, ohne einen nomos für den Ent­ schluss, wird zum Vorlauf vom Nichts zum Nichts.« (OF, 314f.; kursiv im Original)26

Indem Jonas dem existentialistischen Selbstentwurf die antike Schau des Seins entgegensetzt, steht auch hinter dieser Kritik die im ersten und zweiten Schritt entwickelte Problemanalyse: die Position einer metaphysischen Sinnstiftung auf der Grundlage eines regulativen Naturbegriffes als einzige Alternative zum Nihilismus. Um diese metaphysische Intention zu legitimieren, setzt Jonas im sechsten Schritt zum Nachweis an, dass Heideggers Daseinsana­ lyse implizit eine metaphysische Komponente enthält. Das Kernar­ gument besteht darin, dass der Existentialismus mit der Auffassung von Natur als etwas lediglich Vorhandenes oder Zuhandenes in einen unvermeidlichen Selbstwiderspruch gerät. Die Gnosis hat diese Schwierigkeit nicht, weil sie auf einen transzendenten Gott rekur­ riert: »Die Idee einer dämonischen Natur [in der Gnosis] ist sinnvoll. Wie aber steht es mit einer indifferenten Natur, die dennoch in ihrer Mitte das enthält, dem sein eigenes Sein etwas bedeutet? Die Rede vom Geworfensein in die Welt ist ein Überrest von einer dualistischen Metaphysik, zu dessen Ge­ brauch der metaphysiklose Standpunkt kein Recht hat. Was ist der Wurf ohne einen Werfer und ohne einen Ort, woher? ... Eher sollte der Existentialist sagen, dass das Menschenwesen - bewusstes, sorgendes, fühlendes Selbst - von der Natur hervorgeworfen ist. Wenn in blinder Weise, dann ist das Sehende ein Erzeugnis des blinden, das Sich-Kümmernde ein Erzeugnis des Unbekümmerten, eine teleologische Natur unteleologisch hervorgebracht.« (OF, 315 f.; kursiv im Original)

Jonas entwickelt sein Argument im Ausgang von der Grammatik des Wortes »Geworfenheit«. Als Substantivierung eines Verbes setzt »Geworfenheit« ein Subjekt voraus, das aber nicht genannt ist und somit interpretiert werden muss. Dafür gibt es nach Jonas zwei Möglichkeiten. Die Interpretation der Gnosis als geworfen von einem transzendenten Gott scheidet für den Existentialismus aus. 26 Diese Kritik findet sich auch in zwei weiteren Arbeiten von Jonas: in der ein Jahr zuvor erstveröffentlichten Arbeit »Philosophische Aspekte des Darwinismus« (PAD, siehe OF, 69 ff.) und in der knapp zehn Jahre später veröffentlichten Arbeit »Unsterb­ lichkeit und heutige Existenz« (UHE, siehe OF, 322ff.). ^ 83

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Daher hleiht nur die Möglichkeit, den Wurf unpersönlich aufzufas­ sen, d.h. im Sinne von »durch die Natur kausal hervorgehracht«. Dagegen wendet Jonas nun ein, dass ein nicht-anthropomorpher Na­ turhegriff den Menschen nur nicht-anthropomorph, also nicht-teleo­ logisch verfasst erklären kann, was dem Sein des Menschen nicht adäquat ist. Mit diesem impliziten Rekurs auf die These, dass Glei­ ches nur durch Gleiches hedingt sein kann, gewinnt Jonas dann sein entscheidendes Argument: »Wenn aher die tiefere Einsicht Heideggers richtig ist, dass angesichts unse­ rer Endlichkeit wir finden, dass es uns darum geht, nicht nur dass wir, son­ dern auch wie wir existieren, dann muss die hlosse Tatsache, dass es ein sol­ ches Interesse irgendwo in der Welt giht, auch die Ganzheit qualifizieren, die diesen Tathestand enthält; und erst recht, wenn sie in hervorgehracht hat.« (OF, 316; kursiv im Original)

In diesem Satz spricht Jonas den zentralen Punkt im Verhältnis sei­ nes philosophischen Programmes zu Heidegger an. Der Anfang des Satzes »dass es uns darum geht, nicht nur dass wir, sondern auch wie wir existieren« nimmt die Formel »es geht um ...« auf, mit der Hei­ degger die Sorgestruktur des Daseins umschreiht.27 Auch Jonas zielt auf eine Auslegung des menschlichen Daseins, die von der Zeitlich­ keit des individuellen Daseins ausgeht und dieses Dasein als ein dem Menschen aufgegehenes versteht. Die Fortsetzung des Zitates »dann muss die hlosse Tatsache, dass es ein solches Interesse irgendwo in der Welt giht, auch die Ganzheit qualifizieren, die diesen Tathestand enthält; und erst recht, wenn sie in hervorgehracht hat« hingegen zeigt hereits an, inwiefern sich Jonas' Programm von Heidegger un­ terscheidet. Ein erster Unterschied hesteht darin, dass die Existentialanalyse des (menschlichen) Daseins hei Heidegger den Status einer Fun­

27 Siehe auch TME, 84; PRV, 17 ff. Die klassische Formulierung hei Heidegger in§4 von Sein und Zeit lautet: »Das Dasein ist ein Seiendes, das nicht nur unter anderem Seien­ den vorkommt. Es ist vielmehr dadurch ontisch ausgezeichnet, dass es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selhst geht. Zu dieser Seinsverfassung des Daseins gehört aher dann, dass es in seinem Sein zu diesem Sein ein Seinsverhältnis hat. Und dies wiederum hesagt: Dasein versteht sich in irgendeiner Weise und Ausdrücklichkeit in seinem Sein. Diesem Seienden eignet, dass mit und durch sein Sein dieses ihm selhst erschlossen ist. Seinsverständnis ist selbst eine Seinsbestimmtheit des Daseins. Die ontische Auszeichnung des Daseins liegt darin, dass es ontologisch ist.« (SUZ, 12; kursiv im Original) 84

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damentalontologie hat, die alle speziellen Ontologien inklusive auch die philosophische Anthropologie fundiert (siehe SUZ, 13). Bei Jonas verhält es sich anders. Hier hat die Analyse des organismischen Da­ seins die Rolle einer ontologischen Grundlegung der philosophischen Anthropologie. Zu diesem Zweck führt Jonas das methodische Postu­ lat des Anthropomorphismus für die Deutung organismischen Le­ hens ein. Jonas' Philosophie des Organismus ist von Anfang an im Blick auf eine ontologische Begründung der Ethik konzipiert. Denn die Auslegung des Organismus als eine Ganzheit zielt auf einen Be­ griff von Natur, der die heiden Mängel, die Jonas Heideggers Da­ seinsanalyse vorwirft, korrigieren soll: Erstens soll durch den Einhezug der Leihlichkeit in die Daseinsanalyse die Trennung von Geist und Natur der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie überwunden werden. Zweitens soll dieser Naturhegriff als eine regulative Idee das Gesetz menschlichen Handelns sein. Die anthropomorphe Interpretation des Organismus wird aller­ dings von Heidegger selbst in SUZ vorgeschlagen. Heidegger bezieht sich im Zusammenhang mit dem »In-der-Welt-sein als Grundverfas­ sung des Daseins« auf die Biologie mit der Bemerkung, dass das »ha­ ben einer Umwelt« als Struktur des »Apriori des thematischen Ge­ genstandes der Biologie philosophisch nur expliziert werden [kann], wenn sie zuvor als Daseinsstruktur begriffen ist. Aus der Orientie­ rung an der so hegriffenen ontologischen Struktur kann erst auf dem Wege der Privation die Seinsverfassung von >Lehen< apriorisch um­ grenzt werden.« (SUZ, 58) Doch hat die anthropomorphe Deutung des Organismus hei Heidegger gerade nicht die anthropologische Funktion, die ihr Jonas im ersten Satz des Vorworts zu »Organismus und Freiheit« zuschreiht: »Auf die kürzeste Formel gehracht legt dieses Buch eine >ontologische< Aus­ legung hiologischer Phänomene vor. Der zeitgenössische Existentialismus, wie manche Philosophie vor ihm gehannt auf den Menschen allein hlickend, pflegt ihm als einzigartige Auszeichnung und Last vieles von dem zuzuspre­ chen, was im organischen Dasein als solchen wurzelt: damit entzieht er dem Verständnis der organischen Welt die Einsichten, welche die menschliche Selhstwahrnehmung zu seiner Verfügung stellt, und verfehlt darüher auch die wirkliche Scheidelinie zwischen Tier und Mensch.« (OF, 3)

Heidegger wendet sich vielmehr später - im »Humanismushrief« mehrfach dagegen, das Menschliche des Menschen üher eine Aus­ legung des Lehens zu hestimmen: ^ 85

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Kapitel 2: Hans Jonas’ ontologische Ethik für die technologische Zivilisation

»Sind wir überhaupt auf dem rechten Weg zum Wesen des Menschen, wenn wir den Menschen und so lange wir den Menschen als ein Lebewesen unter anderen gegen Pflanze, Tier und Gott abgrenzen? Man wird dabei stets Rich­ tiges über den Menschen aussagen können. Aber man muss sich auch darüber klar sein, dass der Mensch dadurch endgültig in den Wesensbereich der animalitas verstossen bleibt, auch dann, wenn man ihn nicht dem Tier gleich­ setzt, sondern ihm eine spezifische Differenz zuspricht. Man denkt im Prin­ zip stets den homo animalis, selbst wenn anima als animus sive mens und diese später als Subjekt, als Person, als Geist gesetzt werden. Aber dadurch wird das Wesen des Menschen zu gering geachtet und nicht in seiner Her­ kunft gedacht ... Die Metaphysik denkt den Menschen von der animalitas her und denkt nicht zu seiner humanitas hin.« (Heidegger 1947, 66, siehe 75, 78 f., 89 f., 103 f.)

Jonas nimmt in GEN zu dieser Äusserung von Heidegger Stellung. Er nennt einen aus seiner Sicht nebensächlichen Kritikpunkt, dass nämlich die doppeldeutige Verwendung von »animal« als »Tier« und als »Seele« erst die Behauptung stütze, dass der Mensch als homo animalis zu niedrig gedacht sei, doch bestehe »für Heidegger die >Erniedrigung< des Menschen gar nicht darin, dass er in die Tier­ heit, sondern dass er überhaupt in irgendeine Stufen- oder Seinsord­ nung, d. h. in einen Zusammenhang der Natur überhaupt gesetzt wird« (OF, 309; kursiv im Original). Hier verwendet Jonas »Natur« im Sinne von »Wesen«. Sein Hauptkritikpunkt ist Heideggers »Ab­ weisung jeder definierbaren >Natur< des Menschen, die seine Exi­ stenz einer vorbestimmten Essenz unterstellen und ihn damit zum Teil einer objektiven Ordnung von Essenzen im Naturganzen ma­ chen würde« (OF, 310).28 Daher wendet sich Jonas auch gegen Hei­ deggers Seinsverständnis nach der Kehre - gegen die These vom Seinsgeschick, die hinter Heideggers Ablehnung einer metaphysi­ schen Wesensdefinition des Menschen steht (siehe Kapitel 2.4.2). Ein zweiter Unterschied von Jonas und Heidegger besteht darin, 28 Jonas revidiert in diesem Punkt jedoch seine Auffassung, und zwar in dem Beitrag »Wandel und Bestand. Vom Grunde der Verstehbarkeit des Geschichtlichen« (WB 1969, PUMV, 50-80), der auch in der Festschrift »Durchblicke« für Martin Heidegger zum 80. Geburtstag erscheint: »Plato mit Nietzsche als überwunden anzusehen, ist zumin­ dest voreilig. Dennoch wissen wir, ungleich Plato, zuviel von der Tiefe historischer Ve­ ränderung am Menschen, als dass wir noch an eine - irgendeine - bestimmte, essentiell bindende Definition des Menschen glauben könnten«. (PUMV, 54). Die »gemeinsame Menschlichkeit der Menschen« (PUMV, 64) ist »weit mehr >Möglichkeit< als gegebenes Faktum« (PUMV, 64f.). Sie »tut ihr Werk .im Wege des Anrufs und der Evozierung der Möglichkeiten, die der Natur des Menschen entspringen« (PUMV, 64). 86

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2.3 Der Organismus als ontologisches Paradigma

dass Heideggers Fundamentalontologie in »Sein und Zeit« als tran­ szendentale Hermeneutik der existentiellen (ontischen) Erfahrung eine Metaphysikkritik darstellt.29 Jonas hingegen versteht seine On­ tologie explizit als eine realistische Metaphysik. Dieser Unterschied zeigt sich darin, wie die beiden obigen Zitate zum Daseinsverständnis (OF, 316 f. und SUZ, 12) jeweils fortgesetzt werden. Heidegger führt seine Charakterisierung des Daseins dahingehend weiter, dass Dasein auch ein Seinsverständnis hat, was zur Auszeichnung der Existentialanalyse als Fundamentalontologie führt. Jonas hingegen zielt mit seiner kosmogonischen These auf ein geistiges Prinzip in der Natur, das er dann im Epiolog von OF wie folgt skizziert: »Aus der inneren Richtung ... [der] ... totalen Evolution ... [der Natur] ... lässt sich vielleicht eine Bestimmung ermitteln, gemäss der die Person im Akte der Selbsterfüllung zugleich ein Anliegen der ursprünglichen Substanz verwirklichen würde. Von daher würde sich ein Prinzip der Ethik ergeben, das letztlich weder in der Autonomie des Selbst noch in den Bedürfnissen der Gesellschaft begründet wäre, sondern in einer objektiven Zuteilung seitens der Natur des Ganzen (was die Theologie als ordo creationis zu bezeichnen pflegte) - von solcher Art, dass noch der Letzte einer sterbenden Menschheit ihr in seiner letzten Einsamkeit die Treue halten könnte.« (OF, 341)

Diese metaphysisch-theologische Seinsdeutung rekurriert auf den im zweiten Schritt eingeführten theologischen Begriff von Geist, der auch die Begründungslast des Anthropomorphismus-Postulates zu tragen hat (siehe Kapitel 2.5.2). Zwar hält Jonas an einem herme­ neutischen Grundverständnis von Ontologie fest und schliesst inso­ fern an Heidegger an. Dies bedeutet, das Jonas weder prinzipientheo­ retische Erörterungen noch deduktive Argumentationen führt, sondern Ontologie als Auslegungshorizont des Daseins versteht, die aufgrund ihrer Evidenz zu beurteilen ist. Diese hermeneutische Aus­ legung versteht Jonas jedoch ganz anders als Heidegger, und das zeigt der Schlusssatz des obigen Zitates »dass noch der Letzte einer ster­ benden Menschheit ihr in seiner letzten Einsamkeit die Treue halten könnte«: »Auslegung« bedeutet für Jonas metaphysische Interpreta­ tion der existentiellen Erfahrung. Während die Angst in SUZ eine methodische Funktion zur Erschliessung der Strukturganzheit des Daseins als Sorge hat (siehe Gethmann 1974, 128 ff.) - trotz existen­ tiell-psychologischer Konnotationen der Formulierungen - geht es

29 Ich folge hier der Heidegger-Interpretation von Gethmann (1974). ^ 87

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Kapitel 2: Hans Jonas’ ontologische Ethik für die technologische Zivilisation

Jonas um die Sinndeutung der Todesangst im Rahmen einer Meta­ physik, die so den Nihilismus überwindet. Diese Fragestellung soll die Ontologie von Jonas beantworten, und sie ist in ihrer Systematik entsprechend angelegt (siehe Kapitel 2.5). Daher analysiert er auch die Umweltproblematik in seiner on­ tologischen Ethik als eine existentielle Situation, die eine Antwort auf den Sinn menschlicher Existenz verlangt. Diese Antwort besteht im »Prinzip Verantwortung« (siehe Kapitel 2.5.4). 2.3.2 Der Organismus als ontologisches Paradigma: Zusammenfassung Jonas' philosophisches Werk ist der Überwindung des Nihilismus auf der Grundlage eines normativen Naturbegriffes gewidmet. Fra­ gestellung und Grundgedanken gewinnt er in einer vergleichenden Kritik am Dualismus der spätantiken Gnosis und an Heideggers Da­ seinsanalyse. Die Kritik beruht auf einer These über das Verhältnis von individuellem Selbst und Natur (Welt, Wirklichkeit, Universum) in ontologischer Hinsicht. Hier unterscheidet Jonas zwei mögliche Positionen, zum einen prinzipielle Gleichartigkeit, verbunden mit dem Postulat eines monistischen ordo rerum, und zum andern schlechthinnige Verschiedenheit, die Position des Dualismus. Im Fal­ le der ersten Position werden Werte durch die Schau des objektiven Seins begründet, im Falle der zweiten Position durch den Willen des Ich gesetzt - was nach Jonas nihilistisch ist. Jonas' existentiale Hermeneutik als Entmythologisierung des gnostischen Dogmas ist der methodische Versuch, über die anthropomorphe Auslegung des Organismus als sich selbst erhaltendes Sein einen kontemplativen Naturbegriff zu gewinnen, den er in einem zweiten Schritt als Gut an sich und damit als einen normativen Na­ turbegriff interpretiert. Phänomenologische Beschreibung und meta­ physische Spekulation explizieren einander dabei wechselseitig. Ent­ sprechend wechselt Jonas bei seinem Vergleich von Gnosis und Existentialismus zwischen Beschreibungen des Selbst- und Welterle­ bens und metaphysischen Spekulationen hin und her. Der gnostische Dualismus beruht auf dem Verständnis von Geist als die im Leib gefangene Geist-Seele, die aus der göttlichen Sphäre niedersteigt und die göttliche Sphäre wiederzugewinnen sucht. Jonas kritisiert an der Gnosis nun nicht das religiöse Verständ­ nis von »Geist«, sondern dass Gott als schlechthin transzendenter, 88

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2.3 Der Organismus als ontologisches Paradigma

nämlich ohne normative Kraft für innerweltliches menschliches Handeln, statt als immanenter gedacht ist. Der moderne Nihilismus ergibt sich aus dem »Tod Gottes«, wobei Jonas nun mit einem phi­ losophischen, nicht mit einem religiösen Gottesbegriff argumentiert. Der moderne »Tod Gottes« hat insofern dieselbe Konsequenz für das menschliche Selbstverständnis, als sich der Mensch auch in diesem Fall in normativer Hinsicht nicht mehr als Teil eines Naturganzen versteht, sondern ungebunden ist. An Heideggers Daseinsanalyse kritisiert Jonas den formalen Charakter der fundamentalontologi­ schen Strukturanalyse und zielt statt dessen auf eine Anthropologie, die die Angst der Seele als Antwort auf ihr In-der-Welt-Sein (siehe OF, 302) metaphysisch interpretiert. Diesem Vergleich von gnostischem und existentialistischem Ni­ hilismus liegt ein an der Antike orientierter Begriff von »Gesetz« als verbindliche Lebensordnung zugrunde, der in Jonas' Naturbegriff eingeht und eine Zweideutigkeit des Ausdruckes »Natur« zur Folge hat. Zwar ist mit »Natur« ein Gegenbegriff zu »Selbst« gemeint, jedoch nicht einfach nur die Welt als das Insgesamt von Dingen im Sinne eines gegenständlichen Naturbegriffes, sondern auch das We­ sen der Dinge, und zwar im Hinblick auf eine präskriptive Seinsord­ nung als normativer Naturbegriff gedeutet. Diese Zweideutigkeit von »Natur« - zum einen als das Insgesamt der Naturdinge und zum andern als ihr normativ gedeutetes Wesen - zieht sich durch Jonas' Naturphilosophie. In diesem Begriff von Natur als das norma­ tiv gedeutete Wesen der Dinge sind die Grundprobleme von Jonas' Ethik angelegt. Denn damit wird die kontemplative Naturbeziehung zu der für die Moralbegründung allein relevanten. Entsprechend hält Jonas Heideggers Existentialanalyse entgegen, dass »die Gegenwart von Dingen, ... meine Mitgegenwart mit ihnen, auch mir eine Ge­ genwart anderer Art« (OF, 313) in der kontemplativen Schau der Natur an sich gewährt. In »Sein und Zeit« sind Dinge jedoch nur zuhanden, bezogen auf den Entwurf der sorgenden Existenz, oder sie sind als bloss vorhandene ausserhalb jeder Relevanz für die exi­ stentielle Situation. Mit den zuhandenen Dingen ist der Sache nach die ökonomisch-technische Naturbeziehung angesprochen und mit den vorhandenen Dingen die ökologische, wobei allerdings die »Din­ ge« als Dinge noch nicht als Strukturen eines Ökosystems verstan­ den werden. Das Zuhandensein und das Vorhandensein sind nun nach Jonas mangelhafte Seinsbestimmungen der Natur und für eine ontologische Ethik daher nicht geeignet. Die Ausklammerung der ^ 89

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Kapitel 2: Hans Jonas’ ontologische Ethik für die technologische Zivilisation

ökonomisch-technischen sowie der ökologischen Naturheziehung führt hei der Moralhestimmung angesichts der Umweltprohlematik zu Schwierigkeiten. Aus dem Ansatzpunkt des existentiellen Erlehens, mit dem Jo­ nas noch an Heidegger anschliesst, ergiht sich jedoch noch eine zwei­ te systematische Schwierigkeit der ontologischen Ethik hei der An­ wendung auf Umweltprohleme der technologischen Zivilisation. Es handelt sich ja um eine Ontologie des individuellen Seienden qua selbständig Seiendem, nicht qua Mitglied einer Gemeinschaft. Die ontologische Ethik hietet deshalh aus systematischen Gründen kei­ nen Zugang, um dem kollektiven Charakter umwelthelastenden Handelns in der technologischen Zivilisation und den damit verhundenden Gerechtigkeitsprohlemen moraltheoretisch gerecht zu wer­ den. Bevor sich Jonas jedoch der Ethik zuwendet, hefasst er sich in seiner philosophischen Biologie mit der Aufgahe, die Berechtigung eines kontemplativen Naturhegriffes, den er ontologisch als einen »integralen Monismus« deutet, aufzuweisen. Seine Strategie hesteht darin aufzuweisen, dass weder der Dualismus, der Materialismus noch der Idealismus in der Lage sind, »die Existenz fühlenden Lehens in einer unfühlenden Stoffwelt« (OF, 31) angemessen zu explizieren. Der integrale Monismus und seine Begründungsprohleme sind Ge­ genstand von Kapitel 2.4.

2.4 Die ontologische Position des integralen Monismus als Gegenposition zum Dualismus, zum Materialismus und zum Idealismus Jonas legt seine Ontologie nicht in Form einer systematisch ausgearheiteten Theorie vor, sondern als Sammlung von Einzelarheiten, die in den 50er und 60er Jahren im Hinhlick auf dieses Ziel verfasst wor­ den sind.30 Er vereinigt diese Arheiten in einem Sammelhand, der 30 Die Grundgedanken dazu hat Jonas im Laufe der Kriegsjahre in Briefen an seine Frau entwickelt: »Ich hatte zwei Arten von Briefen zu unserer ständigen Korrespondenz ge­ macht. Die einen ganz persönlich und privat, ich nannte sie Lieheshriefe; und die ande­ ren waren Lehrhriefe, in denen ich meiner Frau mitzuteilen versuchte, wie meine Ge­ danken waren, wie mein theoretisches Denken ging. Das, was später in einem Buch veröffentlicht wurde üher die Philosophie des Organismus, wurde in diesen Briefen zuerst entworfen. Die wurden geschriehen unter allen möglichen Umständen, und es 90

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2.4 Die ontologische Position des integralen Monismus

zuerst 1966 unter dem Titel »The Phenomenon of Life. Toward a Philosophical Biology« erscheint. Für die deutsche Ausgabe von 1973 lautet der Haupttitel »Organismus und Freiheit« (OF). Jonas be­ merkt zu den Titelformulierungen, dass der »für die deutsche Aus­ gabe gewählte Titel ... besser als der des englischen Originals [sagt], was ich als das zentrale Thema des Buches ansehe: Organismus und Freiheit« (OF, 6).31 Die Gesamtkonzeption der Ontologie muss aus den in OF versammelten Texten rekonstruiert werden. Jonas gibt dazu eine Hilfestellung, indem er die Beiträge ordnet und den »ge­ meinsamen Standpunkt der verschiedenen Beiträge« sowie den Auf­ bau der Ontologie in einem Vorwort, einer Einleitung, einer Überlei­ tung und einem Epilog expliziert. Die Ontologie umfasst demnach die Philosophie des Organismus und die Anthropologie, die Jonas auch als Philosophie des Geistes bezeichnet und zu der er die Ethik zählt (siehe OF, 11, 258, 340).32 Anlässlich von Vorträgen in den 80er Jahren nimmt Jonas ein­ ist ja übrigens auch in einem Krieg so, dass der Soldat auch sehr viel Zeit hat. ... Und in den Pausen zwischen den wirklichen Aktivitäten hatte man Zeit, und in diesen Pausen schrieb ich lange Briefe, die als Feldpostbriefe nach Hause gingen ... Das war die Keim­ zelle zu einer späteren, für mich sehr wichtigen philosophischen Arbeit, erste Formulie­ rungen, übrigens alles auf deutsch.« (EV, 73f.). Diese Entstehungsgeschichte trägt sicher zur Erklärung bei, warum in Jonas' ontologischen Schriften keine detailliert Ausein­ andersetzung mit anderen Autoren geführt wird. Doch spielt dafür wohl auch die Am­ bition eines philosophischen Neuanfangs eine Rolle (siehe Kapitel 2.1). 31 Die unveränderte Neuauflage der deutschen Ausgabe von OF im Inselverlag 1994 trägt den Titel »Das Prinzip Leben«. Leider ist die Titeländerung nicht kommentiert. Die englische Ausgabe enthält vor allem die Beiträge zur Philosophie des Organismus sowie zwei Beiträge zur Anthropologie: »Heidegger und die Theologie« sowie »Vom praktischen Gebrauch der Theorie«. Die deutsche Ausgabe ist um einen Beitrag »Zum Systembegriff und seiner Anwendung auf Lebendiges« sowie um drei Beiträge zur An­ thropologie erweitert, die allerdings alle zur Zeit der Publikation der englischen Aus­ gabe von OF auch schon als Zeitschriftenbeiträge oder in Sammelwerken erschienen waren. In der deutschen Ausgabe wurde dagegen der Beitrag »Heidegger und die Theo­ logie« »ohne Schaden für den Fortgang des Argumentes fortgelassen« (OF, 5). Die Texte wurden für die deutsche Ausgabe zum Teil von Jonas selbst übersetzt und stellenweise redaktionell überarbeitet, was jedoch nicht gekennzeichnet ist, sondern im Vergleich der beiden Ausgaben ermittelt werden muss. Jonas bemerkt bei den Quellennachweisen: »Die hier vorliegenden Fassungen gehen vielfach über die der ursprünglichen Aufsätze hinaus.« (OF, 10) Im folgenden wird jeweils nur aus der Version in OF zitiert, gelegent­ lich wird das Jahr der Erstveröffentlichung als Hinweis angegeben. 32 Eine systematische Ausarbeitung erfährt nur die Ethik in dem 1979 erschienenen Werk »Das Prinzip Verantwortung« (PV) mit der dazu gehörenden und 1981 folgenden Publikation »Macht oder Ohnmacht der Subjektivität? Das Leib-Seele-Problem im Vor­ feld des Prinzips Verantwortung« (MOS). ^ 91

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Kapitel 2: Hans Jonas’ ontologische Ethik für die technologische Zivilisation

zelne Themen aus seiner Ontologie wieder auf, wobei er im wesent­ lichen seine Überlegungen von OF und von PV zusammenfasst. Die­ se Arbeiten erscheinen auch in einem Sammelband mit dem Titel »Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutun­ gen« (PUMV), der in die drei Teile »Theorie des Organismus und Sonderart des Menschen«, »Zur Seins- und Sittenlehre« sowie »Dem Fragenden unverwehrbar: Gedanken über Gott« gegliedert ist. Die im ersten Teil versammelten Beiträge betreffen die inhaltliche Aus­ führung der Stufenontologie, die Beiträge des zweiten Teils behan­ deln die ontologische Deutung der Ethik und der dritte Teil enthält metaphysisch-theologische Arbeiten. In »Das Problem des Lebens und des Leibes in der Lehre vom Sein« (PLLLS) schreibt Jonas: »Jedes Problem ist wesentlich die Kol­ lision zwischen einer umfassenden Anschauung (sei sie Hypothese oder Glaube) und einer partikularen Tatsache, die sich ihr nicht fügt.« (OF, 21) Die partikulare Tatsache, um die es Jonas in seiner Ontologie geht, ist »die Existenz fühlenden Lebens in einer unfühlenden Stoff­ welt, die im Tode über es triumphiert« (OF, 31; 33, 40 f.), d. h. die existentielle Angst. Diese »Tatsache« kollidiert Jonas zufolge mit al­ len ontologischen bzw. metaphysischen Standpunkten in der Philoso­ phiegeschichte, wobei er in diesem Zusammenhang vier Grundposi­ tionen unterscheidet: den Panvitalismus der Antike, den Dualismus der Neuzeit sowie zwei postdualistische Monismen, den Materialis­ mus und den Idealismus. Er widmet sich ausführlich der Kritik dieser Standpunkte, um seine Position eines integralen Monismus zu legi­ timieren. Das Hauptgewicht dabei liegt auf dem Materialismus, der »die wirkliche Ontologie unserer Welt seit der Renaissance, der ei­ gentliche Erbe des Dualismus, d. h. des von ihm hinterlassenen Resi­ duums« (OF, 35) ist. Die Auseinandersetzung mit dem Dualismus erübrigt sich gewissermassen von selbst, weil Jonas den Dualismus als eine Lehre von zwei Substanzen - Geist und Materie - zwischen denen keinerlei Wechselwirkungen stattfinden, versteht. Seine eige­ ne Position, die er der Sache nach als einen interaktiven Dualismus beschreibt, bezeichnet er als integralen Monismus. Die Auseinander­ setzung mit dem Idealismus ist für den Begriff von Geist und für die Kosmogonie von Bedeutung, die die metaphysische Deutung aus­ machen und damit den Kern von Jonas' Ontologie bilden. Jonas führt die Auseinandersetzung mit diesen metaphysisch­ ontologischen Positionen nicht als prinzipientheoretische Erörte­ rung, sondern betrachtet diese Positionen im Hinblick darauf, was 92

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2.4 Die ontologische Position des integralen Monismus

sie für die Explikation der »partikularen Tatsache«, also für die Sinnhestimmung organismischen Lehens leisten und damit für die Ent­ wicklung eines normativen Naturhegriffes für sein Programm einer ontologischen Ethik. Metaphysische These und Beschreihung stehen dahei nicht in einem deduktiven, sondern in einem hermeneutischen Verhältnis. Jonas versteht die »Kollision zwischen umfassender An­ schauung und Tatsache« (OF, 21) in diesem Fall nun so, dass wesent­ liche Aspekte organismischen Lehens durch einen metaphysischen Standpunkt nicht oder unzureichend expliziert werden. Das spricht dann gegen diesen Standpunkt, denn die Kritik kann nach Jonas nur den metaphysischen Standpunkt und nicht die Beschreihung der partikularen Tatsache hetreffen. Nun ist aher die Beschreihung orga­ nismischen Lehens als der »lehendige und sterhenkönnende, welt-hahende und selher als Stück zur Welt gehörige, fühlhare und fühlende Körper, dessen äussere Form Organismus und Kausalität, und dessen innere Form Selhstsein und Finalität ist« (OF, 33), ersichtlich keine hlosse Tatsachenheschreihung. Sie ist hereits eine Deutung orga­ nismischen Lehens in Analogie zur menschlichen Selhsterfahrung anhand der Unterscheidungen, auf denen die Systematik metaphysi­ scher Grundpositionen in PLLLS heruht und die auch den Seins­ hegriff hestimmen (siehe Kapitel 2.5.1). Es handelt sich um den Ge­ gensatz von Lehen und Tod als »Kollision der Antike«, um den neuzeitlichen Gegensatz von Innenwelt und Aussenwelt als »Kolli­ sion des Dualismus« und der postdualistischen Monismen sowie um die existentialistischen Kategorien von Welthezug und Gefühl. Jonas entwirft hierzu eine prohlemgeschichtliche Skizze, auf die ich kurz eingehe, da sie auf die Position des integralen Monismus zugeschneidert ist. Er heginnt historisch mit dem monistischen Panvitalismus, den er als Hylozoismus charakterisiert: »Für die Anfänge menschlicher Seinsdeutung war Lehen üherall, und Sein war dasselhe wie Lehendsein.« (OF, 19) Für diese Position ist der Tod ein nicht erklärhares Prohlem. Die Gegenposition dazu sieht Jonas im monisti­ schen Panmechanismus oder Materialismus, der mit der Entwicklung der experimentellen Naturwissenschaften seit der Neuzeit verhunden ist und für den Lehen das nicht erklärhare Prohlem darstellt.33 33 Jonas verwendet wechselnd die Ausdrücke »Mechanismus« und »Materialismus« und meint damit die Auffassung von einer »mechanischen Materie« (OF, 59) oder ein »mechanistisches Modell der Natur« (OF, 60), deren Prinzip des kausalen Determinis­ mus ein teleologisches Prinzip ausschliesst. ^ 93

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Kapitel 2: Hans Jonas’ ontologische Ethik für die technologische Zivilisation

Der Versuch einer Antwort auf das Problem des Todes34 (siehe OF, 26) wird zum »Vehikel für die Bewegung, die den menschlichen Geist vom vitalistischen Monismus der Vorzeit zum materialistischen Mo­ nismus der Jetztzeit, als zu ihrem unvorsätzlichen, ja paradoxen Er­ gebnis, führte« (OF, 25). Als postdualistische Gegenposition zum neuzeitlichen Idealismus ist der neuzeitliche Materialismus ein parikularer Monismus, der die eine Seite für das Ganze erklärt, während im antiken Monismus »die beiden Seiten noch ungeschieden inein­ ander ruhten« (OF, 30). Ein neuer integraler Monismus kann die Polarität nicht rückgängig machen, sondern muss ... sie in eine höhe­ re Einheit des Seins aufheben« (OF, 30). Wie diese höhere Einheit zu denken ist, ist die »immer noch ungelöste Frage der Ontologie, was das Sein ist« (OF, 33). Zu lösen ist diese Frage nach Jonas in einer ontologischen Auslegung des Organismus als einer körperlich-see­ lischen Einheit, als »tatsächliche Koinzidenz von Innerlichkeit und Äusserlichkeit im Leibe« (OF, 32; kursiv im Original). Dies zeichnet den Organismus als phänomenologischen Bezugspunkt für die Ent­ wicklung eines normativen Naturbegriffes aus. Damit ist aber die Ontologie auf eine ausschliesslich individualistische Perspektive fest­ geschrieben. Zu Beginn der Einleitung von OF unter der Überschrift »Über die Thematik einer Philosophie des Lebens« charakterisiert Jonas den gesuchten integralen Monismus durch die doppelte These, »dass das Organische schon in seinen niedersten Gebilden das Geistige vor­ bildet, und dass der Geist noch in seiner höchsten Reichweite Teil des Orga­ nischen bleibt. Von den zwei Hälften dieser Behauptung ist nur die zweite, nicht die erste, im Einklang mit dem modernen Denken; und nur die erste Hälfte, nicht die zweite, war dem antiken Denken gemäss. Dass beide Be­ hauptungen gültig und voneinander unabtrennbar sind, ist die Hypothese einer Philosophie, die ihren Stand jenseits der quereile des anciens et des mo­ dernes zu nehmen sucht.« (OF, 11; kursiv im Original)

Diese Charakterisierung zeigt, dass die problemgeschichtliche Skizze der Abfolge von Panvitalismus, Dualismus und Materialismus (sowie Idealismus) auf das Programm einer monistischen Metaphysik »jen­ seits der querelle des anciens et des modernes« ausgerichtet ist. Die erste These - dass das Organische schon in seinen niedersten Gebil­ 34 Jonas stellt den Dualismus hier in einen religionsgeschichtlichen Kontext, nicht in einen wissenschaftsgeschichtlichen. Dies ist ein Indiz dafür, wie sehr der Ansatz seiner philosophischen Biologie mit seinen Gnosis-Arbeiten verbunden ist. 94

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den das Geistige vorbildet - nimmt Bezug auf den Panvitalismus, die zweite These - dass der Geist noch in seiner höchsten Reichweite Teil des Organischen bleibt - bezieht sich auf den Materialismus. Es han­ delt sich also dem Zitat zufolge um eine Vermittlung des antiken Panvitalismus und des neuzeitlichen Materialismus. Jonas löst diese Vermittlung so, dass er an der antiken Konzeption einer Stufenonto­ logie festhält, die zwischen Leben (Stoffwechsel), Seele (Wahrneh­ mung, Gefühl und Bewegung) und Geist unterscheidet und dabei den Geist spezifisch auszeichnet. Er verändert diese Konzeption je­ doch in zwei Punkten: Erstens baut er die neuzeitliche Unterschei­ dung von res extenso, und res cogitans in modifizierter Form in diese Stufenkonzeption ein: jede ontologische Stufe ist durch ein spezi­ fisches Verhältnis von Innerlichkeit und Äusserlichkeit charakteri­ siert, die allerdings nicht als zwei Substanzen, sondern als Aspekte einer Substanz zu denken sind. Zweitens postuliert er die entwick­ lungsgeschichtliche Kontinuität eines geistigen Prinzips - die kosmogonische These von der Immanenz des Geistes -, um die normative Verwendung seines Naturbegriffes zu begründen. Die Explikation dieser Kontinuitätsthese ist allerdings mit ter­ minologischen Unklarheiten behaftet. So schreibt Jonas 1951 in GM, er verstehe den »>mentalen< Bereich so, dass er alle Arten und Grade subjektiven Seins umfasst, herab bis zum dunkelsten >Fühlen< der Amöbe, die derart in die psychophysische Dichotomie eingeschlossen ist« (OF, 140; kursiv im Original). In MOS verwendet Jonas den Aus­ druck »Subjektivität« sowohl für Seele (Psyche, Bewusstsein) (siehe MOS, 8, 17, 22, 28, 30) als auch für Geist (siehe MOS, 7, 27), expli­ ziert aber auch »Geist« dahingehend, dass dieser Ausdruck »hier je­ den Modus von Subjektivität umfassen soll« (MOS, 35 f.). In MGS hingegen expliziert er »Subjektivität« als Innerlichkeit, die sich an Organismen im Fühlen etc. auftut (siehe PUMV, 216) und unter­ scheidet davon den Geist, das Spezifikum des Menschen, mit dem sich ein Horizont der Transzendenz auftut (siehe PUMV, 223). Sub­ jektivität hingegen ist als phänomenologisches Lebenszeugnis eine blosse »Stimme der Immanenz über sich selbst« (PUMV, 223). Diese terminologischen Unklarheiten werden sowohl bei der Kritik am Dualismus und am Materialismus (siehe Kapitel 2.4.1) als auch bei der Kritik am Idealismus und bei der Explikation seines Begriffes von Geist (siehe Kapitel 2.4.2) zu einem Problem.

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2.4.1 Die Kritik am Dualismus und am Materialismus Jonas versteht unter »Dualismus« einen Dualismus zweier Substan­ zen - Leib und Seele zwischen denen keinerlei Wechselwirkung stattfindet (siehe z. B. OF, 27 f., 32, 140; PUMV 217f.). Er selbst ver­ tritt einen Dualismus von Eigenschaften - psychischen und physi­ schen -, die interagieren, d. h. einen interaktionistischen Dualismus, und bezeichnet diesen als »integralen Monismus« (siehe MOS, 81; Kapitel 2.4.2). Die Auseinandersetzung mit dem Substanzen-Dualis­ mus erübrigt sich für Jonas gewissermassen von selbst, weil diese Auffassung mit der »Existenz fühlenden Lebens in einer unfühlen­ den Stoffwelt« (OF, 31) offensichtlich kollidiert, wie Jonas im An­ hang »Die Bedeutung des Kartesianismus für die Theorie des Le­ bens« zu dem 1951 erstmals erschienenen Aufsatz »Philosophische Aspekte des Darwinismus« (PAD, OF, 60-91) festhält (siehe OF, 89 f.; PUMV, 217). Allerdings ist dem »Grundunterschied von Geist und Stoff«35 (siehe OF, 29) auch im Rahmen eines Monismus Rechnung zu tragen, denn »ihre dualistische Scheidung führte zur entschieden­ sten Herausarbeitung ihrer beiderseitigen Sonderart, die hinfort nicht mehr zu vermengen war« (OF, 29; siehe PUMV, 217). Dass die Ontologie einer Differenz zwischen Geist und Materie Rechnung zu tragen hat, ist der Leitgedanke von Jonas' Kritik am Materialismus, worunter er den mechanistischen Materialismus ver­ steht. Im Rahmen seiner Materialismuskritik setzt sich Jonas mit dem Verständnis von Leben in der Evolutionstheorie auseinander (siehe PAD 1951, OF, 60-91). Den Kern der hier entwickelten Argu­ 35 Die Formulierung »Grundunterschied von Geist und Stoff« in diesem Zitat irritiert, weil sie neuzeitliche und antike Terminologie kombiniert. Jonas bemerkt auch an ande­ rer Stelle, dass die entscheidende Veränderung der Kosmos-Vorstellung der Neuzeit darin besteht, dass »sie den Begriff des passiven Stoffes durch den des Körpers ersetzte, der als Träger positiver Kräfte (z.B. der Bewegung) und damit als selbständige Substanz der Wirklichkeit in sich selber den Bestimmungsgrund der Konfigurationen hat, in de­ nen die Summe der Körperjeweils das Sein darstellt.« (OF, 99) Auch in MGS findet sich wiederholt die Formulierung »Stoff und Geist« in Bemerkungen zu Descartes (siehe PUMV, 236) und zu Spinoza (siehe PUMV, 238), zugleich finden sich dort auch Bemer­ kungen, in denen Jonas den Begriff »Materie« aus der neuzeitlichen Problemstellung als Gegenbegriff zu »Geist« herauslöst, wenn er z.B. schreibt, es gehe um »eine Auffüllung des Begriffes der >Materie< über die äusseren Messbarkeiten der Physik hinaus, die da­ von abstrahiert wurden - als eine Metaphysik des Weltstoffes« (PUMV, 219). Die Ver­ mischung antiker und neuzeitlicher Terminologie ist Ausdruck von Jonas' Programm einer dritten - vermittelnden - Position zum antiken Vitalismus und neuzeitlichen Me­ chanismus. 96

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mente referiert Jonas auf zwei Seiten in dem 1983/84 erschienen Beitrag »Evolution und Freiheit« (EF, siehe PUMV, 16 ff.). Ferner befasst er sich mit systemtheoretischen Beschreibungen des Orga­ nismus. Dies geschieht in den drei Arbeiten: »Ist Gott ein Mathema­ tiker? Vom Sinn des Stoffwechsels« (GM 1951, OF, 107-150),36 »Ky­ bernetik und Zweck« (KZ 1953, OF, 164-197) und »Harmonie, Gleichgewicht und Werden« (HGW 1957, OF, 92-106). Schliesslich diskutiert Jonas in der 1981 erschienenen Publikation MOS materia­ listische Lösungen des Leib-Seele-Problems. Hier handelt es sich nun ausnahmsweise um prinzipientheoretische Erörterungen. Jonas weist materialistischen Konzeptionen des Leib-Seele-Problems Inkon­ sistenzen nach und skizziert in diesem Zusammenhang seine Vor­ stellung eines interaktiven Dualismus bzw. integralen Monismus. Kürzere Bemerkungen zu dualistischen und materialistischen Auf­ fassungen des Leib-Seele-Problems finden sich schon in früheren Ar­ beiten, so z. B. in PAD und in GM. Die Kritik am Materialismus soll die Notwendigkeit eines kon­ templativen Naturbegriffes für ein adäquates Verständnis des leben­ digen Organismus aufzeigen. Jonas zielt zunächst auf den Aufweis von Beschreibungsdefiziten eines materialistischen biologischen Naturbegriffes, dem auch der in der Einleitung (siehe Kapitel 1.1) entwickelte ökologische Naturbegriff zuzuordnen ist. Er zieht diese Kritik jedoch wieder zurück. Damit bleibt lediglich das triviale Argu­ ment, dass ein materialistischer Naturbegriff als Bezugspunkt für einen normativen Naturbegriff, der den Sinn organismischer Exi­ stenz klärt, nicht geeignet ist. Dies kann nicht als ein überzeugendes Argument für einen integralen Monismus auf der Grundlage eines kontemplativen Naturbegriffes gelten. 2.4.1.1 Die Kritik an evolutionstheoretischen Auffassungen von Leben In der Arbeit »Philosophische Aspekte des Darwinismus« (PAD), die zuerst 1951 unter dem Titel »Materialism and the Theory of Organism« erschienen ist, setzt sich Jonas mit dem Darwinismus ausein­ 36 In dieser Arbeit führt Jonas auch seinen Seinsbegriff ein und beschreibt mit dem Stoffwechsel die erste Stufe seiner Ontologie. Die Argumente gegen den »göttlichen Mathematiker« nimmt Jonas in EF wieder auf (siehe PUMV, 18-22), die eigentliche Auseinandersetzung mit der Systemtheorie jedoch nicht mehr. ^ 97

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ander. Mit »Darwinismus« ist die Auffassung gemeint, derzufolge Leben als »eine Organismus-Umwelt-Situation ... [und nicht] als Leistung einer autonomen Natur« (OF, 70) verstanden wird: »Wie auf dem physischen Schauplatz im ganzen, so treten auch in der Ge­ schichte des Lebens Bedingungen an die Stelle der essentia als schöpferisches Prinzip.« (OF, 69; kursiv im Original) Mit den Bedin­ gungen sind »Zufallsvariationen (oder Mutation) auf seiten des Or­ ganismus, natürliche Auslese auf seiten der Umwelt« (OF, 75) ge­ meint. Jonas bezieht sich damit sowohl auf den Lamarckismus als auch auf den Darwinismus (siehe OF, 69) und schliesst auch die Ge­ netik in die Diskussion ein (siehe OF, 77ff.). Seine Kritik des Darwi­ nismus zielt also nicht spezifisch auf die Darwinsche Evolutionstheo­ rie. Auch eine ökologische Auffassung der lebendigen Natur als Biodiversität oder als Ökosystem (siehe Kapitel 1.1) setzt funktionale Bedingungen an die Stelle von essentia und fällt damit im Prinzip unter Jonas' Verdikt. Allerdings nimmt Jonas in seiner Philosophie der Biologie auf die Ökologie nicht Bezug, und auch bei seinen mora­ lisch-ethischen Erörterungen der Umweltproblematik spricht er die Frage der ontologischen Interpretation einer ökologischen Naturauf­ fassung nicht an. Jonas sieht im »Evolutionismus« (OF, 71) einen »apokryphen Vorfahren« (OF, 71) des Existentialismus: »Diese Schrumpfung der Formbeschaffenheit des Lebens bis zum Schwinde­ punkt eines blossen Vitalantriebs ohne spezifischen ursprünglichen Inhalt, und entsprechend die Öffnung des unbegrenzten Horizonts der Situation für das Hervorrufen von Möglichkeiten, die nicht vorher als Potenzialitäten vorhanden waren, klingt denen vertraut, die mit heutigen philosophischen Lehren vom Menschen bekannt sind.« (OF, 71)37

Die allgemeinphilosophische Bedeutung der biologischen Evoluti­ onstheorie sieht Jonas darin, dass mit ihr die Erklärung von Entwick­ 37 Jonas postuliert hier einen gewissen geistesgeschichtlichen Zusammenhang: »Nietz­ sches Nihilismus und sein Versuch, ihn zu überwinden, ist nachweislich mit dem Auf­ treten des Darwinismus verbunden. ... Damit soll nicht gesagt sein, dass der Darwinis­ mus der Ahn des Existentialismus sei, sondern nur, dass er mit all den anderen geistigen Faktoren zusammenstimmt und zusammenwirkt, aus deren Gesamtfiguration der Exi­ stentialismus logisch erwächst. ... der Existentialismus ist die radikalste Folgerung, die bislang aus dem uneingeschränkten Sieg des Nominalismus über den Realismus gezo­ gen worden ist.« (OF, 72) Diese These nimmt Jonas zwei Jahre später in seiner philoso­ phischen Programmschrift und Kritik an Heidegger »Gnosis, Existentialismus und Ni­ hilismus« wieder auf (siehe Kapitel 2.3; OF, 314). 98

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lung zu einer zentralen Frage der Ontologie wird, denn alle »derzei­ tigen Revisionen der überlieferten Ontologie ... gehen fast axiomatisch von der Auffassung des Seins als eines Werdens aus und suchen im Phänomen der kosmischen Evolution nach dem Schlüssel für einen möglichen Standort jenseits der alten Alternativen.« (OF, 85) Die »Revolutionierung des Lebensbegriffes durch den Entwicklungs­ gedanken« (OF, 68) bedeutete nun aber nicht nur »das Ende des Pla­ tonismus« (OF, 69), sondern sie »untergrub auch den Bau Descartes' wirksamer, als jede metaphysische Kritik es fertiggebracht hatte« (OF, 84). Denn die darwinsche These der Abstammung der Arten unter Einschluss des Menschen »machte es fürderhin unmöglich, sei­ nen Geist, und geistige Phänomene überhaupt, als den abrupten Ein­ bruch eines ontologisch fremden Prinzips an gerade diesem Punkte des gesamten Lebensstromes zu betrachten.« (OF, 83; siehe PUMV, 16 f.) Daher ist er der Auffassung, dass »der Triumph, den der Mate­ rialismus im Darwinismus feierte, den Keim seiner eigenen Über­ windung in sich« (OF, 79) enthält. Jonas benützt die darwinsche Ab­ stammungsthese als Argument für seine Metaphysik, indem er die Abstammungsthese umdeutet zur These von der »Koextensivität von Leben und Innerlichkeit« (OF, 84) und dann gegen den Materia­ lismus einwendet, dass dieser Innerlichkeit nicht erklären kann: »Wenn aber Innerlichkeit koextensiv mit dem Leben ist, dann kann eine rein mechanistische Interpretation des Lebens, d. h. eine Interpretation in blossen Begriffen der Äusserlichkeit, nicht genügen. Die subjektiven Phänomene entziehen sich der Quantifizierung und damit selbst der Zuordnung äusserer >ÄquivalenteIn-formation< sein.« (OF, 187)

Diese metaphysische Interpretation von Gefühl bzw. Zweck als Aus­ druck eines überindividuellen Grundantriebes ist der Grundgedan­ ke, der hinter Jonas ontologischer Ethik steht und den Jonas in der Folge in seinen Schriften ausarbeitet. Dieser Grundgedanke leitet ist, was die Regelungstechniker mit Rückkoppelung bezeichnen. ... Hier genügt die Feststelllung, dass bei einer von einem Muster gelenkten Bewegung die Abweichung der wirklich durchgeführten Bewegung von diesem Muster als neue Eingabe benutzt wird, um den geregelten Teil zu veranlassen, die Bewegung dem Muster näherzubrin­ gen.« (Wiener 1992, 32). 104

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von Anfang an seine Arbeiten zur Biologie, was auch aus den Wor­ ten hervorgeht, in denen er im Anhang »Materialismus, Determi­ nismus und Geist« zu GM seine Kritik am Materialismus zusam­ menfasst: »In der Geschichte der Bemühung des Lebens, sich selbst zu verstehen, ist die materialistische Biologie (mit ihrem durch die Kybernetik neuerdings verstärkten Arsenal) der Versuch, das Leben zu begreifen durch Ausschaltung dessen, was den Versuch selbst möglich macht: des authentischen Wesens von Bewusstsein und Zweck.« (OF, 197) In dem Aufsatz »Harmonie, Gleichgewicht und Werden« (HGS 1957) nimmt Jonas die Kritik des sachlichen Beschreibungdefizites zurück, hält aber am Vorwurf eines unzureichenden Verständnisses von »Leben« fest. Jonas konzediert zunächst, dass »einerseits L. von Bertalanffys biologische Theorie des >offenen Systemskybernetische< Theorie N. Wieners und seines technologischen Kreises ... der Einheit von Organismus und Umwelt weit mehr Rechnung [tragen] als die Automatentheorie Descartes« (OF, 103). Er fährt dann fort, dass »charakteristische Eigenschaften des Orga­ nismus (darunter solche, für die H. Driesch den ausserwissenschaftlichen Entelechiebegriff zu benötigen glaubte) als immanente Sy­ stemeigenschaften« (OF, 104) beschrieben werden können und zählt beispielshaft auf: »Selbstregulierung, Wachstum und Wachs­ tumsgrenzen, Regeneration, Anpassung, Fähigkeit zur Zielerrei­ chung auf Umwegen« (OF, 104), allerdings mit der Einschränkung: »Die Wirksamkeit der Methode bleibe hier unerörtert.« (OF, 104). Jonas akzeptiert nun die Theorie des Fliessgleichgewichtes offener Systeme als Ansatz zur Beschreibung teleologischen Verhaltens von Organismen und nimmt implizit seine Kritik von 1953 - »Ein Rückkoppelungsmechanismus mag gehen oder stillstehen: in beiden Zuständen existiert die Maschine.« (OF, 186) - zurück, indem er jetzt festhält: »Die hier [in der Wiederherstellung des Gleichgewichts] auftretende Art von Periodizität ist nicht mehr die des Kreislaufs äquivalenter Zustände, sondern die des Ausschlags zwischen Sein und Nichtsein, als Ganze ein bewegtes Gleichgewicht von Werden und Vergehen, und insofern echtes Geschehen. Die Erhaltung des Systems ist hier von seiner Leistung abhängig, nicht ein­ fach in ihr vollzogen. Die Leistung des Sich-selbst-erhaltens durch die Er­ neuerung von Gleichgewichtszuständen, die die Umweltabhängigkeit nicht dauern lässt - Erhaltung also als ständige Herstellung - ist der Inhalt der Funktion des Systems, somit der Sinn seiner Existenz.« (OF, 106) ^ 105

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Trotzdem hält er eine systemtheoretische Analyse für unzureichend, was er direkt anschliessend mit der Frage anspricht: »Ist das auch der >Sinn< des Lebens? ... Ist Vollkommenheit des System­ zustandes Vollkommenheit des Lebens? Ist Erhaltung Mittel oder Zweck? Sind die Modi der Weltoffenheit - Fühlen, Sehen, Tun - nur das Wodurch oder auch das Warum der Erhaltung? Apparate der Regulierung und Stabili­ sierung eines Apparates, oder im Zweck den Apparat transzendierende Betä­ tigung des Lebensanliegens selbst? - Dies sind einige der Fragen, mit denen Angemessenheit und Grenzen des Systembegriffes für das Verständnis des Lebensphänomens zu prüfen sind, nachdem die begrifflichen Implikationen von >System< an sich klargestellt sind.« (OF, 106)

Die Kritik zielt auf den Lebenssinn der endlichen Existenz. Sie setzt voraus, dass die anthropomorphe Deutung von Organismen darin besteht, ein metaphysisches Sinnbedürfnis organismischen Lebens aufzuzeigen. Dasselbe beinhaltet die in GM formulierte Generalthe­ se, dass die Erkenntnis von Leben durch Leben darin besteht, das Ver­ halten von Organismen als äussere Manifestation der Innerlichkeit der Substanz zu verstehen (siehe OF, 142). In PV nimmt Jonas nochmals zur systemtheoretischen Be­ schreibung teleologischen Verhaltens Stellung und zieht den Vor­ wurf eines systematischen Beschreibungsdefizits auch für den Fall menschlichen Handelns zurück.40 Was Jonas dazu veranlasst ist we­ niger der empirische Erfolg dieses Programmes im Bereich der Kognition als vielmehr seine bereits 1951 im Zusammenhang mit der Kritik am Darwinismus formulierte These von der Kontinutität von Leben, Seele und Geist als Formen von Innerlichkeit (siehe OF 84 f.). Zugleich ist jedoch aufgrund dieser These im Hinblick auf eine ontologische Ethik eine metaphysische Interpretation organismi­ schen Lebens erforderlich, denn der »Status der Subjektivität dort [bei Tieren] berührt ... auch den Status von menschlichen Zwecken und damit den der Ethik.« (PV, 126). In der späten Schrift von 1988 »Materie, Geist und Schöpfung« (MGS) befasst sich Jonas mit kosmogonischen Fragen und vertritt auch hier nun die Position, dass die metaphysisch-theologische Deu­ 40 Er räumt hier nun ein: »was wir ... über die immanente cybernetische Suffizienz der rein physischen Reihe bei tierischem Handeln sagten, das lässt sich mit entsprechender Subtilisierung auch auf das Motivations-, Denk- und Entscheidungsleben des Menschen übertragen, und zwar bis in die reflektierteste Vorstellungstätigkeit des Bewusstseins hinein, die doch immer ihre zerebrale Unterlage hat.« (PV, 126; siehe MOS, 41f.) 106

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tung des Lebens erst aufgrund der »transzendierenden Freiheit des menschlichen Geistes« (PUMV, 223) - er nennt dies auch den »anthropischen Befund« - gefordert ist: »Keine >sehende< Intelligenz am Anfang, kein ewiges Vorsehen des schliess­ lich Gezeitigten braucht angenommen zu werden; bewusstlose Tendenz genügt dem vitalen Befund. Selbst Panspsychismus, zu dem dieser Befund dem Denken Anhalt bietet, ist noch nicht Theologie. Kurz, das Zeugnis des Lebens, unermesslich bedeutend für die Ontologie, ist immer noch eine Stim­ me der Immanenz über sich selbst.« (PUMV 231, siehe 222)

Weil aber der menschliche Geist »als Teil kosmischen Befundes« (PUMV, 234) zu verstehen ist, führt die »Selbsterfahrung ... des Gei­ stes und zumal seines denkenden Ausgreifens ins Transzendente ... zum Postulat eines Geisthaften, Denkenden, Transzendenten, Über­ zeitlichen am Ursprung der Dinge« (PUMV, 234). Dass Jonas einen metaphysischen Sinnbedarf für organismisches Leben überhaupt for­ dert, ergibt sich also daraus, dass er die spezifisch menschliche Sinn­ frage der endlichen Existenz mittels einer Kosmogonie zu beantwor­ ten sucht, die anthropisch argumentiert (siehe Kapitel 2.4.2). Jonas' These lautet also nun, dass die existentiale Sinnfrage zwar eine spezifisch menschliche ist - nur Menschen haben meta­ physische Bedürfnisse -, doch ist sie aufgrund der organismischen Existenz des Menschen auch in anthropomorpher Deutung an das organismische Leben zu stellen.41 Die geforderte »Qualifizierung der Ganzheit« wird durch das Postulat der Kontinuität einer »Inner­ lichkeit« der Natur eingeholt, auf das die ontologische Überwindung des Nihilismus dann rekurriert (siehe OF, 341; Kapitel 2.3 und Kapi­ tel 2.5.3). Was Jonas der Systemtheorie daher letzlich vorwirft ist, dass sie sich als materialistische Konzeption für das Programm seiner ontologischen Ethik, die über die metaphysische Interpretation des Organismus einen normativen Naturbegriff entwickeln will, nicht eignet. Seine Kritik betrifft nicht mehr empirische Beschreibungsbzw. Erklärungsdefizite.42 41 Damit nimmt diese These das in GEN gegen Heidegger gerichtet Argument auf: »Wenn .es uns darum geht, nicht nur dass wir, sondern auch wie wir existieren, dann muss die blosse Tatsache, dass es ein solches Interesse irgendwo in der Welt gibt, auch die Ganzheit qualifizieren, die diesen Tatbestand enthält; und erst recht, wenn sie in hervorgebracht hat.« (OF, 316; kursiv im Original; siehe Kapitel 2.3) 42 Jonas setzt sich daher mit Weiterentwicklungen in der Systemtheorie wie den Selbst­ organisationstheorien oder den Konzepten der Autopoiesis nicht mehr auseinander und bezieht in seine weiteren Überlegungen systemtheoretische Ansätze allenfalls am Ran­ ^ 107

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2.4.1.3 Die Kritik an einer materialistischen Konzeption des Leih-Seele-Prohlems Die Kritik an einer materialistischen Konzeption des Leih-Seele-Prohlems ist Teil der ontologischen Begründung von Verantwortung, denn »Bedingung von Verantwortung ist kausale Macht« (PV, 172). Im Unterschied zur Kritik am evolutionstheoretischen und am sy­ stemtheoretischen Verständnis des Organismus argumentiert diese Kritik nicht mit einem metaphysischen Sinnhedarf organismischer Existenz. Die partikulare Tatsache, um die es jetzt geht, ist mensch­ liches Handeln, und die Kritik zielt auf den Aufweis von Inkonsisten­ zen materialistischer Konzeptionen des damit verhundenen LeihSeele-Prohlems. Jonas versucht, dieses nur indirekte Argument für einen integralen Monismus durch provisorische konzeptionelle Üb­ erlegungen zur psychophysischen Wechselwirkung zu stärken, hält jedoch eine Ausarheitung zur Begründung der ontologischen Ethik nicht für erforderlich. Die dafür wichtige Arheit ist »Macht oder Ohnmacht der Suhjektivität? Das Leih-Seele-Prohlem im Vorfeld des Prinzips Ver­ antwortung« (MOS 1981).43 Auf die dort entwickelte Kritik an der »Epiphänomen-These der Subjektivität«, auf die Jonas seine materia­ listische Konzeption des Leih-Seele-Prohlems zuspitzt, rekurriert er dann in weiteren Arheiten (siehe z.B. PV, 127ff.; PUMV, 218, 222). Mit »Suhjektivität« meint Jonas hier nun den Gegenhegriff zum Begriff kausaldeterministisch organisierter Materie. Er verwendet wechselweise die Ausdrücke »Seele«, »Psyche«, »Geist« und »Suhjektivität«, ohne auf Unterschiede einzutreten. Sachlich zielt seine Argumentation auf die kausale Wirksamkeit von Intentionen als psychischen Phänomenen, wie schon der Titel »Macht oder Ohn­ macht der Suhjektivität« anzeigt. Als Suhjektivität hezeichnet Jonas hestimmte Eigenschaften von Organismen. Er lehnt die Auffassung von Suhjektivität als Suhstanz explizit ah (siehe z. B. MOS, 35 f., 81 f.; PUMV, 217f.). de ein. In PV kommt er nochmals auf die Systemtheorie zurück. Er kritisiert dort die systemtheoretische Auffassung von »Geist« als emergente Eigenschaft. Darauf wird im Zusammenhang mit Jonas' Kritik an materialistischen Konzeptionen des Leih-SeeleProhlems eingegangen (siehe Kapitel 2.4.1.3). 43 Diese Arheit war als Teil von PV geplant und wurde dann aus Gründen des Umfanges -wie Jonas schreiht (siehe PV, 127) - separat puhliziert. Eine frühe Version der Üherlegungen erschien hereits 1976 als englischer Beitrag in einem Sammelhand (Jonas 1976). 108

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Jonas geht für die Widerlegung des Materialismus in MOS von zwei Prämissen aus (siehe MOS, 21 f.): (1) Der monistische Materialismus vertritt die These von der Vollständigkeit physischer Determination. Es handelt sich also um einen mechanistischen Materialismus. (2) Der monistische Materialismus kann nicht bestreiten, dass es Subjektivität als etwas Nicht-Materielles gibt - denn sonst würde der materialistische Theoretiker als argumentierender Theoretiker in einen pragmatischen Selbstwiderspruch geraten, oder er müsste sei­ ne Argumentation als kausaldeterministisches Wirkungsverhältnis interpretieren, was Jonas für absurd hält. Bezüglich der zweiten Prämisse argumentiert Jonas nun mit »Subjektivität« im Sinne von Geist, indem er die Wahrheits­ ansprüche des materialistischen Theoretikers anzieht. Doch ist damit über den nicht-materiellen Charakter psychischer Eigenschaften, insbesondere der Intentionalität, um die es Jonas in seiner Argumen­ tation geht, nichts gesagt. Dass Jonas hier die Differenz von Psyche und Geist argumentativ für nicht relevant hält, dürfte mit seiner Kontinuitätsthese (siehe Kapitel 2.4.1.2) zu tun haben, die er auch innerhalb der Subjektivität postuliert, und zwar als These von der Einheit des Seins (siehe Kapitel 2.4.2 und Kapitel 2.5.1). Jonas diskutiert nun, wie Subjektivität aus der Position eines materialistischen Monismus aufzufassen ist. Seine erste Strategie zielt darauf zu zeigen, dass der Materialismus, wenn er die Existenz von Subjektivität nicht bestreitet, bei der Erklärung des »Status der Subjektivität im Gesamtgefüge der Wirklichkeit« (MOS, 18) in In­ konsistenzen gerät und somit logische Gründe gegen den Materialis­ mus sprechen. Die zweite Strategie besteht darin, im Sinne eines Gedankenexperimentes eine Modellvorstellung psychophysischer Wechselwirkung zu entwickeln. Die Position eines materialistischen Monismus, der einen nicht-deterministischen Kausalbegriff vertritt, wird nicht in Betracht gezogen.44 Die erste Strategie zielt darauf, die »Unvereinbarkeitsthese« des Materialismus für unhaltbar zu erklären. Die »Unvereinbarkeits44 Im Nachwort von MOS nimmt Jonas dann die Quantenphysik zur Kenntnis und setzt damit zu einer gewissen Selbstkritik seiner Argumentation in MOS an. Biologische Systemtheorien, mit denen sich Jonas in den 50er Jahren auseinandergesetzt hat, und die ebenfalls einen nicht-mechanistischen Materialismus vertreten, bezieht er in diese Diskussion hier gar nicht ein. ^ 109

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These« besagt, »dass eine Wirkung des Psychischen auf das Physi­ sche unvereinbar ist mit der immanenten Vollständigkeit physischer Determination« (MOS, 22; kursiv im Original), denn die physika­ lischen Erhaltungsgesetze würden jedesmal verletzt, »wenn eine Wirkungsgrösse ohne physische Vorgängerschaft der bisherigen Summe hinzugefügt oder ohne physische Nachfolge von ihr abge­ zogen würde« (MOS, 25). Aus der Unvereinbarkeitsthese folgt daher die »Epiphänomen-These« der Subjektivität, die besagt, dass Psychi­ sches nicht auf Physisches einwirkt, sondern lediglich ein Epiphäno­ men ist. Den Begriff Epiphänomen expliziert Jonas dahingehend, »das Subjektive oder Psychische oder Mentale sei die Begleiterschei­ nung gewisser physischer Vorgänge in Gehirnen. Das Begleiten ist einseitig, nicht reziprok: die physischen Primärvorgänge sind als sol­ che autonom, ihre sekundäre psychische Erscheinung ist total hete­ ronom, oder blosses Produkt eines anderen.« (MOS, 46f.) Jonas nennt nun in MOS zunächst fünf Gründe, die für die Plausibilität dieser Position sprechen: den Vorrang der Materie vor dem Geist, die Vollständigkeit physischer Determination, das Kriterium der Sparsamkeit, die Entbehrlichkeit des subjektiven Zwecks und schliesslich das Kriterium der Simulierbarkeit (siehe MOS, 35-43). Jonas führt seine Position des integralen Monismus in der Diskussion der beiden ersten Argumente ein, auf die ich daher eingehe. Mit dem Vorrang der Materie vor dem Geist - »der hier jeden Modus der Subjektivität umfassen soll« (MOS, 35 f.) - ist die These gemeint, dass es Materie ohne Geist, jedoch nicht Geist ohne Materie gibt - eine These, der Jonas zustimmt. Wogegen sich Jonas wendet ist die daraus gezogene Folgerung, dass - weil uns »kein Beispiel körper­ losen Geistes bekannt ist ... der Stoff selbständiges und ursprüngli­ ches, der Geist von ihm bedingtes und abgeleitetes Sein hat« (MOS, 36, siehe 46; PV, 132). Jonas ergänzt ein zweites Argument für den Vorrang der Materie, von dem er wiederum der Prämisse, aber nicht der Konklusion zustimmt: dass die Materie erhalten bleibt, wenn der Organismus stirbt (Prämisse), spricht dafür, dass die Materie, nicht der Geist, das Unvergängliche ist (Konklusion). In Jonas' Worten »ist, auf die kürzeste Formel gebracht, die Sterblichkeit als solche das stärkste Argument für die ontologische Priorität der Materie (die ontische steht ohnehin ausser Frage) und das bloss sekundäre Dasein des Geistes.« (MOS, 43 f., siehe 120). Das Zitat signalisiert bereits den Weg, wie Jonas gegen die jeweilige Konklusion argumentiert. Er unterscheidet zwischen einer ontischen und einer ontologischen 110

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Priorität, die sich nicht gegenseitig implizieren. Die sachlichen Gründe, die gegen eine ontologische Priorität der Materie sprechen, gewinnt Jonas sodann in der Diskussion der These von der Vollstän­ digkeit physischer Determination, die das zweite Argument für die Epiphänomen-These der Suhjektvität darstellt. In dieser Diskussion setzt Jonas den Materialismus mit einem Mechanismus gleich (siehe MOS, 16) und verwendet entsprechend die beiden Ausdrücke auch synonym. Er diskutiert drei Punkte zur Epiphänomen-These. Erstens ist es nicht die ontischen Priorität der Materie - die Jonas nicht bestreitet - sondern der mechanistische Materialismus, der die Epiphänomen-These nahelegt. Zweitens wi­ derspricht Subjektivität auch als Epiphänomen dem mechanistischen Materialismus.45 Drittens ist die Epiphänomen-These aus der Positi­ on des mechanistischen Determinismus eine Absurdität.46 Dies be­ 45 Jonas führt hier vier einleuchtende Argumente an: Ein Epiphänomen kann als Epi­ phänomen nicht kausal bedingt sein. Da der Materialismus aber nur die deterministi­ sche Kausalität kennt, kann er nicht erklären, wie Subjektivität entsteht: »Die Schöpfung der Seele aus dem Nichts ist das erste ontologische Rätsel, mit dem die Theorie des Epiphänomenalismus der Physik zuliebe, in der sonst niemals etwas aus nichts entstehen soll, sich abfindet.« (MOS, 47f.) Dass Psychisches seinerseits nicht kausal wirken kann, führt auf einen zweiten Widerspruch: »Die Folgenlosigkeit eines physisch Bewirkten ist das zweite ontologische Rätsel, mit dem die Epiphänomen-Theo­ rie des Bewusstseins der Physik zuliebe, in der sonst nichts ohne Folgen bleiben soll, sich abfindet.« (OF, 49) Das bedeutet drittens, dass subjektive Zustände ein Schein sind, und dass zugleich die Tatsache dieses Scheines nicht erklärbar ist: »Das Dasein eines solchen >Wahnes an siche ist das absolute metaphysische Rätsel, das die Epiphänomen-These der Physik zuliebe in Kauf nimmt.« (MOS, 53) Viertens wird die Bestimmung des Subjektes von subjektiven Zuständen unmöglich, denn es ist eine »sich selbst erscheinende Er­ scheinung, oder ein Nichts reflektiert in einem Nichts: dies ist das unauflösliche logische Rätsel« (MOS, 56) Auf das von Jonas als zweites und als drittes Problem genannte verweist auch Kim in seiner Diskussion des Epiphänomenalismus in bezug auf mentale Verursachung. Da eine kausale Wirkungslosigkeit mentaler Eigenschaften bedeutet, dass das Netzwerk kausaler Relationen durch mentale Eigenschaften in keiner Weise verändert wird - Subjektivität in der Welt keine Wirkungen zeitigt -, betont Kim: »It is the causal efficacy of mental properties that we need to vindicate and give an account of.« (Kim 1996, 139). 46 Erstens widerspricht die Auffassung von Subjektivität als Epiphänomen der These von der Vollständigkeit physischer Determination, um deretwillen sie eingeführt wur­ de, denn es ist nicht einsehbar, »wie kausaler Nullaufwand eines Werdens und kausaler Nullwert eine Gewordenen, ja wie überhaupt ein Verhältnis ohne Wechselwirkung Platz haben kann in einer Welt, die nur unter ihrer Bedingung als eine gedacht werden kann« (MOS, 59; kursiv im Original). Zweitens ist es nicht einsehbar, wieso überhaupt Subjektivität entsteht, wenn sie völlig funktionslos ist, der Epiphänomenalismus ist eine »Absurdität eines betrügerischen Scheins« (MOS, 60). Drittens begibt sich der Materia­ ^ 111

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deutet dann aber, dass die beiden Prämissen - die Vollständigkeit physischer Determination und die »Tatsache der Subjektivität« nicht miteinander behauptet werden können. Angesichts dieser Situation ist für Jonas die These von der Vollständigkeit physischer Determination aufzugeben. Denn als unvereinbar stehen sich hier genau genommen ein physikalisches Erkenntnisideal, das sich heuristisch in der Systematisierung der Phänomene bewährt hat, und die Evidenz der menschlichen Selbst­ erfahrung des Handelns, die ohne pragmatischen Selbstwiderspruch nicht bestritten werden kann, gegenüber. Jonas setzt sich später mit der Quantenphysik auseinander und sieht in ihr ein hinreichendes Argument gegen die These von der Vollständigkeit physischer Deter­ mination, sodass damit die Unvereinbarkeitsthese als Argument ge­ gen psychophysische Wechselwirkung wegfällt.47 Bei diesem Argu­ ment übersieht er aber, dass im Falle eines nicht-mechanistischen Materialismus der Status von Subjektivität wieder offen ist. Denn für den nicht-materiellen Status von Subjektivität wurde ja gerade mit dem mechanistischen Materialismus argumentiert. Insbesondere irritiert hier, dass Jonas an anderen Stellen - selbst auch in MOS und PV - der Systemtheorie konzediert, dass sie sich »mit entsprechender Subtilisierung auch auf das Motivations-, Denk-, und Entschei­ dungsleben des Menschen übertragen« (PV, 126; siehe MOS, 41 f.) lässt. Zugleich kritisiert Jonas jedoch wenige Seiten später eine mo­ nistische Emergenztheorie der Subjektivität (PV, 133-136) als »lo­ gisch misslich« (PV, 134) und unterstellt dabei Emergenztheorien einen mechanistischen Materialismus, womit sie unter seine Kritik am psychophysischen Parallelismus und am Epiphänomenalismus fallen.48 list damit in einen pragmatischen Selbstwiderspruch, was den Status seiner Theorie betrifft, der Epiphänomenalismus ist die »Absurdität einer theorievernichtenden Theo­ rie« (MOS 62f.). 47 Jonas stellt sich zunächst eine »Lockerung« im Rahmen der klassischen Mechanik vor (siehe MOS, 30, 45). Erst im Nachwort zu MOS, das auf Gespräche mit dem Physiker Friedrichs zurückgeht, der ihm Grundgedanken der Quantenphysik nahebringt, gibt er den Versuch auf, »der klassischen Mechanik irgendwelchen Spielraum aufUnbestimmt­ heit irgendwelcher Art abzugewinnen. ... Die Physik vor der Quantenmechanik kann das psychophysische Problem nicht anders als deterministisch behandeln und ist daher wirklich unverträglich mit Wechselwirkung zwischen stofflichen Vorgängen und Geist, wenn Geist etwas anderes als stofflicher Vorgang ist.« (MOS, 91) 48 Dass Emergenztheorien eine materialistische dritte Position zum Vitalismus und zum mechanistischen Materialismus darstellen und insofern das Gegenprogramm zu 112

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Da für Jonas der nichtmaterialistische Status von Subjektivität ausgewiesen und die Unvereinbarkeitsthese erfolgreich zurückge­ wiesen sind, stellt sich nun die Frage, wie psychophysische Wechsel­ wirkung zu erklären ist.49 Er schlägt ein Gedankenexperiment vor, das lediglich zeigen soll, dass psychophysische Wechselwirkung wi­ derspruchsfrei denkbar ist, und nicht, wie sie de facto erfolgt (MOS, 83 f.) Der Grundgedanke dieses »rein spekulativen Modelles« besteht darin, dass der Organismus in die Naturkausalität eingebunden ist und zwar doppelseitig, d. h. rezeptiv und spontan. Zwischen afferen­ ten Reizen - dem kausal bewirkten input - und efferenten Reizen, dem kausal wirkenden output - findet eine subjektiv operierende In­ formationsverarbeitung statt, die auf nicht-kausale Weise den seiner­ seits wiederum kausal wirkenden output bestimmt. Die These dabei ist, dass die subjektive Verarbeitung entscheidet, welcher von ver­ schiedenen möglichen und ihrerseits dann kausal wirkenden outputs realisiert wird. Jonas nennt dieses Modell das »Auslöserprinzip« der Subjektivität (MOS, 72). Gemeint ist, dass Subjektivität nicht neue Wirkungen einführt, sondern den Ausschlag gibt, welche von ver­ Jonas' Programm vertreten, ist Jonas nicht hinreichend deutlich. Die Art und Weise, wie er den Emergenzbegriff expliziert, zeigt, dass ihm zudem die Voraussetzung hierarchi­ scher Systemstrukturen für die Anwendung des Emergenzbegriffes nicht klar ist (zu den Voraussetzungen des Emergenzbegriffes siehe Hoyningen-Huene 1994, 169ff.). Denn er argumentiert, emergente, d.h. neue Wirkungsformen, sollen nicht »selber ein Faktor in diesem Gefüge [des Unterbaues] werden« (PV, 134; kursiv im Original). Wenn emergente Eigenschaften als neue Eigenschaften auf höherer Stufe hervorgehen sollen, bedeutet das nach Jonas, dass sie hinzukommen müssen, ohne das »Vorige« zu verän­ dern. Jonas schliesst damit »downward causation« aus, sieht jedoch zugleich, dass diese für die kausale Wirksamkeit von Subjektivität gefordert ist (siehe Kim 1996, 229ff.). Deshalb muss nach Jonas »das - theoretisch wertvolle - Prinzip auftauchender Neuheit, soll es nicht gänzlich willkürlich und damit irrational sein, temperiert werden ... durch das der Kontinuität, und zwar einer inhaltlichen, nicht bloss formalen Kontinuität« (PV, 135; kursiv im Original). Daher vertritt er die Auffassung: »Nur in Verbindung mit einer generell >aristotelischen< Ontologie ist die Emergenzlehre logisch haltbar.« (PV, 135) 49 Jonas lehnt nun sowohl die quantenphysikalische Komplementarität als auch die quantenphysikalische Unbestimmtheit als Modellvorstellung zur Erklärung der psycho­ physischen Wechselwirkung ab: Psychophysische Wechselwirkung als Komplementari­ tät von Physischem und Psychischem verstanden würde ein Modell des psychophysi­ schen Parallelismus beinhalten, aber kein Interaktionsmodell. Die quantenphysikalische Unbestimmtheit ist subatomare Unbestimmtheit, die nicht auf die Makroebene durch­ schlägt. Genau dies gilt jedoch für psychophysische Wechselwirkung. Zudem ist psychi­ sche Aktivität regelhaft, ihre Freiheit ist nicht die statistischer Zufälligkeit (siehe MOS, 97 ff.). ^ 113

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schiedenen möglichen Wirkungen eintritt.50 Zur anschaulichen Illu­ stration dieses Grundgedankens schlägt Jonas vor, sich Physis und Psyche als zwei Zellen vorzustellen, die ganz verschieden organisiert sind und deren gemeinsame Zellwand für gegenseitigen input und output durchlässig ist.51 Dass diese Modellvorstellung wissenschaft­ lich nicht haltbar sein wird (siehe MOS, 83, 115), hält er für die on­ tologische Begründung der Ethik nicht für relevant: »Für unseren Zweck, der nicht allgemeine Seinslehre, sondern Begründung der Ethik ist, genügte es, zu zeigen, dass sie [d.h. die psychophysische Wech­ selwirkung] faktisch ist, also auch möglich und mit der übrigen Natur verein­ bar sein muss (die dann ihrerseits dieser apriorischen Vereinbarkeit gemäss zu interpretieren wäre), und dies getan können wir das Rätsel des >Wie?< be­ scheiden offen lassen.« (MOS, 67; siehe 85, 90, 114; kursiv im Original)52

Damit kommt Jonas in seiner Kritik an materialistischen Konzepten 50 Der Sache nach skizziert Jonas hier einen interaktionistischen Dualismus, wie er von Carrier & Mittelstraß charakterisiert wird: »Nach interaktionistischer Auffassung ist es möglich, dass der Grund dafür, dass auf den physiologischen Zustand F1 der Zustand F2 folgt, der ist, dass die psychologischen Zustände Y1 und Y2 gesetzmässig miteinander verknüpft sind. Das beinhaltet die Behauptung, dass in solchen Fällen die Verknüpfung von F1 und F2 nicht durch neurophysiologische Kausalgesetze gestiftet ist, sondern auf psychologischen Gesetzen beruht.« (Carrier & Mittelstraß 1989, 173) Siehe in diesem Zusammenhang auch Krügers »Verzweigungskonzept« des kausalen Bewirkens (Krüger 1992; Krüger 1994). 51 »Worauf es ankommt ist, dass in dem mentalen Intervall zwischen input und output ein Prozess völlig anderer Ordnung als der physischen liegt. Wie gross oder klein die Schleife des Kreislaufs sei, die jenseits der Wand, in der psychischen Dimension, ver­ läuft, sie steht nicht unter Regeln quantifizierbarer Kausalität, sondern mentaler Signi­ fikanz. >Determiniert< ist natürlich auch sie, insofern alles in ihr seinen Grund hat, aber das heisst eben: bestimmt durch Sinn, Neigung, Interesse und Wert, kurz, nach Geset­ zen der Intentionalität, und dies ist es, was wir unter Freiheit verstehen. Der Ertrag wird dann schliesslich in die physische Sphäre zurückgespeist ... Bei dem Transfer hin und her, wo Zugang und Abgang ständig stattfinden, bleibt auf der physischen Seite die Gesamtbilanz gleich (für die psychische lässt sich von so etwas nicht reden), und es ist das Niveau dieser Bilanz, auf dem die Naturwissenschaft ihr Erklären vollzieht: das Verstehen desselben Vorgangs geschieht vom Niveau des momentan ausser der Bilanz Stehenden ... her, dem es auch intentional entsprang.« (MOS, 79; kursiv im Original) 52 In einer Fussnote in MOS vertritt Jonas die Auffassung, dass eine wissenschaftliche Untersuchung der psychophysischen Interaktion unmöglich ist: »Was die Grenze von Natur und Geist kreuzt (also >metaphysisch< im buchstäblichen Sinne ist), kann keine wissenschaftliche Hypothese sein.« (MOS, 124). Doch selbst ein »>ignorabimus< gemäss den Kriterien der Naturwissenschaft [braucht] die begriffliche Anstrengung spekulati­ ver Philosophie in dieser Frage nicht zum Halten zu bringen« (MOS, 116; kursiv im Original). 114

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des Leib-Seele-Problems an denselben Punkt, an den er auch in der Kritik am Darwinismus und an der Systemtheorie gelangt ist: Er trennt am Ende seine Ontologie doch von empirischen Fragen ab und macht sie damit zu einer rein metaphysischen Spekulation. Er geht hier sogar noch einen Schritt weiter, indem er die ontologische Begründung der Ethik von einer durchgeführten allgemeinen Onto­ logie löst. Jonas weiss um dieses Manko, denn er schreibt im Vorwort von MOS, er leiste im folgenden lediglich »die Hinwegräumung eines Irrtums, dessen Herrschaft eine Begründung der Ethik unmög­ lich macht, ohne dass die Hinwegräumung für eine solche Begrün­ dung mehr tut als sie eben zu ermöglichen« (MOS, 7). Hinweg­ geräumt werden soll der Irrtum, der kausale Zusammenhang der Materie schliesse eine kausale Wirksamkeit des Geistes aus. Doch wird keine Theorie zur kausalen Wirksamkeit des Geistes entwickelt, und es ergeben sich daraus auch keine Folgerungen für die Ethik (siehe Kapitel 2.5.3). Jonas' metaphysische Spekulation im Anschluss an sein Gedankenexperiment zeigt dieses Manko: »Das Jenseits der Wand ist kein Niemandsland, welches das Seinige für sich behält und worin es sich wie in einem Geisterreich verliert, sondern wie es fortlaufend nur von der Einspeisung aus dem Physischen lebt, erstattet es diesem das durch seine Transformation Hindurchgegangene zurück und gehört mit ihm zum selben einigen Sein, nur mit grundverschiedenem Nexus grundverschiedener Elemente innerhalb seiner Eigendimension: Die Ver­ schiedenheit hebt die Einheit nicht auf: das einige Sein ist eben durch den vorherrschenden physischen Aspekt noch nicht erschöpft, wie uns die Stim­ me unseres Selbst von jeher gesagt.« (MOS, 81 f.; kursiv im Original)

Die metaphysische Spekulation postuliert einen Dualismus geistiger und materieller Prinzipien und lehnt einen Dualismus der Substan­ zen ab, doch das Bild von zwei Zellen mit durchlässiger Zellwand ist als Modell des »selben einigen Seins« ungeeignet: Es verwendet wie schon Descartes - als Bild für Geist und Materie zwei Körper in diesem Falle nun Zellen.53 Weder bildet also das spekulative Mo­ dell das »Einige des Seins« ab, noch erläutert Jonas begrifflich die Einheit des Seins. Es ist daher nicht zufällig, dass die zentralen Begriffe von Jonas' 53 Im Nachwort zu MOS bemerkt Jonas die Nähe seines Modelles zu Descartes selbst. Er kommentiert dort sein Modell mit der Klammerbemerkung: »(in dieser zweiseitigen Umschlagsrolle an Descartes' Zirbeldrüse unseligen Angedenkens erinnernd, doch von besserer theoretischer Dignität)« (MOS, 114f.). ^ 115

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Ontologie - »Geist« und »Materie«, deren Einheit dann im Begriff »Natur« gefasst sein soll, inhaltlich unscharf und vieldeutig Weihen. Die Kritik am Materialismus mündet insgesamt in ein Programm, das Begrifflichkeit und inhaltliche Annahmen der Beschreihung und Interpretation des Organismus im Hinhlick auf einen normativen Naturhegriff als inhaltlich unahhängig von einem hiologischen (öko­ logischen) Naturhegriff hetrachtet und dafür nur auf eine kontem­ plative Naturdeutung rekurriert (siehe Kapitel 2.5). Der integrale Monismus fordert lediglich eine wechselseitige existentielle Ahhängigkeit von Geist und Materie, was als These der Koextensivität von Geist und Materie formuliert wird (siehe Kapitel 2.4.2). Dies sind Indizien dafür, dass Jonas' Ontologie nicht analytisch an empirische Beohachtung anschliesst, sondern eine metaphysische Inspiration auslegt. Darauf wird nun in Kapitel 2.4.2 eingegangen. 2.4.2 Die Kritik am Idealismus und Jonas' Gegenposition eines kosmogonischen Mythos Dem Idealismus, den Jonas auch einfach als »Metaphysik« hezeichnet, wirft er nun nicht das Fehlen einer metaphysischen Sinninter­ pretation vor, sondern dass diese Sinndeutungen inadäquat sind. Die »partikuläre Tatsache«, die hier mit der umfassenden Anschauung kollidiert, ist wiederum die existentielle Erfahrung der Todesangst die für Jonas' Ontologie ausgezeichnete Erfahrung.54 Die meines Wissens erste Kritik am Idealismus findet sich in der Arheit »Ist Gott ein Mathematiker?« (GM 1951), und zwar in einem Anhang »Be­ merkungen zu Whiteheads Philosophie des Organismus«. Die Kritik hesagt, dass eine idealistische Metaphysik letztlich »eine Geschichte wesenhaft garantierten Erfolgs« (OF, 150) schreiht.55 Dieser summa­ 54 Die existentielle Erfahrung der Todesangst ist deshalh ontologisch ausgezeichnet, weil die Sterhlichkeit das Lehen als Lehen charakterisiert. Daher lässt - so Jonas in EF (1983/84)- »der gewaltige Preis der Angst, der von Anheginn vom Lehen zu zahlen war und sich parallel mit seiner Höherentwicklung steigert, ... die Frage nach dem Sinn dieses Wagnisses nicht zur Ruhe kommen« (PUMV, 15). Jonas ist allerdings in WBG (1985) der Auffassung, dass der Mensch als einziges von allen Wesen weiss, dass er sterhen muss, und deshalh nicht ohne ein Selhstverständnis lehen kann, das »das schwankende Ergehnis fragender Spekulation ist« PUMV, 46): »So erheht sich aus den Grähern die Metaphysik.« (PUMV, 46). 55 Jonas formuliert dort ahschliessend die folgende Kritik an Whiteheads Metaphysik: »Während die Polariät von Selhst und Welt, wie auch die von Freiheit und Notwendig­ keit, Raum in Whiteheads System findet, tut es die von Sein und Nichtsein entschieden 116

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rische Einwand der success story gegen idealistische Positionen steht auch im Vorwort von OF (siehe OF, 4) und findet sich unverändert 1988 in MGS: »Es ist also, kurz und bündig gesagt, auch nichts mit dieser einzigartigen, genialen Alternative zu aristotelischer Teleologie, Hegels Dialektik; noch we­ niger natürlich mit den kleineren Nachfolgern, wie Teilhard de Chardins Lehre von der zunehmenden Vergeistigung des Alls auf ein panmentales Omega hin. Der gemeinsame substantielle (nicht etwa erkenntnistheore­ tisch-formale) Einwand gegen all diese Erdichtungen der spekulativen Ver­ nunft ist der, dass sie uns selbstgarantierte success stories vom Sein erzählen, die nicht fehlgehen können. Und eine solche Erfolgsgeschichte, Apotheose dessen was ist, scheint mir jede der grossen Metaphysiken zu sein, von denen ich aus der Denkgeschichte weiss: sei es im Sinne statisch-permanenter Voll­ kommenheit, wie Spinozas deus sive natura, oder der Weltlogos der Stoiker, oder das vom unbewegten Beweger ewig teleologisch bewegte Universum des Aristoteles; sei es im Sinne eschatologisch-perfektibilistischer Dynamik, wie eben Hegels - der sich mit diesem dynamischen Aspekt, der Option für das Werden, immerhin als der moderne unter den Metaphysikern erweist, ähn­ lich anderen Prozessdenkern der Neuzeit, wie Leibniz und Whitehead. All diesen hochherzig-optimistischen Konstruktionen schlägt der kosmologische wie der anthropologische Befund, dem wir uns nicht verschliessen dürfen, ins Gesicht. Also muss eine Metaphysik, die der Verführung des >siehe es ist gut< widersteht und doch das Zeugnis des Lebens und des Geistes für die Natur des Seins nicht missachtet, Raum lassen für das Blinde, Planlose, Zufällige, Unbe­ rechenbare, äusserst Riskante des Weltabenteuers, kurz für das gewaltige Wagnis, das der erste Grund, wenn denn der Geist dabei war, mit der Schöpfung einging.« (PUMV, 243 f.; kursiv im Original)

Dass der »kosmologische und anthropologische Befund« (PUMV, 244) gegen eine Metaphysik des Erfolgs sprechen, ist keine Kritik an Metaphysik als solcher, sondern an dem spezifischen Begriff von Geist bzw. Gott dieser Positionen. Dies meint Jonas mit der Bemer­ kung, es handle sich nicht um einen erkenntnistheoretisch-formalen Einwand, also einen Einwand gegen Metaphysik, sondern um einen nicht - und damit auch nicht das Phänomen des Todes (noch, beiläufig, das des Bösen): welches Verständnis des Lebens aber kann es geben ohne ein Verständnis des Todes? Die tiefe Angst biologischer Existenz hat in dem grossartigen Schema keinen Platz. White­ head, in dieser Hinsicht nicht ungleich Hegel, hat in seiner Metaphysik eine Geschichte wesenhaft garantierten Erfolgs geschrieben: Alles Werden ist Selbstverwirklichung, jedes Geschehen ist in sich selbst vollendet (oder es wäre nicht aktuell), jedes Vergehen ist ein Siegel auf die Tatsache erreichter Vollendung. >Tod, wo ist dein Stachel?S ist noch nicht Pc dienen, wo >P< das Erwünschte und Aufgegebene als universaler Zustand und seine Herbeiführung unsere Aufgabe ist. Der fragliche Zustand ist der des Menschen. Das Noch-nicht-sein von >P< als Zustand des Menschen überhaupt besagt dann, dass der eigentliche Mensch erst bevorsteht und der bisherige es noch nicht ist und nie war. Alle bisherige Geschichte ist Vorgeschichte des wahren Menschen, wie er sein kann und sein soll. ... Man kann sagen, dass er [der Marxismus] den Ertrag der Baconischen Revolution unter die Kontrolle der besten Interessen des Menschen bringen und damit ihr ursprüngliches Versprechen einer Erhöhung der ganzen Menschenart, das beim Kapitalismus in schlechten Händen lag, einlösen will.« (PV, 256; kursiv im Original) 57 Jonas argumentiert hier überzeugend: »Eine säkularisierte Eschatologie vom neuen Adam muss die göttliche Wundertat, welche dort [in der Religion] die Verwandlung bewirkt, durch weltliche Ursachen ersetzen, und solche Ursachen sind bei ihr die äus­ seren Bedingungen des menschlichen Lebens, welche geschaffen werden können, näm­ lich durch die Vergesellschaftung der Produktion. Eben diese Schaffung der Bedingun­ gen ist die Aufgabe der Revolution, der hier die Rolle des göttlichen Eingreifens zufällt, und das Weitere muss ihrem vollendeten Ergebnis überlassen bleiben. Ohne Ausschüt­ tung des heiligen Geistes wird es durch sich das Pfingstwunder bewirken. . Umgekehrt wie bei den früheren Utopien ist es das Kommen, nicht das Sein der Utopie, worüber der Marxismus etwas zu sagen hat. Das Sein ist auch für ihn im voraus so unbeschreibbar wie das Gottesreich in der religiösen Eschatologie - ausser dass, wie dort die Sünde, hier die Übel der Klassengesellschaft verschwunden sein werden, also negativ.« (PV, 313f.; kursiv im Original) 118

