Handbuch Trauma - Pädagogik - Schule [1. Aufl.] 9783839425947

In this handbook, the traumatic experiences of children and adolescents and their manifestations and consequences are sy

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Handbuch Trauma - Pädagogik - Schule [1. Aufl.]
 9783839425947

Table of contents :
Inhalt
Traumatische Gespenster
Topographie des Traumatischen
Trauma und Erziehungswissenschaft
Die Perspektive der Humanistischen Pädagogik
Relationale Grenzgänge des Traumatischen
Die innere und äußere Beziehungsstörung
Trauma zwischen Diagnostik und Verstehen
Horizonte heterogener Traumazugänge
Politische Dimensionen von Trauma
Trauma und Traumadiskurse im sozialen Prozess
Traumata und Traumatisierung im Entwicklungsverlauf
Trauma, Attachment and Neuroaffective Developmental Psychology
Leidvolle Geschichte(n)
Trauma-Ozean
Diskursive Grenzen des Sagbaren
Alterität
„Always placed as the Other“
Trauma und Neuroliberalismus
Traumatisierung und Intergeschlechtlichkeit
Über Schule als traumatischer Ort der Individualisierung
Trauma trifft nicht Einzelne
Traumatische Visionen
Vergangenes Hören wider einer gegenwärtigen Lärmerei
Handlungsdimensionen in der Schule
Vom Überleben zur Lebensgestaltung
Reflexionen
Zur Topographie der Vulnerabilität
Psychosoziale Diagnostik in der TraumaPädagogik
Die Sprachlosigkeit der Gruppe
Trauma und Behinderung
Postkoloniale Ambivalenzen
Resonanzen
Leiblichkeit, Kindheit, Trauma
Leroy (7 Years Old) − “It Is Almost Like He Is Two Children”
Sequentielle Traumatisierung bei (Zwangs-)Migration
Trauma, Resilienz und Widerstand
Sorge
Praktiken
Quo vadis Traumapädagogik?
Schule als Lern- und Lebensraum für Jugendliche mit biographischen Verletzungen
Was lässt Jonas wieder lernen?
Notes on the ‘Body-Brain’
Autor_innen

Citation preview

Monika Jäckle, Bettina Wuttig, Christian Fuchs (Hg.) Handbuch Trauma – Pädagogik – Schule

Pädagogik

Für Greta, Ute und Christoph Rieger – Monika Jäckle –

Für meine Mutter – Bettina Wuttig –

Für Brigitte, Christian und meine Eltern – Christian Fuchs –

Monika Jäckle, Bettina Wuttig, Christian Fuchs (Hg.)

Handbuch Trauma – Pädagogik – Schule

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2594-3 PDF-ISBN 978-3-8394-2594-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Traumatische Gespenster Differenzen und Ambivalenzen von Leid, Macht und Bildung

Monika Jäckle, Bettina Wuttig und Christian Fuchs | 9

TOPOGRAPHIE DES TRAUMATISCHEN Trauma und Erziehungswissenschaft Die Perspektive der Humanistischen Pädagogik Zum Umgang mit belasteten Kindern und Jugendlichen in der Schule

Heinrich Dauber | 34 Relationale Grenzgänge des Traumatischen Pädagogische Reflexionen entlang von Existenz, Resonanz und Differenz

Monika Jäckle | 59 Die innere und äußere Beziehungsstörung Eine (psychoanalytisch-)pädagogische Perspektive auf das Phänomen Trauma

David Zimmermann | 87 Trauma zwischen Diagnostik und Verstehen Ein Plädoyer für eine kritisch-reflexive Haltung im pädagogischen Umgang mit vulnerablen Kindern

Lena Hartmannsberger | 108

Horizonte heterogener Traumazugänge Politische Dimensionen von Trauma Zur gesellschaftlichen Vermitteltheit von Gewaltfolgen

Ariane Brenssell | 133 Trauma und Traumadiskurse im sozialen Prozess

David Becker | 147 Traumata und Traumatisierung im Entwicklungsverlauf

Christine Köckeritz | 170

Trauma, Attachment and Neuroaffective Developmental Psychology

Susan Hart | 193 Leidvolle Geschichte(n) Ein soziohistorischer Blick auf transgenerationale Traumatisierung am Beispiel von Flucht und Vertreibung

Sandra Eck | 214 Trauma-Ozean Sozialphilosophische Reflexionen

Buse Bahcelibas | 233

DISKURSIVE GRENZEN DES S AGBAREN Alterität Die Erfahrung der Verletzbarkeit und der ‚Rat‘ der Dekonstruktion

Kerstin Jergus | 256 „Always placed as the Other“ Rassialisierende Anrufungen als traumatische Dimension im Kontext Schule

Denise Bergold-Caldwell, Bettina Wuttig und Jasmin Scholle | 281 Trauma und Neuroliberalismus

Christian Fuchs | 307 Traumatisierung und Intergeschlechtlichkeit

Anja Gregor | 330 Über Schule als traumatischer Ort der Individualisierung Heteronormative und anti-muslimisch-rassistische Verkennungen und ihre Materialität

Bettina Wuttig | 346 Trauma trifft nicht Einzelne Eine machtkritische Perspektive auf Trauma – vom Körper her gedacht gegen einen individualisierenden Machbarkeitsgeist

Corinna Pusch | 367 Traumatische Visionen Das Neurosen-Paradigma und der Traum von einem anderen Sehen in der Kunst um 1900

Martin Urmann | 388

Vergangenes Hören wider einer gegenwärtigen Lärmerei

Monika Jäckle | 408

HANDLUNGSDIMENSIONEN IN DER SCHULE Vom Überleben zu Lebensgestaltung Sicher sein und wachsen

Maria Johanna Fath | 421

Reflexionen Zur Topographie der Vulnerabilität Eine schultheoretische Betrachtung

Monika Jäckle | 436 Psychosoziale Diagnostik in der TraumaPädagogik Plädoyer für ein qualifiziertes ‚Diagnostisches Fallverstehen‘

Silke Birgitta Gahleitner | 461 Die Sprachlosigkeit der Gruppe Belastungen von Zeug_innen massiven Bullyings und sexualisierter Peergewalt

Frederic Vobbe | 479 Trauma und Behinderung Herausforderung für kindliche Lernräume

Martin Kühn und Julia Bialek | 494 Postkoloniale Ambivalenzen Trauma und Schule in Entwicklungs- und Schwellenländern

Birgit Eißner | 514

Resonanzen Leiblichkeit, Kindheit, Trauma

Barbara Wolf | 536 Leroy (7 Years Old) − “It Is Almost Like He Is Two Children” Working with a Dissociative Child in a School Setting

Na’ama Yehuda | 555

Sequentielle Traumatisierung bei (Zwangs-)Migration Belastungen und die bewältigende Kraft pädagogischer Interaktion

David Zimmermann und Franziska Ullrich | 578 Trauma, Resilienz und Widerstand ‚Traumatisiert‘ oder ‚resilient‘: die Gefahr des Schubladen-Denkens

Martin Kühn | 596 Sorge Existenz, Resonanz und Differenz und ihre Implikationen für die Schule

Monika Jäckle | 611

Praktiken Quo vadis Traumapädagogik? Inspirationen, Konzepte, Fragen

Wilma Weiß | 634 Schule als Lern- und Lebensraum für Jugendliche mit biographischen Verletzungen Über die Aufgaben und Herausforderungen von Lehrkräften

Elena Quack und Marita Fremmer | 655 Was lässt Jonas wieder lernen? Umgang mit störungswertiger Dissoziationsneigung

Ulrike Ding | 675 Notes on the ‘body-brain’ Use of Somatic Experiencing Principles as a PTSD Prevention Tool for Children and Teens during the Acute Stress Phase Following an Overwhelming Event

Peter A. Levine and Maggie Kline | 693 Autor_innen | 717

Traumatische Gespenster Differenzen und Ambivalenzen von Leid, Macht und Bildung M ONIKA J ÄCKLE , B ETTINA W UTTIG UND C HRISTIAN F UCHS In diesem Handbuch beziehen wir uns bewusst und gerade im erziehungswissenschaftlichem Feld auf den medikalisierten und pathologisch zugerichteten Begriff des Traumas. Das Sich-Einmischen in einen herrschenden Diskurs, das Ver-Stören von Normativitätsrastern und Wahrheitspolitiken1 wird nicht in Gang gebracht durch eine Versagung des Traumabegriffs (und damit einer performativen Entnennung) aufgrund seiner klinischen Hegemonie, d.h. durch Ablehnung seiner Verwendung per se – wie sie in manchen eitlen (geistes-)wissenschaftliche Provenienzen dominieren. Kritik an einem medizinisch zugerichteten, essentialistischen Traumabegriff findet seinen Ausdruck durch Entlarvung und Offenlegung einer im foucaultschen Sinne praktizierten Analytik der Wahrheit oder einer politischen Subversion im Sinne Judith Butlers, die das Gewordensein enthüllt und ihre Strategien der Biologisierung und Pathologisierung aufdeckt. Dialog und Kritik, auch ‚poststrukturalistische‘ (!) Kritik, – die im derridaschen Sinne eine Verwendung des Begriffes erfordern – bedeuten, sich in die diskursiven Kämpfe um Wahrheit hineinzubegeben und alternative Bedeutungsstränge zu zitieren, die das Herrschende in ihrer Ontologie verstören und ihren Totalitarismus entlarven. Nicht-Benennung stützt – dieser Logik entsprechend – die Hegemonie einer Medikalisierung von Leid. Um Normen verschieben zu können, braucht es zunächst ihre Iterabilität, um sie sodann zu dekonstruieren. „Der Claim der Dekonstruktion besteht also eher darin, den Gehalt, den Sinn oder […] aus dem festen Griff vermeintlich erforschter

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Wahrheitspolitiken verweisen auf die hegemoniale Wirkkraft der machtvoll institutionellen Durchsetzung von als ‚wahr‘ geltendem Wissen (Bührmann/Schneider 2008: 28) – hier in diesem Fall die Wahrheitsspolitiken des medizinischen Regimes. Foucault bezeichnet Regime als „ein stabilisierendes Moment prinzipiell kontingenter Ordnungen des Regierens – eine Politik der Wahrheit“ (Foucault 1992: 15).