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wickeln, was Jonas auch klar sieht. Während die Kritik am Materia­ lismus die Notwendigkeit einer kontemplativen Naturdeutung auf­ zeigen soll, geht es in der Kritik am Idealismus somit darum, den Bezugspunkt für die Konzeption dieser kontemplativen Naturdeu­ tung und für die Legitimation ihrer normativen Verwendung zu ge­ winnen. Dieser Bezugspunkt ist ein philosophischer Gotteshegriff. Damit wird der integrale Monismus zu einer onto-theologischen Konzeption. In dem 1961 verfassten Aufsatz »Immortality and the Modern Temper«, der 1963 auf Deutsch unter dem Titel »Unsterhlichkeit und heutige Existenz« (UHE) in dem Band »Zwischen Nichts und Ewig­ keit« erscheint und als Ahschlusskapitel 12 in »Organismus und Freiheit« aufgenommen wird (OF, 317-339), skizziert Jonas seinen Gotteshegriff in einem Schöpfungsmythos und schliesst daran eine Skizze seiner Metaphysik als Mythos an. Jonas entnimmt diesen Schöpfungsmythos manichäischen Schriften (siehe OF, 329 f.) und kommentiert ihn dann folgendermassen: »Eine volle dogmatische Deutung dieser Symholik ginge weit üher die Gren­ ze dieses Aufsatzes hinaus. Hier genügt dies zur Erklärung: jenes >Letzte BildnisUrmensch< trägt und dessen vor­ weltliche Selhstauslieferung an die Dunkelheit und Gefahr des Werdens das stoffliche Universum möglich und zugleich notwendig machte.« (OF, 330)

Jonas fragt sich nun, »in was für eine vollständige Metaphysik« (OF, 331) ein solches »hypothetisches Fragment« (OF, 331) passen würde und greift zu diesem Zweck »zum Mittel des Mythus oder der glauhlichen Erfindung, das Plato dafür erlauhte« (OF, 331). Die Erzählung dieses Mythos erstreckt sich üher acht Seiten. Sie heginnt mit der Selhstentäusserung Gottes, die Jonas nun nicht als eine pantheistische Immanenz verstanden wissen will, denn »wenn Gott und Welt einfach identisch sind, dann stellt die Welt in jedem Augenhlick und jedem Zustand seine Fülle dar, und Gott kann weder verlieren noch gewinnen. Vielmehr, damit Welt sei, und für sich selhst sei, entsagte Gott seinem eigenen Sein« (OF, 332). Den Kerngedanken dieses Gotteshegriffes fasst Jonas in dem Be­ ^ 119

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griff der Möglichkeit, unter dem er hier nun ein nicht-deterministi­ sches kosmogonisches Prinzip versteht, erst in zweiter Linie und da­ von abgeleitet auch ein Prinzip der Individualgenese. Er schreibt da­ zu: »In solcher Selbstpreisgabe göttlicher Integrität um des vorbehaltlosen Wer­ dens willen kann kein anderes Vorwissen zugestanden werden als das um die Möglichkeiten, die kosmisches Sein durch seine eigenen Bedingungen ge­ währt: eben diesen Bedingungen lieferte Gott seine Sache aus, da er sich entäusserte zugunsten der Welt. ... Es ist der Weltzufall, auf den die werdende Gottheit wartete und mit dem ihr verschwenderischer Einsatz zuerst Zeichen seiner schliesslichen Einlösung zeigt. Aus der unendlich schwellenden Dünung von Fühlen, Wahrnehmen, Streben und Handeln, die immer man­ nigfacher und intensiver über den stummen Wirbeln der Materie sich hebt, gewinnt die Ewigkeit Kraft, füllt sich mit Inhalt um Inhalt von Selbstbeja­ hung, und zum erstenmal kann der erwachende Gott sagen, die Schöpfung sei gut.« (OF, 332; kursiv im Original)

Zur Gefahr wird diese Selbstauslieferung Gottes an die Möglichkei­ ten, die kosmisches Sein durch seine eigenen Bedingungen gewährt, mit dem Auftreten des Menschen, das Jonas als »ein zögerndes Auf­ tauchen der Transzendenz aus der Immanenz« (OF, 332) charakteri­ siert. Denn damit »weicht die Unschuld des blossen Subjekts sich selbsterfüllenden Lebens der Aufgabe der Verantwortung unter der Disjunktion von Gut und Böse« (OF, 334). Diesen Gottesbegriff be­ zeichnet Jonas in der Folge als den »Gottesbegriff nach Auschwitz«, der Auschwitz als einem »theologischen Ereignis« (PUMV, 244, siehe 193) durch den Gedanken der Selbstpreisgabe Gottes Rechnung tragen soll und damit trotz der Immanenz Gottes in der Welt nicht in eine success story mündet (siehe OF, 332; PUMV 194, 244 ff.). Jonas führt diesen Gottesbegriff in GA (siehe PUMV, 190-208) weiter aus und rekurriert auch in MGS darauf (siehe PUMV, 244ff.).58 Dass die göttliche Sache hinfort dem Menschen anvertraut ist (siehe OF, 334), ist für Jonas der metaphysische Grund der Ethik er spricht davon, dass sich aufgrund dieses Mythos »gewisse ethische Folgerungen aus der Metaphysik ergeben« (OF, 335; siehe PUMV, 247). Da der Mensch »>für< das Bild Gottes geschaffen wurde, ... ist 58 Hösle schliesst an Jonas' Kosmogonie an, weist aber die These von der vollständigen Selbstentäusserung Gottes zurück (siehe Kapitel 3.3.2.2). Auch Löw (1994) problemati­ siert an Jonas' Gottesbegriff, dass Gott die Allmacht abgesprochen wird, weil damit die Grundlage für die übrigen Prädikte wie Allwissenheit und Güte weg fällt (siehe Löw 1994, 93). 120

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unsere Verantwortung nicht nur durch die Hinsicht weltlicher Folgen allein bestimmt, ... sondern reicht in eine Dimension, wo Wirksam­ keit sich nach transkausalen Normen inneren Wesens hemisst« (OF, 335). Im Anschluss daran führt Jonas meines Wissens erstmals sei­ nen ontologischen Verantwortungshegriff ein (siehe OF, 338 und Ka­ pitel 2.5.4), der dann in PV zu einer Theorie der Verantwortung - als Gegenprogramm zu Blochs »Prinzip Hoffnung« - ausgearheitet wird. Die Rekonstruktion von Jonas' Begriff des Guten und seiner Theorie der Verantwortung zeigen jedoch, dass sich die von Jonas' angestrehte metaphysische Alternative zu success stories nicht hal­ ten lässt (siehe Kapitel 2.5.3 und Kapitel 2.5.4). Soll es sich in der Tat um eine Alternative zum metaphysischen Geschichtsdeterminismus handeln, die Jonas mit der These von der vollständigen Selhstpreisgahe Gottes ja anstreht, dann muss letztlich auch der Begriff des Gu­ ten der menschlichen Selhsthestimmung preisgegehen werden. Da­ mit wird aher eine metaphysische Begründung der Ethik hinfällig. Rolle und Methode der ontologischen Auslegung des Organis­ mus in der ontologischen Begründung der Ethik lässt sich von dieser These von der Immanenz Gottes als metaphysische Alternative zum Geschichtsdeterminismus verstehen. Die Entmythologisierung der Gottesidee üher den Aufweis der Immanenz Gottes in der Natur mit­ tels einer anthropomorphen existentialen Auslegung des Organis­ mus ist nichts anderes als die Entwicklung eines Gotteshegriffes. Die­ ser ist nicht deterministisch, weil »Gott seinem eigenen Sein entsagte« (OF, 332), und deshalh ist Gott hzw. Geist nur als imma­ nenter erkennhar.59 Daher formuliert Jonas in PLLLS auch die These, dass Geist nicht ohne Stoff sein kann (siehe OF, 29). Diese These ist dort gegen den Dualismus gerichtet, sie trifft im Prinzip aher auch den Idealismus. Aus demselhen Grund argumentiert Jonas dann ge­ gen den Materialismus mit der These der »Koextensivität von Inner­ lichkeit und Lehen« hzw. der »Kontinuität eines geistigen Prinzips«. Das Programm eines integralen Monismus, das Jonas in seiner Kritik am Dualismus, am Materialismus und am Idealismus mit dem Auf­ 59 Hinter Jonas' Kritik an Heideggers Existentialanalyse, dass »die Gegenwart von Din­ gen, ... meine Mitgegenwart mit ihnen, auch mir eine Gegenwart anderer Art« (OF, 313) in der kontemplativen Schau der Natur gewährt, steht diese metaphysische These, und diese These erklärt auch die Doppeldeutigkeit von »Gegenwart« - die Gegenwart von Dingen im Sinne eines Zeitmodus gewährt eine Gegenwart im Sinne von Zeitlosigkeit - sowie von »Natur« als gegenständlicher kontemplativer Begriff und als regulative Idee (siehe Kapitel 2.3). ^ 121

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weis einer »Kollision von Tatsache und umfassender Anschauung« zu legitimieren suchte, wird erst von seinem Gotteshegriff her ver­ ständlich - dem Postulat der vollständigen Immanenz Gottes in der Welt. Gott als »Prinzip in der Natur« ist die »höhere Einheit des Seins« (OF, 30), in die der neue integrale Monismus die Polarität von Geist und Materie aufhehen soll, statt sie rückgängig zu machen (siehe OF, 30). So schreiht Jonas in MGS: »Was denn zu einer moni­ stischen Lösung nötig scheint, ist eine ontologische Revidierung, eine Auffüllung des Begriffes der >Materie< üher die äusseren Messharkeiten der Physik hinaus, die davon ahstrahiert wurden - also eine Metaphysik des Weltstoffes.« (PUMV, 219) Für diese Metaphysik des Weltstoffes argumentiert Jonas nun sowohl im Sinne einer schwachen als auch einer starken anthropischen These60, wohei er sich im ersten Schritt auf die Entstehung 60 Anthropische Prinzipien ziehen aus der Existenz des Menschen Folgerungen üher Beschaffenheit und Entstehung des Kosmos, indem nach den notwendigen Bedingungen im Universum für die Entstehung von Lehen, Bewusstsein und Intelligenz gefragt wird: Wenn wir als Beohachter existieren, dann muss das Universum hestimmte Züge auf­ weisen - ehen die für die Existenz von Beohachtern notwendigen Bedingungen. Nun ist die anthropische Variationshreite der zentralen Kenndaten äusserst gering. Würden die physikalischen Bedingungen des Universums nur leicht anders sein, wäre Lehen nicht möglich. Diese »Feinahstimmung« giht zum Staunen Anlass und auch zur Diskussion, oh sie zufällig und d. h. nicht erklärhar oder oh sie nicht zufällig ist und welche Art von Erklärung hierfür gesucht ist. Ein erster Diskussionspunkt hezüglich des anthropischen Prinzips hetrifft die Frage, oh die Existenz von Menschen lediglich Erkenntnisgrund dafür ist, wie das Universums heschaffen ist - oder oh es Realgrund, d.h. die Ursache für die spezifische Beschaffenheit des Universums ist. Für eine Erklärung sind Real­ gründe gefordert. Realgründe können Kausalursachen oder Zweckursachen sein. Wenn die Existenz von Menschen als Kausalursache der »Feinahstimmung« interpretiert wird, müssen retrokausale Prozesse postuliert werden. Wenn die Feinahstimmung teleolo­ gisch interpretiert wird, heinhaltet das das Postulat eines transzendenten Willens oder schöpferischen Prinzips. Eine dritte Erklärungsmöglichkeit hesteht in der Theorie der Selhstorganisation komplexer Strukturen aus der erkennharen Untermenge aller Wel­ ten mit passenden Parameterwerten und Komhinationen von Konstanten nach physika­ lischen Gesetzen. Viertens kann die Feinahstimmung auch als Zufall interpretiert wer­ den, dass von der Menge aller möglichen gerade die für (menschliches) Lehen günstigen Bedingungen realisiert wurden, wohei zugelassen ist, dass zugleich andere Welten exi­ stieren, die wirjedoch nicht heohachten können. Dies hedeutetjedoch einen Verzicht auf Erklärung.[srtn]Das sog. schwache anthropische Prinzip interpretiert die Existenz der Menschen lediglich als Erkenntnisgrund für die Beschaffenheit des Universums, nicht als Realgrund: Aufgrund der Existenz von menschlichen Beohachtern muss der Kosmos in seinen Anfangshedingungen und Gesetzen so heschaffen sein, dass (nicht: damit) Menschen entstehen können (logische Verträglichkeit). Das sog. starke oder partizipatorische anthropische Argument ist eine teleologische Interpretation: Der Kosmos muss 122

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des Lebens und erst im zweiten Schritt auf die Entstehung des Men­ schen bezieht. Jonas beginnt mit dem schwachen »anthropischen« Argument, dass das Auftreten von Leben als Subjektivität oder In­ nerlichkeit von Organismen - d. h. Fühlen, Streben etc. - im Laufe der natürlichen Evolution zum Schluss »auf eine ursprüngliche Be­ gabung mit der Möglichkeit eventueller Innerlichkeit ... noch nicht ein positives Angelegtsein dafür« (PUMV, 219, siehe 221) berechtigt. Er geht dann zu einer starken »anthropischen« Argumentation über, indem er es als eine »besonders harte Zumutung an das Denken [erachtet], dass das emphatisch Ungleichgültige, wie es die Subjektivität nun einmal ist, aus dem ganz und gar Gleichgültigen, Neutralen, entsprungen sein soll, also auch dies Entsprin­ gen selber ein gänzlich neutraler Zufall war .Es liegt vernünftiger Weise näher, eine ... Präferenz im Schosse der Materie anzunehmen - d.h. das Zeugnis subjektiven Lebens, das durch und durch Wille ist, dahin zu deuten, dass dem es Hervorbringenden, eben der Materie, so etwas wie Wille nicht gänzlich fremd sein kann.« (PUMV, 220, siehe auch 231)

Die These von Jonas ist, dass zwar kein »kosmogonischer Logos« jedoch ein »kosmogonischer Eros« vernünftigerweise anzunehmen ist (siehe PUMV, 220ff.). Jonas wiederholt nun diese Argumentation für den eigentlich anthropischen Befund, für das Auftreten der tran­ szendierenden Freiheit des Geistes, die »das Transanimalische im Menschen« (PUMV, 223) ausmacht. Im Sinne des schwachen anthropischen Prinzips argumentiert er zunächst, dass der Materie »zu all den Eigenschaften, die ... die Physik davon lehrt, noch die Begabung mit der Möglichkeit des Geistes« (PUMV, 234) zuzuerkennen ist. Unter Rekurs auf ein Prinzip der »Ebenbürtigkeit der Ursache mit ihrer Wirkung« (PUMV, 232) geht Jonas dann zu einer starken an­ thropischen Argumentation über: »Denn wenn wir jetzt mit wohl erlaubter Metapher sagen, dass die Materie von Anbeginn schlafender Geist sei, so müssen wir sofort hinzufügen, dass die wirklich erste, die schöpferische Ursache von schlafendem Geist nur wa­ cher Geist sein kann, von potentiellem Geist nur aktueller - anders als bei Leben und Subjektivität als solchen, die ihrer graduellen Natur nach wohl schlafend, unbewusst beginnen können und noch kein Bewusstein in der er­

in seinen Anfangsbedingungen und Gesetzen so beschaffen sein, damit Menschen ent­ stehen können (Das Gewolltsein des Menschen und damit ein ursprünglicher Wille ist Realgrund der Beschaffenheit des Kosmos). (siehe dazu Kanitscheider 1993,149-157). ^ 123

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sten Ursache, im Akte der Stoffgeburt verlangen. So führt uns denn das anthropische Zeugnis als Teil komischen Befundes - die Selbsterfahrung also des Geistes und zumal seines denkenden Ausgreifens ins Transzendente zum Postulat eines Geisthaften, Denkenden, Transzendenten, Überzeitlichen am Ursprung der Dinge: als erste Ursache, wenn es nur eine gibt; als Mitursa­ che, wenn es mehr als eine gibt.« (PUMV, 234)

Diese Argumentation hängt an zwei fragwürdigen Prämissen - an der These von der Ebenbürtigkeit der Ursache mit ihrer Wirkung, und an der These, dass die schöpferische Ursache von schlafendem Geist nur wacher Geist sein kann. Jonas diskutiert nun nicht diese Prämissen, sondern die Frage, wie unter diesen Prämissen das Ver­ hältnis von Geist und Materie zu denken ist. Hierzu vertritt er die Position eines integralen Monismus als vollständige Selbstentäusserung des ursächlichen Geistes mit der Schöpfung, und zwar um der Selbstheit endlicher Geister willen. Daher gibt es Geist nur als menschlichen Geist. Jonas' These, dass uns der »Evolutionsbefund belehrt ..., dass der Mensch durch eine lange Vorgeschichte tiersee­ lischer Annäherungen an den Geist zu sich kam« (PUMV, 237), ist nicht als eine Entwicklungsthese derart zu lesen, dass der Geist evolutiv aus sinnlich-seelischer Subjektivität entstanden ist. Eine solche Entwicklungsthese würde ja konsequenterweise auch in eine emergenztheoretische Auffassung von Geist münden, die Jonas dezidiert ablehnt (siehe Kapitel 2.4.1.3). Geist setzt vielmehr nach Jonas sinn­ lich-seelische Subjektivität als Realisierungsbedingung voraus und liegt als schöpferischer Urgrund der Entwicklung sinnlich-seelischer Subjektivität zugrunde, ist in ihr als »schlafender« Geist, als sich noch zu entfaltende Potentialität im Sinne eines Vermögens enthal­ ten. Doch wirkt der Geist als schöpferischer Urgrund nach Jonas nicht in der Schöpfung auf ein Ziel hin fort - das kritisiert Jonas an Hegel und darin unterscheidet sich Jonas auch vom starken anthropischen Prinzip (siehe PUMV, 242). Positiv formuliert Jonas dazu seine »kosmogonische Vermutung des Machtverzichtes Gottes zugunsten kos­ mischer Autonomie und ihrer Chancen« (siehe PUMV, 245 f.). Diese kosmogonische Vermutung beinhaltet einerseits das »Gewolltsein des Geistes im Strome des Werdens« (PUMV, 246; kursiv im Origi­ nal) und damit auch das Gewolltsein des Lebens, weil »der Geist sich nur aus dem organischen Leben erheben und von ihm getragen exi­ stieren kann« (PUMV, 246) - andererseits jedoch ein nicht Geplant­ oder Bestimmtsein des menschlichen Geistes, aufgrund »der Mach­ tentsagung des so wollenden Urgeistes eben um der unvorgreiflichen 124

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Selbstheit endlicher Geister willen« (PUMV, 246; kursiv im Ori­ ginal). Diese doppelte Vermutung ist Jonas' Versuch, der »Sonderart des Seelisch-Geistigen« - der menschlichen Freiheit - in seiner On­ tologie des Lebens Rechnung zu tragen, und zwar als ein integraler Monismus auf höherer Stufe und nicht als ein panvitalistischer Mo­ nismus (siehe die einleitenden Bemerkungen zu Kapitel 2.4). Dies hat zur Folge, dass die Ontologie des Lebens und die Erklärung des Lebens durch die Naturwissenschaften weitgehend unabhängig von­ einander sind. Da die Entwicklung des Lebens und der Menschen vom göttlichen Urgeist nur gewollt, nicht jedoch geplant und bewirkt ist, ist die naturwissenschaftliche Erklärung nicht durch die Ontolo­ gie bestimmt. Der Erkenntnisanspruch der ontologischen Auslegung des Organismus besteht lediglich in einer allerdings unverzichtbaren Ergänzung zur naturwissenschaftlichen Erklärung. Jonas' Kritik am Erkenntnisanspruch der Naturwissenschaften betrifft nur den Punkt, dass sie nicht die ganze Wahrheit über das Leben sagen, dass eine zusätzliche metaphysische Interpretation des phänomenologischen Lebensbefundes legitim und notwendig ist - der allerdings auch nicht im Widerspruch zu den Naturwissenschaften stehen kann, weshalb er sich so ausführlich mit dem Materialismus auseinandersetzt (siehe Kapitel 2.4.1). Hier zeigt sich wieder, dass Jonas in seiner Ontologie von der physischen Abhängigkeit des Menschen von der Natur in ökologischer und ökonomisch-technischer Hinsicht abstrahiert. Die Rolle der ontologischen Auslegung des Organismus besteht lediglich darin, den Organismus unter der metaphysischen Interpretations­ hypothese des »schlafenden Geistes« auszulegen, d. h. das Verhalten des Organismus als äusseren Ausdruck eines inneren Grundantriebes zu deuten, um so die »Innerlichkeit der Substanz« oder die »Imma­ nenz der Transzendenz« aufzuweisen. Die entsprechenden begriff­ lichen Bestimmungen führt Jonas bei der Explikation seines Seins­ begriffes ein (siehe Kapitel 2.5.1). Nun trägt dieser kosmogonische Gottesbegriff die eigentliche Begründungslast von Jonas' ontologischer Ethik, denn das Gewollt­ sein endlichen Geistes durch den ursprünglichen Geist soll die onto­ logische Begründung von Wert als Gut an sich leisten (siehe Kapitel 2.5.3), und auch die Begründung von Verantwortung als ontologi­ sches Merkmal des Menschen rekurriert auf den Machtverzicht des Urgeistes um der Freiheit des Menschen willen (siehe Kapitel 2.5.4). In beiden Fällen geht Jonas dabei jedoch von einem philosophischen ^ 125

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zu einem religiösen Gottesbegriff über. Er thematisiert den Gel­ tungsanspruch seiner Metaphysik und ihr Verhältnis zur Religion bereits bei der Einführung des metaphysischen Mythos in UHE (1961) und kommt im Laufe seiner Arbeiten immer wieder darauf zurück, wobei sein Standpunkt wechselt. In UHE verbindet er mit seinem metaphysischen Mythos keinen Wahrheitsanspruch, doch sieht er auch keine Alternative dazu, wie unter den gegenwärtigen geistesgeschichtlichen Bedingungen die von ihm geforderte Sinnstif­ tung geleistet werden könnte (siehe OF, 335). Im Epilog von OF be­ zeichnet er seine Metaphysik des »Zu-sich-selbst-kommens der ur­ sprünglichen Substanz« (OF, 342) als Spekulation (siehe OF, 342), die jedoch ein »in der Natur der Dinge entdeckbares Prinzip« (OF, 342) betrifft und nicht einfach »göttliche Autorität« (OF, 342) reklamiert. Hier rekurriert er also wieder auf die Evidenz der hermeneutischen Auslegung des Organismus. In PV (1979) vertritt Jonas hingegen die Auffassung, dass die ontologische Begründung der Ethik von der Theologie ganz zu lösen ist. Er erwähnt zunächst mehrfach, dass »religiöser Glaube hier schon Antworten hat, die die Philosophie erst suchen muss« (PV, 94, siehe 58). Dies soll jedoch nicht so verstanden werden, »dass die Metaphysik erst mit dem Schwund des Glaubens eine Aufgabe übernehmen musste, die vorher die Theologie schon auf ihre Weise versehen konnte, sondern dass diese Aufgabe schon immer die ihre war, und ihre allein - unter den Bedingungen des Glaubens so gut wie des Unglaubens, deren Alternative die Natur der Aufgabe gar nicht berührt.« (PV, 99; kursiv im Original)

Er entwirft sodann in PV eine Begründung der Zweckmässigkeit als Gut an sich, die an eine tranzendentale Argumentation erinnert (sie­ he Kapitel 2.5.3). In den Schlusssätzen von PV signalisiert Jonas aber bereits wieder einen gewissen Rückzug, indem seine letzte These lautet, dass es in der Ethik der Verantwortung »um die Hütung >des Ebenbildes«« (PV, 392) gehe, und dass allein die Ehrfurcht, »indem sie uns ein >Heiligesüherhimmlischer Ort< der ewigen Formen, nicht Plotins >intelligihler Kosmos< der ewigen Wahrheiten und auch nicht Hegels >ahsoluter Geist< dem transzendental-existentiellen Bedürfnis der Vernunft Genüge tun, dem unser theologisches Postulat entspricht, sondern nur eine Subjektivität, die das konkret Tatsächliche, wie es sich hegiht, erlebt und ihrem wachsenden Gedächtnis einverleibt. Also ein in dieser Hinsicht werdender, wenngleich ewig existierender Geist.« (PUMV, 188)64 als »eine ewige, da die Befragbarkeit auf wahr oder falsch von Sätzen darüber auf ewig besteht« (PUMV, 186). 62 »In Augenblicken der Entscheidung, wenn unser ganzes Sein sich einsetzt, fühlen wir, als ob wir unter den Augen der Ewigkeit handelten. Was können wir damit meinen -ja, mit unserm Willen, dass es so sei? ... Wir mögen z.B. sagen, dass das, was wir jetzt tun, sich unauslöschbar ins >Buch des Lebens< einträgt oder ein unverwischbares Mal in einer transzendenten Ordnung hinterlässt; ... und dass durch das, was wir diesem unse­ rem Bilde hier und jetzt antun, wir verantwortlich sind für die spirituelle Totalität der Bilder, die immer wachsend die Summe gelebten Seins zusammenfasst und anders sein wird durch unsere Tat.« (OF, 324; kursiv im Original) 63 Jonas meint, mit diesem Gottespostulat auf dem müssigen Spielfeld der »sämtlich gescheiterten Gottesbeweise(n), mit denen das Leichenfeld der Philosophie bestreut ist« (PUMV, 173), noch etwas gefunden zu haben, »woran keiner der früheren Spieler ge­ dacht zu haben scheint und was nun nachträglich noch in die Liste aufzunehmen ist« (PUMV, 173). Sein Originalitätsanspruch wird mit der weiteren Bemerkung, dass er diesen Gedankengang nicht einfach mit seiner Person »aus der Welt verschwinden las­ sen will« (PUMV, 174) unterstrichen. 64 Diese Konzeption eines werdenden, wenngleich ewig existierenden Geistes ist eine Position des späten Jonas. In GEN (1952) lautete das gegen SUZ gerichtete anthropolo­ gische Gottespostulat noch: »Wenn Werte nicht entdeckt werden in der Schau des Seins (wie das Gute und das Schöne bei Plato), sondern gesetzt werden als Entwürfe des Wil­ lens, dann in der Tat ist Existenz zu fortwährender Zukünftigkeit verurteilt, mit dem Tode als Ziel; und eine bloss formale Entschlossenheit, zu sein, ohne einen nomos für den Entschluss, wird zum Vorlauf vom Nichts zum Nichts.« (OF, 314f.; kursiv im Ori­ ginal) 128

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2.4 Die ontologische Position des integralen Monismus

Karl-Otto Apel sieht in Jonas' kosmogonischem Mythos diesselhe metaphysische Vision wie in Heideggers' Rede vom Menschen als dem »Hirten des Seins« nach der »Kehre«.65 Dies würde bedeuten, dass Jonas' Kritik an »Sein und Zeit« in einem gewissen Sinne mit Heideggers philosophischer Entwicklung parallel läuft. Von Apels These her gesehen fragt sich dann aber, wieso Jonas seinen Aufsatz »Heidegger und die Theologie« (HT 1964), in dem er sich mit der Bedeutung des späten Heidegger für die Theologie auseinandersetzt und auch auf die Rede vom »Menschen als Hirten des Seins« eingeht, in OF »ohne Schaden für den Fortgang des Argumentes« (OF, 5) fortlässt.66 Jonas lehnt in HT Heideggers geschichtsontologisches Verständ­ nis von Sein dezidiert ab. Er insistiert zunächst darauf, dass Heideg­ gers Beschreibung des Seins als unabhängige Spontaneität in einer »eminent ontischen, objektivierenden und somit metaphysischen Sprache« (HT, 331) Sein hypostasiert: »Denn unbestreitbar, ein >Sein< das handelt, muss sein; das, was Initiative hat (wie es vom Sein im Verhältnis zum Denken heisst), muss existieren; was sich entbirgt, hatte ein Vorher, da es sich verbarg, und damit ein Sein jenseits des Aktes der Entbergung; was sich zeigen kann, ist von dem verschieden, dem es sich zeigt - und verschieden nicht im Sinne der ontologischen Diffe­ renz, sondern ontisch, als Hier und Dort, als Gegenüber, als Anderes. In der Tat wie kann man reden von der Aktivität des Seins und der Rezeptivität des Menschen, davon, dass jenes Schicksal hat und Schickung wird, dass es ge­ schieht und dass dies sein Geschehen nicht nur Denken ermöglicht, sondern Denken gibt, sich in solchem Denken lichtet oder verdunkelt, dass es Stimme hat, den Menschen ruft, dem Menschen sich ereignet, den Menschen sendet, sich seiner Hut vertraut und ihn in seine Huld nimmt, seine Andacht, Treue und Dankbarkeit verdient, ihn aber auch braucht - wie kann man all dies dem >Sein< zusprechen, es sei denn man versteht es als ein Seiend-Tätiges und eine Macht, als irgendeine Art Subjekt?« (HT, 331)67 65 »Ich persönlich finde es ... - als tiefe metaphysische Intuition - einleuchtend, dass die Menschheit, d. h. die menschliche Gemeinschaft mitverantwortlicher Akteure, dasjenige Resultat der Evolution und dasjenige Subjekt von Macht ist, dem sich das Sein selber überantwortet hat; die letzte und insofern höchste Stufe der Evolution. Dies ist eine Vision, die man aus Heideggers Rede vom Menschen als dem >Hirten des Seins< (Über den Humanismus, 1975, 25) herauslesen kann, und die auch in Hans Jonas' >Prinzip Verantwortung< enthalten ist.« (Apel 1994, 386) 66 HT erscheint zudem drei Jahre nach dem Aufsatz UHE, in dem Jonas seinen kosmogonischen Mythos beschreibt. 67 Auch Gethmann sieht, dass ein derartiges heternomistisches Verständnis von Sein ^ 129

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Kapitel 2: Hans Jonas’ ontologische Ethik für die technologische Zivilisation

Jonas erachtet nun »Heideggers Zuschiehung der Initiative an das Sein« (HT, 335) als die »enormste Hyhris in aller Geschichte des Denkens. Denn sie hesagt nicht we­ niger als des Denkers Anspruch, dass durch ihn das Wesen der Dinge seihst spricht, und damit den Anspruch auf eine Autorität, die kein Denker jemals heanspruchen soll. ... Unser menschliches Denken sei das Geschehen der Selhstlichtung des Seins - nicht unser eigener irrender Versuch zur Wahr­ heit! Der Mensch sei der Hirte des Seins - nicht etwa seiender Geschöpfe, sondern des Seins!« (335 f.; kursiv im Original)

Er kritisiert daran erstens, dass die Auffassung des wesentlichen Den­ kens als Geschehen der Selhstlichtung des Seins - der Hirte des Seins, der, indem er der Wahrheit des Seins wartet, die Ankunft des Seins­ geschicks erwartet - den Menschen amoralisiert. Dieses geschichts­ ontologische Verständnis von Sein hegründet keine Ethik der Verant­ wortung.68 Dem hält Jonas entgegen: »Es ist der Zustand des Menschen, wie er nach der Bihel gemeint war, ihm auferlegt durch seine Geschöpflichkeit und von ihm zu ühernehmen, durch­ zuvollziehen - und zu transzendieren nur in gewissen Begegnungen mit Sei­ nesgleichen und Gott, d. h. in existentiellen Beziehungen sehr hesonderer Art. Niemand und kein waltendes Sein nimmt uns die Verantwortung ah für das, was wir denken und sprechen.« (HT, 337; kursiv im Original)

Zweitens kritisiert er an der Rede vom Menschen, der die Wahrheit des Seins denkend hütet, dass sie Gott vom Menschen her denkt: »Bei Strafe des Immanentismus kann das Verständnis Gottes nicht eine Funktion des Selhstverständnisses des Menschen werden, wenn es sich auch analogisch und hildlich seiner hedienen muss. Die Zuständigkeit des existentialen Begriffes erstreckt sich ... üher die Selhsterfahrung des Menschen >vor< Gott (coram Deo), aher nicht üher das Sein in oder aus Gott«. (HT, 339; kursiv im Original)

Jonas' Formel, dass die göttliche Sache menschlicher Verantwortung unter der Disjunktion von Gut und Böse anvertraut ist (siehe OF, 334) ist Heideggers denkendem Hüten der Wahrheit des Seins (siehe aufgrund der »mannigfache Missverständnisse herausfordernden >Winke< des späteren Denkens« (Gethmann 1974, 291) tatsächlich naheliegt, doch will er aufzeigen, dass es sich hier um ein Missverständnis handelt, das auch Heidegger selhst zurückzuweisen versucht. 68 Dieses Prohlem stellt sich hei Hösle aufgrund seines ohjektiv-idealistischen Ge­ schichtsdeterminismus (siehe Kapitel 3.3.2.2). 130

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2.4 Die ontologische Position des integralen Monismus

Heidegger 1947, 75 und 79 sowie Heidegger 1962, 41) also diametral entgegengesetzt: Während Heidegger die Spontaneität ganz im Sein verortet - das Seinsgeschick - 69, schreibt Jonas die Spontaneität mit der »vollständigen Selbstentäusserung Gottes« dem Menschen zu und bindet sie allerdings über die ontologische Verantwortung für das »Zu-sich-selbst-kommen der ursprünglichen Substanz« an eine Gottesidee zurück. Doch kommt auch Jonas schliesslich um eine Hy­ postasierung von Sein nicht herum, wie seine Begründung von Wert als Gut an sich im Sein zeigt (siehe Kapitel 2.5.1 und 2.5.3). 2.4.3 Der integrale Monismus: Zusammenfassung Jonas führt seinen ontologischen Standpunkt des integralen Monis­ mus über die Kritik am antiken Panvitalismus, am neuzeitlichen Dualismus und an den postdualistischen Positionen des Materialis­ mus und des Idealismus ein. Dies geschieht nicht in prinzipientheo­ retischen Erörterungen, sondern er beurteilt diese Positionen im Hinblick darauf, ob sie in der Lage sind, »die Existenz fühlenden Le­ bens in einer unfühlenden Stoffwelt, die im Tode über es trium­ phiert« (OF, 31) angemessen zu explizieren, was keine dieser Positio­ nen zu leisten vermag. Mit dieser Auszeichnung des Organismus als dem phänomenologischen Bezugspunkt für die Entwicklung eines normativen Naturbegriffes ist die individualistische Perspektive der Ontologie des integralen Monismus festgeschrieben. Der integrale Monismus wird konzipiert als Vermittlung des antiken Panvitalismus und des neuzeitlichen Materialismus, wobei Jonas an der anti­ ken Konzeption einer Stufenontologie festhält, die zwischen Leben (Stoffwechsel), Seele (Wahrnehmung, Gefühl und Bewegung) und Geist unterscheidet. Er baut sodann die neuzeitliche Unterscheidung von res extensa und res cogitans in modifizierter Form in diese Stu­ fenkonzeption ein, indem er jede ontologische Stufe durch ein spezi­ 69 Dies ist deutlich an der Stelle, an der Heidegger die Formel vom »Menschen als Hirten des Seins« einführt: »Der Mensch ist vielmehr vom Sein selbst in die Wahrheit des Seins >geworfenc, dass er dergestalt ek-sistierend, die Wahrheit des Seins hüte, damit im Lichte des Seins das Seiende als das Seiende, das es ist erscheine. Ob und wie es erscheint ... entscheidet nicht der Mensch. Die Ankunft des Seienden beruht im Ge­ schick des Seins. Für den Menschen aber bleibt die Frage, ob er das Schickliche seines Wesens findet, das diesem Geschick entspricht; denn diesem gemäss hat er als der Eksistierende die Wahrheit des Seins zu hüten. Der Mensch ist der Hirte des Seins.« (Hei­ degger 1947, 57) ^ 131

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Kapitel 2: Hans Jonas’ ontologische Ethik für die technologische Zivilisation

fisches Verhältnis von Innerlichkeit und Äusserlichkeit charakteri­ siert, die allerdings nicht als zwei Substanzen, sondern als Aspekte einer Substanz zu denken sind. Ferner postuliert er die entwicklungs­ geschichtliche Kontinuität eines geistigen Prinzips zur Begründung des normativen Charakters seines Naturhegriffes - die kosmogonische These von der Immanenz des Geistes. Die Kritik am mechanistischen Materialismus soll die Notwen­ digkeit eines kontemplativen Naturhegriffes für ein adäquates Ver­ ständnis des lebendigen Organismus aufzeigen, wobei sich Jonas mit evolutionstheoretischen und mit systemtheoretischen Ansätzen aus­ einandersetzt. Ferner befasst er sich mit materialistischen Konzeptio­ nen des Leib-Seele-Problems. Er zielt zunächst auf den Aufweis von Beschreibungsdefiziten der evolutionstheoretischen Konzepte von Mutation und Selektion an Stelle der essentia, benützt aber dann die darwinsche Abstammungsthese als Argument für seine Meta­ physik, indem er die Abstammungsthese umdeutet zur These von der »Koextensivität von Leben und Innerlichkeit« (OF, 84), um gegen den Materialismus einzuwenden, dass dieser Innerlichkeit nicht er­ klären kann, was einen kontemplativen Naturbegriff erfordere. Im Verlauf der Auseinandersetzung mit systemtheoretischen Ansätzen zieht er die Kritik des Beschreibungsdefizites jedoch wieder zurück und konzediert dem Programm einer biologischen Systemtheorie das Potential für eine zureichende Beschreibung der biologischen Funk­ tion physiologischer Prozesse. Die Kritik lautet hier nun, dass mit der Antwort auf die Frage, wie Lebensprozesse im Organismus organi­ siert sind, die Frage nach dem Sinn des Lebens nicht beantwortet ist. Die metaphysische Sinnfrage stellt sich in Jonas' Ontologie auch für organismisches Leben, weil er die menschliche Sinnfrage der end­ lichen Existenz mittels einer Kosmogonie zu beantworten sucht, die anthropisch argumentiert, wobei er ein Konzept emergenter Eigen­ schaften ablehnt. Deshalb interpretiert er bereits den Stoffwechsel und zweckorientiertes Verhalten als Ausdruck eines metaphysischen Grundantriebes, der im Falle menschlichen Handelns in einem höch­ sten Gut, dem summum bonum, besteht. Die Auseinandersetzung mit materialistischen Konzeptionen des Leib-Seele-Problems soll zeigen, dass geistige Phänomene nicht auf physische Phänomene re­ duzierbar sind, und dass die Annahme psychophysischer Wechsel­ wirkungen mit einem nicht-deterministischen Materialismus ver­ träglich ist. Damit wird aber die Ausgangsthese der Argumentation, die auf einen mechanistischen Materialismus rekurriert, implizit in 132

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2.4 Die ontologische Position des integralen Monismus

argumentativ relevanter Weise revidiert. Die Kritik am Materialis­ mus mündet insgesamt in ein Programm, das Begrifflichkeit und in­ haltliche Annahmen der Beschreibung und Interpretation des Orga­ nismus im Hinblick auf einen normativen Naturbegriff als inhaltlich unabhängig von einem biologischen (ökologischen) Naturbegriff be­ trachtet und dafür nur auf eine kontemplative Naturdeutung rekur­ riert. Dies sind Indizien dafür, dass Jonas' Ontologie nicht analytisch an empirische Beobachtung anschliesst, sondern eine metaphysische Inspiration auslegt. Während die Kritik am Materialismus die Notwendigkeit einer kontemplativen Naturdeutung aufzeigen soll, geht es in der Kritik am Idealismus darum, den Bezugspunkt für die Konzeption dieser kontemplativen Naturdeutung und für die Legitimation ihrer nor­ mativen Verwendung zu gewinnen. Dieser Bezugspunkt ist ein phi­ losophischer Gottesbegriff, der eine Gegenposition zu den success stories des Idealismus darstellt. Damit wird der integrale Monismus zu einer onto-theologischen Konzeption. Den Kerngedanken dieses Gottesbegriffes fasst Jonas in dem Begriff der Möglichkeit, unter dem er hier nun ein nicht-deterministisches kosmogonisches Prinzip versteht, erst in zweiter Linie und davon abgeleitet auch ein Prinzip der Individualgenese. Die Entmythologisierung der Gottesidee über den Aufweis der Immanenz Gottes in der Natur mittels einer anthropomorphen existentialen Auslegung des Organismus soll zu einem philosophischen Gottesbegriff führen. Dieser ist nicht determini­ stisch, weil »Gott seinem eigenen Sein entsagte« (OF, 332), und des­ halb ist Gott bzw. Geist nur als immanenter erkennbar. Jonas' Argu­ mentation sowohl im Sinne des schwachen als auch des starken anthropischen Prinzips hängt an zwei fragwürdigen und von ihm nicht erörterten Prämissen - der These von der Ebenbürtigkeit der Ursache mit ihrer Wirkung und der These, dass die schöpferische Ursache von schlafendem Geist nur wacher Geist sein kann. Dass uns der »Evolutionsbefund belehrt ..., dass der Mensch durch eine lange Vorgeschichte tierseelischer Annäherungen an den Geist zu sich kam« (PUMV, 237), ist daher nicht als eine Entwicklungsthese derart zu lesen, dass der Geist evolutiv aus sinnlich-seelischer Sub­ jektivität entstanden ist, sondern dass Geist als schöpferischer Ur­ grund der Entwicklung sinnlich-seelischer Subjektivität zugrunde liegt und in ihr als »schlafender« Geist, als sich noch zu entfaltende Potentialität im Sinne eines Vermögens, enthalten ist. Dieser kosmogonische Gottesbegriff trägt die eigentliche Be­ ^ 133

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gründungslast von Jonas' ontologischer Ethik, denn das Gewolltsein endlichen Geistes durch den ursprünglichen Geist soll die ontologi­ sche Begründung von Wert als Gut an sich leisten, und auch die Be­ gründung von Verantwortung als ontologisches Merkmal des Men­ schen rekurriert auf den Machtverzicht des Urgeistes um der Freiheit des Menschen willen. In diesem Zusammenhang geht Jonas jedoch von einem philosophischen zu einem religiösen Gotteshegriff über. Er thematisiert den Geltungsanspruch seiner Metaphysik und ihr Verhältnis zur Religion bereits mit der Einführung des metaphysi­ schen Mythos in UHE (1961) und kommt auf diese Frage im Laufe seiner Arbeiten mit wechselnden Standpunkten dazu immer wieder zurück. Er erhebt nur in PV den Anspruch, eine philosophische Be­ gründung der ontologischen Ethik geleistet zu haben, den er aber selbst dort am Ende mit den Worten einschränkt, dass es in der Ethik der Verantwortung »um die Hütung >des EhenhildesHeiligesGute< oder den >Wert< im Sein gründen« (PV, 153), »Spruch des Seins« (PV, 155). Hier bezeichnet »Sein« ein ein­ heitliches Prinzip und Entwicklungsprinzip einer Vielfalt. In der zweiten Verwendungweise meint »Sein« das Sein von etwas: seinen Seinsmodus oder seine Seinsweise. Dabei geht es um das Sein von Lebewesen unter Einschluss des Menschen, denn »Sein ist nur verständlich, nur wirklich als Leben« (OF, 21). Daher nennt Jonas seine Ontologie auch eine Philosophie des Lebens. Mit dem Sein von Materie setzt er sich erst in seiner Kosmogonie (MGS 1988) auseinander. Der Seinsmodus bzw. das Sein einer Sache betrifft das Spezifikum dieser Sache und ist daher ein klassifikatorisches Merk­ mal: »>Freiheit< muss einen objektiv unterscheidbaren Seinsmodus bezeichnen, d. h. eine Art zu existieren, die dem Organischen per se zukommt und inso­ fern von allen Mitgliedern, aber keinem Nichtmitglied, der Klasse >Organismus< geteilt wird: ein ontologisch beschreibender Begriff, der zunächst sogar auf bloss körperliche Tatbestände bezogen sein kann.« (OF, 14)

Die Aussage, dass das »Sein einer Sache« ihr spezifisches Merkmal ist, findet sich auch in anderen Arbeiten. Knapp 20 Jahre später, in LSS, schreibt Jonas im selben Sinne: »>Ontologisch< nennen wir die Frage nach der für diese oder jene Klasse von Dingen charakteristi­ schen Weise >zu seinhabenPhänomen< als dessen Logos wieder. Traditionell charakterisiert man diese Argumentationsfigur als einen vitiösen Zirkel, dessen Produk­ tivität injeder philosophischen Konzeption in Abrede gestellt wird.« (Gethmann-Siefert 1993,192) Für seine Ethik erhebt Jonas zwar einen argumentativen Anspruch, wenn er im Vorwort von PV schreibt: »Das Ganze ist ein Argument, das durch die sechs Kapitel schrittweise ... entwickelt wird« (PV, 10). Seine Ontologie deklariert er jedoch als ein hermeneutisches Unterfangen. So kommentiert er den ersten Satz seiner Philosophie des Lebens - »Eine Philosophie des Lebens umgreift in ihrem Gegenstand die Philoso­ phie des Organismus und die Philosophie des Geistes.« (OF, 11) - dahingehend , dass dies »ihre vorgreifende Hypothese, die sie im Verlauf ihrer Durchführung wahrzu­ machen hat« (OF, 11), sei. 140

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mit dem Gedanken eines Stufenaufbaus der Wirklichkeit (hloss Körperliches, Belebtes, Beseeltes und Geistiges) sowie auch mit den Organisationsprinzipien des Wirklichen (Form und Materie). Ande­ rerseits verbindet Jonas mit dem Begriff des Lebens jedoch auch ein Transzendenzpostulat. Er schreibt dazu in PLLLS: »Sein ist nur ver­ ständlich, nur wirklich als Leben; und die geahnte Konstanz des Seins kann nur als Konstanz des Lebens - über den Tod hinaus - verstan­ den werden.« (OF, 21). Mit diesem Postulat nimmt Jonas seine Kritik am Existentialismus auf (siehe Kapitel 2.3), dass »eine bloss formale Entschlossenheit, zu sein, ohne einen nomos für den Entschluss, ... zum Vorlauf vom Nichts zum Nichts« (OF, 314 f.; kursiv im Original) wird. Das von Jonas gesuchte Prinzip der Ethik, dem »noch der Letzte einer sterbenden Menschheit . in seiner letzten Einsamkeit die Treue halten könnte« (OF, 341) besteht in der geahnten Konstanz des Seins als Konstanz des Lebens über den Tod hinaus. Auf diese These trifft eine Bemerkung von Hans Ebeling über den metaphysi­ schen Charakter der Spätphilosophie Heideggers zu: »Es gibt ein einziges jederzeit rekonstruktionsfähiges Element aller Meta­ physik, von dem wir annehmen müssen, dass es nicht nur der faktischen Ge­ nese der Metaphysik nach, sondern tatsächlich >wesentlich< den Aufbau aller Metaphysik prägt, und das ist die durch den Tod als konstitutiv gesetzte End­ lichkeit, welche zur Transzendenz auffordert.« (Ebeling 1990, 150 f.)

Jonas' Ontologie ist von einer religiös-theologischen Fragestellung geleitet (siehe Kapitel 2.3).73 Daher ist der Gottesbegriff bereits für den Seinsbegriff - und nicht erst für die Ethik - konstitutiv (siehe Kapitel 2.4.2). Die hypostasierende Redeweise von »Sein« und »Le­ ben« in dem Satz, dass Sein nur als Leben wirklich ist, und dass die geahnte Konstanz des Seins nur als Konstanz des Lebens - über den Tod hinaus - verstanden werden kann (siehe OF, 21), ist daher nicht zufällig, und es finden sich dafür auch noch weitere Belegstellen. Beispielsweise bestimmt Jonas den »ontologischen Begriff des Indi­ viduums oder Subjektes im Unterschied zum bloss phänomeno­ logischen« (PUMV, 21) als »aktive Selbstintegration des Lebens« (PUMV, 21) und erläutert diese dann als einen »Prozess selbsterhal­ 73 Darauf verweist die Stelle in UHE (1961): »Zu handeln als ob im Angesicht des Endes, ist zu handeln als ob im Angesicht der Ewigkeit - dann nämlich, wenn das eine wie das andere verstanden ist als Aufruf zur ganzen Wahrheit des Selbst. Aber das Ende in dieser Weise verstehen heisst eben, es in einem Licht von jenseits der Zeit verstehen.« (OF, 325) ^ 141

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tenden Seins« (PUMV, 21). Auch in den Formulierungen »zuinnerst qualifiziert durch die Drohung seiner Negation muss Sein sich hier behaupten, und behauptetes Sein ist Dasein als Anliegen« (OF, 15; siehe PUMV, 14) sowie »dass es dem Sein um etwas geht, also min­ destens um sich selbst, ist das erste, was wir aus der Anwesenheit von Zwecken in ihm über es lernen können« (PV, 156) ist nicht vom Sein als tätiger Selbsterhaltung des Seienden die Rede, sondern von der Selbsterhaltung des Seins. Solchen Formulierungen ist entgegen­ zuhalten, dass sie unter die Kritik fallen, die Jonas selbst gegen Hei­ deggers These vom Seinsgeschick vorbringt: dass nämlich in einer »eminent ontischen, objektivierenden und somit metaphysischen Sprache« (HT, 331) Sein hypostasiert wird, denn »wie kann man all dies dem >Sein< zusprechen, es sei denn man versteht es als ein Seiend-Tätiges und eine Macht, als irgendeine Art Subjekt?« (HT, 331). Eine Hypostasierung des Seins widerspricht aber der erklärten Intention von Jonas, mit dem integralen Monismus eine Alternative zu den success stories der Metaphysik zu bieten, weshalb er auch ausschliesslich Individuen eine teleologische Struktur zuspricht und eine Teleologie der Gesamtnatur sowie auch der Menschheits­ geschichte ablehnt (siehe PV, 200, 247f., 291 f.; PUMV, 211 ff.). Und auch aufgrund der These von der vollständigen Selbstentäusserung Gottes, die bedeutet, dass Sein nur im Lebensvollzug als Selbsterhal­ tung von Organismen und Menschen besteht (siehe PUMV 82 f.; Ka­ pitel 2.4.2), kann nur Dasein Eigentätigkeit haben. Dies würde dafür sprechen, die hypostasierenden Redeweisen als eine terminologische Verwechslung von »Sein« und »Dasein« bzw. als ein Missachten der ontologischen Differenz zu erklären. Doch ist Jonas in der Frage der Zuschreibung von Eigentätigkeit nicht konsistent. Denn in der Ein­ leitung von OF spricht er von einer »ursprünglichen Potenz« (OF, 11) und im Rahmen seiner kosmogonischen Überlegungen in MGS weist er zwar die Annahme eines »kosmogonischen Logos« zurück, plä­ diert jedoch für einen »kosmogonischen Eros« (siehe PUMV, 220 f., 231).74 Jonas' verfolgt in seiner Ontologie zwei Perspektiven: zum 74 Auch in PV finden sich entsprechende Bemerkungen. So stellt Jonas beispielsweise bei der Explikation des ontologischen Wertbegriffes folgende Frage: »Wieso wird zur Pflicht, was vom Sein seit je schon fürs Ganze betreut wird durch alles Einzelwollen hindurch? Wieso dies Herausstehen des Menschen aus der Natur, wonach er ihrem Walten durch Normen zu Hilfe kommen und dafür sein eigenes, einzigartiges Na­ turerbe, die Willkür, beschränken soll? Wäre nicht gerade deren vollste Ausübung die 142

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einen die Explikation des Seins des Daseins in der ontologischen Be­ schreibung der verschiedenen Arten von Lebewesen, zum andern die Explikation der Wirklichkeit des Seins als Leben in seinen kosmogonischen Thesen. Er hält diese Perspektiven jedoch nicht klar ausein­ ander, was seine Terminologie vieldeutig macht. Dies zeigt beispiels­ weise die Explikation des Lebensbegriffes durch den Freiheitsbegriff, der »als Ariadnefaden für die Deutung dessen ..., was wir >Leben< nennen« (OF, 14, siehe 130 f.), dient. Denn nach Jonas bedeutet das Auftreten der Freiheit »mit den Anfängen des Lebens . eine onto­ logische Revolution in der Geschichte der >Materieit is trophe di'hautou and auxesis kai phthisis that we speak of as lifec) is that for living substances in the real world, what constitutes the continuity of numerically one and the same individual substance over time ... will be whatever that continuity of >metabolic self sustenancec may be empirically found, by the scientific investi­ gation of nature« (Furth, 1988,149, siehe 151f., 156). 144

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den Zweck des Strebens aller Lebewesen angesichts ihrer Endlichkeit in der Transzendenz als Teilhabe am Ewigen mittels der Fortsetzung der Art (siehe De Anima II, 4, 415af.)78 Dass Form innere Identität implizit enthält, was den Stoffwech­ selprozess zu einem unaufhörlichen Akt der Selbstfortsetzung macht, ist meines Erachtens kein aristotelischer, sondern ein subjek­ tivitätstheoretisch inspirierter Gedanke. Diese subjektivitätstheoreti­ sche Interpretation von »Form« soll den Entelechiebegriff und den Freiheitsbegriff vermitteln, indem die innere Identität erstens als eine gewisse Unabhängigkeit der Form von der Materie aufgefasst wird und zweitens auf Selbsttätigkeit beruht. Doch was kommt dann im Tätigsein zur Wirklichkeit: allgemeine Form oder individuelle Identität? Diese Kernfrage einer subjektivitätstheoretischen Interpretation von »enfe/echie« erörtert Jonas nicht explizit. Vielmehr arbeitet er mit beiden Interpretationen. Seine Ethik ist mit der Verantwortung für die Idee des Menschen am Gedanken der Wirklichkeit der all­ gemeinen Form orientiert (siehe Kapitel 2.5.4), während in seiner Ontologie die Identität des Individuums im Zentrum steht. Zwar ver­ wendet Jonas »Subjektivität« oder »Innerlichkeit« hier vielmals syn­ onym mit »Bewusstsein«, doch ist dies für seine Ontologie nicht die zentrale Bedeutungskomponente (siehe PV, 128 ff.), sondern die »Selbstheit« (siehe OF, 130, 152; PV, 142; PUMV, 15) des Organis­ mus als »radikale Einzelheit und Heterogenität inmitten eines Uni­ versums homogen wechselbezogener Seiender« (OF, 130), die »den ontologischen Begriff des Individuums, im Unterschied zum bloss phänomenologischen« (OF, 125) ausmacht, und die darin »enthaltene Bekundung von Interesse, Zweck, Ziel, Streben, Begehren - kurz, >Wille< und >Wert< - die ganze Frage der Teleologie« (PUMV, 216). »Sein« als die selbsterhaltende Tätigkeit von Organismen (siehe PUMV, 82 f.) bedeutet daher im Kern Selbstheit. Entsprechend be­ deutet »Sterben« für Jonas, »dass die Selbstheit dahinschwindet und 78 Ingeborg Craemer-Ruegenberg macht darauf aufmerksam dass diese Doppeldeutig­ keit in Aristoteles' Theorie vom Naturzweck - dass Aristoteles Naturzweck einerseits eindeutig auf die einzelne Natur im einzelnen Naturseienden bezieht und andererseits auch über einen transzendenten Zweck des Zeugens spricht - sich auch in seiner Theorie der natürlichen Bewegung findet. Sie sieht darin »einen Konflikt zwischem dem >Physiker< und dem >Theologen< in Aristoteles, einen nicht thematisierten und unaufgelösten Konflikt« (Craemer-Ruegenberg 1993,101). Jonas hat ein gleichartiges Problem, wie die Doppeldeutigkeit seines Seinsbegriffes zeigt. ^ 145

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als diese einzige nie wiederkehrt« (PUMV, 15). Jonas versteht also unter »Subjektivität« das »Individuum in sich« (Ritter 1974, 9) bin­ det aber seine Leistungen - Ich-Identität und Wille - nicht an ein bewusstes Subjekt, sondern schreibt diese bereits dem stoffwechseln­ den Organismus ohne Bewusstsein zu79 : »Man erwartet, dem Begriff [der Freiheit] im Bereich des Geistes und des Willens zu begegnen, doch nicht vorher; und wenn irgendwo, dann in der Dimension des Tuns und nicht der Rezeptivität. Wenn aber »Geist« von allem Anfang an im Organischen vorgebildet ist, dann auch Freiheit. Und unsere Behauptung ist in der Tat, dass schon der Stoffwechsel, die Grundschicht aller organischen Existenz, Freiheit erkennen lässt - ja, dass er selber die erste Form der Freiheit ist. ... Offensichtlich müssen dem Begriff, wenn er für ein so umfassendes Prinzip in Anspruch genommen wird, alle bewusst-mentalen Bedeutungsverbindungen ferngehalten werden ... Selbst dann aber darf er nicht ohne Beziehung zu der Bedeutung sein, die der Begriff im mensch­ lichen Bereich hat, von dem er entlehnt wurde - sonst wäre die Entlehnung und erweiterte Anwendung ein frivoles Spiel mit Worten.« (OF, 13f.; kursiv im Original)

In seiner Stufenontologie geht es Jonas dann darum, Subjektivität als ontologisches Vermögen, Freiheit als Seinsmodus, Zweckhaftigkeit als einen »ontologischen Charakter eines Seins« (PV, 154) auf den verschiedenen Entwicklungsstufen des Lebendigen aufzuweisen. So ist der Stoffwechsel ein »Vermögen der organischen Form« (OF, 132). Im »Dasein des Tieres treten die .im Grundwesen des Organischen angelegten Züge ins volle Licht ...: Bewegungsfreiheit, Wahrneh­ mung, Gefühl. Alle drei Vermögen sind Äusserungen eines gemein­ 79 Der Gedanke, Subjektivität als solche nicht an ein Subjekt mit Bewusstsein zu binden, wird auch in der jüngeren Subjektivitätsdebatte vertreten. So spricht beispielsweise Hans Ebeling im Zusammenhang mit seiner These des »Subjektes im Dasein« von Sub­ jektivität als dem Interesse der Selbsterhaltung eines »Existenzsubjektes« (Ebeling 1990, 76), das die Reflexionsstufen der Selbstverwirklichung und des Selbstbewusst­ seins nicht zwingend einschliesst, aber eine Voraussetzung für die letzteren darstellt und in sie eingeht. Ernst Tugendhat unterscheidet in seiner Analyse des Begriffes der Willensfreiheit das schlichte, von Empfindungen bestimmte sinnliche Wollen vom ra­ tionalen Wollen, das sich auf Auffassungen von gut und schlecht bezieht und Voraus­ setzung für Zurechnungsfähigkeit ist (siehe Tugendhat 1990, 386ff.). Reiner Wiehl ver­ steht den Subjektivitätsbegriff in Whiteheads Metaphysik als eine Kategorie von Existenz oder ein ontologisches Prinzip, das Entitäten mit Selbstsein auszeichnet. Damit ist ein selbsttätiges und selbstbestimmtes Verhalten bezüglich der Umwelt gemeint, wobei Bewusstsein nur ein spezieller Verhaltensmodus ist (siehe Wiehl, 1990a, 69 f., Wiehl 1990b, 211 ff.). 146

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samen Prinzips« (PUMV, 27 f.; siehe OF, 153), nämlich der Freiheit hzw. Zweckhaftigkeit im Sein, die die »gesteigerte Mittelbarkeit tie­ rischer Existenz« (OF, 163) aufgrund des tierischen Metabolismus in einem raum-zeitlichen Spielraum ermöglicht: »Ein ausgeprägteres Selbst stellt sich einer ausgeprägteren Welt gegenüber« (OF, 153). Spezifisch für den Menschen ist das »Bildvermögen« (PUMV, 41; OF, 227, 259), das Voraussetzung für die transzendierende Freiheit des Geistes im Menschen ist (siehe OF, 241 ff., 260 f., PUMV, 223 ff., 34 ff.), in der sich »die neue Dimension der Reflexion« (OF, 260) ent­ faltet: »Der Mensch im vollen Sinne taucht auf, wenn er ... sich dazu wendet, das nicht-malbare Bild seines eigenen Benehmens und Seelenbefindens in den Blick zu bekommen. ... Willig oder nicht, >lebt< er die Idee des Menschen ... Das Bild des Menschen verlässt ihn nie .Im Bilde Gottes geschaffen sein heisst mit einem Bilde des Menschen zu leben haben.« (OF, 261)

Das Sein von Menschen oder die spezifisch menschliche Subjektivität besteht in den Vermögen der eidetischen Kontrolle der Motilität und der Imagination, die zusammen die Freiheit des Menschen ermög­ lichen (siehe OF, 244). Diese Interpretation von Subjektivität als ontologische Vermö­ gen verschiedener Stufe betont die Diskontinuität von Lebendigem und Nicht-Lebendigem sowie die Kontinuität innerhalb des Lebendi­ gen und steht insofern noch in einer aristotelischen Orientierung. Allerdings nimmt Jonas die These von der Kontinuität des Lebendi­ gen in PV insofern wieder zurück als er einen metaphysischen Un­ terschied zwischen den geistigen Vermögen des Menschen und den animalischen und organismischen Vermögen postuliert (siehe PV, 158, 232). Ferner hält Jonas zwar einerseits die Diskontinuität von Lebendigem und Nicht-Lebendigem für entscheidend, wenn er von einer »ontologischen Revolution« (OF, 150) spricht und an Whitehead die »Verwischung des Unterschiedes von beseelter und unbe­ seelter Natur« (OF, 150) kritisiert. Andererseits lässt jedoch seine monistische Position keine schlechthinnige Diskontinuität zu. Daher spricht Jonas der Materie eine »vorausliegende Potentialität für das irgendwann auftauchende >NeueGuteWille< und >Wert< - die ganze Frage der Teleologie« (PUMV, 216, siehe Kapitel 2.4.2) gemeint ist. Dieser Seinshegriff ist also direkt auf seine ethische Funktion hin angelegt, was Jonas in PV auch schreibt: »Man beachte, dass wir am Natur­ hegriff um der Zwecklehre willen, nicht am Zweckhegriff um der Naturlehre willen interessiert sind. Wir wollen - letztlich um der Ethik willen - den ontologischen Sitz von Zweck überhaupt von dem in der Subjektspitze Offenbaren zu dem in der Seinsbreite Ver­ borgenen erweitern« (PV, 138; kursiv im Original). Um »die Grundlage des Sollens aus dem Ich des Menschen, zu dem es relegiert wurde, in die Natur des ganzen Seins zurückzuver­ legen« (OF, 341), insistiert er in PV insbesondere darauf, dass Zwecke kausal wirksam sind und keine blosse Gefühls- oder Bewusstseins­ spiegelung darstellen (siehe PV, 122 ff.; Kapitel 2.4.1.3) sowie auch darauf, dass sinnvollerweise von einer Zweckkausalität auch in der vorbewussten Natur gesprochen werden kann (siehe PV, 136 ff.). Nun liegt es nahe, das »Zurückverlegen der Grundlage des Sollens in die Natur des ganzen Seins« als Erweiterung der anthropozentri­ schen in eine biozentrische Perspektive aufzufassen und zwar derart, dass Organismen schlechthin aufgrund ihrer Zweckhaftigkeit als moralische Subjekte anzuerkennen sind. Das würde jedoch - wie An­ nemarie Gethmann-Siefert bemerkt (siehe Gethmann-Siefert 1993, 198) - bedeuten, dass die ontologische Ethik kein Gegenprogramm, sondern eher eine spezifische Variante einer willenstheoretischen Ethik darstellt: Wert würde dann - entgegen Jonas deklarierter Ab­ sicht - in der Autonomie des Selbst (siehe OF, 341) und als Willen des Ich in der Tat (siehe OF, 296) begründet, wobei allerdings bereits der vorbewussten Natur in anthropomorpher Deutung Selbstcharakter zugesprochen wird, was Jonas ja auch tut (siehe PV, 142; Kapitel 2.5.1). Dies ist jedoch nicht die Meinung von Jonas, wenn er schreibt, dass »mit der blossen und unbestrittenen Tatsache von subjektiven Wertungen, die in der Welt ihr Wesen treiben, dass es Begierde und Angst, Streben und Widerstreben, Hoffen und Fürchten, Lust und Qual, und damit Gewünschtes und Unerwünschtes, Hoch- und Geringgeachtetes, ja dass es Wollen über­ haupt und in all dem den Willen zum eigenen Sein gibt - mit dem Hinweis auf diese Anwesenheit subjektiver Werthaltungen in der Welt ist an sich für 160

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die Radikaltheorie noch nichts gewonnen und dem Nihilisten nichts benom­ men.« (PV, 101)

Dass subjektives - d. h. partikuläres - bewusstes Wollen bzw. noch unbewusstes Streben von Individuen in der lebendigen Natur all­ gemein vorkommt, begründet, wie Jonas zurecht sieht, noch keine menschliche Pflicht gegenüber der Natur, denn es »ist die Prärogative menschlicher Freiheit, zur Welt Nein sagen zu können: Dass die Welt Werte hat, folgt zwar direkt daraus, dass sie Zwecke hat ... , aber ich brauche ihre >Werturteile< nicht zu teilen und kann sogar befinden >Drum besser wär's, dass nichts entstünde.«« (PV, 148) Jonas macht hier darauf aufmerksam, dass die »Freiheit zur Verneinung des Spru­ ches der Natur« (PV, 148) zwar entweder eine »>gnostische< Theorie des Seins«, d. h. eine transzendente Seele voraussetzt, oder aber selbstwidersprüchlich ist, weil wir im »uns-Dissoziieren vom Gan­ zen, als einer Ausübung der Freiheit, doch von der Wertentscheidung der Natur für Freiheit Gebrauch machen« (PV, 149). Doch sieht er klar, dass eine »inkonsequente de-facto-Bejahung [keine] authenti­ sche de-jure-Bejahung« (PV, 149) ist, also kein Objektivitätsnach­ weis.86 Das Problem des naturalistischen Fehlschlusses vom Sein auf ein Sollen ist auch für Jonas mit dem Begriff von Sein als Subjektivi­ tät noch nicht gelöst - er stellt sich hier vielmehr als Schritt vom subjektiven Wollen zum objektiven Sollen. Eine Pflicht ist nicht durch die universelle Tatsache von subjektiven, d. h. partikulären Wertungen begründet, sondern erfordert einen Objektivitätsnach­ weis. Diese Objektivität kann nach Jonas nun nicht in der Universalisierbarkeit bestehen, weil das Gutsein meines Wollens nicht in seiner Form - als allgemeines Gesetz bestehen können -, sondern im Inhalt der Handlung, die mit meinem Wollen verbunden ist, zu bestehen hat. Und dieser Inhalt kann nicht wieder mein Wille sein: »Das Geheimnis oder die Paradoxie der Moral ist, dass das Selbst über der Sache vergessen werden muss, um ein höheres Selbst (das in der Tat auch ein Gut-an-sich ist) werden zu lassen. ... Der gute Mensch ist nicht der, der sich gut gemacht hat, sondern der, der das Gute um seinetwillen getan hat. Das Gute ist die Sache in der Welt, ja die Sache der Welt. Moralität kann nie sich selber zum Ziel haben. ... Nicht die Pflicht selbst ist der Gegenstand; nicht das Sittengesetz motiviert das sittliche Handeln, sondern der Appell des möglichen An-sich-Guten in der Welt, das meinem Willen gegenüber­ 86 Mit dieser Schwierigkeit ist auch Hösles Letztbegründungsbeweis konfrontiert (siehe Kapitel 3.2.2). ^ 161

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steht und Gehör verlangt - gemäss dem Sittengesetz.« (PV, 162; kursiv im Original)

Angesichts dieser Kritik an Kant überrascht es nun, dass Jonas nicht auf eine materiale Wertethik zielt, sondern für die Begründung von Wert als Gut an sich in gewisser Weise analog zu Kant argumentiert, und zwar auch noch im Rahmen seiner Verantwortungstheorie (sie­ he Kapitel 2.5.4). Er setzt damit ein, dass mit dem Nachweis »der Immanenz von Zwecken im Sein ... die entscheidende Schlacht schon geschlagen ist« (PV, 150). Denn der zweite Begründungsschritt, Wert als ein Gut an sich aufzuweisen, besteht im wesentlichen in einem darauf bezogenen Abstraktions- und Interpretationsschritt. Der Be­ gründungsgedanke dabei ist, wie schon zitiert, dass als Gut an sich seinem Begriffe nach dasjenige gilt, »dessen Möglichkeit die Forde­ rung nach seiner Wirklichkeit enthält« (PV, 153; siehe auch PUMV, 132). Nun ist Jonas der Auffassung, dass dies zwar nicht für die be­ stimmten Zwecke gilt - da sie partikulär sind -, jedoch für »>Zweckhaftigkeit< selber als ontologischen Charakter eines Seins« (PV, 154; kursiv im Original): »In der Zielstrebigkeit als solcher, deren Wirksamkeit und Wirklichkeit in der Welt ... als ausgemacht gelten kann, können wir eine grundsätzliche Selbst­ bejahung des Seins sehen, die es absolut als das Bessere gegenüber dem Nichtsein setzt. .In jedem Zweck erklärt sich das Sein für sich selbst und gegen das Nichts. ... Das heisst, die blosse Tatsache dass das Sein nicht indif­ ferent gegen sich selbst ist, macht seine Differenz vom Nichtsein zum Grund­ wert aller Werte.« (PV, 155, siehe 142 f.; kursiv im Original)

Was mit diesem Abstraktionsschritt von bestimmten Zwecken zu Zweckhaftigkeit als Gut an sich im Sein begründet wird, sind keine materialen Werte, sondern ein lediglich formaler Begriff von Wert als Zweckhaftigkeit - auch wenn Jonas meint, »dass mit der Hervor­ bringung des Lebens die Natur wenigstens einen bestimmten Zweck kundgibt, eben das Leben selbst, ... [sodass] wenn das >Zwecksein< selber der Grundzweck wäre, gleichsam der Zweck aller Zwecke, . das Leben, in welchem Zweck frei wird, eine erlesene Form [wäre], diesem Zweck zur Erfüllung zu verhelfen.« (PV, 142 f.; kursiv im Original). Nun ist aber der Abstraktionsschritt von bestimmten Zwecken zu Zweckhaftigkeit mit einem Perspektivenwechsel verbunden, und erst dieser Perspektivenwechsel liefert das Argument für Zweckhaftigkeit als Gut an sich. Dieser Perspektivenwechsel ist mit der Formu­ 162

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lierung »in der Zielstrebigkeit als solcher ... können wir eine Selbst­ bejahung des Seins sehen« (PV, 155) angezeigt: des Seins und nicht des Daseins, denn der objektive Wertcharakter und damit die Ver­ bindlichkeit beruht ja gerade nicht auf dem Erstrebtsein durch indi­ viduelles Dasein, und zwar aufgrund der Partikularität seiner Zwecke. Die Übertragung der zweckhaften Organisation des Einzel­ organismus auf die Natur als Ganzes, und zwar als ihr Wesen findet sich bei Jonas verschiedentlich angedeutet, so auch, wenn er schreibt: »Das Leben ist Selbstzweck, d.h. aktiv sich wollender und verfolgender Zweck; und die Zweckhaftigkeit als solche, die dem gleichgültig Zwecklosen durch das eifrige Ja zu sich selbst so überlegen ist, kann sehr wohl ihrerseits als Zweck, als heimlich ersehntes Ziel des ganzen, sonst so leeren Weltunter­ nehmens angesehen werden.« (PUMV, 221).

Nun will Jonas diese Übertragung jedoch im Unterschied zu Kant nicht als eine subjektive Maxime der Vernunft verstanden wissen87, sondern als eine notwendige Voraussetzung für die Objektivität von Wert. Denn diese besteht bei Jonas im ursprünglichen Gewolltsein des Lebens durch den göttlichen Urgeist um der Selbstheit endlicher Geister willen. Zweckhaftigkeit ist die Art und Weise, wie der auf eigenes Sein und Macht verzichtende Gott nun dem Seienden insge­ samt immanent ist. Nur deshalb enthält Wert an sich mit seiner Möglichkeit (als Potentialität) die Forderung nach seiner Wirklich­ keit. Jonas' Bestimmung des Begriffes des Guten ist somit erstens eine rein formale, die nicht zu einer materialen Wertethik führt. Da­ mit wird aber die bloss formale Entschlossenheit von Heideggers Da­ seinsanalyse, gegen die Jonas mit der Kritik vom »Vorlauf vom Nichts zum Nichts« (OF, 315) angetreten ist, lediglich durch eine blosse Moralität ersetzt (siehe Kapitel 2.5.4 und Kapitel 2.6). Zwei­ tens besteht die Objektivität des Guten auf einer Hypostasierung des Seins. Diese ist in Jonas' existentialer Hermeneutik als Entmytholo87 Die Übertragung der Zweckmässigkeit des Organismus auf die Natur als ganze hält Kant in der Kritik der Urteilskraft für eine subjektive Maxime der Vernunft: »Es ist also nur die Materie, sofern sie organisiert ist, welche den Begriff von ihr als einem Natur­ zwecke notwendig bei sich führt, weil diese ihre spezifische Form zugleich Produkt der Natur ist. Aber dieser Begriff führt nun notwendig auf die Idee der gesamten Natur als eines Systems nach der Regel der Zwecke, welcher Idee nun aller Mechanismus der Natur nach Prinzipien der Vernunft (wenigstens um daran die Naturerscheinung zu versuchen) untergeordnet werden muss. Das Prinzip der Vernunft ist ihr als nur sub­ jektiv, d.i. als Maxime zuständig« (KdU, §67, 242). ^ 163

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gisierung religiöser Dogmen von Anfang an angelegt (siehe Kapitel 2.3 und Kapitel 2.4.2). So schliesst Jonas bereits in »Unsterblichkeit und heutige Existenz« (UHE 1961) - also 18 Jahre vor PV - eine metaphysische Antwort auf die Frage, warum überhaupt etwas sein soll, aus und erwägt eine mythisch-theologische (siehe OF, 336 f.). Es überrascht daher, dass Jonas in PV dezidiert die Auffassung vertritt, dass die Frage, warum überhaupt etwas und nicht nichts sein soll, eine metaphysische und keine theologische Antwort verlangt und die These vertritt, dass sich »die Frage des Seinsollens einer Welt ... trennen [lässt] von jeder These bezüglich ihrer Urheberschaft, eben mit der Annahme, dass auch für einen göttlichen Schöpfer ein solches Seinsollen gemäss dem Begriff des Guten der Grund für sein Schaffen war: er wollte sie, weil er fand, dass sie sein sollte.« (PV, 98 f.; kursiv im Original). Mit der hier postulierten Trennung des Begriffs des Guten von einem göttlichen Willen, mit der Jonas das Grunddilemma einer theologischen Ethik - konstituiert das von Gott Gewolltsein das Gutsein, oder ist etwas von Gott gewollt, weil es gut ist - nach einer Seite auflösen will, ist Jonas jedoch letztlich nicht erfolgreich. Denn dieser Begriff des Guten als Selbstbejahung des Seins ist auf eine Hypostasierung des Seins angewiesen und verweist damit auf einen Gottesbegriff, und zwar einen religiösen. Entspre­ chende Bemerkungen finden sich in PV - ob das geforderte Wert­ wissen ohne die »Kategorie des Heiligen« (PV, 75) auskommen kann - und in OGZ (1985), das mit den Worten endet: »Es geht um den Fortgang des gesamten irdischen Schöpfungswunders, von dem unser Menschendasein ein Teil ist und vor dem sich Menschenandacht auch ohne >Begründung< neigt. ... Auch hier also mag der Glaube vorangehen ... und die Vernunft kommt ihm mit Gründen zu Hilfe nach bester Kraft, und ohne zu wissen oder auch nur zu fragen, wieviel dabei für die Bestimmung des Handelns von ihrem Gelingen oder Misslingen abhängt. Mit diesem Be­ kenntnis beschliessen wir unseren ontologischen Versuch.« (PUMV, 146)

Daher nimmt Jonas den im Vorwort von PV formulierten Be­ gründungsanspruch - »Das Ganze ist ein Argument, das durch die sechs Kapitel schrittweise - und, ich hoffe, dem Leser nicht zu mühselig - entwickelt wird.« (PV, 10) - in PV mit der Bemerkung zurück, es handle sich um eine »letzte metaphysische Wahl ., die sich nicht weiter ausweisen kann« (PV, 155).88 Nur weil es sich um 88 Auch in OGZ (1985) erhebt Jonas lediglich den Anspruch, »vernünftig eine Option begründen« (PUMV, 140), und lässt offen, ob eine künftige Metaphysik mehr leisten 164

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2.5 Der Seinsbegriff

ein »Gewolltsein des Geistes im Strome des Werdens« (PUMV, 246) handelt, ist die Subjektivität der Natur als Wert an sich ausgezeich­ net. Da die moralische Auszeichnung der Subjektivität der Natur unter Rekurs auf ihren ontologischen Status als Wirklichkeit des Seins und damit als Immanzenz Gottes in der Welt erfolgt, kann Jonas kein Naturalismus vorgeworfen werden. Ferner kann aufgrund dieses Begriffes vom Sein als Wert an sich der ontologischen Ethik auch kein naturalistischer Fehlschluss vorgeworfen werden, denn Jonas formuliert eine normative Prämisse zur Moralbegründung.89 Hier besteht vielmehr ein inhaltliches Begründungsproblem, weil diese Prämisse philosophisch nicht überzeugt. Das formale Be­ gründungsproblem betrifft hingegen die existentiale Hermeneutik als Methode zur moralischen Auszeichnung der Subjektivität der Natur. Die existentiale Hermeneutik als Entmythologisierung des theologischen Dogmas geht ohne explizite Interpretationskriterien vor. Damit ist die phänomenologische Beschreibung durch den Got­ tesbegriff determiniert und hat den Status einer blossen Exemplifizierung. Das Begründungsproblem für den kontemplativen Natur­ begriff bleibt also bestehen. Nun bestimmt dieser kontemplative Naturbegriff auch die Kon­ zeption der ontologischen Ethik als Verantwortungsethik. Der Vor­ rang des Seins als Gut an sich besteht in seinem Gewolltsein durch Gott, wobei es sich um einen göttlichen Willen ohne Macht handelt. Diese »Machtentsagung des so wollenden Urgeistes ... um der unvorgreiflichen Selbstheit endlicher Geister willen« (PUMV, 246; kur­ siv im Original) konstituiert die ontologische Verantwortungsfähig­ keit und damit -pflicht. Denn aufgrund der Machtentsagung des »Urgeistes« wirkt sein Wille in der Welt nicht als Finalzweck, son­ dern als moralisches Gefühl bzw. Gebot, dem der Mensch aufgrund kann. In HJE - anlässlich seiner Ehrenpromotion an der Universität Konstanz 1991 meint Jonas: »die Antwort auf diese Fragen, bei denen es letzlich darum geht, ob es logisch eine Brücke vom Sein zum Sollen gibt und damit eine Objektivität der Moral, wird wohl auf immer umstritten bleiben.« (HJE, 42f.) Im Rahmen seiner kosmogonischen Überlegungen in MGS (1988) hält Jonas fest, dass der Vermutungscharakter der Antworten auf die Frage nach den ersten Ursachen unaufhebbar sei und setzt dann fort: »Verzichtend auf die hier verwehrte Beweisbarkeit, macht sich der unverwehrbar wieder einmal unternommene Anlauf zu einer Antwort auf die Frage aller Fragen doch auf seinem Weg zu eigen, was an versteckt Gültigem in den alten und stets gescheiterten Versuchen zu einer beweisbaren >theologia naturalis< enthalten war.« (PUMV, 230) 89 Auf Birnbachers Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses bei Jonas (siehe Birnbacher 1991b, 67) wird in Kapitel 2.5.4 eingegangen. ^ 165

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seiner moralischen Freiheit entsprechen oder widersprechen kann (siehe Kapitel 2.5.4). Die Antwort auf die Grundfrage der Ethik nach Jonas - warum der Mensch sein soll - lautet deshalb, dass das Sein den Menschen braucht, um wirklich zu sein, denn die höchste und damit achtenswerteste Wirklichkeit des Seins besteht im Zweckstre­ ben von Menschen - allerdings nicht in ihren subjektiven Zwecken, sondern in ihrer Fähigkeit zu Verantwortung für die Erhaltung von Verantwortungsfähigkeit. Begriff und Theorie der Verantwortung von Jonas explizieren diese so verstandene Moralität des Menschen als Bejahung bzw. Verneinung dieses »Spruches der Natur« im Han­ deln (siehe Kapitel 2.5.4). 2.5.4 Begriff und Theorie der Verantwortung Den Grundgedanken seines Verantwortungsbegriffes führt Jonas be­ reits 1961 in UHE ein,90 und zwar im Zusammenhang mit seinem Gottesbegriff, was dort in die kosmogonische These mündet: »Die Heraufkunft des Menschen bedeutet die Heraufkunft von Wissen und Freiheit, und mit dieser höchst zweischneidigen Gabe weicht die Unschuld des blossen Subjektes sich selbst erfüllenden Lebens der Aufgabe der Verant­ wortung unter der Disjunktion von Gut und Böse. Der Chance und Gefahr

90 Hinweise dazu finden sich schon in der 1959 verfassten Arbeit »Vom praktischen Gebrauch der Theorie« (PGT, OF, 264-291), in der sich Jonas mit Bacons Programm auseinandersetzt, dass Wissen nicht Selbstzweck sein, sondern dem Nutzen und Vorteil des Lebens dienen soll. Er macht dann in diesem Zusammenhang die folgende Bemer­ kung: »Der Wissenschaftler selbst ist durch seine Wissenschaft nicht besser qualifiziert als andere, das Wohl der Menschheit zu erkennen, noch mehr dazu disponiert, sich darum zu sorgen. Wohlwollen und Verantwortung müssen von aussen herbeigerufen werden, um das der Theorie verdankte Wissen zu ergänzen: sie fliessen nicht von der Theorie selbst. Warum ist das so? ... Kann es sein, weil die Gültigsprechung von Wert eine Transzendenz verlangt, von der sie abzuleiten ist? Beziehung zu einer objektiven Transzendenz liegt heute ausserhalb der Theorie nach ihren Regeln der Evidenz, wäh­ rend sie früher das eigentliche Leben der Theorie war.« (OF, 272f.) Jonas setzt dann mit Überlegungen zum Begriff des Wertes fort: »Selbst wenn von reinerer und weniger zweideutiger Art ist Wohlwollen (guter Wille) allein unzureichend, einen wohltätigen Gebrauch der Wissenschaft sicherzustellen. Als habituelle Geneigtheit, sich des Schädigens zu enthalten - als allgemeine Gutartigkeit also - ist es natürlich in diesem Zusam­ menhang so unentbehrlich wie in allen menschlichen Verhältnissen. Aber nach seiner positiven Seite ist guter Wille Wollen des Guten und muss daher durch einen Begriff davon, was das Gute ist, informiert sein. Woher ein solcher Begriff gewonnen werden kann, muss hier unentschieden bleiben.« (OF, 274f.) 166

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2.5 Der Seinsbegriff

dieser Vollzugsdimension ist die nun erst offenbar gewordene göttliche Sache hinfort anvertraut, und ihr Ausgang schwankt in der Waage.« (OF, 334).

In PV arbeitet Jonas diesen Grundgedanken zu einer Theorie der Ver­ antwortung aus, wobei er jedoch den expliziten Bezug auf einen Got­ tesbegriff zu vermeiden sucht, so beispielsweise wenn er formuliert: »Im Menschen hat die Natur sich selbst gestört und nur in seiner moralischen Begabung ... einen unsicheren Ausgleich für die er­ schütterte Sicherheit der Selbstregulierung offengelassen« (PV, 248). Die Arbeit OGZ (1985) enthält eine klarer aufgebaute und auf die Kerngedanken konzentrierte Darstellung der Überlegungen zur Theorie der Verantwortung in PV. Die Aufsatzsammlung »Technik, Medizin und Ethik« (TME 1985) versteht Jonas als den angewandten Teil seiner Ethik. Hier wiederholt er Grundgedanken seiner Verant­ wortungstheorie, äussert sich zur Bedeutung des Verantwortungs­ begriffes als ethische Kategorie in der technologischen Gesellschaft und diskutiert Fälle der Technikanwendung am Menschen im medi­ zinischen Bereich. Auf andere Arbeiten zum Verantwortungsbegriff, in denen ebenfalls von Heideggers Sorge-Struktur des Daseins her ein Verantwortungsbegriff entwickelt wird - so in der Dissertation von Wilhelm Weischedel bei Heidegger über das Wesen der Verant­ wortung (Weischedel 1933), in dem 1967 erschienenen Aufsatz BV von Georg Picht über den Begriff der Verantwortung sowie in der Arbeit des Husserl-Schülers Roman Ingarden über Verantwortung (Ingarden 1970) - nimmt Jonas keinen Bezug. Im Vorwort von PV findet sich die Bemerkung: »Das eigentliche Thema ... ist diese neu hervorgetretene Pflicht selber, die im Begriff der Verantwortung zusammengefasst ist.« (PV, 8). Verantwortung ist dieser Bemerkung zufolge also kein begründendes Prinzip, sondern eine ihrerseits zu begründende Pflicht, wie Jonas in der Folge auch festhält: »Dass wir aber überhaupt verantwortlich sind, wurde in al­ len vorigen Erörterungen stillschweigend vorausgesetzt, aber nir­ gends bewiesen. Das Prinzip von Verantwortung überhaupt - der Beginn der Ethik - wurde noch nicht gezeigt.« (PV, 83)91 Verantwor­ 91 Es ist Schäfer hier insofern rechtzugeben, dass die Formulierung »Prinzip Verantwor­ tung« suggeriert, der Verantwortungsbegriff stehe auf der Prinzipienebene (siehe Schä­ fer 1993a, 87), doch ist dies zunächst nicht Jonas' These. Wenn Schäfer dann gegen ein Verantwortungsprinzip damit argumentiert, Verantwortung gebiete nur in dem Sinn, »dass sie bestimmten Personen bestimmte Zuständigkeiten zuordnet und damit zu­ gleich nachdrücklich die Beachtung des moral point of view einfordert« (Schäfer 1993a, ^ 167

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tung verlangt nach Jonas eine psychologische und eine rationale Be­ gründung. Die psychologische Begründung betrifft die individuelle Bereitschaft, den »Ruf der Pflicht« (PV, 163) zu hören und ihm zu folgen, die rationale hingegen die objektive Verbindlichkeit dieses Rufes. Die subjektive Bedingung sieht er in der gefühlsmässigen Empfänglichkeit für den Ruf der Pflicht. Die Wirksamkeit des sitt­ lichen Gebotes hängt von dieser Empfänglichkeit ab, denn »die Kluft zwischen abstrakter Sanktion und konkreter Motivation muss vom Bogen des Gefühls überspannt werden« (PV, 164; siehe TME, 65). Der moralische Charakter von Gefühlen besteht hingegen darin, dass es sich um Affizierungen des Menschen durch das Gute handelt - sie sind vom Sein als Gut an sich »bewirkt« -, wobei dem moralischen Gefühl entsprochen oder widersprochen werden kann (siehe PV, 148, 157 f.). An diese Affizierbarkeit knüpft Jonas die anthropologische These, dass »Menschen potentiell schon >moralische Wesen< sind, weil sie diese Affizierbarkeit [durch ein >du sollstSollAufforderungschrakter< des Atmens des Neugehorenen einschliesst (der kausal von psychologischen Gegehenheiten wie den menschlichen Ausformungen des Brutpflegeinstinkts ahhängt), wodurch sie dann frei­ lich nicht mehr rein deskriptiv wäre« (Birnhacher 1991h, 67). Genau dies ist aher hei Jonas der Fall. Jonas heht nicht die Unterscheidung von rationaler Begründung und suhjektiver Bedingung auf, sondern der Zusammenfall hesagt, dass der Gegenstand von Verantwortung in diesem Falle sowohl Verantwortung rational hegründet - da es sich um das Sein eines anderen Seienden handelt, das in seinem Sein von menschlicher Sorge ahhängt - sowie auch dazu motiviert - aufgrund der elterlichen Liehe zum Kind. ^ 169

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»Zwischen diesen zwei ontologischen Polen also, der menschlichen Freiheit und der Werthaftigkeit des Seins, steht die Verantwortung als die ethische Vermittlung. Sie ist komplementär zur einen und zur anderen und die ge­ meinsame Funktion beider. Dies ist grundlegend dafür, was Verantwortung, wie ich sie verstehe, ihrem Wesen nach ist. Dem Umfange nach aber - in dem, auf was alles sie sich erstreckt - ist sie eine Funktion unserer Macht und ist dieser proportional. Denn die Grösse unserer Macht bestimmt das Ausmass, in dem wir die Realität affizieren können und es im Handeln faktisch tun.« (PUMV, 132 f.; kursiv im Original)

Mit »Wesen« und »Umfang« von Verantwortung unterscheidet Jo­ nas zwischen der Frage, was die Verbindlichkeit einer moralischen Pflicht und die Art des Gegenstandes von Verantwortung konstitu­ iert einerseits und der Frage, was den Gegenstandsbereich von Ver­ antwortung in seinem Umfang bestimmt andererseits. Zwar gibt es Stellen, an denen Jonas den Pflichtcharakter von Verantwortung mit der kausalen Handlungsfähigkeit des Menschen verbindet, so wenn er schreibt, dass des Menschen »kausalfähige Subjektqualität als sol­ che ... objektive Verbindlichkeit in der Form äusserer Verantwor­ tung« (PV, 185; siehe PUMV, 130 f.) mit sich führt, oder dass sich beim Menschen, und zwar bei »ihm allein, aus dem Wollen selber das Sollen als Selbstkontrolle seiner bewusst wirkenden Macht« (PV, 232) erhebt. Genau betrachtet rekurriert er jedoch auch hier nicht auf die blosse Kausalfähigkeit - die ja auch gewisse Tiere haben -, son­ dern auf die spezifisch menschliche: »Der Übergang [vom Wollen zum Sollen] ist vermittelt durch das Phänomen der Macht in ihrem einzigartig menschlichen Sinn, wo sich Kausalgewalt mit Wissen und Freiheit verbindet« (PV, 232; kursiv im Original). Die zweite Argumentation für den Pflichtcharakter von Verant­ wortung lautet, dass für Verantwortungsfähigkeit als ontologische Fähigkeit »das Kann zum Muss wird« (siehe Kapitel 2.5.1), so in OGZ: »Der Mensch ist das einzige uns bekannte Wesen, das Verant­ wortung haben kann. Indem er sie haben kann, hat er sie. Die Fähig­ keit zur Verantwortung bedeutet schon das Unterstelltsein unter ihr Gebot: Das Können selbst führt mit sich das Sollen.« (PUMV, 130; siehe PV, 185; kursiv im Original) Im Falle der Verantwortungsfähig­ keit bedeutet das Muss jedoch keine physische Notwendigkeit wie im Falle des Stoffwechsels, sondern eine moralische Notwendigkeit. Der Charakter einer moralischen Pflicht ergibt sich aber noch nicht allein daraus, dass es sich bei der Verantwortungsfähigkeit um eine onto­ 170

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2.5 Der Seinsbegriff

logische Fähigkeit handelt, sondern erst aufgrund dessen, dass diese spezifische Fähigkeit in einem bestimmten Bezug auf das Gute steht und deshalb eine moralische Fähigkeit ist. Sie ist Bedingung für die Wirklichkeit des Guten. »Das unabhängige Gute verlangt, Zweck zu werden« (PV, 161), schreibt Jonas, doch kann es »den freien Willen nicht zwingen, es zu seinem Zweck zu machen, aber es kann ihm die Anerkennung abnötigen, dass dies seine Pflicht wäre. Wenn nicht im Gehorchen, zeigt sich die Anerkennung im Gefühl der Schuld: Wir sind dem Guten das Seine schuldig geblieben.« (PV, 161; siehe PUMV, 247) Daher führt die Begründung von Verantwortung als moralische Pflicht aufgrund der ontologischen Verantwortungs­ fähigkeit als spezifisch menschliche Kausalfähigkeit wieder auf Jonas' Begriff des Guten zurück (siehe PUMV, 130). Allerdings kann nach Jonas von Verantwortung sinnvoll nur unter Voraussetzung der kausalen Wirksamkeit menschlichen Han­ delns gesprochen werden, da diese den Umfang des Gegenstands­ bereiches von Verantwortung bestimmt. Dies besagt die Bedingung »wo das Sein von wahlfreiem Handeln abhängt« (PV, 100) sowie auch die Bemerkung, dass Verantwortung dem Umfang nach eine Funktion unserer Macht ist (siehe PUMV, 133; TME, 46, 66). Mit »Macht« meint Jonas zumeist die Fähigkeit, Wirklichkeit zu verän­ dern, d. h. ein kausales Können.93 Die enorme Steigerung dieses Könnens in der technologischen Zivilisation hat nach Jonas zu eigen­ dynamischen Entwicklungen globalen Ausmasses und zu globalen Umweltproblemen geführt (siehe Kapitel 2.6). Daher hat sich der Umfang des Gegenstandsbereiches von Verantwortung - Sein im Wirkungsbereich menschlicher Macht - vom Nahhorizont potentiel­ ler Auswirkungen zum Fernhorizont - d.h. der Bedrohung der Wei­ terexistenz der Menschheit aufgrund anthropogener Veränderungen der Biosphäre - erweitert.94 Aufgrund dieser Erweiterung des Um­ 93 Daher zielt auch Jonas' Auseinandersetzung mit dem Leib-Seele-Problem in der Ar­ beit »Macht und Ohnmacht der Subjektivität« (MOS) auf die kausale Wirksamkeit von Subjektivität als eine Bedingung von Verantwortungsfähigkeit (siehe Kapitel 2.4.1.3). 94 Weyma Lübbe macht darauf aufmerksam, dass in Jonas' These von der gesteigerten Reichweite unserer Macht diese Reichweite nicht nur das umfasst, was wir gewollt her­ beiführen, sondern die Gesamtheit der vielmals nicht wissbaren und schon gar nicht kontrollierbaren Auswirkungen menschlichen Tuns - dessen kausale Reichweite - was Weyma Lübbe als eine illegitime Zurechnungsexpansion bezeichnet (siehe Lübbe 1994, 227f.). Jonas zielt mit seiner Theorie von Verantwortung in der Tat auf eine Zuständig­ keit des Menschen für Aufgaben, die er nicht kontrollieren kann. Dies ist nicht nur wegen der unkontrollierbaren kausalen Reichweite seiner Macht der Fall, sondern auch ^ 171

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Kapitel 2: Hans Jonas’ ontologische Ethik für die technologische Zivilisation

fanges von Verantwortung spricht Jonas vom veränderten Wesen menschlichen Handelns, das einen neuen moralischen Imperativ er­ fordert: dass eine Menschheit sei (siehe PV, 7, 15 ff., 26 ff., 31 f., 55, 72, 221, 229; TME, 17ff., 42 ff.). Verschiedentlich verwendet er »Macht« aber auch im soziologischen Sinne als gesellschaftliche Macht, bestimmte Interessen gegen andere Interessen durchzuset­ zen, so in seiner Diskussion der Frage, ob der Marxismus oder der Kapitalismus der Gefahr des Unterganges der Menschheit besser be­ gegnen kann, die er auf die Frage zuspitzt, auf welche Weise am be­ sten eine intellektuelle und moralische Elite erzeugt und mit Macht, d. h. Regierungsgewalt, ausgestattet werden kann (siehe PV, 263; EV, 116 ff.). Teils sind auch beide Bedeutungen angesprochen, so wenn er von der Macht des Kollektivsubjektes »Industrieunternehmen« spricht (siehe TME, 274). Dass Jonas Verantwortung nur dem Umfang nach und nicht ihrem Wesen nach durch die kausale Reichweite des Handelns be­ stimmt wissen will, hat seinen Grund darin, dass Verantwortung als ontologische Idee und Pflicht (siehe PV, 91) nicht die Rechenschaft für zurechenbare Handlungsfolgen vor einer rechtlichen oder mora­ lischen Instanz - die »ex-post-facto Rechnung für das Getane« (PV, 174; siehe PUMV, 131; TME, 291 ff.) betrifft, sondern »die Determinierung des Zu-Tuenden« (PV, 174).95 Für diese gilt, dass das »Erste ... das Seinsollen des Objekts, das Zweite das Tunsollen des zur Sachaufgrund des Gegenstandes von Verantwortung, das Sein von Menschen, nämlich ihre Verantwortungsfähigkeit. Diese Paradoxie - zu etwas verpflichtet sein, worüber man nicht verfügt - konstitutiert den Begriff von Verantwortung bei Jonas (siehe Kapitel 2.5.4; PV, 198). 95 Daher steht Jonas' Position quer zu Webers Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik: für das Gutsein einer Handlung sind entweder die sie leitenden Absichten oder die daraus entstandenen Folgen relevant (siehe Weber 1919, 174ff.). Denn es handelt sich bei Jonas evidentermassen nicht um eine Gesinnungsethik, aber auch nicht um eine webersche Verantwortungsethik, die auf der Maxime beruht, »dass man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat« (Weber 1919, 175). Webers Verantwortungsethik ist - in der Terminologie von Höffe (1993, 20f.) eine Rechenschafts- oder Haftungsverantwortung, während es sich bei Jonas um eine Aufgabenverantwortung handelt. Bayertz spricht hier im Anschluss an Jonas von dem nichtklassischen Verantwortungsbegriff der prospektiv orientierten Fürsorge-Verant­ wortung (siehe Bayertz 1995, 33) und nennt auch eine wesentliche Schwierigkeit, die sich bei Jonas zeigt. Es handelt sich um eine Verantwortung für komplexe Steuerungs­ probleme in der arbeitsteiligen technologischen Zivilisation, bei der offen bleibt, wie ihr nachzukommen ist, womit die Fürsorgeverantwortung auch wesentlich unbestimmt bleibt (siehe Bayertz 1995, 34; Bayertz 1997, 222ff.). 172

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2.5 Der Seinsbegriff

Verwaltung berufenen Subjekts« (PV, 175; siehe HJE, 130 ff.; PUMV, 131) ist. Rechenschaftsverantwortung hingegen, die »ganz formale Auflage auf alles kausale Handeln unter Menschen, dass dafür Re­ chenschaft verlangt werden kann« (PV, 174; kursiv im Original), ist lediglich Vorbedingung der Moral, noch nicht Moral selbst. Letztere besteht in der »Pflicht der Macht« (PV, 174), mit der die moralische Verpflichtung gemeint ist, für »das Abhängige in seinem Eigenrecht« (PV, 175), sofern es im Wirkungsbereich meiner Macht liegt, d. h. von ihr bedroht oder auf sie angewiesen ist, zu sorgen.96 Diese Sorge betrifft nun Jonas' Ontologie zufolge letztlich die Freiheit anderen Daseins, die meine Macht nur ermöglichen, jedoch nicht herbei­ führen kann. Die Paradoxie von Jonas' Verantwortungsbegriff be­ steht somit nicht nur in der Unkontrollierbarkeit von Handlungs­ folgen aufgrund der gewachsenen Reichweite dieser Auswirkungen, sondern sie liegt bereits in der Aufgabe dieser Verantwortung - der Freiheit anderer Subjekte -, die in der Selbstbestimmung dieser Sub­ jekte besteht, und nicht eine Bestimmung des Verantwortungssub­ jektes ist. Daher findet diese Sorge »ihre höchste Erfüllung ... in der Abdankung vor dem Rechte des noch nicht Gewesenen, dessen Wer­ den sie gehegt hat« (PV, 198), und deshalb versteht Jonas unter dem Begriff der Verantwortung »das moralische Komplement zur onto­ logischen Verfassung unseres Zeitlichseins« (PV, 198; kursiv im Ori­ ginal). Mit diesem Verantwortungsbegriff nimmt Jonas seine in GEN formulierte philosophische Intention - die Überwindung des Nihilis­ mus von Heideggers Daseinsanalyse in SUZ (siehe Kapitel 2.3; PV, 57, 73) - auf. Er wirft dem Existentialismus in UHE vor, dass er sich »ohne die Sicherung eines geheimen Rettungsseils in die Wasser der Sterblichkeit« (OF, 323) wirft. Das »geheime Rettungsseil« von Jonas besteht in einer Auffassung der Moralität des Menschen als Verant­ wortung, womit er die »als Pflicht anerkannte Sorge um ein anderes 96 Die Kritik von Höffe an Jonas, das Prinzip Verantwortung sei nur »auf Rechenschaft und Haftung ausgerichtet« (Höffe 1993, 34), trifft daher meines Erachtens nicht zu. Auch Jonas hält wie Höffe die Aufgabenverantwortung relativ zur Rechenschafts- und zur Haftungsverantwortung für die begründungslogisch primäre (siehe Höffe 1993, 21). Die Grunddifferenz zwischen Höffe und Jonas besteht meines Erachtens darin, dass sich die Aufgabenverantwortung nach Jonas als ein ontologisches Verhältnis konstituiert, während sie sich nach Höffe aus intersubjektiven Verhältnissen bildet, da für Höffe in Anschluss an Kant - Ethik ihren Ort im Zusammenhang von Gesellschaft, Recht und Staat hat. ^ 173

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Kapitel 2: Hans Jonas’ ontologische Ethik für die technologische Zivilisation

Sein« (PV, 391; kursiv im Original) meint. In PV betont er, dass es sich dabei nicht um das eigene Sein handeln kann, da sich Moralität nicht selber zum Ziel haben kann, denn »der gute Mensch ist nicht der, der sich gut gemacht hat, sondern der, der das Gute um seinet­ willen getan hat« (PV, 162). Diese These von der »Paradoxie der Mo­ ral ..., dass das Selbst über der Sache vergessen werden muss, um ein höheres Selbst ... werden zu lassen« (PV, 162), erfährt in MGS aller­ dings eine Modifikation. Hier argumentiert Jonas nun, dass die Sorge um ein anderes Sein auch die Sorge um das eigene Gutsein einschliessen muss, denn »erst dieser Selbsteinschluss des Subjektes er­ hebt das bloss Moralische des weltlichen Verhaltens zur anspruchs­ volleren Ethik der Person« (PUMV, 226; siehe Kapitel 2.5.3). Nun ist aber das Sein als das unabhängige Gute nicht nur Ge­ genstand der Verantwortung und legitimiert als Gut an sich den Pflichtcharakter seines an den Menschen gerichteten Anspruchs auf Wirklichkeit. Es ist zudem auch Instanz, vor der der Mensch sich zu verantworten hat. Auch dies ist eine Konsequenz der These von der vollständigen Immanenz Gottes in der Welt: »Wenn nun ... Seiendes werthaltig ist ..., dann wird dessen Sein mit einem Anspruch an mich begabt; und da durch dies Besondere die Werthaltigkeit des Seins im Ganzen mich anspricht, so erscheint letztlich dies Ganze als dasjeni­ ge nicht nur, für das ich jeweils partikular mit meinem Tun verantwortlich werde, sondern auch als das, wovor ich immer schon mit all meinem Tunkön­ nen verantwortlich bin - weil sein Wert ein Recht auf mich hat. Damit ist gesagt, dass vom Sein der Dinge selbst - nicht erst vom Willen eines persön­ lichen Schöpfergottes ihretwegen - ein Gebot ergehen und mich meinen kann.« (PUMV, 131; kursiv im Original)

»Verantwortung« meint somit ein Selbstverhältnis des Seins, und zwar das ontologische Verhältnis des Menschen zum Seinsganzen. Erst aufgrund dieser Auffassung von Verantwortung als Seinsver­ hältnis wird verständlich, wieso Jonas »Eltern und Staatsmann als eminente Paradigmen von Verantwortung« (PV, 184) versteht, die »zusammen am meisten über das Wesen der Verantwortung lehren können« (PV, 182; kursiv im Original). In beiden Fällen ist der direk­ te Gegenstand von Verantwortung das Sein von Menschen, was ja in Jonas' Imperativ gefordert ist: die an physische Existenz gebundene Freiheit des Menschen. Im einen Fall handelt es sich um die Freiheit eines individuellen Menschen und im anderen Fall um die eines menschlichen Kollektivs, die jeweils vom entsprechenden Verantwor­ tungssubjekt abhängig ist. Daher ist für Jonas Abhängigkeit - nicht 174

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2.5 Der Seinsbegriff

vertraglich geregelte Gegenseitigkeit - für Verantwortung konstitu­ tiv. Dies schliesst nicht aus, dass Abhängigkeit gegenseitig sein kann: »Ja, generisch ist die Gegenseitigkeit immer da, insofern ich, der für jemand Verantwortliche, unter Menschen lebend allemal auch je­ mandes Verantwortung bin. Dies folgt aus der Nicht-Autarkie des Menschen« (PV, 184). Naturgegeben bzw. vertraglich ist nach Jonas, welches Sein je­ weils vom Verantwortungssubjekt abhängig ist, d. h. der Umfang der Verantwortung: naturgegeben aufgrund der Urheberschaft im Falle der elterlichen Verantwortung bzw. frei gewählt und vertraglich ge­ regelt im Falle der politischen Verantwortung des Staatsmannes (sie­ he PV, 178, 182 ff.). Zu dieser Unterscheidung von elterlicher und staatmännischer Verantwortung bemerkt Jonas selbst, dass sich beide überschneiden, insofern nämlich die Erziehung der Kinder sowohl zu den öffentlichen Aufgaben des Staates als auch zur privaten der Fa­ milie gehört. Ferner sind Formen des menschlichen Zusammen­ lebens ohne elterliche Verantwortung denkbar - wenn die Familie abgeschafft ist - sowie auch ohne staatliche Verantwortung im Falle eines nicht staatlich geordneten Zusammenlebens. Dies besagt, dass die konkreten Verantwortungsverhältnisse durch die jeweilige ge­ sellschaftliche Ordnung bestimmt sind: nicht durch kausales Können, sondern durch Macht im soziologischen Sinne, die an gesellschaft­ liche Positionen geknüpft ist. Jonas ordnet jedoch den kollektiven Charakter nicht zum Wesen, sondern lediglich zum Umfang von Ver­ antwortung, was von Jonas' Begriff von Sein als Selbstheit indivi­ dueller lebendiger Existenz auch naheliegt. Dies führt dann bei der Analyse der Umweltprobleme der technologischen Zivilisation zu Problemen (siehe Kapitel 2.6). Dass nun die Zuständigkeit des Verantwortungssubjektes für ein anderes Sein eine moralische Pflicht ist, ist Jonas' Ontologie zu­ folge durch den Gegenstand der Verantwortung begründet. Sein ist ein Gut an sich und stellt insofern einen begründeten Anspruch auf Wirklichkeit an die dafür Zuständigen. Sowohl elterliche als auch staatsmännische Verantwortung sind - weil ihr Gegenstand das Sein von Menschen ist - damit als Pflicht legitimiert. Zugleich ist auch die subjektive Bedingung von Verantwortung, d. h. die emotionale Be­ reitschaft zur Sorge, gegeben und muss nicht eigens bewirkt werden. Diese besteht in der elterlichen Liebe als affektive Reaktion auf die Hilfsbedürftigkeit des Kindes bzw. in der Liebe zum Vaterland oder Volk. Dass letztere für Jonas so selbstverständlich ist, lässt sich wohl ^ 175

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Kapitel 2: Hans Jonas’ ontologische Ethik für die technologische Zivilisation

von daher erklären, dass er von seiner Jugend an Zionist war (siehe Kapitel 2.2). Schliesslich wird auch vom Gegenstand dieser beiden Formen von Verantwortung - dem Sein von Menschen - her verständlich, wieso Jonas das Wesen von Verantwortung durch Totalität, Kon­ tinuität und Zukunft charakterisiert, und was er damit meint: Ver­ antwortung ist insofern total, als es um das Sein von Menschen in physischer, psychischer und geistiger Hinsicht geht - nicht nur in einer dieser Hinsichten (siehe PV, 189; EV, 119 f.). Kontinuierlich ist Verantwortung deshalb, weil Sein in fortgesetzter Tätigkeit besteht, die daher auch kontinuierliche Sorge erfordert, solange die natürliche bzw. vertragliche Zuständigkeit des Verantwortungssubjektes bzw. Abhängigkeit des Verantwortungsgegenstandes dafür besteht (siehe PV, 196; EV, 120). Zukunftsbezogen ist Verantwortung zunächst in dem trivialen Sinne, dass im täglichen Handeln das Morgen einge­ schlossen ist (siehe PV, 198). Darüber hinaus bedeutet aber die Zeit­ lichkeit der Existenz bezüglich der Verantwortung für das Sein von Menschen, dass »die Zukunft der ganzen Existenz, jenseits der direkten Einwirkung des Ver­ antwortlichen und damit jenseits der konkreten Berechenbarkeit, zum Mit­ gegenstand aller Einzelakte der Verantwortung, die jeweils immer das gerade Nächste besorgen [wird]. Dieses liegt im Bereich kundiger Voraussicht; das andere ist für sie unabsehbar, und dies nicht nur wegen der unbekannt vielen Unbekannten in der Gleichung der objektiven Umstände, sondern ebenso we­ gen der Spontaneität oder Freiheit des betreffenden Lebens - der grössten aller Unbekannten, die dennoch gerade in die totale Verantwortung mit ein­ bezogen sein muss. Also gerade das, was der Verantwortliche selber in seinen Wirkungen nicht mehr verantworten kann: die Eigenursächlichkeit der be­ treuten Existenz, ist ein letzthinniger Gegenstand seiner Betreuungspflicht.« (PV, 198; siehe EV, 120 ff.; kursiv im Original)

Mit »Zukunft« als Wesen von Verantwortung meint Jonas somit die paradoxe Verantwortung für die Freiheit des Menschen. Diese beiden Bedeutungen von »Zukunft« - die triviale als Fortdauer in der Zeit und die wesentliche als Selbstbestimmung - bilden den Inhalt von Jonas' kategorischem Imperativ. Dieser Imperativ lautet in seiner er­ sten Formulierung: »Handle so, dass die Wirkungen deiner Hand­ lung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Le­ bens auf Erden« (PV, 36).97 Er verpflichtet mit der Formulierung 97 Jonas bietet vier Formulierungen an, die er nicht diskutiert: »>Handle so, dass die 176

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2.5 Der Seinsbegriff

»Permanenz auf Erden« zur Fortdauer in der Zeit und mit der For­ mulierung »echten menschlichen Lehens« auf die Erhaltung der on­ tologischen Vermögen des Menschen, d. h. die für Menschen spezi­ fischen geistigen Freiheitsvermögen als imago Dei.98 Angesichts dieser Formulierung des Imperativs fragt sich nun, wieso sich Jonas als Kritiker eines ethischen Anthropozentrismus versteht (siehe z.B. PV, 26-30, 95; 245-250; TME, 46 f.). Denn inso­ fern die Weiterexistenz des Menschen prioritärer Gegenstand der Verantwortung ist - aufgrund der ontologischen Stellung des Men­ schen (siehe PV, 158, 184 ff., 245; OF, 12 ff.; PUMV, 246) -, ist Jonas selhst Anthropozentriker: der Zustand der Biosphäre soll um der Weiterexistenz der Menschheit willen erhalten hleihen. Nun spricht Jonas aher allem Lehen eine intrinsische Werthaftigkeit zu und stuft lediglich diejenige des Menschen hierarchisch höher ein. Daher cha­ rakterisiert Hösle Jonas' Position als schwachen Anthropozentrismus (siehe OEHJ, 113) im Unterschied zum starken Anthropozentrismus, der ausschliesslich Menschen intrinsischen Wert zuschreiht. Ferner ist, wie Hösle hemerkt und was ich für den entscheidenden Punkt halte, nicht der menschliche Wille Geltungsgrund des Imperativs, dass eine Menschheit sei, sondern der Anspruch des Seins auf Wirk­ lichkeit (siehe Kapitel 2.5.3). Jonas führt daher eine doppelte Argu­ mentation für die Erhaltung des Zustandes der Biosphäre:

Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lehens auf Erdenc oder negativ ausgedrückt: >Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für die künftige Möglichkeit solchen Lehensc; oder einfach: >Gefährde nicht die Bedingungen für den indefiniten Forthestand der Mensch­ heit auf Erdenc; oder, wieder positiv gewendet: >Schliesse in deine gegenwärtige Wahl die zukünftige Integrität des Menschen als Mit-Gegenstand deines Wollens eine«. (PV, 36) 98 In MGS formuliert Jonas die These von einer »immanenten Transzendenz des Geistes im Menschen« (PUMV, 225 f.), und zwar einer Transzendenz des Innerweltlichen in der moralischen Reflexion: »Was in der Reflexion >gesichtetc wird, ist ein schlechthin Unsichthares: das Suhjekt der Suhjektivität selher, das >Selhstc der ihrerseits schon nicht phänomenalen Freiheit (Kant nannte sie ein >Noumenonc) - auf immer sich selhst rät­ selhaft, ungreifbar, unergründlich und doch immer präsent als Komplementärpol aller Werte, die zwar keineswegs >hloss suhjektivc, doch wesenhaft für ein antwortendes Suh­ jekt sind.« (PUMV, 226) Diese These vom schlechthin unsichtharen Suhjekt der Suhjektivität als notwendiges Komplement aller Werte insofern sie ein Gut an sich sein sollen, ist jedoch Jonas ontologischer Begründung von Wert als Gut an sich in der Breite des Seins gerade entgegengesetzt, denn diese rekurriert auf die vollständige Immanenz des Geistes. ^ 177

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»Aber selbst wenn weiterhin die Pflicht zum Menschen als die absolute gilt, so schliesst sie doch nun die zur Natur als der Bedingung seiner eigenen Fort­ dauer und als einem Element seiner eigenen existentiellen Vollständigkeit ein. Wir gehen darüber hinaus und sagen, dass die in der Gefahr neuentdeck­ te Schicksalsgemeinschaft von Mensch und Natur uns auch die selbsteigene Würde der Natur wiedererkennen lässt und uns über das Utilitarisitische hin­ aus ihre Integrität bewahren heisst.« (PV, 246, siehe 245, 27ff.; TME, 47; kursiv im Original)

Der Grund dieser zu achtenden Integrität oder Heiligkeit des Lebens besteht darin, dass die Subjektivität tierischen Lebens vom »schöpfe­ rischen Urgrund« gewollt sein muss - und zwar nicht nur als Vor­ bedingung des menschlichen Geistes (siehe Kapitel 2.5.1, sondern »der schöpferische Urgrund [musste], wenn er den Geist wollte, auch das Leben wollen« (PUMV, 246), und zwar »sowohl um seiner selbst willen als auch, durch die Seele, als Wiege des Geistes« (PUMV, 246). Da in der recht verstandenden Pflicht zur Weiterexistenz des Men­ schen die Pflicht zur Erhaltung der Biosphäre eingeschlossen ist, setzt sich Jonas ausschliesslich mit der Pflicht zur »Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden« auseinander. Er thematisiert weder die Integrität des nichtmenschlichen Lebens noch äusssert er sich zu Zielkonflikten zwischen der Bewahrung der Integrität menschlichen Lebens einerseits und der Bewahrung der Integrität nichtmensch­ lichen Lebens andererseits (siehe Kapitel 2.6). Doch auch der Begriff der Integrität menschlichen Lebens bleibt schliesslich unbestimmt. Zwar insistiert er wiederholt darauf, dass es »nicht nur um das Menschenlos, sondern auch um das Menschenbild geht, nicht nur um physisches Überleben, sondern auch um Unver­ sehrtheit des Wesens« (PV, 8; siehe 52 f., 63, 74, 81, 91, 185 f.). Die Aussagen zum Verhältnis von Existenz und Wesen des Menschen sind jedoch nicht klar. So schreibt er einerseits, dass wir »in erster Linie ... eine Pflicht zum Dasein künftiger Menschen haben ... und in zweiter Linie dann auch eine Pflicht zu ihrem Sosein« (PV, 86; kursiv im Original) und verkürzt seinen ersten Imperativ zur Forde­ rung »dass eine Menschheit sei« (PV, 90), aus der er dann aber ande­ rerseits unmittelbar eine »ontologische Verantwortung für die Idee des Menschen« (PV, 91) folgert: »So sind wir denn mit diesem ersten Imperativ gar nicht den künftigen Menschen verantwortlich, son­ dern der Idee des Menschen, die eine solche ist, dass sie die Anwe­ senheit ihrer Verkörperungen in der Welt fordert« (PV, 91; kursiv im Original). 178

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Diese Unklarheit hat zunächst einmal damit zu tun, dass Jonas die Ausdrücke »Dasein« und »Existenz« hzw. »Sosein« und »Wesen« hier teils nicht im terminologischen Sinne verwendet - demzufolge nämlich das Wesen eines Seienden in seiner Existenz besteht, die als seine selbsterhaltende Tätigkeit aufzufassen ist (siehe Kapitel 2.5.1), sodass bei einer terminologischen Verwendung dieser Ausdrücke gar nicht wie oben zwischen Dasein und Sosein unterschieden werden könnte. Zudem hat diese Unklarheit aber auch mit einer inhaltlichen These zu tun, die das Verhältnis von physischer und geistiger Exi­ stenz des Menschen betrifft. Denn Jonas' These lautet, dass mit der Sicherstellung der physischen Weiterexistenz des Menschen - dem blossen Überleben der Menschheit - auch die Möglichkeit mensch­ licher Freiheit sichergestellt ist. Um diese These zu stützen, rekur­ riert Jonas auf seinen als kosmogonische Hypothese formulierten Gottesbegriff, so in dem Argument, es gehe angesichts der Bedro­ hung der Weiterexistenz der Menschheit nicht darum, »ein be­ stimmtes Menschenbild zu perpetuieren oder herbeizuführen, son­ dern zu allererst den Horizont der Möglichkeit offen zu halten, der im Fall des Menschen mit der Existenz der Art als solcher gegeben ist und - wie wir dem Versprechen der >imago Dei< glauben müssen der menschlichen Essenz immer neu ihre Chance bieten wird.« (PV, 250; kursiv im Original)."99 99 Nur von dieser These, dass dank dem Versprechen der imago Dei mit der physischen Existenz auch das Wesen des Menschen gesichert ist, lässt sich wohl verstehen, dass Jonas auch einem totalitären Regime, das in der Lage ist, materielle Verzichtleistung in der Bevölkerung durchzusetzen, zustimmt (siehe PV, 256ff.). Er signalisiert diese Posi­ tion bereits in UHE mit den Worten: »es ist nicht abzusehen, welche Bündnisse mit dem Schlechten das Gute wird eingehen müssen, um das noch Schlechtere, d.h. das absolut Unzulässige zu verhüten« (OF, 337). In OGZ hingegen vertritt Jonas einerseits die Po­ sition, dass »das >Wie< der Existenz nicht dem Grund der Verpflichtung zu ihr wider­ sprechen« (PUMV, 138) darf, weil zwar nicht die ontologische, jedoch die psychologi­ sche Fähigkeit zu Verantwortung verlierbar ist - und zwar kollektiv. Andererseits rechtfertigt er seine »Zulassung der Tyrannei« (PUMV, 145) mit den Worten: »Wie haben es erlebt, dass selbst in den totalitärsten Zwangssystemen das Freiheitsvermögen einzelner sich unbesiegbar regt und unsern Glauben an den Menschen neu belebt. In diesem Glauben dürfen wir mit Grund hoffen, dass - solange es Menschen sind, die überleben - mit ihnen auch das Ebenbild Gottes weiterlebt und im Verborgenen auf seine neue Stunde wartet.« (PUMV, 146; kursiv im Original) Die Aussage dieser These hängt an dem nicht explizierten, von Jonas kursiv gesetzten Ausdruck »Menschen«: ist damit blosse physische Existenz oder auch Wesen, d. h. Existenz im terminologischen Sinne gemeint? Dieser Gedanke findet sich übrigens auch bei Picht in seinem Werk »Der Begriff der Verantwortung« (BV) von 1967 (siehe Kapitel 4.2). ^ 179

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Damit wird deutlich, dass Jonas' Theorie von Verantwortung als Seinsverhältnis eine Ausarbeitung des 1961 in UHE entwickelten kosmogonischen Mythos darstellt. Jonas schreibt dort: »Nicht die Handelnden, die stets vergehen, sondern ihre Handlungen gehen ein in die werdende Gottheit und formen unauslöschlich ihr nimmer ent­ schiedenes Bild. Gottes eigenes Geschick steht auf dem Spiel in diesem All, an dessen wissenslosen Prozess er seine Substanz überliess, und der Mensch ist zum vorzüglichen Verwahrer dieses höchsten und immer verratbaren Treuegutes geworden. In gewissem Sinne ist das Schicksal der Gottheit in seiner Hand.« (OF, 331; siehe EV, 144)

Daher wurde »der Mensch nicht sosehr >im< Bilde wie >für< das Bild Gottes geschaffen« (OF, 335 siehe 261; PUMV, 144, 146, 226; HJE, 34 ff.), und erst dies verleiht dem immer offenen Bild des Menschen normative Kraft. In PV findet sich dieser Gedanke an einer Stelle, an der Jonas schreibt, »nachdem wir das »transzendente Sein >abgeschafft< haben, müssen wir in ihm, das heisst im Vergänglichen, das Eigentliche suchen. Damit erst wird Verantwortlichkeit zum domi­ nierenden Moralprinzip« (PV, 226). Dieses Eigentliche - das bonum humanum, der Gegenstand von Verantwortung - wird von Jonas auch in PV nicht material bestimmt, sondern als die an die physische Existenz von Menschen gebundene »Möglichkeit, dass es Verantwor­ tung gebe«, expliziert: »Es ist die selbstverbindliche, immer transzendente Möglichkeit des Men­ schen, die durch die Existenz offengehalten werden muss. Eben die Wahrung dieser Möglichkeit als kosmische Verantwortung bedeutet Pflicht zur Exi­ stenz. Zugespitzt lässt sich sagen: die Möglichkeit, dass es Verantwortung gebe, ist die allem vorausliegende Verantwortung.« (PV, 186; siehe 214f.; kursiv im Original)

In OGZ nimmt Jonas diese Bestimmung des bonum humanum noch­ mals auf. Seine Argumentation lautet hier nun, dass Verantwor­ tungsfähigkeit deshalb als bonum humanum ausgezeichnet ist, weil sie intuitiv einen Wert darstellt und eine qualitative Steigerung der Werthaftigkeit des Seins überhaupt ist. Damit ist Verantwortungs­ fähigkeit in Jonas Theorie zugleich auch eine Pflicht sie auszuüben, und sie ist »auch ihr eigener Gegenstand, indem ihr Besitz auf die Fortdauer ihrer Anwesenheit in der Welt verpflichtet« (PUMV, 137; kursiv im Original). Die Zirkularität dieses Argumentes, das »aus Verantwortungsfähigkeit Verantwortungspflicht zur Erhaltung von Verantwortungsfähigkeit überhaupt [ableitet], wobei letztere selbst 180

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2.5 Der Seinsbegriff

das ursprüngliche Erfahrungsdatum ist« (PUMV, 138 f.; siehe PV, 185), hält Jonas jedoch für eine scheinbare. Denn Verantwortungs­ fähigkeit ist als Gut an sich zu verstehen, das von sich aus Anspruch auf Existenz hat. Was etwas als Gut an sich auszeichnet, lässt sich jedoch von Jonas' Objektivitätsverständnis her nur theologisch expli­ zieren (siehe Kapitel 2.5.3), so dass der Rekurs auf den Gottesbegriff unverzichtbar ist. Daher hält er in OGZ auch fest, dass dieses Argu­ ment kein Beweis ist, sondern nur eine vernünftig begründete Opti­ on (siehe PUMV, 139 f.). Mit dieser Bemerkung nimmt er die in PV eingangs dezidiert vertretene These, dass eine ontologische Ethik eine metaphysische und keine theologische Begründung verlangt, und dass diese in PV ausgeführt wird (siehe Kapitel 2.5.3), zurück. Dass er diesen Anspruch in PV nicht eingelöst hat, deutet er aller­ dings auch in PV schon an. So erachtet er im letzten Kapitel, das den Titel »Um die Hütung des >Ebenbildesbesten MenschenHeuristik der Furcht... Erst die vorausgedachte Verzerrung ^ 181

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des Menschen verhilft uns zu dem davor zu bewahrenden Begriff des Menschen. Wir wissen erst, was auf dem Spiele steht, wenn wir wis­ sen, dass es auf dem Spiele steht« (PV, 8 siehe 9, 63; PUMV, 134). Jonas diskutiert zu diesem Zweck im angewandten Teil seiner Ethik (TME) Fallheispiele, und zwar aussschliesslich im Bereich der Humanbiologie und der Medizin (siehe Kapitel 2.6.2). Die Erörte­ rungen im Rahmen dieser Kasuistik dienen der Beurteilung, oh die Einführung dieser Techniken moralisch verboten ist, weil Auswir­ kungen denkbar sind, die die Existenz oder das Wesen des Menschen gefährden. Er argumentiert auch hier mit den Bestimmungen seines allgemeinen Seinshegriffes - Identität, Selhstheit und Freiheit - das bonum humanum wird hier nicht weiter spezifiziert (siehe TME, 110, 162, 182, 197-200, 218, 250, 281 ff., 307; PV, 43-53). Dass die »Heuristik der Furcht« den Begriff des Guten aber nicht bestimmt, bemerkt er in PV selbst einschränkend mit der Bemerkung, dass »das am meisten Gefürchtete nicht notwendig auch das Fürchtenswerteste ist, und noch weniger notwendig sein Gegenteil das höchste Gut« (PV, 64) und fährt dann fort: »obwohl also die Heuristik der Furcht gewiss nicht das letzte Wort in der Suche nach dem Guten ist, so ist sie doch ein hochnützliches erstes Wort und sollte zum Vollen ihrer Leistung genutzt werden in einem Gebiet, wo uns so wenige Worte ungesucht gewährt werden.« (PV, 64) Die inhaltliche Unbestimmt­ heit des bonum humanum ist somit der systematische Grund dafür, dass Jonas der Furcht einen Vorrang vor der Hoffnung in seiner Verantwortungsethik einräumt, was Höffe kritisiert (siehe Höffe 1993, 86). Diese Unbestimmtheit des bonum humanum hat nun zur Folge, dass Jonas die von ihm an Heidegger kritisierte »bloss formale Ent­ schlossenheit, zu sein, ohne eine nomos für den Entschluss« (OF, 314; kursiv im Original) durch eine blosse Pflicht, moralisch zu handeln, ersetzt: Verantwortlichkeit statt Eigentlichkeit. Der Imperativ »Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden« (PV, 36) formuliert die Pflicht, moralisch zu handeln. Der Begriff der Morali­ tät ist hier insofern bestimmt, als das zu achtende Gut in der zeit­ lichen Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden besteht. Mit diesem Verpflichtungsgrund sind jedoch nicht Rechte lebender Menschen oder künftiger Generationen gemeint, sondern die an menschliche Existenz gebundene Verantwortungsfähigkeit, da dies die Art und Weise der Immanenz Gottes in der Welt ist (siehe Kapitel 182

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2.5 Der Seinsbegriff

2.5.3). Auf dieser onto-theologischen Deutung der Moralität beruht Jonas' Gegenposition zu subjektivitätstheoretischen und intersubjek­ tivitätstheoretischen Moralkonzepten. In dieser onto-theologischen Deutung eines im Grundansatz aristotelisch am selbständigenden In­ dividuum orientierten Seinsbegriffes sehe ich den Grund dafür, dass Jonas nicht zu einem inhaltlich bestimmten Begriff des Guten und damit zu einem ausgearbeiteten Moralkonzept kommt. Der Grund dafür liegt meines Erachtens nicht darin, dass Metaphysik unserem positivistischen Denken ferner als je liegt (siehe PUMV, 137), son­ dern dass Jonas' Seinsbegriff die Bestimmung des Begriffs des Guten nicht leisten kann. Die leitende allgemein-ontologische Bestimmung ist die der Selbsterhaltung des Individuums. Mit der spezifisch anthropologi­ schen Bestimmung der Moralität ist zwar die Verantwortung für ein anderes Sein gemeint, d. h. für die Verantwortungsfähigkeit anderer Menschen, wie Jonas am Paradigma der elterlichen und der staatsmännischen Verantwortung ausführt. Doch erfährt das Verantwor­ tungsverhältnis gerade keine intersubjektivitätstheoretische Deu­ tung, auf deren Grundlage ein Moralkonzept bestimmt werden könnte. Dies deshalb, weil die Moralität des Verantwortungsverhält­ nisses für Jonas nicht im zwischenmenschlichen Verhältnis liegt, sondern im Bezug des individuellen Seins auf die Idee des Menschen als sein onto-theologisches Wesen. Statt eines Moralkonzeptes gibt es daher von Jonas' Ansatz her nur die entmythologisierende Inter­ pretation des individuellen Seinssinnes. Daher lässt sich das bonum humanum nicht qualifizieren. Die Frage des guten Handelns wird für Jonas daher nicht als eine Frage, wie zwischen konfligierenden Wert­ konzepten zu entscheiden ist, gesehen, sondern als Grundsatzfrage von Moral und Unmoral. Da Moralität für Jonas eine ontologische Bestimmung ist, ersetzt er die Differenz von Gut und Böse zudem durch die Differenz von Sein und Nichtsein. Die Differenz von Gut und Böse wird dazu transformiert, die Möglichkeit des Menschen d. h. seine Moralität - zu verwirklichen oder zu verfehlen. Doch lässt sich nur das Verfehlen, nicht das Verwirklichen bestimmen. Die Frei­ heit des Menschen wird nur dahingehend bestimmt, dem Spruch der Natur zu entsprechen oder zu widersprechen, d. h. seiner eigenen Möglichkeit zuzustimmen oder nicht.100 Das Orientierungsproblem 100 Ursula Wolf weist in ihrer Untersuchung über »Möglichkeit und Notwendigkeit bei Aristoteles und heute« darauf hin, dass das menschliche Vermögen frei zu handeln in ^ 183

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Kapitel 2: Hans Jonas’ ontologische Ethik für die technologische Zivilisation

der technologischen Zivilisation stellt sich folglich in Jonas' mo­ ralphilosophischer Analyse nicht als ein Konflikt von Wertkonzep­ ten, sondern als eine Entscheidung in der Alternative von Moral oder Unmoral des Handelns. Dies zeigt die abschliessende Rekon­ struktion von Jonas' Analyse der technologischen Zivilisation (siehe Kapitel 2.6). 2.5.5 Der Seinsbegriff: Zusammenfassung In seiner Ontologie verfolgt Jonas zwei Perspektiven: zum einen die Explikation des Seins des Daseins in der ontologischen Beschreibung der verschiedenen Arten von Lebewesen, zum andern die Explikation der Wirklichkeit des Seins als Leben in seinen kosmogonischen Thesen. Beide Perspektiven sollen sich wechselseitig explizieren und werden oftmals nicht klar auseinander gehalten. Deshalb ist die Ter­ minologie vieldeutig. Jonas' Seinsbegriff ist insofern ein kontempla­ tiver Naturbegriff, als mit »Sein« das Selbstsein von Lebewesen im Prozess der Selbsterhaltung gemeint ist. Er entfaltet diesen Seins­ begriff in einer anthropomorphen Auslegung des Organismus, wofür er wechselnd eine existentialistische Terminologie von Selbst und Welt, eine aristotelische Terminologie von Form und Materie sowie eine subjektivitätstheoretische Terminologie von Freiheit und Not­ wendigkeit verwendet. Dies führt jedoch nicht zu einer begrifflich klaren Bestimmung von »Sein« als Subjektivität, was die Formulie­ rung zeigt: »Das >Kann< wird zum >Musszu sein< ist es, worum es allem Leben geht« (OF, 132). Damit umschreibt Jonas den Begriff der Möglichkeit, welche das zentrale Strukturmerkmal ontologischer Vermögen schlechthin ausmachen soll, angefangen von der Fähigkeit des Stoffwechsels bis zur Fähig­ keit zu Verantwortung, in der das moralische Selbstverständnis nach Jonas besteht. Neben dem Seinsbegriff als Sein des Daseins gibt es den Begriff von Sein als die Art und Weise der Immanenz Gottes in der Welt. Der zweite Seinsbegriff ist eine metaphysisch-theologische Deutung des ersten Seinsbegriffes. Zu diesem Zweck werden die in der kontem­ Aristoteles' Systematik von physikalischen und rationalen Vermögen nicht eingeschlos­ sen ist. Es sind hier nur technische Handlungen gemeint, denen eine Zweck-Mittel­ Überlegung vorausliegt (siehe Wolf 1979, 124). In dieser Konzeption lässt sich somit nur ein »Gut zu«, nicht aber ein Wert an sich bestimmen. 184

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2.5 Der Seinsbegriff

plativen Deutung des Organismus entwickelten Strukturelemente des Seins auf die Kosmogonie übertragen. Dies zeigt die hypostasierende Verwendung von Sein an, beispielsweise in der Formulierung »zuinnerst qualifiziert durch die Drohung seiner Negation muss Sein sich hier behaupten, und behauptetes Sein ist Dasein als Anliegen« (OF, 15; siehe PUMV, 14). In seinen kosmogonischen Überlegungen in MGS spricht Jonas dann von einer ursprünglichen Begabung der Materie »mit der Möglichkeit eventueller Innerlichkeit, von »blosser Potentialität« (PUMV, 219) und von einem »kosmogonischen Eros« (PUMV, 220). Mit der Übertragung der Termini »Möglichkeit« und »Potenz« auf eine kosmogonische Fragestellung wird ihre Bedeutung jedoch unklar, da hier keine Strukturkomponente organismischer Tätigkeit gemeint sein kann. Der kosmogonische Seinsbegriff soll die Begründung des Impe­ rativs leisten, weil der mit dem ersten Seinsbegriff eingeführte Zweckcharakter aller selbsterhaltenden Tätigkeit das Sein individu­ ellen Daseins noch nicht als einen objektiven Wert begründet. Der Charakter eines objektiven Wertes ist nach Jonas vom Seinsganzen her zu begründen. Damit ist nicht die Universalisierbarkeit individu­ ellen Zweckstrebens gemeint. Der Objektivitätscharakter kommt in­ dividuellem Zweckstreben, d. h. Leben, vielmehr aufgrund der Natur des ganzen Seins zu, und diese besteht nach Jonas darin, dass das Hervorbringen des Lebens ein Grundzweck der Natur ist. Der Grund von Sein ist ein Seinsollen und umgekehrt besteht die Bedeutung von »Sollen« der ontologischen Ethik zufolge im Seinsollen, sodass »Sein« und »Sollen« dasselbe bedeuten: Seinsollen. Unter »Seinsol­ len« versteht Jonas nun die Existenz einer Möglichkeit, die von sich her auf Wirklichkeit drängt, wobei »Wert oder das >Gutedas Reich des Menschern, und es besteht im souveränen Ge­ brauch der Dinge. Souveräner Gebrauch heisst mehr Gebrauch - nicht nur potentiell mehr, sondern aktuell mehr - und, seltsam zu sagen, zwangsläufi­ ger Gebrauch. Die Macht, indem sie immer mehr Dinge für mehr Arten von Gebrauch verfügbar macht, verstrickt den Gebraucher in immer mehr Ab­ hängigkeit von äusseren Objekten. Die Macht kann nicht anders ausgeübt werden, als dadurch, dass man sich für den Gebrauch der Dinge verfügbar macht in dem Masse, wie sie verfügbar werden. Wo auf Gebrauch verzichtet wird, da verfällt die Macht, aber es gibt keine Grenze für die Ausdehnung beider. Und so wird ein Meister für den anderen eingetauscht.« (OF, 269 f.)

Diese Interpretation nimmt er in PV wieder auf: »Die tiefe, von Bacon nicht geahnte Paradoxie der vom Wissen verschafften Macht liegt darin, dass sie zwar zu so etwas wie >Herrschaft< über die Natur (das heisst ihre potenzierte Nutzung), aber mit dieser zugleich zur vollstän­ digsten Unterwerfung unter sich selbst geführt hat. Die Macht ist selbst­ mächtig geworden, während ihre Verheissung in Drohung umgeschlagen ist, ihre Heilsperspektive in Apokalyptik.« (PV, 253; kursiv im Original)

Dieses Zitat enthält die zwei zentralen Thesen zum veränderten We­ sen menschlichen Handelns als Grund der Umweltproblematik: die Selbstmächtigkeit der Macht und den Umschlag der Heilsperspektive in Apokalyptik. Die im Urteil von Jonas als Apokalyptik drohende Umwelt­ problematik ist eine Folge der neuzeitlichen, ökonomisch-tech­ nischen Art und Weise, die Qualität menschlicher Selbsterhaltung zu bessern, und zwar durch Wohlfahrt. Die Umweltproblematik ist nicht die Folge einer kriminellen oder sonst einer willentlich un­ moralischen Handlung, sondern eine Folge des Erfolges, den das Baconische Fortschrittsprogramm verzeichnet.102 Die Ambivalenz dieses Erfolges ergibt sich aufgrund des im Prinzip unbegrenzten Wohlfahrtsstrebens. Im fünften Kapitel von PV, das überschrieben ist mit »Verantwortung heute: Gefährdete Zukunft und Fortschritts­ gedanke«, schreibt er dazu:

zur »Instauratia Magna« zu zitieren, doch findet sich die These von der Koinzidenz von Wissen und Macht erst im 3. Aphorismus (siehe Bacon, Novum Organon, 33 und 81). 102 Dieser analytische Grundgedanke in bezug auf die Umweltproblematik findet sich auch bei Apel (1975,15 ff.), doch nimmt Jonas in seinen Schriften darauf nicht Bezug. 188

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2.6 Die Analyse der technologischen Zivilisation

»Die Gefahr [einer universalen Katastrophe] geht aus von der Überdimensio­ nierung der naturwissenschaftlich-technisch-industriellen Zivilisation. Was wir das Baconische Programm nennen können, nämlich das Wissen auf Herr­ schaft über die Natur abzustellen und die Herrschaft über die Natur für die Besserung des Menschenloses nutzbar zu machen, hat zwar in der kapitalisti­ schen Durchführung von Anfang an weder die Rationalität noch die Gerech­ tigkeit besessen, mit denen es an sich vereinbar gewesen wäre; aber seine notwendig zur Masslosigkeit der Produktion und des Konsums führende Er­ folgsdynamik hätte bei der Kurzfristigkeit menschlicher Zielsetzung, ja der wirklichen Unvorhersehbarkeit der Ausmasse des Erfolgs, vermutlich jede Gesellschaft überwältigt (denn keine besteht aus Weisen).« (PV, 251, siehe 7, 45, 54f.; TME, 61)

Mit dem ökonomischen Erfolg meint Jonas die vermehrte Güterpro­ duktion, die mit vermehrter Ressourcennutzung verbunden ist. Un­ ter dem biologischen Erfolg der technologischen Zivilisation versteht er das exponentielle Bevölkerungswachstum, welches das ökono­ mische Wachstum übertrifft: »Die Bevölkerungsexplosion, als planetarisches Stoffwechselproblem gese­ hen, nimmt dem Wohlfahrtsstreben das Heft aus der Hand und wird eine verarmende Menschheit um des nackten Überlebens willen zu dem zwingen, was sie um des Glückes willen tun oder lassen konnte: zur immer rücksichts­ loseren Plünderung des Planeten, bis dieser sein Machtwort spricht und sich der Überforderung versagt.« (PV, 252; siehe 329 ff.)

Zur Charakterisierung der Umweltproblematik benützt Jonas hier den ökologischen und den ökonomisch-technischen Naturbegriff. Der ökologische Naturbegriff ist mit der Charakterisierung der Bevölkerung als einem planetarischen Stoffwechselproblem und der Überforderung des Planeten angesprochen, der ökonomisch-tech­ nische mit der »Plünderung des Planeten«. Die Umweltproblematik ist das Folgeproblem eines Wachstums der menschlichen Populatio­ nen und ihrer Nutzung der natürlichen Ressourcen, und dieses Wachstum ist aufgrund seiner inneren Dynamik unbegrenzt. Jonas erklärt diese Dynamik im Ausgang vom experimentellen Handeln in der neuzeitlichen Wissenschaft. Die neuzeitliche Wissenschaft ist als experimentelle Wissenschaft intrinsisch mit einem »aktiven Ändern der Dinge« (OF, 284), d. h. mit Technik befasst, und zwar in doppel­ tem Sinne: »im kleinen Massstab des Experiments verursacht sie Veränderung als not­ wendiges Mittel zur Erkenntnis der Natur, d. h. sie benutzt Praxis zum Zwekke der Theorie; die auf diese Weise gewonnene Theorie eignet sich - und lädt ^ 189

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Kapitel 2: Hans Jonas’ ontologische Ethik für die technologische Zivilisation

daher ein - zu den Veränderungen grossen Massstabs ihrer technischen An­ wendung. Die letztere wiederum wird ihrerseits eine Quelle theoretischer Einsichten, die nicht im Laboratoriumsmassstab zu gewinnnen waren - abge­ sehen davon, dass sie die Instrumente für wirksamere Laboratoriumsarbeit selbst liefert, die ihrerseits wieder neue Zuwächse an Wissenschaft liefert, und so fort in stetigem Kreislauf.« (OF, 284)

Diese Beschreibung der interdependenten Entwicklung von wissen­ schaftlicher Theorie und gesellschaftlicher Praxis aufgrund von Rückkoppelungen durch die Technikanwendung weist bereits die Merkmale auf, mittels der Jonas dann in PV und in TME die formale Dynamik der technologischen Zivilisation charakterisiert. Die Dyna­ mik der technologischen Zivilisation ergibt sich daraus, dass Hand­ lungsziele und Handlungsmittel durch die Technikanwendung ver­ ändert werden und in ein neues Verhältnis zueinander geraten: »Zwecke, die zunächst ungebeten und vielleicht zufällig durch Tatsachen technischer Erfindung erzeugt wurden, werden zu Lebensnotwendigkeiten, wenn sie erst einmal der sozialökonomischen Gewohnheitsdiät einverleibt sind, und stellen dann der Technik die Aufgabe, sich ihrer weiter anzuneh­ men und die Mittel zu ihrer Verwirklichung zu vervollkommnen. >Fortschritt< ist daher nicht eine ideologische Verzierung der modernen Technologie und auch nicht bloss eine von ihr angebotene Option, die wir ausüben können, wenn wir wollen, sondern ein in ihr selbst gelegener An­ trieb, der über unseren Willen hinweg (obwohl meist im Bunde mit ihm) sich in der formalen Automatik ihres Modus operandi und dessen Widerspiel mit der nutzniessenden Gesellschaft auswirkt.« (TME, 20)

Jonas charakterisiert diese Entwicklungsdynamik durch vier Merk­ male. Erstens zwingt das Erreichen eines Zieles dazu, neue Ziele an­ zustreben. Zweitens diffundiert technologische Innovation sehr rasch in den Bereich der Güterproduktion, und zwar global. Drittens ist das Verhältnis von Mitteln und Zwecken im technologischen Handeln insofern zirkulär, als nicht nur neue Zwecke nach entspre­ chenden Mitteln dafür verlangen, sondern neue Technologien auch neue Zwecke generieren können, die ohne sie gar nicht vorstellbar gewesen wären. Viertens ist diese Eigendynamik deshalb zugleich Fortschritt, weil die folgenden Zustände den ihnen vorausgehenden technisch gesehen überlegen sind und insofern eine Verbesserung darstellen (siehe TME, 19 ff.; PV, 71 f.). Jonas schreibt der Entwick­ lung der technologischen Zivilisation also die Merkmale autonomer 190

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historischer Prozesse zu. Die Autonomie dieser Prozesse ist eine Zwangsläufigkeit, die darin besteht, dass sich Anwendung und Ge­ staltung dieser Technologien nicht mehr dadurch steuern lassen, dass die Zwecke, denen sie ursprünglich dienten, modifiziert werden. Denn die Technologien haben sich aufgrund positiver Rückkoppe­ lung über Nebenfolgen vom ursprünglichen Zweck verselbständigt und sind in neue Zwecksysteme eingebunden (siehe Meier 1978, Hoyningen-Huene 1983). Jonas insistiert nun wiederholt darauf, dass die Zwangsläufig­ keit dieser Entwicklung mit dem kollektiven Charakter der Tech­ nikanwendung zu tun hat, und dass deshalb der kollektive Täter und die kollektive Tat Gegenstand einer Ethik für die technologische Zi­ vilisation sind (siehe PV, 7 f., 18 ff., 20, 26 ff., 32, 37, 52, 61, 76,111 ff., 179 ff., 190 ff., 200 ff., 254f., 263 ff.; WPE, 41f.; TME, 19f., 45, 68, 272-275, 278). Um Verantwortungssubjekte in diesem eigendyna­ mischen Prozess identifizieren oder konstituieren zu können, die in der Lage sind, die Zwangsläufigkeit dieser Entwicklung zu durchbre­ chen , ist somit eine moraltheoretische und gesellschaftstheoretische Analyse kollektiver Strukturen gefordert.103 Doch spricht Jonas die­ ses Problem nicht einmal an. Er diskutiert zwar in diesem Zusam­ menhang in PV die Frage, ob der Marxismus oder der Kapitalismus der »Unheilsdrohung des Baconischen Ideals« besser begegnen kann (siehe PV 256 ff.). Doch reduziert er diese Frage darauf, welches Sy­ stem die besseren Voraussetzungen hat, um das innerweltliche Wohlfahrtsstreben zu bremsen. Er sieht diese - mit Vorbehalten 103 Wie Weyma Lübbe herausarbeitet, wirft der Begriff kollektiver Verantwortung eini­ ge Grundlagenprobleme auf. Denn damit sind nicht einfach Handlungen mehrere Ein­ zelsubjekte gemeint, sondern Handlungen einer anderen Art von Subjekt. Zu klären ist, was mit »Subjekt« hier gemeint sein kann und inwiefern hier überhaupt sinnvoll von moralischer und von kausaler Zurechnung von Handlungsfolgen gesprochen werden kann (siehe Lübbe 1998, speziell zu Jonas vor allem 17f. und 122f.) Wichtig ist dabei die von Ropohl gemachte Unterscheidung von korporativem Handeln, bei dem mehrere Personen als ein organisiertes System handeln (siehe Ropohl 1996, 101) und kollekti­ vem Handeln, bei dem mehrere individuelle oder korporative Akteure auf nicht-orga­ nisierte Weise handeln und einen nicht auf die einzelnen Akteure zurückführbaren Gesamteffekt bewirken (siehe Ropohl 1996, 106). Auch Bayertz stellt fest, dass Jonas zwar das ethische Neuland kollektiver Praxis sehr klar gesehen hat, dass er aber nicht die Strukturen kollektiver Handlungen und ihrer Folgen für die Ethik näher analysiert, sondern das Objekt der Verantwortung ins Zentrum stellt (siehe Bayertz 1997, 224). Dies ergibt sich meines Erachtens aufgrund von Jonas' ontologischem Verantwortungs­ begriff (siehe Kapitel 2.5.4). ^ 191

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beim Marxismus, und zwar nicht zuletzt wegen der Zentralisierung der Macht im Marxismus und seiner Ideologie egalitärer Gerechtig­ keit. Dass Jonas den kollektiven Charakter menschlichen Handelns auf das Problem reduziert, wie Verzichte in einer Gesellschaft durch­ gesetzt werden können, ist meines Erachtens nicht zufällig, sondern ist eine Konsequenz der Ontologie des sich selbst erhaltenden Indivi­ duums, in der Kollektivität nicht von systematischer Relevanz ist. Es gibt eine ontologische Deutung dieser Entwicklung, und zwar in Analogie zu ontologischen Vermögen des Menschen, die als selbst­ erhaltende Tätigkeiten durch die »Polarität von Freiheit und Not­ wendigkeit« gekennzeichnet sind (siehe Kapitel 2.5.1), so bereits 1959 in PGT: »Da der Angriff des Wissens eine Verteidigung gegen die Notwendigkeit ist, ist er selbst eine Funktion der Notwendigkeit und er behält diesen Aspekt durch seine ganze Laufbahn hindurch, die eine ständige Antwort auf die neuen Notwendigkeiten ist, die gerade sein Fortschritt erschafft.« (OF, 269 f.) Noch 1985 beschreibt Jonas die Dynamik der technologischen Zivilisation mittels seiner ontologischen Terminologie in Analogie zum Organismus. Er be­ merkt dort, dass im Falle »technischer Vermögen einer Gesellschaft, die wie die unsrige ihre ganze Le­ bensgestaltung in Arbeit und Musse auf die laufende Aktualisierung ihres technischen Potentials im Zusammenspiel aller seiner Teile gegründet hat ... die Sache eher dem Verhältnis des Atmenkönnens und Atmenmüssens als dem des Redenkönnens und Redens [gleicht]. .So wird der Technik, die gesteigerte menschliche Macht in permanenter Tätigkeit ist, nicht nur ... die Freistatt ethischer Neutralität, sondern auch die wohltätige Trennung zwi­ schen Besitz und Ausübung der Macht versagt. Die Ausbildung neuer Könnensarten, die ständig erfolgt, geht hier stetig über in ihre Ausbreitung im Blutstrom kollektiven Handelns, aus dem sie dann nicht mehr auszuschei­ den sind (es sei denn durch überlegenen Ersatz).« (TME, 44; kursiv im Ori­ ginal)

Trotzdem hält er die Entwicklungsdynamik der technologischen Zi­ vilisation im Prinzip für steuerbar. Dahinter steht jedoch nicht eine Analyse der kollektiven Prozesse im Hinblick auf ihre Steuerbarkeit, sondern die These, dass eine Machtelite die Einführung von neuen Technologien kontrollieren kann. So bemerkt er 1981 in einem Podi­ umsgespräch über Möglichkeiten und Grenzen der technischen Kul­ tur:

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»Es ist doch eine Handvoll Menschen, die an diesen Grenzen arbeitet, an den Frontpositionen der Automatisierungs- und Informationstechniken. Dass sich das nicht unter Kontrolle bringen lassen soll, nur weil eine Dynamik im Gange ist, die wir ja z.T. durchschauen - vor dieser deterministischen Ver­ zichterklärung sollten wir uns doch an erster Stelle hüten.« (TME, 281 f.)

Die Frage der Steuerbarkeit der technologischen Zivilisation disku­ tiert Jonas durchgängig an Beispielen, in denen es darum geht, ob technologische Innovationen in Wirtschaft und Gesellschaft ange­ wendet werden dürfen, weil sich aufgrund der Eigendynamik an ein­ mal eingeführten Technologien intentional nur durch die Einführung neuer Technologien etwas ändern lässt. Daher befasst sich die ange­ wandte Verantwortungsethik auch ausschiesslich mit Technologie­ Innovationen (siehe Kapitel 2.6.2). Jonas' These ist nun, dass die ge­ sellschaftliche Anwendung einer technologischen Innovation durch eine Machtelite kontrolliert wird, und dass diese somit das Verant­ wortungssubjekt in der technologischen Zivilisation darstellt. Daher ist sein Paradigma politischer Verantwortung der Staatsmann als Führer eines Staates. Seine politisch-pragmatischen Ausführungen betreffen nicht Kriterien und institutionelle Formen partizipativer Entscheidungsfindung und -durchsetzung. Jonas setzt vielmehr auf eine Machtelite von Einzelpersonen, auch dort, wo er von »Kollektiv­ Verantwortung« spricht (siehe PV, 184-221). Das heute so wichtige Problem der gesellschaftlichen Akzeptanz der Wissenschafts- und Technologieentwicklung, das sich gerade im Falle der Gentechnolo­ gie, mit der sich Jonas vor allem befasst, früh gezeigt hat,104 wird von Jonas nicht aufgenommen. Seine gesellschaftstheoretische These und im Verein damit politisch-pragmatische These lautet: »Man soll ... nicht aus den Augen verlieren, dass dieser Leviathan zusam­ mengesetzt ist aus allen von uns, und dass jeder von uns ja auch in der einen oder anderen Form wieder in institutionellen Formen sein eigenes Wirken entfaltet ... Der Leviathan ist nicht einfach ein Ungeheuer ... sondern wir sind ja selber darin Faktoren. Und nun handelt es sich um zwei Probleme. Das eine ist die Maximierung des möglichen Einflusses richtiger Einsicht, die immer zunächst mal bei einzelnen vorhanden ist, auf das Reagieren dieses Kolossal-Organismus, von dem die Machthandlungen ausgehen. Und das an­

104 Beispielsweise hat der Deutsche Bundestag bereits 1984 eine Enquete-Kommission »Chancen und Risiken der Gentechnologie« eingesetzt (siehe Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, Catenhusen & Neumeister 1987). ^ 193

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dere Problem ist: zu sehen, dass dieses Durchsetzen des Wollens und Wünschens einzelner an den Schlüsselstellen der Macht eben den Richtigen und nicht den Falschen zufällt. Mit anderen Worten: Die Frage der Machteliten kommt auf und wie die zu erziehen sind, so dass sie diesen Moloch oder Leviathan oder einfach neu­ tral das Kollektiv richtig leiten, also zuerst einmal selber von der richtigen Einsicht und dem guten Willen beseelt sind.« (TME, 297)

Den ausschlaggebenden Punkt, den es durch richtige Einsicht und guten Willen zu korrigieren gilt, um diese Eigendynamik zu durch­ brechen, sieht er darin, dass der utopische Zug, der Handeln unter Bedingungen der modernen Technik innewohnt, diese »utopische Treibtendenz (drift)«. (PV, 54) technologischen Handelns, korrigiert wird. Mit diesem utopischen Zug meint er den neuzeitlichen Fort­ schrittsglauben, dass Technologie Utopien in »konkurrierende Entwürfe für ausführbare Projekte verwandelt« (PV, 54), womit der Geschichtsprozess zu einer »säkularisierten Eschatologie« (siehe PV, 45 f., 55, 227 ff.) wird. Mit dieser Kritik wechselt er von der Analyse der ökonomisch-technischen Naturbeziehung in der tech­ nologischen Zivilisation zu ihrer metaphysischen Deutung anhand seines kontemplativen Naturbegriffes. Daher beruht diese Kritik auf Jonas' Kosmogonie als Gegenposition zur religiösen oder säku­ laren success story (siehe Kapitel 2.4.2). Mit dieser Kritik und der damit verbundenen Frage der richtigen Einsicht und des guten Wil­ lens der Machtelite ist die Aufgabe der Verantwortungsethik ange­ sprochen. 2.6.2 Die Aufgabe der Verantwortungsethik in der technologischen Zivilisation In bezug auf die moralische Seite der Umweltproblematik vertritt Jonas eine doppelte These, die an den doppelten Grund der Umwelt­ problematik anschliesst: zum einen führt das Überschreiten der »To­ leranzgrenzen der Natur« (PV, 329) im erfolgreichen Wohlfahrts­ streben zu moralischen Problemen, zum andern sieht Jonas im Wohlfahrtsstreben selbst als einem innerweltlichen Streben nach dem Guten ein moralisches Problem. Die Umweltproblematik ist in Jonas' Analyse durch drei Merk­ male gekennzeichnet, die ihre Besonderheit ausmachen. Es handelt sich bei der Umweltproblematik erstens nicht um ein direkte, son­ dern um eine indirekte Selbstgefährdung der Menschheit, die durch 194

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die Gefährdung der natürlichen Ressourcen für die künftige Selbst­ erhaltung der Menschen entsteht, und die mit grosser räumlicher und zeitlicher Distanz zu ihrer Verursachung eintreten kann. Zwei­ tens handelt es sich nicht um eine individuelle Selhstgefährdung, sondern um die Gefährdung anderer Menschen, insbesondere von künftigen Generationen. Drittens ist diese indirekte anthropogene Gefährdung von Menschen nicht die Folge einer »dramatischen Ent­ scheidung« (TME, 11), sondern ist auf eine schleichende kollektive Umweltzerstörung zurückzuführen. Der Grund dafür, dass die tech­ nologische Zivilisation eine neue Ethik braucht, ist nicht die Gefähr­ dung der Zukunft durch eine plötzliche anthropogene globale Kata­ strophe- »die jähe Drohung des atomaren Holocaust« (TME, 10), die natürlich auch vorhandenden ist. Weil sich über das unbedingte Nein zum Selbstmord der Menschheit nach Jonas alle einig sind (siehe TME, 10), stellt diese jähe Drohung kein neues moralisches Problem dar. Das neue moralische Problem sind vielmehr die kumulativen Fernwirkungen von technikgestützen Handlungen, die für die indi­ viduelle Lebenserhaltung nützlich oder gar notwendig sind (siehe TME, 11, 43). Es stellt sich nun die Frage, in welcher Weise Jonas' Seinsbegriff eine Klärung dieser Orientierungsprobleme in der technologischen Zivilisation leistet, d. h. welche Bedeutung dem regulativen Natur­ begriff seiner Ontologie hier zukommt. In der Analyse der Umwelt­ problematik benützt Jonas zunächst nur einen ökonomisch-tech­ nischen Begriff von Natur als Ressource und einen ökologischen Naturbegriff, indem er die Tragekapazität der Natur für die Mensch­ heit anspricht, und zwar sowohl als Population, d. h. in ihrem Grös­ senumfang, als auch als Zivilisation, nämlich in bezug auf den Le­ bensstil, d. h. die Produktion und der Konsum von Gütern. Die ökonomisch-technische Naturnutzung ist Jonas zufolge grundsätz­ lich moralisch geboten. Zu einem moralischen Problem wird sie des­ halb, weil sie eine die Zukunft der Menschheit gefährdende Verän­ derung versacht: der Planet versagt sich der rücksichtslosen Plünderung. Die Rücksichtslosigkeit bezieht sich hier auf die Abhän­ gigkeit künftiger Generationen von der Nutzung der Natur. Jonas rekurriert nicht auf den kontemplativen Naturbegriff, nicht auf eine Integrität der natürlichen Natur, die zu achten wäre. Zwar erwähnt er, dass die Integrität des Menschen die Integrität der Natur einschliesst (siehe PV, 27 ff., 245 f.; TME, 47), doch formuliert er dazu keine näheren Bestimmungen, die die Umweltwissenschaft in ihre ^ 195

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Bewertung einzubeziehen hätte. Die Bestimmung der Toleranzgren­ zen der Natur ist eine Aufgabe, die »als ganze im Aufgabenkreis der noch jungen Umweltwissenschaft« (PV, 330) liegt, wobei Jonas Bio­ logie, Agronomie, Chemie, Geologie, Klimatologie, aber auch Öko­ nomie, Ingenieurwissenschaften, Städtebau und Verkehrsplanung namentlich aufzählt. Es soll sich dabei um eine »integrale Umwelt­ wissenschaft« (TME, 11) handeln, die die Auswirkungen der ökono­ misch-technischen Nutzungen auf die Natur im Hinblick auf die To­ leranzgrenzen der Natur beurteilt. Jonas spricht auch von einer »Tatsachenwissenschaft von den Fernwirkungen technischer Aktion« (PV, 62), und von einer »vergleichenden Futurologie« (PV, 63; siehe PUMV, 128). Die Schwierigkeit sieht er darin, dass noch keine gesi­ cherten wissenschaftlichen Ergebnisse vorliegen: »Alle quantitativen Vorhersagen oder Extrapolationen sind selbst in den Einzelgebieten derzeit noch unsicher, von ihrer Integration ins ökologische Ganze, wenn sie rechnerisch überhaupt je vollziehbar sein sollte, ganz zu schweigen.« (PV, 330) In diese Argumentation gehen zwei Voraussetzungen ein, die für die Bestimmung der moralphilosophischen Aufgabe entscheidend sind. Die erste Voraussetzung betrifft das Verhältnis des ökologi­ schen, des ökonomisch-technischen und des regulativen Naturbegrif­ fes. Moralisch unzulässig ist eine technologische Naturnutzung nach Jonas dann, wenn sie die durch die Umweltwissenschaft zu bestim­ menden Kriterien für die Toleranzgrenzen der Natur überschreitet. Zu einer moralischen Forderung wird dieses Verbot aufgrund des regulativen Naturbegriffes, der sich jedoch auf die Natur des Men­ schen, d. h. sein Wesen bezieht, und nicht auf die Natur der Natur. Zur Bestimmung der Toleranzgrenzen der Natur ist kein kontempla­ tiver Naturbegriff gefordert, denn »wir haben es hier ... mit der grossen Aussennatur zu tun, der des Weltstoffes, noch nicht mit der Natur des Menschen« (PV, 330). Der Philosoph »hat da nichts zu sagen und nur zu hören« (PV, 330), er entlehnt den Wissenschaften »Ergebnisse für seine Zwecke« (PV, 330). Jonas trennt hier also die Aussennatur oder den Weltstoff einerseits und die Natur des Men­ schen andererseits. Die Aussennatur ist mit Bezug auf ihre Toleranz­ grenzen für die menschliche Zivilisation als ein mathematisch be­ schreibbares System, nicht als ein in sich sinnhaftes Ganzes zu berücksichtigen. Die philosophische Biologie ist hier nur zur Bestim­ mung der Natur des Menschen im Sinne eines regulativen Natur­ begriffes gefordert. 196

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Ferner geht Jonas implizit davon aus, dass es sich hei den Tole­ ranzgrenzen nicht um unhestimmte im Sinne zeitlich variahler oder situativ verschiedener Grenzen handelt, sondern lediglich um ein un­ sicheres Wissen üher an sich hestimmte Grenzen. Mit diesen heiden Voraussetzungen konzipiert Jonas nun die Zusammenarheit von Wissenschaft und Ethik gemäss dem in Kapitel 1.1 kritisierten Mo­ dell: (1) Die Ethik liefert die Begründung eines moralischen Werte­ systems. Dieser Aufgahe stellt sich Jonas mit der ontologischen Begründung des bonum humanum als Verantwortungsfähigkeit, gehunden an die Existenz von Menschen. Der kontemplative Natur­ hegriff fungiert hier somit normativ. Daraus ergiht sich als mora­ lisches Kriterium zur Beurteilung von Technologieanwendungen die Gefährdung der moralischen Integrität der Menschen und die dafür notwendige Voraussetzung, nämlich ihre physische Existenz. (2) Die Wissenschaften hestimmen deskriptiv-analytisch und aufgrund von funktionalen ökologischen Bewertungen gemäss der Norm, dass die moralische Integrität der Menschen nicht zu gefähr­ den ist, die zu erhaltenden Bedingungen und Strukturen sowie die sie gefährdenden Nutzungsformen, womit die ökologische Naturheziehung ins Spiel kommt. (3) Dies ermöglicht der angewandten Ethik eine Klassifikation von Technologien, deren Anwendung aus moralischen Gründen verhoten ist, also eine moralische Beurteilung der ökonomisch-tech­ nischen Naturheziehung. Die Durchsetzung entsprechender Verhote hält Jonas für eine politisch-pragmatische Frage. Diesem Modell ensprechend unterscheidet Jonas zwischen den Grundlagenfragen, für die ein Prinzipienwissen (Schritt 1) und ein Realwissen (Schritt 2) gefordert ist, sowie Durchsetzungsfragen im Anschluss an Schritt 3. Er sieht nun das Verhältnis von Prinzipienwissen und Realwis­ sen so, dass sich das »Real- und Eventualwissen ... zwischen das Ide­ alwissen der ethischen Prinzipienlehre [schieht], und das praktische Wissen hezüglich der politischen Anwendung . erst mit diesen hy­ pothetischen Befunden üher das zu Erwartende - und entweder zu Befördernde oder zu Vermeidende - operieren kann.« (PV, 62) Mo­ ralphilosophie und empirisch-analytische Wissenschaft - also die kontemplative und die ökologische Naturheziehung - erscheinen in dieser Beschreihung als zwei unahhängige Wissenshereiche, was je­ doch nicht die Meinung ist. Vielmehr ist die Umweltwissenschaft in ^ 197

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dem moralphilosophischen »Grundsatzteil ... seihst schon heuri­ stisch benötigt« (PV, 63; kursiv im Original). Der Grund dafür ist die inhaltliche Unbestimmtheit des bonum humanum, die durch eine kausistisch verfahrende »Heuristik der Furcht« (siehe PV, 8, 63; PUMV, 144) zum Zweck der moralischen Technikheurteilung ersetzt wird.105 Indem die Heuristik aber so verfährt, dass sie nur aufzeigt, oh durch eine technologische Innovation das Wesen hzw. die Existenz des Menschen bedroht ist, kann sie lediglich Verbote begründen und keine Gebote (siehe Kapitel 2.5.4). Nun lässt sich diese Heuristik der Furcht aber gegenwärtig nicht auf Umweltprobleme anwenden, und zwar wegen Wissensdefiziten der Umweltwissenschaft: »In dieses Dickicht einzudringen, sich darin schon kasuistisch zu versuchen, ist für den Philosophen verfrüht. Die dafür vorausgesetzte integrale Umwelt­ wissenschaft gibt es noch nicht. Zumindest müssen erst die hier zuständigen Sachwissenschaften (der Natur wie der Wirtschaft) aus dem Netzwerk der Kausalitäten die praktischen Optionen herausarbeiten, an denen die ethische Prüfung dann im einzelnen ansetzen kann, und das steckt erst in den Anfän­ gen. Noch können wir das Teleskop nicht mit der Lupe vertauschen.« (TME, 11f.)

Die kasuistische Technikbeurteilung in TME betrifft ausschliesslich die Anwendung biomedizinischer Techniken am Menschen. Hierfür argumentiert Jonas, dass die Humananwendung unmittelbar »an letzte Fragen unseres Menschseins [rühren]: an den Begriff des >bonum humanumimago deibottom-downtop-downHeuristik der Furchte, hei schwankenden Prognosen der warnenden Gehör zu gehen« (PUMV, 144). 200

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der Fortbestand der Menschheit unter keinen Umständen aufs Spiel gesetzt werden darf. Die Anwendung dieser Entscheidungsregel be­ steht also nach Jonas gerade nicht in der vergleichenden Bewertung von positiven und negativen Handlungsfolgen im Falle ihrer Durchf­ ührung und ihrer Unterlassung. Die Anwendung verlangt vielmehr lediglich den Nachweis, dass negative Folgewirkungen globalen Ausmasses, die die Existenz der Menschheit bzw. das Wesen des Men­ schen gefährden, möglich sind. Denn die Entscheidung soll nicht komparativ Vor- und Nachteile ermessen, sondern ein Urteil darüber ermöglichen »dass dieses oder jenes - ob in grossem oder in kleinem Massstab - schlechterdings nicht stattfinden darf« (PUMV, 144). So schreibt er etwa, es handle sich »nicht mehr um die Wägung end­ licher Gewinn- und Verlustchancen, sondern um die keinem Wägen mehr unterwerfbare Gefahr unendlichen Verlustes gegen die Chan­ cen endlicher Gewinne« (PV, 74), oder es gelte »apokalyptische Aus­ sichten selbst um den Preis zu vermeiden, dass man eschatologische Erfüllungen etwa darüber verpasst« (PV, 71). Daher betrifft diese Regel nur Technologien »mit apokalyptischem Potential« (PV, 76). Argumentativ erscheint diese Situation insofern einfach, als Jonas' Imperativ die Anwendung derartiger Techniken kategorisch verbie­ tet.110 Doch sind die moralischen Probleme der Technologiebeurtei­ lung nicht so eindeutig. Jonas diskutiert den für Umweltprobleme zu einfachen Fall der Einführung einer neuen Technologie, die der Wohlfahrtsmehrung dient und die hinsichtlich ihres Gefährdungs­ potentials für die Weiterexistenz der Menschheit zu beurteilen ist, was durch seine Kasuistik im Bereich der Humananwendung biome­ dizinischer Techniken bedingt sein mag. Er bezieht seine Regel nicht auf den für die Umweltproblematik sehr verbreiteten Problemtyp, nämlich die moralische Beurteilung eingeführter, d. h. praktizierter Techniken, wie z. B. die moralische Beurteilung der Nutzung fossiler Brennstoffe angesichts der Klimarisiken.111 Die moralische Bewer­ tung eingeführter Technologien weist eine unerfreuliche Ambiva­ lenz auf: Praktizierte Technologien wie die Nutzung fossiler Brenn­ stoffe, die aufgrund ihrer ökologischen Auswirkungen auf künftige Generationen nach Jonas moralisch verboten sind, haben zugleich 110 Zum Konservativismus dieser Regel siehe Gethmann-Siefert (1993,178f.). 111 Dafür gibt es einen systematischen Grund. Nach Jonas lassen sich eingeführte Tech­ nologien nur durch die Einführung neuer Technologien abschaffen (siehe Kapitel 2.6.1). ^ 201

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dem gegenwärtigen Stand der Technologie zufolge auch eine nicht suhstituierhare lehenserhaltende Funktion für gegenwärtig lebende Menschen - nicht nur eine wohlfahrtsmehrende Funktion - und sind so gesehen moralisch geboten. Dass eine hloss qualitative Folgenheurteilung von gesellschaft­ lich praktizierten Technologien in ein Entscheidungsdilemma führt, bemerkt Jonas auch selbst. Er sieht in der schleichenden Zerstörung der Umwelt aufgrund von »banaler Alltäglichkeit und durch den Ein­ satz an sich unschuldiger, dem Leben förderlicher, ja ihm nötig ge­ wordener Mittel« (TME, 11, siehe 10-12, 45, 49f., 155; PV, 28, 32), als Folge einer »kollektiven Praxis« (PV, 7; siehe 26, 32) ein besonde­ res moralisches Problem: »Da kann von schmerzloser Verhütung, wie bei den schweigend wartenden Arsenalen [der Atomwaffen], nicht mehr die Rede sein, und die Einmütigkeit des Nein zur abstrakten Zukunftsdrohung geht verloren: die des Wissens, weil es mangelhaft ist; die des Wollens, weil das opferheischende, ferne Viel­ leicht die von heutiger Gewissheit Bedrängten nicht trifft. Selbst das ethische Ja zur allgemeinen Pflicht wird mit sich uneins, weil die ungleiche Verteilung der global verlangten Opfer die Sittlichkeit selbst beleidigt: Wer möchte hun­ gernden Bevölkerungen Umweltschonung predigen?« (TME, 11)

Nicht nur das Wissen, auch das Wollen und insbesondere das Sollen das ethische Ja zur allgemeinen Pflicht, das heisst der kategorische Imperativ, dass eine Menschheit sei - wird also fragwürdig. Letzteres ergibt sich aufgrund der Frage, ob es moralisch gerechtfertigt ist, physische Existenz und Würde einzelner Menschen zugunsten des Fortbestandes der Menschheit zu missachten, und zwar nicht als frei­ williges »Opfer« der Betreffenden selbst, sondern als ein ihnen durch andere aufgenötigtes. Damit ist die Möglichkeit eines moralischen Konfliktes zwischen der Pflicht zur »Sorge um ein anderes Sein« einerseits und um das Seinsganze andererseits angelegt. Doch tritt Jonas auch auf dieses essentiell moralische Problem in der Folge ei­ gentlich nicht ein.112 112 In PV diskutiert Jonas diese Frage sehr knapp, und zwar als Frage, inwiefern das Ganze der Interessen Anderer - insbesondere ihr Leben - von jemandem aufs Spiel gesetzt werden darf. Jonas hält dies nur für zulässig, »um ein höchstes Übel abzuwen­ den« und bezieht sich dabei beispielhaft auf den Krieg als eine Situation, in der »das Unveräusserliche zu retten suchen mit der Gefahr, über dem Versuch alles zu verlieren, ... sittlich gerechtfertigt und sogar geboten sein« (PV, 79) kann. Dies treffe für »die grossen Wagnisse der Technologie« (PV, 79) nicht zu, da diese »nicht zur Rettung des Bestehenden oder Behebung des Unerträglichen unternommen werden« (PV, 79), son202

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2.6 Die Analyse der technologischen Zivilisation

Werden die Folgen nur auf der qualitativen Ebene für sich be­ trachtet, dann ist diese Dilemmasituation nicht auflösbar. Dafür braucht es ein komparatives Abwägen zumindest von Risiken, wobei die kognitiven Unsicherheiten dann mit in Betracht fallen. Zur Ent­ scheidung solcher Wertekonflikte wären auch noch weitere Kriterien mit einzubeziehen, so die Ausgestaltung der Technologie und die Be­ dingungen ihrer gesellschaftlichen Anwendung. Solche Erwägungen stellt Jonas jedoch nicht an, da er darauf zielt, eine Technologie gege­ benenfalls bedingungslos ablehnen. Jonas' Stragegie in dieser Schwierigkeit ist statt dessen, das mo­ ralische Problem auf die gesellschaftliche Anwendung von Techno­ logie-Innovationen zu beziehen, die seines Erachtens von einer Machtelite kontrolliert werden kann, und die diese Ambivalenz der Folgen - einerseits lebenserhaltend und anderseits lebensgefährdend für Menschen zu sein - nicht aufweist. Deshalb stellt sich die Pflicht zur vergleichenden Futurologie und zur Heuristik der Furcht nur in bezug auf Dinge einer gewissen Grössenordnung, während »für die private Handlungssphäre ... die Ignorierung von eitler Hoffnung und Furcht... die einzige der Ungewissheit angemessene Vorschrift« (PV, 76) ist und darüber hinaus auch eine »Vorbedingung tatfähiger Tugend« (PV, 76). Denn diese soll nicht über das Unbekannte grübeln. Nun liegt aber auch in dem Fall der gesellschaftlichen Anwen­ dung von Technologie-Innovationen nicht diese vereinfachte, ambi­ valenzfreie Bewertungssituation vor, was Jonas weiss. Er ist nämlich auch der Überzeugung, dass unter den Bedingungen der technologi­ schen Zivilisation kein technologischer Konservativismus vertreten werden kann. Ein Konservativismus ist heute moralisch falsch, da angesichts der globalen Armutsprobleme ■»jede konstruktive Lösung einen hohen Einsatz an Technologie verlangt (die blossen Ziffern der heutigen Erdbevölkerung schliessen eine Rückkehr zu äl­ teren Zuständen aus), und die davon der Umwelt geschlagenen Wunden ver­ langen nach neuem technischem Fortschritt zu ihrer Heilung, also schon de­ fensiv nach verbesserter Technolgie.« (PV, 323)

Dies bedeutet aber, dass im Falle von Armutsproblemen »die Befol­ gung einer gewonnenen ethischen Einsicht . selbst wieder zum Prodern für den Fortschritt, für die Verbesserung des Wohlstandes. Jonas sucht hier also den Ausweg über die Problemvereinfachung, die am Kern des Problems vorbeigeht. ^ 203

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Kapitel 2: Hans Jonas’ ontologische Ethik für die technologische Zivilisation

Wem« (TME, 13) wird. In diesem Wertekonflikt kann Jonas' regula­ tiver Naturbegriff keine Orientierung stiften. Das ontologische Pa­ radigma des sich selbst erhaltenden Individuums, das Selbsterhal­ tung existential in bezug auf das bonum humanum und existentiell als physische Selbsterhaltung interpretiert, hat keinen systemati­ schen Ort für Intersubjektivität und kann deshalb Wertkonflikte, die für Umweltprobleme zentral sind, nicht thematisieren. Dass Jo­ nas dieses Problem zwar in seiner phänomenologischen Beschrei­ bung der technologischen Zivilisation deutlich sieht, in der Verant­ wortungsethik für die technologische Zivilisation jedoch konsequent ausgrenzt, ist wohl so zu verstehen, dass dieses Problem der meta­ physischen Intention von Jonas zuwider läuft. Diese »Kollision zwi­ schen einer umfassenden Anschauung (sei sie Hypothese oder Glau­ be) und einer partikularen Tatsache, die sich ihr nicht fügt« (OF, 21) führt Jonas nun jedoch nicht dazu, die metaphysische Hypothese zu korrigieren, sondern die Tatsache zu ignorieren, das sich die Umwelt­ problematik nicht befriedigend in sein Konzept einer existentialen Deutung des Menschen als Entmythologisierung einordnen lässt. Die interpretatorische Leitthese, von der her das innerweltliche Fort­ schrittsstreben nach dem Guten zum Grund der Umweltproblematik erklärt wird, hat Jonas bereits 1961 formuliert: »Es ist aber das Einzigartige der jetzigen, von ihr selbst herbeigeführten Lage der Menschheit, dass die beiden Aspekte sittlicher Verantwortung, die meta­ physische des Augenblicks und die kausale der Zukunftswirkung, ineinanderfliessen, da die Bedrohung der totalen Zukunft plötzlich ihren baren physi­ schen Schutz in die Dimension des metaphysischen Anliegens erhebt und damit vorsorgliche Klugheit in seinem Dienst zur vordringlichsten transzen­ denten Pflicht macht. Das heisst, der >Augenblick< der Entscheidung ist in diesem Zusammenhang nicht mehr nur der des Einzelnen und seiner kurz­ fristigen Eigentat, sondern allem voraus der >Augenblick< der Menschheit in ihrem gesellschaftlichen Gesamthandeln.« (OF, 338)

Auf diese interpretatorische Leittese trifft die Bemerkung von KarlOtto Apel über Jonas« ontologische Ethik zu, dass nämlich »jene tie­ fen metaphysischen ... Betrachtungen unsere Aufmerksamkeit und unser ethisches Engagement von den praktisch relevanten Implika­ tionen der aktuellen Krisensituation gerade abziehen könnten« (Apel 1994, 386 f.). Meine These ist daher, dass Jonas zu Umweltproblemen der technologischen Zivilisation nicht deshalb keine Stellung bezieht, weil die wissenschaftliche Futurologie noch ein Desiderat ist, sondern 204

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2.6 Die Analyse der technologischen Zivilisation

weil seine Ethik aus systematischen Gründen keinen Zugang zur Analyse der moralischen Aspekte von Umweltprohlemen hietet. 2.6.3 Die Analyse der technologischen Zivilisation: Zusammenfassung Die Analyse der technologischen Zivilisation hetrifft die ökono­ misch-technische Naturheziehung des Menschen. Der Imperativ der Verantwortungsethik »Handle so, dass die Wirkungen deiner Hand­ lung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Le­ hens auf Erden« (PV, 36), soll eine Moral hegründen, die dem verän­ derten Wesen menschlichen Handelns in der technologischen Zivilisation Rechnung trägt. Die Veränderung hesteht in einer Eigen­ dynamik, die aus der spezifischen Konstellation von Handlungs­ zwecken, Handlungsmitteln und Handlungssuhjekten in der tech­ nologischen Zivilisation entsteht. Anwendung und Gestaltung von Technologien lassen sich nicht dadurch steuern, dass die Zwecke, de­ nen sie ursprünglich dienten, modifiziert werden, da diese Technolo­ gien sich aufgrund positiver Rückkoppelung üher Nehenfolgen vom ursprünglichen Zweck verselhständigt hahen und in neue Zweck­ systeme eingehunden sind. Die Zwangsläufigkeit dieser Entwicklung hat mit dem kollektiven Charakter der Technikanwendung zu tun, weshalh auch der kollektive Täter und die kollektive Tat Gegenstand einer Ethik für die technologische Zivilisation sind. Mit dem kollek­ tiven Täter und der kollektiven Tat meint Jonas jedoch nicht das intersuhjektiv hestimmte Alltagshandeln der Individuen zu ihrer Selhsterhaltung, was eine gesellschaftstheoretische Analyse erfor­ dern würde und für die der Seinshegriff keine Grundlage hietet. Mit dem kollektiven Täter und der kollektiven Tat ist vielmehr eine Machtelite aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik gemeint, die die gesellschaftlich-wirtschaftliche Einführung technologischer In­ novationen kontrolliert. Das moralische Prohlem der Technikentwicklung und -anwen­ dung hetrifft hei Jonas nicht Kriterien dafür, wie die Entwicklung und Anwendung einer Technologie gestaltet werden soll, sondern viel­ mehr die Frage, oh diese Technologie entwickelt hzw. angewendet werden soll. Die entscheidende Voraussetzung dafür ist, den neuzeit­ lichen Fortschrittsglauhen, dass Technologie Utopien in »konkurrie­ rende Entwürfe für ausführhare Projekte verwandelt« (PV, 54), durch eine Entscheidungsregel zu ersetzen, die fordert, dass der schlechten ^ 205

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Kapitel 2: Hans Jonas’ ontologische Ethik für die technologische Zivilisation

Prognose in bezug auf die Technologiefolgen in der Biosphäre der Vorrang vor der guten Prognose in bezug auf die Wohlfahrt der Zi­ vilisation zu geben ist. Mit dieser Kritik am Fortschrittsglauben als säkulare success story wechselt Jonas von der Analyse der ökono­ misch-technischen Naturbeziehung in der technologischen Zivilisa­ tion zu ihrer metaphysischen Deutung anhand seines kontemplati­ ven Naturbegriffes. Entsprechend sieht er die politisch-praktische Umsetzung der Verantwortungsethik darin, die richtige Einsicht und den guten Willen bei der Machtelite zu erwecken. Die Regel vom Vorrang der schlechten vor der guten Prognose weist dem ökologischen Naturbegriff eine normative Funktion bei der Moralbestimmung ökonomisch-technischen Handelns zu, indem die blosse Möglichkeit der Gefährdung des Zustandes der Biosphäre, die als notwendige Bedingung für den Fortbestand der Menschheit gilt, durch die Einführung einer Technologie ein hinreichendes Mo­ ralkriterium dafür ist, diese Technologie nicht anzuwenden. Da die blosse Möglichkeit von Schäden ohne ihre Eintretenswahrscheinlich­ keit hinreichend ist, erfordert die Anwendung dieser Regel keine komparative Kosten-Nutzen-Analyse. Damit die Regel angewendet werden kann, ist aber implizit vorausgesetzt, dass Technologien nicht ambivalent sind, dass sie also nicht einerseits für die Erhaltung menschlichen Lebens notwendig sind, so dass ihr Einsatz deshalb mo­ ralisch geboten ist, und andererseits aber zugleich die Erhaltung anderen - menschlichen Lebens mittelbar über die Veränderung der Biosphäre gefährden, so dass ihr Einsatz zugleich moralisch verboten ist. Jonas argumentiert an gewissen Stellen so, dass die technologi­ sche Innovation lediglich dem Wohlfahrtsstreben der lebenden Ge­ neration dient und die natürlichen Ressourcen für die Lebenserhal­ tung künftiger Generationen gefährdet. An anderen Stellen bemerkt er jedoch, dass Technologien einerseits für die Erhaltung mensch­ lichen Lebens notwendig sind und andererseits menschliches Leben mittelbar gefährden, beispielsweise mit der Bemerkung, dass »jede konstruktive Lösung [der Armutsproblematik] einen hohen Einsatz an Technologie verlangt ..., und die davon der Umwelt geschlagenen Wunden verlangen nach neuem technischem Fortschritt zu ihrer Heilung, also schon defensiv nach verbesserter Technologie« (PV, 323; kursiv im Original). Diesem Argument zufolge dient technolo­ gische Innovation nicht mehr ausschliesslich der Wohlfahrtsmeh­ rung, sondern ist auch für die Erhaltung menschlichen Lebens gefor­ 206

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2.6 Die Analyse der technologischen Zivilisation

dert. Daher wird »die Befolgung einer gewonnenen ethischen Ein­ sicht ... selbst wieder zum Problem« (TME, 13). Aufgrund der prin­ zipiellen Ambivalenz der Folgen auch im Falle von Technologie-In­ novationen kann daher die Entscheidungsregel vom Vorrang der schlechten vor der guten Prognose und damit auch Jonas' normativer Naturbegriff auf Orientierungsprobleme in der technologischen Zi­ vilisation angesichts der Umweltproblematik nicht angewendet wer­ den. Das ontologische Paradigma des sich selbst erhaltenden Indivi­ duums, das Selbsterhaltung existential als kontemplativen Sinn des Lebens und existentiell als physische Selbsterhaltung interpretiert, hat keinen systematischen Ort für Intersubjektivität und funktionale Abhängigkeiten. Diese sind jedoch für die ökonomisch-technische und für die ökologische Naturbeziehung konstitutiv, auf denen die physische Selbsterhaltung beruht. Daher können Konflikte zwischen ökonomisch-technischen, kontemplativen und ökologischen Werten, die über funktionale Zusammenhänge entstehen und die für Um­ weltprobleme zentral sind, moraltheoretisch nicht aufgegriffen wer­ den. Die existential-existentielle Deutung der Umweltproblematik, »dass die beiden Aspekte sittlicher Verantwortung, die metaphysische des Augenblicks und die kausale der Zukunftswirkung, ineinanderfliessen, da die Bedrohung der totalen Zukunft plötzlich ihren baren physischen Schutz in die Dimension des metaphysischen Anliegens erhebt und damit vorsorg­ liche Klugheit in seinem Dienst zur vordringlichsten transzendenten Pflicht macht« (OF, 338),

greift, wie Jonas selbst sieht, dann nicht, wenn sich die Umweltpro­ blematik nicht auf einen »>Augenblick< der Menschheit in ihrem ge­ sellschaftlichen Gesamthandeln« (OF, 338) zurückführen lässt. Jonas' Prinzip Verantwortung ist somit eine onto-theologische Moral­ begründung ohne Moralbestimmung. Sie überlässt die Interpretati­ on der Orientierungsproblematik der technologischen Zivilisation angesichts der Umweltproblematik der Beliebigkeit.