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Wahrheit zu befreien und einer wie auch immer gestalteten Vielheit den Weg zu bereiten.“ (Feustel 2015: 76f.) So bewegen wir uns mit diesem Handbuch auf einem aktuellen Vulkangrat: Dieser ist nicht nur ein historischer Geröllhaufen, sondern hochexplosiv, indem er ‚durch toxische Gasentwicklung eine Aschewolke erzeugt’, die den Blick verstellt, die Existenz der Atmosphäre leugnet und strategisch mit Unsichtbarmachung arbeitet. Der Traumadiskurs als hoch widersprüchliches Aussagesystem wird durch die Hegemonie des medizinischen Wahrheitsregimes geführt, welches seine Macht durch Vereinnahmung und Entnennung produziert: existenzielle Widerfahrnisse werden medikalisiert, Natur und Gewalt gleichgeschaltet und Empörung neutralisiert. Im Rezeptionsmodus der Disziplinarität (Erziehungswissenschaft) verfolgt das Buch das Anliegen, das ‚Pädagogische‘ im Traumatischen herauszuarbeiten und hierfür den pädagogischen Blick zu schärfen. Daran anknüpfend folgt ein weiteres Ziel, die Heterogenität und Pluralität der Denkweisen von Trauma aufzuzeigen, um den Weg in die reflexiv-transdisziplinäre Auseinandersetzung hin zu öffnen. Dies findet Ausdruck in den sehr heterogen-angelegten Texten, die durch ihre Intertextualität eine Spannungsdynamik erzeugen, welche imstande ist, Widersprüche und Ambivalenzen zu Tage zu fördern. So verweist dieser textuelle Raum auf die Splitter im Auge. Denn: „Der Splitter in unserem Auge ist das beste Vergrößerungsglas.“ (Adorno) Durch das jeweils ‚Andere‘ kann das ‚Eigene‘ nochmals anders erblickt und gedacht werden, so dass das mehrperspektivische Denken stets die eigene Positionierung herausfordert, wie es exemplarisch im Nebeneinander der Texte von Ariane Brenssell oder Christian Fuchs und Peter Levine/Maggie Kline deutlich wird. Im Verweisungszusammenhang der Texte figurieren sich die Lebensnähe und Wucht der Verletzbarkeit, die jeweilige Gefahr der unterschiedlichen Zugänge, wenn die atmosphärische Schlagkraft des Traumas durch eine einseitige Engführung und totalitären Betrachtung Raum bekommen würde: durch kausal flache, biologisierende, individualisierende und pathologische Erklärungen, wie und v.a. warum das Gehirn gerade so tickt, durch theoretisch sich intellektuell verselbstständigende Denk-Abstraktionen, die über das leiblich-affektive Erleben eines konkreten Menschen hinwegfegen, durch identifizierende Zuschreibungen als ein ‚Jemand‘, der normativ spezifisch sein soll. In vielen Beiträgen – wenn auch aus unterschiedlicher Perspektive – wird betont: Eine Normierungsgewalt ist bereits in den medizinisch-szientistischen Traumabegriff eingeschrieben. Die ‚klassische‘, entwicklungspsychologische, neurowissenschaftliche, traumapädagogische Perspektive, die von einer funktionalen Abgrenzung von ‚normalen‘ gesellschaftlichen Verhältnissen, malignen Verhältnissen, Alltagsereignissen und außergewöhnlichen Ereignissen, von politischer Unbill hier

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und PTBS-Symptomen dort ausgeht, soll indes nicht desavouiert werden. Allerdings sollen neurophysiologische, entwicklungspsychologische und sozialphilosophisch-machtkritische Blicke auf Trauma gegeneinander gelesen werden, sich mitunter provozieren und konfrontieren – an manchen Stellen werden sie ineinander verzahnt. An dieser Stelle verlassen wir sogar das ‚poststrukturalistische Diktum‘ der Kritik der Ontologisierung. Dies nicht, um in einem Essentialismus, oder schlimmer noch in einem Eklektizismus zu waten, sondern um – ganz im Sinne der ebensolchen Machtkritik – nicht selbst epistemologische Ausschlüsse zu produzieren, Perspektiven zu verstellen, Theorien als Positivismen zu verkennen, Erkenntnisse zu blockieren. Gerade auf diese Weise kann Trauma als Dispositiv der Macht (Foucault 1978; vgl. Jäckle i.d.B.) sichtbar werden. Trauma ist somit keine Angelegenheit ausschließlich der Disziplinen, die sich auf ein entitäres Innenleben des Subjekts sowie auf biologische ‚Tatsachen‘ zentrieren, die also ein dichotomes Innen-Außen-Verhältnis setzen. Trauma ist ein Phänomen, welches überdeutlich basale erziehungswissenschaftliche Reflexionsfiguren zu problematisieren imstande ist, von denen Erziehungs- und Bildungsprozesse ausgehen: So ist das Subjekt stets eingeflochten in eine Vorgängigkeit der Sozialität. In der Angewiesenheit auf den Anderen existiert der Einzelne in Relationalität und ist stets situiert in spezifischen, machtvollen Verhältnissen. Erziehungs- und Bildungsprozesse können somit als Transformationsprozesse verstanden werden, die den einzelnen in den Ambivalenzen von Freiheit und Macht, von Werdung und Unterwerfung (Foucault 1978) reflexiv verorten. Damit werden individualtheoretische Konstruktionen des pädagogischen Bezugs und Verhältnisses überschritten und in die diskursive Aushandlung übergeführt, um letztlich auch normative Engführungen zu weiten. Denn: Hinter aller theoretischer Auseinandersetzung verbergen sich konkrete Menschen, mit einem konkreten leidvollen Erleben und je eigensinnigen Umgehensweisen damit. Welches gesellschaftliche Raster der Wahrnehmung (Butler 2010) hierfür angeboten wird, wie diese verhandelt werden, ist eine Frage der Verantwortung, der Gerechtigkeit und der Sorge. So bezieht sich unser Einmischen in den hegemonialen Traumadiskurs nicht in einer Entwertung medizinischen Wissens, sondern in der Kritik an den gewaltvollen Strategien und der Hegemonie dieses Wissens, welches nun eben zur Wahrheit geronnen ist und entlang der Dichotomie gesund-krank alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens durchdrungen hat einschließlich seiner alltäglichen Ausschlusspraktiken. Auch wir stehen nicht außerhalb der Diskursproduktion, sondern sind Teil der Sag- und Denkbarkeiten und selbst verstrickt in das Netz der Vulnerabiltätsmatrix. „[...] die dichotome Unterscheidung von ‚wissenschaftlich/unwissenschaftlich‘ ist selbst zunächst nichts anderes als Ausdruck einer praktischen Wissenspolitik, die ‚Wissenschaft‘ si-

12 | M ONIKA J ÄCKLE, BETTINA W UTTIG UND C HRISTIAN FUCHS cherstellen soll. Aber entgegen ideologischen Diskursen sucht diese Wissenspolitik den Aussagesubjekten – den Forschenden – eine dialogische, reflexiv-kritische Positionierung zu ermöglichen, indem durch die Institutionalisierung von Zweifel und Kritik an der eigenen (wissenschaftlichen) Aussage diese vom Aussagesubjekt systematisch eingefordert (und nicht wie im ideologischen Diskurs verhindert) wird.“ (Bührmann/Schneider 2008: 40)

Leid Unsere Gesellschaft scheint traumatisierte Menschen eher zu verkraften als Menschen, die leiden. Im herrschenden Traumadiskurs ist ein traumatisierter Mensch ein dysfunktionales Subjekt. Doch kann seine Funktionsfähigkeit durch geeignete Maßnahmen im Rahmen einer neuroliberalen Ursache-Wirkungslogik wiederhergestellt werden ohne die gesellschaftlichen Bedingungen miteinzubeziehen und zu benennen. Im herrschenden Traumadiskurs dominiert eine Machbarkeitsideologie, die Leid behandelbar, verfügbar und heilbar macht. Wir bekommen über den herrschenden Macht-Wissen-Nexus Strategien und Mittel an die Hand, trotz erlittenen Leids und Unrechts, schnell wieder ein nützliches, produktives Mitglied der Gesellschaft zu werden. Das Recht auf Leid und damit auf die eigenen Erfahrungen wird entzogen, wenn Anerkennung von einer globalisierten Funktionstüchtigkeit abhängig ist bzw. wenn die Verwertbarkeit als Arbeitskraft die soziale Intelligibilität bestimmt. Ein leidender Mensch wirft Sinnfragen auf. Fragen nach dem Sinn, den Gründen von Leid und auch nach der Verantwortung für erlittenes Leid. Die Frage nach dem Sinn von Leid und von Schmerzen eröffnet das Spektrum der Verantwortung (Levinas) und ist imstande Ordnungssysteme zu beunruhigen und in Frage zu stellen. Vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen kann heute von einer Ambivalenz des Leides gesprochen werden: Leidvolle Schreckenszenarien in medial aufbereiteten Großformaten rücken Leid ins Zentrum affektiver Betroffenheit, die jedoch weniger betreffen, sondern mehr instrumentalisieren. Gleichsam entschwindet der Raum, der Leid einen Platz zuweist. Judith Butler hat an mehreren Stellen prominent in ihrer Schrift Raster des Krieges, warum wir nicht jedes Leid beklagen (2010) deutlich gemacht, dass Affekte von normativen Deutungsmustern strukturiert werden, die wir nicht immer vollständig durchschauen können (Butler 2009: 23). Mediale hegemoniale Darstellungen vermögen diese Deutungsrahmen zu erzeugen innerhalb derer sich unserer Affekte bewegen. Mit Butler gefragt: Empfinden wir die gleiche Empörung und das gleiche Mitgefühl, wenn ein Mensch in Pakistan von einer Drohne ermordet wird, wie wenn ein englischer Diplomat von dem Terrorregime ISIS hingerichtet wird. Welchen Tod empfinden wir als besonders ungerecht? Machen wir hier Unterschiede?