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Kapitel 3

Hösles objektiv-idealistische Ontologie der Intersubjektivität als Alternative zur lebens­ philosophischen Ontologie des Organismus

3.1 Einleitung Auch Vittorio Hösle diagnostiziert als Grundprohlem der Gegenwart einen moralischen Relativismus, den er als Ausdruck einer Krise der zeitgenössischen Philosophie interpretiert, und den er mit der ökolo­ gischen Krise der technologischen Zivilisation verhindet. Er sieht in der ökologischen Krise auch ein metaphysisches Prohlem und hetont, dass sein philosophisches Programm nicht zuletzt durch die ökologi­ sche Krise motiviert sei (siehe KGVP, 12). Die »Verantwortung der Philosophie« hesteht im zufolge darin, die Vernunftkrise durch die Rehahilitation eines philosophischen Begriffes ahsoluter Vernunft zu üherwinden. Dies macht er zu seiner Aufgahe. I960 in Mailand gehoren, studierte Hösle von 1977 his 1982 Philosophie, Indologie und Gräzistik in Regenshurg, Tübingen, Bo­ chum und Freihurg. Die Promotion 1982 und die Hahilitation 1986 in Philosophie erfolgten in Tühingen. 1987 war er Heisenherg-Stipendiat der DFG und wurde 1988 Professor an der New School for Social Research in New York, 1993 an der Universität-Gesamthochschule Essen und 1998 an der University of Notre Dame, USA. Hösle hat zahlreiche Lehr- und Forschungsaufenthalte an Universitäten in Europa, Amerika und Asien verhracht. Das philosophische Programm seiner Ethik und politischen Theorie ist ein ohjektiver Idealismus der Intersuhjektivität, dem­ zufolge das Sittengesetz, d. h. Kants kategorischer Imperativ, der Na­ tur zugrunde liegt. Hösle hat sich vor allem mit der Begründung dieses Programmes hefasst und weniger mit der systematischen Ausarheitung. Er skizziert dieses Programm verschiedentlich und ver­ wendet die Hauptthesen für die Interpretation der Philosophie­ geschichte sowie in der Diskussion und Beurteilung von konkreten moralisch-politischen Prohlemen. Die systematischen Werke »Wahrheit und Geschichte« (WG 1984), »Hegels System« (HS 1988) ^ 209

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Kapitel 3: Hösles objektiv-idealistische Ontologie der Intersubjektivität

und »Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philo­ sophie« (KGVP 1990) - sowie auch die Aufsatzsammlung »Philo­ sophiegeschichte und objektiver Idealismus« (PI, 1996) betreffen die Begründung und Weiterentwicklung des objektiven Idealismus. Pro­ bleme der Ethik und politischen Theorie, wozu auch die Auseinander­ setzung mit der Umweltproblematik gehört, sind in der Aufsatz­ sammlung »Praktische Philosophie in der modernen Welt« (PPW 1992), in der Vortragssammlung »Philosophie der ökologischen Kri­ se« (PK 1991), in Beiträgen für Sammelwerke sowie in dem 1997 erschienenen umfangreichen Werk »Moral und Politik« (MP 1997) von gut 1000 Seiten behandelt. In seiner philosophischen Intention ist Hösle von Jonas geprägt. Anlässlich seiner Gastprofessur an der New School for Social Re­ search lernt er Jonas auch persönlich kennen und bemerkt zu dieser Begegnung später: »Hans Jonas ist für mich neben Karl-Otto Apel die eindrucksvollste Philosophenpersönlichkeit gewesen, von der ich gelernt habe; in einer Zeit, in der die Philosophie immer mehr von der >Philosophologie< verdrängt wird, zeigten mir beide Denker, was wirkliches Philosophieren ist.« (OEHJ, 103; siehe MP, 19) Hösles Buchpublikation von 1991 »Philosophie der ökologischen Krise. Moskauer Vorträge« (PK), die auf Vorlesungen im April 1990 am Institut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR in Moskau zurückgeht, und mit der Hösles philosophische Auseinandersetzung mit der Umweltdebatte bekannt wird, ist Jonas gewidmet: »Hans Jonas - dem weisen Menschen - dem besorgten Mahner - dem grossen Denker - ohne den es immer noch keine praktisch verantwortliche Philosophie der ökologischen Krise gäbe« (PK, 5). Wenige Seiten später würdigt er Jonas' Beitrag nochmals ganz im selben Sinne. Jonas habe erkannt, dass die »Philosophie der ökologischen Krise ... neben dem theoretischen ... auch einen prak­ tischen Teil [hat]: Diese Erweiterung über Heidegger hinaus voll­ zogen zu haben, macht das bleibende Verdienst Hans Jonas' aus, das ihm einen Platz unter den grossen Philosophen sichert.« (PK, 16). Hösle macht als einer der ersten in seinem Aufsatz »Ontologie und Ethik bei Hans Jonas« (OEHJ 1994) auf die Bedeutung der On­ tologie für die Ethik bei Jonas aufmerksam. Er würdigt jedoch vor allem die dezidiert exoterische Dimension von Jonas' Verantwor­ tungsethik sowie die philosophische Intention einer ontologischen Letztbegründung der Ethik, nicht hingegen die spezifischen theoreti­ schen Leistungen von Jonas - seine Ontologie des Organismus und 210

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3.1 Einleitung

seine Theorie der Verantwortung (siehe OEHJ, 105 f.). Im Vorwort zu der 1992 erschienenen Aufsatzsammlung »Praktische Philosophie in der modernen Welt« (PPW) nennt Hösle die für seine theoretische Orientierung wichtigen Autoren und erwähnt dahei, dass seine Üb­ erlegungen über die Zusammenhänge zwischen Biologie und Ethik stark von Jonas beeinflusst seien, »denn sowenig die Biologie die Ethik zu fundieren vermag, so erklärungshedürftig ist doch der Sach­ verhalt, dass alle uns bekannten ethischen Akteure denkende Orga­ nismen sind« (PPW, 13; kursiv im Original; siehe MP, 256 ff.). Diese Bemerkung stellt nochmals klar, dass Hösle die Bedeutung von Jonas' Ontologie des Organismus für die Ethik nicht auf der hegründungstheoretischen Ebene sieht. Was diese Frage betrifft, so fährt er viel­ mehr fort: »Die ethische Theorie, der diese Aufsätze verarbeiten, hat Kants Universalis­ mus zur Grundlage. Von Vico und Hegel habe ich freilich gelernt, nach wel­ chen Prinzpien sich ethisches Bewusstsein und sittliche Institutionen in der Geschichte wandeln und welcher Dialektik der abstrakte Moralismus unter­ liegt; Schelers materiale Wertethik ist als Korrektiv des Kantischen Formalis­ mus stets präsent gewesen; was die Analyse der gegenwärtigen Situation angeht, verdanke ich Heidegger am meisten. Aber den Mut, das Problem­ lösungspotential der klassischen Tradition auf die gegenwärtigen moralischen Herausforderungen zu beziehen, hätte ich ohne das Vorbild Karl-Otto Apels nicht gehabt.« (PPW, 13)

Doch hält er auch die philosophischen Beiträge dieser Autoren letzlich von sehr begrenztem Wert. So würdigt er an anderer Stelle bei­ spielsweise Heidegger dahingehend: »Aber so durchdacht Heideggers Analyse und gnadenlose Ablehnung des modernen Subjektivismus auch ist, sowenig gibt sein Ansatz schon eine ausreichende Grund­ lage für eine logisch konsistente und mit den Phänomenen überein­ stimmende Metaphysik der ökologischen Krise.« (PPW, 182) Dies leistet nach Hösle nur der objektive Idealismus, wobei die spezifische Pointe von Hösle darin besteht, den objektiven Idealismus als eine »Philosophie der Geschichte der Philosophie« aufzufassen. Daher expliziert er seine Philosophie der ökologischen Krise als würdigenden bzw. kritisierenden Kommentar der Beiträge anderer Autoren von seinem Standpunkt aus. Man muss diese Intention von Hösle bei der Lektüre seiner Arbeiten zur ökologischen Krise klar vor Augen haben. Denn sonst erscheinen seine inhaltlichen Aussagen zur ökologischen Krise und ihrer philosophischen sowie auch ihrer ^ 211

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Kapitel 3: Hösles objektiv-idealistische Ontologie der Intersubjektivität

politischen Bedeutung auf weiten Strecken als teils deklariertes teils nicht deklariertes Referat von Gedanken der genannten Autoren. Hösle versteht sein philosophisches Programm als eine »Verbindung Apelscher und Jonas'scher Ideen« (OEHJ, 121; siehe MP 21). Der Verbindungsgedanke besteht darin, dass sich transzendente und transzendentale Begründung der Ethik nicht notwendig ausschliessen. Denn mit »transzendentalen Argumenten lässt sich beweisen, dass das, was wir in ihnen erfassen, nicht nur eine subjektive Den­ knotwendigkeit, sondern eine Realität ist, die unserem Denken vor­ ausgeht« (OEHJ, 121). Hier findet sich Jonas' philosophische Intenti­ on einer metaphysischen Letztbegründung der Ethik wieder, die bei Hösle jedoch nicht durch eine Philosophie des Organismus geleistet werden soll, sondern durch eine objektiv-idealistische Weiterent­ wicklung der Transzendentalpragmatik. Man wird Hösle nicht gerecht, wenn man sein Referat von Ge­ danken anderer Autoren sowie von wissenschaftlichen Forschungs­ ergebnissen zur Umweltproblematik und von umweltpolitischen Forderungen nicht von seiner philosophischen Intention her inter­ pretiert. Er sieht die Aufgabe der Philosophie heute in der »Einarbei­ tung der neuen Themen der nachhegelschen Philosophie sowie der neuen Ergebnisse der (nachhegelschen) Einzelwissenschaften in das System des objektiven Idealismus« (WG, 143; kursiv im Original). Die Frage an Hösle lautet deshalb, was eine objektiv-idealistische In­ terpretation der Philosophie und der Wissenschaft in bezug auf die ökologische Krise leisten kann. Zu diesem Zweck ist zuerst zu klären, was mit dem objektiven Idealismus der Intersubjektivität gemeint ist und worin die Haupt­ gedanken dieses Programmes bestehen. Dies lässt sich anhand der beiden Begründungen, die Hösle für seine philosophische Position vorschlägt, erläutern. Es handelt sich dabei um eine Zyklentheorie der Philosophiegeschichte und um eine reflexive Letztbegründung, auf die ich daher als erstes eingehe (Kapitel 3.2). In bewusster Gegen­ position zu Jonas argumentiert Hösle mit prinzipientheoretischen Erörterungen für eine absolute Vernunft im Sinne des objektiven Idealismus. Aus diesen prinzipientheoretischen Erörterungen wird die Methode verständlich, mit der Hösle sich der Umweltproblematik zuwendet. Die kontemplative Naturbeziehung ist im begründungs­ theoretischen Kontext nicht von Bedeutung. Die verschiedenen Na­ turbegriffe kommen erst bei der metaphysischen Interpretation der Umweltproblematik ins Spiel, der ich mich anschliessend zuwende 212

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3.2 Der objektive Idealismus der Intersubjektivität

(Kapitel 3.3). Die Umweltproblematik wird objektiv-idealistisch als eine bestimmte Entwicklungsstufe im Verhältnis von Geist und Na­ tur aufgefasst. Doch bietet dieser Zugang keinen systematischen An­ satz zur Vermittlung der ökonomisch-technischen, der ökologischen und der kontemplativen Naturbeziehungen der menschlichen Ge­ sellschaft, was bedeutet, dass auch der objektive Idealismus der Inter­ subjektivität am moralischen Kernproblem der Umweltdebatte vor­ beiphilosophiert.

3.2 Der objektive Idealismus der Intersubjektivität Hösle bezeichnet seine Position als objektiven Idealismus der Inter­ subjektivität. Die Bezeichnung soll zum Ausdruck bringen, dass Hösle sich zwar in der Tradition der Philosophie Hegels sieht, Hegel jedoch in einem entscheidenden Punkt kritisiert und ihn wei­ terführen will. Dieser Punkt betrifft das Verhältnis von Subjektivität und Intersubjektivität in der Entwicklung des absoluten Geistes. Die Zyklentheorie der Philosophiegeschichte ist an Hegels Begriff der Philosophie und der Philosophiegeschichte, an Vicos Begriff der Ge­ schichtswissenschaft und an Diltheys Typologie philosophischer Grundpositionen orientiert (siehe Kapitel 3.2.1). Die reflexive Letzt­ begründung ist von Apels Transzendentalpragmatik inspiriert (siehe Kapitel 3.2.2). Mit der reflexiven Letztbegründung verbindet Hösle den Anspruch auf eine erfolgreich durchgeführte strenge Begrün­ dung. Den Begründungsanspruch der Zyklentheorie der Philosophie­ geschichte nimmt er hingegen zurück. Er hält aber trotzdem an ihr fest, und sie prägt auch weiterhin seine philosophische Methode (sie­ he MP), weshalb ich darauf zuerst eingehe. Das Verhältnis der Zy­ klentheorie zur reflexiven Letztbegründung ist nicht klar. 3.2.1 Die zyklentheoretische Begründung der objektiv-idealistischen Intersubjektivität Hösle entwickelt die zyklentheoretische Begründung der objektiv­ idealistischen Intersubjektivität in seiner Promotionsarbeit von 1982 »Wahrheit und Geschichte. Studien zur Struktur der Philosophie­ geschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon« (WG), die 1984 als Buch erscheint. Hösles syste­ matisches Interesse in dieser Arbeit zielt darauf, Hegels Theorie der ^ 213

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Kapitel 3: Hösles objektiv-idealistische Ontologie der Intersubjektivität

Geschichte der Philosophie weiterzuentwickeln, um »die Alternative, die diese Hegelsche Theorie gegenüber dem historischen Relativis­ mus darstellt, wirklich gangbar zu machen« (WG, 130). Dieses Inter­ esse, den Pluralismus philosophischer Positionen im Laufe der Ge­ schichte der Philosophie vom Standpunkt des objektiven Idealismus her zu interpretieren und damit den Relativismus zu überwinden, bleibt für Hösle auch in seinen weiteren philosophischen Arbeiten leitend und charakterisiert insbesondere auch seine »Philosophie der ökologischen Krise«. Auch im Vorwort der 1996 erschienenen Auf­ satzsammlung »Philosophiegeschichte und objektiver Idealismus« (PI) unterstreicht er, dass er am objektiven Idealismus deshalb inter­ essiert ist, weil er eine dritte Position ist sowohl zur »Auffassung, die einen kontinuierlichen Fortschritt in der Geschichte der Philosophie zu erkennen vermeint ... [als auch zum] historischen Relativismus« (PI, 8). Hösles Kritik am Relativismus hat einen politischen Kontext. So formuliert er 1990 in »Die Krise der Gegenwart und die Verantwor­ tung der Philosophie« (KGVP) mehrere Vorwürfe an die Gegen­ wartsphilosophie. Der »ernsteste Vorwurf, der der Gegenwartsphi­ losophie gemacht werden muss« (KGVP, 26), lautet dort, dass die Gegenwartsphilosophie dazu beigetragen hat, »die Vernunft und den Glauben an moralische Werte und Pflichten« (KGVP, 26) zu zerstören, und damit nach Hösle die »Anlagen ., die vielleicht die gegenwärtige Krise überwinden könnten« (WG, 26). Hinter diesem Vorwurf steht eine begründungstheoretische und eine praktisch-po­ litische Absicht: Hösle bezeichnet die verschiedenen Positionen ge­ genwärtigen Philosophierens pauschal als Gegenwartsphilosophie, weil sie alle einen philosophischen Begriff von absoluter Vernunft ablehnen. Er selbst will zum Zweck der Orientierungsstiftung in der technologischen Zivilisation einen Begriff absoluter Vernunft phi­ losophisch rehabilitieren. Auch mit dieser praktisch-politischen In­ tention einer philosophischen Orientierungsstiftung wendet er sich gegen das gegenwärtige Verständnis von Philosophie als Analyse bzw. Reflexion. Hösles Philosophie enthält daher philosophisch-sy­ stematische und politische Argumentationslinien. Die »Modifikation der Hegelschen Philosophiegeschichtsphi­ losophie« (WG, 130), die er in WG ausarbeitet, zielt darauf, »Hegels Fortschritts- und seine Abschlussthese zu modifizieren, ohne doch auf seinen Ansatz einer dialektischen Konstruktion der Philosophie­ geschichte zu verzichten« (WG, 129). Mit der dialektischen Kon­ 214

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3.2 Der objektive Idealismus der Intersubjektivität

struktion meint er, »dass in der Philosophiegeschichte entgegen­ gesetzte Positionen einander ahlösen, bevor sie in einer sie ausglei­ chenden letzten Philosophie auf ihr Recht beschränkt und damit in ihre Wahrheit gebracht werden« (WG, 128). Diese Positionen sollen also im »Verhältnis von Thesis, Antithesis, Synthesis« (WG, 132) zueinander stehen. Hösles Typologie von Grundpositionen ist von Diltheys Triade möglicher philosophischer Grundtypen - Naturalis­ mus, subjektiver Idealismus und objektiver Idealismus - inspiriert (siehe WG, 96ff.; BI, 235; KGVP, 205; PI, 7ff.). Hösle will jedoch diese Positionen nicht wie Dilthey gemäss ihren »metaphysisch-on­ tologischen Grundstimmungen« (BI, 235) unterscheiden, sondern durch ihre »fundamentalen erkenntnis- und begründungstheoreti­ schen Aussagen« (BI, 235). An dieser Bestimmung des Gesichts­ punktes zur Charakterisierung philosophischer Positionen irritiert, dass metaphysisch-ontologische Auffassungen offenbar nicht zu den begründungstheoretischen Prinzipien gehören sollen. Ich komme auf die Probleme dieser Unterscheidung in Kapitel 3.2.2.1 zurück. Hösle bezeichnet seine thetische Grundposition als Realismus oder dogmatische Metaphysik, die antithetische als Subjektivismus oder theoretischen Skeptizimus bzw. praktischen Relativismus sowie die synthetische als objektiven Idealismus. Seine These lautet, dass sich die Abfolge dieser Typen unter erkenntnis- und begründungs­ theoretischer Perspektive jeweils aus den inneren Problemen des vor­ hergehenden Typus erklären lässt. Er erweitert unter diesem Ge­ sichtspunkt das dialektische Dreierschema um Zwischenpositionen. Es handelt sich um den Empirismus zwischen Realismus und Skepti­ zismus sowie um die Transzendentalphilosophie oder Kritik des Skeptizismus als Übergangsposition zwischen dem Skeptizismus und dem objektiven Idealismus (siehe WG, 133-140; BI, 235 ff.; KGVP, 205 ff.; PI, 8f.). Der Fortgang zwischen diesen Positionen ist nach Hösle streng geordnet, da sich die folgende Position als Kon­ sequenz des Ungenügens der jeweiligen erkenntnis- und be­ gründungstheoretischen Prinzipien der vorhergehenden Position er­ gibt: ein konsequenter Realismus läuft auf einen Empirismus hinaus, ein konsequenter Empirismus dann auf einen Skeptizismus etc. Mit diesem Wechsel der Perspektive von den ontologisch-meta­ physischen Auffassungen zu den erkenntnis- und begründungstheo­ retischen Prinzipien zielt Hösle auf eine Modifikation von Hegels Fortschritts- und Abschlussthese der Philosophiegeschichte. Aller­ dings gibt er damit das dialektische Prinzip der Philosophiegeschichte ^ 215

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Kapitel 3: Hösles objektiv-idealistische Ontologie der Intersubjektivität

bei Hegel und damit auch Hegels Begriff der Philosophiegeschichte preis, wie im folgenden deutlich gemacht werden soll.1 Auch für Hösle ist Philosophie und Philosophiegeschichte wie für Hegel »Sy­ stem in der Entwicklung« (VGP1, 47). Hösles Entwicklungsprinzip der Philosophie beruht jedoch auf der Unterscheidung zwischen einer strukturellen und einer materialen Seite der Philosophiegeschichte. Mit der strukturellen Seite meint Hösle die zyklische Abfolge der fünf philosophischen Grundpositionen vom Realismus zum objekti­ ven Idealismus. Es handelt sich dabei um einen vollständigen Zyklus. Die Philosophie ist strukturell abgeschlossen, denn ein Zyklus »er­ fasst strukturell alle möglichen Formen philosophischer Besinnung« (WG, 622). Material ist die Philosophie jedoch nicht abgeschlossen. Was Hösle unter der materialen Seite der Philosophie versteht, er­ läutert er nicht explizit, sondern macht gelegentlich beiläufige Be­ merkungen. So spricht er in einem Vergleich von Platon und Hegel von Kategorien und Erscheinungen als Material: »Die platonische und die hegelsche Philosophie etwa sind ... in der Grund­ struktur identisch. Das, was den Unterschied zwischen beiden ausmacht, möchte ich als den materialen Faktor eines Systems bezeichnen: Hegels Sy­ stem ist, als später, reicher, konkreter, in ihm sind mehr Kategorien expliziert, mehr Erscheinungen eingearbeitet. In Hegels >Wissenschaft der Logik findet sich z.B. unendlich mehr als in Platons Werken zur Dialektik; der zentrale Ansatz aber einer dialektischen Ontologie, deren Mittelpunkt eine absolute, sich auf sich beziehende Subjektivität ist, die Natur wie Geist konstitutiert, ist platonisch.« (WG, 141)

An anderer Stelle spricht er von »neuen Themen der nachhegelschen Philosophie« (WG, 143) und exemplifiziert diese als die Thematisierung der Bedeutung ökonomischer Strukturen für die Entwicklung von Geschichte, der menschlichen Existenz, der Sprache und der In­ tersubjektivität (siehe WG, 142). Die Entwicklung der Philosophie besteht demzufolge darin, dass das neue Material philosophisch re­ flektiert wird, was zu einem neuen Zyklus der Philosophiegeschichte führt, der durch neue Varianten dieser fünf Positionen gebildet wird. Die Unterscheidung zwischen der Struktur eines Zyklus und seinem materialen Gehalt soll ermöglichen, »dialektischen mit linea­ 1 Indem Hösle von ontologisch-metaphysischen zu erkenntnis- und begründungstheo­ retischen Prinzipien wechselt, bedeutet seine Modifikation von Hegel her gesehen, dass er die nach Hegel der Philosophie immanente Dialektik ersetzt durch die Dialektik des erkennenden Bewusstseins in Hegels Phänomenologie des Geistes. 216

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3.2 Der objektive Idealismus der Intersubjektivität

rem Fortschritt« (WG, 132) zu verbinden. Dialektischer Fortschritt charakterisiert das Verhältnis der verschiedenen Positionen inner­ halb eines Zyklus, während in materialer Hinsicht linearer Fort­ schritt zwischen analogen Positionen in aufeinanderfolgenden Zy­ klen stattfindet. Zwischen verschiedenen Zyklen gibt es keinen strukturellen Fortschritt. Derselbe strukturelle Zyklus wiederholt sich im Laufe der Philosophiegeschichte dauernd. Es findet jedoch ein materialer Fortschritt statt, und zwar in dem Sinne, dass die ent­ sprechende Position eines zeitlich späteren Zyklus material gesehen reicher und konkreter ist als die ihr analoge Position eines zeitlich früheren Zyklus (siehe WG, 141 f.). Dieser materiale Fortschritt ist auch der Grund dafür, dass nach einer objektiv-idealistischen Positi­ on wieder eine dogmatische Metaphysik vertreten werden kann, wo­ mit ein neuer Entwicklungszyklus beginnt. Denn »es bleibt... eine in unendlicher Annäherung zu leistende Aufgabe, die materiale Auf­ füllung des Grundgerüstes des objektiven Idealismus zu vollbringen« (WB, 145; siehe KGVP, 39). Dies ist mit einem strukturellen Rückfall in die Position einer dogmatischen Metaphysik verbunden, da die Arbeit an »Erscheinungen ., die bei dem synthetischen Denker zu wenig zur Geltung kommen« (WG, 147), durch die »Sprengung der Systemstruktur erleichtert« (WG, 147) wird, denn sie ist dann »be­ freit von den Strapazen der Rücksichtnahme aufs Ganze« (WG, 147). Der Zyklengedanke und die dafür konstitutive Unterscheidung von Struktur und Material ist von Vicos Begriff der Geschichtswis­ senschaft in den »Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die ge­ meinsame Natur der Völker« (PWNV1, PWNV2) inspiriert.2 Die­ sem Begriff zufolge entdeckt die Geschichtswissenschaft »den Plan einer ewigen idealen Geschichte ., nach der die Geschichte aller Völker in der Zeit abläuft« (PWNV1, 8; siehe WG, 152 f.). Für Hösle ist Vicos Argument interessant, dass die Geschichte nur deshalb Wis­ senschaft sein kann, weil sie »von ricorsi, von Wiederholungen be­ stimmt ist, die auf eine Idee der Geschichte, auf eine paradigmatische >storia ideale eterna< verweisen« (WG, 152; kursiv im Original). Denn Hösle sieht in dem Gedanken, historische Pluralität nicht als schlechthinnige Pluralität, sondern als zyklische Wiederkehr einer

2 Hösle hat Vicos »Principi di una scienza nuova d'intorno alla comuna natura delle nazioni« zusammen mit Christoph Jermann ins Deutsche übersetzt und 1990 bei Mei­ ner herausgegeben. ^ 217

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Kapitel 3: Hösles objektiv-idealistische Ontologie der Intersubjektivität

idealen Struktur aufzufassen auch das zentrale Argument gegen den Relativismus (siehe WG, 129 f., 152). Er wertet nämlich die Interpre­ tation der Geschichte der Philosophie im Sinne einer sich wieder­ holenden dialektischen Struktur als Ausweis für die Übergeschicht­ lichkeit dieser Struktur (siehe WG, 145). Der Übergang zu einem neuen Zyklus ist demzufolge nicht durch ein strukturelles Un­ genügen, sondern durch ein materiales Ungenügen bedingt. Daher bedeutet der Fortgang als Wiederholung einer zyklischen Struktur keine Relativierung der synthetischen Position des objektiven Idealimus als Begründungstheorie. Der Fortgang ist lediglich Ausdruck davon, dass diese Position in materialer Hinsicht noch unzureichend ausgearbeitet ist. Diesem materialen Ungenügen nachzukommen wird durch die »Sprengung der Systemstruktur« (WG, 147) - durch einen vorübergehenden Rückfall in einen Realismus - erleichtert, doch findet dann wieder ein dialektischer Fortschritt vom Realismus zum objektiven Idealismus statt. Daher sieht Hösle die Aufgabe der Philosophie in systematischer Hinsicht darin, die Entwicklungen, die in der Zeit nach Hegel in der Philosophie und in den Wissenschaften stattgefunden haben, vom Standpunkt des objektiven Idealismus zu rekonstruieren (siehe WG, 143). Dieser Zyklengedanke ist nun allerdings nicht einfach eine »be­ reicherte Modifikation der Hegelschen Philosophiegeschichtsphi­ losophie« (WG, 130; siehe 128), sondern kündigt - wie schon be­ merkt - das Prinzip von Hegels »Philosophiegeschichtsphilosophie« auf, d. h. Hegels Begriff der Entwicklung und des Konkreten. Dies ist allerdings auch gefordert, wenn Hegels Auffassung, dass mit seiner Philosophie die Philosophie überhaupt vollendet ist, aufgegeben wer­ den soll. Hegel schreibt über den Begriff der Geschichte der Philoso­ phie in der Einleitung zu seinen »Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie« (VGP1, VGP2, VGP3): »So ist die Philosophie Sy­ stem in der Entwicklung, so ist es auch die Geschichte der Philoso­ phie« (VGP1, 47). »Entwicklung« ist für Hegel in diesem Zusam­ menhang ein terminologischer Ausdruck, und zwar versteht er »Entwicklung« als Bewegung des Geistes im »Herausgehen, Sichauseinanderlegen und zugleich Zusichkommen« (VGP1, 41). Der we­ sentliche Punkt dabei ist, dass die Idee, die sich auf diese Weise ent­ wickelt, die unterschiedlichen Bestimmungen, die im Herausgehen und Sichauseinanderlegen für sich werden, bereits an sich enthält: »So ist die Idee ihrem Inhalte nach in sich konkret, sowohl an sich, und ebenso ist das Interesse, das es für sie heraus sei, was sie an sich 218

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3.2 Der objektive Idealismus der Intersubjektivität

ist. Beide Begriffe verbunden, so haben wir die Bewegung des Kon­ kreten.« (VGP1, 43) Entwicklung als Bewegung des Konkreten ist ein Hervorgehen, das mit oder ohne Bewusstsein seiner Notwendigkeit geschehen kann: »die gedachte, erkannte Notwendigkeit der Bestimmungen darzustel­ len, ist die Aufgabe und das Geschäft der Philosophie selbst« (VGP1, 48), während das Hervorgehen der »unterschiedenen Stufen und Ent­ wicklungsmomente in der Zeit... das Schauspiel [ist], welches uns die Geschichte der Philosophie zeigt« (VGP1, 48). Was die empirische »Gestalt und Erscheinung, in der die Philosophie geschichtlich auf­ tritt« (VGP1, 49) von der »logischen Ableitung der Begriffsbestim­ mungen der Idee« (VGP1, 49) unterscheidet, ist »ihre äusserliche Gestaltung, ihre Anwendung auf das Besondere« (VGP1, 49). Von Hegels Entwicklungsbegriff her gesehen ist eine Entwick­ lung der Philosophie in mehreren Zyklen, wie Hösle dies anvisiert, nicht denkbar. Denn die Idee als konkrete enthält alle unterschiedli­ chen Bestimmungen in sich, und ihre Entwicklung als für sich Wer­ den im Heraustreten der Bestimmungen ist deshalb Vollendung. Wenn die Bestimmungen herausgetreten sind, ist die Idee in sich zurückgekehrt und damit ist auch das Bewegungsprinzip erschöpft. Zyklische Wiederholungen sind also aus systematischen Gründen nicht denkbar: nach dem einmal durchlaufenen Zyklus können keine weiteren Bestimmungen mehr auftreten, weil die Idee für sich ist. Daher bricht Hösles Unterscheidung einer strukturellen und einer materialen Seite der Philosophie mit Hegels Prinzip der Philosophie als immanenter Entwicklung der Idee. Da Hösle jedoch zugleich am objektiven Idealismus festhalten möchte, rekurriert auch er letztlich wieder auf ein dem Absoluten immanentes Entwicklungsprinzip und wird damit inkonsistent (siehe Kapitel 3.3.2). Dass der Zyklengedanke mit fundamentalen Veränderungen von Hegels objektivem Idealismus verbunden ist, deutet Hösle aller­ dings in WG auch schon an. Dies geschieht jedoch nicht im Zusam­ menhang mit der Explikation seiner Zyklentheorie, sondern im An­ schluss daran, dass »auch und gerade politische Gründe« (WG, 156) für diesen Zyklengedanken sprechen. Denn Hösles Auffassung von der politischen Bedeutung der Philosophie ist Hegels Auffassung dia­ metral entgegengesetzt, dass »die Eule der Minerva ... erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug« (GPR, 28) beginnt, d. h. dass die Philosophie »als der Gedanke der Welt« (GPR, 28) erst in der Zeit erscheint, »nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozess voll­ ^ 219

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endet und sich fertig gemacht hat« (GPR, 28). Hösle strebt eine poli­ tische Philosophie an, die der politischen Wirklichkeit vorausliegt (siehe WG, 166). Ihm ist klar, dass Hegels These vom Zuspätkommen der Philosophie systematische Gründe hat, denn »sie ist in Hegels Nachordnung des absoluten Geistes nach dem objektiven Geist angelegt: Die Philosophie bestimmt danach nicht, was politisch wirklich sein soll, sondern bringt das auf den Begriff, was schon wirklich ist; sie ent­ wirft nicht die zu realisierende Zukunft, sondern erklärt (und vernichtet da­ durch) das Vergangene.« (WG, 165)

Das Verhältnis von objektivem und absolutem Geist bei Hegel folgt, wie Hösle bemerkt, aus Hegels »Ansetzung des Absoluten als sich selbst denkender Subjektivität« (WG, 165). Die Kritik dieser Idee des Absoluten ist Gegenstand von Hösles Habilitationsarbeit »He­ gels System« (HS1, HS2), die 1986 erscheint. Hösles Zyklenkonzept beruht auf einer Unterscheidung von Struktur und Material der Philosophiegeschichte, die wie schon be­ merkt, nicht unproblematisch ist. Wenn er Diltheys metaphysisch­ ontologischen Gesichtspunkt zur Unterscheidung philosophischer Positionen durch einen erkenntnis- und begründungstheoretischen ersetzen will, dann könnte das so interpretiert werden, dass meta­ physisch-ontologische Fragen - neben anderem - die materiale Seite der Philosophie bilden. Dies wird dadurch gestützt, dass er die mate­ riale Seite u. a. auch als Kategorien und Erscheinungen erläutert (sie­ he WG, 141). Nun setzt das Zyklenkonzept jedoch zumindest eine gewisse Unabhängigkeit von Struktur und Material der Philosophie voraus, denn wenn der materiale Fortschritt der Philosophie linear und prinzipiell unabgeschlossen sein soll, dann kann er nicht auf dem dialektischen Prinzip der strukturellen Entwicklung beruhen, die abgeschlossen ist und sich in identischen Zyklen wiederholt. Auf diese Weise zwischen erkenntnis- und begründungstheoretischen Prinzipien einerseits und metaphysisch-ontologischen andererseits zu unterscheiden, führt jedoch in Schwierigkeiten. Hösle diskutiert diese Schwierigkeiten nicht, sondern äussert sich hier inkonsistent, beispielsweise mit der Bemerkung: »Sosehr ich mir bewusst bin, dass der objektive Idealismus in der Gegenwart keine populäre Philosophie ist, sosehr bin ich doch überzeugt, dass er nicht nur die Schlussposition jedes Zyklus der Philosophiegeschichte ausmacht, sondern auch begründungstheoretisch die stärkste erkenntnistheoretische und ontologische Theorie ist.« (PK, 47) 220

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Hier versteht er nun unter den hegründungsstheoretischen Prinzi­ pien zurecht die ontologischen und erkenntnistheoretischen Prinzi­ pien - doch was macht dann die materiale Seite aus? Die Unterschei­ dung von Form und Materie, auf der die Zyklentheorie heruht, wird von Hösle nicht näher hestimmt. Es wird nicht ausgearheitet, was nun als Stukturprinzipien der Philosophie und was als Material der Philosophie anzusehen ist, und wie inshesondere die Dynamik im Material der Philosophie zu erklären ist, die jeweils den Übergang zu einem neuen Zyklus erforderlich macht. Er kommt in seinen Arheiten zwar immer wieder auf diese Unterscheidung zurück, expli­ ziert sie jedoch nur ansatzweise und vor allem auch auf unterschied­ liche Weise. Damit hleiht aher auch die für Hösles Ansatz grund­ legende Unterscheidung unklar. Er setzt in seinen späteren Schriften zu einer gewissen Selbst­ kritik an seiner Zyklentheorie an, ohne diese jedoch aufzugehen.3 Die Kritik hezieht sich auf die materiale Seite. In KGVP (1990) hemerkt er zu seiner Zyklentheorie: »Weniges ... scheint mir heute falsch manches allerdings einseitig« (KGVP, 39). Die Einseitigkeit hetrifft nun die mangelhafte Erklärung der Entwicklung der Philosophie in materialer Hinsicht. Damit ist gemeint, dass »die Apelsche These, die Entwicklung der Philosophie lasse sich nach [den] drei Paradigmen ... der Ohjektivität, der Suhjektivität ... und der Intersuhjektivität« (KGVP, 39, siehe 205) gliedern, nicht eingearheitet ist, und dass zu­ dem »nicht erkannt [ist], inwiefern ausserphilosophische Gründe . den Fortschritt üher die Zyklen hinweg hestimmen« (KGVP, 39 f.). Seinen 1996 erschienenen Aufsatz »Was sind die wesentlichen Un­ terschiede zwischen der antiken und der neuzeitlichen Philosophie?« (UP)4 versteht er ausdrücklich als eine Selhstkritik an seiner Zyklen­ 3 So heht Hösle auch in dem 1997 erschienenen Werk MP hervor, dass »die Erkenntnis einer notwendigen Entwicklung in der menschlichen Bewusstseinsgeschichte .zu der Annahme ermutigen [kann], dass der menschliche Geist, wenn auch auf Umwegen, zur Einsicht in notwendige Wahrheiten hefähigt ist«. (MP, 25) 4 In seiner Hahilitationsarheit »Hegels System« (HS1, HS2), in der es Hösle um eine Rekonstruktion von Hegels Systemidee in der »Wissenschaft der Logik« und um ihre Tragfähigkeit in der Realphilosophie geht, thematisiert Hösle seine Unterscheidungvon Strukturzyklen und Material der Philosophiegeschichte nicht. Allerdings rekurriert er insofern auf diese Unterscheidung, als er auf den Nachweis einer Inkonsistenz hezüglich der Kategorie der Intersuhjektivität in Hegels System zielt und sich die adäquate Einarheitung der Intersuhjektivität in eine ohjektiv-idealistische Position als philosophische Aufgahe stellt (siehe HS2, 664ff.), womit er die nachhegelsche Philosophie als einen neuen Zyklus deutet. ^ 221

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theorie (siehe UP, 13). Er hält an seiner Zyklentheorie aus WG zwar weiterhin fest (siehe PI, 13), merkt hierzu jedoch kritisch an, dass sie primär die Ähnlichkeiten zwischen philosophischen Epochen analy­ siert und dahei zwar »viel von der Dynamik der Geistesgeschichte erfasst - aher sicher nicht alles. So versäumte ich es ... der Frage nach den Unterschieden nachzugehen.« (PI, 14). Auffallend ist hier, dass Hösle nun die terminologische Unterscheidung zwischen Struktur und Material der Philosophiegeschichte nicht mehr verwendet, son­ dern lediglich von Ähnlichkeiten und Unterschieden spricht, und dahei den Bereich möglicher Unterschiede so weit fasst, dass erkennt­ nis- und hegründungstheoretische Prinzipien nicht ausgeschlossen sind: »Ich hin an Unterschieden sowohl hinsichtlich der Methode als auch hinsicht­ lich der Inhalte interessiert; sowohl was neue philosophische Fragen als auch mögliche neue Antworten auf alte Prohleme hetrifft. Und ich werde sowohl immanente philosophische Veränderungen als auch umfassendere Umhrüche in der menschlichen Bewusstseinsgeschichte erörtern, die teils von der Phi­ losophie verursacht sind, teils die Philosophie zur Reaktion gezwungen hahen.« (PI, 14; kursiv im Original)

Hösle hefasst sich mit Unterschieden zwischen Epochen der Philoso­ phie, um sich damit dem »eigentlich wichtigen Prohlem zu nähern, oh es in der Philosophie eine Entwicklungslogik giht« (PI, 13). Dahei geht es eindeutig nicht um die Entwicklungslogik innerhalh eines Zyklus - darauf hezieht er in BI den Ausdruck »Entwicklungslogik in der Philosophiegeschichte« (siehe BI, 235) -, sondern um eine Er­ klärung für die Ahfolge der Zyklen. Überraschenderweise analysiert er für diese Frage nun nicht den Übergang zwischen aufeinanderfol­ gen Zyklen, sondern er vergleicht mit der Antike und der Neuzeit zwei seiner eigenen Epochengliederung zufolge nicht henachharte Zyklen (siehe WG, 140f.; KGVP, 38 ff.; PI, 8) hinsichtlich ihrer Un­ terschiede. Die Wahl gerade dieser heiden Epochen dürfte nicht zuletzt von Apels These zur Philosophiegeschichte als Ahfolge von drei Paradig­ men - der Ohjektivität, der Suhjektivität und der Intersuhjektivität inspiriert sein, auf die Hösle am Ende des Aufsatzes auch verweist (siehe PI, 35). Hösle hegründet nun die Wahl gerade dieser heiden Epochen mit dem Argument, dass es sich um die heiden originellsten Epochen der Philosophiegeschichte handelt und ihr Vergleich deshalh etwas üher die Entwicklungsrichtung der Philosophie aussagen kann. 222

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Er versteht den Fortschritt der Philosophie - früher als lineare Zu­ nahme an materialem Reichtum charakterisiert - nun als eine gerich­ tete Entwicklung, deren Richtung durch die Entwicklungslogik ganz oder teilweise erklärt wird. Dies impliziert die Behauptung, dass nicht nur das dialektische Prinzip der fünf Grundpositionen, sondern auch der ehemals material genannte Fortschritt der Philosophie einen philosophischen Prohlemzusammenhang bildet. Diesen sieht Hösle im Wandel des Begriffs des Absoluten. So führt er den ersten Wandel vom Paradigma der Objektivität zum Paradigma der Subjektivität im Anschluss an Jonas auf eine Veränderung des Gotteshegriffes zurück: auf den von der Gnosis eingeleiteten Wechsel vom Begriff eines im­ manenten zum Begriff eines transzendenten Gottes (siehe PI, 16 ff.; Kapitel 2.3 und Kapitel 2.4). Den Grund für den zweiten Wandel vom Paradigma der Subjektivität zum Paradigma der Intersuhjektivität sieht Hösle in Schwierigkeiten in Hegels Idee des Absoluten als der sich selbst denkenden Subjektivität. Hier stellt sich dann natürlich die Frage, was auf das Paradigma der Intersubjektivität folgt, denn auch der von Hösle anvisierte Begriff des Absoluten müsste sich als unzureichend erweisen, auch wenn dies noch nicht deutlich ist. Hösle hält zugleich an seiner Zyklentheorie als einer Typolgie der fünf genannten Positionen fest (siehe PI, 13). Er tritt jedoch nicht explizit darauf ein, wie sich das Prinzip, das die Bewegung der Zyklen konstituiert, zum Problemzusammenhang verhält, der die materiale Entwicklungsrichtung der Philosophie, d. h. den Fortschritt zwischen den Zyklen bestimmt. Für Hösles Weiterentwicklung des objektiven Idealismus ist diese materiale Entwicklungsrichtung zentral, nicht die Zyklentheorie. Diese Entwicklungsrichtung sieht er Apel folgend darin, dass »in einer ersten Annäherung der Kontrast zwischen der antiken und der neuzeitlichen Welt mit Hilfe der Kategorien Objek­ tivität und Subjektivität erfasst werden kann« (PI, 15), während die nachhegelsche Philosophie durch das Prinzip der Intersubjektivität gekennzeichnet ist (siehe KGVP, 11). Im Kontext der metaphysi­ schen Deutung der ökologischen Krise geht er dann dazu über, die materiale Entwicklung der Philosophie als ein dialektisches Verhält­ nis von Objektivität, Subjektivität und Intersubjektivität zu deuten (siehe Kapitel 3.3.2.2 und Kapitel 3.3.2.3). Das Hauptgewicht von Hösles Ausführungen liegt darauf zu zeigen, dass »eine neue Form der Subjektivität die Hauptursache für die Unterschiede zwischen der neuzeitlichen und der antiken Phi­ losophie« (PI, 15) ist. Die neue und damit erklärungsbedürftige Form ^ 223

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Kapitel 3: Hösles objektiv-idealistische Ontologie der Intersubjektivität

der Subjektivität ist »die ungeheure Abstraktionsfähigkeit des neu­ zeitlichen Ichs von der natürlichen und der sozialen Welt, in der es lebt« (PI, 15). Diese wird zum erkenntnis- und begründungstheo­ retisch relevanten Prinzip. Die Philosophie hat nämlich seit Descartes »mit einem subjektiven Punkt, der Anspruch darauf erhebt, all das zu bezweifeln, was nicht in ihm gegeben ist« (PI, 15, siehe 16), zu rech­ nen. Entsprechend befasst sich Hösles Aufsatz dann damit, in bezug auf Metaphysik, Ethik und politische Theorie »zu zeigen, dass es wirklich das neuzeitliche Ich ist, das alle relevanten Differenzen ge­ neriert« (PI, 35). Indem »zumindest drei Strukturen, [die] für den Erfolg wesentlich waren - das Christentum, die neuzeitliche Wissenschaft und die Aufklärungsbewegung ... selbst Früchte jenes Baumes [sind], der seine Wurzeln im neuzeitlichen Ich hat ... kann man zumindest in diesem Falle sagen, die Philosophie habe einen Einfluss auf sich selbst ausgeübt - wenn auch über einen Umweg durch die äussere Wirklichkeit.« (PI, 16; siehe KGVP, 39 f.)

Zur Erklärung des neuzeitlichen Ich rekurriert Hösle auf einen Wan­ del von Theologie und Metaphysik, und zwar folgt er hier Jonas' Dualismusthese aus GEN, dass der Dualismus der spätantiken Gno­ sis, der auf der These eines transzendenten Gottes beruht, eine Vor­ aussetzung für Descartes' Dualismus sowie auch für das verum-factum-Prinzip der neuzeitlichen Wissenschaft und für die neuzeitliche Aufklärungsbewegung darstellt (siehe PI, 16 ff.; PPW, 96 f.; PK, 52; MP, 26; Kapitel 2.3 und Kapitel 2.4). Wenn Hösle hier allerdings Jonas' Dualismusthese tatsächlich folgt, dann relativiert dies seine These einer philosophieimmanenten Entwicklung, denn Jonas erklärt die Entstehung des gnostischen Dualismus in der Spätantike mit so­ zialgeschichtlichen Gründen, allerdings ohne damit einen vollständi­ gen Erklärungsanspruch zu verbinden (siehe Kapitel 2.3). Für den zweiten Fall, d. h. für die Entwicklung vom Paradigma der Subjektivität zum Paradigma der Intersubjektivität, unternimmt Hösle eine gewisse systematische Rekonstruktion des Problem­ zusammenhanges in seiner Arbeit »Hegels System« (HS1, HS2). Seine Analyse von Hegels Systemidee und ihrer Durchführung in der Realphilosophie (siehe HS1, HS2) zielt auf den Nachweis, dass die »Realphilosophie durch die Logik nicht vollständig >abgedeckt< ist - objektiver und absoluter Geist eröffnen mit Kategorien der In­ tersubjektivität eine realphilosophische Sphäre, die durch die Logik nicht mehr prinzipiiert ist« (HS2, 664). Die Kritik an Hegels Unter224

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3.2 Der objektive Idealismus der Intersubjektivität

Ordnung der Intersubjektivität, »die bloss als Stufe auf dem Wege des Erreichens einer rein theoretischen Subjektivität interessiert« (HS2, 665), nimmt der Sache nach seine politisch motivierte Kritik an He­ gels »Ansetzung des Absoluten als sich selbst denkender Subjektivi­ tät« (WG, 165) wieder auf - politisch motiviert insofern als Hegels These vom Zuspätkommen der Philosophie »in Hegels Nachordnung des absoluten Geistes nach dem objektiven Geist angelegt« (WG, 165) ist. Hösle zufolge scheitert Hegels Programm an einer »falschen Bestimmung des Verhältnisses von Subjektivität und Intersubjekti­ vität« (HS2, 665). Hösles Programm besteht daher in einem objekti­ ven Idealismus der Intersubjektivität. Er nimmt die Ausarbeitung dieses Programmes als eine objek­ tiv-idealistische Weiterentwicklung von Apels Transzendentalprag­ matik in der Publikation von 1990 »Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie« (KGVP) in Angriff und hält hier eingangs auch nochmals die in WG und HS2 formulierte Kritik an Hegel fest (siehe KGVP, 47). Für die Begründung des objektiven Idealismus stützt er sich nun nicht mehr auf seine Zyklentheorie, sondern auf eine reflexive Letztbegründung, die er im Anschluss an Apel in dem Aufsatz »Begründungsfragen des objektiven Idealis­ mus« (BI) von 1987 ausgearbeitet hat (siehe Kapitel 3.2.2). Sowohl in BI als auch in KGVP rekurriert Hösle auf seine Zyklentheorie nun lediglich zu dem Zweck, den Grundgedanken des objektiven Idealis­ mus zu explizieren (siehe BI, 234ff.; KGVP, 205 ff.).5 Der Anspruch, den er mit seiner Zyklentheorie der Philosophiegeschichte verbindet, lautet nun, dass sie »einen, wenn nicht sogar den zentralen Aspekt der Geschichte des Denkens zu erfassen [scheint]. Insbesondere scheint mir die Relativierung des Relativismus ihre Hauptleistung auszumachen« (KGVP, 39; kursiv im Original).6 Eine Relativierung 5 In BI bemerkt Hösle allerdings noch, dass die zyklentheoretische Darstellung der Grundgedanken des objektiven Idealismus mit dem Beweis eng verbunden ist, und zwar deshalb, weil »Wahrheit und Geschichte durchaus tiefer miteinander verknüpft [sind], als die traditionelle Metaphysik meinte .. .es könnte sein ..., dass die Geschichte logisch strukturiert ist« (BI, 234). Doch schränkt er dann wenige Seiten später seine zyklen­ theoretische Darstellung des objektiven Idealismus als Synthese des Realismus und des subjektiven Idealismus mit den Worten ein: »Aber was garantiert, dass es überhaupt apriorische Erkenntnis und gar solche mit ontologischer Dignität gibt? (BI, 244). Diesen Aufweis soll die reflexive Letztbegründung der objektiv-idealistischen Intersubjektivi­ tät erbringen. 6 Ferner weist Hösle noch darauf hin, dass sich die Hauptströmungen der Gegenwarts­ philosophie nach Apel - Marxismus (Thesis), szientistische Phase der analytischen Phi­ ^ 225

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des Relativismus - d.h. eine Relativierung der antithetischen Positi­ on in Hösles Schema - ist noch keine Begründung der synthetischen Position - des objektiven Idealismus. Hösle nimmt hier also den in WG formulierten Anspruch, dass seine Zyklentheorie der Philoso­ phiegeschichte eine notwendige Bedingung für eine gangbare Alter­ native zum historischen Relativismus darstellt, deutlich zurück. Die verschiedenen Schwächen der Zyklentheorie, die er in bezug auf die Erklärung des materialen Fortschrittes der Philosophie (siehe KGVP, 39,; PI, 14) sowie auch in bezug auf die Adäquatheit seiner Rekon­ struktion der Philosophiegeschichte im Rahmen seiner Zyklentheo­ rie (siehe KGVP, 39, 60; PI, 7) diskutiert, stuft er jedoch nicht so ein, dass die Richtigkeit seiner Zyklentheorie als Rekonstruktion der Phi­ losophiegeschichte dadurch grundsätzlich in Frage gestellt ist - im Gegenteil. Nun enthält die Unterscheidung von Struktur und Material der Philosopiegeschichte, die für die Zyklentheorie konstitutiv ist, jedoch Probleme, die die Funktion dieser Unterscheidung in Frage stellen. Hösle führt diese Zyklentheorie ein, weil er der Auffassung ist, dass nur »eine um den Zyklengedanken bereicherte Modifikation der Hegelschen Philosophiegeschichtsphilosophie die Alternative, die diese Hegelsche Theorie gegenüber dem historischen Relativsmus darstellt, wirklich gangbar zu machen« (WG, 130, siehe 129, 152) scheint und vielleicht die nachhegelsche Philosophie erklären könnte. Indem Hösle nun aber einen linearen Fortschritt der Philosophie in materialer Hinsicht zulässt, ist dem Relativismus in materialer Hin­ sicht wiederum Tür und Tor geöffnet. Denn mit dieser Fortschritts­ these ist die Frage zu stellen: Was kommt nach der Epoche, die mit der objektiv-idealistischen Intersubjektivität abgeschlossen ist, d.h. was kommt nach Hösles Philosophie? Wenn diese Frage aber zulässig ist, dann ist der objektive Idealismus der Intersubjektivität nur eine relative Verbesserung der Hegelschen Philosophie und keine absolu­ te. Dann aber fällt Hösles Zyklentheorie aufgrund seiner materialen Fortschrittsthese unter sein eigenes Argument, dass auch eine »Auf­ fassung, die einen kontinuierlichen Fortschritt in der Geschichte der Philosophie zu erkennen vermeint ... auf eine Legitimation des Re­ losophie (Zwischenposition) und Existentialismus (Antithesis) - »leicht mit den ersten drei Phasen eines jeden philosophischen Zyklus in Entsprechung bringen« (KGVP, 60) lassen. Er kritisiert dann allerdings an Apel, dass dieser wichtige Richtungen der Phi­ losophie des 20. Jahrhunderts dabei übergehe (siehe KGVP, 60f.). 226

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3.2 Der objektive Idealismus der Intersubjektivität

lativismus hinauslaufen muss« (PI, 8). Ein materialer Relativismus verträgt sich schwerlich mit der Forderung, dass die politische Phi­ losophie des objektiven Idealismus der Intersubjektivität - im Unter­ schied zu Hegels Philosophie - ihrer politischen Wirklichkeit voraus­ liegt (siehe WG, 166) und sich, wie Hösle in KGVP formuliert, als »eigentliche Philosophie« (KGVP, 23) den »entscheidenden Mensch­ heitsproblemen« (KGVP, 25) stellt. Dies soll sie nämlich, indem sie »nicht nur, und m. E. nicht einmal in erster Linie - >ihre Zeit in Ge­ danken erfasst«« (KGVP, 23), sondern auch unbedingte Pflichten for­ muliert, und zwar material bestimmte (siehe PK, 69 ff.). Wenn aber diese Pflichten in materialer Hinsicht epochenspezifisch sind, lassen sich keine material bestimmten unbedingten Imperative formulie­ ren. Wenn sich also die materiale Seite der Philosophie wandelt und dadurch »Paradigmen« der Philosophie konstitutiert, wobei dieser Wandel prinzipiell nicht abgeschlossen ist, dann stellt sich die Frage, worauf sich die Formulierung letztbegründeter Pflichten stützen kann. Die Relativierung würde sich abwenden lassen, wenn Hösle für seine eigene Position der objektiv-idealistischen Intersubjektivi­ tät die Vollendung der Philosophie beanspruchen würde. Doch hat gerade die Unhaltbarkeit dieses Anspruches auf Vollendung der Phi­ losophie Hösle zur Entwicklung seiner Zyklentheorie veranlasst. Auch in KGVP hält er zu seinem Programm einer Letztbegründung fest, es gehe ihm damit nicht »um den Abschluss des Projektes der Philosophie« (KGVP, 143). Vielmehr können wir als »endliche, ge­ schichtliche Wesen (was wir auch, aber nicht nur sind) ... nicht hof­ fen, das System des objektiven Idealismus zu finden« (KGVP, 213; kursiv im Original). Mit dem System des objektiven Idealismus ist wohl ein objekti­ ver Idealismus gemeint, der auch in materialer Hinsicht vollständig ist, d. h. eine vollständige Erkenntnis der Welt in objektiv-idealisti­ scher Rekonstruktion und damit das Ende der Philosophie. Im obigen Zitat behauptet Hösle nun, dass das Ende der Philosophie aufgrund von Grenzen der menschlichen Erkenntnis nicht erreicht wird. Seine Kritik an Hegels Auffassung war jedoch nicht dadurch motiviert, sondern betraf Hegels Entwicklungsbegriff als Selbstbewegung der Idee. Im obigen Zitat scheint es nun so, als ob Hösle doch auch an der Idee als Entwicklungsprinzip festhält und die Unabgeschlossen­ heit der Philosophie der Endlichkeit des erkennenden Bewusstseins zuordnet (siehe Kapitel 3.3.2). Der Anspruch, dass seine Philosophie im Unterschied zur Gegenwartsphilosophie sich den entscheidenden ^ 227

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Kapitel 3: Hösles objektiv-idealistische Ontologie der Intersubjektivität

Menschheitsproblemen stellt und letzthegründete moralische Pflich­ ten formuliert, ist dann jedoch eine implizit zugestandene Hybris, eine unzulässige Vermessenheit eines endlichen Bewusstseins. Hösles Zyklentheorie der Philosophiegeschichte widerspricht in ihrer Konsequenz dem Zweck, für den sie von Hösle eingeführt wur­ de: sie ist keine notwendige Bedingung für eine gangbare Alternative zum historischen Relativismus, sondern führt entweder in materialer Hinsicht in eine nicht eingestandene relativistische Fortschrittsposi­ tion oder aber zu einer nicht eingestandenden Rehabilitierung von Hegels These von der Vollendung der Philosophie, nun aber als ob­ jektiv-idealistische Intersubjektivität. Obwohl Hösle seit BI für die Begründung des objektiven Idea­ lismus nicht mehr mit der Zyklentheorie argumentiert, prägt die Zy­ klentheorie sein weiteres Philosophieren. Dies kommt darin zum Ausdruck, dass Hösle weiterhin die Aufgabe der Philosophie in einer Rekonstruktion philosophischer Problemstellungen sowie der Ergeb­ nisse der Wissenschaften aus objektiv-idealistischer Sicht sieht. Die­ se Rekonstruktion ist zudem verbunden mit der Formulierung zeit­ geschichtlicher und politischer Thesen. Aus diesen Gründen gewinnt Hösle seine inhaltlichen Aussagen zur ökologischen Krise und ihrer philosophischen wie auch ihrer politischen Bedeutung über die kriti­ sche Würdigung der Arbeit anderer Autoren - und zwar kritisch un­ ter der Perspektive des objektiven Idealismus der Intersubjektivität (siehe Kapitel 3.3). 3.2.2 Die reflexive Letztbegründung der objektiv-idealistischen Intersubjektivität Hösle arbeitet seine reflexive Letztbegründung der objektiv-idealisti­ schen Intersubjektivität erstmals in BI (1987) aus und nimmt diese dann mit gewissen Veränderungen in KGVP (1990) wieder auf. In der Einleitung zu KGVP führt er die Gründe aus, die für seinen unzeit­ gemässen Versuch eines Letztbegründungsprogrammes sprechen. Diese Gründe ergeben sich aus seiner Einschätzung der zeitgenös­ sischen Philosophie. Hösle bezeichnet die verschiedenen Richtungen in der zeitgenössischen Philosophie summarisch als »Gegenwarts­ philosophie«, da die Unterschiede zwischen diesen Richtungen für seine Kritik an der zeitgenössischen Philosophie nicht relevant sind. Er interpretiert die »Gegenwartsphilosophie« als eine »Krise der Ver­ nunft« (KGVP, 13), und zwar aus vier Gründen. Den ersten Grund 228

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3.2 Der objektive Idealismus der Intersubjektivität

sieht Hösle darin, dass es in der zeitgenössischen Philosophie an Ver­ suchen zu einer grossen philosophischen Synthese des wissenschaft­ lichen Wissens angesichts des Fortschrittes und der damit verbunde­ nen Differenzierung der Wissenschaften fehlt (siehe KGVP, 14f.). Wenn aber die Philosophie »immer weniger ... zur Überwindung sektoriellen Denkens beiträgt« (KGVP, 16), dann verliert sie nach Hösle zweitens ihre Berechtigung als intellektuelle Beschäftigung: »Denn wenn die Philosophie neben den Einzelwissenschaften einen Sinn haben soll, dann doch den, dass sie deren Platz im Ganzen des Wissens bestimmt, den diese selbst als Einze/wissenschaften, nicht überschauen können.« (KGVP, 17; kursiv im Original) Er argumen­ tiert hier der Sache nach mit seiner Forderung in WG, dass die Auf­ gabe der Philosophie in der Rekonstruktion der nachhegelschen Phi­ losophie und des nachhegelschen wissenschaftlichen Fortschrittes besteht (siehe WG, 143). Die Diagnose, dass die Philosophie der Ge­ genwart eine Krise der Vernunft darstellt, ergibt sich also aufgrund von Hösles Philosophiebegriff, demzufolge Philosophie Wissenschaft in einem System zu begründen hat, und zwar durch eine objektiv­ idealistische Rekonstruktion wissenschaftlicher Erkenntnisprinzipen und Ergebnisse. Nun versagt die »Gegenwartsphilosophie« nach Hösle aber nicht nur was die Begründung der Wissenschaften betrifft, sondern drittens auch hinsichtlich der »drängendsten Einzelfragen der Zeit« (KGVP, 18), angesichts der »entscheidenden Menschheitsprobleme« (KGVP, 25), denn es ist »beklemmend, wie wenig die Gegenwarts­ philosophie zur Lösung aktueller Fragen leistet« (KGVP, 23). Auch diese Diagnose setzt seine These aus WG voraus, dass die im Rahmen des objektiven Idealismus der Intersubjektivität zu entwickelnde po­ litische Philosophie der politischen Wirklichkeit vorauszuliegen hat (siehe WG, 166). Die »Gegenwartsphilosophie« vernimmt aber statt dessen »den Notruf der eigenen Zeit« (KGVP, 26) nicht. Zwar sieht er dieses Versagen auch als eine unmittelbare Konsequenz aus dem Ver­ zicht auf die Begründung der Wissenschaften in einem System, denn Hösle schliesst den Verzicht auf das Begreifen des Wandels der modernen Welt dabei ein (siehe KGVP, 18). Wichtiger für dieses Ver­ sagen ist seines Erachtens jedoch der moralische Relativismus. Ent­ sprechend lautet der »vierte und ernsteste Vorwurf, der der Gegen­ wartsphilosophie gemacht werden muss« (KGVP, 26), dass sie »die Vernunft und den Glauben an moralische Werte und Pflichten« (KGVP, 26) zerstört hat. ^ 229

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Kapitel 3: Hösles objektiv-idealistische Ontologie der Intersubjektivität

Hösle möchte mit seinem Programm der Letzthegründung aus dieser Vernunftkrise herausführen. Er erachtet sein Programm sogar als eine notwendige Voraussetzung dafür, da nur dank der Letzt­ hegründung »sinnvollerweise von einem kategorischen Imperativ ausgegangen werden [kann] - andernfalls giht es nur hypothetische Imperative, die hesagen, >Wenn du a willst, musst du h tunes gibt nicht-hypothetische (d. h. vorausset­ zungslose) (synthetisch-)apriorische Erkenntnis, und die Gesetze dieser apriorischen Erkenntnis sind zugleich Gesetze der Wirklichkeit.Wenn du a willst, musst du h tun« Welches a ich aher will, hängt ganz von mir ah« (KGVP, 147). Hier ist nicht die Bedingtheit von h durch a das Thema, sondern dass die Geltung von a erstens von Voraussetzungen ahhängt, die zwei­ tens zufällig sind.9 Diese Explikation hetrifft mit »zufällig« die Mo­ dalität des Wahrheitsanspruches und mit »von Voraussetzungen ahhängig« die Struktur von Begründung. Die »einfache Frage, oh jede nichtempirische Erkenntnis hypo­ thetisch sei« (KGVP, 143) hetrifft demzufolge die Modalität des Wahrseins von a und die Struktur der Begründung von a, nicht die 9 Hösle nimmt in seinem Aufsatz »Grösse und Grenzen von Kants praktischer Philoso­ phie« (GGKP 1991, in PPW, 15-45) den Begriff des hypothetischen Imperativs unter Verweis auf Kants »Grundlegung der Metaphysik der Sitten« (GMS) nochmals auf und hemerkt dort: »Das einzige, was wir dann [wenn es keine normativen synthetischen Sätze a priori giht] hegründen könnten, wäre das, was Kant hypothetische Imperative nennt, d.h. Imperative, die folgende Struktur hahen: >Wenn du a wünschst, musst du h tun.c Solche Imperative sind auf einen empirischen Satz der Struktur >h ist ein notwen­ diges Mittel, um a zu erreichenc und auf den analytischen Satz >Wer das Ziel will, will auch das Mittelc zu gründen.« (PPW, 23f.) An der Stelle, auf die Hösle verweist, erläu­ tert Kant jedoch seinen Begriff des kategorischen Imperativs vom Begriff »kategorisch« als Relation von Urteilen her: »Endlich giht es einen Imperativ, der ohne irgend eine andere durch ein gewisse Verhalten zu erreichende Ahsicht als Bedingung zum Grunde zu legen, diese Verhalten unmittelhar gehietet.« (GMS, 36 f.). 234

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3.2 Der objektive Idealismus der Intersubjektivität

Bedingtheit von h durch a. An einer früheren Stelle in KGVP be­ zieht Hösle allerdings den hypothetischen Charakter des Imperativs auch auf das Verhältnis von a und h als Mittel und Zweck. Es han­ delt sich um eine Stelle, an der Hösle dem Kritischen Rationalismus vorwirft, dass er die normativen Prinzipien der Ethik und Ästhetik nicht hegründen kann, wohei hier nun a für Mittel und h für Zweck steht: »Was innerhalb des Kritischen Rationalismus begründet werden kann, sind nur hypothetische Imperative; es kann ... gezeigt werden, warum es sinnvoll ist, a zu tun, wenn man h erreichen will. Aber damit kann man nur die Frage beantworten, welche Mittel zu einem bestimmten Zweck tauglich sind. Nicht kann innerhalb dieses Ansatzes die Frage beantwortet werden, welche Zwekke oder Werte gut sind.« (KGVP, 79)

Damit führt aber auch dieses Verständnis von »hypothetischer Impe­ rativ« auf die Frage, die Hösle eigentlich beschäftigt: Die Begründung von Normen und Werten mit absoluter Geltung. Deren Geltung soll auf apriorischen Prinzipien beruhen, die der Letztbegründungs­ beweis aufzuzeigen hat. Neben der Bedeutung von »hypothetisch« als Relation der Be­ dingtheit zwischen Sätzen und als von »zufälligen Voraussetzungen abhängig«, die die Modalität der Geltung - Kontingenz - und die Struktur der Begründung - von Voraussetzungen abhängig - betrifft, verwendet Hösle »hypothetisch« auch in der Bedeutung des wissen­ schaftsmethodischen Begriffes der Hypothese, d. h. im Sinne einer blossen Annahme. Auf diese Bedeutung rekurriert er in der Diskus­ sion des sogenannten Münchhausen-Trilemmas (Albert 1980), das er für den einzigen seines Erachtens begründungstheoretisch relevan­ ten Einwand gegen Letztbegründung hält (siehe KGVP, 152 ff.; BI 219, 245 f.).10 Das Münchhausen-Trilemma besagt, dass die Axiome eines deduktiven Systems von Erkenntnissen (Sätzen) ihrerseits nicht in deduktiver Weise begründbar sind, da dies auf einen infini­ ten Regress, auf einen Beweiszirkel oder auf einen Abbruch des Be­ weises hinausläuft. Das bedeutet, dass sie nicht begründbar sind,

10 Obwohl Hösle die Kritik von Gethmann und Hegselmann an Apels transzenden­ talpragmatischer Letztbegründung (Gethmann & Hegselmann 1977) in KGVP zitiert, hält er die in diesem Aufsatz vorgeschlagene konstruktivistische Alternative zu »Dezi­ sionismus und Fundamentalismus« (Gethmann & Hegselmann 1977, 342) offenbar nicht für einen begründungstheoretischen Einwand. ^ 235

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Kapitel 3: Hösles objektiv-idealistische Ontologie der Intersubjektivität

wenn als zulässige Begründungen nur deduktive in Frage kommen. Sie sind dann hypothetisch im Sinne blosser Annahmen und verlie­ ren ihre problematische Geltung nicht, da eine empirische Be­ gründung für apriorische Erkenntnis ausgeschlossen ist. Hösle for­ muliert dies so: »Das Münchhausen-Trilemma behauptet, Letztbegründung sei unmöglich. Gemeint ist damit, dass es keine nicht-hypothetische apriorische Erkenntnis, also keine notwendig zu akzeptierenden synthetischen Sätze a priori geben könne. (Ein Satz ist dann letztbegründet, wenn es ihm gegenüber nicht sinn­ voll möglich ist, zu behaupten, wenn man bestimmte nicht notwendig falsche Voraussetzungen mache, könne man ihn zu Recht bezweifeln). Bemerkens­ wert an dieser Aussage ist folgendes. Nach dem Münchhausen-Trilemma ist jede Erkenntnis nicht-empirischer Natur hypothetisch; es lässt sich also im­ mer nur sagen, dass etwas unter der Voraussetzung von etwas anderem gelte (und zwar offensichtlich unter der Voraussetzung von etwas nicht notwendig Wahrem; denn notwendig wahre Voraussetzungen sind nicht das, was man Hypothesen nennt). Alle apriorische Erkenntnis ist in dieser Perspektive be­ dingt, keine unbedingt (absolut). Daraus folgt, dass es keine Letztbegründung geben könne.« (KGVP, 153)

Hier bezieht sich »hypothetisch« sowohl auf die Struktur der Be­ gründung - von Voraussetzungen abhängig - als auch auf die Moda­ lität der vorausgesetzten Sätze. In bezug auf die Modalität apriori­ scher Sätze macht Hösle nun jedoch eine dichtome Unterscheidung von entweder notwendig wahr oder hypothetisch. Die erste Schwie­ rigkeit, die sich damit ergibt, ist die Doppeldeutigkeit von »hypothe­ tisch«, womit dann kontingente Sätze - »nicht notwendig falsche und nicht notwendig wahre Voraussetzungen« - oder problematische Sätze im Sinne blosser Annahmen - »das was man Hypothesen nennt« - gemeint sind. Damit unterscheidet Hösle nicht mehr zwi­ schen empirischen Sätzen und blossen Annahmen. Zwar können em­ pirische Sätze keine apriorischen Sätze begründen. Da Hösle jedoch in seinem Letztbegründungsbeweis apagogisch verfährt und dabei auf modale Widersprüche zielt, ist diese Gleichsetzung von »proble­ matisch« und »kontingent« für den Beweis relevant (siehe Kapitel 3.2.2.2). Eine zweite Schwierigkeit besteht darin, dass Hösle vielmals »notwendig wahr« als Modalität des Wahrseins und »wahr« im Sin­ ne der Geltung gleichsetzt, was ebenfalls für den Beweis relevant ist (siehe Kapitel 3.2.2.2). Hösles Einwand gegen Alberts Homonymie­ vorwurf, dass »eine nicht begründungstheoretische Rekonstruktion der Modalbegriffe bei nicht-empirischen Sätzen keinen Sinn macht; 236

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>notwendig< kann hier nichts anderes heissen als >letzthegründethöchsten Punktintersubjektiven Einheit der Interpretation qua Sinnverständnis und qua Wahrheitskonsens. Diese Einheit der Interpretation muss in der unbe­ grenzten Gemeinschaft der Argumentierenden, aufgrund der experimentel­ len und der Interaktions-Erfahrung, prinzipiell erreicht werden können, soll Argumentation überhaupt Sinn haben.« (Apel 1976b, 411)

Hösles Letztbegründung hingegen soll nicht zu einer Transzenden­ talpragmatik führen, die »intersubjektive Anerkennungsprozesse für das eigentliche und erste Sein hält« (KGVP, 208), sondern zur Be­ gründung einer objektiv-idealistischen Ontologie (siehe KGVP, 153), d. h. einer Ontologie der objektiven Vernunft (siehe KGVP, 208). Un­ ter Rekurs auf die These von der Unabhängigkeit genetischer und geltungstheoretischer Voraussetzungen insistiert Hösle darauf, dass es für Letztbegründung, d. h. voraussetzungslose Erkenntnis, »nicht notwendig ist anzunehmen, dass alle Menschen diesen Gedanken an­ erkennen müssen« (KGVP, 145), denn ihnen können empirische Vor­ aussetzungen - z. B. psychischer Art - dafür fehlen. Hösle behandelt seine Begründung des objektiven Idealismus in KGVP daher unter dem Titel »Kritik der Transzendentalpragmatik«. Gemeint ist nicht ihre Widerlegung, sondern ihre kritische Wei­ terführung im Sinne von Hösles Zyklentheorie der Philosophie­ geschichte. Dies zeigt die Bemerkung in BI, dass »die auf der Basis dieses Begründungskonzepts von der Transzendentalpragmatik aus­ gearbeitete Philosophie in ihren Inhalten das Potential nicht ausschöpft, das in jenem Begründungskonzept liegt« (BI, 234). Hösle kritisiert an Apel dabei im Kern die Interpretation sowohl der refle­ xiven Begründungsstruktur als auch der Kategorie der Intersubjekti­ vität: »Die Transzendentalpragmatik versteht die Letztbegründung nur als subjektiven-intersubjektiven Akt; für einen objektiven Idealismus ist sie ein Akt des 238

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Absoluten selbst, der allem Seienden vorausgeht. Die Transzendental­ pragmatik begründet den Vorrang der Intersubjektivität mit dem Argument, ein einsames Subjekt könne keine Erkenntnis mit Wahrheitsanspruch haben. Dagegen scheint mir diese Behauptung die Autonomie der Vernunft zu zerstören; Wahrheit scheint mir eine subjektivitätslogische Kategorie zu sein. Aber es ist eben nicht allzuviel damit getan, die Wahrheit zu erkennen; sie intersubjektiv zu verwirklichen, ist die eigentliche und höchste Aufgabe.« (KGVP, 220)

Ich werde im folgenden weder auf die Transzendentalpragmatik und die Diskussion darüber noch speziell auf das Verhältnis von Hösles reflexiver Letztbegründung zur Transzendentalpragmatik eingehen. Vielmehr werde ich mich auf eine Rekonstruktion von Hösles objek­ tiv-idealistischer Letztbegründung beschränken. Auf die Bemerkung im obigen Zitat - »Wahrheit scheint mir eine subjektivitätslogische Kategorie zu sein. Aber es ist eben nicht allzuviel damit getan, die Wahrheit zu erkennen; sie intersubjektiv zu verwirklichen, ist die eigentliche und höchste Aufgabe.« - komme ich am Ende von Kapitel 3.2.2.2 zurück. Das eigentliche Beweisziel von Hösle ist der Satz »Es ist not­ wendig (letztbegründet, voraussetzungslos gültig), dass es nicht-hy­ pothetische apriorische Erkenntnis gibt.« (KGVP, 157). In dieser For­ mulierung des Beweiszieles setzt Hösle die Ausdrücke »notwendig«, »letztbegründet« und »voraussetzungslos gültig« gleich, wobei zu­ dem wenige Seiten vorher »nicht-hypothetisch« als »notwendig zu akzepierend« und »hypothetisch« als »unter der Voraussetzung von etwas anderem, nicht notwendig Wahrem« erläutert wurde (siehe KGVP, 153). Nun betrifft jedoch »notwendig« die Modalität des Wahrheitsanspruches, während »voraussetzungslos« das Beweisver­ fahren als eine Begründung ohne Rekurs auf andere Sätze als ihre Voraussetzungen charakterisiert. Sodann ist unklar, ob mit »gültig« und »zu akzeptierend« auch die Geltung, und nicht nur die Modalität bzw. die Begründungsstruktur behauptet werden soll. Und schliess­ lich ist »hypothetisch« im Sinne von »auf Annahmen beruhend« nicht die Negation von »notwendig wahr«. Dass Hösle mit einer Homonymie von »nicht-hypothetisch« arbeitet, die in der Gleich­ setzung von »voraussetzungslos«, »notwendig« und »nicht auf An­ nahmen beruhend« besteht, ist nicht zufällig. Dies hat vielmehr mit seinem Beweisvorgehen und seinem Beweisbegriff zu tun. Die Letzt­ begründung soll als ein voraussetzungsloses, d. h. reflexives und nicht axiomatisch-deduktives Vorgehen in der Reflexion die Not­ ^ 239

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Kapitel 3: Hösles objektiv-idealistische Ontologie der Intersubjektivität

wendigkeit der Wahrheit des Begründeten aufweisen und beruht in­ sofern nicht auf Annahmen. Doch wird sich diese Homonymie als eine Schwierigkeit des Beweises zeigen. Beweisziel ist der Modalsatz r: »Es ist notwendig, dass es nicht-hypothetische apriorische Er­ kenntnis gibt.« und nicht der Existenzsatz p: »Es gibt nicht-hypothetische apriorische Erkenntnis.« Allerdings hält Hösle p und r für äquivalent, d. h. dass p r impli­ ziert und umgekehrt (siehe KGVP, 156 f.). Die Art der behaupteten Äquivalenz ist jedoch unklar und wird zu einer zentralen Schwierig­ keit des Beweises. Das Beweisverfahren arbeitet im wesentlichen mit der Beziehung zwischen der modalen Behauptung von r und dem semantischen Inhalt des Dictums p von r. Das Beweisvorgehen ist apagogisch. Dies bedeutet, dass Hösle nicht die notwendige Wahrheit von r »es ist notwendig, dass es nicht­ hypothetische apriorische Erkenntnis gibt« aufzeigt, sondern statt dessen einen indirekten Weg wählt, indem er auf den Aufweis zielt, dass sowohl der Satz r': »Es ist unmöglich, dass es nicht-hypothetische apriorische Er­ kenntnis gibt.« als auch der Satz q: »Es ist kontingent, dass es nicht-hypothetische apriorische Er­ kenntnis gibt.« in sich widersprüchlich sind.12 Während Hösle in BI dann aus der Widersprüchlichkeit von r' und von q auf r folgert (siehe BI, 248), sieht er in KGVP hier noch eine Lücke im Argument (siehe KGVP, 156). Den Nachweis der Widersprüchlichkeit von r' und von q führt Hösle dadurch, dass er mittels der Explikation von r' bzw. q einen Widerspruch zwischen der Modalbehauptung von r' bzw. q einerseits und dem Inhalt des Dictums »dass p« - dass es nicht-hypothetische apriorische Erkenntnis gibt - andererseits aufweist. Aufgrund des apagogischen Beweisverfahrens charakterisiert Hösle letztbegründe­ te Sätze auch als »Sätze, deren Negationen pragmatisch wider­ sprüchlich sind« (KGVP, 160, 163; siehe BI, 253). Die Widersprüchlichkeit von r' - »Es ist unmöglich, dass es not­ 12 Hösle führt in KGVP für die Unmöglichkeitsbehauptung, die ich mit r' bezeichne, keine Abkürzung ein, sondern nur für die Kontingenzbehauptung, und zwar die Abkür­ zung q, die ich übernehme. In BI verwendet Hösle Ziffern zur Bezeichnung der Sätze. 240

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wendige apriorische Erkenntnis gibt.« - entwickelt Hösle mittels der modallogischen Beziehung von Notwendigkeit und Unmöglichkeit: »>Es ist unmöglich, dass a« besagt soviel wie »Es ist notwendig, dass non-a« (KGVP, 153). Damit lässt sich r' formulieren als: Es ist not­ wendig, dass es keine nicht-hypothetische apriorische Erkenntnis gibt. Mit dem Argument, dass Notwendigkeitsbehauptungen als Letztbegründungsbehauptungen zu verstehen sind sowie mit der Synonymie von »letztbegründet« und »nicht-hypothetisch« formu­ liert Hösle r' um zu: »>Es ist letztbegründet, dass es keine Letzt­ begründung gibtEs gibt möglicherweise etwas, was wir nicht denken können< ist dialektisch widersprüchlich - denn ebendamit denken wir es. Daraus folgt schon, und zwar ohne aus der Immanenz des Denkens herauszutreten, die ontologische Valenz des Letztbegründungsbeweises und ebendamit der Grund­ gedanke des objektiven Idealismus. Natürlich ist es nicht ausgeschlossen, dass die Welt Bestimmungen hat, die aus dem Letztbegründungsbeweis nicht folgen, sondern empiri­ scher Natur sind und von denen wir nicht sicher sein können, ob wir sie je in Erfahrung bringen werden. Aber das schliesst nicht aus, sondern setzt vielmehr voraus, dass die im Letztbegründungsbeweis implizierten Kategorien für alles, was ist, gelten, auch wenn sie nur notwendige und nicht hinreichende Bedingungen für das Seiende sind. Aber eben dieses Zugeständnis genügt, um zu behaupten: Es gibt nichts, dem nicht der Letzt­ begründungsbeweis vorausgeht; er konstitutiert somit nicht nur unsere Erkenntnis, ^ 241

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Kapitel 3: Hösles objektiv-idealistische Ontologie der Intersubjektivität

Was der Satz (an sich) nun behauptet oder was er sagt, das be­ zieht sich auf den semantischen Inhalt des Dictums vom r' »dass es keine Letztbegründung gibt«. Was der Satz immer schon präsupponiert oder was er ist, das bezieht sich auf die Modalbehauptung von r' »es ist letztbegründet«. Ich möchte hier drei Fragen aufwerfen: (1) Wieso präsupponiert der Satz, dass es keine Letztbegründung gibt, die Modalität seiner Wahrheit? (2) Inwiefern präsupponiert sich ein Satz selbst, und was bedeutet die Gleichsetzung von »was der Satz präsupponiert« und »was er ist«? (3) Worin besteht genau der Widerspruch zwischen Modalbehauptung und semantischem Inhalt des Dictums? Die Antwort auf die erste Frage führt Hösle nicht in bezug auf non-p aus, sondern in bezug auf p »es gibt letztbegründete Erkennt­ nis«: »Wenn p wahr ist, wenn es also letztbegründete Erkenntnis gibt, dann kann es nicht von nicht notwendig wahren Vorausetzungen abhängen, dass p: Aus der Wahrheit von p folgt also seine Notwendigkeit. (Evidenterweise gilt diese Beziehung nur für den besonderen Satz p, von dem wir reden - sie gilt sonst nicht. Aber es ist zutiefst irreführend anzunehmen, dass Beziehungen, die für normale Sätze gelten, auch für Sätze gelten müssen, die erst festlegen, was ein nomaler Satz ist. Analytisches Denken ist dem Wesen des Endlichen, das von anderem begründet ist, angemessen, es versagt beim Erfassen dessen, was anderes und sich selbst begründet. ...)« (KGVP, 156)

Die These ist also, dass im speziellen Fall von p, aus dem was p be­ hauptet, folgt, was p präsupponiert oder ist. Nun besteht das Speziel­ le von p nicht darin, dass es sich um eine Existenzbehauptung han­ delt. Vielmehr ist p deshalb kein normaler Satz, weil p die Existenz letztbegründeter Erkenntnis behauptet, denn daraus soll folgen, dass es letztbegründet ist, dass p. Diese Folgerung beruht auf dem Begriff der Letztbegründung, und zwar auf seiner Mehrdeutigkeit einerseits als notwendig wahre Erkenntnis und andererseits als vorausset­ zungslose Erkenntnis. Denn weil p die Existenz von Letztbegründung im Sinne von voraussetzungsloser Erkenntnis behauptet, womit ge­ meint ist, dass diese Erkenntnis nicht von anderen Erkenntnissen als ihren Voraussetzungen abhängt, sondern sich selbst begründet, präsupponiert p sich selbst - und zwar in der zweiten Bedeutung von sondern auch alles Seiende. Nur die Koinzidenz von Sein und Erkennbarkeit im Abso­ luten erklärt, wieso wir im Bereich des Endlichen, das durch deren Differenz gekenn­ zeichnet ist, im Prinzip wahrheitsfähig sind.« (KGVP, 210f., siehe 178, 270) 242

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»letztbegründet«, nämlich als notwendig wahr. Hösle beschreibt die gegenseitige Implikation von p und r folgendermassen: »Natürlich folgt nicht nur der Satz >Es ist notwendig (letztbegründet, voraus­ setzungslos gültig), dass es nicht-hypothetische apriorische Erkenntnis gibt (=r) aus p, sondern auch p aus r. Ja, p folgt aus r gleich in einem doppelten Sinne: Wenn letztbegründet ist, dass p, dann ist p a fortiori wahr; zudem ha­ ben wir eine letztbegründete Erkenntnis (nämlich r), so dass auch deswegen p wahr sein muss. Aber in diesem eigentümlichen Fall gilt auch die Umkeh­ rung, dass aus dem besonderen Satz p r folgt: Allgemeines und Einzelnes sind hier äquivalent.« (KGVP, 157)

Die Folgerung von r aus p ist, wie soeben erläutert, eine Folgerung aus dem Begriff der Letztbegründung als notwendig wahrer Erkennt­ nis einerseits und als voraussetzungsloser Erkenntnis andererseits. Die Folgerung von p aus r hingegen benützt in den Argument »wenn letztbegründet ist, dass p, dann ist p a fortiori wahr« die Homonymie von »notwendig wahr« als Geltungsmodus und als Geltung. Denn die Behauptung der Modalität der Geltung impliziert noch nicht die Gel­ tung, letztere müsste im Begriff von »notwendig wahr« bereits ent­ halten sein. Dies betrifft nun die zweite Frage, in welchem Sinne p sich selbst präsupponiert: hinsichtlich der Modalität seiner Geltung oder hin­ sichtlich seiner Geltung? Hösle klärt dies nicht explizit. Der Bedeu­ tung von »Voraussetzung« in begründungstheoretischen Zusam­ menhängen zufolge müssten Geltungsvoraussetzungen gemeint sein. Für diese Interpretation spricht auch die Gleichsetzung von »was ein Satz präsupponiert« und »was ein Satz ist«, da Hösle »Satz« und »Erkenntnis« synyom verwendet. Das würde aber bedeuten, dass ein Satz, der sich selbst präsupponiert, seine Geltung voraus­ setzt. Das würde jedoch bedeuten, dass aus p die Wahrheit von p folgt und der Letztbegründungsbeweis als ein direkter reflexiver Beweis erfolgreich zu Ende geführt resp. als zirkulär gescheitert wäre. Wäre der besondere Satz p in der Lage, sich selbst zu begründen, wäre für reflexive Letztbegründung kein apagogischer Beweis erforderlich. Hösle bezieht in seiner Argumentation die Voraussetzungslosigkeit auf die Modalität der Geltung, nicht auf die Geltung. Letztbegründe­ te Erkenntnis ist notwendig wahre Erkenntnis, die die Notwendigkeit ihres Wahrseins als voraussetzungslose Erkenntnis sich selbst und nicht anderer Erkenntnis verdankt: Es ist letztbegründet, dass es letztbegründete Erkenntnis gibt - wenn es letztbegründete Erkennt­ ^ 243

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Kapitel 3: Hösles objektiv-idealistische Ontologie der Intersubjektivität

nis gibt, und dies ist noch nicht gezeigt, wie Hösle in KGVP festhält (siehe KGVP, 157).14 Da sich p nicht direkt begründen lässt, ist Hösles Strategie in KGVP, alle Modalitätsbehauptungen über non-p als nicht haltbar aufzuzeigen. In bezug auf non-p »es gibt keine letztbegründete Erkenntnis« unterstellt Hösle nun, dass dieselbe Art der Argumentation wie im Falle von p durchführbar ist, indem er auch von r' »es ist letzt­ begründet, dass es keine Letztbegründung gibt« behauptet, dass dies ein in dialektischem Sinne widersprüchlicher Satz sei. Nun bestreitet aber die Behauptung non-p »es gibt keine letztbegründete Erkennt­ nis« die Voraussetzungslosigkeit, die Modalität der Geltung und die Geltung. Im Unterschied zu p präsupponiert sich non-p also nicht selbst, und der Widerspruch von r' »es ist letztbegründet, dass es keine letztbegründete Erkenntnis gibt« ist somit kein dialektischer Widerspruch. Nicht jeder Widerspruch zwischen der Modalbehaup­ tung und dem Dictum eines Satzes, der seinerseits eine Modalbe­ hauptung enthält, ist somit schon dialektisch im Sinne von Hösles Letztbegründung, da Letztbegründung nicht nur die Modalität der Notwendigkeit, sondern auch die Voraussetzungslosigkeit einschliesst: nur dann ist ein Widerspruch zwischen dem was ein Satz ist, und dem was er sagt möglich. Vielmehr besteht der Grund für die Widersprüchlichkeit von r' darin, dass non-p ein Satz über »Erkenntnis qua Erkenntnis« (BI, 257), »über Sätze (bzw. sich in Sätzen aussprechende Erkenntnis) im allgemeinen« (BI, 254) ist und r' somit unter die Behauptung von non-p fällt. Der Widerspruch ist somit ein semantischer Wider­ spruch, der dadurch entsteht dass non-p eine Allaussage über Er­ kenntnis macht, r' somit unter die Behauptung von non-p fällt und r' und non-p entgegengesetzte Behauptungen über die Modalität der Geltung von Erkenntnis machen. Daher können r' und non-p nicht beide wahr sein, doch behauptet r', dass p wahr ist. Aber auch von r' aus lässt sich keine dialektische Widersprüchlichkeit entwickeln, da r' als Letztbegründungsbehauptung sich zwar selbst voraussetzt - und zwar Hösle zufolge in bezug auf die Modalität der Geltung, d. h. wenn es wahr ist, dass es letztbegründet ist, dass es keine Letzt­ begründung gibt, dann ist diese Gesamtbehauptung notwendig wahr. Der Inhalt dieser Gesamtbehauptung ist aber nun r', eine in sich 14 Im Beweis in BI geht Hösle noch davon aus, dass p gezeigt ist, was er in KGVP dann für den »wirklich entscheidenden Mangel des Beweises« (KGVP, 152 Fussnote) hält. 244

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semantisch widersprüchliche selhsthezügliche Aussage. Im Falle eines dialektischen Widerspruches soll jedoch nicht der Inhalt des Satzes widersprüchlich sein, sondern Inhalt und Präsupposition des Satzes. Inwiefern sind nun Modalhehauptung und semantischer Inhalt des Dictums im Falle von dialektischen Sätzen widersprüchlich? Auch diese dritte der ohigen Fragen heantwortet Hösle nur implizit. Wenn es offenkundig sein soll, dass »>Es ist letzthegründet, dass es keine Letzthegründung gihtes giht nicht-hypothetische apriorische ErkenntnisEs ist nicht letztbegründet, dass p' folgt als die Falschheit von p, da p mit ihm nicht kompatibel ist.« (KGVP, 157) Die erste Schwierigkeit dieser Argumentation besteht darin, dass non-r »es ist nicht notwendig, dass p« nicht modallogisch äqui­ valent zu q »es ist kontingent, dass p« ist. Vielmehr ist q »es ist kon­ tingent, dass p« modallogisch äquivalent zu »es ist nicht notwendig, dass p und es ist nicht notwendig, dass nicht p«. Mit der Widerlegung von non-r ist q somit nicht widerlegt. Zweitens fragt sich, wieso Hösle die behauptet Implikation von non-p aus non-r über die Kon­ traposition der Implikation von r aus p zu gewinnen sucht und nicht direkt zeigt, inwiefern non-p »es ist nicht der Fall, dass es letzt­ begründete Erkenntnis gibt« aus non-r »es ist nicht letztbegründet, dass es letztbegründete Erkenntnis gibt« folgt. Der Grund dürfte dar­ in liegen, dass non-r nach Hösle ein dialektisch widersprüchlicher Satz ist, da das Dictum p von r' dieser spezielle Satz ist, der sich selbst voraussetzt. Aus einem dialektisch widersprüchlichen Satz kann aber nicht sinnvoll gefolgert werden. An dieser Stelle zeigt sich die Schwierigkeit von Hösles apagogischem Verfahren. Das besondere Verhältnis von p und r beruht auf der Mehrdeutigkeit des Begriffes der Letztbegründung, d. h. wesent­ lich auf dem Inhalt von p und r. Mit den formallogischen Mitteln des apagogischen Beweises kann dann aber im Falle der Letztbegrün­ dungsbehauptungen p und r nichts gezeigt werden, da diese auf der besonderen Bedeutung von »Letztbegründung« beruhen. Dies heisst, dass die Idee eines apagogischen Beweises für die Grundaus­ sage der Letztbegründung p »es gibt letztbegründete Erkenntnis« aufgegeben werden muss. Der Grund dafür besteht nicht darin, dass 246

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3.2 Der objektive Idealismus der Intersubjektivität

ein apagogisches Beweisverfahren den Satz vom Widerspruch vor­ aussetzt und daher nicht voraussetzungslos ist - eine Kritik, die Hösle zurecht zurückweist (siehe KGVP, 164ff.). Der Grund besteht vielmehr darin, dass das Äquivalenzverhältnis von p und r, auf dem Hösles Argumentation beruht, auf dem spezifischen Inhalt von p und r beruht. Einen direkten Beweis der Letztbegründung schliesst Hösle je­ doch explizit aus (siehe KGVP, 159 ff.). Wenn der Begriff der Letzt­ begründung lediglich die Modalität der Wahrheit meint und nicht bereits einschliesst, dass es wahr ist, dass es Letztbegründung gibt wenn sich der Begriff der Letztbegründung also nicht selbst setzt dann führt der Versuch eines direkten Beweises in einen reflexiven infiniten Regress. Hösle diskutiert das Regressproblem allerdings an der Kontingenzbehauptung q »es ist kontingent, dass es nicht-hypo­ thetische apriorische Erkenntnis gibt«, und zwar zunächst an dem Fall, dass q seinerseits letztbegründet ist, d. h. t: Es ist letztbegründet, dass nur unter nicht notwendig wahren und nicht notwendig falschen Voraussetzungen gilt >es gibt nicht-hypothetische apriorische Erkenntnis« Mit demselben Argument wie im Falle von r' und von non-r ist nun auch t widersprüchlich: die Modalbehauptung von t »es ist letzt­ begründet (notwendig)« widerspricht dem Dictum q »es ist kontin­ gent, dass p« von t, wobei sich innerhalb des Dictums q nochmals dasselbe Problem stellt zwischen dem Modaloperator »es ist kontin­ gent« und nun dem Dictum p, dass es letztbegründete Erkenntnis gibt. Der andere Fall, dass q seinerseits nur einen kontingenten Wahr­ heitsanspruch erhebt, bedeutet nach Hösle, dass sich die Kontingenz­ behauptung »reduziert ... auf den infiniten Regress sich ständig zurücknehmender Be­ hauptungen >Unter bestimmten nicht notwendig wahren Voraussetzungen gilt, dass man nicht letztbegründen kann, dass es keine letztbegründete Er­ kenntnis gibt; aber selbst diese Beziehung gilt nur unter bestimmten nicht notwendig wahren Voraussetzungen usw. usf.«« (KGVP, 158)

Die Kontingenzbehauptung führt dieser Argumentation zufolge des­ halb in einen infiniten Regress, weil ihr Geltungsanspruch von kon­ tingenten Voraussetzungen abhängt, so dass sich die Frage des Geltungsanspruches der Voraussetzungen iteriert. Denn der Gel­ tungsanspruch der kontingenten Voraussetzungen kann aufgrund ^ 247

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Kapitel 3: Hösles objektiv-idealistische Ontologie der Intersubjektivität

der geforderten Konsistenzbedingungen nicht notwendig, sondern muss kontingent sein. Der infinite Regress der Behauptung »es ist kontingent, dass p« macht nach Hösle zudem seinerseits eine apodiktische Vorausset­ zung. Denn der infinite Regress, der, »würde er wirklich durchge­ führt, unausprechbar und unerkennbar wäre« (KGVP, 158), wird nur dadurch bewältigt, »dass man ihn auf eine allgemeine Struktur der stets gleichen Wiederholung zurückführt. Damit ist aber ein Konstanzprinzip präsupponiert, der [es muss wohl heissen: das] dem Sinn (wenn es einen solchen gibt) der Kontingenz­ aussage dialektisch widerspricht. Kurz: Der infinite Regress ist als Figur nur fassbar, wenn man eine allgemeine Struktur als solche behaupten kann (und zwar nicht bloss hypothetisch, weil dasselbe Problem sich erneut stellen würde). Ebendies ist aber nur möglich, wenn man den infiniten Regress in den Sätzen q, not-t usw. transzendiert und sich dazu durchringt, gegen alle infinitistischen Vorurteile der Moderne zu behaupten: ... non-p ist falsch (oder sinnlos); p ist wahr; r ist wahr: Es ist notwendig, dass es nicht-hypothe­ tische apriorische Erkenntnis gibt; es ist letztbegründet, dass es Letzt­ begründung gibt.« (KGVP, 158)

Die Widersprüchlichkeit, auf die Hösle in diesem Zitat abzielt, ist die, dass eine Kontingenzaussage eine apodiktische Voraussetzung, was die Figur des Regresses betrifft, macht. Hösle argumentiert dabei, dass die Widersprüchlichkeit unvermeidbar ist, weil es sich nicht um eine ihrerseits hypothetische Voraussetzung handeln kann. Denn sonst stellt sich das Problem des infiniten Regresses erneut. Nun hängt aber das Problem des infiniten Regresses meines Er­ achtens nicht an der Kontingenzbehauptung, wie Hösles doppelte Kritik der Kontingenzbehauptung nahelegt. Das Problem ergibt sich vielmehr daraus, dass die reflexive Letztbegründung, die mit der Konsistenz von Wahrheitsanspruch und Inhalt des Satzes argumen­ tiert, nicht als direktes Beweisverfahren durchführbar ist. Dies er­ wähnt Hösle kurz darauf, und zwar im Zusammenhang mit der Rechtfertigung seines apagogischen Beweisverfahrens der Letztbe­ gründung. Er bemerkt hier, dass auch in bezug auf Notwendigkeits­ behauptungen wie r »es ist letztbegründet, dass es letztbegründete Erkenntnis gibt« der Versuch eines direkten Beweises unvermeidlich in einen infiniten Regress mündet, ohne dies jedoch aufzuzeigen. Der infinite Regress kann im Falle von Notwendigkeitsaussagen aber nicht durch die Modalität des Wahrheitsanspruches bedingt sein. Das Kernproblem ist vielmehr - und zwar meines Erachtens analog 248