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Und dies kulminiert in der Tatsache, dass wir in der westlichen Welt mit einem medial aufbereiteten Leid konfrontiert werden, Leid in Form von Kriegsberichterstattungen, sei es Grausamkeit, Flucht, Mord, Sterben, Folter, Gewalt, Missbrauch, strukturellem Unrecht. Doch die mediale Omnipräsenz, Unterteilung und Funktionalisierung von Leid entfremdet und unterteilt Leid nicht nur in anerkennbares und nicht-anerkennbares Leben, sondern macht Leid in ihrer Maßlosigkeit auch unsichtbar. Leid zeigt sich hauptsächlich in Bildern durch Geräte hindurch, während das alltägliche Leben von Tod, Leid und Schmerz fein gesäubert ist. Mediale Bilder strukturieren unser Raster der Wahrnehmung und vermitteln aber allenfalls kurzes Entsetzen über Leid in einer kurzen Sequenz ohne Anfang und Ende. Das unmittelbar erlebte Leid bleibt in seiner schmerzhaft, qualvollen Qualität nicht nachempfindbar. Was zu sehen ist, ist ein mediales Aufscheinen von Leidszenen und die Bilder wirken wie ein Filter für erlittenen Schmerz. Es fehlt der Schmerz, der untrennbar zum Leid gehört und so sehen wir Leid in einer Form, die viel weniger Fragen aufwirft. Wir sehen leidverzerrte, aber keine schmerzhaften Bilder von Leid. Trauma als Diagnose markiert objektivierbare Symptome, wohingegen das Leid im Trauma erst einen Zugang für anthropologische, philosophische, soziologische und vor allem pädagogische Fragen eröffnet. Das Leid im Trauma kann viel sichtbar machen, sobald es sichtbar werden darf. Wir halten daher am Traumabegriff fest, um dem dort verborgenen Leid wieder einen Platz zuzuweisen, der es möglich macht, Machtverhältnisse anzusprechen. Der Begriff des Traumas impliziert Normen und ist in seiner Aussagepraxis Ausdruck von Diskursen, die historisch gewachsen und Ausdruck von Macht- und Herrschaftsverhältnissen sind. Vielfach haben diese den Status unreflektierter Apriori. Es ist das Ziel dieses Buches, in der Vielfalt der hier versammelten, unterschiedlichen Sichtweisen eben den Raum aufzuspannen, der dem Trauma und eben auch traumatischem Leid Möglichkeiten eröffnet, sich in seiner Vielgestaltigkeit zu zeigen. Dieser Raum spannt sich wie ein Kuppelzelt auf, das durch die Spannungen der tragenden Elemente untereinander gehalten wird. Wir verstehen die unterschiedlichen Sichtweisen auf Trauma als diskursive Topographien2, die durch spezifische Welt- und Menschenbilder und damit einhergehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse hervorgebracht werden. Wir verwenden hier den Begriff der Topographie metaphorisch auf die jeweils unterschiedliche Figuration von Trauma. Die Topographie gibt der jeweiligen Lesart von Trauma ihre spezifische Gestalt und macht deutlich, dass Leid nicht eine Angelegenheit des Individuums ist.

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Der Begriff Topographie heißt



tópos (Ort) und



grápheïn „zeichnen“,

„(be-)schreiben“ und bedeutet so viel wie Skizze einer Landschaftsformation.

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Diese Topographien wirken wie Stempel, welche der phonetischen Lautfolge [ t ama] aufgeprägt werden und einem spezifischen Trauma* Begriff Gestalt verleihen. Das Asterisk-Zeichen symbolisiert den Unterschied von der herrschenden Wissensformation des Traumas. Es gibt eine Vielzahl von (Trauma*)Topographien, die widersprüchlich sein können, sich ineinander verschränken, sich jedoch nicht nahtlos ineinanderfügen. Die Heterogenität der hier vorgestellten (Trauma*)Topographien erzeugen Spannungs- und Kräfteverhältnisse zwischen und innerhalb der Topographien und sind imstande den absoluten Wahrheitsanspruch von Trauma zu hinterfragen und ggf. zu verschieben. Leid ist der (T____a)Raum in dem sich (Trauma*)Topographien zeigen. Der Raum des Leides wird durch die (Trauma*)Topographien aufgespannt und verbindet diese zugleich. Dieser Raum mehr als die Summe seiner Topographien, er ist übersummativ und nicht zur Gänze bestimmbar, eben (T____a). Jede topographische Herangehensweise steht vor der Herausforderung, den Raum des traumatischen Leides mitzulesen. Geschieht dies nicht, so kann durch das Ausblenden von Schrecken und Leid eine strukturelle Analytik zu einem erneuten Akt des Verletzens werden. Signaturen des Traumatischen Die Trope Traumatische Dimension entwerfen wir vor dem Hintergrund einer notwendigen Kritik an der normativen, medizinischen Definition von Trauma. Hierin sehen wir die Gefahr einer Individualisierung und Pathologisierung sozial orchestrierten menschlichen Leids.3 Trauma erscheint nicht als Malaise des Einzelnen, sondern wird in seiner sozialpathologischen und sozialtechnologischen Dimension greifbar. Während nun der klinische Begriff der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) für Traumasymptome aufgrund von „Ereignissen außergewöhnlichen

3

Der Begriff stellt ein Wiederaufgreifen und Erweitern des macht- und herrschaftskritischen Denkhorizontes dar, wie er von Bettina Wuttig (2016) in „Das traumatisierte Subjekt. Geschlecht – Körper – Soziale Praxis. Eine gendertheroretische Begründung der Soma Studies“ ausgearbeitet wurde. Traumatische Dimension meint hier gleichsam eine Verschiebung eines hegemonialen Traumabegriffes, von einem auf eine Krankheit hin ausgerichteten Begriff hin zu einer poststrukturalistischen, erinnerungstechnologischen Denkfigur, mit der sich Zumutungen und Herrschaftsverhältnisse markieren lassen. Traumatische Körpergedächtnisbildungen, als die Einschreibung von traumatischen Erfahrungen in das neuromuskuläre System, wie sie die Neurowissenschaften als traumatic body memory ausweisen (vgl. Petzold u.a. 2000; van der Kolk u.a. 2000; Levine 2014), werden bei Wuttig (2016) als Einkörperung des Sozialen gelesen.

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Ausmaßes“ (ICD10 2013) vorbehalten ist, stellt der Begriff traumatische Dimension in Frage, dass dasjenige, was ein außergewöhnliches Ausmaß ist, zu universalisieren, zu generalisieren und ahistorisch zu betrachten sei. Vielmehr will der Begriffshof und -kontext verdeutlichen, dass die gängigen Diagnosemanuale eine biologisierende, dem sozialen Kontext entzogene, Lesart des Traumas suggerieren. Trauma, so denken wir, kann kaum losgelöst weder von den gesellschaftlichen, materiellen Bedingungen, noch von den sozial-symbolischen – den Bedingungen der Subjektivation, den Subjektivierungsformen – sinnhaft sein. Während ein hegemoniales Traumaverständnis implizit einer eriksonschen, entfremdungstheoretischen Kanonisierung folgt, d.h. als Beschädigung einer teleologischen und normativen Identität gelesen wird, soll der Begriff traumatische Dimension darauf verweisen, dass bereits der gesellschaftliche Zwang, der sich in Fremd- und Selbstzuschreibungen (Positionierungen) entlädt, eine Form der Gewalt darstellt; eben eine traumatische Dimension. Die Körpersoziologie und der feministische Materialismus gehen davon aus, dass gesellschaftlich gemachte Differenzkategorien wie sex, race, class, (dis)ability, age dem Menschen nicht äußerlich bleiben, sondern sich dem Leib aufprägen, sich einverleiben (vgl. Villa 2000; Fausto-Sterling 2000; Abraham 2006). Diese Theorie der Inkorporation von sozialen Ordnungen aufgreifend, gehen die Soma Studies, auf die wir uns hier u.a. beziehen, davon aus, dass Einverleibungen von sozialer und symbolischer Ungleichheit (Materialisierung) potentiell leidvoll sind, weil sie Seinsweisen entlang einer Ausschließungsmatrix verunmöglichen. Kurz: Der ontologische Möglichkeitsraum wird durch die Zuschreibung von gesellschaftlichen Differenzkategorien eingeengt. Diese Form der Einengung hat wiederum eine materielle Dimension, eine gedächtnistechnologische, eine traumatische.4 Wenn sich ein Trauma scheinbar jenseits des gesellschaftlichen Kontextes ereignet, bedeutet, in einem Fall des weniger-offensichtlich-Seins des sozialen Zusammenhangs, dann ist es hier immer noch die Frage, wessen Leid entlang hegemonialer Diskurse, die die Wertigkeit von Leben wahrnehmungspraktisch organisieren, wir betrauern und welches Leid wir etwas selbstverständlicher hinnehmen (vgl. Butler 2009). Ein Trauma und wie diesem begegnet wird, ist ipso strukturalis nicht ohne die Bedingungen und Hintergründe, die Identitätszumutungen, die das „Hintergrundrauschen“ (Cvetkovich 2003) zum Vordergrundereignis ‚Trauma‘ bilden, deutbar. Traumatische Dimension bildet daher eine Chiffre für die Juxtapositionierung von traumatischen Erfahrungen mit Subjektivationsprozessen. Die Figur der traumatischen Dimension soll die sozialpolitische Dimension des Traumas als (Diskurs-)Phänomen sichtbar machen: Ein Verfolgungs- und Schock-

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So zum Beispiel kann sich eine ‚Identität‘ sich dem Individuum ähnlich schmerzhaft – uno actu – eines immerwährenden Schockerlebnisses aufprägen.