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3.2 Der objektive Idealismus der Intersubjektivität

auch im Falle der Kontingenzhehauptung - dass die reflexive Begründungsstruktur jeweils nur die hehauptete Modalität des Wahrheitsanspruches des Satzes explizit mithehauptet. So wird die Modalität des Wahrheitsanspruches von p »es giht letzthegründete Erkenntnis« mit r »es ist notwendig, dass es letzthegründete Er­ kenntnis giht« lediglich explizit mithehauptet. Indem die implizit hehauptete Modalität des Wahrheitsanspruches reflexiv explizit ge­ macht ist, ist aher die Wahrheit der Behauptung noch nicht gezeigt. Und diese lässt sich auch durch weitere reflexive Schritte der Expli­ kation der Modalität des hehaupteten Wahrheitsanspruches von r usw. usf. nicht hegründen.15 Die reflexive Struktur zeigt lediglich Konsistenz hzw. Inkon­ sistenz von Inhalt und Modalität des Wahrheitsanspruches des Satzes auf. Wenn diese Struktur hegründend sein soll, dann ist sie dies nur dank einer Interpretation der in dieser Struktur involvierten drei Notwendigkeitshegriffe: (1) der Notwendigkeit, die mit dem Begriff der Letzthegründung gemeint ist, der in p »es giht letzthegründete apriorische Er­ kenntnis« verwendet ist, (2) der Notwendigkeit, dass es Letzthegründung giht, d.h. der Modalität des Wahrheitsanspruches von p, der im Modaloperator von r »es ist notwendig, dass es letzthegründete apriorische Erkennt­ nis giht« formuliert ist und (3) der Notwendigkeit der Konsistenz von Inhalt und Modalität des Wahrheitsanspruch des Satzes. Hösle expliziert seine Notwendigkeitshegriffe nicht direkt. Er reagiert auf die dieshezügliche Kritik von Alhert (1989) in einer Fussnote mit der schon zitierten Bemerkung: »>notwendig< kann hier nichts anderes heissen als >letzthegründetBonum< und >factum< werden nicht weniger als >verum< und factum< identifiziert« (PI, 19). Hösle wertet die neuzeitliche Subjektivität in Übereinstimmung mit Jonas nicht als Verfall oder Irrweg des Geistes, sondern als eine notwendige Entwicklungsphase (siehe PLLS; Kapitel 2.4):

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Kapitel 3: Hösles objektiv-idealistische Ontologie der Intersubjektivität

»Seit Descartes muss die Philosophie mit einer Struktur rechnen, die im Al­ tertum noch nicht existierte: mit einem subjektiven Punkt, der Anspruch da­ rauf erhebt, all das zu bezweifeln, was nicht in ihm gegeben ist; der willig und fähig ist, die eigene Tiefe auszuloten; und der in der natürlichen und sozialen Welt nur das anerkennt, was auf der Grundlage dieses Punktes konstruiert ist.« (PI, 15)

Inwiefern ist nun aber mit dem neuzeitlichen Ich als Prinzip der neu­ zeitlichen Philosophie die Möglichkeit der Apokalypse gegeben? Der dafür relevante Grundgedanke lautet: »Seit das Ich die ganze Subjek­ tivität in sich selbst absorbiert hat, ist die Natur seelenlos« (PI, 24). Hösle sieht den »Objektivismus der neuzeitlichen Wissenschaft ... [als] das notwendige Resultat des neuen Subjektivismus, die Homo­ genität von Raum und Zeit [als] das Resultat der Abstraktionsmacht des Ichs.« (PI, 24) Damit entbehrt die »neuzeitliche Welt... nicht nur innerer, sie entbehrt auch äusserer Grenzen - woher sollten sie auch kommen? Sie ist unendlich.« (PI, 24) Die dualistische Metaphysik der Neuzeit kennt keinen regulativen Naturbegriff, sondern nur Na­ tur als res extensa, die nicht von moraltheoretischer Bedeutung ist. Die moraltheoretische Grundlage der Neuzeit besteht statt dessen in der Subjektivität des Ich: »Kant lehrt dagegen [d. h. gegen den Plato­ nismus] nicht nur, dass etwas Seiendes nichts Seinsollendes zu be­ gründen vermag; er verteidigt die viel weitergehende These, dass der Wille von Vernunftwesen das Einzige ist, was einen intrinsischen Wert hat.« (PI, 27; kursiv im Original) Nun hält Hösle jedoch auch den neuzeitlichen Willensbegriff als moraltheoretische Grundlage für unzureichend. Denn die Verän­ derungen des Naturbegriffes korrespondieren mit Veränderungen des Begriffs der Seele, die damit als Grundlage für eine hierarchische Werttheorie ebenfalls wegfällt: »Die Beseitigung jeder teleologischen Argumentation hat ihre Wurzeln in den Veränderungen im Naturbegriff; aber sie verwandelt auch den Begriff der Seele. Sowohl Platon als auch Aristoteles legen ein hierarchisches Seelen­ modell zugrunde; sie sind davon überzeugt, dass die Aktivitäten der höheren Stufen einen höheren intrinsischen Wert haben. Aber der Absolutismus des Ichs akzeptiert keine solche Hierarchie.« (PI, 27; siehe PPW, 96)

Im Fehlen einer Wertehierarchie sieht Hösle auch einen der zentra­ len Punkte, wieso wir »heute Kants Moralphilosophie nicht mehr in ihrer Ganzheit akzeptieren können« (GGKP, 31), denn »Kants For­ malismus enthält keine Kriterien für eine solche Hierarchie« (GGKP, 270

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3.3 Die ökologische Krise als metaphysisches Problem

35). Hösle deutet nun diese geistesgeschichtliche Entwicklung als eine Entwicklung von der Natur zum Geist, indem er die neuzeitliche Subjektivität als »Fortsetzung jenes Prozesses ..., der mit der Entste­ hung des ersten Organismus begann« (PPW, 192), versteht. Im Ver­ lauf dieses Prozesses vertieft sich »das subjektive Zentrum immer mehr in sich selbst« (PPW, 192) und wird auf diese Weise das »auto­ nome, der Natur und der Gemeinschaft entfremdete Ich der neuzeit­ lichen Subjektivität« (PPW, 192). Da damit die Natur »als der Sub­ jektivität bar, ... notwendig auch entteleologisiert wird« (PK, 55), erklärt diese Entwicklungsthese zwar, wieso die »sich zum Zentrum des Seins aufschwingende Subjektivität alles ausser ihr in einen quantifizierbaren Gegenstand verwandeln und mit ihm nach Gut­ dünken schalten und walten« (PK, 66) kann. Doch wieso soll damit die Möglichkeit der Apokalypse gegeben sein? Dazu formuliert Hösle nun die weitere These, dass Subjektivität notwendig an Organismen gebunden ist, und nur deshalb die neu­ zeitliche Subjektivität die Möglichkeit der Apokalypse enthält: »Wä­ re der Geist nur Teil Natur, dann wäre sein ausserordentliches Zerstörungspotential gegenüber der Natur nicht erklärlich; wäre er eine vollständig selbständige Substanz, dann wäre die Naturzerstö­ rung nicht potentiell selbstmörderisch.« (PPW, 189) Hösles Erklä­ rung rekurriert also darauf, dass das ökonomisch-technische Natur­ verhältnis des Menschen, demzufolge er nach Gutdünken in der Natur schaltet und waltet, mit dem ökologischen Naturverhältnis des Menschen, demzufolge er als Organismus bzw. Population in die Biosphäre eingebunden ist, kollidiert. Nur weil der Mensch zugleich in beiden Naturverhältnissen steht, besteht die Möglichkeit einer durch Menschen herbeigeführten Apokalypse, indem nämlich die wirtschaftlich-technische Naturnutzung die natürlichen Grundlagen für die Fortsetzung der Zivilisation und damit auch der menschlichen Population zerstört. Dass diese Gefahr spezifisch mit der neuzeit­ lichen Subjektivität verbunden ist, erklärt Hösle damit, dass die öko­ nomisch-technische Naturnutzung in der Neuzeit nicht durch einen regulativen Naturbegriff begrenzt wird, sondern grenzenlos ist (sie­ he PI, 24). Diese Erklärung überzeugt einmal deshalb nicht, weil der regulative Naturbegriff in der Antike nicht zur Regelung der Natur­ nutzung diente, sondern eine regulative Funktion für zwischen­ menschliche Verhältnisse hatte. Ferner ist mit einem regulativen Na­ turbegriff, der auf eine Subjektivität in der Natur rekurriert und somit auf einer kontemplativen Naturerfahrung beruht, auch im Fal­ ^ 271

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Kapitel 3: Hösles objektiv-idealistische Ontologie der Intersubjektivität

le seiner Verbindlichkeit für menschliche Naturnutzung in keiner Weise sicher gestellt, dass damit die aus ökologischen Gründen für eine nachhaltige Entwicklung relevanten biologischen Strukturen er­ halten werden (siehe Kapitel 1.1). Hösle tritt nun näher darauf ein, wie die Entstehung der neu­ zeitlichen Subjektivität als immanente Entwicklung des Geistes zu erklären ist. Hösle spricht von einer Entwicklung, die im dialekti­ schen Wesen der Natur begründet ist, doch ist mit »Natur« hier im Sinne des objektiven Idealismus der objektive Geist gemeint: »Je tiefer die Subjektivität, desto stärker ihre Entgegensetzung zur sie umge­ benden Natur - dies ist ein Gesetz der Natur selbst; und deswegen kann man die Cartesische Lehre von einer Opposition von res cogitans und res extensa durchaus als Schlusspunkt einer Entwicklung sehen, die im dialektischen We­ sen der Natur begründet ist, die immer komplexere Wesen erzeugt, die not­ wendig gegen ihre Grundlage revoltieren. In der ökologischen Krise erweist sich, paradoxerweise, die innerste Entwickungstendenz der Natur in grösster Schärfe.« (PK, 72; siehe 48)

Die Deutung, dass die neuzeitliche Subjektivität eine Revolte gegen ihre Grundlage darstellt, ergibt sich somit, wenn man »das richtige Verständnis ihrer Natur« (PPW, 170), d.h. ihres Wesens, voraussetzt, womit eine objektiv-idealistische Interpretation gemeint ist: »Die Negation der Natur durch den Geist findet auf zwei verschiedenen Ebe­ nen statt, die streng zu unterscheiden sind. Einerseits negiert der Geist die Natur, indem er sie erkennt, ihr Aussereinander im denkenden Begreifen auf­ hebt, die idealen Strukturen erfasst, die sie durchwalten. Freilich impliziert dieses Begreifen, als Akt nur des Geistes, keine reale Zerstörung; es lässt die Natur, wie sie ist, und durchleuchtet sie nur. Andererseits kann der Mensch als der Organismus, in dem der Geist Fleisch geworden ist, die Natur real vernichten, eben diese Fähigkeit erreicht in der ökologischen Krise, deren Zeugin unsere Generation ist, ihre weltgeschichtliche Klimax.« (PPW, 189)

Die These, dass der Geist, der die Natur nur erkennt, sie lässt, wie sie ist, trifft auf die experimentellen Naturwissenschaften so zwar nicht zu. Denn diese greifen zu Forschungszwecken in die Natur ein. Trotz­ dem gilt wohl, dass die als ökologische Krise interpretierte Natur­ veränderung unmittelbar auf die wirtschaftlich-technische Natur­ nutzung zurückgeht und nur mittelbar - sofern nämlich diese Nutzung wissenschaftsgestützt erfolgt - auf die Naturveränderung zum Zwecke der Naturerkenntnis. Hösle betont nun, dass dieses dop­ pelte Naturverhältnis des Menschen - im Natur erkennen und im 272

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3.3 Die ökologische Krise als metaphysisches Problem

Stoffwechsel mit der Natur stehen und daher sie zerstören müssen (siehe PPW, 190) - für die ökologische Krise notwendig ist: »Dass der Mensch das ökologische Gleichgewicht in so tiefgreifender Weise stören konnte, hängt daran, dass er das intelligenteste aller Tiere ist. Beides, Geistigkeit und Organizität, ist in ihm vereint; nur beide zu­ sammen können zur ökologischen Krise führen.« (PPW, 191) Diese These formuliert allenfalls ein notwendiges, jedoch kein hinreichendes Argument. Denn wenn der erkennende Geist die Na­ tur nur lässt, wie sie ist, dann sind anthropogene Veränderungen der Biosphäre nicht der menschlichen Intelligenz zuzuschreiben. Dazu ist zudem notwendig, dass diese Intelligenz zur Gestaltung der menschlichen Naturnutzung dient. Dass Intelligenz menschliches Handeln formt, ist hier der entscheidende Punkt. Dies bemerkt Hösle auch in seinem technikphilosophischen Aufsatz. Er hält dort fest, dass die Technik »mit der metaphysischen Frage verwoben [ist], wie das Sein im Ganzen aufgebaut ist und was die Sonderstellung des Menschen in diesem Ganzen konstituiert« (PPW, 90). Hösles Interesse besteht zunächst einmal darin, den Doppelcha­ rakter des Menschen objektiv-idealistisch als eine kategoriale Dialek­ tik zu interpretieren. Es geht Hösle also um die von ihm selbst als Aufgabe für die Philosophie formulierte Einarbeitung des Wissens über die ökologische Krise in das System des objektiven Idealismus. Hösles philosophische Auseinandersetzung ist daher von seiner Zy­ klentheorie der Philosophiegeschichte geleitet (siehe Kapitel 3.2.1). Hösle skizziert diese Einarbeitung in das System des objektiven Idea­ lismus dahingehend, dass »diese Doppelheit seines [des Menschen] Wesens einen tieferen Grund in der Verfasstheit der fundamentalen Kategorien [hat]. Denn so wie im System der apriorischen Kategorien eine Kategorie wie >SeinBegriff< präsupponiert, diese aber die einfache­ re Kategorie >Sein< als Element ihrer Bedeutung voraussetzt, so kann auch nur das organische Sein dem Geist in der Welt eine ontische Grundlage ge­ ben; den Sinn seines Seins erhält aber das Leben nur aus dem Geist, zu dem es sich entwickelt. Die Doppelheit von Form und Inhalt, die für das Logische so kennzeichnend ist, spaltet sich im Menschen in Geist und Leben. Das meta­ physische Rätsel des Menschen besteht gerade darin, dass in ihm das wech­ selseitige Angewiesensein von Idealität und Realität in der empirischen Welt sichtbar wird; und die ökologische Krise ist letztlich Ausdruck der Verschär­ fung dieser Dualität zum absoluten Gegensatz.« (PPW, 193; kursiv im Ori­ ginal)

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Kapitel 3: Hösles objektiv-idealistische Ontologie der Intersubjektivität

Hösle belässt nun allerdings auch die Einarbeitung der ökologischen Krise in das System des objektiven Idealismus in der Form der skiz­ zenhaften These. Weder ist die Begrifflichkeit hinreichend expliziert noch sind die systematischen Bezüge ausgearbeitet. Dies gilt auch für KGVP. Hösle spricht dort diese Fragen im Rahmen seiner Kritik an Apels Transzendentalpragmatik zwar in dem Kapitel »Objektiver Idealismus der Intersubjektivität versus Transzendentalpragmatik: das Kategorienproblem, der Gedanke einer apriorischen Realphilo­ sophie, die Erklären-Verstehen-Kontroverse« (KGVP, 219-214) an. Doch handelt es sich auch hier um die Skizze objektiv-idealistischer Thesen zum Problem ohne eine Explikation der Begrifflichkeit. Der Hinweis, dass eine »kritisch rekonstruierte >Wissenschaft der Logik< Hegels als Vorbild dienen« (KGVP, 224) kann, um »das Kategorien­ problem in den Griff zu bekommen« (KGVP, 224), genügt als Klä­ rung für eine eingehendere Diskussion von Hösles metaphysischen Thesen nicht. Das Kernproblem im Hinblick auf eine Metaphysik der ökologischen Krise liegt dabei in Unklarheiten des Begriffes der Rea­ lität, was sich in Kapitel 3.3.2 noch deutlicher zeigen wird. Hösle geht es in seinen der ökologischen Krise gewidmeten Schriften nicht darum, die metaphysische Fundierung der ökologi­ schen Krise systematisch auszuarbeiten. Es geht ihm vielmehr da­ rum, moralisch-praktische und politische Folgerungen aus der meta­ physischen Fundierung der ökologischen Krise zu skizzieren. Seine Hauptthese zur Fundierung ist, dass die ökologische Krise aus meta­ physischen Gründen unvermeidlich ist. Das Argument dafür lautet, dass die Industriegesellschaft nur ein Prinzip auf die Spitze treibt, »das im organischen Sein schon präsent ist und vermutlich im Sein selbst angelegt ist« (PPW, 192). Aufgrund der »ontologischen Fun­ dierung der ökologischen Krise« (PPW, 196) beantwortet Hösle daher die Frage: »muss diese Verbindung [von Geistigkeit und Organizität im Menschen] dieses Resultat [d. h. die ökologische Krise] zeitigen?« (PPW, 191; kursiv im Original) dahingehend, dass »sollte es in unse­ rem Kosmos andere endliche Vernunftwesen geben, sie alle einmal durch die ökologische Krise hindurchgeschritten sind oder hindurch­ schreiten werden« (PPW, 196). Hösle tritt nun näher darauf ein, warum die neuzeitliche Sub­ jektivität, der »Absolutismus des Ichs« (PI, 27), der in der Entgegen­ setzung des Ich als res cogitans von der res extenso, und dem doppel­ ten verum-factum-Prinzip besteht, zur ökologischen Krise führt. Hier fasst Hösle nun die ökologische Krise als Technikfolgeproblem 274

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3.3 Die ökologische Krise als metaphysisches Problem

auf. »Das primum movens der modernen Technik« (PK, 60) sieht Hösle im Machharkeitswahn. Dieser ist gefährlich, weil »die moder­ ne Naturwissenschaft ihre Erfolge den Methoden der Isolation und Ahstraktion von aller Zweckmässigkeit und Suhjektivität in der Na­ tur verdankt, müssen die durch die moderne Technik geschaffenen Artefakte eine vollständige Gleichgültigkeit gegenüber dem Ganzen der Natur besitzen.« (PK, 60f.; siehe PPW, 95 f.) Diese vollständige Gleichgültigkeit gegenüber dem Ganzen der Natur ist durch den Ab­ solutismus des neuzeitlichen Ichs gerechtfertigt: »Hinter dieser Wissenschaft, die sich von der philosophischen Frage nach den höchsten Prinzipien und Werten emanzipiert hat, steht die neuzeitliche Sub­ jektivität, die mit der Zerstörung der Idee eines die ganze Welt (einschliess­ lich ihrer selbst) begründenden Absoluten und mit der Verwandlung alles ausser ihr Befindlichen in ein reines Objekt ihren Eroberungsfeldzug einge­ leitet hat, dessen letzte Konsequenz die Zerstörung des Planeten und damit ihrer selbst ist.« (PK, 67; siehe PPW, 107)

Für entscheidend hält Hösle, dass sich das verum-factum-Prinzip auch auf die menschliche Gesellschaft erstreckt. Zwar hätte die mo­ derne Wirtschaft »ohne die Anwendung wissenschaftlich-tech­ nischer Methoden ... nicht den Rationalitätsgrad erreicht, der sie vor der antiken auszeichnet« (PK, 62). Doch hätte auch umgekehrt »die technische Welt nicht eine so rasante Entwicklung genommen, wenn nicht wirtschaftliche Interessen diese angespornt hätten« (PK, 62). Daher geht die »Superstruktur der modernen Industriegesell­ schaft . auf die Triade von Wissenschaft, Technik und kapitalisti­ scher Wirtschaft zurück« (PK, 62). Das Hauptproblem sieht Hösle jedoch nicht in der Triade von Wissenschaft, Technik und kapitalistischer Wirtschaft selbst. Er hält vielmehr fest, dass man der kapitalistischen Produktionsweise und der modernen Technik »zumal nach ihrer Bändigung durch die Ent­ wicklung des Sozialstaates ... einesteils mit Sympathie gegenüber­ stehen« (PK, 63) muss, da sie in einem viel grösseren Ausmass die »Befriedigung auch elementarer Bedürfnisse . ermöglicht hat, . und dem Ideal der Selbstbestimmung für möglichst viele Menschen nähergekommen ist als jede Wirtschaftform der Vergangenheit« (PK, 63). Doch konstituiert diese Konstellation einen »Infinitismus der Moderne« (PK, 78), der auf dem »Wahn« (PK, 66) beruht, »alle wesentlichen Fragen liessen sich in zweckrationale verwandeln« (PK, 66). Damit gerät die Moderne in eine »Dialektik der Technik« (PK, ^ 275

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Kapitel 3: Hösles objektiv-idealistische Ontologie der Intersubjektivität

59): »Indem die Technik den Menschen von der Natur befreit, bindet sie ihn auch wieder an sie, da sie neue Bedürfnisse erzeugt« (PK, 60; siehe PPW, 91 f.). Daher liegt das »Missverständnis zwischen Zweckund Wertrationalität dem modernen techno-logischen Zeitalter zu­ grunde; es ist die tiefste Ursache für die ökologische Krise und all­ gemein die Steuerungsprobleme der modernen Gesellschaften« (PK, 44), denn »es lässt sich »immer ein Mehr, ein Grösser, ein Schneller vorstellen; jedes immanente Mass fehlt« (PK, 60). Daher sieht Hösle »eine der wichtigsten Aufgaben der Ethik des Jahrhunderts der Um­ welt ... [darin], dem Infinitismus der Moderne abzusagen und zum Mass zurückzufinden« (PK, 78). Hösle fordert: »Wir müssen die Grenze wieder lieben lernen« (PK, 79), und zwar »nicht nur mit Be­ zug auf die demographische Entwicklung. Der Mensch wird viele der Bedürfnisse abstreifen müssen« (PK, 78). In TS bezeichnet Hösle die »Emanzipation der Zweckrationalität als die gefährlichste Nebenfolge der Technik« (PPW, 106). Dies des­ halb, weil diese Emanzipation suggeriert, dass die Legitimität von Zwecken, »weil sie mit Methoden der Naturwissenschaft und Tech­ nik nicht gelöst werden kann, überhaupt nicht rational beantwortet werden könne« (PPW, 105). Hösles These in TS ist also, dass die »Krise der Vernunft« (siehe KGVP 13 ff.; Kapitel 2.2) ein Folgepro­ blem - nicht die geistesgeschichtliche Ursache - der Technik ist: »Denn wenn das Prinzip der Technik, das Prinzip des Machens, sich aus seiner dienenden Stellung befreit und zum einzigen Prinzip des menschlichen Den­ kens, Handelns und Fühlens avanciert, dann muss der Begriff eines Unantast­ baren, nicht zu Machenden, vielmehr allem Handeln Zugrundeliegenden, kurz der Begriff des Sittengesetzes, seinen Sinn verlieren, dann ist insbeson­ dere die Erfahrung des anderen Menschen als Selbstzweck, wie sie das Sitten­ gesetz gebietet, nicht mehr möglich.« (PPW, 105)

Es findet sich jedoch auch die umgekehrte Behauptung, dass ein Wandel der Vernunft überhaupt erst zu den Technikfolgeproblemen geführt hat, und deshalb eine neue Weise »ganzheitlicher Welt­ erschliessung« gefordert ist: »Mir hingegen scheint erst durch die weltanschauliche Loslösung der Wis­ senschaft von der Philosophie als einem Projekt ganzheitlicher Welterschlies­ sung und durch die Abkoppelung der Idee des Wahren von der Idee des Guten das Technikfolgenproblem in seiner ganzen Enormität entstanden zu sein, und eine Therapie sehe in in der Institutionalisierung eines Wissens, das nicht bloss spezialistisch ist, also in der Ausbildung von Generalisten, die ne­ ben empirischem Wissen auf verschiedenen Gebieten auch die Fähgkeit be­ 276

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3.3 Die ökologische Krise als metaphysisches Problem

sitzen, mit normativen und evaluativen Fragen umzugehen.« (PPW, 107; siehe PK 69)

In PK lautet die These entsprechend, dass die Verabschiedung der Idee der Wissenschaft, »das Seiende auf einige wenige Prinzipien zurückzuführen ... einen furchtbaren Rückschritt in der Bewusst­ seinsgeschichte bedeuten« (PK, 69) würde. Daher fordert Hösle, dass »die Wissenschaft ihre kausalwissenschaftliche Methode .in eine Konzeption der Wesenserkenntnis, deren Kern die Idee des Guten ist [einbinden muss]; sie muss ihr konstruktivistisches Selbstmissver­ ständnis im Sinne des objektiven Idealismus korrigieren.« (PK, 69) Diese These einer ganzheitlichen Welterschliessung formuliert nichts anderes als Hösles Grundthese, was die Aufgabe der Philoso­ phie der Gegenwart sei, nämlich die Rekonstruktion der wissen­ schaftlichen Forschungsergebnisse (sowie auch neuer philosophi­ scher Fragestellungen) in einem objektiv-idealistischen System. Wenn man sich fragt, welche Bedeutung dies für die ökologische Krise haben soll, dann lässt sich hier wohl nur von Hösles Zyklen­ theorie her argumentieren, dass damit der metaphysische Grund der ökologischen Krise, die neuzeitliche Subjektivität überwunden wird. Nun skizziert Hösle aber »die Hoffnung auf eine Versöhnung von Natur und Geist« (PPW, 195; kursiv im Original) in SS als ein Pro­ blem der realen Intersubjektivität und nicht der theoretischen Er­ kenntnis, wenn er schreibt: »Eine Versöhnung von Natur und Geist kann übrigens nicht nur im Geiste stattfinden - in dieser Annahme liegt wohl der grösste Irrtum Hegels (nicht nur des Vulgärhegelianismus). In der intersubjektiven Welt der Kultur, in der die einzelnen Subjekte nur über ihre leibliche Verwirklichung füreinander dasein können, ist eine Einheit von Natur und Geist schon gegeben; und es kommt in der Geschichte der menschlichen Kultur wesentlich darauf an, eine Intergration der menschlichen Gemeinschaftsformen in die umfassende Na­ tur zu erreichen.« (PPW, 195 f.)

Diese Ausführungen lassen sich zwar von Hösles philosophischem Programm eines objektiven Idealismus der Intersubjektivität her nachvollziehen. Es ist jedoch nicht ersichtlich, warum mit der Ein­ bindung der kausalwissenschaftlichen Erkenntnis in eine objektiv­ idealistische Wesenserkenntnis eine Klärung der Orientierungspro­ bleme in der technologischen Zivilisation erreicht werden kann. Hösle geht nämlich auf die dafür entscheidenden Punkte nicht ein: Erstens behandelt er nicht, woher sich die Idee des Guten bestimmt. ^ 277

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Kapitel 3: Hösles objektiv-idealistische Ontologie der Intersubjektivität

Zweitens geht er nicht darauf ein in welchem Verhältnis diese regu­ lative Idee des Guten zum ökologischen und zum wirtschaftlich-tech­ nischen Naturhegriff steht, d.h. zur kausalwissenschaftlichen Er­ kenntnis. Das Wort »Einhindung« klärt hier nichts. Schliesslich ist auch nicht angesprochen, oh und ggf. wie eine kontemplativ erfahre­ ne Natur hierhei relevant ist. Zwar will Hösle mit dieser Einhindung in eine Wesenserkenntnis moralische Kriterien für die wirtschaft­ lich-technische Naturnutzung hestimmen, denn er zielt auf eine Be­ grenzung dieser Nutzung ah und meint damit eine Überwindung des Ahsolutismus des Ich. Es hleiht aher völlig unklar, auf welcher Grundlage die Bestimmung dieser Begrenzung erfolgen soll. Ist mit der Versöhnung von Natur und Geist als Integration der mensch­ lichen Gemeinschaft in die umfassende Natur die Erhaltung der Biosphäre dank einer entsprechenden Umgestaltung der Zivilisation gemeint? Was sind dann aher dafür die Kriterien? Sollen die Ergeh­ nisse der ökologischen Forschung in hezug auf notwendige Bedin­ gungen für Stahilität und Dynamik der hestehenden Ökosysteme diese Grenzen hestimmen oder eine kontemplativ geschaute Natur? Wozu hedarf es hier des ohjektiven Idealismus? Auch die Bemer­ kung, welche auf die leihliche Verfasstheit des Menschen ahzielt, wird von Hösle nicht so expliziert, dass klar wird, inwiefern eine ohjektiv-idealistische Interpretation der Natürlichkeit des Menschen zu einer Moralhestimmung in der technologischen Zivilisation führen kann. Hösles Programm ist, die Triade von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft mit einer Wertrationalität zu verhinden, um den Infini­ tismus der Moderne zu heenden. Die »Zerstörung der Idee eines die ganze Welt (einschliesslich ihrer selbst) hegründenden Ahsoluten« (PK, 67) durch die neuzeitliche Suhjektivität soll durch die Anerken­ nung der Realität des Ahsoluten als Naturgesetz und als Sittengesetz (siehe KGVP, 218) geleistet werden. Die erste Frage ist dann aher, was hier mit »Anerkennung« gemeint ist. Ist damit lediglich gemeint, dass man vom Letzthegründungsheweis und seiner ontologische In­ terpretation (auf der Grundlage von Einsicht) üherzeugt ist, oder ist auch die materiale Bestimmung der Naturgesetze und Werte einge­ schlossen? Worin hesteht zweitens die Verhindlichkeit für das menschliche Handeln im Falle des Naturgesetzes und im Falle des Sittengesetzes? Drittens stellt sich die Frage, worin die Notwendig­ keit dieses Entwicklungsschrittes, d. h. der Üherwindung der neuzeit­ lichen Suhjektivität, hesteht. Viertens stellt sich die Frage, oh die 278

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3.3 Die ökologische Krise als metaphysisches Problem

Realisierung der objektiv-idealististisch verstandenen Intersubjekti­ vität dann den Endpunkt der Entwicklung des Geistes darstellt, oder ob die Entwicklung fortgeht und auf einen neuen dialektischen Wi­ derspruch zuläuft und wo dieser dann angesiedelt sein könnte. Diese Fragen der Überwindung der ökologischen Krise sind Thema von Ka­ pitel 3.3.2. 3.3.2 Intersubjektivität als Versöhnung von Natur und Geist Auch Hösles Ausführungen zur Versöhnung von Natur und Geist in der Intersubjektivität sind skizzenhaft. Es handelt sich im wesentli­ chen um Bemerkungen zur Notwendigkeit einer objektiv-idealisti­ schen Intersubjektivität, um Postulate oder konzeptionelle Grund­ gedanken, denen eine objektiv-idealistische Intersubjektivität zu genügen hat sowie um Thesen zur Realisierung der objektiv-ideali­ stischen Intersubjektivität. Die wesentlichen Ausführungen dazu finden sich in KGVP, ich werde jedoch auch auf Bemerkungen in TS, in PK, in SS und in UP Bezug nehmen. Das Zentralpostulat von Hösle, auf das ich zuerst eingehe, fordert die Versöhnung von Natur und Geist in der realen Intersubjektivität. Anschliessend diskutiere ich Hösles doppelte These, dass die Verwirklichung des Absoluten als vernünftige Intersubjektivität subjektiv gesehen offen, objektiv ge­ sehen hingegen nicht offen ist. Schliesslich gehe ich auf die moral­ theoretischen Überlegungen ein, die Hösle mit der objektiv-idealisti­ schen Intersubjektivität verbindet. Es handelt sich hier zum einen um den moralischen Stellenwert der Natur innerhalb der Konzeption einer objektiv-idealistischen Intersubjektivität. Zum andern betrifft dies Ansatzpunkte zur Entwicklung der von Hösle geforderten mate­ rialen Wertethik. 3.3.2.1 Der Begriff der realen Intersubjektivität bei Hösle Hösles Zentralpostulat, das die Versöhnung von Natur und Geist in der realen Intersubjektivität fordert, ist zunächst einmal gegen die neuzeitliche Subjektphilosophie gerichtet, insofern die Rehabilita­ tion des Absoluten als Prinzip der Philosophie damit verbunden ist: »Ohne eine Intersubjektivitätstheorie kann auch das Ich nicht verstanden werden. Aber die Intersubjektivitätstheorie vervielfacht nur den neuzeitli­ chen Subjektivismus, wenn sie nicht mit einer Tradition vermittelt wird, die ^ 279

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Kapitel 3: Hösles objektiv-idealistische Ontologie der Intersubjektivität

anerkennt, dass es etwas gibt, was das endliche Subjekt transzendiert gleichgültig, ob es von letzterem nur eines oder mehrere gibt.« (PI, 36)

Die Tradition, an die Hösle zu diesem Zweck anschliesst, ist der Idea­ lismus. Er nennt Spinoza, Leibniz, Schelling und Hegel, da diese in einer »Reaktion gegen die Autonomie der Subjektivität« (PI, 26) die Subjektivität »in eine Philosophie zu integrieren suchen, deren Prin­ zip nicht das Ich, sondern das Absolute ist« (PI, 26). Doch ist das Zentralpostulat zugleich auch gegen Hegels Auffassung des Absolu­ ten gerichtet: »Während im Rahmen des Hegelschen Theoretizismus die Erkenntnis des Absoluten durch den einzelnen den höchsten Punkt des Universums aus­ macht, wird man im Rahmen eines intersubjektivitätstheoretisch gedeuteten objektiven Idealismus die intersubjektive Anerkennung des Absoluten und die Umsetzung seiner relevanten Bestimmungen in reale Intersubjektivität als das höchste Gut ansehen.« (KGVP, 218; kursiv im Original)

Zur Begründung dieses Postulates verweist Hösle auf seine Hegel­ kritik in HS und resümiert daraus zwei Argumente: erstens muss das Absolute als Absolutes alle wesentlichen Strukturen konstituie­ ren, und zweitens sind Subjekt und Objekt erst dann wahrhaft iden­ tisch, wenn das Objekt auch Subjekt ist: »wenn die Subjekt-Objekt­ Relation durch die Subjekt-Subjekt-Relation als den höchsten Punkt ersetzt wird« (KGVP, 219; siehe 180). Daher ist Intersubjektivität eine wesentliche Struktur, die durch das Absolute prinzipiiert sein muss. Dieses Zitat klärt den Begriff der Intersubjektivität bei Hösle zunächst einmal insofern, als damit Relationen zwischen Subjekten gemeint sind. Die beiden Argumente betreffen aber lediglich den einen zu begründenden Punkt, dass nämlich das Absolute als Abso­ lutes nicht in einer objektiv-idealistischen Subjektivität, sondern einer Intersubjektivität gipfelt. Der zweite Punkt, dass es sich dabei um eine reale Intersubjektivität zu handeln hat und was darunter zu verstehen ist, ist damit noch offen. Ein Argument für Hösles Forderung der Versöhnung von Natur und Geist in realer Intersubjektivität ist die Doppelnatur des Men­ schen in ihrer Bedeutung für die ökologische Krise. Denn Hösles me­ taphysischer Deutung der ökologischen Krise zufolge besteht das »metaphysische Rätsel des Menschen ... gerade darin, dass in ihm das wechselseitige Angewiesensein von Idealität und Realität in der empirischen Welt sichtbar wird; und die ökologische Krise ist »letzt­ lich Ausdruck der Verschärfung dieser Dualität zum absoluten Ge­ 280

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3.3 Die ökologische Krise als metaphysisches Problem

gensatz« (PPW, 193). Nun liegt nach Hösle aber auch der Ansatz für die Versöhnung von Natur und Geist im Doppelcharakter des Men­ schen, und zwar in der realen Intersubjektivität der Kultur, da »die einzelnen Subjekte nur über ihre leibliche Verwirklichung füreinan­ der da sein können« (PPW, 195), womit bereits »eine Einheit von Natur und Geist schon gegeben« (PPW, 195) ist. Nun ist diese im Doppelcharakter des Menschen gelegene Einheit allerdings auch in der technologischen Zivilisation der Neuzeit gegeben und kann da­ mit nicht die gesuchte Versöhnung von Natur und Geist sein. Ent­ sprechend schliesst Hösle auch die Bemerkung an, dass es in der Ge­ schichte der menschlichen Kultur nun darauf ankomme, »eine Integration der menschlichen Gemeinschaftsformen in die umfas­ sende Natur zu erreichen« (PPW, 196). Diesem Satz ist zuzustim­ men, doch ist die Frage, was die objektiv-idealistische Theorie der Intersubjektivität zur Bestimmung dieser Versöhnung von Natur und Geist leistet, mit dem Hinweis auf den Doppelcharakter des Menschen noch nicht beantwortet. Die dafür von Hösle geforderte reale Intersubjektivität umfasst sehr Heterogenes: interpersonale Beziehungen, Institutionen wie eine Handelskammer oder das Recht, Theorien inkl. auch die Phi­ losophie und Kunstwerke (siehe KGVP, 215 f.). Intersubjektive Ge­ bilde sind zeitlich. So ist z. B. die Riemannsche Theorie »zu einem bestimmten Zeitpunkt entstanden ... und [könnte] etwa mit den Menschen wieder verschwinden« (KGVP, 215), während ihr Gegen­ stand jedoch zeitlos ist. Doch findet nicht bei allen intersubjektiven Gebilden »ein Bezug auf die ideale Sphäre statt« (KGVP, 215), es gibt auch solche, die keinen zeitlosen Gegenstand haben, z. B. eine Han­ delskammer. Zudem sind intersubjektive Gebilde nicht per se schon vernünftig. Hösle nennt nun drei Grundfragen, die es im Sinne eines Desiderates in bezug auf reale Intersubjektivität zu klären gilt. Diese betreffen erstens die Voraussetzungen der Erfahrung anderer Sub­ jekte als Subjekte (siehe KGVP, 214), zweitens den ontologischen Status intersubjektiver Strukturen (siehe KGVP, 215 f.) und drittens Kriterien zur Unterscheidung der moralisch wünschenswerten von moralisch nicht wünschenswerten intersubjektiven Strukturen (sie­ he KGVP, 219). Zum ontologischen Status intersubjektiver Relationen lautet Hösles These, »dass sie einerseits ohne eine natürliche Basis und ohne subjektive Akte nicht bestehen, dass sie aber andererseits nicht auf diejenigen physischen Objekte und geistigen Akte reduzierbar ^ 281

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sind, die sie in einem bestimmten Augenblick konstituieren« (KGVP, 215). Die These, dass intersubjektive Relationen von physi­ schen Objekten und geistigen Akten konstitutiert werden, beinhaltet die Behauptung, dass Intersubjektivität aus Objektivität und Subjek­ tivität hervorgeht, aber nicht ihrerseits für Subjektivität und Objek­ tivität konstitutiv ist. Hösle formuliert das auch in den Worten, »dass die Intersubjektivität als die komplexere Kategorie durch die Subjek­ tivität vermittelt ist« (KGVP, 224). Er will aber zugleich »daran fest­ halten, dass die Subjektivität erst in der Intersubjektivität in ihre Wahrheit kommt« (KGVP, 224). Hösle führt dazu in KGVP aus, dass seine Ontologie von einer »Tetrade von Idee, Natur, subjektivem und intersubjektivem Geist« (KGVP, 214) ausgeht, wobei vorausgesetzt ist, dass es sich nicht um »ontologisch irreduzible Seinssphären ... [handelt], sondern dass erstens drei von ihnen, nämlich die >realen< von Natur, subjektivem und intersubjektivem Geist, Manifestationen der idealen Seinsspäre sind und das zweitens der sub­ jektive Geist auf der Natur, der intersubjektive Geist auf Natur und subjekti­ vem Geist aufbaut.« (KGVP, 214)

Vor dem Hintergrund dieser Erläuterung ist »reale Intersubjektivi­ tät« ein Pleonasmus, doch spricht Hösle an anderer Stelle auch von idealer Intersubjektivität: »Offenbar bedeutet die Entäusserung des Absoluten zur Natur die Zerstörung seiner Einheit mit sich selbst und die Verselbständigung seiner einzelnen Bestimmungen. Die Ver­ selbständigung der Subjektivität gegen die ideale Intersubjektivität ist aber das Böse.« (KGVP, 238) Was damit gemeint sein kann, lässt sich anhand einer Explikation des Begriffes »Geltung« in anderem Zusammenhang interpretieren. Hösle erläutert dort, dass es inter­ subjektive Gebilde von normativem Charakter gibt wie das Recht, deren Geltung drei zu unterscheidende Dimensionen hat: Gesetze können erstens in dem Sinne gelten, dass sie in einem Staat in Kraft sind, zweitens können sie in dem Sinne gelten, dass sie im faktischen Handeln anerkannt sind, indem sie nicht übertreten werden, und drittens besteht »das Problem des ideales Geltens« (KGVP, 216), wo­ mit Hösle meint, dass eine »theoretisch umfassende und praktisch befriedigende Wissenschaft des intersubjektiven Geistes ... nur möglich sein [wird], wenn sie diese ideale Späre [der das Sittengesetz und die aus ihm abzuleitenden Werte angehören] als die Basis alles Seienden anerkennt.« (KGVP, 216) Da die Ethik etwas voraussetzt, »das die empirische Welt 282

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3.3 Die ökologische Krise als metaphysisches Problem

transzendiert, zu der auch die intersuhjektive Welt gehört« (PPW, 37), muss Hösle auch eine ideale Intersuhjektivität einführen. Er nennt sie an anderer Stelle die absolute intersuhjektive Struktur der idealen Sphäre, in der noch keine wahre Differenz zwischen den Sub­ jekten besteht, wo Subjektivität und Intersuhjektivität noch »in ganz eigentümlicher Weise ineinander verschränkt« (KGVP, 230) sind. Dies ist für Hösles Intersuhjektivitätshegriff entscheidend. Ideale Geltung einer intersuhjektiven Struktur, d. h. dass sie moralisch wünschenswert ist, ist daran gebunden, dass keine wahren Differen­ zen zwischen Subjekten bestehen. Daher tritt Hösle für einen ethi­ schen Universalismus ein und rechnet es Kant als eine Grösse seiner Moralphilosophie an, dass sie eine auf Vernunft gegründete »univer­ salistische Dimension, der nichts vergleichbar ist in der Geschichte der Ethik vor Kant [erreicht]. Sie wendet diese universalistische Ethik auf die Politik an und gibt der Geschichte die Aufgabe, der Prozess der langsamen Realisierung universalistischer Institutionen zu sein« (PPW, 31). Hösle bestimmt nun die Kriterien dafür, dass intersubjektive Gebilde moralisch wünschenswert sind, als formale Eigenschaften intersubjektiver Relationen. Ethische Formen von Intersubjektivität zeichnen sich von unethischen dadurch aus, dass sie sowohl transitive als auch symmetrische Relationen darstellen. Denn damit sind Herr­ schafts- und Gegnerschaftsverhältnisse ausgeschlossen: »nur affir­ mative intersubjektive Beziehungen sind sowohl transitiv als auch symmetrisch« (KGVP, 219). Diesen Kriterien liegt die Idee der mora­ lischen Gleichheit der Subjekte zugrunde. Intersubjektivität als Füreinandersein der Subjekte setzt zwar reale Differenz voraus, und Hösle will daran auch festhalten: »Das andere Subjekt ist weder als Objekt noch als Subjekt adäquat bestimmt; es ist vielmehr beides zugleich. Es unter die Objekte zu subsumieren wäre die Vernichtung der Ethik; es als Subjekt zu kategorisieren, würde der Differenz nicht gerecht, die auch und gerade in den affirmativsten intersubjektiven Re­ lationen, zwischen den Ichen unausweichlich bestehen muss. ... Die Metaka­ tegorien der Philosophie müssen Es, Ich und Du bzw. Objektivität, Subjekti­ vität und Intersubjektivität sein - das gilt auch für einen transformierten objektiven Idealismus.« (KGVP, 213 f.; siehe PPW, 37)

Der realen Differenz der Subjekte trägt Hösle in seinen moraltheore­ tischen Überlegungen mit der Idee der Gleichheit jedoch so Rechnung, dass moralische Differenz der Subjekte nicht wünschenswert ist. ^ 283

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Nun führt Hösle allerdings noch ein drittes Kriterium für ethi­ sche Intersuhjektivität ein, nämlich den Selhstzweckcharakter. Dafür argumentiert Hösle erstens relationslogisch: symmetrische und tran­ sitive Relationen sind auch reflexiv, ihr Resultat ist »Einheit mit sich selbst« (KGVP, 219). Wichtiger ist ihm jedoch die werttheoretische Argumentation. Die intersubjektive Relation kann, »wenn sie der höchste Punkt sein soll, nicht blosses Mittel, sie muss Selbstzweck sein« (KGVP, 219), und zwar als Einheit mit sich selbst. Dieses Kri­ terium ergibt sich aufgrund von Hösles objektiv-idealistischem Standpunkt, denn eine »Letztbegründung ohne ontologische Funk­ tion, eine Intersubjektvität, die nicht als Selbstzweck gefasst wird, sind keine wahre Letztbegründung, keine wahre Intersubjektivität.« (KGVP, 264). Hösle sieht im Selbstzweckcharakter ein für die Ethik der Intersubjektivität grundlegendes Kriterium, wie er in seiner Kri­ tik an Kant betont. Er hält Kant, der zu »glauben [scheint], dass die Ethik auch verwirklicht werden könnte, wenn es nur ein einzelnes Subjekt gäbe« (PPW, 37 f.) entgegen, dass »Werte, die durch eine Gemeinschaft realisiert werden können, ... viel höher [sind] als die­ jenigen, die von privaten Individuen verwirklicht werden können« (PPW, 38). Daher ist es nach Hösle wichtig, intersubjektive Relatio­ nen als Selbstzweck zu fassen, »nicht nur als eine Gesellschaft, die notwendig ist, um private Bedürfnisse zu befriedigen« (PPW, 38). Dass intersubjektive Relationen mit Selbstzweckcharakter einen höheren Wert darstellen, begründet Hösle damit, dass die über inter­ subjektive Vermittlung erreichte Einheit mit sich selbst in der Liebe eine Realität des Absoluten ist, die die höchste Aufgabe des Men­ schen darstellt: »Eine symmetrische und transitive Relation, die sich als Selbstzweck weiss, ist aber die Liebe. In dieser durch intersubjektive Verhältnisse vermittelten Einheit mit sich selbst, die sich selbst zugleich als Resultat des Absoluten ver­ steht, liegt die höchste Aufgabe des Menschen; sie, nicht die blosse Erkennt­ nis des Absoluten stellt jenes Gott-ähnlich-Werden dar, in der die traditionel­ le, metaphysisch begründete Ethik zu Recht die höchste Aufgabe des Menschen, ja den letzten Sinn des Universums erblickt hat.« (KGVP, 219)

Diese Stelle kann zur Interpretation der Bemerkung dienen, dass zwar Intersubjektivität durch Subjektivität vermittelt ist, Subjektivi­ tät jedoch erst in der Intersubjektivität in ihre Wahrheit kommt (sie­ he KGVP, 224). Diese beiden Thesen formulieren Hösles Gegenposi­ tion zu Jonas, was den Begriff des Guten betrifft: während Jonas 284

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3.3 Die ökologische Krise als metaphysisches Problem

darunter die Gottesebenbildlichkeit des menschlichen Individuums, die die individuelle Selbsterhaltung und die Fortsetzung des Men­ schen als höchstes Gut auszeichnet, versteht, sieht Hösle die Got­ tähnlichkeit in der intersubjektiven Beziehung der Liebe. Dies bedeu­ tet eine metaphysische Auszeichnung intersubjektiver Relationen, d. h. kultureller Gebilde, wenn man Hösles Explikation von inter­ subjektiven Strukturen folgt. Auch hier sind natürlich reale und vernünftige Intersubjektivität zu unterscheiden. Diese Auszeichnung vernünftiger Intersubjektivität von Hösle zeigt jedoch nicht ihren Selbstwert auf, sondern ihre normative Funktion für die Subjektivität. Denn Hösle begründet die Auffas­ sung, dass die Differenz zwischen idealer und realer Intersubjektivi­ tät notwendig ist, mit dem Argument, dass »nur bei einer Differenz von Idealität und Realität moralisches Handeln möglich ist« (KGVP, 221). Moralisches Handeln erläutert Hösle in zweierlei Hinsicht. Moralisches Handeln ist zum einen Handeln, das der Realisierung des Sittengesetzes dient und somit am ethischen Universalismus ori­ entiert ist. Damit lässt sich jedoch der Selbstwert intersubjektiver Strukturen nicht begründen, wie Hösle selbst bemerkt (siehe Kapitel 3.2.3). Moralisches Handeln ist für Hösle zum andern Handeln, das die Verselbständigung der Subjektivität überwindet und sie in inter­ subjektive Strukturen intergriert. Dieser Gedanke, der von Jonas' Kosmogonie in MGS inspiriert ist, wie Hösle in einer Anmerkung bemerkt (siehe KGVP, 229; PPW, 42), soll zu einer Antwort auf das Theodizeeproblem führen. Hösle konzipiert seine Kosmogonie im Unterschied zu Jonas als eine intersubjektivitätstheoretische Inter­ pretation des Absoluten, die den höchsten sittlichen Akt in der Selbstaufopferung für die Gemeinschaft sieht. Hösles Auffassung zufolge ist »es für das Absolute zu einfach ..., sittlich zu sein.... Nur zeitliche, sterbliche, um ihre Sterblichkeit wissende, einander (und auch sich selbst) nicht völlig durchschauende und sich daher aufeinander nicht völlig verlassen könnende Wesen vermögen den höchsten Akt der Sittlichkeit, die heroische Selbstauf­ opferung zu dem Zwecke der Erringung einer höheren Form von Intersubjek­ tivität, zu vollbringen. In diesem Akt und der Intersubjektivität, die aus ihm erwächst, besteht die höchste Bewährung des absoluten Sittengesetzes; ihret­ wegen ist die Welt geschaffen worden.« (KGVP, 230f.; siehe PPW, 41)

Für das Absolute - zu präzisieren ist wohl: das Absolute bloss im Medium der Idealität - ist es in Hösles Theorie deshalb zu einfach, ^ 285

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sittlich zu sein, weil es im Medium des Idealen das Böse nicht gibt. Denn unter dem Bösen versteht Hösle die »Verselbständigung der Subjektivität gegen die ideale Intersubjektivität« (KGVP, 238), und für diese Verselbständigung ist die Entäusserung des Absoluten zur Natur, die »die Zerstörung seiner Einheit mit sich selbst und die Ver­ selbständigung seiner einzelnen Bestimmungen« (KGVP, 238) be­ deutet, Bedingung. Hösles Forderung einer realen vernünftigen In­ tersubjektivität ist meines Erachtens dadurch motiviert, dass im Rahmen von Hösles Konzeption erst dadurch moralisches Handeln möglich ist und zugleich gefordert ist (siehe Kapitel 3.3.2.2). 3.3.2.2 Der Übergang zur Versöhnung von Natur und Geist in der realen Intersubjektivität Die These, dass es für das Absolute zu einfach ist, sittlich zu sein, führt Hösle zu der doppelten Behauptung, dass die »Offenheit der Zukunft ... subjektiv eine Bedingung der Möglichkeit sittlichen Handelns« (KGVP, 231; kursiv im Original) ist, dass aber die »Ver­ wirklichung des Absoluten in der Welt ... objektiv nicht offen sein« (KGVP, 231; kursiv im Original) kann. Mit der Verwirklichung des Absoluten in der Welt ist die vernünftige Intersubjektivität als Versöhnung von Natur und Geist gemeint. Es findet sich bei Hösle kein explizit ausgeführtes Argument, wieso vernünftige Intersubjek­ tivität auch eine Versöhnung von Natur und Geist beinhaltet und was mit »Versöhnung« dabei gemeint ist. Zu vermuten ist natürlich, dass der Hintergrund dieser These eine Auffassung von Entwick­ lungsdialektik ist, derzufolge die Entwicklung Gegensätze hervor­ bringt und sie wieder dialektisch aufhebt. Ohne nähere Bestimmung ist diese These jedoch ein blosses Postulat. Dass die Verwirklichung des Absoluten in der Welt objektiv nicht offen sein kann, begründet Hösle zunächst einmal damit, dass die Selbstentäusserung des Absoluten nicht soweit gehen kann, dass »seine Realisierung in der Welt von der Wahnsinnstat von einzel­ nen« (KGVP, 231; siehe 229) abhängt. Das zweite Argument rekur­ riert darauf, dass der objektive Idealismus eine monistische und de­ terministische Position ist: »Die Verwirklichung des Absoluten in der Welt kann auch deswegen nicht offen sein, weil auf der Grundlage eines objektiven Idealismus zwar vielleicht bezweifelt werden kann, dass die Welt, in der wir leben, die bestmögliche und 286

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in diesem Sinne vollständig notwendig ist; nur schwer zu bestreiten ist aber, dass - gegeben Naturgesetze und Antezendenzbedingungen - alles was ge­ schieht, notwendig ist. Denn der objektive Idealismus muss monistisch sein. Auch wenn sich die Welt in immer höheren Stufen entfaltet, auch wenn durch >Fulguration< Lebendiges und Geistiges als kategoriale Strukturen emergieren, kann schwerlich ein Zweifel daran bestehen, dass dies auf der Grundlage der Naturgesetze und der Antezedensbedingungen statthat.« (KGVP, 232)

Die ontologischen Voraussetzungen des Erkenntnisideals der klassi­ schen analytischen Wissenschaftstheorie, die Hösle hier anzieht, er­ fahren bei ihm natürlich eine objektiv-idealistische Interpretation. Denn nach Hösle scheint »die Tatsache, dass die Natur durch Natur­ gesetze und Antezedensbedingungen vollständig bestimmt ist, Aus­ druck dessen zu sein, dass einerseits etwas Allgemeines (Ideales), an­ dererseits etwas Besonderes (Reales) ihr Wesen darstellt« (KGVP, 227). Entsprechend ist es auch »das absolute Sein selbst ..., das in der neuzeitlichen Subjektivität einen Ausdruck seiner selbst gefun­ den hat« (PK, 67 f.), denn sonst »könnten ihre Triumphe nicht so überwältigend sein« (PK, 67). Hösles radikaler ontologischer Deter­ minismus lässt somit Kontingenz nicht zu, auch nicht für empirische Ereignisse. Dass wir so manches Ereignis für kontingent halten, ist dann unserem Nichtwissen zuzuschreiben.24 Aufgrund dieses ontologischen Determinismus ist nach Hösle die Hoffnung berechtigt, »dass die entsetzlichen Zuckungen der sich als Technik ausbreitenden Sub­ jektivität, deren Zeuge unsere Generation ist, weder der Schlusspunkt der Entwicklung sind, noch dass diese Subjektivität nur ein Irrweg war. Denn dann könnte unsere Theorie, als Produkt dieser Zeit, keinen Anspruch auf Wahrheit erheben. Wir dürfen hoffen, an einem Wendepunkt der Geschichte des Menschen, ja des Seins zu stehen.« (PK, 67f.)

Nun will Hösle dies jedoch nicht als »ein apriorisches Argument ge­ gen die Möglichkeit einer vollständigen Vernichtung von Homo sa­ piens sapiens« (KGVP, 231) verstanden wissen. Hösle schliesst die Selbstzerstörung der Menschheit nicht aus (siehe PPW, 44). Daher unterscheidet sich Hösles Interpretation der Entäusserung des Abso­

24 Vom Standpunkt des ontologische Determinismus her ist es konsequent, dass Hösle in seinem Letztbegründungsbeweis die Modalität der Kontingenz unterschlägt, denn es gibt diesem Standpunkt zufolge keine kontingenten Ereignisse. ^ 287

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luten in die Welt noch in einem zweiten Punkt von Jonas' Kosmogonie. Nicht nur hat sich für Hösle das Absolute nicht vollständig entäussert, es ist auch denkbar, dass es sich nicht nur in unseren Kos­ mos entäussert hat. Denn »da wir nicht ausschliessen können, dass die Menschheit zerstört werden wird, müssen wir die jüdisch-christliche Identifikation endlicher, leiblicher Geister mit den Menschen aufgeben. ... Wir können nicht ausschliessen, dass es irgendwo sonst in diesem unermesslichen Kosmos andere endliche Geister gibt mit einer besseren Natur als der menschlichen und dass es sie sind, die das Werk der Idealisierung des Realen und der Realisierung des Idealen fort­ setzen werden. Ja, wenn es sogar prädeterminiert sein sollte, dass sich die Menschheit selbst zerstört, dann ist es a prori notwendig, solche Wesen zu postulieren.« (PPW, 44; siehe KGVP, 231)

Die Behauptung, dass die Zukunft subjektiv offen, objektiv hingegen nicht offen ist, ist somit dahingehend zu lesen, dass wir nicht wissen, was prädeterminiert ist. Das ist Gegenstand des Glaubens. Hösle ist nun der Auffassung, dass der ontologische Determinismus nicht »je­ de Ethik« (KGVP, 237) zerstört, da »epistemischer Determinismus ... keineswegs eine notwendige Folge des ontologischen Determinis­ mus« (KGVP, 237) ist. Auch in der Frage der Handlungsfreiheit als Voraussetzung für eine Ethik nimmt Hösle somit eine Gegenposition zu Jonas ein, der die These vertritt, dass »Bedingung von Verantwor­ tung ... kausale Macht« (PV, 172) ist. Hösle kann »nicht an eine Welt glauben, die prädeterminiert sein könnte, wieder wüst und leer zu werden« (PPW, 43; kursiv im Original), und hofft, »dass die moralische Autonomie (die ja auch ein Produkt der neuzeitlichen Subjektivität ist) es uns gestatten wird, den Golem der modernen Technik noch rechtzeitig zu stoppen« (PK, 67 f.). Er stützt seine Hoffnung auf das objektiv-idealistische Argu­ ment, dass »der Geist und intersubjektive Gemeinschaften, die sich als Selbstzweck erfassen, das Ziel des Universums darstellen« (PPW, 43). In der Schlussthese von SS formuliert Hösle diese Hoffnung mit Anklängen an Jonas als die Verantwortung des Menschen in den Worten, dass »zumindest was diesen Planeten betrifft, [sich] das Sein ... uns anvertraut hat« (PPW, 196). Mit dieser Hoffnung oder Ver­ antwortung kann jedoch bei Hösle nicht wie bei Jonas gemeint sein, dass unser Handeln darüber entscheidet, ob die Apokalypse eintritt oder nicht, denn dies ist nach Hösle prädeterminiert. Es ist uns ledig­ lich nicht bekannt. Welchen moralischen Sinn hat dann die Anstren­ 288

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3.3 Die ökologische Krise als metaphysisches Problem

gung, den Golem der Technik zu stoppen, wenn ihm keine kausale Bedeutung für die Seinsgeschichte zukommt? Trotz des ontologischen Determinismus der Welt und damit der Seinsgeschichte will Hösle an einem Freiheitshegriff festhalten. Dazu führt er eine Unterscheidung von Ursachen und Gründen ein. Gründe sollen »der Ordnung des Idealen angehören und als solche nicht in der Realität zu wirken vermögen« (KGVP, 235), während Ursachen der Ordnung des Realen angehören. Unter einer freien Handlung versteht Hösle eine Handlung, hei der die Einsicht in die Gründe, wieso diese Handlung gehoten ist, zur Ursache der Hand­ lung wird (siehe KGVP, 235): »Frei ist demnach, wer aufgrund ratio­ naler Gründe handelt - und d. h. letztlich, da die Kette der Gründe nur durch die Letzthegründung rational ahgehrochen werden kann, wer die Letzthegründung eingesehen und zum Prinzip seines Verhal­ tens gemacht hat.« (KGVP, 236) Der Unterschied zwischen einer frei­ en und einer nicht freien Handlung hesteht somit darin, oh mit oder ohne Einsicht in die ideale Geltung des Sittengesetzes gehandelt wird. Es giht somit Willensfreiheit aher keine Handlungsfreiheit. Handlungsfreiheit ist jedoch nach Hösle für Willensfreiheit auch nicht notwendig, denn Freiheit im Sinne der Selhsthestimmung der Vernunft »impliziert gewiss nicht eine Durchhrechung der Kausal­ ordnung« (KGVP, 236 f.). Nun ist aher der Akt der Einsicht in die ideale Geltung des Sittengesetzes für Hösle auch ein empirischer und damit ein determinierter Akt, »die Freiheit oder Unfreiheit des einzelnen ist durch Naturgesetze und Antezedenshedingungen prädeterminiert« (siehe KGVP, 237; siehe PPW, 39 ff.). Die These, dass die Einsicht in die ideale Geltung des Sittengesetzes als Ursache zu wirken vermag, durchhricht daher den Kausaldeterminismus der rea­ len Welt, zu der Hösle den suhjektiven Geist zählt, nicht, denn der Akt der Einsicht in die ideale Geltung des Sittengesetzes ist prädeterminiert. Daher ist meines Erachtens auch der Subjektivität als Willensfreiheit, und nicht nur als Handlungsfreiheit, der Boden ent­ zogen - und damit aher auch der Moral (siehe Kapitel 3.3.2.3). Hösle schlägt nun in diesem Zusammenhang eine Unterschei­ dung von drei Einstellungen vor: die theoretische, die praktische und die spekulative Einstellung. »Die theoretische Einstellung hetrachtet die Welt als Gefüge kausaler Zusammenhänge« (KGVP, 239; kursiv im Original), während der »praktischen Einstellung ... die Welt als etwas [gilt], was in einem wesentlichen Sinne noch zu machen ist« (KGVP, 239; kursiv im Original), und zwar gilt es, »im Kampf gegen ^ 289

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Kapitel 3: Hösles objektiv-idealistische Ontologie der Intersubjektivität

alle Widrigkeiten der Natur - der äusseren wie der inneren - die Welt dem Sittengesetz immer gemässer zu machen« (KGVP, 239). Sowohl dass dieser Kampf überhaupt stattfindet wie auch sein Ausgang sind jedoch determiniert, dies muss man unter Hinweis auf Hösles Unter­ scheidung von Gründen und Ursachen dabei mitbedenken - die Zu­ kunft ist nur subjektiv offen, nicht objektiv. Das hat meines Erach­ tens dann aber zur Folge, dass moralisches Handeln letztlich nur von subjektiver Bedeutung für das Gewissen des einzelnen ist. Die Ver­ mittlung dieser beiden Einstellungen als Vermittlung von Idealität und Realität soll die spekulative Einstellung, die das »sittliche Genie« (KGVP, 218) auszeichnet, leisten. Die »spekulative Einstellung bezieht den praktischen Kampf auf das Absolute zurück. Für denjenigen, der zu dieser, der schwierigsten und höchsten Ein­ stellung fähig ist, gibt es Augenblicke, in denen er in der Endlichkeit den Glanz des Absoluten zu erfahren vermag. In der Einheit von Allgemeinem und Besonderem, wie sie jedes wahre Kunstwerk, jede edle Intersubjektivität, jede Versöhnung von Gegensätzen kennzeichnet, erkennt, ja fühlt er die Ge­ genwart des Absoluten.« (KGVP, 240; kursiv im Original)

Die Vermittlung dieser Einstellung als Versöhnung von Gegensätzen besteht also in der Gotteserfahrung. Nun sind diese drei Einstellungen zwar in der Doppelnatur des Menschen begründet (siehe KGVP, 239), doch kann diesen Einstel­ lungen im Rahmen von Hösles Position keine begründungstheoreti­ sche Bedeutung zukommen, sondern lediglich eine erkenntnisgene­ tische. Das bedeutet nun aber, dass die metaphysischen Probleme des Verhältnisses von Geist und Natur, Freiheit und Determinismus, Idealität und Realität und die moraltheoretischen Fragen damit nicht beantwortet sind. Für eine intellektualistische materiale Wertethik genügt es aber nicht, die Gegenwart des Absoluten als Glanz in Augenblicken der Endlichkeit zu erfahren - es bedarf dazu gemäss Hösles Anspruch ja einer letztbegründeten Ontologie, die einsehbar ist. Was nun diese Ontologie betrifft, so sehe ich nicht, wie sich angesichts der Unterscheidung von Ursachen und Gründen als eine Unterscheidung realer Determination und idealer Freiheit zugleich auch die Thesen vertreten lassen, dass das »Sittengesetz die empiri­ sche Welt prinzipiiert« (PK, 71), dass die Natur, die zwar »in der Tat real [ist], ... nichts Geistfremdes ist« (KGVP, 226), sondern von der idealen Sphäre konstitutiert ist, dass das Sittengesetz zwar »einer 290

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eigenen idealen Welt« (PK, 71) angehört, aber »trotzdem nichts on­ tologisch radikal Anderes gegenüber der natürlichen Welt« (PK, 71) ist. Dazu kommt die Schwierigkeit, dass Hösle hier das Verhältnis von Naturgesetz und Sittengesetz als ein Verhältnis von Realität und Idealität bestimmt, an anderer Stelle jedoch auch den Naturge­ setzen Idealität zuspricht.25 Für die materiale Wertethik rekurriert Hösle auf ideale Strukturen in der Natur und meint damit das Sit­ tengesetz als Grund der natürlichen Welt: »Das Sittengesetz gehört einer eigenen idealen Welt an - das ist mit Kant gegen allen Aristotelismus festzuhalten -, aber es ist trotzdem nichts ontolo­ gisch radikal Anderes gegenüber der natürlichen Welt, weil es vielmehr ihr Grund ist. In der Entwicklung der Natur, die in der Erzeugung des Geistes gipfelt, ist die ideale Welt präsent; insofern die Natur an ihren Strukturen partizipiert, ist sie selbst etwas Werthaftes.« (PK, 71 f.)

Mit »Grund« meint Hösle hier nun, dass das Sittengesetz einen de­ terminierenden Einfluss auf die empirische Wirklichkeit hat: »Viel­ mehr ist es ein immanent philosophisches Problem, das zur Annah­ me jenes absoluten Prinzips und damit zum objektiven Idealismus führt: das Problem, warum das Sittengesetz die empirische Wirklich­ keit zu bestimmen vermag, wenn es doch nicht aus ihr stammt.« (KGVP, 213) Insgesamt gesehen sind Hösles Thesen zur Versöhnung von Geist und Natur in der realen Intersubjektivität in ihrer Skizzenhaf­ tigkeit nicht konsistent, und insbesondere ist die Verwendung der Terminologie in diesem Zusammenhang unklar. So versteht Hösle teils das Verhältnis von Geist und Natur als ein Verhältnis von Idea­ lität und Realität, teils setzt er Natur als Objektivität dem Geist als Subjektivität und Intersubjektivität entgegen, teils setzt er Natur und Geist als Realität der Idealität entgegen, teils vertritt er die The­ se, dass die Natur durch ideale Strukturen bestimmt ist. Ich will nicht ausschliessen, dass es sich hier nur für einen oberflächlichen Blick, 25 So z.B. an der folgenden Stelle: »Erstens ist klar, dass die Natur, als Prinzipiat des Absoluten, Strukturen des Idealen widerspiegeln muss, auch wenn ihr eine irreduzible Späre des Faktischen und Empirischen eigentümlich ist - ebendies gehört zu ihrem Begriff. So scheint mir die Tatsache, dass die Natur durch Naturgesetze und Antezendesbedingungen vollständig bestimmt ist, Ausdruck dessen zu sein, dass einerseits etwas Allgemeines (Ideales), andererseits etwas Besonderes (Reales) ihr Wesen darstellt. Aber auch materiale Bestimmungen der Natur sind auf logische Strukturen zurückführbar etwa die Dreidimensionalität des Raumes, die Bedeutung der Symmetrie für den Mate­ riebegriff usw.« (KGVP, 227) ^ 291

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Kapitel 3: Hösles objektiv-idealistische Ontologie der Intersubjektivität

dem das Verständnis für die dialektischen Verhältnisse dieser Kate­ gorien fehlt, um Inkonsistenzen und Mehrdeutigkeiten handelt. Um diese Frage zu entscheiden, ist aber eine Explikation der Begrifflichkeit und die systematische Ausarbeitung der Beziehungen dieser Ka­ tegorien gefordert. Dass dies bislang fehlt, führt auch in Hösles Ethik zu Schwierigkeiten, da diese auf einer metaphysischen Aufwertung der Natur aufbaut. Hösle ist sich dieses Defizits auch bewusst. Er sagt im Vorwort zu MP, es sei zurecht befremdlich, dass er sich nach »dem knappen Aufriss der systematischen Grundzüge der Philosophie« (MP, 19) in KGVP nicht an die Ausarbeitung gemacht habe, und in MP nun »ständig Dinge Vorausetzung muss, die ich nirgens entwikkelt oder über die ich auch selbst noch nicht die nötige Klarheit ge­ wonnen habe« (MP, 19). Doch setzt nach Hösle die Dringlichkeit der ökologischen Krise und »die Zeitlichkeit unserer Existenz ... der für das Philosophieren konstitutiven Fähigkeit, sich aus der sozialen Wirklichkeit herauszureflektieren, unvermeidlich Grenzen.« (MP, 20) Wenn Hösle jedoch dem praktischen Handlungsbedarf auf diese Weise Vorrang vor der systematischen Bestimmung und Begrün­ dung gibt, dann ist der Anspruch auf philosophische Begründung seiner moralisch-politischen Position nicht gerechtfertigt, denn hierfür zählt nicht die Begründbarkeitsbehauptung, sondern nur die durchgeführte Begründung. 3.3.2.3 Die moraltheoretische Bedeutung der objektiv-idealistischen Intersubjektivität Hösle versteht seine metaphysische Aufwertung der Natur als die wichtigste metaphysische Kritik und Weiterführung von Kants Ethik mit dem Zweck, Kants Formalismus in einer materialen Wertethik zu überwinden (siehe PK, 71 ff.; PPW, 33 ff.). Denn da die Natur »an den idealen Strukturen partizipiert, ... verwirklicht [sie] Werte, und diese Werte dürfen nicht ohne Not zerstört werden. Ohne Not heisst hier: ohne dass diese Wertverletzung durch die Bewahrung eines höheren Wertes legitimiert werden kann. Dies führt zum Desiderat einer Wertethik« (PK, 72 f.; siehe KGVP, 226). In KGVP skizziert Hösle eine dreistufigen Werthierarchie. Auf der untersten Stufe steht die Natur, die Wert hat aber nicht Selbstzweck ist. Denn vom objektiv­ idealistischen Standpunkt aus kann Natur »nur geschaffen worden sein zu dem Zweck, endliche Geister hervorzubringen und von ihnen erkannt zu werden.« (KGVP, 227). Die moraltheoretische Bedeutung 292

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der Werthaftigkeit der Natur sieht Hösle daher letztlich - wie Kant in der sittlichen Bildung des Individuums: »Die Natur ist etwas, das allem Machen vorausgeht und das insofern als Gleichnis des Unbedingten gelten muss. Wenn diese Einstellung ihr gegenü­ ber vollständig gewichen ist, dann zieht sich auch das absolute Sein von den Menschen zurück, und Verfallsprozesse in der menschlichen Kultur werden unvermeidlich. Konkret: Wenn die Natur, wie in der modernen Technik, zum reinen Verfügungsgegenstand wird, dann wird die anschauliche Basis des Glaubens an etwas Unantastbares vernichtet; damit aber gerät nicht nur die Natur, sondern auch die menschliche Kultur in Gefahr, die nur dann bestehen kann, wenn die Unbedingtheit des Sittengesetzes gewusst und empfunden wird.« (KGVP, 226)

Die mittlere Stufe der Werthierarchie bilden menschliche Individuen mit Selbstwert. Die höchste Stufe sind intersubjektive Strukturen mit Selbstzweck, da diese »etwas Affirmativeres darstellen als blosse Gerechtigkeit« (KGVP, 242), da »Werte, die durch eine Gemeinschaft realisiert werden können, ... viel höher [sind] als diejenigen, die von privaten Individuen verwirklicht werden können« (PPW, 38). Diese Wertehierarchie basiert auf Hösles objektiv-idealisti­ schem Verständnis der Kategorien der Objektivität, Subjektivität und Intersubjektivität, aus dem sich auch Hösles Forderung einer metaphysischen Aufwertung der Natur ergibt. Diese metaphysische Aufwertung der Natur ist jedoch nur eine notwendige und keine hinreichende Bedingung für die Begrenzung des »Infinitismus der Moderne« in der Verfügung über die Natur. Denn aufgrund der Ab­ hängigkeit des Menschen von der Natur ist die Natur nicht qua Na­ tur sakrosankt. Die Bestimmung der Grenze für die Verfügung über die Natur ergibt sich erst daraus, dass über Natur nicht ohne Grund (siehe KGVP, 226) bzw. nicht ohne Not (siehe PK, 73) verfügt werden darf. »Nicht ohne Not« meint dabei, dass die Wertverletzung in der Verfügung über Natur dann und nur dann moralisch gerechtfertigt ist, wenn sie zur Erhaltung eines höheren Wertes notwendig ist. Analog argumentiert Hösle auch für eine Synthese von individuel­ lem Glück und der Pflicht zur Realisierung vernünftiger Intersubjek­ tivität: »Zwar darf das Allgemeine dem Individuellen unter keinen Umständen geopfert werden; aber das Individuelle soll dem All­ gemeinen ohne Not ebenfalls nicht geopfert werden« (KGVP, 262; kursiv im Original). Dies setzt eine Bestimmung dessen voraus, was als »Not« gilt, denn diese Not kann nicht auf die Frage von »sein oder nichtsein« ^ 293

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Kapitel 3: Hösles objektiv-idealistische Ontologie der Intersubjektivität

reduziert werden, sondern betrifft die kulturell variable Lebensqua­ lität. Es sind also Bewertungskriterien für Bedürfnisse bzw. Formen der Bedürfnisbefriedigung gefordert, denn es darf nicht »der Erfül­ lung jeder Laune des Menschen alles Beliebige, das nur natürlich zum Opfer gebracht werden« (PK, 73). Hösle schliesst hier zwar die These an, dass, wer als objektiver Idealist »in der Natur, insbesondere in der organischen, Vernunft erkennt, ... bei Eingriffen in diese Na­ tur« (PK, 73) behutsamer sein wird. Doch gründet dieses Argument auf dem Bildungswert eines metaphysischen Naturbegriffes. Damit fördert der objektive Idealismus zwar die Verzichtbereitschaft derje­ nigen, die von ihm überzeugt sind. Verbindliche Kriterien für kon­ krete Verzichte lassen sich so aber nicht legitimieren. Materiale Bewertungskriterien für Bedürfnisse bzw. Formen der Bedürfnisbefriedigung erfordern eine Kulturtheorie, und für diese sehe ich beim gegenwärtigen Stand der Ausarbeitung der objektiv-idealistischen Intersubjektivität die Ansatzpunkte nicht. Er­ stens behandelt Hösle die Wertfrage bislang als eine Frage der for­ malen Eigenschaften von intersubjektiven Relationen. Hösles Argu­ ment, dass symmetrische und transitive Relationen auch reflexiv sind und damit als Strukturen mit Selbstzweckcharakter als Wert auszuzeichnen sind, reduziert die Ethik auf die Gleichheitsnorm, denn damit sind symmetrische und transitive Relationen aus­ gezeichnet. So rekurriert Hösle für die Moralbegründung verschie­ dentlich auch auf den kantischen Gedanken des Sittengesetzes, ohne sich allerdings explizit einer der kantischen Formulierungen anzuschliessen, die er lediglich kommentiert (siehe PPW, 25 f., 28 ff.), oder selbst eine Formulierung vorzuschlagen. An anderer Stelle schliesst Hösle hingegen an Jonas' kategorischen Imperativ (siehe Kapitel 2.5.3 und Kapitel 2.5.4) an: »Dennoch ist diese Pflicht unbedingt, diesen Planeten für sie bewohnbar zu halten. Warum? Nun, wenn der Mensch das höchste Wesen ist, eben weil er die Stimme des Sittengesetzes vernehmen kann, dann wäre eine Welt ohne Menschen wertmässig einer Welt mit den Menschen absolut unterlegen; Handlungen oder Unterlassungen, die zu einer solchen Welt führen, sind da­ her das Unmoralischste, was man sich vorstellen kann. Sicher kann man nur im übertragenen Sinne von Rechten kommender Generationen sprechen; wohl aber ist es die Menschheit, die Idee des Menschen, die einen unbeding­ ten Anspruch hat, sich auch in kommenden Generationen zu realisieren.« (PK, 77; siehe 81)

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Hösle übergeht dabei die substantielle Differenz zwischen Kant und Jonas: Kant fordert die Achtung anderer Menschen, insofern sie Sub­ jektivität haben, während Jonas die Erhaltung von Subjektivität Sein - fordert, da Subjektivität von Menschen eine Weise der Imma­ nenz Gottes in der Welt ist. Entsprechend verbindet Jonas Moral auch nicht mit Gerechtigkeit oder gar Gleichheit zwischen Men­ schen. Hösle hingegen steht insofern in der Tradition Kants, als es ihm um eine universalistische Moral geht. Er sieht allerdings, dass sich aus der Gleichheitsnorm der Selbstzweckcharakter von Intersubjek­ tivität nicht gewinnen lässt. Denn der Gleichheitsnorm zufolge: »bin ich in meiner besonderen Partikulariät nichts wert; etwas wert bin ich nur, insofern ich mit dem Absoluten (meinem eigentlichen Wesen) überein­ stimme und d.h. insofern ich am Logos teilhabe. Das gilt aber (zumindest dem Prinzip nach) auch für jedes andere Vernunftwesen, das ich daher ge­ nauso ernst nehmen muss wie mich selbst. Klar ist, dass dieser Gedanken­ gang eine Begründung der Ethik insofern zu leisten vermöchte, als er eine Gleichbehandlung aller Vernunftwesen kategorisch vorschreibt. Was er aller­ dings nicht impliziert, ist, dass intersubjektive Beziehungen und Institu­ tionen, die sich als Selbstzweck wissen, etwas Affirmativeres darstellen als blosse Gerechtigkeit.« (KGVP, 242)

Der Selbstzweckcharakter intersubjektiver Strukturen ist zur Be­ grenzung des Infinitismus der Moderne jedoch gefordert, denn die Begrenzung der Verfügung über die Natur durch eine Gleichheits­ norm, verbietet die Befriedigung luxurierender Bedürfnisse nur dann, wenn diese nicht für alle möglich ist. Das ist kein qualititives Kriterium zur Bestimmung von »nicht ohne Not«. Betrachtet man Hösles Diskussion der moralisch-ethischen, ökonomischen und poli­ tischen Konsequenzen aus der ökologischen Krise bzw. ihrer objek­ tiv-idealistischen Deutung in PK, so fällt auf, dass diese praktisch­ politischen Stellungnahmen keinen substaniellen Bezug zu den begründungstheoretischen Grundgedanken aufweisen, sondern eher den Charakter pragmatisch-politischer Überlegungen haben, die un­ ter der Devise des Verzichts auf Bedürfnisse, die der Ansicht des Au­ tors zufolge nicht der Not entspringen, stehen. Ohne materiale Werte besteht also auch bei Hösle ein Anwen­ dungsproblem der Ethik. Universalistische materiale Werte, die Hösles Programm zufolge aus dem Letztbegründungsbeweis abzulei­ ten sind, kollidieren jedoch mit mit dem Pluralismus und der Ge­ ^ 295

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Kapitel 3: Hösles objektiv-idealistische Ontologie der Intersubjektivität

schichtlichkeit menschlicher Kulturen. In den beiden Aufsätzen »Soll Entwicklung sein? Und wenn ja, welche Entwicklung?« (EE 1995) und »Die dritte Welt als ein philosophisches Problem« (DWP 1992) schlägt Hösle vor, den Universalismus mit einer Stufenkonzeption des historischen Bewusstseins zu verbinden, und anzuerkennen, dass noch nicht alle Kulturen das höchste universalistische Bewusstsein erreicht haben (siehe PPW, 144 ff.; EE, 12-15, 27). Im Rahmen von Hösles Position bedeutet dies aber, dass eine Schere zwischen der idealen Geltung universalistischer Normen und der faktischen Gel­ tung kulturspezifischer Normen zu akzeptieren ist. In moralischer Hinsicht bedeutet dies dann den Verzicht auf den Kampf für das höchste Gut, die Realisierung der vernünftigen Intersubjektivität. Damit gerät Hösle mit seiner Moraltheorie in dasselbe Problem wie mit seiner Zyklentheorie der Philosophiegeschichte (siehe Kapitel 3.2.1): Die Überwindung des Pluralismus lässt sich nur um den Preis der These vom Ende der Seinsgeschichte in der realen vernünftigen Intersubjektivität erreichen. Nicht nur die materiale Auszeichnung der Werthaftigkeit ist bislang eine offene Frage in Hösles objektiv-idealistischer Intersub­ jektivität. Ein zweites offenes Problem, zu dem sich Hösle nun nicht äussert, ist die Frage, inwiefern vernünftige Intersubjektität die Versöhnung des Geistes mit der Natur einlöst. Ist die Meinung, dass der Selbstzweckcharakter der intersubjektiven Strukturen zugleich sicherstellt, dass diese Kultur in das Ganze der Natur eingebettet ist? Ist in einer Kultur vernünftiger Intersubjektivität eine Beschränkung des demographischen Wachstums und der Bedürfnisbefriedigung, die die Tragekapazität der natürlichen Ökosysteme gar nicht über­ schreitet, faktisch akzeptiert? Oder ist die Meinung die, dass diese Kultur in der Lage ist, auf Anzeichen der Überschreitung der öko­ logischen Tragekapazität angemessen zu reagieren? Nun bemerkt Hösle an einigen Stellen, das »eigentliche Pro­ blem der Ethik ... im ökologischen Zeitalter« (PK, 81) liege nicht in der Begründung neuer Normen, denn dass »wir den Planeten be­ wohnbar halten müssen für künftige Generationen, ist relativ schnell erkannt; und auch über den Wertcharakter, der der Natur eignet, dürfte ein Konsens zu erzielen sein. Viel schwerer ist die Durchset­ zung eines entsprechenden Handelns« (PK, 81). An anderen Stellen spricht er jedoch von einer neuen Moral, ohne zu präzisieren, was daran neu ist, doch ist auch in diesem Falle das »zusätzliche Problem des Übergangs von der intersubjektiven theoretischen Anerkennung 296

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einer neuen Moral zu ihrer praktischen Umsetzung in Institutionen« (KGVP, 217) eine »der Hauptursachen für die ökologische Krise« (PK, 83). Hösle folgt hier vermutlich Jonas (siehe Kapitel 2.6), denn er erläutert dann diese Hauptursache auch analog zu Jonas, »dass wir erstens nicht wissen, was wir tun, und dass wir zweitens, wenn uns die Folgen mitgeteilt werden, über kein Antriehssystem verfügen, das eine Veränderung bewirken könnte.« (PK, 83) Diese Bemerkun­ gen irritieren, weil Hösle damit seine Diagnose der Umweltprohlematik als Folge einer notwendigen Vernunftkrise der zeitgenös­ sischen Philosophie in Frage stellt und auch die Bedeutung seiner Philosophie des objektiven Idealismus für die Überwindung der Ver­ nunftkrise und damit der ökologischen Krise ahspricht oder zumin­ dest stark ahschwächt. Dass das Durchsetzungsprohlem mit dem Begründungsprohlem hzw. mit der Einsicht in die Begründung noch nicht gelöst ist und hesonderer politischer Anstrengungen hedarf, muss wohl als eine zu­ treffende empirische Beohachtung von Hösle gewertet werden. Folgt man jedoch Hösles systematischen Thesen, dann hat das Durchsetzungsprohlem gar keine Funktion für die ökologische Krise. Denn mit der Freiheit im Sinne der Selhsthestimmung der Vernunft ist »gewiss nicht eine Durchhrechung der Kausalordnung« (KGVP, 236 f.) impliziert, und »die Freiheit oder Unfreiheit des einzelnen ist durch Naturgesetze und Antezedenshedingungen prädeterminiert« (siehe KGVP, 237; siehe PPW, 39 ff.). Dann kann aher die suhjektive Willenshildung und Handlungshereitschaft nur für die suhjektive Moral, nicht jedoch für den Verlauf der ökologischen Krise von Re­ levanz sein. Wenn die ökologische Krise Ausdruck davon ist, dass das »metaphysische Rätsel des Menschen ... darin [hesteht], dass in ihm das wechselseitige Angewiesensein von Idealität und Realität in der empirischen Welt sichthar wird« (PPW, 193), dann wird Hösles Kon­ zeption von Kausalität und Freiheit im Rahmen seines ontologischen Determinismus gerade diesem Prohlem nicht gerecht. Hösles Rehahilitation einer ahsoluten Vernunft mittels der Kon­ zeption einer ohjektiv-idealistischen Intersuhjektivität kann somit nicht nur aufgrund der Begründungsprohleme sowohl der Zyklen­ theorie als auch der Letzthegründung nicht hefriedigen (siehe Kapitel 3.2). Auch die Anwendungsprohleme dieser ahsoluten Vernunft zumindest in der Form, wie diese Konzeption hislang vorliegt - sind mit der metaphysischen Interpretation der ökologischen Krise in kei­ ner Weise gelöst. ^ 297

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Kapitel 3: Hösles objektiv-idealistische Ontologie der Intersubjektivität

Hösles Position gerät in bezug auf die Moralbestimmung er­ stens in ein Dilemma. Denn vom Standpunkt des objektiven Idealis­ mus aus ist nicht nur die Entstehung der ökologischen Krise meta­ physisch determiniert, sondern auch, ob die technologische Zivilisation die ökologische Krise überwindet oder daran untergeht. Es besteht so gesehen also gar kein Moralbedarf zur Abwendung der ökologischen Krise. Nun ist es für die endliche Vernunft der Men­ schen jedoch prinzipiell nicht möglich zu wissen, ob die ökologische Krise überwunden werden wird. Die Orientierungsprobleme der technologischen Zivilisation angesichts der Umweltprobleme sind somit Ausdruck des prinzipiellen menschlichen Nichtwissens. Dieses Nichtwissen ermöglicht nun aber nach Hösle erst die Moralität des Menschen und macht sie ihm zugleich zur Pflicht, und zwar, »im Kampf gegen alle Widrigkeiten der Natur - der äusseren wie der inneren - die Welt dem Sittengesetz immer gemässer zu machen« (KGVP, 239). Wie die dafür vorausgesetzte Freiheit mit dem Deter­ minismus des objektiven Idealismus in Übereinstimmung gebracht werden kann, ist von Hösle nicht gelöst. Zwar postuliert Hösle keine Handlungsfreiheit, doch damit wird die Moral zu einer bloss abstrak­ ten Gesinnungsfrage. Zudem ist auch der Akt der Einsicht in das Gute - wie Hösle Willensfreiheit versteht - determiniert. Zweitens sehe ich auch nicht, wo die Ansatzpunkte für die Ent­ wicklung einer materialen Werttheorie in Hösles Konzeption liegen, die der von Hösle beanspruchten Orientierungsstiftung in der tech­ nologischen Zivilisation angesichts ihrer Umweltprobleme dienen. Hösles Grundgedanke besteht in einer dreistufigen Wertehierarchie. Diese beruht auf dem objektiv-idealistischen Verständnis der Kate­ gorien der Objektivität, Subjektivität und Intersubjektivität, denen die Natur als Wert aber ohne Selbstzweck, menschliche Individuen mit Selbstwert und intersubjektiven Strukturen mit Selbstzweck entsprechen. Ein hierarchisch tieferer Wert darf dabei durch einen hierarchisch höherstehenden Wert nicht ohne Not verletzt werden. Im Kontext der metaphysischen Interpretation der ökologischen Krise argumentiert Hösle jedoch mit dem Doppelcharakter des menschlichen Individuums als leibliches und als geistiges Wesen. Von diesem analytischen Ansatzpunkt her lässt sich jedoch zum einen kein Intersubjektivitätsbegriff gewinnen, der über intersubjek­ tive Gerechtigkeit hinausgeht. Dies wird daran deutlich, dass Hösle Intersubjektivität immer wieder nur als universelle moralische Gleichheit der Subjekte expliziert. Entsprechend beurteilt Hösle auch 298

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3.3 Die ökologische Krise als metaphysisches Problem

den Pluralismus von Kulturen sowie auch den Geschichtsprozess un­ ter der Pespektive des ethischen Universalismus. Zum anderen lässt sich von daher kein Begriff von Natur entwickeln, der ökologische Abhängigkeiten erfasst. Dies wird hei Hösle nicht deutlich, da er sich mit der Frage eines deskriptiv-analytischen Naturverständnisses in hezug auf die Orientierungsprohleme der technologischen Zivilisati­ on gar nicht befasst, sondern vielmehr postuliert, dass eine Gesell­ schaft von vernünftiger Intersuhjektivität die Biosphäre nicht ge­ fährdet. Die Bestimmung des für die Versöhnung von Natur und Geist geforderten Vernunfthegriffes ist durch die objektiv-idealistische In­ tersuhjektivität jedoch gerade nicht geleistet. Hösles Bemerkung, dass die Versöhnung von Natur und Geist als Gegenwart des Abso­ luten in Augenblicken der Endlichkeit erfahren wird, deutet an, dass sich diese Vernünftigkeit nicht rational hestimmen lässt. Hösles Programm einer Metaphysik der ökologischen Krise muss daher vorgeworfen werden, dass dieses Programm nicht nur ungelöste Be­ gründungsprobleme aufweist, sondern auch ein systematisches Defi­ zit in bezug auf die Probleme der Moralbestimmung und daher an den relevanten moralischen Fragen in der technologischen Zivilisati­ on vorbeigeht. Hösle nimmt diese systematischen Probleme auch auf den über 1000 Seiten von »Moral und Politik« (MP 1997) nicht auf. Er will in MP die metaethische Frage nach dem Verhältnis von Moral und Politik unter Rückgriff auf die philosophische Tradition lösen sowie auf dieser Grundlage eine konkrete Politische Ethik für die Gegenwart vorschlagen (siehe MP, 15). Das Vorgehen dabei ist eklek­ tisch, wie Hösle dazu selbstkritisch bemerkt (siehe MP, 18). Er bedau­ ert, dass »die Terminologie des Werkes nicht ganz einheitlich ist« (MP, 18), und dass »die Breite der behandelten Themen manchmal zu Lasten der erforderlichen Tiefe gegangen« (MP, 19) sei. Eine sy­ stematische Ausarbeitung ist jedoch nicht bloss zum Zweck einer einheitlichen Terminologie gefordert, sondern vor allem um zu zei­ gen, dass die genannten systematischen Probleme gelöst sind - wenn die Position des objektiven Idealismus der Intersubjektivität als phi­ losophische Antwort auf die entscheidenden Probleme der Mensch­ heit überzeugen soll.

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3.3.3 Die ökologische Krise als metaphysisches Problem: Zusammenfassung Bei der metaphysischen Interpretation der Umweltprohlematik kom­ men nun die verschiedenen deskriptiven Naturhegriffe ins Spiel. Der Grundgedanke, dass Technikanwendung als systematische und ge­ plante Umformung von Stoff und Energie amhivalente Folgen hat und zu Entwicklungen mit eigendynamischem Charakter führt, so »dass ein mögliches Ende des Menschen durch die Technik selhst hedingt sein könnte« (PPW, 89) findet sich der Sache nach sowohl hei Jonas (siehe PV, 251 ff.; TME, 61 ff.) als auch hei Apel (siehe Apel 1975, 17 ff.). Das metaphysische Prohlem der ökologischen Krise hesteht darin zu verstehen, wie die »Möglichkeit der Apokalypse« (PK, 15; kursiv im Original), im Wesen des Menschen angelegt ist und worin die ontologische Sonderstellung des Menschen hesteht. Die These dazu lautet, dass die Möglichkeit der ökologischen Krise an den Doppelcharakter des Menschen gehunden ist. Zum einem hat daher die Metaphysik dem menschlichen Individuum als einem leihlichen und geistigen Wesen, also als einer Identität und einer Diffe­ renz von Geist und Natur, Rechnung zu tragen. Dieses Strukturver­ hältnis üherträgt Hösle nun aher zu unrecht auf die zwei Naturverhältnisse des Menschen, nämlich auf das ökologische Na­ turverhältnis, in dem der Mensch ein Teil der Biosphäre ist, und auf das ökonomisch-technische Naturverhältnis, das er als eine selhstdestruktive Entgegensetzung des Menschen zur Natur hezeichnet und das aus ohjektiv-idealistischer Sicht eine notwendige Entwick­ lungsstufe im Verhältnis von Geist und Natur darstellt. Mit dieser Ühertragung stellt er die ökologische Krise in einen seinsgeschicht­ lichen Zusammenhang. Von diesem Standpunkt aus ist nicht nur die Entstehung der ökologischen Krise metaphysisch determiniert, sondern auch, oh die technologische Zivilisation die ökologische Krise üherwindet oder daran untergeht. Es hesteht so gesehen also gar kein Moralhedarf zur Ahwendung der ökologischen Krise. Weil die Menschen auf­ grund ihrer endlichen Vernunft jedoch nicht wissen können, oh die ökologische Krise üherwunden werden wird, giht es Orientierungsprohleme der technologischen Zivilisation. Dieses Nichtwissen ermöglicht nun aher nach Hösle erst die Moralität des Menschen und macht sie ihm zugleich zur Pflicht. Und zwar geht es darum, »im Kampf gegen alle Widrigkeiten der Natur - der äusseren wie 300

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3.3 Die ökologische Krise als metaphysisches Problem

der inneren - die Welt dem Sittengesetz immer gemässer zu ma­ chen« (KGVP, 239). Wie die dafür vorausgesetzte Willens- und Handlungsfreiheit mit dem Determinismus des objektiven Idealis­ mus in Übereinstimmung gebracht werden kann, ist nicht gelöst. Die Welt dem Sittengesetz gemässer zu machen beinhaltet, intersub­ jektive Strukturen mit Selbstzweckcharakter zu schaffen, die den In­ finitismus des sich selbst als absolut gesetzten neuzeitlichen Ich be­ grenzen. Voraussetzung dafür ist eine materiale Werttheorie. Die systematische Ausarbeitung der Werttheorie steht noch aus. Der Grundgedanke dazu besteht in einer dreistufigen Wertehier­ archie, die auf dem objektiv-idealistischen Verständnis der Katego­ rien der Objektivität, Subjektivität und Intersubjektivität basiert. Auf der untersten Stufe steht die Natur, die Wert hat aber nicht Selbstzweck ist. Sie ist zum einen für menschliches Leben notwendig, zum anderen ist sie aber auch ein Gleichnis des Unbedingten. Die Achtung der Natur als Gleichnis des Absoluten ist Grundlage für die sittliche Bildung des Individuums, und daher darf Natur nicht ohne Not verletzt werden. Für die Bestimmung des Wertcharakters von Natur rekurriert Hösle somit auf alle drei Naturbeziehungen des Menschen - die ökologische, die ökonomische und die kontemplative, wobei die kontemplative Erfahrung metaphysisch gedeutet wird. Zur Verhältnisbestimmung dieser Bewertungen äussert Hösle nur das Kriterium »ohne Not«, was jedoch näherer Bestimmung bedarf. Die mittlere Stufe der Werthierarchie bilden menschliche Individuen mit Selbstwert. Die höchste Stufe sind intersubjektive Strukturen mit Selbstzweck, da diese »etwas Affirmativeres darstellen als blosse Ge­ rechtigkeit« (KGVP, 242). Hösle bestimmt den Selbstzweckcharakter von Intersubjektivität lediglich formal als transitive und symme­ trische Relationen, seine Explikation von vernünftiger Intersubjek­ tivität mündet in die Forderung einer universellen moralischen Gleichheit menschlicher Subjekte. Er postuliert, dass die materiale Werttheorie durch Ableitung aus dem Letztbegründungsbeweis zu gewinnen ist, doch sind die Ansatzpunkte dazu nicht klar. Hösle behauptet nun, dass die Realisierung intersubjektiver Strukturen mit Selbstzweckcharakter zu einer »Versöhnung von Na­ tur und Geist« (PPW, 195) führt. Die zur Analyse verwendete Termi­ nologie ist unklar. Teils versteht er das Verhältnis von Geist und Na­ tur als ein Verhältnis von Idealität und Realität, teils setzt er Natur als Objektivität dem Geist als Subjektivität und Intersubjektivität entgegen, teils setzt er Natur und Geist als Realität der Idealität ent­ ^ 301

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Kapitel 3: Hösles objektiv-idealistische Ontologie der Intersubjektivität

gegen, teils vertritt er die These, dass die Natur durch ideale Struk­ turen bestimmt ist. Es bleibt sodann unbestimmt, worin diese Ver­ söhnung besteht: Ist mit »Versöhnung« gemeint, dass keine Bewer­ tungskonflikte zwischen der Erhaltung von Ökosystemen, der wirtschaftlich-technischen Naturnutzung und der Achtung der kon­ templativ erfahrenen Natur auftreten? Zudem ist auch nicht ohne weiteres einleuchtend, wieso die so verstandene Intersubjektivität eine Versöhnung von Geist und Natur zur Folge hat. Denn in diese Intersubjektivität kann die nichtmenschliche Natur nicht ihrerseits als Subjektivität eingebunden werden. Der Doppelcharakter des menschlichen Individuums, auf den Hösle rekurriert, hat meines Er­ achtens nicht das analytische Potential, um den Zielkonflikten kol­ lektiven Handelns aufgrund funktionaler gesellschaftlicher und öko­ logischer Zusammenhänge Rechnung zu tragen. Insgesamt betrachtet scheitert somit auch die Rehabilitation einer absoluten Vernunft mittels der Konzeption einer objektiv-idea­ listischen Intersubjektivität sowohl hinsichtlich der Begründungs­ probleme wie auch hinsichtlich der Anwendungsprobleme dieser ab­ soluten Vernunft - zumindest in der Form, wie diese Konzeption bislang vorliegt. Damit ist aber auch Hösles Diagnose der Gegenwart als einer Vernunftkrise in Frage gestellt. Der objektive Idealismus der Intersubjektivität philosophiert am moralischen Kernproblem der Umweltdebatte vorbei. Dies stellt auch die moralisch-praktischen und politischen Folgerungen, die Hösle aus der metaphysischen Fun­ dierung der ökologischen Krise zieht in Frage. Das gilt insbesondere für die These, dass das eigentliche Problem der Umweltproblematik nicht in der Begründung neuer Normen, sondern in der Durchset­ zung der relativ schnell erkannten Einsicht bestehe, den Planeten für künftige Generationen bewohnbar halten zu müssen.