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trauma, ein Internierungstrauma lässt sich nicht von Marginalisierungsprozessen trennen, die in einer Gesellschaft präreflexive hegemoniale Praxis sind. Trauma ist immer auch eine Frage der Sozialität und der hierin erzeugten Bedingungen: den geopolitischen Gouvernementalitäten, den global erzeugten Armutsverhältnissen, den sexistischen und rassialisierenden Anrufungen, der Ökonomisierung, Neoliberalisierung, Standardisierung und Managerialisierung des Sozialen samt der Effekte, die diese haben – Verschleierung von menschengemachter Gewalt, Entnennungen, Biologisierung und Individualisierung von Leid, Scham, Ohnmacht und die stille Akzeptanz einer Allianz aus hegemonialem Traumadiskurs und Kriegsgeschehen. Anders als der klinische Terminus „Posttraumatische Belastungsstörung“, kennzeichnet Traumatische Dimension eine Verletzung, die in Subjektivierungen und Anrufungen als Andere im Rahmen einer normierenden und diskriminierenden Matrix selbst eingelassen ist. Dies kann auch dispositivperspektivisch, als eine „macht/herrschaftsanalytisch sensibilisierte Perspektive“ (Bührmann/Schneider 2013: 31) gelesen werden: Trauma ist nicht ohne Macht zu denken, denn es sind die Machtverhältnisse des ‚doing traumadiscourse‘, die dieses Phänomen als gesellschaftliche Wahrheit konstituieren. Diese Politik des Traumas verschleiert über Strategien der Biologisierung und Essentialisierung die diskursive Konstruktion des Phänomens. Denn alles, was über Trauma gesagt und getan wird, ist von Machtbeziehungen bewohnt und vor allem nimmt die „Macht eine psychische Form an, die die Selbstidentität des Subjekts ausmacht“ (Butler 2001: 9). Das Konglomerat von materialen, diskursiven und symbolischen Wissenformationen, Normierungen und Subjektivierungen figurieren das Trauma als Dispositiv, dessen hegemoniale diskursive Ordnung durch das ‚medizinische Wissens- bzw. Wahrheitsregime‘ angeleitet wird. In performative Praktiken werden die Grenzen des Sagbaren und Machbaren immer wieder neu abgesteckt, der Anerkennungsradius von Verletzung und Leid ausgelotet, worin sich letztlich die normative Vulnerabilitätsmatrix (in der herrschenden Figur der PTBS-Diagnostik) normalisierend entfaltet. Das Nachdenken über Trauma bringt Ambivalenzen mit sich: Der Gewinn eines klar umrissenen, eng umgrenzten Traumabegriffs und damit einer Eingrenzung scheint darin zu bestehen, eine selbstberuhigende Handhabbarkeit des allerschrecklichsten Leids gewährleisten zu können. Ähnlich eines technological fix, der verspricht, für die Folgen von Umweltzerstörungen eine Lösung zu haben, ohne den Kapitalismus als Verursacher von Rohstoffausbeutungen zu nennen, handelt es sich mitunter um ein Trugbild: Traumapädagogik und all die medizinisch-psychologischen Verfahren können bestenfalls Pflaster sein, welche die direkten Effekte

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von Gewalt etwas mindern, die Gewalt selbst – als politischen Willen – beseitigen sie nicht. Die Pflaster werden gebraucht. Verführerisch ist es dennoch immer wieder, sich einseitig auf die ‚Behandlungsposition‘ von Trauma zu schwingen, sich auf pädagogisch-therapeutische Methoden zu kaprizieren, mithin um selbst ‚gut‘ zu sein. So sinnvoll dies auch ist, im Hinblick auf eine Sensibilisierung für das Leid und die möglicherweise damit einhergehende Anerkennung von bildungsbiografischen Krisen, so problematisch, weil gewalt-reifikatorisch, ist eine Ausklammerung der politischen Verhältnisse, der willentlichen Entscheidungen, die, wie Buse Bahcelibas in diesem Band deutlich macht, Traumatisierungen erst ermöglichen. Ein Trauma-Handbuch darf daher nicht dabei stehen bleiben, sich mit den ‚Symptomen‘ der Menschen zu beschäftigen, sondern muss Macht- und Herrschaftsverhältnisse zum Ausgangspunkt eines Fachdiskurses nehmen. Bildende Einbrüche Trauma kann aus bildungsphilosophischen Zusammenhängen gedacht werden und thematisiert dabei die Erfahrung als transitorische Grenzerfahrung. So wie Bildung in Erfahrungsprozessen zu verorten ist, ereignet sich die Kollision von Subjekt und Welt auch in der Erfahrung. Damit wird Trauma als existenzielle Leiderfahrung in ihrer Kontingenz diskursiv verfügbar gemacht. Bildung im Modus des Brüchigen, Krisenhaften, Differenten, Anderen wendet den Blick auf die Grenzen der Erfahrungen (Thompson 2009), die den Menschen in gewaltsamer Weise öffnet. In Momenten bildender Einbrüche scheint die eigene Verfügbarkeit entzogen: So verdeutlicht der Begriff der Einbrüche die Gewaltsamkeit und Plötzlichkeit der Verhältnisse, die die Stetigkeit des Lebens unterbrechen und die das Subjekt in seinen kryptischen Formen der Selbstentzogenheit offenbaren. Einbrüche in das Selbstverhältnis und in die Stetigkeit des Lebens markieren die Grenzen unserer Zugriffs- und Souveränitätsweisen und lassen uns dennoch das ‚Entleerte‘ erfahren. So geht das Subjekt in seinen Fixierungen und Zugriffsweisen nicht auf – der ‚überschüssige Rest‘ bleibt undurchsichtig, unverfügbar, so dass die Erfahrungen bildender Einbrüche „das Ich über seine Perspektive hinaus verweisen“ (Thompson/Weiß 2008: 10). Dieses Subjektverständnis verweist auf seine strukturell-begriffliche Nähe zum Begriff des Traumas als existenzielle Grenzerfahrung, welcher den Verlust autonomer, zentrierter Handlungsmächtigkeit zum Ausdruck bringt, die Erschütterung scheinbarer identitärer Kohärenz und Kontinuität markiert und eine Entleerung bzw. Verschiebung von Sinn verzeichnet. So geht es ein Stück weit darum, die Erfahrungsfähigkeit in der Kollision des Traumatischen (und die darin bildenden Momente) in die Sprache und Gesellschaft hinein zu ver-

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mitteln und transparent zu machen vor allem für eine Weitung der Grenzen der Sichtbarkeit und Hörbarkeit in schulischen Erziehungs- und Bildungsverhältnissen. Doch welche Rolle spielt Bildung in diesem Zusammenhang? Im Horizont aktueller bildungsphilosophischer Auseinandersetzungen (vgl. Ricken 2006; Thompson/Weiss 2008) sind Brüche, (Un-)möglichkeiten, Überschüssigkeiten und Widerspenstigkeiten der Schauplatz, an dem in Gestalt von Fremdheitserfahrungen, die Selbst- und Fremdverhältnisse sich neu figurieren können. Bildung als transformierender Prozess überschreitet sich selbst und ermöglicht ein Anderer zu werden. Dieser hoch beunruhigende und riskante Prozess der De-Zentrierung seiner Selbst ist gleichsam – auf analytischer Ebene – der Einbruch des Traumas. Diese Verhandlung von Bildung weist damit eine strukturelle Ähnlichkeit von ,existenziellen‘ Grenzerfahrungen als Krisenerfahrungen auf, die nicht in biografisch sinnhafte diskursive Ordnungen eingebaut werden können (Kokemohr 2007: 14). Als solche sind Krisenerfahrungen immer auch in der Lage Sinn zu entziehen, Zusammenhänge zu zerstören und agency in Frage zu stellen. Sie können sogar Sinne enteignen, und gerade dennoch: als Erinnerungsspur (Wuttig 2016: 305) in ,bildenden‘ Subjektivierungen Raum für ‚Eigensinn‘ eröffnen. So geht es genauso darum, das unverfügbar ‚Sperrige‘ sinnhaft überzuführen, wie auch die sprachlich-hegemonialen Raster in ihrer Produktivkraft, Krisenverhältnisse zu erzeugen, bloßzulegen. Die Dimension des Traumatischen und Krisenhaften erweist sich daher nicht zuletzt als unlösbar verknüpft mit diskursiv sich (re-)produzierenden Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Dies ist insbesondere aus einer praxeologischen Perspektive relevant, da sich die Performativität traumatischer Wiederholung im schulischen Kontext abzeichnet. Hierbei wird Trauma wie auch Bildung als Differenzerfahrung, genauer gesagt als sinnlich-somatischer wie auch sinnhaft-sozialer Einbruch ,identitärer‘ Kohärenz und Kontinuität konzipiert. Bildende Erfahrungen in der Schule sind in den differenten, relationalen Erfahrungsräumen zu verorten, welche sich positional zwischen ,Sinn‘ und ,Soma‘ wenden, worin sich bildende Transformationen theoretisch wie praktisch verbergen. Entlang zentraler pädagogischer Theoriefiguren von ,Bildsamkeit‘, ,Verletzbarkeit‘ und ,Anerkennung‘, werden relationale Erfahrungsräume von Bildung zwischen ,sinn-gesetzten‘ Sagbarkeiten (Butler 2001, 2006, 2009) und somatischen Widerspenstigkeiten (Wuttig 2016) in einen Prozess des Transponierens von Erfahrung übergeführt, • indem biografisch belastete Kinder und Jugendliche in eine ,artikulierbare Spur

des Sprechens‘ eintreten können, Orte des Sprechens ,besetzen‘ können und so in die vorgängige soziale Welt wieder ,hinein‘finden – durch materiale Bildungsangebote der Schule ebenso wie über pädagogische Praxen dialogische Resonanz und relationalen Lernens (Künkler 2011),

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• indem der ,Widerhall‘ somatischer Erfahrungen biografisch belasteter Kinder und