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Kapitel 4

»Vernunft ist möglich als Gestalt des Lebens« Georg Pichts Begriff von Humanökologie

4.1 Einleitung Im selben Jahr wie »Das Prinzip Verantwortung« von Jonas (1979) erscheint auch von Georg Picht ein Essay, der die Gefährdung der Biosphäre durch die wissenschaftlich-technische Zivilisation zum Thema hat. Der Essay trägt den Titel »Ist Humanökologie möglich?« (IHM, in HF, 14-123). Die Philosophie Pichts weist mehrere Paralle­ len zu Jonas auf: Picht ist als Heidegger-Schüler von Heideggers Seinsphilosophie geprägt.1 In Pichts Kritik der technologischen Zivi­ lisation ist der Verantwortungsbegriff der zentrale Begriff für Ver­ nunft. Picht spricht vom Philosophieren nach Auschwitz und Hiro­ shima. Doch liegt Pichts Begriff von Humanökologie eine andere Konzeption des Absoluten zugrunde als Jonas' ontologischer Ethik. Weder Picht noch Jonas beziehen sich aufeinander. Picht wird 1913 in Strassburg geboren. Er studiert in Freiburg, Kiel und Berlin Altphilologie und Philosophie. 1942 promoviert er bei Meister in Altphilologie über den Platon-Dialog »Faches« mit der bislang nicht publizierten Arbeit »Ethik des Panaitios«. Von 1945 bis 1955 steht er der Schule Birklehof vor. Im Jahr 1958 wird er Leiter der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg. 1965 nimmt er den Ruf auf den neugeschaffenen Lehr­ stuhl für Religionsphilosophie an der Evangelisch-Theologischen Fa­ kultät der Universität Heidelberg an und bleibt dort bis zu seiner Emeritierung 1978. Um Picht bildet sich ein Kreis von Schülern und Freunden, die nach seinem Tod im Jahr 1982 eine Gedenkschrift (Link 1984) herausgeben. Picht publiziert Vorträge und Aufsätze, die als Sammelbände herausgegeben werden. »Wahrheit, Vernunft, Verantwortung« 1 Mit Pichts Bezug zu Heidegger befasst sich die Dissertation von Rolf Neumann (1994). ^ 303

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Kapitel 4: Georg Pichts Begriff von Humanökologie

(WVV 1969) enthält Arbeiten aus den 50er und 60er Jahren. Die beiden Bände »Hier und Jetzt« (HJ1,2 1980a/1981a) umfassen vor allem Arbeiten aus den 70er Jahren. 1971 erhält Picht von der Deut­ schen Bundesregierung den Auftrag, eine Kommission zu leiten, die ein Gutachten »Zur geeigneten Organisationsform der wissenschaft­ lichen Beratung der Bundesregierung in Umweltfragen« ausarbeitet (siehe HJ1, 9; Ell & Luhmann 1998). Im Rahmen einer vierjährigen interdisziplinären Arbeitsgruppe der FEST, die sich mit den ökologi­ schen Bedingungen für Frieden in der Welt befasst, entsteht der um­ fangreiche Essay »Ist Humanökologie möglich?« (IHM). IHM ist eine Einleitung zu den Grundthesen und Leitfragen der verschiede­ nen Beiträge, die in dem von Constanze Eisenbart herausgegebenen Sammelband »Humanökologie und Frieden« (HF 1979) erscheinen. Grössere philosophische Arbeiten publiziert Picht in den Jahren der Lehrtätigkeit nicht. Er arbeitet vielmehr vor allem an seinen Vor­ lesungen, die er als Grundlage für spätere Buchpublikationen dik­ tiert. Zu Lebzeiten erscheint nur die Vorlesung »Theologie - was ist das?« (Picht & Rudolph 1977). Die übrigen Vorlesungen werden posthum von Constanze Eisenbart und anderen im Rahmen einer Studienausgabe editiert.2 Zur akademischen Philosophie hält Picht Distanz. Engere philosophische Gesprächspartner und Freunde sind Carl Friedrich von Weizsäcker und Theodor W. Adorno.3 Die philosophische Interpretation der wissenschaftlich-techno­ logischen Zivilisation zum Zweck der Orientierungsstiftung erfolgt von einem philosophischen Standpunkt aus, den Picht bereits ent­ wickelt hat, bevor ihn die Umweltproblematik beschäftigt, und ist daher im philosophischen Gesamtwerk verankert. Die kritische Re­ konstruktion von Pichts Position beruht im wesentlichen auf dem über 100 Seiten umfassenden Essay »Ist Humanökologie möglich?« (IHM) sowie dem Heidegger gewidmeten Aufsatz »Zum Begriff des Masses« (BM) und dem Aufsatz »Utopie und Hoffnung« (UH). Für die Explikation gewisser Stellen werden auch Arbeiten aus dem übri­ gen Werk beigezogen. Schon vor IHM, nämlich seit Beginn der 70er 2 Es handelt sich um die folgenden Vorlesungen: »Kants Religionsphilosophie« (Picht 1985), »Kunst und Mythos« (Picht 1986), »Aristoteles' >De animac« (Picht 1987), »Nietzsche« (Picht 1988), »Der Begriff der Natur und seine Geschichte« (Picht 1989), »Platons Dialoge >Nomoic und >Symposionc« (Picht 1990), »Glaube und Wissen« (Picht 1991), »Zukunft und Utopie« (Picht 1992) sowie »Geschichte und Gegenwart« (Picht 1993). 3 Für Informationen zur Biographie von Georg Picht danke ich Constanze Eisenbart. 304

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4.1 Einleitung

Jahre, hat er sich mehrfach in Reden an die Öffentlichkeit zur Um­ weltproblematik geäussert und sich dabei bereits 1973 auch explizit auf »Die Grenzen des Wachstums« (Meadows et al. 1972) bezogen (siehe HJ2). Philosophische Fragen, die in diesen Reden teils nur berührt sind, arbeitet er in einem Aufsatz von nochmals gut 100 Seiten unter dem Titel »Ist eine philosophische Erkenntnis der poli­ tischen Gegenwart möglich?« (EG in HJ2, 230 ff.) aus. Dieser Aufsatz ist Picht zufolge als eine Fortsetzung von IHM zu verstehen (siehe HJ1, 10). Der Kernpunkt von Pichts Überlegungen zur Umweltproblema­ tik der technologischen Zivilisation betrifft die Rolle der Wissen­ schaft, zu der er zwei Thesen formuliert. Die erste These ist ein dop­ peltes Verdikt über die neuzeitliche Wissenschaft. Sie besagt, dass die am mechanistischen Weltbild orientierte Wissenschaft nicht nur als Hauptgrund für die anthropogene Gefährdung der Biosphäre heute anzusehen ist - er spricht davon, dass die neuzeitliche Naturwissen­ schaft die Natur zerstört -, sondern dass sie aus demselben Grund auch eine ungeeignete Wissensgrundlage zur Erhaltung der Biosphä­ re darstellt. Er kleidet diese doppelte These in die Frage, »ob das Wort >Wissenschaft< eine Denkform bezeichnet, die ihrer Struktur nach in unser Ökosystem nicht integriert werden kann« (HF, 22). Im Zen­ trum von Pichts Kritik steht der Wahrheitsanspruch der Wissen­ schaft (siehe HF, 22, 30, 37 f., 105), in diesem Falle insbesondere auch der naturwissenschaftlichen Ökologie.4 Nur am Rande thematisiert er auch technische, moralische oder gesellschaftliche Probleme wis­ senschaftsgestützten Handelns. Es ist allerdings unklar, ob sich Pichts These, dass die neuzeitliche Naturwissenschaft die Natur zerstört, auf die Erkenntnis selbst, auf das naturwissenschaftliche Forschungs­ handeln oder auf die gesellschaftliche Anwendung von Technik be­ zieht (siehe Hoyningen-Huene 1997). Picht strebt mit seiner Kritik ein positives Resultat an. Auf der Grundlage dieser Kritik soll sich ein Wissenschaftsbegriff und ein Wissenschaftsprogramm bestimmen lassen, das die nötige Wissens­ basis dafür liefert, wie Zivilisationen ohne Gefährdung der Biosphäre gestaltbar sind. Das Wissenschaftsprogramm nennt er »Human­ ökologie« (HF, 108). Der Essay will eine Antwort auf die Frage geben, 4 Wenn Picht von »Ökologie« spricht ist oft nicht klar, ob er die naturwissenschaftliche Ökologie meint, die die Natur zerstört, oder wahre Erkenntnis der Natur in seinem Sinne. ^ 305

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Kapitel 4: Georg Pichts Begriff von Humanökologie

ob eine derartige Wissenschaft - »Humanökologie« - möglich ist. Die Frage zielt auf die kognitiven Bedingungen einer solchen Wis­ senschaft. Darunter versteht er die ontologischen und erkenntnis­ theoretischen bzw. sprachphilosophischen Voraussetzungen (siehe Kapitel 4.2 und Kapitel 4.3.3). Die Antwort auf die Frage fasst er in einer zweiten These zusammen: Vernunft ist möglich als Gestalt des Lebens. Dieser Begriff des Lebens ist ein normativ interpretierter kontemplativer Naturbegriff. Picht will seinen Essay als einen Entwurf ohne Wahrheits­ anspruch verstanden wissen, der im besten Fall für das Verständnis des neuen Gebietes »Humanökologie« fruchtbar sein kann (HF, 18).5 Der Entwurfscharakter gilt sicher für die Ausführungen zur zweiten, positiven These über die Vernunft als Gestalt des Lebens, die den Hauptteil des Essays ausmachen. Die Ausführungen zur zweiten These sind jedoch nicht unabhängig von denjenigen zur ersten These. Denn die »Lösung«, die er in der zweiten These skizziert, ist durch seine Kritik an der neuzeitlichen Wissenschaft, die Gegenstand der ersten These ist, vorgezeichnet. Die Kritik an der neuzeitlichen Wis­ senschaft zieht sich als ein zentrales Thema durch Pichts gesamtes Philosophieren. Bereits in einer Veröffentlichung von 1954 zum Thema »Naturwissenschaft und Bildung« (NB), die auf einem Ge­ spräch mit Clemens Münster beruht, zieht er den Wahrheits­ anspruch der Naturwissenschaft in Zweifel: »Es könnte ja sein, dass das Denken der res cogitans dazu verdammt wäre, im Trug befangen zu sein. Dann müsste der Mensch sich einbilden, seine Natur­ erkenntnis sei wahr und gewiss und würde durch die Technik bestätigt, ob­ wohl er in Wahrheit in seiner Wissenschaft und Technik die Natur gerade verfehlen und verfälschen würde. Gibt es eine Garantie, dass unsere Natur­ wissenschaft im Sinne der Wahrheit der Natur denkt, oder dass unsere Tech­ nik im Sinne der Wahrheit der Natur handelt?« (NB, 41) 5 »Entwurf« ist bei Picht zwar ein terminus technicus, doch ist der Ausdruck hier wohl in seiner umgangssprachlichen Bedeutung gemeint. Die terminologische Bedeutung von »Entwurf« wird im Zusammenhang mit der Diskussion von Pichts Methode in Kap. 4.3.5 erläutert. Picht fährt an der zitierten Stelle fort, »dass die nicht ohne Zögern pu­ blizierte Skizze ... ihre philosophische Begründung in einem Buch [findet], das noch nicht abgeschlossen ist. Das Wichtigste kann nur angedeutet werden. Vieles wird unzu­ lässig verkürzt. Das musste mit dem hier gesetzten Rahmen in Kauf genommen wer­ den« (HF, 19 Fussnote). Zu diesem Buch ist es nicht mehr gekommen. Constanze Eisen­ bart bemerkt in der Einleitung zu HF, die vorliegende Fassung von IHM sei durch Carl Friedrich von Weizsäcker stark beeinflusst worden (siehe HF, 9 ff.), doch gehen die auf ihn zurückgehenden Überarbeitungen aus dem publizierten Text nicht hervor. 306

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4.1 Einleitung

Doch ist es in den 50er Jahren noch nicht die ökologische Krise, die Picht zu dieser Kritik veranlasst, sondern ein Wesensverlust, den der Mensch durch die Naturwissenschaft erleidet: »der Mensch droht unter der Herrschaft des naturwissenschaftlichen Denkens zum Funktionär, zum technischen Tier zu werden« (NB, 33 f.). Den Grund für diesen Wesensverlust sieht er darin, dass mit der cartesischen Unterscheidung von res cogitans und res extenso, einerseits das »Da­ sein des Menschen ... aus der Natur herausgehrochen« (NB, 38) wird, doch wird andererseits trotzdem »die alte griechische Lehre, die der ganzen ahendländischen Philosophie zugrunde liegt, >dass der Mensch darauf angelegt ist, die Wahrheit zu erkennen«« (NB, 38) aufrechterhalten. Seine Kritik erfolgt vom Standpunkt einer pla­ tonischen Erkenntnislehre und Ontologie aus, den er in einem 1958 gehaltenen Vortrag »Die Voraussetzungen der Wissenschaft« (siehe WVV, 11 ff.) weiter ausführt. Zu einer umfangreicheren geistes­ geschichtlichen und systematischen Ausarheitung der These, dass die neuzeitliche Naturwissenschaft die Natur zerstört, setzt er in sei­ ner zweisemestrigen Vorlesung »Der Begriff der Natur und seine Geschichte« vom Wintersemester 1973/74 und Sommersemester 1974 an (BNG 1989). Der Standpunkt der Kritik ist zugleich auch der Standpunkt der zweiten, nunmehr konstruktiven These zu Pichts Programm einer Humanökologie, das er auf die Formel hringt: »Vernunft ist möglich als Gestalt des Lehens«. Der Schwerpunkt der folgenden Ausführun­ gen liegt auf einer Auseinandersetzung mit der zweiten These, der der Essay IHM gewidmet ist. Der Einhezug der Kritik an der neuzeit­ lichen Wissenschaft in BNG und weiteren Vorlesungen sowie Auf­ sätzen erfolgt zur Explikation von Pichts erkenntnistheoretischer hzw. sprachphilosophischer und ontologischer Position. Pichts Standpunkt heruht auf einer Unterscheidung von Rich­ tigkeit und Wahrheit. Kapitel 4.2 hehandelt, wie er diese Unter­ scheidung in seiner Kritik am Naturhegriff der neuzeitlichen Wis­ senschaft erläutert. In Kapitel 4.3 geht es dann um die positive Konzeption von Natur als oikos, in der das Dasein des Menschen nicht aus der Natur herausgehrochen ist und die als Grundlage einer Humanökologie gedacht ist. Ich zeige zunächst, wie Picht den Begriff eines oikos als Gegenstandsverständnis der Ökologie einführt (siehe Kapitel 4.3.1) und analysiere dann seine drei verschiedenen Explika­ tionen dieses Begriffes: die naturwissenschaftliche (siehe Kapitel 4.3.2), die kommunikationstheoretische (siehe Kapitel 4.3.3) und die ^ 307

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Kapitel 4: Georg Pichts Begriff von Humanökologie

mythisch-religiöse (siehe Kapitel 4.3.4). Zweck dieser drei Explika­ tionen ist es, den deskriptiven Naturhegriff der naturwissenschaftli­ chen Ökologie üher eine kommunikationstheoretische Reinterpretation an den kontemplativen Begriff des oikos anzuschliessen, der aufgrund einer mythisch-religiösen Deutung zur normativen In­ stanz für die ökonomisch-technische Naturnutzung erklärt wird. Die Explikation dieser drei Naturheziehungen und ihre Vermittlung üherzeugen philosophisch jedoch nicht (siehe Kapitel 4.3.5), was sich in den Schwierigkeiten dieser drei Explikationen äussert. In Kapitel 4.4 diskutiere ich dann, was Pichts Antwort »Vernunft ist möglich als Gestalt des Lehens« zum Orientierungsprohlem der technologischen Zivilisation angesichts der Umweltprohlematik heiträgt.

4.2 Richtigkeit und Wahrheit 4.2.1 Die Kritik an der neuzeitlichen Wissenschaft In der Vorlesung »Der Begriff der Natur und seine Geschichte« hringt Picht seine Kritik an der neuzeitlichen Wissenschaft auf die Formel »Eine Wissenschaft, die die Natur zerstört, kann nicht wahr sein« (siehe BNG, 11, 17, 86, 123, 150, 152, 304, 309f., 313, 328). Diese Aussage erscheint der Sache nach in IHM wieder, allerdings nicht in der wörtlichen Formulierung und differenzierter. In IHM formuliert er seine These als Frage. Dahei präzisiert er, dass Gegen­ stand seiner Kritik nicht einzelne wissenschaftliche Aussagen oder Gesetze sind, und er deutet den Wahrheitshegriff an, von dem her er argumentiert: »Er [der Mensch] kann sich der Erkenntnis nicht mehr entziehen, dass die durch Technik vermittelten Projektionen des Logos in die Biosphäre diese ve­ rändern und oft destruieren, dass also der Logos selhst eine ökologische De­ terminante erster Ordnung ist. Diese Erfahrung muss zu einer Revolution im Selhstverständnis der Wissenschaft führen. Wir können nämlich jetzt der Frage nicht mehr ausweichen, oh die Wissenschaft als solche, ihr Theoriemo­ dell, ihre Axiome und die darin vorgezeichnete Stellung des Menschen zur Natur, ein Gefüge hat, das mit den Lehenshedingungen des Menschen in die­ ser selhen Natur im Einklang steht, oder oh das Wort >Wissenschaft< eine Denkform hezeichnet, die ihrer Struktur nach nicht in unser Ökosystem in­ tegriert werden kann.« (HF, 21 f., siehe 30f., 36 ff.)

Zwar spricht Picht hier ganz pauschal von Wissenschaft, doch hezieht 308

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4.2 Richtigkeit und Wahrheit

er sich nur auf die neuzeitliche Naturwissenschaft. Er begründet sei­ ne Kritik mit der Behauptung, dass die Wissenschaft die Natur de­ struktiv verändere, was er im Zitat mit den Formulierungen »Logos als ökologische Determinante« und »die durch Technik vermittelten Projektionen des Logos verändern und destruieren die Biosphäre« beschreibt. Das tatsächliche Zutreffen dieser Behauptung hält er wohl angesichts der Umweltproblematik für evident. Er will aufzei­ gen, dass diese Zerstörung eine Folge des an der newtonschen Physik orientierten neuzeitlichen Wissenschaftsverständnisses ist. Daher zielt die Kritik auf »Theoriemodell«, »Axiome« und »die durch Theoriemodell und Axiome vorgezeichnete Stellung des Menschen zur Natur«, also auf die ontologischen und erkenntnistheoretischen Annahmen der neuzeitlichen Naturwissenschaft. Die Kritik ist des­ halb auch ein umfassendes Verdikt über die neuzeitliche Wissen­ schaft als ein insgesamt verfehltes Unterfangen. Es werden nicht Un­ zulänglichkeiten aufgrund von Wissenslücken oder Wissensgrenzen moniert. Die Umweltproblematik muss nach Picht vielmehr zu einer »Revolution im Selbstverständnis der Wissenschaft« (HF, 21 f.; siehe 27) führen. In seiner kritischen Analyse der These, dass die neuzeitliche Naturwissenschaft die Natur zerstört, hat Hoyningen-Huene gezeigt, dass bei Picht unklar und mehrdeutig ist, was mit der neuzeitlichen Naturwissenschaft in dieser These gemeint ist: die na­ turwissenschaftliche Erkenntnis bzw. der damit verbundene Erkennt­ nisbegriff, das experimentelle Forschungshandeln oder die gesell­ schaftliche Technikanwendung. Diese Unklarheit ergibt sich daraus, dass Picht zwar neuzeitliche Wissenschaft und Technik als eine Ein­ heit versteht - darauf beruht die Kernaussage der These - jedoch nicht expliziert, wie diese Einheit zu verstehen ist (siehe HoyningenHuene, 104ff.). Picht bemerkt zu seiner These, »dass neuzeitliche Wissenschaft und Technik einschliesslich der industriellen Produkti­ on als eine Einheit zu betrachten ist« (BNG, 10) lediglich, sie beruhe darauf, »dass die neuzeitliche Gestalt des Wissens von seine Realisie­ rung nicht getrennt werden kann« (BNG, 10). Er führt dann mit diesem Argument die negativen Folgen der gesellschaftlichen Tech­ nikanwendung auf die ontologischen Voraussetzungen der neuzeit­ lichen Naturwissenschaft zurück: »Sie [die am Wissenschaftsbegriff der Neuzeit orientierten Menschen] be­ nutzen ihr >WeltbildEroberung< der Natur.« (WVV, 328)

Picht formuliert in BV auch den Gedanken von Jonas' Imperativ, und zwar mit den Worten: »Verantwortung für die Geschichte bedeutet, dass es dem Menschen aufgegeben ist, dafür zu sorgen, dass die Ge­ 6 Heidegger entwickelt diesen Wahrheitsbegriff bereits in §44 von SUZ (siehe Tugend­ hat 1969; Tugendhat 1967). 312

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4.2 Richtigkeit und Wahrheit

schichte im ganzen auch weiterhin Geschichte hleihen kann. Die so verstandene Verantwortung für die Geschichte ist mit der Verant­ wortung für die Erhaltung der Menschheit identisch.« (WVV, 332) Der entscheidende Unterschied zu Jonas besteht darin, dass es Picht um eine Verantwortung für die Möglichkeit in der Natur geht, und nicht um eine Verantwortung für die Möglichkeit des Menschen als imago Dei (siehe Kapitel 2.5.4). Picht stellt Natur in einen Transzen­ denzbezug, den er in die These fasst: »Natur ruht in der Zeit und enthält deshalb in sich die Möglichkeit, dass sich innerhalb der Natur Geschichte ereignen kann.« (WVV, 331). In Pichts »Fundamentalphilosophie als Philosophie der Zeit« (Theunissen 1983, 781) ist Zeit nicht der Konstitutionsraum des menschlichen Seinsverständnisses, sondern der Konstitutionsraum von Natur. Entsprechend behandelt Picht Verantwortung nicht als ein moralphilosophisches Problem. Zwar ist Picht der Auffassung, dass »Moral und Recht ... durch die Verweisungszusammenhänge konstituiert [sind], die wir unter dem Titel >Verantwortung< zu be­ schreiben versuchen« (WVV, 331), doch interessiert sich Picht für die Verweisungszusammenhänge und nicht für die dadurch konstituierte Moral. Beides gilt es zu unterscheiden, denn die »Verantwortung ist ... keine Sache des moralischen Bewusstseins, sondern sie ist in der Struktur der Geschehnisse vorgezeichnet (WVV, 325). Der Bezug zur moralischen Frage entsteht erst dadurch, dass die »Struktur der Sach­ verhalte . die Menschen, ob sie es wahrhaben wollen oder nicht, jenem Gefüge von Verweisungen, das die Verantwortung konstitu­ iert« (WVV, 325) unterwirft. Moralisches Handeln besteht nach Picht somit darin, sich dem Gefüge von Verweisungen, in dem ein Mensch steht, zu unterwerfen. Picht beschäftigt sich damit, dieses Gefüge aufzuweisen. An der Erkennbarkeit dieses Verweisungs­ zusammenhanges entscheidet sich die Antwort auf die Frage, ob Hu­ manökologie möglich ist. Picht entwickelt seine Gedanken dazu in kritischer Auseinander­ setzung mit dem neuzeitlichen Vernunftbegriff. So schreibt er in »Utopie und Hoffnung« (HF 438-457): »Die manifeste Destruktionsgewalt der partikularisierten Rationalität mo­ derner Wissenschaften zwingt uns zu fragen: >Wie ist Vernunft als solche möglich?< Der reale Gang der Geschichte hat uns darüber belehrt, wie sie nicht möglich ist: .In der Gestalt, wie sie von der neuzeitlichen Philosophie und Wissenschaft in Anspruch genommen wurde, ist Vernunft nicht möglich.« (HF, 439; kursiv im Original) ^ 313

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Kapitel 4: Georg Pichts Begriff von Humanökologie

Statt des neuzeitlichen Denkens fordert Picht eine »Denkform, die mit den Lehenshedingungen des Menschen in der Natur in Einklang steht« (HF, 22), die »ihrer Struktur nach in unser Ökosystem ... in­ tegriert werden kann« (HF, 22). Diese Forderung nimmt die schon 1954 formulierte Kritik an den Voraussetzungen des neuzeitlichen Wissenschaftshegriffes auf, dass das »Dasein des Menschen ... aus der Natur herausgehrochen« (NB, 38) ist (siehe Kapitel 4.1). Zur Präzisierung der Kritik - was es heissen soll, dass der Mensch als Mensch aus der Natur entweder herausgehrochen oder aher in sie integriert ist - rekurriert Picht in BNG auf die heideggersche Unter­ scheidung zwischen Richtigkeit und Wahrheit. Picht expliziert diese Unterscheidung jedoch auf eine eigene Weise. Das Wissen der neu­ zeitlichen Naturwissenschaft ist zwar richtig, aher nicht wahr. Rich­ tigkeit ist das Kriterium, nach dem wissenschaftliche Aussagen zu heurteilen sind. Richtigkeit ist für Picht ein relatives Kriterium. Aus­ sagen sind richtig relativ zum Bezugssystem, in dem sie formuliert und üherprüft werden. Wahrheit wird von Picht hingegen ahsolut verstanden, sie hetrifft das Bezugssystem der wissenschaftlichen Aussagen selhst und liegt dann vor, wenn den Phänomenen nicht Gewalt angetan wird. Diese Unterscheidung findet sich auch in IHM: »Wir hetrachten also jetzt das vierdimensionale Bezugssystem selhst, als oh es nichts als eine hestimmte Versuchsanordnung wäre. Wir stellen nicht in Frage, dass die Resultate, die unter Voraussetzung dieser Versuchsanordnung gewonnen werden, in Relation auf die Methodik der Beohachtung, die durch das selhe Bezugssystem vorgezeichnet ist, korrekt und jederzeit nachprüfbar sind. Aher es könnte trotzdem sein, dass die Versuchsanordnung als solche den Phänomenen Gewalt antut, und dass die ökologische Krise nichts anderes als der grosse Spiegel ist, in dem wir die Wirkungen dieser Vergewaltigung der Phänomene erkennen.« (HF, 37 f.)

Carl Friedrich von Weizsäcker, einer der wichtigsten philosophischen Dialogpartner Pichts, äussert sich zu Pichts Unterscheidung von Richtigkeit und Wahrheit folgendermassen: »Picht ühernimmt die wichtigsten Ergehnisse der Naturwissenschaft. Er er­ kennt die Naturwissenschaft ausdrücklich als richtig an, hestreitet ihr aher die Wahrheit. Mit dieser Art, Wahrheit und Richtigkeit zu unterscheiden, henützt er eine Redefigur, die meines Wissens erst in gewissen deutschen philosophischen Dehatten des heginnenden 20. Jahrhunderts aufgekommen ist. Dies ist etwas Anderes als die logische Unterscheidung zwischen der Wahrheit eines Satzes und der Richtigkeit, das heisst Regelgerechtheit einer Folgerung (die auch von einem falschen Satz auf einen falschen Satz schlies314

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4.2 Richtigkeit und Wahrheit

sen kann). Richtigkeit im von Picht (wohl in der Tradition Heideggers) be­ nützten Sinne hängt mit Urteilswahrheit zusammen, also mit Überprüfbar­ keit nach angegebenen Kriterien, Wahrheit in Pichts Sinne aber mit Wahr­ nehmung, also mit Offenheit über selbstgebaute Kriterien hinaus. Freilich erweisen sich in der Geschichte der philosophisch wachen Wissenschaft >richtige Unwahrheiten bei tieferer Reflexion wohl stets auch als unrichtig; daher vermeide ich als Physiker diese Sprechweise.« (v. Weizsäcker in BNG, XIV)

Es geht aus den Formulierungen Weizsäckers nicht hervor, ob ihm der zentrale Stellenwert dieser Unterscheidung bei Picht klar ist ob ihm also klar ist, dass er mit seiner Kritik die Grundlage der Pichtschen Philosophie in Zweifel zieht (siehe Kapitel 4.3.1 und 4.3.5).7 Picht verdeutlicht die von ihm gemeinte Differenz metaphorisch mit einem Mosaikbild, in dem die richtigen wissenschaftlichen Aus­ sagen den Mosaiksteinchen und die Wahrheit dem Bildentwurf des Künstlers entsprechen sollen, und formuliert mittels dieser Meta­ pher die folgende Kritik an der Wissenschaft: »Es ist nämlich der geheime Zweck der ganzen Produktion von Steinchen, das Bedürfnis nach dem Künstler durch die Massenproduktion von Steinchen zu ersticken und ihn durch Magazinverwalter zu ersetzen. Um dies zu erreichen, hat man das Vorurteil verbreitet, die korrekte Registratur und der exakte Schliff der Steinchen, also die Richtigkeit der Informationen, sei mit der Wahrheit identisch.« (BNG, 315)

Was Picht nun fordert ist nicht eine Kritik der einzelnen wissen­ schaftlichen Aussagen - der exakt geschliffenen Mosaiksteinchen -, sondern eine Kritik der transzendentalphilosophischen Begründung der neuzeitlichen Wissenschaft, womit »sich die Frage nach der Wahrheit der neuzeitlichen Naturwissenschaft auf die Frage nach der Wahrheit jenes Standortes der Erkenntnis zuspitzt, den die Phi­ losophie der Neuzeit durch den Begriff des Transzendentalen Subjektes< bezeichnet.« (BNG, 330) Indem Picht diese Aufgabe in die 7 In seinem Vortrag anlässlich einer Gedenkveranstaltung für Georg Picht 1983 an der Universität Heidelberg beschreibt Weizsäcker seine philosophischen Differenzen zu Picht nur metaphorisch: »Zunächst sei gesagt, dass ich mich mit ihm in einer von Jahr­ zehnt zu Jahrzehnt enger werdenden Solidarität gefühlt habe. Als er noch lebte, habe ich das einmal so ausgedrückt, dass ich auf meinem eigenen philosophischen Weg schliess­ lich, nicht immer auf derselben Seite des Wassers, nur Georg Picht als Begleiter gehabt habe.« (v. Weizsäcker 1998, 23) Explizit moniert er »rhetorische Figuren, die er [Picht] häufig als Herausforderungen und mit spontanem Affekt verwendet. Ich müsste meine eigene Lebensarbeit verraten, wenn ich dieser Rhetorik im Wortlaut zustimmen woll­ te.« (v. Weizsäcker 1998, 24) ^ 315

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Kapitel 4: Georg Pichts Begriff von Humanökologie

Frage kleidet: »Ist Humanökologie möglich?« möchte er zwar an die von Kant formulierte Aufgabe der Transzendentalphilosophie anschliessen. Auch Picht strebt eine »Untersuchung der Bedingungen der Möglichkeit^ also der immanenten Voraussetzungen, des >Rechtsgrundes< und, nicht zuletzt, der Grenzen der Wissenschaft als solcher« (HF, 22) an. Doch kleidet er diese Aufgabe nicht in die kantische Problemstellung, wie synthetische Urteile a priori möglich sind (Kant, KdrV, B73). Picht will diese Aufgabe nicht »als das ver­ stiegene Geschäft einer spekulativen Erkenntnistheorie« (HF, 22) verstanden wissen. Dass Picht zwar kantische Motive der Vernunftkritik, hingegen nicht die kantische Problemstellung übernimmt, hat mit seiner er­ sten These zu tun, die gerade den Ausgangspunkt von Kant in Frage stellt. Kant sah sich mit der euklidischen Geometrie und der newtonschen Physik als Wissenschaften von unbezweifelbarer Wahrheit konfrontiert und stellte sich angesichts dessen die Aufgabe, die Wahrheit dieser Erkenntnis zu begründen. Die von ihm angestrebte Lösung sollte zugleich zwei philosophische Gegenpositionen mitein­ ander versöhnen, den Rationalismus und den Empirismus. Kant klei­ dete diese Aufgabe in die Frage nach den notwendigen und hinrei­ chenden Bedingungen dafür, dass Menschen wahre Erkenntnis von der Natur haben können und bot eine transzendentalphilosophische Antwort auf diese Frage an: Raum und Zeit sowie die Kategorien sind apriorische Formen des menschlichen Erkenntnisvermögens. Sie sind als Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis von Seiten des er­ kennenden Subjektes zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Ge­ genstände der Erkenntnis. Mit dieser Antwort steckte Kant den Be­ reich menschlicher Erkenntnis ab und begründete Erkenntnis in einem Vermögen a priori zu erkennen. Picht zieht nun die Antwort Kants, den »Vorentwurf von Raum und Zeit, den wir ... allem, was in Raum und Zeit erkannt werden kann, zugrundelegen« (HF, 29) in Zweifel: »Das Raum-Zeit-Kontinuum ist das einfache Schema, das wir der Erklärung sämtlicher Phänomene im Universum zugrundelegen. Es dient uns als das Schema von Welt schlechthin, und alle übrigen Naturgesetze werden in di­ rektem oder indirektem Bezug auf dieses Schema formuliert. Die ökologische Krise gibt uns Anlass zu fragen, ob das Schema als solches wahr ist, oder ob wir durch es verführt werden, vermittelst der Technik in die Natur artifizielle >Systeme< hineinzuprojizieren, die sich mit dem inneren Bau unseres Oikos nicht vereinbaren lassen. Das ist der Grund, weshalb an dieser Stelle eine 316

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4.2 Richtigkeit und Wahrheit

Reflexion auf die Struktur des bei unseren Theoriebildungen vorausgesetzten Weltmodells und auf deren Verhältnis zur Struktur unserer Biosphäre nicht umgangen werden kann«. (HF, 30)

Nun ist Pichts Aufgabe aber auch insofern von derjenigen Kants ver­ schieden, als er kein Pendant zu Kants Ausgangspunkt - euklidische Geometrie und newtonsche Physik als Systeme wahrer Erkenntnis hat. Denn die Humanökologie, deren Möglichkeit es zu untersuchen gilt, ist ein Desiderat. Picht betont, dass die Biologie für seine Hu­ manökologie nicht diejenige Rolle einnehmen kann, die die newton­ sche Physik und die euklidische Geometrie für Kants Transzenden­ talphilosophie spielen. Picht distanziert sich vielmehr »von jenem Begriff der Ökologie, der heute mehr oder weniger explizit in der Biologie vorausgesetzt wird« (HF, 20) mit dem Argument, dass das Gegenstandsverständnis der naturwissenschaftlichen Ökologie der Aufgabe der von ihm programmatisch geforderten Humanökologie widerspricht: »Weil Ökologie durch ihren Logos immer aus dem menschlichen Oikos schon hinausversetzt ist, widersprechen sich die beiden Elemente dieses Be­ griffes: >oikos< und >logoshuman< bezeichnet ihre Unvereinbar­ keit. ... Das Grundproblem der Humanökologie ist deshalb nicht die Ökolo­ gie des Menschen als >zoonlogos< in das Gefüge seines Ökosystems. Humanökologie ist ... nur als eine Wissenschaft, die auf ihre eigenen Bedingungen reflektiert, sie ist nur als transzendentale Wissenschaft möglich. Menschen werden in ihrem Ökosystem nur überle­ ben können, wenn es ihnen gelingt, den >logosKritik der reinen Vernunft< ein Vorgang in der Natur ist« (BNG, 35), wobei mit »Natur« nicht der kantische Naturbegriff gemeint sein kann, sondern eine ihrerseits vernünftige Natur. »Vernunft« be­ zeichnet bei Picht »nicht ein Vermögen des Menschen sondern das Prinzip, das die Einheit des gesamten Kosmos begründet« (HF, 66). Picht versteht seine Frage als eine Iteration von Kants transzenden­ taler Hauptfrage in den Prolegommena »Wie ist Erkenntnis aus rei­ ner Vernunft möglich?« indem er fragt, wie Vernunft als solche möglich ist: »Wir denken aus dem Raum der zweiten Transzendenz. Wir sind deshalb genötigt, die transzendentale Frage zu iterieren und zu fragen: wie ist Ver­ nunft als solche möglich? Von der zweiten Transzendenz aus wird sichtbar, dass Kant die metaphysische Transzendenz in die reine Vernunft nur zurück­ gespiegelt hat, und dass die Projektionen der Metaphysik durch diese Rückspiegelung nicht aufgehoben werden. Sind diese Projektionen in ihrem transzendentalen Schein durchsichtig geworden, so lässt sich auf die Frage: Wie ist Vernunft als solche möglich? eine Antwort geben. Vernunft ist möglich als Gestalt des Lebens; das verstehen wir, wenn wir uns in der Anti­ zipation des Todes auch vom Leben distanzieren.« (HF, 121 f., siehe 439)

Mit dieser »zweiten Transzendenz« - einer Ewigkeit in der Zeitlich­ keit als Vernunft in der Natur - will Picht Subjektivität und Meta­ physik bewahren. Denn, wie Theunissen bemerkt, ist für »den anti­ platonischen Platoniker Picht, der Phaidon und Politeia, meditatio mortis und Staatsutopie noch einmal und womöglich enger inein­ ander reflektiert, ... Metaphysik, als die Wurzel des Übels der Ge­ genwart, ebensowohl die Quelle der Wahrheit, aus der er seine Kraft schöpfen zu dürfen glaubt« (Theunissen 1983, 787). Ewigkeit soll jedoch nach Picht nicht als selbständige Ideenwelt gedacht werden, sondern als Verweisungszusammenhang in der Natur. Daher lautet Pichts Antwort: Vernunft ist möglich als Gestalt des Lebens. Die Fra­ gestellung, in die Picht die zu klärende Aufgabe kleidet, lautet, »wie die Rationalität der Wissenschaft >behaustTimaios< ist so gebaut, dass das Gebäude der Gedanken ein genaues Abbild des Gebäudes des Kosmos, und dass die literarische Darstellung ein genaues Abbild des Gedankengebäu­ des ist.« (HF,30f.)

So lautet dann bei Picht das Kriterium für Wahrheit - nicht für Rich­ tigkeit - der Erkenntnis: »Wir können in unseren Projektionen Wahrheit erkennen, wenn unsere Projektionsschemata dem inneren Bau der Phänomene in der Natur adäquat sind.« (HF, 87) Von daher ergibt sich auch das Verdikt über naturwissenschaftliche Erkenntnis, die Picht hier als »unser Denken« bezeichnet: »Nennt man den Sach­ verhalt das Wahre und unterscheidet man ihn vom Bild, so könnte man sagen: wahr ist, was mit unserem Denken nicht überein­ stimmt.« (HF, 105; kursiv im Original) Daran schliesst Picht seine Kernthese zur Umweltproblematik an, dass »die ökologische Krise ... entstanden [ist], weil die Menschen der Umwelt die Gesetze ihrer Logik oktroyieren wollten.« (HF, 105). In Pichts Abbildtheorie sind allerdings die Positionen von Bewusstsein und Sprache umgekehrt wie üblich: Natur bildet sich in Sprache ab, auf die sich dann das subjektive Bewusstsein bezieht. Der entscheidende Punkt nach Picht ist also nicht, ob der sprachliche Ausdruck die Abbilder der Wirklich­ keit im Bewusstsein richtig wiedergibt, sondern ob das Denken die korrekten Abbilder der Wirklichkeit in der Sprache seinerseits kor­ rekt erfasst. Denn in der »Sprache spiegeln sich ... alle jene Verhältnisse wider, die wir durch eine Analyse der Ökosysteme aufdecken können. Das ist für eine Untersuchung der Ökologie der Menschen von schwer abzuschätzender Bedeutung. Denn unser Denken ist an die Sprache gebunden. Wenn Sprache die Verhältnisse des Oikos widerspiegelt, in dem sie gesprochen und verstanden wird, so gilt das Gleiche auch vom Denken. Freilich wird das Denken durch diese Einsicht gezwungen, jene absolute Wahrheit und uneingeschränkte Souveränität preiszugeben, die es einstweilen noch in Anspruch nimmt.« (HF, 76)

Picht lässt nun aber auch in dieser These das Verhältnis von Wahr­ heit und Richtigkeit unklar. Ist mit der Preisgabe der uneinge­ schränkten Souveränität und der absoluten Wahrheit gemeint, dass richtige Erkenntnis noch einer Metaprüfung bezüglich ihrer Wahr320

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4.2 Richtigkeit und Wahrheit

heit bedarf, so dass man richtige Erkenntnis, die auch wahr ist, von richtiger Erkenntnis, die dies nicht ist, unterscheiden muss? Oder bezieht sich wahre Erkenntnis gar nicht auf richtige Erkenntnis? Oder ist mit wahrer Erkenntnis eine weitere Reflexion oder Inter­ pretation richtiger Erkenntnis gemeint? Picht äussert sich zu dieser Frage unterschiedlich. Grundsätzlich ist er jedoch der Auffassung, dass wahre Erkenntnis nicht von richtiger Erkenntnis abhängt (siehe Kapitel 4.3.1) - im Gegenteil. Denn, wie er in dem Aufsatz »Ist eine philosophische Erkenntnis der politischen Gegenwart möglich?« (EG), der IHM fortsetzt, schreibt, werden »Fakten ... dadurch ge­ wonnen, dass man die Phänomenalität der Gegenwart, die ich be­ schrieben habe, destruiert« (HJ2, 238). Trotzdem bezieht er sich auf die Begrifflichkeit der Wissenschaften, um die Natur als Phänomen in seinem Sinne zu erläutern (siehe Kapitel 4.3). Allerdings werden die wissenschaftlichen Ausdrücke von Picht dabei radikal umgedeu­ tet. Ich komme auf dieses Problem nach der Rekonstruktion von Pichts Explikationen der Formel der »in der Allgemeinheit der Ge­ setze fundierten Einmaligkeit von Situationen« in Kapitel 4.3.5 zurück. In Pichts Abbildtheorie wird die Erkenntnis der Wahrheit zu einem sprachphilosophischen Problem. Von dieser Abbildtheorie ist wohl auch das Grundpostulat von Pichts philosophischer Methode motiviert, über Sprachexplikation lasse sich erkennen, wie sich die Natur von sich her zeigt. Die zentrale Frage ist dann aber, in welcher Weise sich ontologische Strukturen in der Sprache spiegeln. Klar ist, dass es sich dabei nicht um logische Strukturen der Sprache handeln kann, da Picht die Destruktion der Natur auf die Projektion der Logik in die Natur zurückführt. Logische Strukturen sind somit nicht Spie­ gelungen von Strukturen der Natur in der Sprache. Nun äussert sich Picht aber nur dazu, was er unter den Strukturen der Natur versteht, die es zu erkennen gilt, und nicht, wie diese sich in der Sprache spie­ geln. Was es zu erkennen gilt, sind Massverhältnisse: »Ökologie ist die Erkenntnis der spezifischen Massverhältnisse und Struktu­ ren von Umwelten, die in spezifischen Situationen sich herausgebildet haben oder möglich sind. Humanökologie ist die Erkenntnis davon, wie Menschen innerhalb dieser Umwelten ihren eigenen Oikos so bauen können, dass er die Umwelt, aus der er lebt, nicht zerstört.« (HF, 108)

Ich werde auf dieses Zitat im Rahmen der mythisch-religiösen Expli­ kation der »in der Allgemeinheit der Gesetze fundierten Einmalig­ ^ 321

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Kapitel 4: Georg Pichts Begriff von Humanökologie

keit von Situationen« eingehen (siehe Kapitel 4.3.4). Hier möchte ich zunächst nur darauf aufmerksam machen, dass Picht den Ausdruck »Mass« sowohl in einem deskriptiv-analytischen Sinne für Struktu­ ren von Umwelten verwendet, als auch in einem normativen Sinne zur Bestimmung dessen, wie der menschliche oikos zu hauen ist. Es handelt sich hier also um eine naturalistische Bestimmung des Gu­ ten.8 Pichts Formel »Oikos des Logos« für die Prohlemstellung, oh Humanökologie möglich ist, muss deshalh in theoretischer und in praktischer Hinsicht ausgelegt werden. Denn Pichts Antwort »Ver­ nunft ist möglich als Gestalt des Lehens« auf die Frage nach dem »Oikos des Logos« soll die Grundlage der theoretischen und der praktischen Vernunft angehen. Picht hat sich mit dieser Prohlemstellung eine vierfache Aufgahe gestellt. Er muss erstens hestimmen, was der oikos, das wahre Sein, ist. Zweitens muss er die von ihm hehauptete Nicht-Ühereinstimmung des menschlichen logos mit dem wahren Sein erklären. Drittens muss er zeigen, unter welchen Bedingungen eine Ühereinstimmung des logos mit dem oikos erreicht werden kann, und was Kriterien der Ühereinstimmung sind. Viertens hat er schliesslich das Verhältnis von menschlicher Vernunft und Natur nicht nur darauf­ hin zu hestimmen, oh und wie wahres Wissen von der Natur möglich ist, sondern auch hezüglich der Legimation normativer Orientierun­ gen für menschliches Handeln. Indem der oikos jedoch als das wahre Sein und als die normative Instanz verstanden wird, heinhaltet die Lösung der ersten Aufgahe hereits den Ansatz zur Lösung der ührigen Aufgahen. Die folgende Untersuchung heschränkt sich auf eine Rekonstruktion und Kritik von Pichts Naturphilosophie. Erkenntnis­ theoretische hzw. sprachphilosophische Fragen werden nur, wo dafür nötig, gestreift. 4.2.2 Richtigkeit und Wahrheit: Zusammenfassung Der Kernpunkt von Pichts Üherlegungen zur Umweltprohlematik der technologischen Zivilisation hetrifft die neuzeitliche Naturwis­ 8 In dieser normativen Verwendung von Ökologie als Humanökologie hesteht wieder­ um ein Bezug zu Platon. Denn auch hei Platon dient Naturphilosophie nicht der Er­ kenntnis der Natur um ihrer selhst willen, sondern der gängigen Platon-Interpretation folgend zur Bestimmung des guten Lehens im Staat (siehe Martens 1989; Schäfer 1993h; Brisson 1996). 322

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4.2 Richtigkeit und Wahrheit

senschaft, zu der Picht die These vertritt, dass es sich hier um »eine Denkform ... [handelt], die ihrer Struktur nach in unser Ökosystem nicht integriert werden kann« (HF, 22). Diese Kritik trifft auch die naturwissenschaftliche Ökologie. Daher sieht er in der neuzeitlichen Naturwissenschaft nicht nur den Grund der Umweltprohlematik, sondern sie ist zudem als Wissensgrundlage zur Vermeidung hzw. Verminderung von Umweltprohlemen ungeeignet. Diese Interpreta­ tion der wissenschaftlich-technologischen Zivilisation zum Zweck der Orientierungsstiftung erfolgt von einem Standpunkt aus, den Picht hereits entwickelt hat, hevor ihn die Umweltprohlematik heschäftigt. Seine Kritik der ontologischen und erkenntnistheoreti­ schen Voraussetzungen der neuzeitlichen Naturwissenschaft ist von Heideggers Begriff von Wahrheit als Unverhorgenheit inspiriert: Das Wissen der neuzeitlichen Naturwissenschaft ist richtig, aher nicht wahr, und deshalh zerstört die neuzeitliche Naturwissenschaft die Natur. Picht zielt daher auf eine Erkenntnis dessen, wie sich die Na­ tur von sich her zeigt. Anhand der Umweltprohlematik wird diese wissenschaftskritische These motiviert und plausihilisiert. Seine wis­ senschaftsphilosophischen Untersuchungen hefassen sich mit den ontologischen und erkenntnistheoretischen hzw. sprachphilosophischen Voraussetzungen eines Wissenschaftsprogrammes, das er »Humanökologie« (HF, 108) nennt. Sie gipfeln in der These: Ver­ nunft ist möglich als Gestalt des Lehens. Dieser Begriff des Lehens Picht spricht auch von oikos - ist ein normativ interpretierter kon­ templativer Naturhegriff. Dies hedeutet, dass die kontemplative Naturheziehung der naturwissenschaftlich-ökologischen und der öko­ nomisch-technischen Naturheziehung entgegengesetzt und diesen ühergeordnet wird, wohei zwischen den heiden letzten, insofern sie wissenschaftlich hegriffen werden, nicht differenziert wird. Die Unterscheidung von Wahrheit und Richtigkeit geht auf Heidegger (1962) zurück. Mit dem Wahren ist nicht die Wahrheit von Sätzen üher das, was vorliegt gemeint - das ist vielmehr das Richtige -, sondern wie sich die Dinge an ihnen selhst oder von sich her zeigen. Dieses sich Zeigen geschieht nun Picht zufolge in der Zeit als Konstitutionsraum und Verweisungsgefüge von Natur, nicht des menschlichen Selhstverständnisses. Vielmehr unterwirft die »Struk­ tur der Sachverhalte . die Menschen, oh sie es wahrhahen wollen oder nicht, jenem Gefüge von Verweisungen, das die Verantwortung konstituiert« (WVV, 325). An der Erkennharkeit dieses Verwei­ sungszusammenhanges entscheidet sich die Antwort auf die Frage, ^ 323

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Kapitel 4: Georg Pichts Begriff von Humanökologie

ob Humanökologie möglich ist. Picht schliesst somit an kantische Motive der Vernunftkritik an, doch stellt er gerade den Ansatz von Kant, nämlich die Begründung der neuzeitlichen Naturwissenschaft in einem transzendentalen Subjekt, in Frage. Pichts Ansatz besteht in einer Abbildtheorie der Wahrheit, die besagt, dass sich die Strukturen der Natur in den Strukturen der Sprache spiegeln, wobei die Natur in sich vieldimensional ist. Doch bleibt dabei die Antwort aus, aufgrund welcher Kriterien Wahrheit von Falschheit und von blosser Richtigkeit bzw. Unrichtigkeit unter­ schieden werden kann, wann wir »in unseren Projektionen Wahrheit erkennen, [wann] unsere Projektionsschemata dem inneren Bau der Phänomene in der Natur adäquat sind« (HF, 87). Picht vertritt dazu die These, dass sich Natur in Sprache abbildet, auf die sich dann das subjektive Bewusstsein bezieht. Der entscheidende Punkt nach Picht ist also nicht, ob der sprachliche Ausdruck die Abbilder der Wirklich­ keit im Bewusstsein richtig wiedergibt, sondern ob das Denken die korrekten Abbilder der Wirklichkeit in der Sprache seinerseits kor­ rekt erfasst. Die Erkenntnis der Wahrheit wird damit methodisch zu einer Aufgabe der Sprachexplikation - Pichts philosophischer Me­ thode. Er äussert sich allerdings nicht dazu, wie sich ontologische Strukturen in der Sprache spiegeln, sondern nur dazu, was er unter den Strukturen der Natur versteht, die es zu erkennen gilt. Was es zu erkennen gilt, sind Massverhältnisse. Diese werden sowohl in einem deskriptiv-analytischen Sinne für Strukturen von Umwelten ver­ wendet, als auch in einem normativen Sinne zur Bestimmung des­ sen, wie der menschliche oikos zu bauen ist. Der Entwicklung dieser ontologischen These dient die Explikation des oikos als wahres Sein.

4.3 Der oikos als das wahre Sein 4.3.1 Die Bestimmung des oikos als die »in der Allgemeinheit der Gesetze fundierte Einmaligkeit von Situationen« Zur Bezeichnung des wahren Seins verwendet Picht die Ausdrücke »Natur«, »oikos«, »Leben« und »Ökosystem«. Was er damit meint, entwickelt er aus den terminologischen Bedeutungen, die er den Ausdrücken »oikos« und »Leben« gibt. Die übrigen Ausdrücke ver­ wendet er synonym damit. Da oikos und Leben unmittelbar Gegen­ stand der Ökologie sind, präzisiert Picht diese Bedeutungen auch 324

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4.3 Der

oikos

als das wahre Sein

über die Definition bzw. Gegenstandsbestimmung von »Ökologie«. Picht führt seine erste Bestimmung von »oikos« an einem Beispiel ein: »Die Biosphäre unseres Planeten konnte so, wie wir sie kennen, nur entste­ hen, weil die Erde sich auf einer elliptischen Bahn um die Sonne bewegt, von der sie diesen und keinen anderen Abstand hat, und weil sie mit einer be­ stimmten Achsenstellung um sich selbst rotiert. Auch die Erde hat also im Universum ihren Oikos, und alles, was wir ihr >Leben< nennen, ist durch die spezifischen und einmaligen Verhältnisse in diesem Oikos bestimmt. Wir wissen nicht, ob in anderen Regionen des Universums ebenfalls Leben ent­ standen ist, entsteht oder entstehen wird. Aber es folgt aus allgemeinen Ge­ setzen der Physik, dass die Verschiedenheit der >Lagen< gerade, weil die Ge­ setze die gleichen sind, verschiedene Gestaltungen hervorbringen muss. Kein Oikos kann mit dem anderen identisch sein.« (HF, 24f.)

Es irritiert, dass Picht bei der Einführung des Begriffes oikos auf die Naturwissenschaften Bezug nimmt, die ja ihm zufolge nur Richtiges aber nichts Wahres erkennen. Er bezeichnet als oikos die Kombinati­ on der spezifischen und einmaligen kosmologischen Faktoren für die Entstehung der Erde als Biosphäre. Unter oikos ist diesem Beispiel zufolge also das natürliche Bedingungsgefüge für die Genese von Leben zu verstehen. Sowohl von den oikoi als auch von den durch sie bedingten Prozessen wird behauptet, dass sie alle voneinander verschieden sind. Es stellt sich hier die Frage, ob Picht die behauptete Nicht-Identität logisch meint - was für einen oikos gilt, kann für keinen anderen gelten - oder ob er diese Behauptung metaphysisch versteht - es gibt keine zwei vollkommen gleiche oikoi. Für ein me­ taphysisches Verständnis spricht die unmittelbar anschliessende De­ finition von »Ökologie«: »Ökologie ist demnach die Lehre von der in der Allgemeinheit der Gesetze fundierten Einmaligkeit von Situatio­ nen.« (HF, 25) Über oikoi wird in dieser Definition von »Ökologie« nun gesagt, dass es sich um Situationen mit Einmaligkeitscharakter handle, wobei dieser Einmaligkeitscharakter fundiert sei in der All­ gemeinheit der Gesetze. Explikationsbedürftig an dieser Definition ist das behauptete Fundierungsverhältnis von Allgemeinheit und Einmaligkeit, wofür dann die Ausdrücke »Allgemeinheit« und »Ge­ setze« sowie »Einmaligkeit« und »Situation« erläuterungsbedürftig werden. Pichts Aufsatz »Ist Humanökologie möglich?« ist im wesentli­ chen eine Explikation dieser Definition von »Ökologie«, die er dann mit einer Definition von »Humanökologie« abschliesst. Der Altphi­ ^ 325

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Kapitel 4: Georg Pichts Begriff von Humanökologie

lologe Picht äussert sich in IHM nicht zu seiner philosophischen Me­ thode, die sich darin konkretisiert, die Frage, oh Humanökologie möglich ist, üher eine Entwicklung von Begriffsexplikationen zu heantworten und damit einen Erkenntnisanspruch auf Wahrheit zu ver­ hindern Die Legitimation dazu muss wohl in Pichts Widerspiege­ lungsthese der Natur in Sprache gesucht werden, auf die in Kapitel 4.3.3 eingegangen wird, sowie auf die Unterscheidung von Richtig­ keit und Wahrheit von Erkenntnis (siehe Kapitel 4.2.1). Der methodische Grundgedanke hesteht darin, wissenschaft­ liche Terminologie zu reinterpretieren und zwar im Sinne wahrer Erkenntnis davon wie sich Natur uns zeigt, wenn sie sich von sich her zeigt. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass wahre Erkenntnis von hloss richtiger, also naturwissenschaftlicher Erkenntnis ahhängt. Vielmehr hehauptet Picht implizit eine Ahhängigkeit der Wissen­ schaft als Information von der Philosophie als der Ressource elemen­ tarer Weltkenntnis. Er vertritt nämlich die These, dass auch heute noch wahr sein könnte, was ein Philosoph wie Heraklit »erkannt hat und zu sagen versuchte« (BNG, 311). Soll die These Sinn machen, dann muss mit dem Gegenstand der Erkenntnis »eines Philosophen wie Heraklit« etwas gemeint sein, das zumindest nicht Gegenstand der Naturwissenschaften ist. Picht sieht die wissenschaftliche und die philosophische Erkenntnis in einem hierarchischen Verhältnis hesonderer Art, das er an der Metapher des Mosaikhildes erläutert (siehe BNG, 311-314; Kapitel 4.3.5). Philosophie, für die der künstlerische Entwurf steht, ist unahhängig von der Naturwissenschaft und kann die Naturwissenschaft, die als Magazin von Steinchen in dieser Me­ tapher vorkommt, korrigieren. Um diese Methode kritisch erörtern zu können ist es sinnvoll, zuerst ihren Gehrauch vorzuführen. Picht entwickelt in IHM nach­ einander drei verschiedene Explikationen dessen, was er unter einem oikos als »der in der Allgemeinheit der Gesetze fundierten Einmalig­ keit von Situationen« versteht. Die erste Explikation rekurriert auf die Naturwissenschaft, die zweite stützt sich auf eine von ihm selhst vorgeschlagene Kommunikationstheorie und die dritte ist eine my­ thisch-religiöse Deutung unter Rekurs auf die Philosophiegeschichte. Picht äussert sich nicht zum Verhältnis dieser drei Explikationen. Ich sehe die Funktion der ersten Explikation in der Plausihilisierung von Pichts inhaltlichen Thesen, mit der er den Anschluss an einen de­ skriptiven Naturhegriff im Sinne der naturwissenschaftlichen Öko­ logie sucht. Die erste Explikation wird jedoch erst mit der zweiten 326

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4.3 Der

oikos

als das wahre Sein

Explikation nachvollziehbar, in der Picht seine Ontologie skizziert. Die dritte Explikation dient dazu, die ontologischen Strukturen als ein sich Zeigen der Natur von sich her im Sinne eines normativ ge­ wendeten kontemplativen Naturhegriffes zu interpretieren. Ich re­ konstruiere zunächst diese Explikationen in Kapitel 4.3.2 bis Kapitel 4.3.4 und gehe dann auf Pichts philosophische Methode in Kapitel 4.3.5 ein. 4.3.2 Die naturwissenschaftliche Explikation der »in der Allgemeinheit der Gesetze fundierten Einmaligkeit von Situationen« Picht erläutert seine Einführung von Ökologie als »die Lehre von der in der Allgemeinheit der Gesetze fundierten Einmaligkeit von Situa­ tionen« folgendermassen: »In diesem Sinne ist sie [die Ökologie] die >Topologie< bestimmter Struktu­ ren, Verhältnisse und Zustände im Raum. Wie immer es um die Evolution von Lehen in anderen Gegenden des Universums bestellt sein mag - was wir im Erfahrungsbereich unserer Biosphäre und ihrer Geschichte >Lehen< zu nennen pflegen, gibt es, gerade wenn im ganzen Universum die Naturgesetze herrschen, nur einmal.« (HF, 25)

Wenn Picht seine Ökologie als »Topologie« bezeichnet, dann wohl in der Absicht, den Ausdruck »Situationen« in seiner Definition als räumliche Anordnungen oder Lageverhältnisse zu umschreiben. Ökologie soll jedoch nicht als eine Spezialdisziplin der Geometrie aufgefasst werden. Denn es ist vom geographischen bzw. kosmo­ logischen Raum die Rede, nicht vom geometrischen. Picht bezieht »oikos« auf Situationen jeglicher Grössenordnung, angefangen von der Makrosituation Universum bis zu Mikrosituationen, beispiels­ weise einem bestimmten geographischen Ort auf der Erde. In einem oikos laufen Prozesse ab, die durch den oikos, d. h. diese bestimmten Strukturen, Verhältnisse und Zustände, bestimmt sind. Solche Pro­ zesse in einem oikos nennt Picht Leben: »Auch die Erde hat ... im Universum ihren Oikos, und alles, was wir ihr >Leben< nennen, ist durch die spezifischen und einmaligen Verhältnisse in diesem Oikos bestimmt.« (HF, 24f.) Diese Explikation erinnert zunächst in gewisser Hinsicht an den wissenschaftlichen Begriff des Ökosystems. Doch meint Picht mit Leben in einem oikos keinen dynamischen Zusammenhang von Zu­ ^ 327

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standsvariablen wie das für ein Ökosystem gilt (siehe Kapitel 1.1), sondern den biographischen Prozess eines Individuums. Entspre­ chend der undifferenzierten Spanne von Makro- bis zu Mikrooikoi spricht Picht in gleicher Weise vom Lebensprozess der Erde insge­ samt und vom Lebensprozess eines Organismus. Der Lebensprozess der Erde insgesamt ist dabei analog zum Lebensprozess eines Orga­ nismus als biographischer Prozess zu verstehen, wobei Picht die Be­ rechtigung dieser Analogie nicht diskutiert. Picht verwendet auch den Ausdruck »Geschichte« anstatt »Lebensprozess«, wobei dieser Ausdruck bei ihm die terminologische Bedeutung von »Biographie« hat: »Der >Lebensstrom< hat, wie die Biographie des Einzelnen, seinen Anfang und sein Ende. Stellt man seinen Verlauf als eine Kurve dar, so entspricht jedem Punkt der Kurve ein einmaliger unwiederholbarer Zustand der gesam­ ten Biosphäre. Wir nennen einen Verlauf, der durch die Einmaligkeit jeder seiner Phasen charakterisiert ist, >GeschichteLehen< nennen, ist durch die spezifischen und einmaligen Verhältnisse in diesem oikos hestimmt. Wir wis­ sen nicht, oh in anderen Regionen des Universums ehenfalls Lehen entstan­ den ist, entsteht oder entstehen wird. Aher es folgt aus allgemeinen Gesetzen der Physik, dass die Verschiedenheit der >Lagen< gerade, weil die Gesetze die gleichen sind, verschiedene Gestaltungen hervorhringen muss. Kein Oikos kann mit dem anderen identisch sein. Ökologie ist demnach die Lehre von der in der Allgemeinheit der Gesetze fundierten Einmaligkeit von Situatio­ nen. In diesem Sinne ist sie die >Topologie< hestimmter Strukturen, Verhält­ nisse und Zustände im Raum. Wie immer es um die Evolution von Lehen in ^ 329

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Kapitel 4: Georg Pichts Begriff von Humanökologie

anderen Gegenden des Universums bestellt sein mag - was wir im Erfah­ rungsbereich unserer Biosphäre und ihrer Geschichte >Leben< zu nennen pfle­ gen, gibt es, gerade wenn im ganzen Universum die gleichen Naturgesetze herrschen, nur einmal.« (HF, 24f.)

Die Argumentation zielt darauf ab, die Individualität von oikoi zu begründen. Mit der Individualität eines oikos soll dann auch die In­ dividualität der in einem oikos stattfindenden Prozesse - genannt Leben - gegeben sein. Der Kern der Argumentation ist in der Aus­ sage enthalten, es folge aus allgemeinen Gesetzen der Physik, dass die Verschiedenheit der »Lagen«, weil die Gesetze die gleichen sind, verschiedene Gestaltungen hervorbringen müssen. Es geht aus dem Kontext nicht eindeutig hervor, ob mit »Gestaltungen« an dieser Stelle oikoi oder Lebensprozesse gemeint sind. Dies ist jedoch in die­ sem Zusammenhang auch nicht von Bedeutung, da Picht gleich an­ schliessend auch für die Prozesse in einem oikos dasselbe Verhältnis behauptet: »Wir nennen einen Verlauf, der durch die Einmaligkeit jeder seiner Phasen charakterisiert ist, >GeschichteGeschichte< genannt haben.« (HF, 25)

Diese terminologische Festsetzung von »Ökologie« benützt zur Ex­ plikation von »Natur« als Geschichte erstaunlicherweise die als un­ wahr kritisierten Komponenten des mechanistischen Weltbildes, nämlich den Gesetzescharakter von Natur, der das raum-zeitliche Bezugssystem voraussetzt. Dies gilt auch für die zweite Argumenta­ tion: »Einmaligkeit beherrscht nicht nur die Makrozustände; sie durchdringt das gesamte System bis in seine kleinsten Elemente. Aus allgemeinen Gesetzen der Physik leitet sich ab, dass an jedem Ort auf der Erdoberfläche, in jeder Gegend, in jeder Region verschiedene Verhältnisse herrschen müssen. Die Verschiedenheit der Lagen auf der Erdoberfläche begründet nach allgemeinen Gesetzen, dass die Gegenden in verschiedenen Klimazonen und in unter­ schiedlichen Höhenlagen verschiedenen atmosphärischen Bedingungen aus­ gesetzt sind. Die Relation zu den Luft- und Meeresströmungen, die Ent­ fernung vom Meer oder von Gebirgen, die Verschiedenartigkeit der Gesteinsarten und vieler anderer Faktoren begründet schon rein physikalisch, dass die Bedingungen, unter denen sich Leben entfaltet, gerade wegen der 330

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4.3 Der

oikos

als das wahre Sein

Allgemeinheit der Gesetze auf jedem Fleck der Erde verschieden sein müssen. Entsprechend der geographischen Verschiedenheit sind auch Flora und Fauna in allen Gegenden der Erde trotz der egalisierenden Tendenzen unserer heu­ tigen Zivilisation verschieden. Jede Region lässt einmalige Symbiosen ver­ schiedener Populationen entstehen. Das führt zur Ausbildung von Einmalig­ keit in jedem einzelnen Organismus. ... Je grösser die Zahl der allgemeinen Determinanten ist, die in die Konstitution eines Organismus eingehen, je höher sich also die Arten differenzieren, desto komplexer und reicher entfal­ tet sich Individualität. Darin manifestiert sich jenes grosse Grundprinzip der Natur, das die Physik trotz Leibniz bisher vernachlässigt hat: das »principium individuationis«. Es steht zur Allgemeinheit der Naturgesetze nicht im Wi­ derspruch, sondern wird durch sie begründet. Wie aus den Axiomen der Zah­ lentheorie folgt, dass jede Zahl ein einmaliges Individuum mit einmaligen Eigenschaften ist, so folgt aus den allgemeinen Naturgesetzen, dass überall in der Natur das »principium individuationis« herrscht.« (HF, 25 f.)9

Die zweite Argumentation legt nahe, dass unter einem oikos - der in der ersten Argumentation als »bestimmte Strukturen, Verhältnisse und Zustände im Raum« definiert worden war - die physikalischen, chemischen etc. Bedingungen an einem bestimmten geographischen Ort (unterschiedlicher Grössenordnung) zu verstehen sind. Die Be­ hauptung von Picht ist nun, dass diese Bedingungen in jedem oikos verschieden sind, weil erstens jede Situation eine andere Lage im Raum hat, und weil zweitens die für die Ausprägung der physika­ lischen u. a. Bedingungen relevanten Naturgesetze universell sind und den Raum als Bezugssystem voraussetzen. In beiden Argumen­ ten bleibt jedoch die Begründung von Pichts Kernthese, dass Natur individuiere, unklar. Dazu ist der Rekurs auf die neuzeitliche Natur­ wissenschaft, auf die Leibnizsche Ontologie und auf die Zahlentheo­ rie zu pauschal. Denn es ist beispielsweise nicht unmittelbar einsich­ tig, wie ein »principium individuationis« als »Grundprinzip der Natur«, das in der philosophischen Tradition immer nur im Rahmen einer Substanzontologie formuliert wurde, durch »die Allgemeinheit der Naturgesetze« begründet wird, wenn dabei unter »Natur« ein universeller gesetzmässiger Zusammenhang im neuzeitlichen Sinn verstanden wird. Zudem ist unklar, worauf sich die Individualitätsbehauptung be­ zieht: auf den Ausprägungsgrad der verschiedenen Parameter wie 9 Dieses Zitat illustriert die Bemerkung Theunissens: »Von Picht sprechen - das heisst sprechen von den Polaritäten seines Geistes, der nichts als grosse, ja riesenhafte Span­ nungsbögen schlugc«. (Theunissen 1983, 780) ^ 331

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Kapitel 4: Georg Pichts Begriff von Humanökologie

z. B. der Temperatur, Höhe über dem Meer etc., oder auf die Anzahl und Kombination von Parametern, die dann alle zwar je eine be­ stimmte aber keine einmaligen Ausprägung haben? Ich konzentriere mich im folgenden auf die Frage, was Picht hier über das Verhältnis von universellen Naturgesetzen, räumlich ausgedehnter Biosphäre und individuell-geschichtlichem oikos bzw. Leben behauptet. In der ersten Argumentation wird zunächst behauptet, der indi­ viduelle Charakter eines oikos folge aus dem universellen Charakter der Naturgesetze und der räumlichen Ausgedehntheit der Biosphäre. Zudem wird gesagt, die Einmaligkeit eines oikos sei in der Allge­ meinheit der Gesetze fundiert. In der ebenfalls zitierten Erläuterung zu dieser Argumentation hält Picht dann fest, dass die Geschichtlich­ keit der Prozesse in einem oikos, d. h. Leben, aus der Allgemeinheit der Gesetze und der Individualität der oikoi folge. Dieses »Folgen« gelte es allerdings noch zu verstehen, es ist also nicht evident. Die zweite Argumentation behauptet erstens, dass sich die Indi­ vidualität der oikoi aus der Allgemeinheit der Gesetze ableite, und dass die Individualität der geographischen Orte zusammen mit der Allgemeinheit der Gesetze schon rein physikalisch die Individualität der oikoi begründe. Zweitens wird aber mit Rekurs auf Leibniz ein der Natur immanentes Prinzip eingeführt, ein »principium individuationis«, das von der Physik vernachlässigt worden sei und trotz­ dem durch sie, d. h. durch die Allgemeinheit der Naturgesetze, be­ gründet werde, und zwar im Sinne des Folgens aus Axiomen. Ist mit »folgen«, »ableiten«, »fundieren« und »begründen« eine logische oder eine sachliche (ontologische) Beziehung gemeint? Eine erste, naheliegende Interpretation besteht in der Vermutung, dass Picht sich hier unausgesprochen auf die Standardform wissenschaft­ licher Erklärung, auf das Schema der deduktiv-nomologischen Erklä­ rung von Ereignissen, bezieht (siehe Hempel 1977). Diesem Schema zufolge wird ein Ereignis dadurch erklärt, dass die Aussage, die dieses Ereignis beschreibt, aus einer oder mehreren universellen Gesetzes­ aussagen zusammen mit Aussagen, die die sogenannten Anfangs­ bedingungen des Ereignisses beschreiben, logisch abgeleitet wird. Anfangsbedingungen eines Ereignisses sind diejenigen relevanten Bedingungen, die vorher oder gleichzeitig mit dem zu erklärenden Ereignis vorliegen und die auch Kausalursachen des Ereignisses ge­ nannt werden. Bei einer solchen Erklärung geht es aber gerade nicht darum, die Individualität eines Ereignisses zu erklären, sondern an ihm eine universelle Beziehung aufzuweisen. Ein Ereignis inte­ 332

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4.3 Der

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ressiert also nur, insofern es gewisse universelle und in der Regel quantifizierbare Merkmale hat, deren Variation in der Ausprägung dann als Abhängigkeit von anderen, ebenfalls universellen und in ihrem Ausprägungsgrad variierenden Merkmalen erklärt wird. Da­ her werden die Anfangsbedingungen von Ereignissen im experimen­ tellen setting standardisiert und kontrolliert. Umgekehrt betrachtet hängt die »Wahrheit« universeller Naturgesetze vom experimentel­ len Beweis ab. Wenn aber Naturgesetze auf experimentell gewonne­ nen Daten basieren, dann können sie nicht sachlicher Grund für die Individualität raumzeitlicher Naturprozesse sein. Wenn nun aber individuelle Prozesse nicht kausal unter Rekurs auf Naturgesetze erklärt werden können, dann kann mit dem »Fol­ gen« auch nicht die logische Folgerungsbeziehung der deduktiv­ nomologischen Erklärung gemeint sein. Es liesse sich höchstens eine indirekte Argumentation aus der Tatsache, dass die Naturwissen­ schaft unter standardisierten Bedingungen arbeitet, in folgendem Sinne konstruieren: Wenn Natur nicht aus individuellen Prozessen besteht, muss die Standardisierung von Naturprozessen nicht expe­ rimentell hergestellt werden. Nun muss aber die Standardisierung von Naturprozessen experimentell hergestellt werden, also besteht Natur aus individuellen Prozessen. Dies behauptet Picht aber nicht, sondern eine andere These, dass nämlich die bewährte Betrachtung von Natur im experimentellen setting seine Betrachtung der Natur als individuelle Prozesse nicht widerlege: »Entsprechend können wir auch in der Natur die Individualität ausblenden und Operationen durchführen, die voraussetzen: Wasserstoffatom = Wasser­ stoffatom, Virus = Virus, Ratte = Ratte, Mensch = Mensch. Es wird sich im­ mer nachweisen lassen, dass die Operationen richtig waren und unter vor­ gegebenen Versuchsbedingungen zu wiederholbaren Resultaten führen. Damit ist aber nicht bewiesen, dass die Versuchsobjekte keine Individuen wa­ ren. Bewiesen ist lediglich, dass der menschliche Geist Methoden erfunden hat, die es erlauben, mit Individuen erfolgreich so zu operieren, als ob sie bloss klassifizierbare Grössen wären.« (HF, 26)

Dieses Zitat deutet nun eher darauf hin, dass das Naturverständnis der experimentellen Naturwissenschaft und das der Natur als Ge­ schichte sich zueinander indifferent verhalten, weil sie verschiedenes betrachten: klassifizierbare Grössen einerseits und Individuen ande­ rerseits. Dann ist aber nicht mehr verständlich, wie eine Wissen­ ^ 333

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schaff, die Natur als klassifizierhare Grössen betrachtet, die Indivi­ dualität von Natur begründen oder fundieren kann. Selbst die schwä­ chere These von Janich (1987), dass Naturgesetze und Lahorwissen notwendige begriffliche und technische Voraussetzungen sind, um naturgeschichtliche Prozesse zu untersuchen und zu beschreiben (siehe Janich 1987, 111), fällt dann für Picht weg. Picht zielt meines Erachtens auf eine metaphysisch-ontologi­ sche Begründung, angedeutet durch den Ausdruck »Individuation«. Aus seinen Ausführungen geht jedoch nicht hervor, wie das Fundie­ rungsverhältnis und wie die Relate zu verstehen sind. Was bedeutet die Allgemeinheit der Gesetze und was die Individualität von Situa­ tionen? Klar äussert sich Picht nur darüber, wie er diese Behauptun­ gen nicht verstandenen wissen will: weder im aristotelischen Sinn als das Verhältnis von Art und Exemplar/Individuum, noch im neuzeit­ lichen Sinn als das Verhältnis von Naturgesetz und Ereignis. Die Ge­ genargumente von Picht lauten in beiden Fällen gleich: Sowohl die Arten als auch die Naturgesetze sind Allgemeinheiten, die von der Geschichtlichkeit der Individuen bzw. Ereignisse abstrahieren. So­ dann geht es weder dem aristotelischen noch dem neuzeitlichen Wis­ senschaftsprogramm um die Erklärung der Individualität des Indivi­ duums bzw. des Ereignisses.: »Als Summe dieser Überlegungen ergibt sich, dass das Individuum sowohl in der aristotelischen Logik wie in der modernen Physik und Logik durch die Maschen gefallen ist. Es kommt in der Wissenschaft nicht vor. Nun begegnet uns aber gerade im Einzelnen, und nur in ihm auf fraglose Weise, das, was wir allenfalls >wirklich< nennen dürfen. Der hier vorgelegte Entwurf soll andeu­ ten, wie Ökologie verständlich machen könnte, dass und warum Natur im­ mer und überall individuiert.« (HF, 29)

Was meint Picht hier mit »individuieren«? Dies kann der soeben zi­ tierten Pichtstelle zufolge nun gar nicht innerhalb einer (aristote­ lischen wie auch neuzeitlichen) naturwissenschaftlichen Konzeption erläutert werden. Wenn dies jedoch der Fall ist, stellt sich die Frage, was der Sinn der zuvor zitierten Pichtschen Behauptung ist, es folge »aus allgemeinen Gesetzen der Physik, dass die Verschiedenheit der >Lagen< gerade, weil die Gesetze die gleichen sind, verschiedene Ge­ staltungen hervorbringen muss.« (HF, 24f.). Ich sehe die naturwissenschaftliche Explikation der »in der All­ gemeinheit der Gesetze fundierten Einmaligkeit von Situationen« als einen Versuch von Picht, sich positiv auf richtige Erkenntnis der Na­ 334

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turwissenschaften zu beziehen und deren Terminologie sodann in einer Weise zu interpretieren, dass damit vorbereitet wird, wie sich Natur von sich aus zeigt. Nun darf diese Interpretation aber wegen Pichts Auffassung von Wahrheit nicht die ontologischen und er­ kenntnistheoretischen Voraussetzungen der Naturwissenschaften übernehmen, denn aufgrund dieser ist die Wissenschaft ja gerade unwahr und zerstört die Natur. Die Erkenntnisse der Naturwissen­ schaften verlieren ohne diese Voraussetzungen aber nicht nur ihre Richtigkeit, sondern die Begriffe verlieren damit auch ihre spezi­ fische Bedeutung. Darin liegt der Grund für die Unklarheiten von Pichts Interpretationsversuch. Die Konsequenz daraus ist, dass sich Picht für seine Explikation dessen, wie sich die Natur zeigt, nicht auf die Wissenschaft beziehen kann. Doch zieht Picht diese Konsequenz nicht. 4.3.3 Die kommunikationstheoretische Explikation der »in der Allgemeinheit der Gesetze fundierten Einmaligkeit von Situationen« Mit der naturwissenschaftlichen Explikation der »in der Allgemein­ heit der Gesetze fundierten Einmaligkeit von Situationen« bleibt nicht nur unklar, was unter »Individualität« bzw. »Individuation« und unter der »Allgemeinheit der Gesetze« zu verstehen ist. Diese Explikation bietet zudem keine Antwort auf Pichts Leitfrage nach dem »Oikos des Logos« (HF, 72), denn sie zeigt nicht, »wie die Ra­ tionalität der Wissenschaft >behaustin< Raum und Zeit >befindetKommunikationistOffen< ist ein System, dessen Schatz an potentieller Kommunikation es per­ manent für den Zustrom von Informationen aufgeschlossen hält, die sich we­ der definieren noch quantifizieren lassen, weil sie - dies impliziert der Begriff der potentiellen Kommunikation - aus der Zukunft her kommen. Die Relati­ on >Ursache - Wirkung< beschreibt nur eine bestimmte Form der aktuellen Kommunikation zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem. Wenn nicht nur unser Denken und Bewusstsein, sondern die Organismen überhaupt und darüber hinaus ihre Ökosysteme als offene Systeme zu beschreiben sind, 11 Picht verbindet hier Zeit also nicht wie Kant mit dem sukzessiven Charakter der Apprehension des in der Anschauung gegebenen Mannigfaltigen. In EG schreibt Picht dazu: »Jene latente Präsenz der Vergangenheit, die ich als Gedächtnis beschrieben habe, und jene latente Präsenz der Zukunft, die ich >Antizipation< nannte und als Potentialität näher charakterisierte, haben ihren primären Sitz nicht in der Subjektivität des Men­ schen. Sie werden nicht erst durch den Menschen in die Natur hineinprojziiert, sondern sind in der Natur selbst enthalten. Daraus ergibt sich aber, dass umgekehrt menschliches Bewusstsein inmitten der Natur erst dadurch möglich wird, dass die Strukturen, in denen es sich entfaltet, ihm durch die Natur schon vorgegeben sind« (HJ2, 240). Picht kann diese subjektunabhängige Zeitauffassung jedoch nicht konsequent durchhalten (siehe weiter unten in Kapitel 4.3.3). 12 »Potentielle« und »aktuelle Kommunikation« erhalten im Zusammenhang mit der folgenden Einführung von »Information« als entelechie eine teleologisch Bedeutung. 338

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dann muss die in ihnen latente potentielle Kommunikation als konstitutives Merkmal dessen, was sie sind, in ihre Beschreibung aufgenommen werden.« (HF, 43)

Auf der Basis dieses Kommunikationsbegriffes postuliert Picht nun statt des neuzeitlichen Dualismus von Naturnotwendigkeit einerseits und menschlicher Freiheit andererseits - mehrere Arten der Inter­ dependenz, die sich durch die Anzahl der Freiheitsgrade unterschei­ den (siehe HF, 45 f.). Der Freiheitsgrad bezieht sich auf den Grad, zu dem das Ergebnis eines Informationsaustausches durch die aus­ getauschte Information bestimmt ist. Der Freiheitsgrad ist von der Anzahl der bei einem Informationsaustausch beteiligten interdependenten Variablen (der Komplexität der Interdependenz) abhängig. Die einfachste Kommunikationsart ist die »lineare Kausalität«. Mit »linear« meint Picht »deterministisch« oder »automatisch« (siehe HF, 45, 64, 69). Picht schränkt nun den Erkenntnisanspruch der neuzeitlichen Naturwissenschaft auf die Erkenntnis von Kausalbeziehungen ein und gesteht diesen den Status einer notwendigen, aber nicht hinrei­ chenden Bedingung für die Evolution bzw. die Entwicklung von Or­ ganismen zu. Dieses Zugeständnis beinhaltet meines Erachtens aber mehr als blosse Richtigkeit, und daher dürfte Picht eigentlich die neuzeitliche Naturwissenschaft nicht insgesamt als unwahr verwer­ fen, sondern er könnte ihr lediglich einen unzulässigen ontologi­ schen Reduktionismus vorwerfen, indem sie die Welt ausschliesslich kausaldeterministisch interpretiert. Nun entspricht aber die Rolle, die Picht Kausalbeziehungen zuschreibt, nicht der Auffassung in der ökologischen Forschung. Picht ist nämlich der Meinung, die Stabili­ tät von Ökosystemen beruhe auf deterministischer Kausalität: »Lineare Kausalität ist diejenige Form von Kommunikation, in der ein Sender von bestimmten Informationen eindeutig definierte Reaktionen des Empfän­ gers erzwingt. In diesem Fall gehorchen die Reaktionen des Empfängers einem Automatismus. Stabilität ist in der Natur nur möglich, wo der Ablauf solcher Automatismen gesichert ist. Ohne ein hohes Mass an Stabilität ist kein Organismus, geschweige denn Evolution denkbar. Wir nennen die über­ greifenden Ordnungen, in denen Organismen existieren können, >ÖkosystemeSystem< diese Stabilität impliziert. Auch Ökosysteme beruhen deshalb auf der Stabilität der Automatismen, die wir nach dem Sche­ ma der linearen Kausalität beschreiben.« (HF, 45)

In der Ökologie bezieht sich die Stabilität auf die Konstanz (bzw. ^ 339

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Schwankung innerhalb einer zulässigen Schwankungshreite) be­ stimmter Zustandsvariablen eines Ökosystems. Diese Stabilität ist gerade nicht determiniert, sondern das Resultat einer komplexen Dy­ namik im Ökosystem (siehe Kapitel 1.1). Picht argumentiert hier also wissenschaftlich unrichtig.13 Picht benützt nun die eingeführte Terminologie, um das Individuieren von Natur zu erklären. Seine pauschale Kritik an der neu­ zeitlichen Naturwissenschaft wird hier nochmals indirekt zurück­ genommen. Denn dieses Individuieren soll das nichtdeterminierte Resultat des Zusammenwirkens mehrerer Prozesse, die einzeln be­ trachtet linear (kausal, deterministisch) verlaufen, sein: »Wenn die Interdependenzen innerhalb eines Ökosystems sowie dessen Of­ fenheit so erklärt werden dürfen, wie die vorausgehenden Abschnitte es zu skizzieren versuchten, dann ist nicht der lineare Verlauf jedes einzelnen Pro­ zesses, sondern das Feld von Kommunikationen, innerhalb dessen die Prozes­ se verlaufen, und deren Interferenzen sowie die Verschiedenheit ihrer Ver­ laufsrichtungen und Verlaufsgeschwindigkeiten für die Phänomenalität der Phänomene, die >kausal< erklärt werden sollen, konstitutiv. Das Netz der In­ terdependenzen und Interferenzen innerhalb verschiedener Kommunika­ tionsfelder im gleichen Kontinuum konstitutiert dann die Einmaligkeit eines oikos, und der oikos ist die Bedingung der Möglichkeit von Evolution.« (HF, 44f.)

Die Konstitution der Einmaligkeit eines oikos erläutert Picht sodann wie folgt: »Die Strukturen, welche Ökologie zu beschreiben hätte, regeln, wie das Zu­ sammenspiel einer unbestimmten Zahl von relativ unabhängigen Variablen im offenen System eines oikos eine Evolution hervorbringt, die nach dem >principium individuationis< dem Gesetz gehorcht, dass bei gleichbleibender Stabilität des Ökosystems dessen Komplexität, d. h. seine Unwahrscheinlich­ keit ständig zunehmen muss.« (HF, 46)

Diese beiden Textstellen bringen drei Neuerungen für die Interpre­ tation von Pichts Ökologie-Definition. Erstens ist nun statt von »all­ gemeinen Gesetzen« von einem »Netz der Interdependenzen und Interferenzen innerhalb verschiedener Kommunikationsfelder im

13 Pichts Gleichgewichtsbegriff ist meines Erachtens nicht an der ökologischen For­ schung orientiert, sondern eher von einer platonischen Kosmologie inspiriert (siehe Brisson 1996). 340

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gleichen Kontinuum« die Rede. Nicht gewisse Gesetze, sondern die Interdependenz von isoliert betrachtet kausal-deterministischen Ge­ setzen ist für Individualität entscheidend. Hierzu ist jedoch zu bemerken, dass das nichtdeterministische Zusammenwirken von iso­ liert betrachtet deterministischen Beziehungen noch keine hinrei­ chende Bedingung für ein individuelles Resultat des Zusammenwir­ kens ist, sondern lediglich dafür, dass das Ergebnis variieren kann. Welche Seite des Würfels nach einem Wurf oben liegt, ist zwar nicht determiniert, aber auch nicht individuell. Die zweite Neuerung besteht darin, dass Picht nicht mehr von »Individuen« und von »Leben« spricht, sondern von »Phänomenen« und ihrer »Phänomenalität«. Dass Picht so unvermittelt von »Phä­ nomenen« und einem »principium individuationis« spricht, lässt eine bisher noch implizit gebliebene Metaphysikkonzeption bei Picht vermuten. Hinter der Formulierung der »Phänomenalität der Phäno­ mene« steht Pichts Kritik an einer Substanzontologie, die er in BNG ausführt (siehe BNG, 454ff.). Ein Phänomen ist kein selbständiges, mit sich identisches Individuum, sondern Phänomene konstituieren sich durch vieldeutige Bezüge »zu einer Unendlichkeit von anderen Phänomenen ... sie sind nur in diesen Bezügen und durch sie, was sie sind« (KM, 209). Drittens wird nun statt von »folgen« oder »begründen« von einem »Konstituieren der Phänomenalität« bzw. von »Einmaligkeit« und vom »Hervorbringen einer Evolution« gesprochen, und zwar aufgrund von Interdependenzen, die integrativ wirken. Damit hängt die Erklärungsleistung nun am Begriff der Integration. Was meint Picht mit »Integration«? Integriert wird genau genommen nicht Kommunikation (also Beziehungskanäle), sondern Information, die über Kommunikation ausgetauscht wird. Damit verlagert sich das Problem auf die Frage, was mit »Information« bei Picht gemeint ist. Der Informationsbegriff, den Picht an einer Schlüsselstelle über drei Seiten lang einführt (HF, 51-53), enthält in nuce das gesamte Kon­ zept von Pichts Vernunftkritik. Daher trete ich auf diese Einführung näher ein. Die Einführung des Informationsbegriffes besteht aus sieben Hauptschritten. Ziel dieser Einführung des Informationsbegriffes ist Schritt 5, der in einer allgemeinen Definition von »Information« als Muster, das wir aus seinen Wirkungen ablesen, besteht. Die Schritte 1 bis 4 sollen darlegen, dass es sich um eine allgemeine Definition handelt, die sowohl den biologischen Informationsbegriff (Schritt 1 ^ 341

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und 2) als auch den informationstheoretischen Informationshegriff (Schritt 4) umfasst. Schritt 3 hehauptet die Vereinharkeit von hiologischem und informationstheoretischem Informationshegriff. Schritt 6 und Schritt 7 formulieren Konsequenzen, die Picht aus Schritt 5 für seine Humanökologie hzw. Vernunftkritik zieht. Ich zitierte zunächst diese Schlüsselstelle für Pichts Ansatz um Nehenhemerkungen und Erläuterungen gekürzt, wohei die Auslassungen durch Punkte ge­ kennzeichnet sind. Den von Picht fortlaufend geschriehenen Text hahe ich nach Schritten gegliedert. 1. Schritt: »Wenn die Biologen sagen, dass ein Chromosomensatz in seinen Genen die >Information< enthält, die den Phänotyp eines Individuums, soweit er erhlich hestimmt ist, determiniert, verwenden sie das Wort >Information< ... nicht als Inhalt einer Mitteilung in menschlicher Sprache und erst recht nicht als Be­ wusstseinsinhalt ... Sie greifen vielmehr in ihrem Sprachgehrauch, hewusst oder unhewusst, auf den primären Sinn des Wortes >forma< zurück. >Forma< heisst >Struktur< oder >Muster< (pattern). Das Wort dient in der Tradition des europäischen Denkens als Ühersetzung für das platonische >eidosInhalt< der Information.

2. Schritt >In-formation< findet üherall dort statt, wo ein Muster von einem >Ohjekt< (im weitesten Sinne des Wortes) auf ein anderes ühertragen wird. Die Bio­ logen gehrauchen diesen Begriff der Information so, dass die Tendenz zu solcher Ühertragung in der >formaganz hestimmte, für dieses Muster charakteristische Wirkungen ausgehen können< (Bresch 1977, 65). So sieht die Information von seiten ihres Senders aus. Der >Empfänger< nimmt die Information in sich auf, wird durch sie >formiert< und ist nun selhst ein Träger der an ihn weitergegehenen Struktur. Sie ist ein ihm im­ manentes Muster. Aristoteles hat das immanente >eidos< eines Organismus als sein >telos< hezeichnet. Lehen ist >In-sich-Hahen des Mustersen-tel-echeiaEmpfänger< hezeichnet wurde, heisst hei Platon und Aristo­ teles >Materieinformatio< im Sinne von >entelecheia< mit dem Infor­ mationsbegriff der Informationstheorie zu Deckung gebracht.

4. Schritt Die Informationstheorie (im strikten Sinne des Wortes) hat sich die Aufgabe gestellt, Nachrichten eines Senders für einen Empfänger messbar zu machen. Sie geht von der sprachlichen Mitteilung aus und bezeichnet als >Information< diejenigen Inhalte der Rede, die eindeutig definiert, im Telegrammstil wiedergegeben und als Aussagen in logische Operationen eingesetzt werden können. Alles, was derartig formalisierbar ist, lässt sich auf Ja-Nein-Entscheidungen zurückführen. In diesem Sinne ist >Informationforma< zugrunde, die >formaformal< genannten operationellen Logik. Aber diese >forma< verteilt sich nicht auf Sender und Empfänger, sondern ist das Gesetz, dem deren Relation gehorcht, sofern angenommen werden darf, dass diese eindeu­ tig ist.