Jugendliche in der Schule Raum für Bildung bekommt und die somatische Dimension gleichsam als emanzipatorisch subversive BildungsPraxis gefasst wird (Wuttig 2016). Schule M(m)acht v(V)erletzbar(keiten) Neoliberale Menschenführung zum Zwecke der Erwirtschaftung von ‚Human‘Renditen hat über Bildungsstandards Eingang in das Schulsystem gefunden und wird über Studien der empirischen (evidenzbasierten) Bildungsforschung genährt. Bildung − als ökonomischer Mehrwertsfaktor und weniger als Resonanzerfahrung mit Bildungsgehalt − steht im Dienste der Produktion von Humankapital und wird über Kompetenzdimensionen, Kompetenzstufen, Kompetenzbereiche, Kompetenzniveaus testfetischistisch zelebriert, während Lehrkräfte zur Rechenschaft gezogen werden. Die dominierende Strategie zur Optimierung von Unterricht bezieht sich weniger darauf, Unterricht als Resonanzraum zu gestalten, − in dem Antwortlichkeit in den Erfahrungen des sich Anverwandelns von Weltausschnitten zum ausschlaggebenden Faktor von Bildung wird (vgl. Rosa/Endres 2016) −, sondern über die technizistischen Planungsschritte von Zielvereinbarung, Handlung und Kontrolle. Der ökonomische Imperialismus im Feld von Erziehung und Bildung betrifft also nicht nur Schüler_innen sondern ebenso auch Lehrer_innen. Der hier kritisch gewendete Blick auf aktuelle Entwicklungen der Bildungssituation führt zu der These, dass dieser gesellschaftliche und auch alltägliche Lernhintergrund für Kinder und Jugendliche mit vulnerablen Lebensgeschichten zur Topographie des Traumatischen wird, indem die Geräuschkulisse des Funktionierens im Bildungsraum Schule nochmals mehr eingefordert wird: nicht nur institutionell, sondern vielmehr über individualisierendes Selbst-Management in inklusiver Resilienzrhetorik. Mit diesem Blick werden die gesellschaftlichen Entwicklungen der Beschleunigung, der Messbarkeit, der Sicherheitspraxeologie, der Verfügbarkeit als Strategien einer Entfremdungsmaschinerie entlarvt, die suggerieren doch ‚Herr im eigenen Haus‘ sein zu können. Schule ist dann eine Entfremdungszone, wenn Verletzbarkeiten keinen Platz haben, wenn die Resonanz stumm bleibt und wenn „repulsive Weltbeziehungen“ (ebd.: 20) dominieren. Dieser diskursive und atmosphärische Raum fungiert als Topographie des Traumatischen, als Gefährdung und Risiko. Denn: „Wenn Regulierungen überborden, erstickt das Recht der Jugend auf eine offene Zukunft, das ein Recht auf Zweifel, wirkliches Verstehen, auf umwegreiche Annäherung, auf Langsamkeit und die Durchdringung individueller Betroffenheiten und Schwierigkeiten ist. Das gilt für alle

20 | M ONIKA J ÄCKLE, BETTINA W UTTIG UND C HRISTIAN FUCHS Bildungseinrichtungen und Bildungsinhalte, von der Grundschule bis zur Universität.“ (Gruschka u.a. 2005: 4)

Dies führt uns nun zur Schule in Begriff eines ‚BildungsRaumes‘, in dem über Resonanzachsen Erfahrungen der Weltanverwandlung (vgl. Rosa/Endres 2016) angebahnt werden können, die als Glied fungieren, an der Verstummung und Isolation ‚anzudocken‘ vermögen. Resonanz meint – im bildungstheoretischen Sinne – das, was mit dem Ausdruck der Selbstbildung-in-und-durch-Welt deutlich wird, ein Anderer zu werden, und ereignet sich dann, wenn er/sie sich auf Erfahrungen einlässt, die ihn/sie bildend hervorbringen und transformatorisch über sich selbst hinausgehen. Für traumatisierte Kinder und Jugendliche stellt dieser schulische Hintergrund nicht ‚das Trauma‘ dar, aber die Topographie des Traumatischen (in Gestalt der selbstkontrollierenden Optimierungsimperative) mit ihrer räumlichen Kulisse fungiert als Herausforderung, Kontakt mit den offenen Gestalten des Schweigens, der Weltentfremdung, der Sprach- und Verbindungslosigkeit herzustellen. Damit ist Vulnerabilität auch Ausdruck für die normativ-strukturelle Dimension der Verletzungsoffenheit des Menschen. Nicht nur die (anthropologisch) leibliche Offenheit durch Angewiesenheit ist hier im Blick, sondern auch die normative Matrix der Verletzbarkeit: Vor dem Hintergrund ihrer Logik bringt sie qua Subjektpositionierungen verletzbare Existenzweisen hervor. Damit ist die menschliche Verletzbarkeit aufs Engste mit den Anerkennungsbedingungen einer sozialen Gesellschaftsordnung verschränkt. Gesellschaftlich bedingte verletzende (Anrufungs-)Akte sind nicht Teil individueller Dispositionen von Vulnerabilität, sondern Effekte von Otheringprozessen5, die per Ausschluss Vulnerabilität herstellen. Um ‚gesehen zu werden‘ bedarf es, sich innerhalb der Zonen der Intelligibilität, d.h. innerhalb der Grenzlinien des normativ anerkannten gesellschaftlichen ‚Seins‘ zu bewegen. Dies ist insbesondere in historischer Perspektive am Beispiel der Anrede als ‚Traumatisierter‘ von Bedeutung, da es darum geht, aufzuzeigen „wo das Menschliche auf die Grenzen der Intelligibilität trifft“ (Butler 2012: 98). Einem ‚Kriegszitterer‘ aus dem 1. Weltkrieg oder einem Vietnam-Veteranen war es sozial nicht möglich – aufgrund der damalig herrschenden Normen der Anerkennbarkeit – in die Zonen der normativen Sichtbarkeit vorzutreten, da das Erleben einbrechender Widerfahrnisse keine sozial lebbare Möglichkeit im normativen Gefügeraster bereitgestellt hat: Eine Anerkennung als ein Jemand, der Krieg und Entsetzen erlebt hat und daran leidend haftet, wird entzogen, denn dieser Jemand ist höchstens ein ‚Feigling‘, ein ‚Weichei‘, ein ‚Schwächling‘ und damit außerhalb des Anerken-

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Vgl. Wuttig; Bergold-Caldwell/Wuttig/Scholle i.d.B.

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nungsradius. Mit anderen Worten: Durch die Anrede als ein „Niemand“ (ein nicht sozial benennbarer spezifischer Jemand mit individueller Leidenserfahrung) findet keine Anerkennung der sozialen Existenz statt. Anders heute, denn der herrschende Traumadiskurs setzt die Grenzlinien der Intelligibilität und damit der Anerkennbarkeit. Während die heute im foucaultschen Sinne ‚wahren‘ traumatisierten Menschen, also diejenigen mit anerkennbarem normierten Subjektstatus eines an PTBS Symptomen erkrankten Menschen, gleichsam in den sozialen Kreislauf einer identitären Anrufungskette eingespeist werden und dadurch in eine soziale Existenz gelangen, bewegten sich Menschen vor noch drei Jahrzehnten im Niemandsland der Anerkennbarkeit und im Nebel der sozialen Nicht-Existenz. Wie aus Individuen heute traumatisierte Subjekte werden, zeigt sich in den hegemonialen dispositiven Normalisierungspraktiken einer herrschenden medikalisierten Diskurslogik. Aus einem Niemand werden heute entlang von subjektivierenden Zuschreibungspraktiken, materialen Einbindungen und diskursiven Wahrheitseffekten spezifisch Kranke, die also durch Stressüberforderung und einen gleichzeitig geringen Resilienzrahmen zu einem neurobiologistisch hochaktivierten Nervensystem werden. Die Notwendigkeit eines Subjektstatus und gleichsam seiner identitären Festschreibung (subjektivierende Zuschreibung durch die Diagnose PTBS) und normativer Engführung heute (die Grenzen des Menschlichen) markiert die Ambivalenz der Anerkennung von Menschen mit leidvollen Erfahrungen. Oder: Die Anerkennung von Leid und ihr hoher Preis pathogener biologistischer Subjektivierung in der Moderne. Schule ist Schauplatz, an dem disparate, ambivalente und brüchige Lebensbiografien aufeinandertreffen und an dem verletzende Erfahrungen auch entstehen. Traumatische Ereignisse vor dem Hintergrund einer normativ-traumatischen Topographie stellen die diskursive Ordnungslogik dar, in der Schüler_innen eingebunden sind und hervorgehen, in der sie die gelebte Erfahrung eines Innerhalb oder Außerhalb von Normen machen, welche imstande sind, Leid sichtbar oder unsichtbar machen zu können. So ist nicht eine pädagogisch-diagnostische Normierung Aufgabe von Schule, sondern das Anerkennen von Verletzbarkeit, das Aushalten von Angewiesenheit und das sich Ereignen von noch nicht gelebten jeweils individuellen Möglichkeiten. Dabei betrachten wir Kinder und Jugendliche als eigensinnige, bedingt autonome Subjekte ihrer Lebenspraxis, die sich vor der je eigenen individuellen Lebensgeschichte in einem diskursiv-kulturellen Lebenskontext bewegen und sich immer wieder neu in ihren aktuellen Lebenssituationen positionieren und ihre zukünftigen Lebensentwürfe figurieren. Pädagogisches Handeln, Verstehen und Sehen orientiert sich einerseits an eine Pädagogik als Lehre praktischen Handelns. Andererseits bezieht es sich auf einen erziehungswissenschaftlichen Reflexionshintergrund, der im-

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stande ist systematisch wie auch historisch Erziehungs- und Bildungsprozesse zu problematisieren, Konzepte zu entwickeln und reflexiv über die Praxis nachzudenken. Vorblick Unser Anliegen ist es, das Phänomen des Traumas zu und von den Grenzen her zu denken. Dabei betonen wir das Vermittlungsverhältnis von Individuum und Umwelt, Subjektivierung und Diskursivierung und kommen diesem Traumaverständnis durch eine reflexiv angelegte Auseinandersetzung pädagogischer, kulturwissenschaftlicher, psychologischer, macht- und gesellschaftskritischer wie auch philosophisch-dekonstruktiver Perspektiven nach. Entgegen der Tendenz der Individualisierung prekärer Verhältnisse und Pathologisierungen von Traumata gilt das Handbuch als heterogene Plattform unterschiedlich diskursiver Lesarten von Traumata, um auf das vielschichtige Entstehen, Wirken und Fortschreiben von Traumata in leiblichen, biologischen, kognitiven, sozialen, gesellschaftlichen und politischen Ebenen hinzuweisen und damit gleichsam das Feld des Sagbaren und NichtSagbaren zur Sprache zu bringen. So werden gesellschaftlichen Normalisierungsund Individualisierungssprozessen und -strategien mehr Aufmerksamkeit geschenkt in ihren machtvollen subjektivierenden wie auch bildenden Effekten auf Schüler_innen. Dabei soll der Blick auf individuelles Leid und auf das Phänomen des Traumas als sinnlich-körperlicher Einbruch zugunsten eines Verständnisses von Trauma als diskursive-kulturelle Konstruktion nicht aufgegeben werden, sondern in einer Hin- und Herbewegung zusammen gedacht werden. Dies spiegelt sich auch in der Gliederung wider: Sich zu und von den Grenzen zu bewegen ist die Hintergrundfolie des ersten Kapitels I, Topographie des Traumatischen, die das ‚erziehungswissenschaftliche Kaleidoskop‘ betont. Heinrich Dauber nähert sich dem Thema Trauma Pädagogik und Schule aus einer pädagogisch-humanistischen Perspektive. In seinem Text „Die Perspektive der Humanistischen Pädagogik. Zum Umgang mit belasteten Kindern und Jugendlichen in der Schule“ arbeitet er die einschlägigen Denkfiguren und Grundpositionen dieser pädagogisch-theoretischen Perspektive heraus und zeigt sowohl Konsequenzen für die Lehrerbildung als auch praktische pädagogische Handlungsmöglichkeiten für den Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen in der Schule. Im Beitrag „Relationale Grenzgänge des Traumatischen. Pädagogische Reflexionen entlang von Existenz, Resonanz und Differenz“ schärft Monika Jäckle den erziehungswissenschaftlichen Blick auf das Phänomen des Traumas, indem – ausgehend von der Lehre ‚Oikeiosis‘ als Theorie kindlicher Entwicklung – das Moment der Relationalität im Traumatischen herausgearbeitet wird. Trauma wird hierbei to-

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pographisch im Hinblick auf ein Traumaverständnis als existenzielles Widerfahrnis, als Resonanzflut und als dispositive Vulnerabilitätsmatrix ausbuchstabiert und im Rahmen von Bildungsprozessen, die mit Vulnerabilität eng verwoben sind, verortet. Ausgangspunkt von David Zimmermanns Beitrag „Die innere und äußere Beziehungsstörung – eine (psychoanalytisch-)pädagogische Perspektive auf das Phänomen Trauma“ ist eine Kritik an der mangelnden Eigenständigkeit pädagogischer Konzepte zu Trauma. Zimmermanns psychoanalytische Pädagogik versteht sich daher als Gegenentwurf zu einer weitgehend anti-pädagogischen Handlungslogik. In der innerpsychischen Störung zu sich selbst und zu anderen sieht Zimmerman ein Kernmerkmal des pädagogischen Traumaverständnisses und verdeutlicht an Beispielen szenisch-biografischen Fallverstehens, inwieweit gelingende Beziehungserfahrungen in der Schule, und eine Reflexion der Emotionen, von Seiten der Professionellen zu einer haltgebenden und inklusiven (schul-)pädagogischen Beziehung beitragen können. Lena Hartmannsberger legt in ihrem Beitrag „Trauma zwischen Diagnostik und Verstehen: ein Plädoyer für eine kritisch-reflexive Haltung im pädagogischen Umgang mit vulnerablen Kindern“ vor dem Hintergrund foucaultscher Machtkritik sowie Karl Jaspers' Philosophie einer Praxis des Erkennens, eine TraumaDiagnosekritik vor, die einen pädagogisch-reflexiven, verstehenden und anerkennenden Zugang zu Erfahrungen der Verletzbarkeit postuliert. Eine Schulpädagogik des Erkennens, so Hartmannsberger, muss über den kategorialen, parzellierenden Blick hinausgehen und Kinder in ihren Vulnerabilitätserfahrungen machtreflexiv, subjektivationskritisch als Autor_innen ihrer ‚eigenen‘ Erfahrung adressieren. Ariane Brenssell analysiert in ihrem kritisch-psychologischen Beitrag „Politische Dimensionen von Trauma: Zur gesellschaftlichen Vermitteltheit von Gewaltfolgen“ Entpolitisierungstendenzen von – auf Macht- und Herrschaftsverhältnissen beruhenden – Gewalterfahrungen durch einen klinisch-reduktionistischen Traumadiskurs. Die Naturalisierung von man made desasters über eine semantische Gleichsetzung mit ‚schicksalshaften‘ Naturkatastrophen in den gängigen Diagnosemanualen führt zu einer „Entnennung“ – einer systematischen Verschleierung – der politischen Zusammenhänge von Gewaltfolgen. Brenssell reklamiert mit Bezug auf Hans Keilsons (1979) Konzept der sequentiellen Traumatisierung Trauma als sozialen Prozess und nimmt – dieser Lesart folgend – das Bildungssystem kritisch unter die Lupe. In David Beckers Beitrag „Trauma und Traumadiskurse im sozialen Prozess“ steht die soziale und politische Verortung des Traumas im Zentrum. Der Traumabegriff in seiner doppelten Identität verweist dabei auf den wissenschaftlichen Begriff samt diagnostischen Implikationen wie auf den sozialen Diskurs, in dem Trauma als sozialer Erfahrungsraum verhandelt wird. Becker skizziert am Beispiel

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der Entwicklungszusammenarbeit im Nahen Osten (Gaza) und der EmpowermentArbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Kriegserfahrungen, die Ambivalenz des Traumabegriffs. Becker geht begründet auf Distanz zu den im westlichen Fachdiskursen verbreiteten buzzwords, wie „Traumapädagogik, Traumaprävention“ usw. Viel zu groß und illusorisch, verheißungsvoll, kolonialistisch und prätentiös scheinen sie ihm vorzukommen: geht es doch meist darum, einen „kleinen Raum des Gesprächs“ zu eröffnen. In ihrem Beitrag „Traumata und Traumatisierung im Entwicklungsverlauf“ widmet sich Christine Köckeritz der Bedeutung des Entwicklungsstandes eines Kindes und wie dieser auf die Traumaexpositionen und Traumareaktionen Einfluss nimmt. Aus dieser entwicklungspsychologischen Perspektive verdeutlich Köckeritz anschaulich, welche Rolle und Herausforderungen sowohl Eltern wie auch Lehrkräften im Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendliche zukommen. Susan Hart lotet in ihrem Beitrag „Trauma, Attachement and Neuroaffective Developmental Psychology“ die perspektivische Dynamik zwischen Entwicklungspsychologie und Neurowissenschaften aus. Ausgehend von bindungstheoretischen Grundannahmen zeigt Hart auf, welche Bedeutung frühe traumatisierende Beziehungserfahrungen auf die Entwicklung der Persönlichkeit, des Sozialverhaltens und des menschlichen Gehirns haben. Daran anknüpfend formuliert sie zentrale Zusammenhänge für ein Verständnis von Entwicklungstraumatisierungen und ihren Implikationen für pädagogische Beziehungen und für Lernprozesse. Sandra Eck beleuchtet in ihrem Beitrag „Leidvolle Geschichte(n). Ein soziohistorischer Blick auf transgenerationale Traumatisierung am Beispiel von Flucht und Vertreibung“ transgenerationale Traumatisierung aus kollektivbiographischer und dispositivanalytischer Perspektive, die eine Kritik an den ahistorischen und individualisierenden Prämissen der Psychotraumatologie ebenso einschließt, wie eine Hinwendung zu den aus dem gängigen Diskurs ausgeschlossenen Aspekten einer hegemonialen Erinnerungskultur. In ihrem Beitrag „Trauma-Ozean – Sozialphilosophische Reflexionen“ verfasst Buse Bahcelibas eine an Emanuel Lévinas anschließende Kritik einer Ontologie des Krieges, aber auch eine damit verbundene kritische Ontologie des hegemonialen Traumadiskurses. Traumadiskurs und Krieg befinden sich, so Bahcelibas luzide Analysen, in einer unheilvollen Allianz, einem „Trauma-Ozean“, bestehend aus Kriegspraxis und (Trauma-)Diskurslogik. Bahcelibas zeigt auf, wie sich Kriegspraxis und Traumadiskurs wechselseitig faktizieren und reifizieren und lädt zur sozialphilosophischen Reflexion ein. Die diskursiven Grenzen zu überschreiten und über die Grenzen des hegemonialen Traumadiskurses hinweg zu denken ist das Anliegen des Kapitels II, die Diskursiven Grenzen des Sagbaren. So werden normative Regeln überschritten, indem