5. Schritt: Mit dem so definierten Informationsbegriff lässt sich jedoch nur operieren, wenn vorausgesetzt werden kann, dass die Informationen wie in einer störungsfreien Rechenmaschine beim Empfänger so ankommen, wie sie vom Sender gemeint sind. Bei der >pragmatischen InformationTrans-Information< zum Problem. Man kann allgemein sagen, dass der Effekt eines Informationsflusses sich nur feststellen lässt, wenn der Empfänger sein Verhalten ändert. ... Hält man diese Struktur der >pragmatischen Information< für die Grundform von Information überhaupt, von der die Information der Shannon'schen Theorie nur ein extremer Sonderfall ist, dann lässt sie sich in der Tat mit dem zuerst besprochenen Informations­ begriff zur Deckung bringen. Denn auch die >Nachricht< ist dann ein Muster, das wir aus seinen potentiellen Wirkungen ablesen.

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6. Schritt: Sie ist dann nicht mehr, oder doch nicht primär, ein Phänomen des Bewusst­ seins, sondern die allgemeine Form von gewissen Relationen in der Natur. ... Im Bewusstsein gibt es >Information< und damit eine bestimmte Form von >Wissen< nur deshalb, weil Bewusstsein ... ein Phänomen in der Natur ist.

7. Schritt Bewusstsein hat ausserdem die Möglichkeit, auf sich selbst zu reflektieren und sich selbst Regeln zu unterwerfen, die wie ... durch den Begriff >Versuchsanordnung< erläutert wurde, von den Regeln der Natur abweichen können. ... Dann denkt es wider die Natur. Aus dieser Möglichkeit des Den­ kens erklärt sich die ökologische Krise, in der wir uns heute befinden.« (HF, 51-53)

Die substantiellen Schritte sind die Schritte 1 und 2. In Schritt 1 argumentiert Picht wieder begriffsgeschichtlich. Die Bedeutung des Ausdruckes »genetische Information« in der Biologie entspreche der Bedeutung des lateinischen forma als Übersetzung des platonischen eidos. Mit der Aussage, das platonische eidos sei der Inhalt der gene­ tischen Information, unterstellt Picht dann der Genetik einen Plato­ nismus. Sachlich gesehen handelt es sich jedoch beim Verhältnis von Genotyp und Phänotyp um etwas völlig anderes als das Verhältnis von Urbild und Abbild im Rahmen der platonischen Ideenlehre. Ge­ notyp und Phänotyp sind beides empirische Gegenstände, während es in der platonischen Ideenlehre um eine Theorie nicht-empirischer Gegenstände und um ihr Verhältnis zum Empirischen geht. Die Gen­ technik ist seit den 70er Jahren in der Lage, DNA zu sequenzieren und zu rekombinieren, womit sie die genetische Information verändert.14 Abgesehen von gentechnologischen Veränderungen weiss die Forschung heute zudem von natürlichen Mutationen, die bei der Ver­ erbung, durch Umwelteinflüsse und sogar von den Genen selbst in­ duziert auftreten können. Ein eidos im platonischen Sinne ist jedoch 14 Picht weist an späterer Stelle selbst darauf hin: »Aber durch die Schrift haben die Menschen die Natur überlistet - sie können in der Gestalt von schriftlichen Dokumen­ ten den Schatz gewonnener Erfahrung unabhängig von der Kapazität menschlicher Ge­ hirne weitergeben. Sie können dadurch das Verhalten späterer Generationen und damit auch die weitere Evolution bestimmen. Wenn das so akkumulierte Wissen genetische Manipulation auch beim Menschen ermöglichen sollte, würde der Umweg über Sprache und Schrift bis in den Kern des genetischen Gedächtnisses vordringen. Der genetische Code könnte dann nach Anweisungen, die nur durch das Instrument der Schrift möglich geworden sind, umgeschrieben werden.« (HF, 99) 344

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weder durch anderes veränderbar noch kann es sich seihst verändern. Platon spricht vom eidos um zu erklären, warum etwas das ist, was es ist - warum z. B. Schönes schön ist. Das eidos soll keine faktischen Entstehungshedingungen von Schönem erklären, sondern was das Schöne am Schönen ausmacht. Ein eidos ist von Platon als eine all­ gemeine, ideale und unveränderliche Form gedacht. Der Stellenwert dieses problematischen Rekurses auf Platon für Pichts Vernunftkritik zeigt sich im sechsten und im siebten Schritt, wenn Picht auf seine Erkenntnistheorie zu sprechen kommt. In Schritt 2 wechselt Picht zu einer aristotelischen Interpreta­ tion von genetischer Information - ohne die sachlichen Differenzen eines platonischen und eines aristotelischen Formhegriffes zu erwäh­ nen - und henützt fortan dafür auch den aristotelischen Ausdruck entelechie. Thema in diesem Schritt ist die Informationsübertragung. Die These ist nun, dass mit dem Begriff der genetischen Information und dem aristotelischen Begriff der entelechie zwar dasselbe gemeint ist, dieses jedoch aus verschiedenen Perspektiven betrachtet wird: einmal aus der Perspektive des Senders (Biologie) und einmal aus der Perspektive des Empfängers (Aristoteles). Genau genommen be­ zieht sich Picht jedoch im ersten Satz des zweiten Schrittes - Infor­ mation findet überall statt, wo ein Muster von einem Objekt auf ein anderes übertragen wird - auf eine ganz andere Beziehung als im letzten Satz des zweiten Schrittes - der Begriff der Information ist die Formel für die Relation Form-Materie. Das Modell der Informa­ tionsübertragung zwischen Sender und Empfänger, das Picht im er­ sten Satz skizziert, unterstellt, dass es Sender wie Empfänger als ge­ formte Materie bereits gibt. Bei der genetischen Vererbung entsteht jedoch der Empfänger als neues Individuum in eins mit der Informa­ tionsübertragung. Die natürliche (im Unterschied zur gentechnolo­ gischen) Übertragung genetischer Information ist daran gebunden, dass eine neue Generation von Individuen ensteht. Überraschender­ weise geht Picht auf die Generativität des Lebendigen in seinem Auf­ satz gar nicht ein, lediglich in der Folge auf die Sterblichkeit. Die Beziehung, von der Picht dann im letzten Satz spricht, ist hingegen die, wie in einem Objekt (Individuum) das Verhältnis von Form und Materie zu denken ist, nämlich als eine lebensgeschichtliche Ent­ wicklung der in der Materie angelegten Ordnungsstruktur. Auch hierfür ist das Modell der Informationsübertragung vom Sender auf einen Empfänger ungeeignet, denn es geht um die Entfaltung einer immanenten Struktur. ^ 345

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Die Information als Form bzw. Muster soll der Materie imma­ nent sein, und die Informationsübertragung soll auf einer im Muster angelegten Tendenz, sich zu verwirklichen, beruhen. Dieses Verwirk­ lichungsstreben bezeichnet Picht fortan als entelechie. Entelechie ist bei Aristoteles die Verwirklichung der als seine substantielle Form im Seienden (geformte Materie) angelegten Möglichkeiten oder Vermö­ gen. Diese Verwirklichung nennt Aristoteles kinesis15, was nach Wagner am besten als »Prozess« übersetzt wird (siehe Aristoteles' Physik, Anmerkungen zu Physik II, 1, 446). Prozesse haben für Ari­ stoteles damit ein Ziel, nämlich die Verwirklichung der substanziel­ len Möglichkeiten eines Seienden. Seiendes, das bei Aristoteles Men­ schen, Naturdinge und künstliche Dinge umfasst, ist also teleologisch verfasst. Aristoteles' teleologisches Naturverständnis ist am Modell menschlichen Handelns gewonnen. Der Handwerker antizipiert in seiner Seele Ziel und Vollzugsschritte seiner Tätigkeit zur Herstel­ lung des von ihm intendierten, d. h. antizipierten Werkes. Naturpro­ zesse analog zur Struktur menschlichen Handelns aufzufassen ist für Aristoteles deshalb legitim, weil er das menschliche Handeln als Nachbilden oder Vollenden natürlicher Prozesse versteht. Aristoteles macht keinen prinzipiellen ontologischen Unterschied zwischen Menschen und übriger Natur.16 15 »Das endliche Zur-Wirklichkeit-Kommen eines bloss der Möglichkeit nach Vorhan­ denen, insofern es eben ein solches ist-das ist Veränderung.« (Aristoteles, Physik, III, 1, 201a) 16 »Bei Vorgängen, die ein bestimmtes Ziel haben, wird um dessentwillen das ihm Vor­ ausgehende getan, und so der Reihe nach fort. Folglich so wie es getan wird, genau so setzt es sich natürlich zusammen, und so wie es natürlich zusammengesetzt ist ebenso wird ein jedes getan, - wenn nicht etwas hindernd dazwischentritt. ... Wenn z.B. ein Haus zu den Naturgegenständen gehörte, dann entstünde es genau so, wie jetzt auf Grund handwerklicher Fähigkeit; wenn umgekehrt die Naturdinge nicht allein aus Na­ turanlage, sondern auch aus Kunstfertigkeit entstünden, dann würden sie genau so ent­ stehen wie sie natürlich zusammengesetzt sind. Wegen des einen ist also das andere da. Allgemein gesprochen, die Kunstfertigkeit bringt teils zu Vollendung, was die Natur nicht zu Ende bringen kann, teils eifert sie ihr (der Natur) nach: Wenn nun die Vorgänge nach Massgabe der Kunstfertigkeit auf Grund des >wegen etwasc ablaufen, so ist es klar, dass auch die Vorgänge gemäss der Natur (dies tun). Denn es verhält sich ja ähnlich zueinander das Spätere zum Früheren sowohl bei den Vorgängen gemäss Kunst wie auch bei denen gemäss Natur. . Wenn also aufgrund von Naturanlage und wegen etwas die Schwalbe ihr Nest und die Spinne ihr Gespinst baut und die Pflanzen ihre Blätter wegen der Früchte (hervorbringen) und die Wurzeln nicht in die Luft, sondern in den Boden (treiben) der Nahrung wegen, dann ist offenkundig, dass es diese so be­ schriebene Ursache im Bereich des natürlichen Werdens und Seins wirklich gibt. Und da >Naturbeschaffenheitc doppelte Bedeutung hat, einmal als Stoff, einmal als Form, da 346

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Pichts aristotelische Interpretation der genetischen Information halte ich für nicht minder problematisch als seine platonische. Zwar bestimmt die genetische Information die Entwicklung des Organis­ mus in Interaktion mit Umwelteinflüssen. Doch wird mit einer te­ leologischen Entwicklung mehr behauptet als nur, dass diese Ent­ wicklung eine Richtung aufweist. Es wird behauptet, dass diese Entwicklung ein Ziel hat, das erreicht oder verfehlt werden kann. Die genetische Bedingtheit der Entwicklung eines Organismus als Ausdruck einer ihm als Genom immanenten Teleologie zu verstehen ist jedoch eine naturphilosophische Interpretation, die von der scien­ tific community der Genforschung nicht geteilt wird.17 Der Begriff der entelechie ist das Fundament, auf dem Picht sei­ ne Vernunftkritik aufbaut, denn Picht definiert Leben als entelechie, als die der Materie immanente Form. Wenn Vernunft als »Gestalt des Lebens« möglich sein soll, und es sich um eine Vernunft handeln soll, die nicht aus der Natur herausgebrochen, sondern in ihr behaust ist, dann ist die im aristotelischen Begriff der entelechie enthaltene te­ leologische Struktur für Picht unverzichtbar, um sagen zu können, was die Natur von sich aus ist, und inwiefern Natur ein normatives Fundament für menschliches Handeln sein kann. Bereits die Begrifflichkeit, die Picht im Zusammenhang mit seiner Ökologie-Definition einführt, wie »Geschichte«, »Individualität«, »Integration« und die »in der Allgemeinheit der Gesetze fundierte Einmaligkeit von Situa­ tionen«, verweist meines Erachtens auf eine teleologisch verstandene Natur. Die Legitimität der Annahme einer Naturteleologie ist jedoch mit den bisherigen Ausführungen von Picht nicht ausgewiesen. Schritt 3 soll begründen, wieso der Terminus »Information« heute der gebräuchliche Terminus für »entelechie« in der Biologie ist. Zu diesem Zweck stellt Picht die These auf, dass der informati­ onstheoretische Informationsbegriff sich mit dem aristotelisch inter­ pretierten biologischen Begriff von Information kombinieren lässt, ja sogar damit identisch ist. Picht führt diese These dann in Schritt 5 so aus, dass er den informationstheoretischen Informationsbegriff als diese aber Ziel ist und wegen des Ziels das übrige (da ist), muss es also wohl auch diese Ursache geben, die (mit dem Namen) >Weswegenc.« (Aristoteles, Physik, II, 8, 199a) 17 Zwar ist der Aristotelimus in der Biologie mit der Entwicklung der Evolutionstheorie nicht überwunden, wie Mayr (1984) meint, sondern findet immer wieder auch unter Biologen Vertreter, da auch die synthetische Evolutionstheorie nach wie vor viele Fragen offen lässt (z.B. Wesson 1991). Doch trotz dieser Diskussion kann sich Picht zur Plausi­ bilisierung seiner Interpretation aber nicht auf die Biologie beziehen. ^ 347

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Spezialfall eines allgemeinen Informationsbegriffes betrachtet, unter den auch der biologische Informationsbegriff fällt. Die Zweifel an Pichts Bedeutungsanalysen in den Schritten 1 und 2 gelten daher auch für die Vereinbarkeitsthese sowie für die darauf aufbauenden Schritte 4 und 5. Schritt 4 definiert »Information« im informationstheoretischen Sinne als den digital kodierbaren Inhalt von Sprache. Das Formmässige dieser Information sieht Picht in der digitalen Kodierbarkeit mit den Mitteln der formalen Logik. Die Form soll in diesem Falle nicht dem Empfänger (bzw. Sender) immanent sein, sondern dem Gesetz der Relation zwischen Sender und Empfänger. Mit dieser Re­ lation ist wohl die Informationsübermittlung gemeint, und zwar ver­ mutlich nicht der Kanal, sondern die Regeln der Kodierung und De­ kodierung. Der Formbegriff der formalen Logik, auf den Picht hier rekurriert, hat meines Erachtens jedoch mit einem Formbegriff in einem aristotelischen Sinne als entelechie verstanden nichts ausser dem Wort gemeinsam. Die Unterscheidung von Form und Inhalt in der Logik bezieht sich auf Aussagen und unterscheidet die für die logischen Beziehungen von Aussagen relevanten Aspekte als logi­ sche Form vom deskriptiven Inhalt der Aussagen. Kausalbeziehun­ gen und zeitliche Verhältnisse gehören formallogisch gesehen zum deskriptiven Inhalt einer Aussage. Die aristotelische Unterscheidung von Form und Materie ist hingegen eine ontologische, die am Seien­ den seine Gestalt/Struktur von der unstrukturierten Materie unter­ scheidet. Ferner sehe ich nicht, wie sich der Formbegriff der formalen Logik teleologisch interpretieren lässt. Die in Schritt 3 aufgestellte Behauptung, aufgrund des Informationsbegriffes der Nachrichten­ technik sei der Aristotelismus in der Biologie heute mit dem Begriff der Information verbunden, ist meines Erachtens mit diesen Aus­ führungen nicht begründet. Ich sehe die Bedeutung der Pichtschen Interpretation des infor­ mationstheoretischen Informationsbegriffes weniger in der Legiti­ mation eines Terminus, sondern darin, dass Picht seine ontologische These - die Struktur der stets schon vorgegebenen Welt ist ein Netz von interdependenten Kommunikationsbeziehungen mit unter­ schiedlichem Freiheitsgrad - daran anknüpfen will. Dies wird in den Schritten 5 und 6 deutlicher. In Schritt 5 führt Picht eine allgemeine Definition von »Infor­ mation« als Muster, das wir aus seinen potentiellen Wirkungen ab­ lesen, ein. Ich gehe nicht darauf ein, wie Picht diese Definition aus 348

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seinem biologischen Informationsbegriff entwickelt, sondern be­ trachte nur das in der Definition Behauptete. Entscheidend ist, dass das Muster nur aus dem durch es Geformten - seinen potentiellen Wirkungen - erschlossen werden kann. Wenn der Ausdruck »poten­ tiell« hier aristotelisch gemeint ist, dann heisst das, dass diese Wir­ kungen auf substantiell im Seienden angelegte Möglichkeiten zurückgehen. Der aristotelische Begriff der entelechie ist an eine Substanzontologie gebunden. Ich sehe Schwierigkeiten, wie sich eine aristotelische Substanzontologie mit Pichts Ontologie interdependenter Kommunikationsrelationen vereinbaren lässt. Welche entelechie soll dem Gesetz der digitalen Informationsübertragung imma­ nent sein, wie in Schritt 4 behauptet? Picht ist sich offenbar bewusst, dass seine Ausführungen zur Vereinbarkeit von »entelechie« und »Nachricht« noch Fragen offen lassen. Er führt dazu im folgenden aus, dass dies genau genommen erst durch die Integration einer Nachricht in das Empfängersystem gegeben ist, wenn die Nachricht in Pichts Terminologie nicht bloss gespeichert, sondern verarbeitet wird, was bedeutet, dass die Struktur des Empfängersystems verän­ dert wird. Diese Informationsverarbeitung »findet statt, wenn sie [die Nachricht] innerhalb des empfangenen Systems ihren Platz hat. Dieser Platz ist durch die Gesamtheit der Relationen defi­ niert, durch die sich ein offenes System als solches konstituiert. In dieses mo­ bile Gewebe von Interdependenzen rückt die verarbeitete Information als ein neuer Faktor ein. Sie wird in das System integriert, indem sie es - als neuer Faktor - zugleich verändert. Erst in diesem Sinne verarbeitete Information schlägt die Brücke zwischen der modernen Informationstheorie und der ari­ stotelisch verstandenen >informatioGedächtnis< beschrieben werden, in dem die integrierte Information aufbewahrt ist.« (HF, 54 f.)

Damit wird aber das (als entelechie verstandene) Muster nicht mehr dem Gesetz der Informationsübertragung, sondern dem Empfänger­ system zugeschrieben. Der Shannonsche Informationsbegriff bzw. der Formbegriff der formalen Logik ist dann aber nicht als Spezialfall einer entelechie ausgewiesen. Die Interpretation von Information als entelechie bleibt auch mit diesen Ausführungen eine petitio principii. Das Ziel des Pichtschen humanökologischen Programmes ist in ^ 349

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der These: »Vernunft ist möglich als Gestalt des Lehens« formuliert. Das hedeutet, dass der Begriff der entelechie nicht nur für Pichts Naturphilosophie grundlegend ist, sondern auch für seine Erkennt­ nistheorie. In Schritt 6 wird nun diese monistische Position und die damit verhundene Kritik an der Bewusstseinsphilosophie der Neuzeit explizit formuliert. Picht stellt seinen Monismus als eine Kon­ sequenz seiner hisherigen Erörterungen des Informationshegriffes dar. »Information« in seinem Sinne ist primär ein naturphilosophi­ scher Begriff, nämlich die allgemeine Form von gewissen (!) Relatio­ nen in der Natur, und kein hewusstseinstheoretischer. Nur weil Be­ wusstsein seinerseits »ein Phänomen in der Natur« ist, kann Information auch zu einem Bewusstseinsinhalt werden. Die Ausführungen zu der These, dass Bewusstsein ein Phäno­ men innerhalh der Natur ist, stellt Picht unter den Titel »nichtcartesische Analyse der Strukturen des ego cogito« (HF, 67). Sie nehmen umfangmässig fast die Hälfte des Aufsatzes »Ist Humanökologie möglich?« ein. Der Leitgedanke von Pichts Bewusstseinskritik lautet, »dass sich im >ego cogito< nichts vorfinden lässt, das nicht auf frühe­ ren Stufen der Evolution durch analoge Strukturen präformiert wä­ re.« (HF, 67). Den Ausweis dieser These führt Picht üher eine Theorie der Einhildungskraft. Seine Theorie umfasst drei Kernthesen. Er­ stens ist die Einhildungskraft keine humanspezifische kognitive Fä­ higkeit zur Orientierung in der Umwelt, sondern »ein Produkt der Evolution. [Denn] Wenn es wahr ist, dass die Natur selhst sich in Bildern manifestiert, so können sich Lehewesen in der Natur nur orientieren, sofern sie das Vermögen hahen, wie auch immer, Bilder zu >verstehensubjektivAllgemeinheitexistierthierHier< bezeichnet deshalb die >Lagejetzt< dies oder jenes ereignen kann.« (HJ2, 242f.J

Der Ausdruck »ereignen« ist bei Picht ein terminus technicus für seine »nachmetaphysische« Auffassung des Absoluten. »Ereignen« ist an die Einmaligkeit des Augenblicks gebunden. Diese bildet »die phänomenale Basis für ein grosses Grundgesetz der Natur: das >principium individuationisEreignis< wurde von mir gewählt, um diese Einmaligkeit anzuzeigen.« (HJ2, 244) Er setzt dann fort, dass wir die Wahrheit nicht wie in der meta­ physischen Tradition »im Austritt aus der Zeit, sondern im Eintritt in die Zeit [erkennen]. Der Eintritt in die Zeit kann immer nur hier und jetzt vollzogen werden« (HJ2, 254). Mit dieser »Gegenwärtigkeit der Gegenwart« versteht sich Picht als Metaphysik-Kritiker (siehe HJ2, 241 ff.), da er eine Ewigkeit in der Zeitlichkeit - hier und jetzt - und nicht eine der Zeitlichkeit transzendente Ewigkeit vertritt.21 Picht ist aber entgegen seinem Selbstverständnis Metaphysiker, denn diese Zeitlichkeit ist eine dem Menschen transzendente Zeit­ lichkeit, die nicht durch ein menschliches Vermögen konstituiert wird, sondern durch ein der Natur immanentes Erkenntnisvermögen - und zwar einer mythisch-religiös gedeuteten Natur (siehe Kapitel 4.3.4).22 Die These von der der Natur immanenten produktiven Ein­ 21 Mit der Formel »Hier und Jetzt« bezeichnet Picht auch sein Philosophieren nach Auschwitz und Hiroshima (siehe HJ1,2) und meint damit eine Philosophie der ge­ schichtlichen Gegenwart als Ewigkeit in der Zeitlichkeit (siehe Theunissen 1983). 22 Picht bemerkt dazu: »Der Austritt aus der Metaphysik durchbricht zugleich die ^ 353

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bildungskraft hat in Pichts Konzeption eine Doppelfunktion. Sie soll nicht nur das Fundament der menschlichen Erkenntnisleistungen in der Natur aufzeigen - den oikos des logos -, sondern sie ist umge­ kehrt zugleich das geistige Moment im Natürlichen als Ansatzpunkt für eine teleologische Interpretation von Natur als Information. Die Spontaneität der produktiven Einbildungskraft wird damit zum Kernproblem von Pichts Natur- und Erkenntnisbegriff, die auch die Frage der wahren Erkenntnis aufklären muss. In Schritt 7 bringt Picht nun eine Erklärung für die ökologische Krise, die besagt, dass das menschliche Bewusstsein sich selbst Er­ kenntnisregeln geben kann, die von den Regeln der Natur abweichen. Pichts folgende Ausführungen dazu rekurrieren wiederum auf die Spontaneität der Einbildungskraft, auf die er Bewusstsein zurück­ führt. Seine zentrale These lautet, dass der Evolutionsschritt von der gesprochenen Sprache zur Schrift zum Bruch mit der Natur führt, denn die »Menschen verfügen dank der Schrift über Instru­ mente, mit deren Hilfe sie sich einen künstlichen Oikos bauen können, der anderen Gesetzen gehorcht als der natürliche« (HF, 100). Entscheidend für den Bruch ist, dass schriftlich kommunizierte Infor­ mationen (Wissen) aus der zeitlichen Bindung an eine individuelle Situation (Umwelt) herausgelöst sind, was bedeutet, dass sie nicht mehr integriert sind. »Die Schrift ist erfunden worden, damit unveränderlich festgehalten werden kann, was sonst entschwinden oder im Wandel der Zeit sich verändern würde, dass wir es nicht mehr wiedererkennen. Schrift dient der Aufhebung der Ver­ gänglichkeit in der Zeit. Wandel der Zeit ist immer Wandel der Umwelt. ... Was in der Schrift aufbewahrt wird, ist nicht nur der Vergänglichkeit, es ist eben dadurch auch dem Leben entrissen. Es ist so beschaffen, dass es Leben zwar bestimmen, aber von ihm nicht verschlungen werden soll. Es widersetzt sich seiner Struktur nach jener Integration, die sonst... alle Manifestationen des Lebens beherrscht. Schrift zeichnet nicht für diese oder jene Umwelt, sie zeichnet immer für die Welt auf. ... Öffnet die Sprache den Menschen das Tor zur Welt, so hält die Schrift sie ausserhalb dieses Tores fest. Damit gewinnt der Weltbezug der Menschen die Herrschaft über ihre Umweltbezüge.« (HF, 101) Schranken der Subjektivität. Der junge Heidegger hat dies in seiner existentialen Ana­ lytik des Daseins schon versucht; ein Vergleich mit §9 ff. von >Sein und Zeit< könnte ver-deutlichen, wie weit ihm dies dort schon gelungen, und wo er stecken geblieben ist. Ich gebe diese Hinweise, um deutlich zu machen, dass wir mit dem bisher Gesagten erst an die Schwelle der fundamentalen philosophischen Fragen gelangt sind.« (HJ2, 254) 354

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Zwar können Projektionsregeln - also auch diejenigen der Schrift nach Picht nicht gänzlich willkürlich sein, weil der Mensch mit der Natur kommuniziert.23 Den Mustern der Natur adäquat sein bedeu­ tet nach Picht jedoch mehr als sich in der Evolution durchgesetzt haben. Für Wahrheit fordert Picht, dass die Projektionsregeln, auf denen die Erkenntnis beruht, homomorph zu den Projektionsregeln der Natur sind. Seine These lautet, dass wir »in unseren Projektionen Wahrheit erkennen [können], wenn unsere Projektionsschemata dem inneren Bau der Phänomene in der Natur adäquat sind.« (HF, 87) Mit dem »inneren Bau der Phänomene in der Natur« ist wohl das Individuieren von Natur gemäss einem Muster gemeint. Picht führt nur ein indirektes Argument dafür an, dass es den Menschen möglich ist, Wahrheit zu erkennen: »Wenn die Natur selbst Bilder aufsteigen lässt, von denen sie Abbilder projiziert, so ist der Nachweis, dass ein Bild nur Projektion ist, nicht gleichbedeutend mit der Aussage, diese Projektion sei - als Projektion - unwahr.« (HF, 87; kursiv im Origi­ nal) Das entscheidende Ergebnis der Interpretation des 6. Schrittes war jedoch, dass das Individuieren der Natur in Analogie zur sprach­ lichen Kommunikation zu verstehen ist, genauer gesagt in Analogie zur projektiven Struktur der Einbildungskraft. Allerdings geht es Picht dabei um die gesprochene Sprache, nicht um die Schriftsprache: »In der Sprache spiegeln sich ... alle jene Verhältnisse wider, die wir durch eine Analyse der Ökosysteme aufdecken können. Das ist für eine Unter­ suchung der Ökologie der Menschen von schwer abzuschätzender Bedeu­ tung. Denn unser Denken ist an die Sprache gebunden. Wenn Sprache die Verhältnisse des Oikos widerspiegelt, in dem sie gesprochen und verstanden wird, so gilt das Gleiche auch vom Denken. Freilich wird das Denken durch diese Einsicht gezwungen, jene absolute Wahrheit und uneingeschränkte Souveränität preiszugeben, die es einstweilen noch in Anspruch nimmt.« (HF, 76)

Picht sieht die Bedeutung im Falle der gesprochenen Sprache durch die situative Pragmatik bestimmt, was beinhaltet, dass die Bedeutung 23 «Trotzdem können die Projektionen nicht willkürlich sein, denn die projizierte Ord­ nung schreibt zugleich die Schemata vor, nach denen sich unser Verhalten orientiert. Es können sich also nur solche Schemata durchsetzen, die sich in der Evolution bewähren, weil sie eine Orientierung ermöglichen, durch die sich das Leben erhält. In diesem ein­ geschränkten Sinne muss jeder Ordnungsschematismus >wahr< sein; sonst sorgt die Se­ lektion dafür, dass er verschwindet. Es gibt wohl einen gewissen Spielraum der Freiheit, aber es gibt keine Willkür im Entwurf der Ordnungen, die wir projizieren, um wahr­ nehmen und uns orientieren zu können.« (HF, 78) ^ 355

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der sprachlichen Zeichen situativ verschieden ist. Darin besteht der Kern seiner These, »Integration ist immer Individuation« (HF, 108). Aus dieser Perspektive ergibt sich für Picht auch seine Kritik an Kants transzendentaler Begründung der neuzeitlichen Naturwissen­ schaft in den Erkenntnisformen a priori. Denn wenn Wissen nach Picht dem inneren Bau der Phänomene in der Natur adäquat sein soll, dann kann Wissen gerade nicht den Kriterien der Allgemein­ gültigkeit, Widerspruchsfreiheit und Zeitunabhängigkeit genügen. Daher formuliert Picht: »Wenn >wahr< ist, was dem Leben dient, so werden Kriterien der Wahrheit eingeführt, von denen die neuzeitliche Wissenschaft aller Fakultäten und die ihr zugeordnete Wissenschaftstheorie keine Ahnung haben. >Humanökologie< ist der - bisher nur als Leerformel - dienende Name für eine Wissen­ schaft, die genötigt ist, diese Kriterien aufzusuchen.« (HF, 32).

Zur Explikation der Formel »wahr ist was dem Leben dient«, rekur­ riert Picht auf seinen Begriff der Einheit der Zeit als eine Vermitt­ lung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft derart, dass »nichts, was vergangen ist, vergeht« (BNG, 451). Was nicht vergeht ist das »>Absolutewahr< [ergibt] aus der Beziehung dessen, was ist, auf die Einheit der Zeit. Wir dürfen des­ halb sagen: Wahrheit ist die Erscheinung der Einheit der Zeit.« (BNG, 453) In den Projektionen der Einbildungskraft hat nun aber Abwe­ sendes anwesend zu sein, und zwar vor allem die Zukunft und nicht das Vergangene, denn Picht hat vor allem die handlungsorientieren­ de Funktion von Wissen im Auge - nicht nur in seiner Kritik, dass die Projektionen des logos die Natur zerstören, sondern auch in seiner positiven Bestimmung von Vernunft: »In dem Vernunftbegriff der Metaphysik wird unter der Herrschaft des Prin­ zips der Identität die antizipatorische Struktur des Denkens ausgeblendet. Das ist der Grund, weshalb wir uns genötigt sahen, Kants transzendentale Frage zu iterieren und zu fragen: Wie ist Vernunft als solche möglich? Wenn alles Denken antizipatorisch ist, ergibt sich als Antwort auf diese Frage: Die Wahrheit der Vernunft hängt ab von der Wahrheit ihrer Antizipationen.« (HF, 449)

Woran soll sich dann aber die Wahrheit von Antizipationen bemes­ sen? Die Analyse der Sprachpragmatik löst dieses Problem nicht, 356

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sondern setzt seine Lösung vielmehr voraus. Vor allem ist bereits die gesprochene Sprache ein janusköpfiges Evolutionsprodukt, weil be­ reits gesprochene Sprache die Integration des Menschen in seinen oikos aufbricht: »Der Oikos der Menschen wird nie nur ihre Biosphäre sein, weil sie durch ihre Sprache, das heisst durch das Ineinanderwirken von kollektivem Ge­ dächtnis und Einbildungskraft, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst sind, stets aus ihrer Biosphäre hinausversetzt werden, obwohl sie weiterhin in sie gebunden bleiben. Diese Bedrohung ist die Kehrseite des Geschenkes der Sprache.« (HF, 98)

Es ist jedoch nur die Kehrseite des Geschenkes der Sprache. Der ent­ scheidende Punkt dabei ist nach Picht, wie der Mensch das Über­ schreiten der situativen Gebundenheit in einer Umwelt mittels der Sprache in die Welt interpretiert. Denn nach Picht ist die Gefahr einer ökologischen Krise »manifest geworden, seit die Menschen die Transzendenz aus der Umwelt in die Welt nicht mehr als Übertritt in eine göttliche Sphäre verstehen, in der sie sich der göttlichen Wahrheit und dem göttlichen Willen zu beugen haben, sondern sich einbilden, transzendente Erkenntnis sei menschlicher Auto­ nomie unterworfen, weil sie durchschaut haben, dass sie das Unbekannte, das der Name >Gott< bezeichnet, stets nur im Spiegel ihrer Projektionen er­ blickten.« (HF, 98)

Was in einen oikos integrierbar ist und was nicht, was also wahr und gut ist, kann, wenn die unmittelbare Integration in diesen oikos auf­ gelöst ist, nur über eine zweite Integration in eine göttliche Sphäre bestimmt werden. Erkenntnis wird so an einen göttlichen Willen zurückgebunden. Damit klärt die kommunikationstheoretische Explikation der »in der Allgemeinheit der Gesetze fundierten Einmaligkeit von Si­ tuationen« zwar die Pichtsche Formel für Ökologie auf. Sie führt aber nicht zu einer Begründung der Ökologie bzw. Humanökologie als einer Erkenntnis von Normen für menschliches Handeln. Dies ist Gegenstand einer dritten, mythisch-religiösen Explikation der »in der Allgemeinheit der Gesetze fundierten Einmaligkeit von Situatio­ nen«, in der Picht seinen kontemplativen Naturbegriff einführt und seine normative Verwendung zu legitimieren versucht.

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4.3.4 Die mythisch-religiöse Explikation der »in der Allgemeinheit der Gesetze fundierten Einmaligkeit von Situationen« Picht dämpft die Erwartungen an seine positive Antwort auf die Fra­ ge, wie Humanökologie möglich ist, indem er diese Frage als eine »unergründliche Frage« (HF, 105) bezeichnet. Was diese Frage un­ ergründlich macht, ist das Wahrheitskriterium humanökologischer Erkennntnis: Schönheit. Schönheit hat mit der Richtigkeit wissen­ schaftlicher Erkenntnis nichts zu tun, sondern sie ist eine »ganz andere Formation, die wir heute nur noch an Kunstwerken ablesen können. Eine solche Formation haben die Sprachen und die ihnen isomor­ phen Mythen. Kunstwerke erkennen wir an einer Eigenschaft, die noch nie­ mand zu enträtseln vermochte: sie sind schön. Was immer das Wort >schön< bedeuten mag - jedenfalls manifestiert sich in der Schönheit ein Formzusam­ menhang, der dem Kunstwerk eigentümlich ist und ihm seine unverwechsel­ bare Konsistenz gibt.« (HF, 106)

Den Unterschied zwischen der Schönheit des Kunstwerks und der Richtigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis sieht Picht darin, dass ein Kunstwerk die Struktur eines Ideals hat, wissenschaftliche Erkennt­ nis hingegen die der Idee. Er erläutert die jeweiligen Strukturen dann folgendermassen: »Das Wesen der Idee zeigt sich in ihrer Allgemeinheit. Im Ideal hingegen manifestiert sich die allumfassende Einheit >in individuoAbsoluteAbsolutendefiniert< als >die Lehre von der in der Allgemeinheit der Ge­ setze begründeten Einmaligkeit von Situationen (25). Wir haben also diesem neuen Paradigma von Wissenschaft dieselbe Struktur zugesprochen, die Kant und Hegel, in ganz anderer Richtung blickend, als die Struktur des Ideals her­ ausgestellt haben.« (HF, 106f.)

Die in der Allgemeinheit der Gesetze begründete Einmaligkeit von Situationen bedeutet diesem Zitat zufolge, dass die Einmaligkeit einer Situation als unmittelbare Manifestation des Absoluten be­ 358

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gründet ist. Ökologie ist ein neues Paradigma von Wissenschaft, weil sie nicht auf die Erkenntnis des Allgemeinen am Individuellen zielt, sondern Individuelles als unmittelbare Manifestation des Absoluten zu erfassen sucht. Richtige Erkenntnis der Naturwissenschaft bezieht sich nach Picht auf das Allgemeine am Individuellen. Wahrheit, d. h. wie sich die Natur von sich aus zeigt, ist jedoch eine unmittelbare Manifestation des Absoluten. Das Erfassen des Individuellen als Ma­ nifestation des Absoluten hat, wie die kommunikationstheoretische Explikation der Ökologie-Definition ergeben hat, in Projektionen zu erfolgen, wobei »unsere Projektionsschemata dem inneren Bau der Phänomene adäquat« (HF, 87) zu sein haben. Die Struktur des Ideals als Erscheinung besteht darin, dass die Erscheinung unmittelbare Konkretion des Absoluten ist, wie Picht 1963 in dem Aufsatz »Vom Wesen des Ideals« (WI, in WVV, 203-228) festhält: »Wir halten fest: Das Ideal ist die Erscheinung des Absoluten in individuo, d. h. in der besonderen Existenz. Es ist die Vereinigung der Transzenden­ talien, des Einen, des Guten und des Wahren, in der Erscheinung, d.h. im Schönen. Als Urbild aller wechselnden Gestalten ist es der Schlüsselbegriff eines Weltverständnisses, das sich in der Epoche Goethes die Sphären des Sittlichen, der Kunst und der Natur in dem gemeinsamen Medium der Idealitiät neu erschlossen und in ihrer Einheit begründet hat. Auf die Frage nach dem Wesen des Ideals erhielten wir eine doppelte Auskunft: die Ideale sind die Götter der Griechen, und: die Ideale sind die Ideen Platons. Wer das We­ sen des Ideals bestimmen will, wird also fragen müssen: Was ist das Wesen der griechischen Götter?, Was ist das Wesen der platonischen Idee? und: Wie verhält sich die platonische Idee zu den Göttern? ... Ich meine, es wäre an der Zeit, wieder nach der ursprünglichen Bedeutung von Bild und Gestalt für die Begründung menschlichen Daseins und damit nach dem Wesen der griechi­ schen Götter zu fragen.« (WVV, 227f.)

Zum eigentlichen Grund der ökologischen Krise - zum Verlust der Wahrheit - wird für Picht daher der Verlust des mythischen Welt­ verständnisses, d.h. der Verlust der Götter.24 Deshalb ist »die Schän­ dung der Landschaft und aller ihrer Elemente ... von der Schändung der Tempel und Götterbilder nicht zu trennen« (KM, 488). Zum Ver­ 24 Picht vertritt also im Unterschied zu Jonas und zu Bultmann nicht eine Hermeneutik der Entmythologisierung, sondern ein Remythologisieren insofern, als an der Struktur des Mythos für Wahrheit im Sinne einer Subjektivität, die über den Menschen verfügt, aber nicht von ihm geschaffen ist, festzuhalten ist. Picht hat die Arbeiten von Bultmann gekannt. Zum Mythos bei Picht und bei Bultmann siehe die Dissertation von Markus Huppenbauer (Huppenbauer 1992, insb. 122ff., 146ff.). ^ 359

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ständnis der ökologischen Krise gehört Picht zufolge ein Verständnis der Götter und der Mythen. Mythisches Denken und wissenschaftli­ ches Denken sind beides Weisen des Projizierens, doch handelt es sich dahei um gegensätzliche Weisen der Vermittlung der Zeitmodi in eine Einheit der Zeit: »Das archaische Denken stellte die mythischen Projektionen, in deren Licht wir unsere Gegenwart erkennen nicht an das Ende, sondern an den An­ fang der Geschichte. Als Grundform der Erkenntnis von Wahrheit galt nicht der Vorgriff in die Zukunft, sondern die Erinnerung. Bei Platon ruht das Ur­ bild menschlichen Gemeinwesens innerhalb des göttlichen Kosmos in der ewigen Gegenwart dessen, was unveränderlich ist. Der Durchbruch in diese Gegenwart ist eine Transzendenz, welche die Erinnerung in sich aufheht. Sä­ kularisierung christlicher Eschatologie hat das neuzeitliche Denken dazu geführt, die Wahrheit in der Zukunft zu suchen. >Wahr< ist dann das, was nicht ist. Deshalb wird nun die Gegenwelt in die Zukunft gespiegelt ... Das utopische Denken entspringt der Auflehnung des europäischen Geistes gegen die Weisheit, die ihn begründet hat. Es akzeptiert nicht, dass unseren Hoff­ nungen die Verwirklichung versagt sein soll; es will die Zukunft für die Men­ schen verfügbar und damit die Götter überflüssig machen.« (HF, 445 ff.)

Mit den Göttern meint Picht eine Subjektivität, die »dem Menschen unverfügbar ist, aber seinerseits über ihn verfügt« (HF, 117). Sie ist in Bildern gegenwärtig, und zwar als plastisches Bild in der Kunst und als mythisches Bild in der Religion (siehe Huppenbauer 1992, 52 ff.). Die Erfindung der Schrift - im Unterschied zum Bild - ist der »Griff nach dem Apfel vom Baum der Erkenntnis«, der zum Verlust des mythischen Weltbildes und damit zur »Vertreibung aus dem Pa­ radies« geführt hat: »Der Bruch, der hier [durch die Erfindung der Schrift] auftritt, zeigt sich am schärfsten in dem Austritt aus jener Denkform, in der und aus der die Spra­ che lebt: dem Mythos. Sobald die Mythen schriftlich aufgezeichnet sind, zei­ gen sie sich so, dass wir sie gleichsam von aussen her als etwas Feststehendes und Gegebenes betrachten. Die Menschen werden von den Mythen distan­ ziert. Sie beginnen über sie zu reflektieren und treten damit aus ihrer Sphäre, der Sphäre der Einbildungskraft, hinaus. So entstand bei den Griechen die Philosophie.« (HF, 99)

Picht schlägt nun kein Zurück zum traditionellen Mythos vor - das Paradies ist verschlossen -, sondern eine religiöse Auslegung der Kunst. Dies geschieht in zwei Schritten. Im ersten Schritt interpre­ tiert Picht die Erkenntnis des Schönen als eine Erkenntnis von Massverhältnissen in der Natur. Unter Massen will er nicht konventionell 360

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festgelegte Messeinheiten verstehen, sondern »strukturhildende und daher konstitutive Verhältnisse in den Phänomenen seihst« (HF, 419). Im zweiten Schritt führt er dann das Erkennen von Massverhältnissen auf die spezifisch menschliche Erfahrung der Endlichkeit zurück.25 Den ersten Schritt vollzieht Picht mit einer neuen Explikation von »Ökologie« und von »Humanökologie«: »Erkenntnis des Schönen ist immer die Erkenntnis von Massen. Was dies hedeutet, wird in anderen Kapiteln dieses Buches dargestellt.26 Wir weisen schon hier auf diesen Zusammenhang hin, um Aufgahe und Struktur einer Form der Erkenntnis genauer hestimmen zu können, die den Namen >Humanökologie< verdient: Ökologie ist die Erkenntnis der spezifischen Massverhältnisse und Strukturen von Umwelten, die in spezifischen Situationen sich herausgehildet hahen oder möglich sind. Humanökologie ist die Erkenntnis davon, wie Menschen innerhalh dieser Umwelten ihren eigenen Oikos so hauen können, dass er die Umwelt, aus der er leht, nicht zerstört.« (HF, 108)

Es geht aus diesen Definitionen von »Ökologie« und »Humanökolo­ gie« nicht explizit hervor, oh diese Heraushildung von spezifischen Massverhältnissen in Umwelten ahhängig oder unahhängig von menschlichen Zivilisationseinflüssen gedacht ist. Dass Picht jedoch Massverhältnisse in der nichtmenschlichen Umwelt vom mensch­ lichen oikos unterscheidet, deutet eher darauf hin, dass er nicht ein Gesamtsystem Mensch-Natur thematisiert, sondern mit den Struk­ turen und Massverhältnissen der Umwelt eine Natur ohne mensch­ liche Eingriffe meint, ohwohl er das Wort »Umwelt« verwendet. Dafür spricht auch, dass diese Masse dem Menschen vorgegehen sind, und er sich diesem Gefüge als Ausdruck göttlicher Wahrheit und göttlichen Willens zu fügen hat, statt sie als der menschlichen Autonomie zumindest graduell unterworfene Strukturen zu verän­ dern. Picht versucht nun wiederum, sein Verständnis von »Mass« un­ ter Rekurs auf naturwissenschaftliche Begrifflichkeit zu explizieren und hezieht sich zu diesem Zweck nun auf den Begriff des Gleichge­ wichts in der Ökologie: 25 Picht setzt sich mit diesen heiden Schritten in zwei weiteren kurzen Aufsätzen in HF auseinander: »Zum Begriff des Masses« (BM) und »Utopie und Hoffnung« (UH). Aus diesen Beiträgen wird im folgenden ehenfalls zitiert. Zu hemerken ist, dass der Beitrag BM dem Andenken Heideggers gewidmet ist. 26 Siehe HF, 418, 420, 423, 451 ^ 361

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»Jedes Ökosystem ruht in einer Mannigfaltigkeit von Gleichgewichten zwi­ schen den es bestimmenden Strukturen, Zuständen, Faktoren und Prozessen. Was wir >Gleichgewicht< nennen, ist selbst ein Zustand; einander entgegen­ wirkende Kräfte oder Tendenzen werden in ihm so zum Ausgleich gebracht, dass er sich erhält. Ein relativ stabiler Gleichgewichtszustand ergibt sich aus der Interferenz einer Mannigfaltigkeit von Gleichgewichten, die zwar ver­ schiedenartig sind, aber sich wechselseitig stützen. Sie befinden sich dann zueinander in einer durch die spezifische Konstellation der Gleichgewichte definierten Ordnung. Eine solche Ordnung bezeichnen wir im Kontext öko­ logischen Denkens als >SystemElemente< der Ordnung eines Öko­ systems. Ökologie ist die Erkenntnis der immanenten Masse der Natur.« (HF, 418; kursiv im Original)

Pichts Explikation des Massbegriffes als Gleichgewicht eines Öko­ systems ist mit der gleichen Schwierigkeit verbunden wie schon die Explikation seines Begriffes der entelechie durch den Informations­ begriff. Was Picht hier als Gleichgewicht eines Ökosystems be­ schreibt, findet sich so nicht in der ökologischen Forschung (siehe Kapitel 1.1). Abgesehen davon, dass der Gleichgewichtsbegriff in der Ökologie umstritten ist, besteht das Hauptproblem darin, dass Picht den ganzen Systemzusammenhang an ein »stabiles Gleichgewicht« im Sinne einer festen Ordnung bindet, zu der es nur die Alternative gibt, dass das Ökosystem zerstört wird.27 Dass Ökosysteme zu ihrer Erhaltung auf Prozessdynamik angewiesen sind, sich entwickeln und sich in ihrer Struktur verändern können, also der evolutionäre Cha­ rakter von Ökosystemen, bleibt hier systematisch unbeachtet. Denn eine evolutionäre Auffassung von Entwicklung ist sowohl mit Pichts Auffassung von Geschichte als Biographie als auch mit seiner Auf­ fassung von Zeit als Vermittlung von Zeitmodi nicht kompatibel. 27 In EG fordert Picht auch ein Gleichgewicht der Modi der Zeit im kollektiven Bewusst­ sein und formuliert auch hier die Alternative »entweder Gleichgewicht oder Katastro­ phe«: »Der Zustand, in dem sich die Gegenwart jeweils befindet, hängt davon ab, wie sich in dem kollektiven Bewusstsein, das diese Gegenwart spiegelt, die drei Modi der Zeit in ständig wechselnden Konstellationen durchdringen und miteinander entweder im Gleichgewicht stehen oder sich so dissoziieren, dass Katastrophen unvermeidlich werden.« (HJ2, 237)@ 362

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Beim zweiten Schritt, der die Frage betrifft, wie die immanenten Masse der Natur erkannt werden können, bezieht sich Picht nicht mehr auf die Ökologie. Damit wird nun aber umgekehrt die ökologi­ sche Fragestellung, nämlich »die Erkenntnis der spezifischen Massverhältnisse und Strukturen von Umwelten, die in spezifischen Si­ tuationen sich herausgebildet haben oder möglich sind« (HF, 108) auf die humanökologische Fragestellung zurückgeführt, nämlich auf die »Erkenntnis davon, wie Menschen innerhalb dieser Umwelten ihren eigenen oikos so bauen können, dass er die Umwelt, aus der er lebt, nicht zerstört« (HF, 108): »Die Welterfahrung, die sich in der Religion, der Dichtung, der Kunst, dem Recht, der Philosophie und der Ethik der Griechen ausspricht, ist primär die Erfahrung von Massen. Dies kann hier nicht dargestellt werden. Wir setzen dort ein, wo die Erkenntnis der wahren Masse der Natur, die auch die Götter umschloss, für die erwachende Skepsis zum Problem wird, bei dem berühmten Satze des Protagoras: >Aller Dinge Mass ist der Mensch, der sei­ enden, wie sie sind, und der nicht seienden, wie sie nicht sind« (VS 89 B 1) Erläutert wird dieser Satz durch den parallel gebauten Satz aus einem ande­ ren Buch desselben Autors: >Über die Götter vermag ich nichts zu wissen weder, wie sie sind, noch, wie sie nicht sind, noch wie beschaffen sie sind an Gestalt; denn Vieles gibt es, was das Wissen hindert: ihre Verborgenheit, und dass das Leben der Menschen kurz ist«. (B 4) Der zweite Satz spricht die Be­ gründung für die besonnene Skepsis des ersten aus. Die Sterblichkeit setzt jene Grenze, die den Menschen verhindert, die Götter und alles andere, was in der Physis ist, zu erkennen. Die Sterblichkeit setzt dem Menschen sein Mass, und dieses Mass ist der Wahrheit unangemessen.« (HF, 421)

Picht interpretiert das Protagoras-Zitat so, dass, wenn der Mensch in seiner Endlichkeit das Mass aller Dinge und damit auch der Natur ist, dass dann die Endlichkeit dem Menschen das Mass setzt. Damit wird wahre Erkenntnis zur religösen Erfahrung. Wahrheit kann nicht ge­ wusst, sie kann nur geglaubt werden. In diesem Sinne schreibt Picht auch, dass es gelte, »die Differenz von Glauben und Wissen zu erken­ nen« (HF, 448). »Humanökologie ist die Ökologie von Lebewesen, die in ihrem Leben ihren Tod schon mit erfahren. Ihre Oikoi müssen so beschaffen sein, dass die Inte­ gration von Welterfahrung mit der Integration des Wissens von der Ge­ schichte und der Integration der je eigenen Biographie zu einer unlösbaren Einheit verschmelzen. Die inneren Dimensionen jedes solchen Oikos sind uns nur in den Religionen erschlossen. Der Versuch, sie aufzudecken und zu verstehen, führte in manchen Kulturen, wie etwa Europa, in Indien oder Ost­ ^ 363

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Kapitel 4: Georg Pichts Begriff von Humanökologie

asien, zur Philosophie. Sollte dies wahr sein, so ist Humanökologie ohne Aus­ schluss der Religion und ausserhalb von Religion nicht möglich. Dem scheint die Biologie zu widersprechen. Aber wir haben gesehen, dass ihr Objekt­ bereich - die verschiedenen Ausprägungen von Leben in der Natur - den Logos, der sie zur Biologie macht, nicht in sich enthält, obwohl auch dieser Logos eine bestimmte, spezifisch menschliche Formation des Lebens ist.« (HF, 113 f.)

Im Wissen um die Endlichkeit, und zwar insbesondere auch um seine eigene Endlichkeit, sieht Picht ein Spezifikum des Menschen. In sei­ ner Begründung, warum das Wissen um die eigene Endlichkeit Be­ dingung der Möglichkeit von Humanökologie - Vernunft als Gestalt des Lebens - sein soll, rekurriert Picht darauf, dass die Bedingung der Möglichkeit von Vernunft darin besteht, Grenzen des Daseins zu ak­ zeptieren. Die Akzeptanz von Grenzen überhaupt ist der Punkt, auf dem Picht insistiert. Seine These ist, dass kein künstlicher Oikos in der menschlichen Geschichte Bestand hat, der nicht auch die Antizi­ pation des Todes zu behausen vermag: »Der Raum, der dieses Wissen und damit alles umfasst, was das bewusste wie das unbewusste Leben des Menschen in sich birgt, trägt den vielmissbrauchten Namen >Religionhic et nunc< seiner geschichtlichen Situa­ tion ein. So gelangt er zur wahren Gegenwart und damit zum Le­ ben.« (HF, 119) Das Erkennen dieser dem Menschen vorgegebenen Grenzen ist ein Erkennen, wie sich die Natur von sich aus zeigt, und zwar in ihren Massverhältnissen. Der Mensch unterscheidet sich von der übrigen Natur nur durch das Wissen um seine Endlichkeit, nicht durch die Endlichkeit. Wie Picht die in der Endlichkeit alles Lebendigen gründenden immanenten Masse der Natur bestimmt sieht, erläutert er zunächst im Rahmen einer platonischen Kosmologie: »Innerhalb des Kosmos erkennen wir Masse in jener Sphäre, die Platon all­ gemein durch den polaren Ausdruck . - Entstehen und Vergehen - bezeich­ net. Alles, was dieser Sphäre angehört, hat in sich selbst eine labile Struktur und unterliegt Einwirkungen von aussen, die es befördern aber auch gefähr­ den können. Es bewegt sich in einem Spielraum, innerhalb dessen es das, was 364

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es ist, in höherem oder geringerem Grade sein kann. Platon hat diesem Sach­ verhalt einen abstrakten Namen gegeben; er nennt das Medium des Entste­ hens und Vergehens allgemein das >mehr-weniger< ... . Überall, wo sich ein >mehr-weniger< aufweisen lässt, also in der gesamten Natur, gibt es ein rela­ tives Optimum. Es liegt in der Mitte zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig. Dieses relative Optimum heisst ... Mass. ... Der Ursprung aller Masse über­ haupt, also das Massgebende schlechthin, nennt Platon, wo er philosophisch spricht, die >Idee des GutenGesetze< sagt er dafür schlicht: >der Gottin seinem Masse< ... ist. Was hingegen in Richtung auf das Zuviel oder das Zuwenig aus seinem Mass heraustritt . geht zugrunde und erweist eben dadurch, dass es untergeht, die Wahrheit und Unverfügbarkeit der Masse.« (HF, 423 f.)

In dieser Deutung von Platons Kosmologie erläutert Picht »Mass« als das Optimum in einem Spielraum, innerhalb dessen Seiendes das, was es ist, in höherem oder geringerem Grade sein kann. Für die Begründung, dass dieses Optimum ein moralisch ausgezeichneter Zustand ist, rekurriert Picht dann unvermittelt auf seine Theorie des Ideals: es handelt sich um eine unmittelbare Erscheinung des Ab­ soluten. Picht überträgt nun dieses Deutungskonzept auf eine evolu­ tionäre Naturauffassung. Er nennt zwar auch hier das Mass ein Op­ timum, doch ist nun ein völlig anderes Konzept damit verbunden: »Das >WachstumErkenntnis der Wahrheit< nennen, sei mit der Summe der verfügba­ ren Informationen gleichzusetzen« (BNG, 313) in Frage. Und zwar ist er der Meinung, dass die Wissenschaft »trotz der unübersehbaren Masse der von ihr produzierten Informationen das, was man >Wissen< nennt, verloren hat, weil sie jene Ressourcen an elementarer Welterkenntnis verbraucht hat, die in den vorwissenschaftlichen Epochen der Menschheitsgeschichte aufgebaut wurden« (BNG, 314). Er sieht nun seine Aufgabe darin, diesen Wandel im Verständnis des Wissens und der Erkenntnis deutlich zu machen und zu begründen« (BNG, 314). Dass Picht den von ihm konstatierten Wandel der Er­ kenntnisbegriffe als einen Verlust qualifiziert, zeigt die Bewertung der Erkenntnisbegriffe zugunsten der Philosophie an: naturwissen­ schaftliche Erkenntnis ist im besten Fall richtig, Wahrheit bleibt phi­ losophischer Erkenntnis vorbehalten. Mit dieser Unterscheidung ist eine idealistische Position impliziert, die der Empirie die Wahrheits­ relevanz abspricht. Dies sagt Picht auch in seiner Erläuterung des Unterschiedes zwischen philosophischer Erkenntnis und wissen­ schaftlichem Wissen am Bild des Mosaiks: ^ 367

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»Man kann die Summe der Informationen, die von der neuzeitlichen Wissen­ schaft gespeichert wurden, mit einem Vorrat von Milliarden sorgfältig ge­ schliffener Mosaiksteinchen vergleichen. Dann sieht man sofort, dass weder der Besitz eines ungeordneten Haufens dieser Steinchen noch der Besitz eines wohlgeordneten Magazins, in dem sie nach Farbe und Grösse sortiert, registriert und katalogisiert sind, das ergibt, was man >Wissen< nennt. >Wissen< kommt erst zustande, wenn man in der Lage ist, die Steinchen zu einem Bild zusammenzusetzen. Dazu bedarf man eines Künstlers, der einen Ent­ wurf macht, in den die Gesamtheit der Steinchen sich einfügen lässt. Man kann die Steinchen in dem Magazin registrieren und ordnen, soviel man will, und man kann sie noch so genau studieren: dem Bild kommt man auf diese Weise nicht auf die Spur, denn es ist in den Steinchen gar nicht enthalten. Für den Künstler, der den Entwurf macht, sind die Steinchen nichts als sein Ma­ terial; und vielleicht ist er mit diesem Material gar nicht zufrieden, weil die Steinchen so zugeschliffen und so gefärbt sind, dass sie zu dem Bild, das er vor Augen hat, nicht passen. Wie aber kommt er zu dem Bild? Auf diese Frage wissen wir keine Antwort. Aber wir wissen doch, dass er schlecht bera­ ten wäre, wenn er sich seinen Entwurf von den Produzenten der Steinchen diktieren lassen wollte.« (BNG, 314)

Philosophie, für die der künstlerische Entwurf, und Naturwissen­ schaft, für die das Magazin von Steinchen steht, sind in diesem Bild in ein klar hierarchisches Verhältnis gesetzt: Philosophie ist unab­ hängig von der Naturwissenschaft, und sie kann die Naturwissen­ schaft korrigieren. Dies provoziert die Frage, welche Rolle die Stein­ chen dann noch haben. Picht äussert sich hierzu folgendermassen: »Heraklit hatte überhaupt keine Steinchen und wäre auch nicht daran inter­ essiert gewesen, mit den Produzenten von Steinchen einen Vertrag abzuschliessen und sich ein solches Magazin anzulegen. Aber er war ein Künstler, der einen grossen Entwurf aufzeichnen konnte, und dazu brauchte er nur eine Tafel und ein Stück Kreide.« (BNG, 314 f.)

Für Erkenntnis steht in diesem Bild der blosse Entwurf, nicht das ausgeführte Mosaik. Das bedeutet aber, dass die Wahrheit des Ent­ wurfes von der Frage, ob der Entwurf mit gegebenen Steinchen zu einem Bild ausgeführt werden kann, unabhängig ist. Deshalb könnte auch heute noch wahr sein, was ein Philosoph wie Heraklit »erkannt hat und zu sagen versuchte« (BNG, 311). Soll die These nämlich Sinn machen, dann muss mit dem Gegenstand der Erkenntnis »eines Phi­ losophen wie Heraklit« etwas gemeint sein, das nicht Gegenstand der Naturwissenschaften ist. Zwar vertritt Picht diese Auffassung, doch postuliert er zunächst eine Konkurrenz von Wissenschaft und Phi­ 368

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losophie, in der die Philosophie verdrängt wurde. Er formuliert dies so, dass die Wissenschaft »trotz der unübersehbaren Masse der von ihr produzierten Informationen das, was man >Wissen< nennt, ver­ loren hat, weil sie jene Ressourcen an elementarer Welterkenntnis verbraucht hat, die in den vorwissenschaftlichen Epochen der Menschheitsgeschichte aufgebaut wurden.« (BNG 313 f.) Damit behauptet Picht implizit eine Abhängigkeit der Wissenschaft als Information von der Philosophie als der Ressource elementarer Welterkenntnis. Sein eigenwilliger Umgang mit der naturwissen­ schaftlichen Terminologie lässt sich von diesen Ausführungen her interpretieren. Pichts philosophischer Entwurf, wie sich Natur zeigt, ist nicht aus der Reflexion auf Naturwissenschaft gewonnen, und sein Wahrheitsanspruch soll nicht an der Naturwissenschaft aus­ gewiesen werden. Die Naturwissenschaft dient der Ausführung des Entwurfes, wobei die Ausführung vom Entwurf her kontrolliert ist. Ein erster grundsätzlicher Einwand, der dieser Methode ent­ gegenzuhalten ist, lautet - in Pichts Metapher formuliert - dass die Wissenschaft die Steinchen, die sie produziert, nicht als Bruchsteine eines Mosaiks, sondern als Puzzle-Stücke produziert, d. h. bereits als strukturhafte Elemente eines »Bildes«. Auch wissenschaftliche For­ schung geht von Strukturannahmen über ihren Gegenstand aus. Da­ her stehen sich genau genommen zwei Entwürfe gegenüber und nicht Entwurf und Bild - nämlich ein wissenschaftlicher Bildentwurf, der in der Passung der Steinchen zum Ausdruck kommt, und ein künstleri­ scher Bildentwurf, dem die Konkretisierung fehlt. Verwendet die Phi­ losophie wissenschaftliche Puzzle-Stücke als Mosaiksteinchen in einem anderen - »freien« - Entwurf, dann bekommen diese eine an­ dere Bedeutung - eben durch diesen Entwurf. Picht täuscht daher sich oder auch nur seine Leser, wenn er behauptet, dass seine Explikatio­ nen die wissenschaftliche Bedeutung dieser Begriffe aufnehme, wie er dies verschiedentlich tut (siehe Kapitel 4.3.2 und 4.3.3). Picht würde diese Kritik von seiner Sprachtheorie her gesehen wohl ablehnen. Denn er würde die geforderte Identität der Begriffs­ bedeutung - obwohl er sie zum Teil selbst in Anspruch nimmt - als eine metaphysische Projektion des sich als autonom verstehenden Subjektes kritisieren, das in der ersten Transzendenz verharrt und nicht den Schritt in die zweite Transzendenz macht, d. h. den Eintritt der Ewigkeit in die Zeitlichkeit. Die These vom Denken als einem Vorgang innerhalb der Natur beinhaltet gerade, dass sprachliche Äusserungen aufgrund den vielfältigen Interdependenzen im Netz ^ 369

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des Kommunikationszusammenhanges vieldeutig werden, denn ihre Bedeutung ist durch die jeweilige Situation im Pichtschen Sinne be­ stimmt. Die Festlegung eindeutiger Begriffsbestimmungen ist dann eine unzulässige metaphysische Projektion, die in ihrer Konsequenz zur Zerstörung der Natur führt (siehe Kapitel 4.3.3). Diese Recht­ fertigung einer vieldeutigen Sprachverwendung spricht meines Er­ achtens jedoch eher gegen Pichts Sprachtheorie als dass sie die Kritik an Pichts Methode entkräftet. Ein zweites grundsätzliches Problem ist der Wahrheitsausweis des Entwurfes bzw. des Bildes. Wenn Picht in seiner Fundamental­ philosophie die Auffassung vertritt, dass sich Gegenwart zeigen muss, dass das Absolute nicht als ein Reich für sich zu verstehen ist, und dass die Ewigkeit in die Zeitlichkeit eingetreten ist, dann bedeu­ tet dies auf die Metapher übertragen, dass der Entwurf auf seine Ausführung als Bild angewiesen ist. Folglich ist auch Philosophie davon abhängig, dass es Wissenschaft gibt. Picht lehnt diese Kon­ sequenz seiner metaphorischen Beschreibung jedoch ab: »Heraklit hatte überhaupt keine Steinchen und wäre auch nicht daran inter­ essiert gewesen, mit den Produzenten von Steinchen einen Vertrag abzuschliessen und sich ein solches Magazin anzulegen. Aber er war ein Künstler, der einen grossen Entwurf aufzeichnen konnte, und dazu brauchte er nur eine Tafel und ein Stück Kreide. Wenn nun die Steinchenproduzenten kommen und erklären: >Der kann gar nicht mitreden, er hat ja nicht einmal ein Magazin!Habt ihr denn einen Künstler?behaustElemente< der Ordnung eines Ökosystems. Ökologie ist die Er­ kenntnis der immanenten Masse der Natur« (HF, 428; kursiv im Ori­ ginal). Die Massverhältnisse, die das Gleichgewicht eines Öko372

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Systems bestimmen, dürfen durch die menschliche Naturnutzung nicht zerstört werden. Diese Masse dienen somit als normative Kri­ terien zur Moralbestimmung in bezug auf die wirtschaftlich-tech­ nische Naturnutzung - den Bau des menschlichen oikos. Ihre Ver­ bindlichkeit beruht auf einer mythisch-religiösen Deutung: Was wir als schön erkennnen, ist das Ideal als Erscheinung des Absoluten in der Zeit - und zwar im Pichtschen Sinne als »Hier und Jetzt«: die Gegenwart als Erscheinung des Absoluten - eine Gegenwart, die Wirklichkeit ist. Nichts anderes soll auch die Umschreibung des oikos als die in der Allgemeinheit der Gesetze fundierte Einmaligkeit von Situationen besagen: Ein oikos ist Wirklichkeit als Erscheinung des Absoluten. Pichts normativer Naturbegriff hat somit keinen deskrip­ tiven Bezug auf empirische Natur, sondern ist ein abstrakter Wesens­ begriff von Natur, wie sie sich uns zeigt, wenn sie sich uns von sich aus zeigt: als unmittelbare Erscheinung des Absoluten. Innerhalb von Pichts Position, dass das Absolute mit dem Ein­ tritt in die Zeitlichkeit jeweils neu individuiert, ist es konsequent, dass keine inhaltlichen Bestimmungen oder Proportionen, die in die Bestimmung von moralischen Normen menschlicher Naturnutzung einzugehen hätten, genannt werden. Doch setzt auch die Erkenntnis von jeweils individuellen Massen ein Wahrheitskriterium voraus, wenn es sich hierbei nicht um willkürliche Auslegungen handeln soll. Mit dieser Frage setzt sich Picht jedoch überhaupt nicht auseinander. Die allgemeine Forderung Pichts lautet daher nur, dass die Menschen sich den Massen in der Natur zu fügen haben. Damit reduziert sich aber das Orientierungsproblem der technologischen Zivilisation auf die Frage, warum die Menschen sich vorgegebenen Grenzen zu fügen haben, d. h. also auf das Begründungsproblem. In der Begründung rekurriert Picht auf die mythisch-religiöse Erfahrung der eigenen Endlichkeit (siehe Kapitel 4.4). In der technologischen Zivilisation kann eine vernünftige Bestimmung von Sinn und Zweck des Lebens jedoch nicht unabhängig von der wirtschaftlich-technologischen Wirklichkeit erfolgen, weil Sinnbestimmung mit Lebensführung verbunden ist und deshalb auf Wissen über die Folgen wirtschaftlich­ technologischen Handelns Bezug nehmen muss. Pichts Unterschei­ dung von Richtigkeit des Wissens einerseits und wahrer Erkenntnis andererseits ist keine angemessene Antwort auf dieses Problem und ist zudem selbst fragwürdig.

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4.4 Die Endlichkeit des Menschen als Orientierungsstiftung für die technologische Zivilisation Picht sieht das Orientierungsprohlem der technologischen Zivilisati­ on angesichts der Umweltprohlematik als ein Prohlem des Masses, und zwar in theoretischer wie in moralisch-praktischer Hinsicht. Es geht nach Picht um die Erkenntnis von Massverhältnissen und um deren Verhindlichkeit für die Gestaltung der technologischen Zivili­ sation - den oikos der Menschen. Gegenstand von Humanökologie sind moralische Normen für die wirtschaftlich-technische Naturnut­ zung - den Bau des menschlichen oikos. Die Frage »Ist Humanökolo­ gie möglich?« soll nach Picht, die Bedingungen der Bestimmung und Begründung dieser Normen klären. Aus der Klärung der Möglichkeit von Humanökologie geht hervor, wie die Bestimmung und Be­ gründung dieser Normen nach Picht zu erfolgen hat. In hezug auf die Normenhestimmung, d. h. die Bestimmung von Massen, sieht es zwar zunächst so aus, als oh Picht an einen ökologi­ schen Naturhegriff anschliesst. Denn die Massverhältnisse, die das Gleichgewicht eines Ökosystems hestimmen, sollen durch die menschliche Naturnutzung nicht zerstört werden. Zwar weicht Pichts Auffassung eines Ökosystems von der wisssenschaftlichen Forschung ah, doch ist dies nicht relevant. Denn es ist nicht die öko­ logische Forschung, die zur Erkenntnis von Massen in der Natur führt. Vielmehr ist der ökologische Naturhegriff zur Masshestimmung gar nicht geeignet, da die empirisch-analytischen Wissen­ schaften als Projektionen des menschlichen logos in die Natur die Massverhältnisse in der Natur zerstören. Die Erkenntnis der Massverhältnisse, die der Natur immanent sind, geschieht vielmehr im kontemplativen Naturverhältnis als Erkenntnis der Schönheit der Natur. Die Verhindlichkeit dieser als Schönheit erkannten Massver­ hältnisse heruht dann auf einer mythisch-religiösen Deutung: Was wir als schön erkennnen, ist das Ideal als Erscheinung des Ahsoluten in der Zeit - und zwar im Pichtschen Sinne als Hier und Jetzt. Nun ist es aher nicht so, dass Picht die kontemplativ erfahrene Natur aufgrund dieser Interpretation zu einem regulativen Begriff von Natur erklärt. Pichts regulativer Naturhegriff hat vielmehr kei­ nen deskriptiven Bezug auf empirische Natur, sondern ist ein ahstrakter Wesenshegriff der Natur, wie sie sich uns zeigt, wenn sie sich uns von sich aus zeigt: als unmittelhare Erscheinung des Ahsoluten. Picht nennt keine inhaltlichen Bestimmungen oder Proportionen, die 374

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4.4 Die Endlichkeit des Menschen als Orientierungsstiftung

in die Bestimmung von Normen menschlicher Naturnutzung ein­ zugehen hätten. Aufgrund von Pichts Position lässt sich hierfür ein systematisches Argument konstruieren: das Absolute individuiert mit dem Eintritt in die Zeitlichkeit jeweils neu. Eine allgemeine Norm würde daher der Einmaligkeit eines jeden oikos nicht gerecht. Allgemein lässt sich nach Picht nur sagen, dass die Menschen sich den Massen in der Natur zu fügen haben, hingegen nicht, worin diese Masse bestehen. Picht löst also das Anwendungsproblem zunächst einseitig auf. Die Erhaltung der kontemplativ als schön erfahrenen Natur ist für die wirtschaftlich-technologische Naturnutzung verbindlich. Da sich aber Schönheit - die Massverhältnisse in der Natur - nicht allgemein bestimmen lässt, sondern sich in jeweils nur individuellen Situatio­ nen zeigt, reduziert sich auch für Picht das Orientierungsproblem der technologischen Zivilisation auf die Frage, warum die Menschen sich vorgegebenen Grenzen zu fügen haben, d. h. also auf das Begrün­ dungsproblem. In der Begründung rekurriert Picht dann auf die my­ thisch-religiösen Erfahrung der eigenen Endlichkeit (siehe Kapitel 4.3.4). Auf Picht trifft somit die Kritik von Reiner Wiehl zu: »Die Philosophie des Lebens und die Existenzphilosophie haben zwar dem Einzelnen und Individuellen in seiner Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit eine neue, bis dahin unbekannte Geltung verschafft. Aber ihre Sprechweise war in ihrer jeweils singulären Färbung auf den dunklen Hintergrund einer anderen universalen Sprache, als es die der Metaphysik ist, angewiesen als die sinngebende Quelle ihrer eigenen Geltung. Insofern waren diese Philoso­ phien nicht fähig, das Problem des Einzelnen und des Universalen gegenüber der klassischen Metaphysik allgemeinverbindlich neu zu formulieren.« (Wiehl 1990a, 48)

Walter Burkert (1979) hat drei Thesen zum mythischen Denken for­ muliert, die sich zur Charakterisierung von Pichts Beitrag zur Um­ weltproblematik eignen. Burkert folgert aus dem Mythos als tradi­ tioneller Erzählung, dass Mythen Phänomene in der Sprache sind, die nicht erschaffen, sondern durch Erzählung tradiert werden und erhalten bleiben: »Das Entscheidende ist Rezeption und Tradition, nicht kreative Produktion« (Burkert 1979, 17 f.). Dieser tradierende Zug legitimiert die normative Funktion des Mythos. Diese Figur fin­ det sich in Pichts Interpretation von Ökosystem und Gleichgewicht wieder. In seiner zweiten These betont Burkert, dass Mythen als Erzäh­ ^ 375

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Kapitel 4: Georg Pichts Begriff von Humanökologie

lungen Wirklichkeit nicht unmittelbar beschreiben, sondern in viel­ deutiger Weise auf Wirklichkeit bezogen werden können: »Traditio­ nelle Erzählungen, jenseits des festen Textes und diesseits der kon­ kreten Wirklichkeit, sind Sinnstrukturen« (Burkert 1979, 21). Diese Figur findet bei Picht in seiner Behauptung, dass Entwurf der Welt unabhängig von der wissenschaftlichen Beschreibung der Welt ist. Die dritte These von Burkert besagt, dass Sinnstrukturen die Erzählstrukturen von Mythen sind: »Erzählungen als Sinnstruktu­ ren, beruhen auf biologisch oder kulturell vorgegebenen Aktionspro­ grammen und sind insofern unausrottbar anthropomorph, oder biomorph« (Burkert 1979, 27). Burkert wendet sich damit explizit gegen eine von ihm als >Kurzschluss< benannte Lösung für das Problem der Sinnstrukturen, die im Mythos eine direkte Bezeichnung einer tran­ szendenten Wirklichkeit sieht. Pichts Interpretation von oikos als »unmittelbare Manifestation des Absoluten in individu«. gehört in die Burkertsche Kurzschlusskategorie. Doch kann sich Picht damit dem Anthropomorphismusproblem nicht entziehen, nicht zuletzt aufgrund seiner religiösen Deutung von Natur. Burkert bringt seine Thesen zum mythischen Denken dahin­ gehend auf den Punkt: »Man könnte den Mythos eine Metapher auf dem Niveau der Erzählung nennen: indem diese ihre eigenen Sinnstrukturen mitbringt, strukturiert sie die Wirklichkeit und gibt ihr den Anschein des Erhellten, Vertrauten. Dies kann, aus unserer Sicht, unrichtig, verführerisch, verhängnisvoll sein; doch kann der Mensch sich der Aufgabe nicht entziehen, mit einem begrenzten Vorrat an Erfahrungen und Begriffen in einer unübersehbar komplizierten Welt sich zurechtzufinden. Der Mythos liefert ein begrenztes System von komplexen Operatoren, die gestatten, Vielheit in einem Allgemeinen auf­ zuheben; und aus einer uralten biomorphen Tradition bringt er die Chance mit, dass diese Mittel dem Sinn und Zweck des Lebens, wenn auch nicht der naturwissenschaftlich-technischen Wirklichkeit adäquat sind.« (Burkert 1979, 32f.)

Wenn sich aber der Sinn und Zweck des Lebens in der techno­ logischen Zivilisation nicht mehr unabhängig von der wirtschaft­ lich-wissenschaftlich-technologischen Wirklichkeit bestimmen lässt, dann verbaut eine Entgegensetzung von Richtigkeit des Wissens ei­ nerseits und wahrer Erkenntnis andererseits zum Zweck der Rehabi­ litation einer absoluten Vernunft gerade den Weg zu einer vernünf­ tigen Auseinandersetzung mit dem Sinn und Zweck des Lebens in der technologischen Zivilisation. 376

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5. Kapitel

Schluss

Hans Jonas, Vittorio Hösle und Georg Picht haben wesentlich zur philosophischen Auseinandersetzung mit der Umweltprohlematik beigetragen. Mit Jonas gewinnen Fragen einer Zukunftsethik an Be­ deutung, die Naturahhängigkeit des Menschen wird für die mora­ lische Beurteilung von Handlungen relevant und es entsteht eine moralphilosophische Auseinandersetzung über Verantwortungshe­ griffe. Hösle erkennt, dass kollektive Strukturen für die moral­ philosophische Analyse der Umweltprohlematik wichtig sind und problematisiert daher den methodologischen Standpunkt des Indivi­ dualismus. Picht wirft wissenschaftsphilosophische Prohleme der Untersuchung und Bewertung der natürlichen Umwelt und ihrer Nutzung unter dem Gesichtspunkt einer nachhaltigen Entwicklung auf. Alle drei haben ferner erkannt, dass es sich hei den moralischen Fragen in der Umweltdebatte nicht bloss um Probleme einer ange­ wandten Ethik handelt, sondern dass damit auch Grundlagenproble­ me aufgeworfen sind. Und schliesslich betrachten sie die moralischen Fragen der Umweltproblematik nicht als Probleme, die nur eine be­ stimmte Praxisform betreffen - nämlich den »ethisch richtigen Um­ gang des Menschen mit der Natur« (Krebs 1996, 347), und zwar in Ergänzung zum richtigen Umgang der Menschen mit sich und unter­ einander, wie dies in der Ökologischen Ethik vielmals gesehen wird -, sondern sie vertreten konsequent den Standpunkt, dass sich diese moralischen Fragen »auf einen Aspekt menschlichen Verhaltens [be­ ziehen], der so gut wie alle Praxisformen tangiert« (Nida-Rümelin 1996, 64). Doch beschränken sich die philosophischen Verdienste von Jonas, Hösle und Picht meines Erachtens darauf, dass sie diese Fragen auf die Agenda der Philosophie gesetzt haben. Denn die Re­ konstruktion ihrer Positionen hat Schwierigkeiten aufgezeigt, die ihre philosophischen Antworten auf diese Fragen in Zweifel ziehen. Der analytische Grundgedanke sowohl von Jonas, als auch von Hösle und von Picht, was die Orientierungsprobleme der technologi­ ^ 377

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Kapitel 5: Schluss

sehen Zivilisation angesichts der Umweltprohlematik betrifft, ist im Kern derselbe: die Umweltprohlematik ist auf eine Verabsolutierung der menschlichen Vernunft zurüekzuführen. Alle drei Autoren ver­ stehen die moralphilosophisehe Auseinandersetzung mit der Um­ weltprohlematik deshalb als eine Frage, die Grundlagenprohleme der theoretischen Ethik angeht, und nicht speziell nur eine ange­ wandte Umweltethik. Ihre These lautet, dass durch diese Verabsolu­ tierung ein metaphysisches Seinsprinzip verletzt wird, was sich in der Umweltproblematik der technologischen Zivilisation äussert. Die technologische Zivilisation gefährdet durch ihre Auswirkungen auf die Natur, von deren Nutzung sie abhängt, die Erhaltung menschlichen Lebens in der Zukunft. Diese »Diagnose« lässt sich in dem Satz zusammenfassen, dass die autonome menschliche Selbst­ bestimmung in der technologischen Zivilisation die Biosphäre in einer Weise verändert, so dass die Existenz künftiger Generationen von Menschen gefährdet ist. Aufgrund dieser »Diagnose« verordnen alle drei Autoren als »Therapie« eine oberste moralische Pflicht zur Erhaltung der natürli­ chen Ressourcen für künftige Zivilisationen. Dem analytischen Grundgedanken zufolge, dass die Verabsolutierung der menschlichen Vernunft als Moral- und als Erkenntnisprinzip ein metaphysisches Seinsprinzip verletzt, besteht die moraltheoretische Konsequenz in der Unterordnung der menschlichen Subjektivität unter eine absolu­ te Instanz, die die menschliche Subjektivität überhaupt ermöglicht, jedoch ihrerseits nicht durch sie bedingt ist. Zur Orientierungsstif­ tung in der technologischen Zivilisation ist daher die Rehabilitation einer absoluten Vernunft gefordert, die der menschlichen Vernunft vorausgeht. Bei Jonas geschieht dies in einer ausgearbeiteten ontolo­ gischen Ethik, bei Hösle durch die Letztbegründung einer objektiv­ idealistischen Intersubjektivität und bei Picht mit dem Entwurf einer Humanökologie. »Diagnose« und »Therapie« der Orientierungsprobleme der technologischen Zivilisation sind bei allen drei Autoren durch Hei­ deggers Seinsphilosophie und Subjektivitätskritik inspiriert. Jonas schliesst an den Seinsbegriff in »Sein und Zeit« (SUZ) an, Hösle an die These von der Technik als Seinsgeschick und Picht an Hei­ deggers Begriff von Wahrheit als ein Sichzeigen des Seienden in der ursprünglichen Erschlossenheit. In allen drei Fällen handelt es sich um eine onto-theologische Neuinterpretation von Heideggers Seinsphilosophie zum Zweck der Moralbegründung, die bei Jonas 378

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Kapitel 5: Schluss

aristotelisch, hei Hösle hegelisch und hei Picht platonisch inspiriert ist. Meine Rekonstruktion und Kritik dieser Positionen hetrifft die Moralhegründung und die Moralhestimmung. Damit meine ich die Grundlagen für die Bestimmung dessen, was wir erhalten sollen und wie wir uns verstehen sollen, wenn wir einen für die menschliche Zivilisation zuträglichen Zustand der Biosphäre erhalten wollen. Zum Zweck der Rekonstruktion und Kritik rekurriere ich auf eine Unterscheidung zwischen einem gegenständlichen und einem regu­ lativen Naturhegriff. Ein gegenständlicher Naturhegriff hezieht sich auf den Gegenstand der sinnlichen Anschauung hzw. der Naturwis­ senschaft, d. h. auf die Gesamtheit der Dinge (hzw. der Systeme oder der Gesetze) der Natur. Ein regulativer Naturhegriff hezieht sich auf das zumeist metaphysisch verstandene Wesen der Dinge, was auch als die »Natur der Dinge« hezeichnet wird. »Natur« im Sinne einer regulativen Idee dient im Kontext der Umweltdehatte der Moralhegründung. Ferner unterscheide ich drei gegenständliche Naturhegriffe. Für diese Unterscheidung heziehe ich mich auf drei Naturverhältnisse der Menschen, nämlich ihre ökologischen, ihre ökonomisch-tech­ nischen und ihre kontemplativen Beziehungen zur Natur. Mit dem ökologischen Naturhegriff meine ich die Auffassung von der Natur als Biosphäre hzw. Ökosystem. Dieser Naturhegriff schliesst die Menschen ein, allerdings nicht als Zivilisation verstanden, sondern im hiologischen Sinne als Populationen, die in die Energie- und Stoffflüsse der Biosphäre eingehunden sind. Dem ökonomisch-tech­ nischen Naturhegriff zufolge hedeutet »Natur« eine Ressource, die für die menschliche Bedürfnishefriedigung gezielt umgeformt wird. Der Mensch steht hier also in einem gestaltenden Verhältnis zur Na­ tur. Im kontemplativen Verhältnis erfährt der Mensch die Natur als selhständige Natur, als schöne Natur oder als individuelle Natur von intrinsischem Wert. Die kontemplative Naturerfahrung hezieht sich zumeist auf Organismen oder auf Landschaften von hestimmter Qualität. Die Eigenschaften, die eine kontemplativ erfahrene Natur wertvoll machen, können z. B. ästhetisch, metaphysisch oder religiös im Sinne einer regulativen Idee gedeutet werden. Die Rekonstruktion hat hei allen drei Konzeptionen erstens er­ gehen, dass die Begründungsprohleme einer ahsoluten Vernunft nicht gelöst sind. Um die moralische Pflicht zur Erhaltung der natürlichen Ressourcen für künftige Generationen zu hegründen, ^ 379

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Kapitel 5: Schluss

muss die absolute Instanz theologisch interpretiert werden. Es han­ delt sich in allen drei Fällen um die These einer Immanenz Gottes in der Welt, die verschieden entfaltet wird: Bei Jonas handelt es sich um den kosmogonischen Mythos von der Existenz Gottes als mensch­ licher Geist, Hösle entwirft eine objektiv-idealistische Konzeption von der Realität des Absoluten in vernünftiger Intersubjektivität und Picht skizziert eine Auffassung von der Erscheinung des Abso­ luten als Ideal in der Schönheit des oikos. Da der Anspruch auf Allgemeingültigkeit von moralischen Normen im Rahmen einer Ver­ nunftbegründung jedoch verlangt, dass diese Begründung im Prinzip für alle einsehbar ist, können diese Konzeptionen einer absoluten Vernunft gerade den Allgemeingültigkeitsanspruch moralischer Normen nicht begründen. Der Vorwurf eines säkularisierten Gottes­ glaubens mit autoritärem Geltungsanspruch ist daher in allen drei Fällen berechtigt. Zweitens hat die Rekonstruktion ergeben, dass alle drei Konzep­ tionen aus systematischen Gründen auch an der Frage der Moral­ bestimmung scheitern. Den Konzeptionen einer absoluten Vernunft liegt die Auffassung eines absoluten Subjektes zugunde. Daher können diese Konzeptionen der Entwicklungsdynamik der mensch­ lichen Gesellschaft und der Natur nicht Rechnung tragen, die durch die funktionale Organisation sowohl der Zivilisation als auch der Natur als Ökosystem bedingt sind. Umweltprobleme gehen auf kollektives Handeln zurück und sind daher mit den intrinsischen Zielkonflikten kollektiven Handelns aufgrund von funktionalen Zu­ sammenhängen in der technologischen Gesellschaft verknüpft. Die Konzeption eines absoluten Subjektes als moralisches Prinzip führt in der Anwendung auf diese Zielkonflikte zu willkürlichen und ein­ seitigen Interpretationen. Zur Orientierungsbestimmung in der technologischen Zivilisation angesichts der Umweltprobleme sind je­ doch vernünftige Kriterien zur Vermittlung zwischen der Erhaltung eines für die menschliche Zivilisation günstigen Zustandes der Biosphäre, der wirtschaftlich-technischen Naturnutzung und der kontemplativen Naturerfahrung gefordert. Im Sinne einer Zusammenfassung der kritischen Rekonstruk­ tion skizziere ich zunächst sowohl die Begründungsprobleme als auch die Anwendungsprobleme jeder Konzeption (siehe Kapitel 5.1). Anschliessend nehme ich einige Überlegungen aus der Einleitung wieder auf, um die Rolle von Naturbegriffen in moralphilosophi­ schen Analysen der Umweltproblematik zu diskutieren. Im Gegen­ 380

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5.1 Zusammenfassung

satz zu den drei analysierten Positionen lautet meine These, dass sich die Relevanz von Naturhegriffen in der moralphilosophischen Ana­ lyse der Umweltprohlematik nicht aufgrund von Prohlemen der Moralhegründung ergiht - die zwar hestehen, sich jedoch wie gezeigt wurde nicht durch die Konzeption einer ahsoluten Vernunft lösen lassen -, sondern dass sie primär hei der Moralhestimmung eine Rolle spielen. Da aher die Antworten auf Fragen der Moralhestim­ mung nicht unahhängig von hegründungstheoretischen Fragen sind, sind Naturhegriffe in moralphilosophischen Analysen der Umwelt­ prohlematik nicht irrelevant (siehe Kapitel 5.2).