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Trauma nicht nur an den physischen Tod gebunden wird, sondern auch der ‚soziale Tod‘ in den Blick kommt und noch weiter der ‚strukturelle Verlust‘ in die Sprache kommt. So ist nicht nur das ‚Innere‘ des Erlebens, sondern die uneingeschränkte Verweisspur zu Machtverhältnissen bedeutsam, in dem also nicht nur exakt objektivierbare Ereignisse, sondern auch das machtvolle „Hintergrundrauschen“ (Cvetkovich 2003), eine „traumatische Dimension“ (Wuttig 2016), eine Topographie des Traumatischen, ein „Wissen“ zum Traumatischen – außerhalb des herrschenden medizinischen Traumadiskurses – sagbar wird. Hier zeigen sich diskursive Auseinandersetzungen, die die regelstrukturierte Engführungen einer medizinisch dominierenden Besetzung des Begriffs selbst zum Gegenstand machen, indem die Grenzen dessen, was die ‚Wahrheit‘ des Traumas ist, überschritten wird. Hier möchten wir betonen, dass die Differenz zwischen struktureller Analyse der Subjektivation und der erfahrenen Unmittelbarkeit von erlebtem Leid nicht ineinander aufgeht. Hierauf aufmerksam zu machen, ist sehr bedeutsam, um hinzuweisen, dass Trauma als strukturelle Verletzung im Prozess der Subjektivation den Blick auf individuell erlittenes Leid nicht verstellen soll – zugunsten eines Verständnisses von Trauma als strukturelle Spur diskursiv-kultureller Subjektkonstitution. Konkret gesprochen: Leiblich-soziale Todeserfahrungen übersteigen nicht nur das Ich, sondern auch die strukturelle Seite der Ich-Werdung durch Unterwerfung und damit die Grenzen der Analytik. Kerstin Jergus nähert sich Trauma aus bildungstheoretischer Sicht. In ihrem Beitrag „Alterität. Die Erfahrung der Verletzbarkeit und der ‚Rat‘ der Dekonstruktion“ wird Trauma als normativ verengte und verengende Chiffre für Leiden an der Erfahrung der Andersheit gelesen. Das Andere/Fremde ist dasjenige, was sich den Rastern der Normativität entzieht, das Verdrängte, das Unheimliche, das uns gerade deswegen so unheimlich ist, weil es allzu vertraut ist. Die Sprache des Traumas bürdet den Menschen die Last auf, ein kohärentes Subjekt sein zu müssen. Erfahrungen der Brüchigkeit, der Verletzbarkeit, der Inkohärenz werden regelrecht verunmöglicht. Daran setzt Jergus ihre Argumentation mit dem ‚Rat der Dekonstruktion‘ an und wendet sie hin zu einem intelligiblen Raum des Sprechens – der Anerkennung. Denise Bergold-Caldwell, Bettina Wuttig und Jasmin Scholle gehen in ihrem Beitrag „Always placed as the Other – rassialisierende Anrufungen als traumatische Dimension im Kontext Schule“ vor dem Hintergrund eines postkolonialen und poststrukturalistischen Traumaverständnisses davon aus, dass Erfahrungen von Rassialisierungen im Kontext Schule eine traumatische Dimension annehmen können. Schwarze Kinder und Jugendliche, so zeigen die Autor_innen, werden im bundesdeutschen Schulalltag nach wie vor diskriminiert. Die Autorinnen machen deut-

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lich, wie Rassismus als traumatische Dimension, die in der Anrufung besteht (s)eine somatische Schlag- und Verletzungskraft entfaltet. Die Wechselwirkungen zwischen neoliberaler Gesellschaftsordnung und dem neurowissenschaftlichen Denkimperialismus auch innerhalb des herrschenden Traumadiskurses untersucht Christian Fuchs in seinem Artikel „Trauma und Neuroliberalismus“. Zum einen wird Leid aus diesen Diskursverschränkungen systematisch verdrängt, so die zentrale These von Fuchs und zum anderen ist es gerade die Beschäftigung mit traumatischem Leid, welche imstande ist, machtvolle diskursive (Trauma)Strukturen aufzubrechen und eine Öffnung für einen pädagogischen Umgang mit Trauma und Lernen zu ermöglichen. Anja Gregor weist in ihrem Beitrag „Traumatisierung und Intergeschlechtlichkeit“ Intersexualität als eine soziale Kategorie aus, die durch operative Eingriffe von Kindern, die mit sogenannten ‚uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen‘ zur Welt kommen, hervorgebracht wird. „Zweikörpergeschlechtlichkeit“ wird in der Praxis des Operierens daher immer wieder aufs Neue in seiner sozial-symbolischen, somatisch-materiellen Wirkung, nicht nur an Körpern erzeugt, die qua „sex“ (biologischem Geschlecht) nicht eindeutig lesbar sind, sondern an allen GesellschaftsKörpern. Die soziale Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit wird den Körpern buchstäblich eingeschrieben, so dass die Geschlechterordnung selbst zu einer traumatischen Dimension (Wuttig 2016) gerinnt. Gregor thematisiert, wie Schule als Regulationsprinzip dabei wie ein Brennglas der Normalisierung wirkt. Bettina Wuttig liest in ihrem Beitrag „Über Schule als traumatischen Ort der Individualisierung. Heteronormative und anti-muslimisch-rassistische Verkennungen und ihre Materialität“ Schule mit Michel Foucault, Maurice Blanchot sowie der Geografin Sibylle Bauriedl als Oszillations-Raum zwischen traumatischer Individualisierung und heterotopischen Befreiungsmöglichkeiten. Referenzpunkt für den Beitrag bildet im Weiteren Mike Kelleys Kunstwerk Educational Complex: Trauma wird bei Kelley einerseits auf seine hegemoniale diskursive Präsenz geprüft, anderseits als Phänomen extrapoliert, welches erst im Spiegel von Marginalisierungen und gesellschaftlich gewaltvollen Normen sinnhaft lesbar ist. Indem die Konstruktion von ‚Identitäten‘ im Schul-Raum in ihrer Gewaltsamkeit und damit in ihrem traumatischen Potential sichtbar wird, kann Schule, so Wuttig, zum heterotopischen Raum werden. In ihrem Beitrag „Trauma trifft nicht Einzelne. Eine machtkritische Perspektive auf Trauma – vom Körper hergedacht, gegen einen individualisierenden Machbarkeitsgeist“ setzt sich Corinna Pusch nicht nur mit den individualisierenden Effekten traumapädagogischer Diskurse auseinander, sondern führt diese mit einer erziehungswissenschaftlichen Kritik an der gängigen ‘Kompetenzdidaktik‘ zusammen. Unter Rekurs auf die Soma Studies und autoethnografischer Schilderungen zeigt sie

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auf, wie ein gelingendes pädagogisches Handeln in eine Praxis reflexiver somatischer Materialität münden kann. In Martin Urmanns ästhetisch-philosophischem Beitrag „Traumatische Visionen. Das Neurosen-Paradigma und der Traum von einem anderen Sehen in der Kunst um 1900“ steht die traumatische Neurose als Auftakt- und Knotenpunkt eines positivistisch-biologistischen Menschenbildes im Mittelpunkt. In einer Rekonstruktion des Degenereszenzdiskurses des Fin de Siècle zeigt Urmann, dass, anders als im naturwissenschaftlich-psychologischen Diskurs der Zeit, in philosophischliterarischen Narrativen die Neurose nicht als Krankheitserscheinung verhandelt wurde, sondern als soziale Pathologie, als durch die Moderne selbst inaugurierter Zwang der Identität des Subjekts. Trauma als überflutendes Entfremdungsereignis der Internalisierung eines Fremdkörpers, wie es die klassische Psychoanalyse beziffert, korrespondiert durchaus mit dem in von Hofmannsthals Tragödie Elektra verhandeltem supraindividuellem Identitätsparadoxon. Urmann öffnet aus ästhetischer Perspektive die für die Pädagogik so zentrale Dimension des anderen Denkens von Trauma. In ihrem Beitrag „Vergangenes Hören wider einer gegenwärtigen Lärmerei“ lässt Monika Jäckle überlebende Kinder zu Wort kommen, die das Unaussprechliche in und durch die Weltkriege erlitten haben und die Leser_innen herausfordern, sich reflexiv-sinnlich-erinnernd auf sie und sich selbst zurückzuwerfen. Dabei steht im Zentrum, wie die normative Ordnung der Sichtbarkeit historische Vorlagen zitiert und dadurch die Bedingungen der Gefährdung in der Gegenwart hervorbringt. Das Kapitel III, Handlungsdimensionen in der Schule, thematisiert pädagogisches Handeln in den unterschiedlichen, ausgewählten schulpädagogischen Feldern. Pädagogisches Handeln als theoriegeleitetes Handeln kann weder auf Reflexivität verzichten noch ist es in Rezeptologien übersetzbar. Und gleichsam stößt das pädagogisch-praxeologische Erfahrungswissen, wie es in den nun folgenden Beiträgen deutlich wird, Fragen an, die einer reflexiv-theoretischen Auseinandersetzung bedürfen. Die Komplexität der jeweiligen pädagogischen Situation verlangt demnach nach einem fallbezogenen, praktischen Sehen, Denken und Handeln, welches theoretisch fundiert ist und sich auch den „unsteten Formen“ (Bollnow 1959) der Erziehung widmet. Maria Johanna Fath öffnet mit ihrem Beitrag in Interviewform „Vom Überleben zur Lebensgestaltung“ das Feld der Handlungsdimensionen, indem sie schulalltagsnah in die Dynamiken, Herausforderungen und Erscheinungsweisen verletzter junger Menschen in der Schule einführt. Im Vordergrund steht, wie Traumatisierungen entstehen und aufrechterhalten werden, wie auffälliges Verhalten unzureichend klassifiziert wird und welche Handlungsoptionen Lehrkräften zur Verfü-

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gung stehen, wenn ein traumaspezifisches Wissen in das eigne pädagogische Handeln mit einbezogen wird. Unter einer schultheoretisch-systematischen Perspektive durchleuchtet Monika Jäckle in ihrem Text „Zur Topographie der Vulnerabilität. Eine schultheoretische Betrachtung“ die Schulwirklichkeit unter dem Gesichtspunkt der Vulnerabilität. Sie zeigt auf, dass Schule als gesellschaftliche Institution, als Einzelschule wie auch als konkreter Lern- und Lebensort Vulnerabilität erzeugen und gleichsam stärkende Bildungsanlässe für vulnerable Kinder und Jugendliche schaffen kann. In ihrem Beitrag „Psychosoziale Diagnostik in der TraumaPädagogik. Plädoyer für ein qualifiziertes ‚Diagnostisches Fallverstehen‘“ vollzieht Silke Birgitta Gahleitner entgegen den Polarisierungstendenzen in Diskursen der sozialen Diagnostik, die zwischen rekonstruktiven und klassifikatorischen Ansätzen verlaufen, vor dem Hintergrund des von Maya Heiner entworfenen „diagnostischen Fallverstehens“ der Klinischen Sozialen Arbeit, eine traumapädagogische Integrationsbewegung, die auf ein mehrdimensionales interdisziplinäres Vorgehen abzielt. Zudem plädiert Gahleitner vor dem Hintergrund normativer Gefährdungslagen (Kinderschutzfälle) für eine systematische traumpädagogische Gestaltungsdiagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe. Frederic Vobbe nimmt in seinem Beitrag „Die Sprachlosigkeit der Gruppe. Belastungen von Zeug_innen massiven Bullyings und sexualisierter Peergewalt“ die traumatisierenden Folgen von (sexualisierter) Peergewalt in der Schule in den Blick. Darin interessiert Vobbe besonders die Rolle der Zeugenschaft. So zeigt Vobbe auf, wie sich die Aufdeckung von Peergewalt vor dem Hintergrund von Traumatisierungsdynamiken gestaltet. Pädagogische Implikationen lassen sich, so Vobbe, vor allem in dem Eröffnen von Sprach- und Handlungsräumen in der Schule und dem Sensibilisieren für Gewaltdynamiken und sich anbahnenden Übergriffen ausmachen. In ihrem Beitrag „Trauma und Behinderung. Herausforderung für kindliche Lernräume“ plädieren Martin Kühn und Julia Bialek für eine subjektorientierte Perspektive von Behinderung als soziale Kategorie vor dem Hintergrund der materialistischen Behindertenpädagogik und den Disability Studies. Entlang des Konzeptes einer „Pädagogik des Sicheren Ortes“ (Kühn 2006) arbeiten die Autoren die praxeologisch relevanten und spezifischen Bedingungen von Lernen im schulischen Alltag unter einer traumapädagogischen Spezifik heraus. Birgit Eißner führt in ihrem Beitrag „Postkoloniale Ambivalenzen. Trauma und Schule in Entwicklungs- und Schwellenländern“ eine transnational-kritische Auseinandersetzung mit gängigen Traumabehandlungsmethoden sowie dem Umgang mit Trauma in der (schulbezogenen) Entwicklungszusammenarbeit. Sie zeigt auf: Die ‚Nosologie des Traumas‘ ist stets im Spannungsfeld vom Wissen um die Kolonial-