5.1 Zusammenfassung 5.1.1 Begründungs- und Anwendungsprobleme von Jonas' ontologischer Ethik Jonas geht davon aus, dass die technologische Zivilisation die Biosphäre so verändert, dass die natürlichen Ressourcen für eine menschenwürdige Existenz künftiger Generationen gefährdet sind. Aufgrund dieser Beurteilung formuliert Jonas einen kategorischen Imperativ für menschliches Handeln, der lautet: »Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lehens auf Erden« (PV, 36). Neu an diesem Imperativ ist nach Jonas sowohl der Inhalt, nämlich die Formulierung einer hestimmten Verantwortungspflicht, als auch die ontologische Begründung dieser Pflicht. Da durch die Umweltprohlematik der technologischen Zivilisation nicht das eigene Lehen gefährdet ist und auch nicht das Lehen von Menschen in räumlicher oder zeitlicher Nähe, sondern das Lehen zukünftiger oder räumlich weit entfernt lehender Menschen, kann dieser Imperativ nach Jonas nicht durch eine auf die Selhsterhaltung und die Selhsthestimmung des Individu­ ums hezogene menschliche Vernunft legitimiert werden, sondern nur durch eine ahsolute Instanz. In Jonas' Beurteilung der technologischen Zivilisation geht ein ökologischer Naturhegriff ein, nämlich der Bezug auf anthropogene Veränderungen der Biosphäre, sowie auch ein wirtschaftlich-tech­ nischer Naturhegriff: Natur ist eine notwendige Ressource für die Existenzerhaltung der Menschen, weil Menschen organismische We­ sen sind (siehe Kapitel 2.6). Auch in die Formulierung des Imperativs ^ 381

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Kapitel 5: Schluss

gehen sowohl der ökologische als auch der wirtschaftlich-technische Naturhegriff ein. Denn der Imperativ bezieht sich auf wirtschaftlich­ technisches Handeln, das an Naturnutzung gebunden ist, und der Imperativ fordert die Berücksichtigung der Auswirkungen dieses Handelns auf die Biosphäre. Diese Auswirkungen sollen men­ schenwürdiges Lehen in der Zukunft nicht gefährden. Die inhaltliche Bestimmung dessen, was durch den Imperativ geschützt werden soll, nämlich die Permanenz echten menschlichen Lehens auf Erden, be­ ruht auf Jonas' Seinshegriff. Dieser Seinshegriff ist doppeldeutig. Jo­ nas expliziert diesen Seinshegriff sowohl im Sinne eines deskriptiven kontemplativen Naturhegriffes als auch als eine regulative Idee. Die­ se Doppeldeutigkeit ergiht sich daraus, dass Jonas für die ethische Begründung des Imperativs - warum die Permanenz echten mensch­ lichen Lehens auf Erden ein Gut ist - seinen kontemplativen Natur­ hegriff vom Sein des Organismus als selhsterhaltende Tätigkeit me­ taphysisch-theologisch im Sinne eines regulativen Naturhegriffes deutet (siehe Kapitel 2.5.3). Das Begründungsprohlem hei Jonas hetrifft somit den kontemplativen Naturhegriff und dessen metaphy­ sisch-theologische Deutung. Nehen der ethischen Begründung dafür, dass die Permanenz echten menschlichen Lehens auf Erden ein Gut ist, hegründet Jonas jedoch auch, wieso dazu heute ein neuer Imperativ gefordert ist. Die Begründung dafür lautet, dass sich das Wesen menschlichen Han­ delns in der technologischen Zivilisation verändert hat: es geht um kollektives Handeln, das in eigendynamische Prozesse aufgrund von Wechselheziehungen zwischen technologischer Innovation und wirt­ schaftlicher Technologieanwendung eingehunden ist. Technologi­ sches Handeln verändert aufgrund der Eigendynamik des wirtschaft­ lich-technischen Fortschrittes die Biosphäre in einem Ausmass, sodass die Gefahr einer Apokalypse droht (siehe Kapitel 2.6). In die Analyse des veränderten Wesens menschlichen Handelns gehen der ökologische, der ökonomisch-technische und der kontemplative Na­ turhegriff ein. Das Anwendungsprohlem des regulativen Natur­ hegriffes hetrifft somit hei Jonas dessen Potential für vernünftige Kriterien zur Vermittlung der drei Naturheziehungen, d. h. das Po­ tential zur Bestimmung moralischer Kriterien für wirtschaftlich­ technisches Handeln. Jonas formuliert hier eine Entscheidungsregel - den Vorrang der schlechten vor der guten Prognose - zum Zweck der kasuistischen Beurteilung der gesellschaftlich-wirtschaftlichen Verwendung von technologischen Innovationen. Ich skizziere zuerst 382

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5.1 Zusammenfassung

das Begründungsproblem, das mit Jonas' Seinsbegriff verbunden ist, und dann das Anwendungsproblem im Zusammenhang mit Jonas' Analyse des veränderten Wesens menschlichen Handelns. Jonas' Seinsbegriff beruht auf einer von ihm selbst als »integra­ ler Monismus« bezeichneten Position. Der integrale Monismus be­ sagt, »dass das Organische schon in seinen niedersten Gebilden das Geistige vorbildet, und dass der Geist noch in seiner höchsten Reich­ weite Teil des Organischen bleibt« (OF, 11; siehe Kapitel 2.4). Die Gleichartigkeit alles Seienden hinsichtlich seines Seins besteht im Charakter der sich selbst erhaltenden Tätigkeit. Hinsichtlich der Art und Weise der Selbsterhaltung ist zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen qualitativ zu unterscheiden. Das geistige Vermögen des Menschen zu seiner humanen Selbsterhaltung setzt nach Jonas die Selbsterhaltungsvermögen von Tieren und Pflanzen voraus, ist je­ doch nicht als deren evolutionäre Weiterentwicklung zu verstehen. Jonas' Seinsbegriff ist insofern ein kontemplativer Naturbegriff, als Jonas mit »Sein« das Selbstsein von Lebewesen im Prozess der Selbsterhaltung meint. Jonas entfaltet diesen Seinsbegriff in einer anthropomorphen Auslegung des Organismus, wofür er wechselnd eine existentialistische Terminologie von Selbst und Welt, eine ari­ stotelische Terminologie von Form und Materie sowie eine subjek­ tivitätstheoretische Terminologie von Freiheit und Notwendigkeit verwendet. Dies führt jedoch nicht zu einer begrifflich klaren Be­ stimmung von »Sein« als Subjektivität, wie Jonas behauptet (siehe Kapitel 2.5.1). Neben dem soeben skizzierten Seinsbegriff als Sein des Daseins, der in einer anthropomorphen Explikation der verschiedenen Arten von Lebewesen entwickelt wird, gibt es bei Jonas noch einen zweiten Seinsbegriff: Sein als die Art und Weise der Immanenz Gottes in der Welt. Dies ist der regulative Naturbegriff zur Begründung des Impe­ rativs. Der zweite Seinsbegriff ist eine metaphysisch-theologische Deutung des ersten Seinsbegriffes. Denn der mit dem ersten Seins­ begriff eingeführte Zweckcharakter aller selbsterhaltenden Tätigkeit begründet das Sein individuellen Daseins noch nicht als einen objek­ tiven Wert. Der Charakter eines objektiven Wertes ist nach Jonas vom Seinsganzen her zu begründen. Damit ist nicht die Universalisierbarkeit individuellen Zweckstrebens gemeint. Der Objektivitäts­ charakter kommt individuellem Zweckstreben, d. h. Leben, vielmehr aufgrund der Natur des ganzen Seins zu, und diese besteht nach Jonas darin, dass das Hervorbringen des Lebens ein Grundzweck der ^ 383

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Kapitel 5: Schluss

Natur ist. »Natur« bedeutet in diesem Zusammenhang die Wesens­ bestimmung des Lebens. Jonas skizziert diesen regulativen Natur­ begriff im Rahmen eines kosmogonischen Mythos vom göttlichen Urgeist, der seines eigenen Seins um der Selbstheit endlicher Geister willen entsagte. Zweckhaftigkeit, d.h. Tätigkeit zum Zweck der Selbsterhaltung, ist im Rahmen dieses regulativen Naturbegriffes die Art und Weise, wie der auf sein eigenes Sein und auf Macht ver­ zichtende Gott nun als Sein des Seienden der Welt immanent ist. Nur aufgrund dieses Bezuges stellt Zweckhaftigkeit ein Gut an sich dar (siehe Kapitel 2.5.3). Das Spezifikum menschlichen Seins, das seine Humanität aus­ macht, ist nach Jonas die Verantwortungsfähigkeit. Diese setzt Hand­ lungsfähigkeit voraus: »Macht in ihrem einzigartig menschlichen Sinn, wo sich Kausalgewalt mit Wissen und Freiheit verbindet« (PV, 232). Gegenstand und Instanz von Verantwortung ist das Sein. Es handelt sich um »eine Verbindlichkeit zur Seinswahrung, eine Ver­ antwortung gegen das Sein« (PV, 102). Diese Verbindlichkeit beruht darauf, dass Sein als ein Gut an sich, d. h. als die Art und Weise der Immanenz Gottes in der Welt, den menschlichen Willen zur Sorge darum verpflichtet. Das Sein, dessen Erhaltung der Imperativ for­ dert, ist das Sein von Menschen, d. h. ihre Verantwortungsfähigkeit, die an physische Existenz gebunden ist. Der Imperativ formuliert somit eine Verantwortungspflicht, unter der die zu Verantwortung Fähigen stehen, und deren Gegenstand und Instanz die Verantwor­ tungsfähigkeit ist - er fordert keine inter- und keine intrageneratio­ nelle Gerechtigkeit (siehe Kapitel 2.5.4). Die Begründungsprobleme betreffen bei Jonas sowohl den er­ sten Seinsbegriff, und zwar den Anthropomorphismus der Bestim­ mung von Sein als Selbsterhaltung des Individuums, als auch den zweiten Seinsbegriff, d. h. die mythisch-theologische Deutung der individuellen Selbsterhaltung als eine Weise der Immanenz Gottes in der Welt. Die beiden Deutungen der Selbsterhaltung des Individu­ ums stehen in einem hermeneutisch-zirkulären Verhältnis zuein­ ander. Die anthropomorphe Deutung des Organismus soll als phäno­ menologische Basis die kosmogonische Deutung plausibilisieren, während umgekehrt letztlich erst die kosmogonische Deutung des Lebens die anthropomorphe Auslegung des Organismus legitimiert. Denn die These von der Einheit alles Seienden hinsichtlich seines Seins - einer Natur des Ganzen - beruht auf dem kosmogonischen Mythos der Selbstentäusserung Gottes in der Welt. Jonas' ontologi384

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sehe Ethik ist eine Hermeneutik des Daseins als Entmythologisierung (siehe Kapitel 2.5.2). Zwar ist Intersuhjektivität hei Jonas kon­ stitutiv für Subjektivität, insofern nämlieh das Sein anderer Men­ sehen Gegenstand der Verantwortung ist. Doeh ist Intersuhjektivität für Jonas hegründungstheoretiseh nieht relevant. Denn sein hegründungstheoretisehes Argument hezieht sieh nieht darauf, dass es sieh um das Sein eines anderen Seienden handelt, wofür eine Verantwortungspflieht hesteht, sondern darauf, dass Sein die Art und Weise ist, wie Gott der Welt immanent ist. Die Begründung hesteht also in einer metaphysiseh-theologisehen Deutung des kontemplativen Na­ turhegriffes, d. h. des sieh selhst erhaltenden Individuums. Der Vor­ wurf eines säkularisierten Gottesglauhens ist daher im Falle von Jo­ nas' Moralhegründung hereehtigt. Mit dem Rekurs auf eine göttliehe Instanz ist jedoeh nieht nur das Begründungsprohlem einer ahsoluten Vernunft hei Jonas nieht gelöst, sondern aueh das Anwendungsprohlem, also die Frage der Moralhestimmung. Denn für das veränderte Wesen mensehliehen Handelns, das naeh Jonas der Grund der Umweltprohlematik ist, sind Intersuhjektivitätsverhältnisse entseheidend, die in einer Ontologie des sieh selhst erhaltenden Individuums nieht fasshar sind. Jonas geht aueh zur Bestimmung des veränderten Wesens mensehliehen Handelns von seinem Seinshegriff aus. Die Verän­ derung hesteht naeh Jonas in einer Eigendynamik, die aus der spezifisehen Konstellation von Handlungszweeken, Handlungsmitteln und Handlungssuhjekten in der teehnologisehen Zivilisation ent­ steht. Anwendung und Gestaltung von Teehnologien lassen sieh nieht dadureh steuern, dass die Zweeke, denen sie ursprünglieh dien­ ten, modifiziert werden, da diese Teehnologien sieh aufgrund positi­ ver Rüekkoppelung üher Nehenfolgen vom ursprüngliehen Zweek verselhständigt hahen und in neue Zweeksysteme eingehunden sind. Die Zwangsläufigkeit dieser Entwieklung hat somit, wie Jonas selhst unterstreieht, mit dem kollektiven Charakter der Teehnikanwendung zu tun. Deshalh sind aueh der kollektive Täter und die kollek­ tive Tat Gegenstand einer Ethik für die teehnologisehe Zivilisation. Mit dem kollektiven Täter und der kollektiven Tat meint Jonas jedoeh nieht das intersuhjektiv hestimmte Alltagshandeln der Indivi­ duen zu ihrer Selhsterhaltung, was eine gesellsehaftstheoretisehe Analyse erfordern würde. Mit dem kollektiven Täter und der kollek­ tiven Tat ist vielmehr eine Maehtelite aus Wissensehaft, Wirtsehaft und Politik gemeint, die die gesellsehaftlieh-wirtsehaftliehe Einf­ ^ 385

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Kapitel 5: Schluss

ührung technologischer Innovationen kontrolliert (siehe Kapitel 2.6.1). Das moralische Problem der Technikentwicklung und -anwen­ dung betrifft bei Jonas nicht Kriterien dafür, wie die Entwicklung und Anwendung einer Technologie gestaltet werden soll, sondern viel­ mehr die Frage, ob diese Technologie entwickelt bzw. angewendet werden soll. Diese Frage wird nach Jonas von einer Machtelite ent­ schieden. Daher gilt es, bei dieser Machtelite den neuzeitlichen Fort­ schrittsglauben, dass Technologie Utopien in »konkurrierende Entwürfe für ausführbare Projekte verwandelt« (PV, 54), durch eine Entscheidungsregel zu ersetzen, die fordert, dass der schlechten Pro­ gnose in bezug auf die Technologiefolgen in der Biosphäre der Vor­ rang vor der guten Prognose in bezug auf die Wohlfahrt der Zivilisa­ tion zu geben ist. Diese Regel weist dem ökologischen Naturbegriff eine normative Funktion bei der Moralbestimmung zu, indem die blosse Möglichkeit der Gefährdung des Zustandes der Biosphäre durch die Einführung einer Technologie ein hinreichendes Kriterium dafür ist, diese Technologie aus moralischen Gründen nicht anzu­ wenden (siehe Kapitel 2.6.2). Jonas versteht diese Regel also nicht so, dass ihre Anwendung eine komparative Kosten-Nutzen-Analyse erfordert, da er die blosse Möglichkeit von Schäden ohne ihre Eintretenswahrscheinlichkeit für ein hinreichendes Kriterium erachtet. Damit die Regel angewendet werden kann, ist aber implizit vorausgesetzt, dass Technologien nicht ambivalent sind, dass sie also nicht einerseits für die Erhaltung menschlichen Lebens notwendig sind, so dass ihr Einsatz deshalb mo­ ralisch geboten ist, und andererseits aber zugleich die Erhaltung anderen - menschlichen Lebens mittelbar über die Veränderung der Biosphäre gefährden, so dass ihr Einsatz zugleich moralisch verboten ist. Jonas argumentiert an gewissen Stellen so, dass die technolo­ gische Innovation lediglich dem Wohlfahrtsstreben der lebenden Generation dient, jedoch die natürlichen Ressourcen für die Lebens­ erhaltung künftiger Generationen gefährdet. An anderer Stelle weist er jedoch darauf hin, dass Technologien einerseits für die Erhaltung menschliches Leben notwendig sind und andererseits menschliches Leben mittelbar gefährden, beispielsweise mit der Bemerkung, dass »jede konstruktive Lösung [der Armutsproblematik] einen hohen Einsatz an Technologie verlangt ..., und die davon der Umwelt ge­ schlagenen Wunden verlangen nach neuem technischem Fortschritt zu ihrer Heilung, also schon defensiv nach verbesserter Technologie« 386

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5.1 Zusammenfassung

(PV, 323; kursiv im Original). Die entscheidende Aussage in diesem Zitat ist, dass die globale Armutsproblematik schon defensiv nach verbesserter Technologie verlangt. Diesem Argument zufolge dient technologische Innovation nicht mehr ausschliesslich der Wohl­ fahrtsmehrung, sondern ist auch für die Erhaltung menschlichen Le­ bens gefordert. Daher wird »die Befolgung einer gewonnenen ethi­ schen Einsicht ... selbst wieder zum Problem« (TME, 13). Aufgrund der prinzipiellen Ambivalenz der Folgen auch im Falle von Technolo­ gie-Innovationen kann daher die Entscheidungsregel vom Vorrang der schlechten vor der guten Prognose und damit auch Jonas' regula­ tiver Naturbegriff auf Orientierungsprobleme in der technologi­ schen Zivilisation angesichts der Umweltproblematik nicht ange­ wendet werden. Das ontologische Paradigma des sich selbst erhaltenden Indivi­ duums, das Selbsterhaltung existential als Sinn des Lebens und exi­ stentiell als physische Selbsterhaltung interpretiert, hat keinen systematischen Ort für Intersubjektivität und kann deshalb Wert­ konflikte, die über funktionale Zusammenhänge entstehen und die für Umweltprobleme zentral sind, nicht behandeln. Die existentialexistentielle Deutung der Umweltproblematik, »dass die beiden Aspekte sittlicher Verantwortung, die metaphysische des Augenblicks und die kausale der Zukunftswirkung, ineinanderfliessen, da die Bedrohung der totalen Zukunft plötzlich ihren baren physischen Schutz in die Dimension des metaphysischen Anliegens erhebt und damit vorsorg­ liche Klugheit in seinem Dienst zur vordringlichsten transzendenten Pflicht macht« (OF, 338),

greift, wie Jonas selbst sieht, dann nicht, wenn sich die Umweltpro­ blematik nicht auf einen »>Augenblick< der Menschheit in ihrem ge­ sellschaftlichen Gesamthandeln« (OF, 338) zurückführen lässt. Jonas' Prinzip Verantwortung ist somit eine onto-theologische Moral­ begründung ohne Moralbestimmung. Sie überlässt die Interpretati­ on der Orientierungsproblematik der technologischen Zivilisation angesichts der Umweltproblematik der Beliebigkeit.

5.1.2 Begründungs- und Anwendungsprobleme von Hösles objektiv-idealistischer Intersubjektivität Hösle versteht sein Programm einer objektiv-idealistischen Intersub­ jektivität als eine begründungstheoretische Alternative zu Jonas' ^ 387

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Kapitel 5: Schluss

Subjektivitätskritik im Rahmen einer mythisch-metaphysischen Ontologie des Organismus. Hösles Subjektivitätskritik im Rahmen einer Metaphysik des Geistes führt zu einer Interpretation des ratio­ nalen Begreifens des Guten durch das Subjekt als Präsenz des Abso­ luten in der Welt. Dieses Begreifen verpflichtet das erkennende Sub­ jekt moralisch dazu, das Erkannte in intersubjektiven Strukturen zu realisieren. Hösle versucht, dieses rationale Gottespostulat auch rational einsichtig zu machen und zwar im Rahmen einer objektiv­ idealistischen Konzeption. Er schlägt zwei Begründungen des objek­ tiven Idealismus vor: zuerst eine Zyklentheorie der Philosophie­ geschichte, deren Begründungsanspruch er wieder zurücknimmt, nachdem er eine reflexive Letztbegründung des objektiven Idealis­ mus vorgelegt hat, mit der er den Anspruch auf eine erfolgreich durchgeführte strenge Begründung verbindet. Die Zyklentheorie prägt aber weiterhin seine philosophische Methode. Der Grundgedanke der Zyklentheorie besteht darin, dass sich die Philosophiegeschichte als Wiederholung von Zyklen rekonstruie­ ren lässt. Jeder Zyklus besteht aus fünf Grundpositionen, die in einem dialektischen Verhältnis aufeinander folgen: Realismus bzw. dogmatische Metaphysik, Empirismus, Subjektivismus (theoreti­ scher Skeptizismus, praktischer Relativismus), Transzendentalphilo­ sophie sowie als synthetische Position der objektive Idealismus. Hösle nennt dies die strukturelle Seite der Philosophiegeschichte, hinsichtlich der die Philosophie abgeschlossen ist, im Unterschied zur materialen Seite, hinsichtlich der sie sich weiterentwickelt. Die für die Zyklentheorie grundlegende Unterscheidung von Struktur und Material der Philosophiegeschichte wird von Hösle nicht näher bestimmt. Auch die beispielshaften Explikationen führen nicht zu einer Klärung. In materialer Hinsicht unterscheidet Hösle ein Para­ digma der Objektivität, der Subjektivität und der Intersubjektivität. Hösle will mit der Zyklentheorie die Vernunftkrise der Gegenwart so interpretiert er den Pluralismus philosophischer Positionen und die Ablehnung einer philosophischen Konzeption des Absoluten in der zeitgenössischen Philosophie - überwinden. Die nähere Betrach­ tung der Zyklentheorie zeigt jedoch, dass sie in ihrer Konsequenz dem Zweck, zu dem sie Hösle einführt, gerade widerspricht: sie ist keine notwendige Bedingung für eine gangbare Alternative zum Re­ lativismus, sondern führt entweder in materialer Hinsicht in eine nicht eingestandene relativistische Fortschrittsposition oder aber zu einer nicht eingestandenen Rehabilitierung von Hegels These von 388

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5.1 Zusammenfassung

der Vollendung der Philosophie, nun aber als objektiv-idealistische Intersuhjektivität (siehe Kapitel 3.2.1). Die Begründungsprobleme der reflexiven Letztbegründung be­ treffen den Letztbegründungsbeweis und seine objektiv-idealistische Interpretation. Der Letztbegründungsbeweis soll als ein vorausset­ zungsloses, d. h. reflexives und nicht axiomatisch-deduktives Vor­ gehen in der Reflexion die Notwendigkeit der Wahrheit und die Wahrheit des Begründeten aufweisen. Das erste Problem besteht in der hiermit angezeigten Homonymie des Ausdruckes »Letzt­ begründung«, womit erstens der Geltungsanspruch nicht-empiri­ scher Erkenntnis, zweitens das Verfahren, wie dieser Geltungs­ anspruch auszuweisen ist, und drittens der Geltungsgrund gemeint sein kann. Der Beweisgedanke der objektiv-idealistischen Letzt­ begründung stützt sich auf diese Mehrdeutigkeit (siehe Kapitel 3.2.2.1). Hösle konzipiert seinen Letztbegründungsbeweis als Wider­ legung des Satzes: »Es ist unmöglich, dass es nicht-hypothetische apriorische Erkenntnis gibt.« Mit einem apagogischen Beweis ist je­ doch keine letztbegründete Erkenntnis ausgewiesen. Der Begrün­ dungsanspruch des Letztbegründungsbeweises beruht daher darauf, dass der Letztbegründungsbeweis selbst objektiv-idealistisch inter­ pretiert wird, und zwar als eine objektive Struktur einer absoluten Reflexion, die im denkenden Philosophen am Werke ist, aber nicht durch ihn konstituiert wird. Nur deshalb begründet der Letzt­ begründungsbeweis sich selbst und alles, was aus ihm folgt. Daher kommt auch die objektiv-idealistische Letztbegründung nicht ohne ein Gottespostulat aus, an das zu glauben ist, so dass auch im Falle von Hösles Konzeption einer objektiv-idealistischen Vernunft der Vorwurf eines säkularisierten Gottesglaubens nicht unberechtigt ist (siehe Kapitel 3.2.2.2). Dazu kommt, dass Hösle die von ihm gefor­ derte objektiv-idealistische Intersubjektivität nicht aus seiner Be­ gründungskonzeption herleitet, sondern ihre Realisierung lediglich als eine moralische Forderung postuliert (siehe Kapitel 3.3.2.3). In bezug auf das Anwendungsproblem der absoluten Vernunft, d. h. in bezug auf die Frage der Moralbestimmung angesichts der Umweltprobleme der technologischen Zivilisation, gerät Hösle in ein Dilemma. Vom Standpunkt des objektiven Idealismus aus ist nicht nur die Entstehung der ökologischen Krise metaphysisch deter­ miniert - sie ist nach Hösle eine unvermeidliche Folge der neuzeit­ lichen Subjektivität, die eine bestimmten Entwicklungsstufe des Gei­ stes darstellt -, sondern es ist auch metaphysisch determiniert, ob die ^ 389

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technologische Zivilisation die ökologische Krise überwindet oder daran untergeht (siehe Kapitel 3.3.1 und Kapitel 3.3.2.2). Es besteht so gesehen also gar kein Moralbedarf zur Abwendung der ökologi­ schen Krise. Nun ist es für die endliche Vernunft der Menschen je­ doch prinzipiell nicht möglich zu wissen, ob die ökologische Krise überwunden werden wird. Die Orientierungsprobleme der technolo­ gischen Zivilisation angesichts der Umweltprobleme sind somit Aus­ druck des prinzipiellen menschlichen Nichtwissens. Dieses Nichtwissen ermöglicht nun aber nach Hösle erst die Moralität des Menschen und macht sie ihm zugleich zur Pflicht. Und zwar geht es darum, »im Kampf gegen alle Widrigkeiten der Natur - der äusseren wie der inneren - die Welt dem Sittengesetz immer gemässer zu machen« (KGVP, 239). Wie die dafür voraus­ gesetzte Willens- und Handlungsfreiheit mit dem Determinismus des objektiven Idealismus in Übereinstimmung gebracht werden kann, ist von Hösle nicht gelöst (siehe Kapitel 3.3.2.2). Die Welt dem Sittengesetz gemässer zu machen bedeutet nach Hösle, inter­ subjektive Strukturen mit Selbstzweckcharakter zu schaffen. Voraus­ setzung dafür ist nach Hösle eine materiale Werttheorie. Die systematische Ausarbeitung der Werttheorie steht noch aus. Der Grundgedanke dazu besteht in einer dreistufigen Wertehie­ rarchie, die auf dem objektiv-idealistischen Verständnis der Katego­ rien der Objektivität, Subjektivität und Intersubjektivität basiert: Auf der untersten Stufe steht die Natur, die Wert hat aber nicht Selbstzweck ist. Sie ist zum einen für menschliches Leben notwendig, zum anderen ist sie aber auch ein Gleichnis des Unbedingten. Die Achtung der Natur als Gleichnis des Absoluten ist Grundlage für die sittliche Bildung des Individuums, und daher darf Natur nicht ohne Not verletzt werden. Für die Bestimmung des Wertcharakters von Natur rekurriert Hösle somit auf alle drei Naturbeziehungen des Menschen - die ökologische, die ökonomische und die kontemplative, wobei die kontemplative Erfahrung metaphysisch gedeutet wird. Zur Verhältnisbestimmung dieser Bewertungen äussert Hösle nur das Kriterium »ohne Not«, was jedoch näherer Bestimmung bedarf. Die mittlere Stufe der Wertehierarchie bilden menschliche Individuen mit Selbstwert. Die höchste Stufe sind intersubjektive Strukturen mit Selbstzweck, da diese »etwas Affirmativeres darstellen als blosse Gerechtigkeit« (KGVP, 242). Hösle bestimmt den Selbstzweckcha­ rakter von Intersubjektivität lediglich formal als transitive und sym­ metrische Relationen, und seine Explikation von vernünftiger Inter390

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5.1 Zusammenfassung

Subjektivität mündet in die Forderung einer universellen mora­ lischen Gleichheit menschlicher Subjekte. Er postuliert, dass die ma­ teriale Werttheorie durch Ableitung aus dem Letztbegründungs­ beweis zu gewinnen ist, doch sind die Ansatzpunkte dazu nicht klar (siehe Kapitel 3.3.2.3). Hösle behauptet nun, dass die Realisierung intersubjektiver Strukturen mit Selbstzweckcharakter zu einer »Versöhnung von Na­ tur und Geist« (PPW, 195) führt. Unbestimmt dabei bleibt erstens, worin diese Versöhnung besteht: Ist mit »Versöhnung« gemeint, dass keine Bewertungskonflikte zwischen der Erhaltung von Ökosyste­ men, der wirtschaftlich-technischen Naturnutzung und der Achtung der kontemplativ erfahrenen Natur auftreten? Zweitens ist auch nicht ohne weiteres einleuchtend, wieso die so verstandene Intersub­ jektivität eine Versöhnung von Geist und Natur zur Folge hat. Denn in diese Intersubjektivität kann die nichtmenschliche Natur nicht ihrerseits als Subjektivität eingebunden werden. Hösle rekurriert hier auf den Doppelcharakter des Menschen, der als leibliches und als geistiges Wesen bereits eine Einheit (und Differenz) von Natur und Geist ist. Dieser Doppelcharakter des menschlichen Individuums hat meines Erachtens jedoch nicht das analytische Potential, um den Zielkonflikten kollektiven Handelns aufgrund funktionaler gesell­ schaftlicher und ökologischer Zusammenhänge Rechnung zu tragen. Insgesamt betrachtet scheitert somit auch Hösles Rehabilitation einer absoluten Vernunft mittels der Konzeption einer objektiv-idea­ listischen Intersubjektivität sowohl hinsichtlich der Begründungs­ probleme wie auch hinsichtlich der Anwendungsprobleme dieser ab­ soluten Vernunft - zumindest in der Form, wie diese Konzeption bislang vorliegt. Bezieht man dieses Resultat der Rekonstruktion und Kritik auf Hösles Anspruch zurück, den er mit der Konzeption eines objektiven Idealimus der Intersubjektivität verbindet, so ist deutlich, dass auch für Hösles Einarbeitung »der neuen Themen der nachhegelschen Philosophie sowie der (nachhegelschen) Einzelwis­ senschaften in das System des objektiven Idealismus« (WG, 143; kursiv im Original) gilt, was Hösle an Heidegger kritisiert: es handelt sich nicht um eine »logisch konsistente und mit den Phänomenen übereinstimmende Metaphysik der ökologischen Krise« (PPW, 182). Hösles objektiv-idealistische Interpretation der ökologischen Krise ist keine überzeugende Konzeption von Vernunft: weder in bezug auf Moralbegründung noch in bezug auf Moralbestimmung was die Orientierungsprobleme der technologischen Zvilisation angesichts ^ 391

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Kapitel 5: Schluss

der ökologischen Krise betrifft. Damit ist aber auch Hösles Diagnose der Gegenwart als einer Vernunftkrise in Frage gestellt. 5.1.3 Begründungs- und Anwendungsprobleme von Pichts Konzeption von Humanökologie Der Kernpunkt von Pichts Überlegungen zur Umweltproblematik der technologischen Zivilisation betrifft die neuzeitliche Naturwis­ senschaft, zu der Picht die These vertritt, dass es sich hier um »eine Denkform ... [handelt], die ihrer Struktur nach in unser Ökosystem nicht integriert werden kann« (HF, 22). Sie ist daher nicht nur als Grund der Umweltproblematik anzusehen, sondern sie ist auch als Wissensgrundlage zur Vermeidung bzw. Verminderung von Um­ weltproblemen ungeeignet. Pichts Kritik der ontologischen und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der neuzeitlichen Natur­ wissenschaft ist von Heideggers Begriff von Wahrheit als Unverbor­ genheit inspiriert: Das Wissen der neuzeitlichen Naturwissenschaft ist richtig, aber nicht wahr, und deshalb zerstört die neuzeitliche Na­ turwissenschaft die Natur. Picht zielt daher auf eine Erkenntnis des­ sen, wie sich die Natur von sich her zeigt (siehe Kapitel 4.2). Natur als Gegenstand der Ökologie, wie Picht sie versteht, nennt Picht oikos und umschreibt diesen als die in der Allgemeinheit der Gesetze fundierte Einmaligkeit von Situationen (siehe Kapitel 4.3.1). Wie sich Natur von sich her zeigt, entwickelt Picht sodann in einer dreistufigen Explikation der Formel von »der in der Allgemein­ heit der Gesetze fundierten Einmaligkeit von Situationen«. Sie um­ fasst eine naturwissenschaftliche, eine kommunikationstheoretische und eine mythisch-religiöse Explikation (siehe Kapitel 4.3.2 bis Ka­ pitel 4.3.4). Er geht dabei so vor, dass er wissenschaftliche Termino­ logie vom Standpunkt wahrer Erkenntnis her umdeutet. Zwar wird der Standpunkt wahrer Erkenntnis, der kein Standpunkt mehr sein soll, in der zweiten, ontologischen Explikation und im dritten Schritt mit der mythisch-religiösen Interpretation der Ontologie skizziert. Doch bleiben die Umdeutungen der wissenschaftlichen Terminologie unverständlich, weil die Unterscheidung von richtiger wissenschaft­ licher und wahrer philosophischer Erkenntnis sowie ihr Verhältnis zueinander mit Schwierigkeiten behaftet sind (siehe Kapitel 4.3.5). Die Erkenntnis, wie sich die Natur von sich her zeigt, ist eine Erkenntnis von Missverhältnissen in der Natur, die für die Gestal­ tung der technologischen Zivilisation - diese nennt Picht den oikos 392

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der Menschen - verbindlich sind. Picht expliziert seinen Masshegriff zunächst als »die >Elemente< der Ordnung eines Ökosystems. Ökolo­ gie ist die Erkenntnis der immanenten Masse der Natur« (HF, 428; kursiv im Original). Die Massverhältnisse, die das Gleichgewicht eines Ökosystems bestimmen, dürfen durch die menschliche Natur­ nutzung nicht zerstört werden. Diese Masse dienen somit als norma­ tive Kriterien zur Moralhestimmung in hezug auf die wirtschaftlich­ technische Naturnutzung - den Bau des menschlichen oikos. Diese Massverhältnisse werden aber nicht von der wissenschaftlichen Öko­ logie erkannt, weil diese als Projektion des menschlichen logos in die Natur die Massverhältnisse in der Natur gerade zerstört, sondern im kontemplativen Naturverhältnis als Erkenntnis der Schönheit der Natur. Die Verbindlichkeit dieser als Schönheit erkannten Massver­ hältnisse beruht auf einer mythisch-religiösen Deutung: Was wir als schön erkennnen, ist das Ideal als Erscheinung des Absoluten in der Zeit - und zwar im Pichtschen Sinne als »Hier und Jetzt«: die Gegen­ wart als Erscheinung des Absoluten - eine Gegenwart, die Wirklich­ keit ist. Nichts anderes soll auch die Umschreibung des oikos als die in der Allgemeinheit der Gesetze fundierte Einmaligkeit von Situa­ tionen besagen: Ein oikos ist Wirklichkeit als Erscheinung des Abso­ luten (siehe Kapitel 4.3.4). Pichts regulativer Naturbegriff hat keinen deskriptiven Bezug auf empirische Natur, sondern ist ein abstrakter Wesensbegriff von Natur, wie sie sich uns zeigt, wenn sie sich uns von sich aus zeigt: als unmittelbare Erscheinung des Absoluten. Picht nennt keine inhalt­ lichen Bestimmungen oder Proportionen, die in die Bestimmung von moralischen Normen menschlicher Naturnutzung einzugehen hät­ ten. Aufgrund von Pichts Position lässt sich hierfür ein systemati­ sches Argument konstruieren: das Absolute individuiert mit dem Eintritt in die Zeitlichkeit jeweils neu. Das Anwendungsproblem dieser absoluten Vernunft ist in Pichts Konzeption daher nur im ersten Schritt einfach zu lösen: Die Erhaltung der kontemplativ als schön erfahrenen Natur ist für die wirtschaftlich-technologische Naturnutzung verbindlich. Der zwei­ ten Schritt hingegen, die spezifische Moralbestimmung, ist nicht mehr begründet durchführbar. Da eine allgemeine Norm der Ein­ maligkeit eines jeden oikos nicht gerecht wird, muss jeder oikos indi­ viduell hinsichtlich seiner Masse erkannt werden. Doch auch die Erkenntnis von jeweils individuellen Massen setzt ein Wahrheitskri­ terium voraus, wenn es sich hierbei nicht um willkürliche Auslegun­ ^ 393

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Kapitel 5: Schluss

gen handeln soll. Mit dieser Frage setzt sich Picht jedoch nicht aus­ einander, sondern er hebt nur hervor, dass Wahrheit von Richtigkeit unabhängig und zudem ihr übergeordnet ist (siehe Kapitel 4.3.5). Die allgemeine Forderung Pichts lautet daher nur, dass die Men­ schen sich den Massen in der Natur zu fügen haben. Hingegen lässt sich nicht mehr allgemein bestimmen, worin diese Masse bestehen. Ob es allgemeine Kriterien für wahre Erkenntnis von Massen gibt, behandelt Picht nicht. Damit reduziert sich auch bei Picht das Orien­ tierungsproblem der technologischen Zivilisation auf die Frage, war­ um die Menschen sich vorgegebenen Grenzen zu fügen haben. Um dies zu begründen, rekurriert Picht auf die mythisch-religiöse Erfah­ rung der eigenen Endlichkeit, was im Rahmen eines philosophischen Anspruches jedoch nicht akzeptabel (siehe Kapitel 4.4). In der tech­ nologischen Zivilisation kann eine vernünftige Bestimmung von Sinn und Zweck des Lebens nicht unabhängig von der wirtschaftlich­ technologischen Wirklichkeit erfolgen. Der Grund dafür liegt darin, dass Sinnbestimmung mit Lebensführung verbunden ist und das heisst, mit wirtschaftlich-technologischem Handeln. Wissen über wirtschaftlich-technologisches Handeln als kollektives Handeln mit ökologischen und gesellschaftlichen Auswirkungen ist daher in die Sinnbestimmung einzubeziehen. Pichts Entgegensetzung von Rich­ tigkeit des Wissens einerseits und wahrer Erkenntnis andererseits zum Zweck der Rehabilitation einer absoluten Vernunft verbaut da­ her den Weg zu einer vernünftigen Auseinandersetzung mit dem Sinn und Zweck des Lebens in der technologischen Zivilisation.

5.2 Über die Rolle von Naturbegriffen in moralphilosophischen Analysen der Umweltproblematik Jonas, Hösle und Picht sehen die Rolle von Naturbegriffen in der Moralphilosophie primär - wenn auch nicht ausschliesslich - im Zu­ sammenhang mit begründungstheoretischen Problemen einer nor­ mativen Ethik. Sie vertreten die Auffassung, dass zur Erhaltung der natürlichen Lebensvoraussetzungen für künftige Generationen ein regulativer Naturbegriff als moralbegründendes Prinzip notwendig ist und entwerfen eine je verschiedene Konzeption einer ontologisch verstandenen absoluten Vernunft. Es sind im wesentlichen zwei Gründe, warum Jonas, Hösle und Picht Grundlagenprobleme der theoretischen Ethik in ihrer philo­ 394

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5.2 Naturbegriffe in moralphilosophischen Analysen der Umweltproblematik

sophischen Auseinandersetzung mit der Umweltdebatte in den Vor­ dergrund stellen und sich mit einem regulativen Naturbegriff befas­ sen, während die spezifischen Probleme der Moralbestimmung einer Umweltethik am Rande bleiben. Erstens führen sie die Gefährdung der natürlichen Ressourcen für künftige Generationen durch die heutige technologische Zivilisation auf einen Verlust von Moral zurück. Sie sehen in der neuzeitlichen Orientierung an der endlichen menschlichen Subjektivität als Moral- und als Erkenntnisprinzip einen Relativismus und damit den Verlust von Moralität überhaupt, den es durch die Rehabilitierung einer Konzeption absoluter Ver­ nunft als begründendes Prinzip zu überwinden gilt. Die Rekonstruk­ tion hat bei allen drei Positionen gezeigt, dass es sehr fraglich ist, ob sich ihre begründungstheoretischen Probleme philosophisch über­ zeugend lösen lassen. Damit bleibt die Aufgabe einer philosophi­ schen Alternative zur Begründung moralischer Normen bestehen ein zwar nicht erst im Zuge der Umweltdebatte aufgeworfenes, aber hier auch zentrales Problem. Ihr zweiter Grund für die Rehabilitierung einer absoluten Ver­ nunft ist ein politisch-pragmatischer. Sie vertreten die Meinung, dass die von ihnen für die dauerhafte Erhaltung der natürlichen Ressour­ cen geforderten Konsumverzichte und Umverteilungen von Gütern nicht durchgesetzt werden können, wenn diese Forderungen nicht ihrerseits unbedingt gelten und damit dem menschlichen Ermessen entzogen sind. Deshalb sind diese Verzichtgebote durch eine absolute Vernunft zu legitimieren. Nun gilt es aber zwischen der moraltheo­ retischen Begründung einer Pflicht und der faktischen Akzeptanz dieser Pflicht zu unterscheiden. Denn die faktische Akzeptanz folgt nicht aus der moraltheoretischen Begründung, sondern ist auf zu­ sätzliche und teils davon unabhängige Motivationsfaktoren angewie­ sen, wie sowohl Jonas als auch Hösle selbst bemerken (siehe Kapitel 2.6.2 und Kapitel 3.3.2.3J. In technologischen Gesellschaften wird die Verbindlichkeit von Ge- oder Verboten durch die Einführung von geeigneten intersubjektiven Strukturen mit Sanktionscharakter si­ chergestellt. Diese sind für die Motivation individueller und kollek­ tiver Akteure, solche Ge- oder Verbote zu akzeptieren, wichtig. Die pragmatisch-politische Durchsetzung moralischer Ge- oder Verbote hängt somit zumindest nicht primär von einer autoritären Moral­ begründung ab, sondern davon, ob geeignete intersubjektive Struk­ turen etabliert sind. Die moralphilosophische Auseinandersetzung mit Kriterien der ^ 395

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Kapitel 5: Schluss

moralischen Beurteilung von Handlungen (die Moralhestimmung) hleiht hei Jonas wie hei Picht ahstrakt. Hösle spricht zwar häufig kon­ krete Prohleme an, stellt dahei jedoch keinen systematischen Bezug zu seiner ohjektiv-idealistischen Moraltheorie her, was seinen kon­ kreten Äusserungen eine gewisse Beliehigkeit verleiht. Die Rekon­ struktion hat üherdies hei allen drei Positionen ergehen, dass es sehr zweifelhaft ist, oh auf ihrer Grundlage überhaupt eine Moralhestim­ mung möglich ist, die den moralischen Prohlemen der Umweltdehatte adäquat ist. Diese Bedenken entstehen, weil die von den drei Autoren favorisierten hegründungstheoretischen Positionen nicht auf einer Analyse der Umweltprohlematik heruhen, sondern in an­ deren Prohlemzusammenhängen entwickelt und dann unkritisch auf die Umweltprohlematik ühertragen wurden. Daher kann spezifischen Charakteristika der Umweltprohlematik im Rahmen dieser Positio­ nen nicht angemessen oder gar nicht Rechnung getragen werden. Es handelt sich hier um den kollektiven Charakter menschlichen Han­ delns und seine intrinsischen Zielkonflikte, die hereits hezüglich der Natur als ökologischer, ökonomisch-technischer und kontemplativer Dimension menschlicher Existenz hestehen, aher auch zwischen den intersuhjektiven und den individuellen Dimensionen des Mensch­ seins, sowie um den funktionalen Charakter von Natur als Öko­ system (siehe Kapitel 1.1). Soll die Umweltprohlematik ernst genommen werden, dann er­ fordert dies eine sachadäquate hegründete Moralhestimmung und nicht den Appell an eine willkürlich interpretierhare Moralität. Nun ist aher eine kategorisch geforderte Pflicht zur Erhaltung der natürli­ chen Ressourcen für künftige Generationen noch keine hegründete Bestimmung des Begriffes eines guten Lehens und eines gerechten Zusammenlehens, der die Erhaltung eines für die Zivilisation günsti­ gen Zustandes der Biosphäre einschliesst. Die Idee einer ahsoluten Moralhegründung in einem regulativen Naturhegriff versagt somit auch an der Moralhestimmung, die nicht in einem einfachen topdoron-Verfahren löshar ist, und reduziert damit die moralphilosophi­ sche Auseinandersetzung darauf, Moralität einzuklagen. Dieses Re­ sultat spricht für die Kritik von Tugendhat: »Aus der Idee des Begründetseins als solcher kann, wenn man sich darunter üherhaupt etwas vorstellen kann, üherhaupt nichts Inhaltliches folgen. Aus­ serdem ... [ist] nicht nur die Idee eines nicht mehr hedingten Begründetseins von ohen, sondern auch die Idee, dass das moralische Sollen (oder Müssen) einen nicht hedingten Sinn hat - dass es irgendwie ahsolut üher uns lastet, 396

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wie eine säkularisierte Stimme Gottes - sinnwidrig ... . Gott zu naturalisie­ ren ... ist nicht möglich.« (Tugendhat 1993, 24f.)

Meine moralphilosophische Gegenthese lautet daher, dass sich die Relevanz der Naturbegriffe in der moralphilosophischen Analyse der Umweltproblematik nicht aufgrund von Problemen der Moral­ begründung ergibt, sondern dass sie primär bei der Moralbestim­ mung von Bedeutung sind. Es geht angesichts der Umweltproble­ matik nicht darum, Moralität überhaupt einzuklagen, sondern das moralisch Wünschenswerte hinreichend konkret zu bestimmen und einsichtig zu begründen. Die begründungstheoretischen Fragen können nicht durch einen regulativen Naturbegriff gelöst werden, wie anhand von Jonas, Hösle und Picht gezeigt wurde, sondern erfor­ dern einen Begriff menschlicher Vernunft, der dem Charakter mora­ lischer Probleme der technologischen Zivilisation Rechnung trägt. Die Antworten auf Fragen der Moralbestimmung sind nicht un­ abhängig von begründungstheoretischen Fragen und umgekehrt. Es gilt hier zu bedenken, dass »die empirischen und normativen Phäno­ mene .zu komplex sein [könnten], als dass sie durch ein einziges Prinzip und eine einzige systematische Begrifflichkeit erfassbar sind« (Nida-Rümelin 1996, 62; siehe Schaber 1998, 188 ff.), wie dies mit dem Rekurs auf einen regulativen Naturbegriff versucht wird. Nicht nur weil ein philosophischer Begriff des Absoluten heute obsolet er­ scheint, sondern auch weil »allzu schlichte Theoriekonzeptionen die­ sem neuen Diskussionsstand [der Vielfalt und Differenziertheit nor­ mativer Phänomene] nicht mehr gerecht werden ., kann man ... von einer Grundlagenkrise der ethischen Theorie sprechen, die durch Probleme der Anwendung heraufbeschworen wurde und verständ­ lich macht, dass in jüngster Zeit eine erneute Hinwendung zu meta­ ethischen und erkenntnistheoretischen Problemen erfolgt ist« (NidaRümelin 1996, 62 f.). Die Fokussierung auf die Kontroverse zwischen anthropozentrischen und nicht-anthropozentrischen Ansätzen in der ökologischen Ethik bzw. Umweltethik geht deshalb an wesentlichen moraltheoretischen Fragen der Umweltproblematik vorbei. Die angewandte Seite kompliziert sich - wie Jonas, Hösle und Picht zurecht gesehen haben - dadurch, dass die »Klärung und Be­ gründung von Wertvorstellungen und Verhaltensnormen ., die sich auf den menschlichen Umgang mit der aussermenschlichen Natur beziehen« (Birnbacher 1991a, 279), nicht nur eine bestimmte Praxis­ form betreffen, sondern, »so gut wie alle Praxisformen tangiert.« ^ 397

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Kapitel 5: Schluss

(Nida-Rümelin 1996, 64). Denn die moralischen Fragen in der Um­ weltdebatte umfassen alle moralischen Probleme, die aus der mehr­ dimensionalen Naturabhängigkeit der Menschen direkt und indirekt entstehen, und diese sind nicht an einen spezifischen Praxisbereich gebunden. Gegenstand einer Umweltethik sind somit auch intra- und intergenerationelle Gerechtigkeitsprobleme, die durch die Umwelt­ problematik entstehen (siehe Leist 1996, 388). Sie werden gegenwär­ tig unter dem gesellschaftlichen Leitbegriff einer nachhaltigen Ent­ wicklung diskutiert. Bei meinen abschliessenden Bemerkungen kann es sich nicht um den Entwurf eines alternativen moraltheoretischen Ansatzes handeln, denn die Grundlagen dafür lassen sich nicht aus der Rekon­ struktion und Kritik der Positionen von Jonas, Hösle und Picht ge­ winnen. Es handelt sich vielmehr um eine Richtungsbestimmung für die Diskussion und um eine Liste von Aufgaben, die im Hinblick auf die moralische Beurteilung und Begründung von Handlungen ange­ sichts ihrer Auswirkungen auf die Natur zu bearbeiten sind. Ich stelle die Moralbestimmung ins Zentrum, und zwar die Frage, wie die mo­ ralischen Probleme verfasst sind und wie Naturbegriffe moralphi­ losophisch bei der Bestimmung von Kriterien moralischen Handelns relevant werden, und verweise auf die damit verbundenen be­ gründungstheoretischen Probleme. Die mit der Umweltdebatte aufgeworfenen moralischen Proble­ me betreffen die moralische Beurteilung von Handlungen angesichts ihrer Auswirkungen auf die Natur. Wichtig ist hier, dass anthropo­ gene Veränderungen der Natur nicht grundsätzlich vermieden wer­ den können, weil die menschliche Gesellschaft von der Natur abhän­ gig ist und daher anthropogene Umwelteinflüsse notwendigerweise stattfinden: nicht ob, sondern welche ist hier die Frage. Ferner sind die als Umweltprobleme bewerteten anthropogenen Veränderungen der natürlichen Umwelt durch den kollektiven Charakter mensch­ lichen Handelns bedingt, weil Umweltprobleme zumeist durch die Kumulation von Auswirkungen einer in den Alltag integrierten Nut­ zungsweise entstehen, von der die technologische Zivilisation in ho­ hem Grade abhängig ist - beispielsweise von der motorisierten Ver­ kehrsmobilität, die für viele alltägliche Belange erforderlich ist. Gegenstand der Beurteilung sind somit Handlungskomplexe und nicht Einzelhandlungen. Ferner sind die Adressaten dieser mora­ lischen Überlegungen deshalb die Menschen als Mitglieder eines Kollektivs und nicht als Individuen. 398

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Aufgrund der Naturabhängigkeit der Menschen sind für die Be­ stimmung moralischer Kriterien menschlichen Handelns diejenigen gegenständlichen Naturbegriffe von Bedeutung, die die verschiede­ nen Dimensionen der Naturabhängigkeit menschlicher Existenz be­ grifflich fassen. In der Einleitung (siehe Kapitel 1.1) habe ich zu die­ sem Zweck einen ökologischen, einen ökonomisch-technischen und einen kontemplativen Naturbegriff unterschieden. Mit dem ökologi­ schen Naturbegriff meine ich die Auffassung von der Natur als Biosphäre bzw. Ökosystem unter Einschluss der Menschen als Popu­ lationen im biologischen Sinne, d. h. dass sie physiologisch von Stoff-, Energie- und Informationsströmen abhängen und somit Aus­ wirkungen auf die natürliche Umwelt haben, doch handelt es sich nicht um gezielte Veränderungen. Im Unterschied dazu bedeutet »Natur« dem ökonomisch-technischen Naturbegriff zufolge eine Ressource, die die menschliche Gesellschaft für ihre Bedürfnisbefrie­ digung gezielt umformt. Der kontemplative Naturbegriff schliesslich bezieht sich auf die Erfahrung von Natur als etwas Selbständiges in der kontemplativen Naturbetrachtung. Diese verschiedenen Naturbeziehungen sind auch in der Debat­ te um nachhaltige Entwicklung relevant. Die diese Debatte in ihren Anfängen prägende Definition von »sustainable development« des sog. Brundtlandberichtes lautet: »Sustainable development is deve­ lopment that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs.« (World Commission on Environment and Development 1987, 43) In die ver­ schiedenen Interpretationen und Operationalisierungen dieses poli­ tischen Leitbegriffes gehen zumeist ein ökonomisch-technischer und ein ökologischer Naturbegriff ein. Eine der Strategien - die der soge­ nannten strong sustainability - besteht darin, Regeln für die ökono­ misch-technische Nutzung der Natur zu formulieren, die sicherstel­ len sollen, dass einerseits der Fortbestand der (für die Menschheit günstigen) Ökosysteme nicht gefährdet ist und andererseits künftige Generationen bezüglich ihrer Möglichkeiten zur Ressourcennutzung nicht ungerecht behandelt werden (siehe Peace & Turner 1990, 43-58; Daly 1992, 333; Rat der Sachverständigen für Umweltfragen 1994, 47 und 101). Die neoklassisch orientierte Position der weak sustainability geht hingegen davon aus, dass alles Naturkapital durch menschengemachtes Kapital prinzipiell ersetzbar ist (siehe Solow 1993; Beckerman 1994). Das Moralprinzip, auf das in beiden Fällen rekurriert wird, ist zumeist ein anthropozentrisches, nämlich inter­ ^ 399

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Kapitel 5: Schluss

generationelle Gerechtigkeit sowie intragenerationelle Gerechtig­ keit, wobei das Verhältnis von intra- und intergenerationeller Ge­ rechtigkeit umstritten ist (siehe Leist 1996, 438 f.). Oftmals wird aber insbesondere seitens der strong sustainability auch ein Eigenwert biologischer Vielfalt angeführt, so auch in der »Konvention über die Biologische Vielfalt« (siehe UNCED 1992a, 27). Hier handelt es sich dann um eine nicht-anthropozentrische Argumentation, womit der kontemplativ erfahrenen Natur nicht nur Selbständigkeit, sondern darüber hinaus Selbstwert zugeschrieben wird. Der abstrakte Leitbegriff nachhaltiger Entwicklung bedarf der Interpretation. Ein Beispiel dafür ist das auf Opschoor (1992) zurück­ gehende Umweltraum-Konzept von BUND & Misereor (1996). Die­ ses Konzept beschreibt den Handlungsrahmen, der einzuhalten ist, wenn künftigen Generationen eine intakte Natur und in diesem Sinne auch gleiche Lebenschancen hinterlassen werden sollen. Das Umweltraum-Konzept geht vom ökologischen sowie vom ökono­ misch-technischen Naturverhältnis aus und erwähnt zusätzlich den kontemplativen Wert von Natur: »Der Umweltraum bezeichnet den Raum, den die Menschen in der natürlichen Umwelt benutzen können, ohne wesentliche Charakteristika nachhaltig zu beeinträch­ tigen. Der Umweltraum ergibt sich aus der ökologischen Tragefähig­ keit von Ökosystemen, der Regenerationsfähigkeit natürlicher Res­ sourcen und der Verfügbarkeit von Ressourcen« (BUND & Misereor 1996, 27). Die physischen Grenzen des Umweltraumes sind dabei nicht fix, sondern abhängig vom Einsatz von Technologien für die ökologische Aufwertung von Räumen wie Gewässern oder Wüsten. Die Vielfalt der Nutzungsmöglichkeiten der natürlichen Umwelt für den Menschen wird ausdrücklich anerkannt, wobei als Funktionen der natürlichen Umwelt namentlich aufgezählt werden: »die Bereit­ stellung von Rohstoffen, die Aufnahme von Reststoffen, die Rege­ lung lebenswichtiger geochemischer und biologischer Kreisläufe und nicht zuletzt die Integrität und Schönheit einer Landschaft oder ein­ zelner Arten.« (BUND & Misereor 1996, 27) Die weitere Operatio­ nalisierung des Umweltraum-Konzeptes über Umweltindikatoren bezieht sich auf Material, Energie, Wasser sowie Fläche und es wer­ den quantitative Umweltziele bezüglich Ressourcenentnahme und Stoffabgabe formuliert (siehe BUND & Misereor 1996, 47 und 80). Es ist fraglich, ob dem kontemplativen Wert von Natur für die Menschen, also der Integrität und Schönheit bestimmter Landschaf­ ten oder Arten, damit hinreichend Rechnung getragen wird. Meine 400

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5.2 Naturbegriffe in moralphilosophischen Analysen der Umweltproblematik

Bedenken ergeben sich nicht primär aufgrund methodischer Proble­ me der Operationalisierung, die natürlich nicht zu unterschätzen sind, sondern deshalb, weil sich ökologische, ökonomisch-technische und kontemplative Werte kontingent zueinander verhalten. Wie be­ reits in der Einleitung herausgestellt worden ist (siehe Kapitel 1.1), beruhen ökologische, ökonomisch-technische und kontemplative Be­ wertungen auf heterogenen und nicht aufeinander reduzierbaren Be­ Ziehungsdimensionen. Dies bedeutet, dass die jeweiligen Werte in­ haltlich nicht durcheinander definierbar und auch nicht auf eine gemeinsame Vergleichsdimension abbildbar sind, weil es sich um in­ kommensurable Wertdimensionen handelt. Inkommensurabilität von Werten schliesst nicht aus, dass sich die unterschiedlichen Bewertungen in Einzelfällen extensional dekken: so können beispielsweise biologische Anbautechniken in der Landwirtschaft dazu führen, dass diese Landschaft als schön erlebt wird, dass biologische Ressourcen ökonomisch-technisch vorteilhaft genutzt werden und dass ökologisch bedeutsame biologische Struk­ turen erhalten bleiben. Damit wird jedoch nicht der ökologische oder der ästhetische Wert einer Landschaft ökonomisch definiert, sondern die schöne Landschaft wird wirtschaftlich als Ressource so genutzt, dass ihre Schönheit erhalten bleibt und dass das Ökosystem dadurch nicht destabilisiert wird. Nun ist aber nicht davon auszugehen, dass sich in absehbarer Zeit für alle solche Zielkonflikte - die wohl in den meisten Fällen entstehen - optimale Lösungen finden lassen. Kon­ templative Naturbeziehungen dienen beispielsweise auch der Er­ holung und stellen somit auch eine besondere Nutzungsform von Natur dar, die übrigens nicht nur psychischen, sondern auch ökono­ misch-technischen Nutzen dank Naturtourismus ermöglicht. Als ein verbreitetes Freizeitverhalten der Bevölkerung kann dies jedoch be­ trächtliche Schädigungen von Ökosystemen und Biodiversität in den dafür aufgesuchten Landschaften nach sich ziehen. Zielkonflikte ent­ stehen jedoch nicht nur zwischen ökonomischen Nutzungen, kon­ templativen Bedürfnissen und ökologischen Bewertungen, sondern zudem auch innerhalb einer jeden dieser drei Bewertungsdimen­ sionen. Der Wert, den schöne Landschaften wie auch die Biodiversität überhaupt für Menschen haben kann, beschränkt sich nicht auf ihren ökologischen und ihren ökonomisch-technischen Wert als Ressource im weitesten Sinn verstanden, sondern Natur ist auch ein kontem­ plativer und symbolischer Wert, nämlich aesthetischer Art als Freude ^ 401

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Kapitel 5: Schluss

an der Schönheit der Natur, religiöser Art als Ehrfurcht vor der Schöpfung sowie der Identitätsstiftung, zum Beispiel als Heimat, zu der eine Landschaft für Menschen werden kann. Natur stellt in ihren kontemplativen und symbolischen Funktionen keinen handelharen Wert dar, sodass die Bezeichnung als Naturkapital in diesen Funk­ tionen eine irreführende Metapher ist. Zwar ist die Gesellschaft be­ reit, für diese Naturfunktionen Geld zu bezahlen, denn der dafür erforderliche Naturschutz kostet etwas und verhindert andere Nut­ zungen. Doch drücken diese Kosten nicht den Wert aus, den diese Naturfunktionen für die Gesellschaft haben - so wie das Geld, das die Lebensversicherung bezahlt, nicht dem Wert des Ehegatten ent­ spricht (siehe Hirsch Hadorn 1999; Schaber 1998 und 1996). Diese kontemplativen und symbolischen Funktionen von Natur für Menschen sind nun jedoch nicht zwingend im Sinne einer ver­ tikalen Beziehung des Menschen zu einer regulativ verstandenen Natur der Dinge aufzufassen, deren phänomenologische Basis in der kontemplativen Naturerfahrung gegeben ist, wie dies metaphysisch­ theologische Positionen vertreten. Die kontemplativ erfahrene Selb­ ständigkeit wird ja nicht Natur schlechthin, sondern nur bestimmter Natur zugesprochen, und zwar aufgrund von kulturell variablen Vor­ stellungen von »natürlicher Natur«, von schöner Heimat oder von religiöser Ehrfurcht vor der Schöpfung. Nicht alle sind beispielsweise von der Schönheit der Vögel ergriffen. Dies spricht gegen ein abso­ lutes Prinzip, ob dies nun metaphysisch, religiös oder ästhetisch in­ terpretiert wird. Ich vermute vielmehr - und dies ist eine empirisch zu prüfende These -, dass die breite Resonanz fundamentalistischer Positionen in der Umweltdebatte nicht nur und vielleicht sogar nicht einmal primär in der Attraktivität einer autoritären Moral besteht. Diese fundamentalistischen Positionen sprechen vielmehr das Be­ dürfnis nach identitätsstiftender kontemplativer Naturerfahrung an. Meine These lautet daher, dass Menschen zu ihrer Identitäts­ bestimmung nicht nur auf intersubjektive Beziehungen angewiesen sind (siehe Frey & Hausser 1987), sondern auch kontemplative Be­ ziehungen zur Natur eingehen, und zwar auf einer gewissermassen horizontalen Ebene. Die psychologische Forschung beginnt, Zusam­ menhänge zwischen seelischer Gesundheit von Menschen und ihrer Naturbeziehung zu untersuchen (siehe Seel, Sichler & Fischerlehner 1993). Diese Beziehungen als Nutzenbeziehungen zu bezeichnen halte ich für begrifflich irreführend, auch wenn es sich unter Um­ ständen um dieselbe Tätigkeit handelt, in der die beiden verschiede­ 402

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5.2 Naturbegriffe in moralphilosophischen Analysen der Umweltproblematik

nen Dimensionen menschlicher Naturheziehungen zum Tragen kommen. Denn es geht in der kontemplativen Naturheziehung gera­ de nicht darum, die Natur gestaltend zu gehrauchen. Es geht viel­ mehr um die Entwicklung eines menschlichen Selhstverständnisses in einer Beziehung zur Natur, die voraussetzt, dass Natur als etwas Selbständiges anerkannt wird - und zwar weder als Symhol des Ahsoluten noch als etwas quasi Menschliches. Eine moralische Qualität hat diese Beziehung insofern als kon­ templative Bedürfnisse Teil personaler Identität sind und zu einem guten Lehen gehören, das nicht schlechthin suhjektiviert wird (siehe Steinfath 1998; Seel 1994; Taylor 1994). Für den moralischen Wert von Natur als etwas Selhständiges und damit für die Erhaltung hestimmter Arten oder Landschaften lässt sich somit auch aus anthro­ pozentrischer Sicht argumentieren. Es handelt sich um die anthro­ pologische Argumentation, dass diese Arten oder Landschaften in dieser Kultur identitätsstiftende kontemplative Funktionen erfüllen, dass sie deshalh von moralischem Wert sind, und dass ihre Erhaltung aus der Sicht dieser Kultur deshalh auch universell, d. h. intra- und intergenerationell, akzeptiert werden soll. Dies ist lediglich ein traditionalistisches Argument: wir erachten es für wünschenswert, dass diejenigen Arten und Landschaften, die uns etwas hedeuten, auch für künftige Generationen einen Wert darstellen, und zwar deshalh, weil sie dies für uns darstellen. Weil diese Auszeichnung jedoch auf einem kulturell kontingenten Standpunkt heruht, ist die Suhstitution der in dieser Hinsicht wertvollen Ohjekte prinzipiell zulässig sowie auch die Suhstitution von Natur durch Kulturohjekte. Doch sind »schwache Gründe ... nicht notwendigerweise schwache Motive« (Wolf 1998, 172). Eine universelle kategorische Achtung der Natur in gleicher Weise wie dies für die kategorische Achtung von Menschen gilt, ist zudem gar nicht möglich. Denn Menschen sind hiologisch in die Biosphäre eingehunden, sie stehen in einem ökologischen Naturver­ hältnis und müssen zudem ihren Stoffwechsel ökonomisch-tech­ nisch gestalten. Nun würde sich zwar ein kategorisches Achtungsgehot wohl nur auf gewisse - z. B. höher entwickelte - hiologische Strukturen erstrecken. Doch damit wäre dann den ökologischen und den ökonomisch-technischen Naturheziehungen der menschlichen Zivilisation zumeist nicht hinreichend Rechnung getragen. Denn es ist kontingent, oh die Achtung nur gewisser hiologischer Strukturen auch die Erhaltung des Zustandes der Biosphäre und die Erhaltung ^ 403

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Kapitel 5: Schluss

der notwendigen natürlichen Ressourcen für künftige Generationen sichert. Man denke hier beispielsweise an die mit den heiligen Kühen Indiens verbundenen Probleme. Daher gilt nicht nur, dass die Achtung kontemplativer Werte die ökonomisch-technische Nut­ zung unter Umständen begrenzt, sondern auch umgekehrt können natürliche Bedingungen der Reproduktion wünschenswerter Öko­ systeme sowie auch Naturnutzungen, die unter Gerechtigkeits­ gesichtspunkten notwendig sind, die Achtung kontemplativer Werte einschränken. Hier stellen sich einige begriffliche Probleme, die noch der Klä­ rung bedürfen. Fragen, die mit einer inter- und intragenerationellen Gerechtigkeit ökonomisch-technischer Ressourcennutzung verbun­ den sind, werden in der Ethik seit geraumer Zeit bereits untersucht (siehe z.B. Birnbacher 1988), wobei inzwischen auch ein ausschliess­ lich wohlfahrtsökonomisch verstandener Gerechtigkeitsbegriff kriti­ siert wird (siehe z.B. Leist 1996). Die kontemplative Naturbewertung wird als kultureller Wert unter dem Gesichtspunkt personaler Iden­ tität erst in Ansätzen diskutiert (siehe Norton & Hannon, 1997), denn diese Beziehungsdimension wurde bislang zumeist als Tran­ szendenzerfahrung ausgelegt. Von Bedeutung ist hier nicht primär die mengenmässige Begrenztheit der Natur, sondern die Nicht-Re­ produzierbarkeit ihrer Individualität, d. h. die Natur als einmalig so gewordene, weil und insofern sie konstitutiv für die Identität einer Kultur ist. Arbeiten darüber, was unter einem ökologischen Wert biologischer Strukturen zu verstehen ist, der nicht im aktuellen oder potentiellen ökonomisch-technischen Nutzen für den Menschen be­ steht, gibt es meines Wissens kaum. Die Diskussion darüber in der Biodiversitätsforschung geht auf die damit verbundenen begriff­ lichen Probeme kaum ein (siehe z.B. Harper & Hawksworth 1994; Lovejoy 1994). Auch die ökologische Bewertung erfolgt aus der Per­ spektive von Menschen, denn sie beurteilt biologische Strukturen hinsichtlich ihres funktionalen Wertes für die Stabilität und Dyna­ mik von bestimmten Ökosystemen unter dem Gesichtspunkt, dass weiterhin Menschen existieren können. Diese Frage kann angesichts der durch Klimaänderungen möglichen Gefährdung menschlicher Gesundheit sowie der möglichen Veränderung der Biodiversität durch Strahlung, durch Temperaturwechsel, durch eine veränderte chemische Zusammensetzung der Atmosphäre u. a. eines Tages ak­ tuell werden. Alle diese begrifflichen Fragen können hier in der ge­ botenen Kürze nicht mehr aufgegriffen werden. Ich möchte lediglich 404

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darauf Hinweisen, dass die Klärung dieser begrifflichen Fragen weder alleine durch die Moralphilosophie noch alleine durch die Ökonomie und die Biowissenschaften erfolgen kann. Die These, dass die moralischen Probleme angesichts der Um­ weltproblematik im wesentlichen Konflikte zwischen verschiedenen Werten sind und nicht Konflikte zwischen moralischem und amora­ lischem Verhalten hat zur Folge, dass die traditionelle Vorstellung von der Anwendung ethischer Prinzipien bei der Beurteilung beste­ hender Sachverhalte bzw. Praktiken den moralischen Problemen der Umweltproblematik nicht adäquat ist. Es stellt sich dann natürlich die Frage, wie im Falle von Konflikten zwischen für sich betrachtet moralisch wünschenswerten Zielen eine moralisch vernünftige Lö­ sung aussieht. Die moraltheoretische Beschäftigung damit ist, zu­ mindest in bezug auf die Umweltproblematik, noch weitgehend ein Desiderat. Die pragmatische Auffassung, die praktische Urteilskraft komme hier ohne Vergleichskriterien aus, gibt den Anspruch auf eine richtige Lösung der Konflikte auf, wie Schaber überzeugend gezeigt hat (siehe Schaber 1998, 199). Auch wenn also auf explizite Ver­ gleichskriterien nicht verzichtet werden kann, bedeutet das aber noch nicht zwingend die Rückführung des Wertepluralismus auf eine mo­ nistische Position, denn es ist auch ein Pluralismus von moralischen Vergleichskriterien denkbar. Im Falle der Umweltproblematik han­ delt es sich meines Erachtens um einen Wertepluralismus innerhalb einer weit verstandenen anthropozentrischen Perspektive, die den Wert von Natur für Menschen nicht auf die wohlfahrtsökonomische Perspektive reduziert. Wird ein Wertepluralismus vertreten, steht jedoch der Sinn einer Begründung moralischer Urteile zur Debatte. In diesem Zu­ sammenhang möchte ich auf das am Schluss von Kapitel 1.1 skizzier­ te begründungstheoretische Dilemma der Ethik zurückkommen. Dieses entsteht, wenn man an einer nicht-empirischen Begründung moralischer Urteile festhalten will und zugleich eine absolute und damit transzendente Begründungsinstanz ablehnt. Daher setzt auch ein dritter Weg zum Absolutismus einerseits und zum Skeptizismus andererseits voraus, dass der Sinn des Begründetseins von mora­ lischen Überzeugungen überdacht wird. Das Dilemma entsteht näm­ lich dadurch, dass - wie Lutz Wingert in seinem Aufsatz »Anscombes Problem und Tugendhats Lösung« (Wingert 1997) das Argument von Anscombe für den Skeptizismus als einzige Alternative zum Ab­ solutismus formuliert - »alle diese Ausdrücke wie >Verpflichtungmüssenich mussich will< abgestützt ist, [ist] logisch gesehen ein Unding« (Tugendhat 1993, 62; kursiv im Original, siehe 29, 60). Moral­ begründung ist auch nach Tugendhat sozial gebunden, und zwar in­ sofern als »eine Haltung, die sich nicht in die intersubjektive Forde­ rungsstruktur stellt, . überhaupt keine moralische« Haltung ist (Tugendhat 1993, 64). 406

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5.2 Naturbegriffe in moralphilosophischen Analysen der Umweltproblematik

Ich trete auf eine Diskussion der drei genannten sowie weiterer Ansätze nicht ein, sondern greife nur einen Punkt auf, der alle drei betrifft. Die Universalisierbarkeit moralischer Überzeugungen auf alle Mitglieder einer sozialen Gemeinschaft und potientiell auf alle Menschen ist bei allen drei Positionen für die Objektivität dieser Überzeugungen zentral. Was beispielsweise bei Tugendhat den Be­ griff des Gutseins von Personen als allgemeingültig und somit auch erst als moralisch auszeichnet, ist die Universalisierbarkeit der inter­ subjektiven Strukturen, die die soziale Identität definieren. Diese soll sich nicht nur auf die Mitglieder einer bestimmten Gemein­ schaft, sondern auf alle kooperationsfähigen Wesen erstrecken (siehe Tugendhat 1993, 78 ff.). Das Universalisierungsprinzip gehört seit Kant zum Kernbestand einer Ethik im Geiste der Aufklärung und geht gemeinhin einher mit dem Prinzip des methodologischen Indi­ vidualismus, d. h. mit der Auffassung, dass für Moralbegründung ein Begriff von Person, und nicht von Gesellschaft, der grundlegende ist. Nun sind Umweltprobleme mit Intersubjektivität verknüpft, und zwar sowohl was die Geschädigten betrifft als auch hinsichtlich der diese Schäden Verursachenden. Es geht in der Umweltdebatte um die mittelbare Gefährdung oftmals räumlich und zeitlich weit ent­ fernter Menschen durch die anthropogene Veränderung des Zustan­ des der Biosphäre, und zwar in so grossem Ausmass, dass mit nicht mehr korrigierbaren massiven Ungerechtigkeiten hinsichtlich der Lebensbedingungen zwischen Gesellschaften zu rechnen ist, wo­ durch möglicherweise die Weiterexistenz vieler Menschen oder gar von Menschen überhaupt gefährdet ist. Das spezifische moralische Problem der Umweltdebatte betrifft nicht die Schädigung dieser oder jener Individuen, was unbestrittenerweise moralisch nicht wün­ schenswert ist, sondern die Schädigung oder Gefährdung mensch­ licher Gesellschaften hinsichtlich ihrer natürlichen Lebensbedin­ gungen. Hier stellt sich die moraltheoretische Frage, ob sich eine Schädigung oder Gefährdung menschlicher Gesellschaften im ge­ nannten Sinne auf die Schädigung oder Gefährdung von Personen zurückführen lässt, oder ob die moralischen Probleme in der Um­ weltdebatte eine gesellschaftszentrierte Moralbegründung erfordern, und wie dabei dann die moralischen Überzeugungen der Aufklärung berücksichtigt werden können. Auch hier stellen sich begriffliche Probleme, wie die Debatte zwischen Copp (1997) und Leist (1997) zeigt. ^ 407

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Kapitel 5: Schluss

Die Frage einer gesellschaftszentrierten Moralhegründung stellt sich ehenfalls angesichts der Verursachung hzw. Vermeidung von Umweltprohlemen, d. h. hezüglich der Handlungssuhjekte und damit der moralischen Suhjekte. Umweltprohleme sind in der Regel nicht die Folgen von einzelnen Taten oder von Taten Einzelner, sondern es handelt sich dahei um die kumulierten Auswirkungen von kollekti­ ven Handlungsweisen. Mit »kollektiv« ist zunächst einmal der logi­ schen Bedeutung folgend gemeint, dass es sich um Handlungsweisen handelt, die von vielen praktiziert werden - z. B. Autofahren -, doch ist dies moraltheoretisch nicht der entscheidende Punkt. Dieser ergiht sich aus der soziologischen Bedeutung des Ausdrucks. Als ein Kollektiv werden in der Soziologie Personen hezeichnet, die durch ihre sozialen Rollen, die nicht von ihnen als diese spezifischen Indi­ viduen ahhängig sind, in Beziehung zueinander stehen und dadurch hestimmt sind. Beispielsweise ist Autofahren nur als Kollektiv möglich, nämlich nur dank einem System von Autoproduzenten, Tankstellenpersonal, Strassenhauern, Verkehrspolizisten etc., die alle ihre aufeinander hezogenen Handlungen, die an materielle Infra­ struktur gehunden sind, mehr oder weniger erwartungsgemäss voll­ ziehen. Die verschiedenen Handlungen des Kollektivs sind durch die­ ses funktionale Beziehungsnetz zu einem hohen Grad hestimmt (siehe Messelken 1989, 339 ff.). Ist dieses Beziehungssystem einheit­ lich organisiert und rechtlich geregelt, wie dies heispielsweise für ein gewerhliches Unternehmen oder ein Ministerium gilt, spricht man auch von einer Korporation (siehe Ropohl 1996, 99ff.). Kollektive, die im Zusammenhang mit Umweltprohlemen als verantwortliche Suhjekte ansprochen werden, sind häufig nicht als Korporation ver­ fasst, so dass keineswegs klar ist, wer hier als Suhjekt gemeint ist. Ist es dann aher üherhaupt sinnvoll, von einer kollektiven Verantwor­ tung z. B. für die anthropogene Klimaänderung hzw. die daraus resul­ tierenden Schäden zu sprechen, wenn die Verantwortung dafür nicht natürlichen oder juristischen Personen zugeschriehen werden kann (siehe Lühhe 1998, 123ff.)? Angesichts der moralischen Prohleme in der Umweltdehatte hedarf nicht nur der methodologische Individualismus des Nachden­ kens, sondern auch das Universalisierungsprinzip aufklärerischer Ethikhegründung. Nun prägt dieser Gedanke die moralische Dehatte üher Umweltprohleme spätestens seit dem Buch »Die Grenzen des Wachstums« (Meadows, Meadows, Randers & Behrens III 1972). Seither wird ein moralischer Vorwurf an »die Industrieländer«, ge­ 408

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5.2 Naturbegriffe in moralphilosophischen Analysen der Umweltproblematik

richtet, der lautet, dass der westliche Lebensstil nicht universalisierhar ist, denn ein Aufholen der ärmeren Länder ist aus Gründen der Begrenztheit der natürlichen Ressourcen und aufgrund der Bedin­ gungen für die Regeneration von Ökosystemen allem Ermessen zu­ folge auch mit technologischem Fortschritt nicht denkbar. Soll für einen moralisch wünschenswerten Lebensstil das Prinzip der Universaliserharkeit gelten, dann sind massive Umverteilungen von Nutzen und Kosten gefordert, die ihrerseits wiederum mit Gerechtigkeitsvor­ stellungen kollidieren. Zudem stellt sich die Frage oh der Zustand eines universalisierten Lebensstiles und damit eine globalisierte Kul­ tur, wie sie sich durch die wirtschaftliche Globalisierung gegenwärtig abzuzeichnen beginnt, überhaupt wünschenswert ist. Natürliche Ressourcen sind aus naturgeschichtlichen Gründen ungleich verteilt, und die Zugänglichkeit der Ressourcen ist aus sozialgeschichtlichen Gründen ungleich verteilt. Beide Ungleichheiten haben historisch gesehen zum Pluralismus der Kulturen beigetragen. Die Bedeutung des Pluralismus von Kulturen liegt nicht nur in der Bedeutung inter­ kultureller Beziehungen für die Identitätsbestimmung einer Kultur, sondern sie betrifft auch die Frage der kulturellen Innovation, die aus ökologischen Gründen angesichts sich verändernder Umweltbedin­ gungen für die Erhaltung der menschlichen Zivilisation wichtig sein kann (siehe Sieferle 1997, 53). Es stellt sich somit die Frage, wie das moralphilosophische Prinzip der Universalisierbarkeit genau zu ver­ stehen ist, wenn aus moralischen Gründen ein Pluralismus von Kul­ turen wünschenswert ist, und zwar ein Pluralismus, der nicht als moralisch ungerecht gilt. Ich hoffe, dass mit dieser abschliessend aufgeworfenen Liste von moraltheoretischen Fragen deutlich geworden ist, dass einige der von Jonas, Hösle und Picht aufgeworfenen Fragen mit der Kritik an ihrer philosophischen Ausarbeitung und Beantwortung nicht hinfällig ge­ worden sind, sondern auf die Agenda der Philosophie gehören. Die Naturbedingtheit des Menschen ist moraltheoretisch relevant, je­ doch nicht als absolute Sinnstiftung menschlicher Existenz wie Jonas dies sieht, sondern als Bedingung von Sinnstiftung, insofern nämlich Gerechtigkeit die Berücksichtigung von Regenerationsbedingungen der Natur erfordert und insofern Natur als kultureller Wert gilt. Fer­ ner ist eine moraltheoretische Klärung des Begriffes eines Kollektivs unverzichtbar, aber nicht im Rahmen eines objektiven Idealismus der Intersubjektivität, wie Hösle dies vertritt. Und schliesslich setzt auch die ökologische Bewertung von Natur hinsichtlich der Bedingungen ^ 409

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ihrer Reproduktion Normen voraus. Doch handelt es sich dahei nicht um ein vorgegehenes Ideal, das in der kontemplativen Naturerfah­ rung in Erscheinung tritt, wie Picht dies meint, sondern es handelt sich um Wertstandpunkte, die es zu hestimmen gilt.

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Absolutes -o- Vernunft, absolute Absolutismus des Ich 269 f., 272, 275,278, 301, 378 Angst 61, 73-77, 87, 89, 92,116,118,160 anthropisches Prinzip 107,122 ff., 132 f., 253, 255 Anthropomorphismus 85, 87, 88, 101ff., 106f., 121,133,139,151-156,160,184, 351, 376, 383 f. Anthropozentrismus 34, 160, 177, 397-405 Apokalypse 188, 200f., 262, 265f., 270f., 288, 300, 382 Argument, deduktives -o- Begründung, deduktive Argument, transzendentales -o- Be­ gründung, transzendentale Begründung, deduktive 152, 231, 235 ff., 252 Begründung, transzendentale 212, 238, 315, 351, 356, 366 Biodiversität 17f., 20, 22, 26, 39, 41, 98, 401, 404 Biosphäre 18, 20, 23, 25, 30, 35-38, 47, 171, 177f., 206, 263, 271, 273, 278, 299f., 303, 305, 308f., 317, 325-332, 357, 378-382, 386, 396, 399, 403, 407 bonum humanum 180-183,197 f., 204 carrying capacity -o- Tragekapazität Dasein 50, 59, 70f., 73, 84f., 87, 110,127, 138f., 142,147,149,150,163,167,173, 178f., 184f., 307, 314, 359, 364, 383, 385 Daseinsanalyse 56, 58, 65-75, 83, 85, 89, 118, 173

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Dilemma, begründungstheoretisches 46, 164, 230, 405 Dualismus 56, 61, 65, 67, 72-77, 88, 90, 92ff., 97, 115,121,131, 224, 258, 339 Dynamik, der Gesellschaft 54, 187-194, 205, 380, 382, 385 Dynamik, von Ökosystemen 20, 24-27, 38, 340, 362, 404 Einbildungskraft 350-357, 360, 372 Einmaligkeit von Situationen 321 f., 324-327, 334-347, 351, 357f., 366, 371 ff., 392 f. Emergenztheorie 112, 124, 132 entelechie 105, 136 f., 139, 144 f., 148, 150, 335, 345-351, 362, 372 Entmythologisierung 59, 69 f., 88, 121, 133,163 ff., 204, 385 Epiphänomen-These 108,110ff Evolutionstheorie 25, 27f., 96-99, 108, 132 f., 336, 365 Existentialphilosophie 50 f., 61 f., 69 f., 72 f., 75-89, 93, 98,107,121, 130, 133, 138,141,150, 163, 165,173,184, 204, 207, 383, 387 Fehlschluss, naturalistischer 22,161, 165 Freiheit 107,123, 125 f., 134-139, 143-151,155 ff., 161, 166,169,170, 173-179, 182-186, 192, 254, 258, 260, 288 ff., 297 f., 301, 339, 348, 356, 383 f., 390 Gerechtigkeit 19, 90, 186, 189, 192 f., 295, 298, 301, 384, 390, 398, 400, 404, 407, 409

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Gleichgewicht, ökologisches 20-27, 38, 97, 100,105, 273, 361f., 365, 373ff., 393 Gnosis 56, 58, 60ff., 64f., 67ff., 72f., 75 ff., 79, 81, 83, 223f. Gott 46,48f., 57, 61, 65, 69, 70, 75-89, 92, 97, 117-134,141 f., 147,163-169,174, 179-186, 223f., 254f., 258ff., 265f., 284, 295, 357, 365, 380, 383ff., 388f., 397, 406 Gott, immanenter 57, 77, 80, 95, 99, 120 ff., 125,130f., 133, 163, 169,174, 182,-186, 223, 295, 380, 383ff Gott, transzendenter 77, 79 f., 83, 89,107, 124, 223 f., 369, 406 Gottesbeweis 127 Gut an sich -o- Gute, das Gute, das 33, 57, 59, 70, 74, 82, 88, 104, 121,125 f., 131 f., 134f., 139, 156-165, 168 f., 171,174f., 181 ff., 185 f., 194, 204, 254f., 259f., 269, 276ff., 280, 284, 296, 298, 322, 358f., 365, 382, 384, 388 gutes Leben 34, 396, 403 Handeln, kollektives 53, 90, 191 f., 195, 199, 202, 205, 302, 380, 382, 385, 391, 394ff., 398, 408 Heuristik der Furcht 66,181 f., 198 ff., 203 Hier und Jetzt 303, 352 f., 366, 372 ff., 393 Humanökologie 49, 52, 303-307, 310, 312f., 316f., 321-326, 336, 342, 350, 352, 356ff., 361, 363ff., 371, 374, 378, 392 Hypostasierung des Seins 142,163 f. Idealismus 75, 90, 92, 94,f., 116,118f., 121, 131, 133, 148, 280 Idealismus, objektiver 52,118, 209-261, 266, 269, 272ff., 277f., 280, 283, 286, 291, 294, 297-302, 387-391, 409 Imperativ, hypothetischer 230, 234f. Imperativ, kategorischer 51, 57, 158, 161, 172,174,176ff., 182, 185f., 200ff., 205, 209, 227, 230, 234, 250, 254f., 257f., 260, 266, 276, 278, 282, 285, 289ff., 293 f., 298, 301, 312, 381-384, 390 Individuation 49, 331-335, 340 f., 352 f., 356

Information 23f., 113, 315, 326, 335-357, 362, 367-372, 399 Inkommensurabilität, von Werten -o- Wertpluralismus Intersubjektivität 49, 52,118,183,186, 204f., 207, 209, 212f., 216, 221-230, 237ff., 251, 254-261, 264-268, 274, 277, 279-286, 288-302, 378, 380, 385, 387-391, 395 f., 402, 406f., 409 Kosmogonie 49, 52, 57, 59, 70, 75, 87, 92, 95, 99,106 f., 116,120,123ff., 127,129, 132f., 135,140,142 f., 147f., 166,179 f., 184f., 194, 253, 285, 288, 380, 384 Krise, ökologische -o- Umweltproblematik Leib-Seele-Problem 97, 108, 114,132 Letztbegründung, reflexive 212 f., 225, 227-258, 259 Mass 276, 304, 321, 322, 324, 360, 361-367, 369, 371-375, 392ff Massverhältnisse -o- Mass Materialismus 90, 92-99, 105,107 ff., 111-121,125,131ff., 156 Möglichkeit, ontologische 98, 120, 123, 127, 133 f., 144,147-151,158f., 162f., 179f., 183 ff., 262f., 265 f., 270f., 286, 300, 312 f., 316, 340, 346, 349 Monismus, integraler 56, 65, 90-99, 108, 110, 116, 119,122, 124, 125,131,133, 139, 142, 151, 157, 383 Monismus, materialistischer -o- Materia­ lismus Monismus, metaphysischer 72, 74, 76, 78, 88, 94, 286, 335, 350 Münchhausen-Trilemma 231, 235 f., 238 mythisch-religiös -o- Mythos Mythos 44, 57, 61, 70, 116, 119f., 126, 129, 134, 164,180, 185, 259, 308, 321, 326, 353, 357-360, 366, 371-376, 380, 384, 388, 392ff Mythos, kosmogonischer -o- Kosmogonie nachhaltige Entwicklung 19, 35 f., 45, 51, 272, 377, 398ff Naturalismus, ethischer 22, 28, 165, 322

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Naturbegriff, deskriptiver -o- Natur­ begriff, gegenständlicher Naturbegriff, gegenständlicher 20, 45, 49 ff., 79f., 89, 156, 299f., 308, 322, 324, 326, 371, 373f., 379, 382, 393, 399 Naturbegriff, kontemplativer 29, 33-42, 45, 47, 56 f., 70, 81, 88 ff., 97, 99, 116, 119, 132 ff., 139,156,165,184ff., 194-198, 206, 213, 259, 271, 278, 301f., 306, 308, 310, 323, 327, 357, 371, 373-385, 390, 393, 396, 399, 400-403, 410 Naturbegriff, normativer 20 f., 25, 47, 49, 51, 54, 57, 70, 72, 79f., 83, 85, 88f., 94f., 97,107,116,119,131 ff., 156, 185, 195ff., 204, 206f., 270f., 306, 308, 322ff., 327, 347, 357, 372ff., 379, 382-387, 393 f., 396 f., 401 Naturbegriff, ökologischer -o- Ökosystem Naturbegriff, ökonomisch-technischer 29, 31-38, 41, 43, 45, 47, 57, 82, 89f., 125, 187, 189, 194ff., 197, 205 ff., 213, 263, 271, 300, 308, 310, 323, 379, 382, 396, 399, 400f., 403f. Naturbegriff, regulativer -o- Naturbegriff, normativer Naturnutzung, ökonomisch-technische -o- Naturbegriff, ökonomisch-tech­ nischer Nihilismus 62, 69, 71-75, 79-83, 88f., 107, 161, 173,181, 230 oikos 307 f., 316-335, 340, 352, 354f., 357, 361, 363, 371 ff., 392ff Ökologie, als Leitwissenschaft 20ff Ökosystem 18-45,47, 49, 53, 57, 82, 89f., 97 f., 116,125,133, 189, 195-198, 201, 206f., 213, 271, 277 f., 296, 300ff., 305, 308, 310, 314, 317, 320, 322ff., 327ff., 336-340, 351, 355, 362, 371f., 374f., 379-382, 386, 391 ff., 396, 399-404, 409 Onto-Theologie 119, 133,183, 207, 230, 252, 378, 387 Organismus, als ontologisches Paradigma 49f., 56 ff., 62 ff., 67-89, 93f., 97-107, 121,125 f., 131 ff., 136,138ff., 149,153, 163, 184 f., 192, 384f.

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Organismus, als zweckhafter 70, 93, 98-107,132,136,144f., 185, 275, 383f. Population 18-26, 30f., 36f., 189, 195, 271, 331, 379, 399 principium individuationis -o- Individua­ tion Relativismus, ethischer 181, 209 f., 214 f., 228 ff., 253, 258, 276, 297, 302, 388, 392, 395 Ressource -o- Naturbegriff, ökonomisch­ technischer Richtigkeit, des Wissens 307-324, 326, 335, 339, 358, 373, 376, 394 Sein, als zweckhaftes 70, 142,145 f., 156-166,185, 383f. Seinsgeschichte 118, 264 f., 288 f., 296 Seinsgeschick 50, 86, 130f., 142, 378 Selbstwert -o- Wert, intrinsischer Selbstzweck 144, 145, 254 f., 260, 276, 284, 288, 292-298, 301, 390f. Sittengesetz -o- Imperativ, kategorischer Sorge 73, 82 ff., 87, 89, 139, 167, 173, 174,ff, 186, 202, 312, 384 Stabilität, ökologische 20, 24-27, 30 f., 36, 39, 41,278, 339f., 404 Stoffwechsel 30 ff., 35, 95, 97,100f., 104, 131,135 f., 138,140, 144-150, 170, 184, 189, 273, 403 Subjektivität, neuzeitliche 50 f., 64, 66, 75, 77, 211, 224f., 258, 264, 267-276, 279 f., 287 f., 312,389 Subjektivität, sinnlich-seelische 95, 99 f., 106,123 f., 133,145 f., 160 success story 117f., 120,194, 206, 254, 260 sustainable development -o- nachhaltige Entwicklung Systemtheorie 21, 23, 97,100-108, 112, 115, 132, 336, 338, 372 Technik 50, 58, 65,167,182,187-190, 192,194,198-202, 262, 268 f., 273-278, 287ff., 293, 300, 305-312, 316, 378 Technologieentwicklung 37, 55, 64,190,

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https://doi.org/10.5771/9783495997482 .

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191,192,193, 194,197ff., 203-207, 382, 385ff Tod Gottes 80, 89 Todesangst -o- Angst Tragekapazität 20, 36 f., 195, 296 Transzendentalpragmatik 52, 212 f., 225, 238 f., 274 Transzendenz des Lebens 95,102,107, 124,141,145,148 f., 151,161,180, 204, 313, 319, 357, 360, 369, 404 Umweltdebatte 17, 24, 28 ff., 32, 35, 43, 45, 47, 51 ff., 65, 302, 377, 379, 395, 396, 398, 402, 406ff Umweltproblematik 17 ff., 23, 35, 41, 44-49, 51 ff., 55 ff., 64, 75, 81, 88, 90, 98, 156, 171, 175, 187ff., 194f., 198f., 201, 204 f., 207, 209-214, 223, 228, 254 f., 258 f., 260-264, 266-269, 272,-277, 279 f., 292, 295, 297-300, 302-310, 314, 316, 320, 322f. 344, 354, 357, 359, 374f., 377f., 380f., 385, 387, 389f., 392, 394, 396, 397f., 405, 407f. Universalismus, ethischer 157, 161, 185, 211, 257f., 283, 285, 295, 296, 299, 383, 407ff Verantwortung, als Geschichte 312 f., 323 Verantwortung, als moralische Pflicht 64, 120,126,130,145,150,158f., 165-184, 204, 207, 381, 384-387 Verantwortung, als Prinzip 49, 51, 55 f., 64, 100, 108, 167, 303 Verantwortung, als Rechenschaft 170-173 Verantwortung, kollektive 175, 191-193, 205, 385, 408 Verantwortung, ontologische 52 f., 56, 64f., 67, 70, 88, 108, 121,125 f., 131, 134 f., 139-186, 211, 384-387 Vernunft, absolute 45-53,127 f., 209-226, 239 ff., 251-268, 278-302, 303, 353, 356-359, 365 f., 368, 371-376, 378-381, 385, 388-391, 393-397, 402-406 Vernunft, als Gestalt des Lebens 303, 306 ff., 319, 322 f., 347, 350, 364, 371 Vernunftkrise -o- Relativismus, ethischer

verum factum-Prinzip 224, 269, 274 f. Vielfalt, biologische -o- Biodiversität Vorrang der schlechten vor der guten Prognose 55, 200, 206f., 382, 386f. Wahrheit, als Unverborgenheit 50, 311, 323, 378, 392 Wahrheit, notwendige 236-258, 260, 389 Wahrheit, ontologische 130, 306-324, 355ff., 359, 363, 365, 366-374 Wert, intrinsischer 28, 33-43, 177, 270, 379, 400 Wert, kontemplativer 33-43, 47, 49, 207, 301, 379, 390, 400-404 Wert, kultureller 28-43 Wert, moralischer 34-43, 47, 197 Wert, objektiver 126, 139,156-164,185, 235, 383 f. Wert, ökologischer 30-43, 47, 49, 197, 207, 301, 390, 401-404 Wert, ökonomisch-technischer 31-43, 47, 49,197, 207, 301 f., 390, 401-404 Wert, ontologischer 59, 74, 82, 88, 134f., 139f., 156-163, 174, 180,197 Wert, subjektiver 159 f. Wertethik, materiale 162 f., 168 f., 211, 230, 258, 267f., 278f., 290-296, 298, 301, 390f. Werthierarchie 270, 284f., 292f., 298, 301, 390 Wertkonflikt 35, 48f., 57,183f., 186, 203 f., 292 f., 301, 387, 391, 401-406 Wertpluralismus 32, 43, 49, 401-406 Widerspruch, dialektischer 241, 245 Widerspruch, pragmatischer 240 f., 252 f. Widerspruch, semantischer 244 f. Widerspruchssatz 234 Wille, als Moralprinzip 59, 74f., 83, 88, 156-161,164f., 171,174,177,186, 270, 289, 297, 357, 361, 384, 406 Wissenschaft, neuzeitliche 73, 75, 93, 188-193, 224, 269 f., 275 ff., 305-324, 334f., 356, 366, 368, 392 Zielkonflikt, des Handelns 53, 48,178, 302, 380, 391, 396, 401 Zivilisation 17-22, 29-32, 35-38, 44f., 47, 278, 380, 396, 403, 409

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Umwelt, Natur und Moral https://doi.org/10.5771/9783495997482 .

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Zivilisation, technologische 17, 32,42-53, 55 ff., 67, 90,171,175, 184,187, 189-207, 209, 214, 271, 277f., 281, 298ff., 303-308, 322f., 331, 373-382, 385ff., 389f., 392, 394f., 397f. Zukunftsethik 51 f., 57, 64,172,176ff., 182, 186 f., 200, 202, 205, 312f., 377, 381f.

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Zweck, objektiver 158 f., 185, 235, 383 f. Zweck, subjektiver 158f., 185, 383f. Zweck-Mittel-Verhältnis 187-194 Zweckrationalität 155, 186, 276 Zyklentheorie 212-228, 238, 259f., 268, 273, 277, 296 f., 388

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Gertrude Hirsch Hadorn

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Dirk Lanzerath

Krankheit und ärztliches Handeln Zur Funktion des Krankheitsbegriffs in der medizinischen Ethik 2000. Ca. 312 Seiten. Band 66 der Reihe Praktische Philosophie. ISBN 3-49S-47921-X Die zu ethischen Irritationen führenden Erweiterungen der Handlungsmö­ glichkeiten innerhalb der modernen Medizin werfen die Frage nach dem Krankheitsbegriff und seiner handlungsleitenden Funktion in signifikanter Weise neu auf. Die Rekonstruktion des Krankheitsbegriffs in seiner Verwiesenheit auf Natur, Gesellschaft und Subjekt erschließt zum einen sein Ver­ hältnis zu anderen Schlüsselbegriffen wie Gesundheit, Lebensqualität sowie Behinderung und zeigt zum anderen die Integration verschiedener Aspekte und Bezüge in die Einheit eines praktischen Begriffs und Urteils. Ein so ent­ wickelter Krankheitsbegriff orientiert sich daran, Kranksein als eine Weise des Menschseins so zu fassen, daß die kommunikative Komponente des seine Befindlichkeit mitteilenden Menschen wesentlich zur Konstitution von Krankheit gehört. Dabei erweist sich der Arzt als jene Instanz, die dem um Selbstauslegung bemühten Kranken nicht nur im engeren Sinne therapeuti­ sche, sondern auch - gegen technizistische Verkürzungen - hermeneutische Hilfestellung gibt. Aus dem Inhalt: • Medizin und ärztliches Handeln I. Das ärztliche Handeln als Kunst II. Medizinische Wissenschaft und ärztliche Kunst • Der Krankheitsbegriff und seine Konstitutionsverhältnisse I. Krankheit und Natur II. Krankheit und Gesellschaft III. Krankheit und Subjekt • Praktischer Krankheitsbegriff und ärztliches Handeln I. Der Strukturwandel in der Medizin II. Der praktische Krankheitsbegriff III. Die ethische Funktion des Krankheitsbegriffs

Verlag Karl Alber Freiburg / München

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Dietmar Mieth (Hg.)

Ethik und Wissenschaft in Europa Die gesellschaftliche, rechtliche und philosophische Debatte 2000. Ca. 320 Seiten. ISBN 3-495-47811-6 Ziel des Bandes, der den EU-Kongreß Ethik und Wissenschaft, der am 10. und 11.6.1999 in Tübingen stattfand, dokumentiert, ist die Reflexion ethischer Standards, wie sie durch den raschen wissenschaftlich-technischen Wandel sowie den damit einhergehenden Traditions- und Identitätsverlust erzwun­ gen wird. Diesen Diskurs führte die Tagung interdisziplinär auf europäischer Ebene. Die Veröffentlichung der Referate und Diskussionsbeiträge folgt dem Konferenzprogramm. Nach je einem politischen (Edith Cresson) und philoso­ phischen (Peter Kemp) Einführungsreferat folgen Darlegungen zur Ethik und Politik in der Biotechnologie (Wolf-Michael Catenhusen) bzw. in der Infor­ mationstechnologie (Stefano Rodota). Des weiteren werden vier Gesprächs­ runden dokumentiert: Ethik, Werte und Kultur; Ethik, Recht und Gesetz­ gebung; Ethik, Medien und öffentliche Meinung; Ethik, Wissenschaft und Politik in Europa. Namhafte Vertreter von Wissenschaftsorganisationen und Ethik-Beratergruppen in Europa (wie z. B. des französischen Verfassungsrat­ Mitglieds Noelle Lenoir, zugleich Vorsitzende der EU-Ethik-Beratergruppe, zu der auch der Veranstalter und Herausgeber gehört), kommen hier zu Wort. Das lebendige Gespräch zwischen den Optionen der Biowissenschaften bzw. der Informationstechniken und den Philosophen, zwischen Juristen, Medienvertretern und Politikern macht Chancen und Grenzen eines europäi­ schen Konsenses in einer Weise deutlich, wie sie bisher in dieser Reichhaltig­ keit der Perspektiven noch nicht vorgestellt wurden. Weitere Beiträge von: Deryck Beyleveld; Dieter Birnbacher; Suzanne McCarthy; David Dickson; Evelyne Gebhardt; Paula Martinho da Silva; Maria de Lourdes Pintasilgo; Alain Pompidou; Gerard Rabinovitch; Marja I. Sorsa; Paul van Tongeren; Gerard Toulouse; Ina Wagner; Tom Wilkie; Heinz Wismann; Martin Urban.

Verlag Karl Alber Freiburg / München

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