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geschichte, die sich als Neo-Kolonialisierung im einseitigen Export von Wissen, Methoden, politischer und militärischer Kontrolle „From the West to the Rest“ zeigt, und der Anerkennung des eigenen, historisch immer dagewesenen, aber verkannten Potentials des Südens, sowie der sich aktuell bereits verschiebenden, globalen Machtverhältnisse zu betrachten. Barbara Wolf begreift in ihrem Beitrag „Leiblichkeit, Kindheit, Trauma“ Schule als atmosphärische LeibSozialisationsinstanz. Sie fragt danach, wie sich die räumlich-atmosphärischen Bedingungen („Atmosphären des Aufwachsens“, Wolf 2015) in der Schule, die sie als Fortsetzung derjenigen in Elternhaus und Kindergarten sieht, mehr oder weniger geeignet sind, Kinder und Jugendliche mit traumatischen Erfahrungen zu unterstützen. Traumatische Erfahrungen sind Erfahrungen der leiblichen Enge eines subjektiv erfahrenen Raum- und Atmosphärenerlebens, deren Umgang, so Wolf, eine zentrale Bedeutung für pädagogisches Handeln in Schule und Unterricht hat. Die pädagogisch anspruchsvolle Arbeit mit einem dissoziativen Kind im pädagogischen Alltag beschreibt Na’ama Yehuda in ihrem Artikel „Leroy (7 Years Old) − “It Is Almost Like He Is Two Children”. Working with a Dissociative Child in a School Setting“. In diesem pädagogischen Fallbeispiel zeigt die Autorin auf, wie ein pädagogisches Verstehen zu einem vulnerabilitätssensiblen erzieherischen Denken und Handeln führen kann, wenn ein kindlich auffälliges Verhalten in den Kontext eines hochbelasteten Umfeldes gestellt wird und vor dem Hintergrund aktueller pädagogisch-psychologischer Traumakenntnisse gelesen wird. Über exemplarische Szenen pädagogisch einschlägiger Situationen legt Yehuda theoretische Folien an, so dass beispielhaft ein subjektiv sinnhaftes Verhalten generiert wird, woraus sie gleichsam Handlungsoptionen aufzeigt. David Zimmerman und Franziska Ullrich beschäftigen sich in ihrem Beitrag „Sequentielle Traumatisierung bei (Zwangs-)Migration. Belastungen und die bewältigende Kraft pädagogischer Interkationen“ mit den Folgen einer sequentiellen Traumatisierung bei geflüchteten Kindern und Jugendlichen. Im Fokus ihrer Betrachtung steht die Wahrnehmung von Schüler_innen durch die Lehrkräfte bzw. die Unterstützungsmöglichkeiten der Lehrkräfte bei der Begleitung von geflüchteten Schüler_innen. Martin Kühn setzt sich in seinem Text „Trauma, Resilienz und Widerstand. ‚Traumatisiert‘ oder ‚resilient‘: die Gefahr des Schubladen-Denkens“ kritisch mit den Themen der Traumabewältigung, der Resilienz, des Posttraumatischem Wachstums, der Autonomie und des Widerstandes auseinander und arbeitet deren Ambivalenzen für die pädagogische Praxis heraus. In ihrem Beitrag „Sorge. Existenz, Resonanz und Differenz und ihre Implikationen für die Schule“ nimmt Monika Jäckle die pädagogische Figur der Sorge als

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verletzungssensibles pädagogisches Sehen, Denken und Handeln in den Blick. Dabei begründet sie Sorge als reflexive Haltung in relationalen Selbst-, Anderen,- und Weltverhältnissen und zeigt auf, in welchen pädagogischen Handlungsdimensionen entlang von Existenz, Resonanz und Differenz sich ein solches Antwortverhalten in der Schule praktisch formieren kann. Eine fachliche Grundlegung und Verortung traumapädagogischen Denkens und Handelns formuliert Wilma Weiß in ihrem Beitrag „Quo Vadis Traumapädagogik? Inspirationen, Konzepte, Fragen“. Darin verdeutlicht sie die historischpädagogischen Zusammenhänge, die Fülle traumapädagogischer Konzepte sowie die konkreten handlungspraktischen Operationen in der Schule, wie sie in der „Pädagogik der Selbstbemächtigung“ von Weiß selbst entwickelt wurden. Sie plädiert letztlich für ein pädagogisch-emanzipatorisches Verständnis im Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen. Elena Quack und Marita Fremmer widmen sich in ihrem Beitrag „Schule als Lern- und Lebensraum für Jugendliche mit biografischen Verletzungen. Über die Aufgaben und Herausforderungen von Lehrkräften“ den spezifisch schulischen Handlungsformen von Lehrkräften. Diese werden vor dem Hintergrund eines pädagogischen Verstehens, einer Würdigung der Überlebensleitung und einer traumasensiblen, pädagogisch-professionellen Haltung praxisnah ausbuchstabiert. Ulrike Ding gibt in ihrem Beitrag „Was lässt Jonas wieder lernen. Umgang mit störungswertiger Dissoziationsneigung“ Einblicke in das Phänomen der Dissoziation und problematisiert hierbei die Bedingungen schulischen Lernens. Ausgehend von der „Pädagogik der Selbstbemächtigung“ (Weiß 2003) formuliert sie pädagogische Handlungskonsequenzen auf der Ebene der Schule wie auch des Unterrichts mit Blick auf die Unterrichtsfächer. Peter Levines und Maggie Klines Beitrag „Notes on the ‘Body-Brain’. Use of Somatic Experiencing Principles as a PTSD Prevention Tool for Children and Teens during the Acute Stress Phase Following an Overwhelming Event“ will Prinzipien des traumatherapeutischen Ansatzes Somatic Experiencing, SE (Levine) für die Traumaprävention im Kontext Schule fruchtbar machen. Dabei geben sie praktische Anregungen zur Trauma-Hilfe und Krisenintervention und stellen physiologische Selbst- und Fremdregulierungsstrategien vor, die auch in der Schule den Kern einer traumasensiblen Präventionsarbeit darstellen.

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Dank Die Autor_innnen haben bei der Manuskriptüberarbeitung nicht nur viel Geduld über diese lange Zeitspanne bewiesen, sondern viel Toleranz gegenüber Hinweisen und Überarbeitungswünschen der Herausgeber_innen gezeigt. Dies möchten wir mit großer Anerkennung würdigen. Besonderen Dank möchten wir Tanja Krafczyk und Lena Hartmannsberger zukommen lassen, die uns mit einer so wertvollen Lektoratsarbeit unterstützt haben. Literatur Abraham, Anke (2006): Der Körper als Speicher von Erfahrung. Anmerkungen zur übersehenen Tiefendimension von Leiblichkeit und Identität. In: Gugutzer, Robert (Hg.): Body Turn. Perspektiven der Soziologie und des Sports. Bielefeld: transcript,119-141. Bollnow, Otto Friedrich (1959): Existenzphilosophie und Pädagogik. 6. Aufl. (1984). Stuttgart: Kohlhammer. Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Butler, Judith (2006): Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt/Main: Suhrkamp Butler, Judith (2009): Krieg und Affekt. Berlin: Diaphanes. Butler, Judith (2010): Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt/New York: Campus Verlag. Butler, Judith (2012): Die Macht der Geschlechternormen. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Bührmann, Andrea D./Schneider, Werner (2008): Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse. Bielefeld: transcript. Bührmann, Andrea D./Schneider, Werner (2013): Vom ‚discursive turn‘ zum ‚dispositive turn‘? Folgerungen, Herausforderungen und Perspektiven für die Forschungspraxis. In: Caborn Wengler, Joannah/Hoffarth, Britta/Łukasz Kumiga (Hg.): Verortungen des Dispositiv-Begriffs. Analytische Einsätze zu Raum, Bildung, Politik. Wiesbaden: Springer VS, 21-35. Cvetkovich, Ann (2003): An Archieve of Feelings. Trauma, Sexuality and Lesbian Public Cultures. Durhan: Duke University Press. Fausto-Sterling, Anne (2000): Sexing the Body. Gender Politics and the Construction of Sexuality. New York: Basic Books. Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve Verlag. Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik. In: Kritik des Regierens. Schriften zur Politik. Berlin: Suhrkamp. Gruschka, Andreas/Herrman, Ulrich/Radtke, Frank-Olaf, Rauin, Udo/Ruhloff, Jörg/Rumpf, Horst/Winkler, Michael (2005): Das Bildungswesen ist kein Wirtschaftsbetrieb, Gesell-

32 | M ONIKA J ÄCKLE, BETTINA W UTTIG UND C HRISTIAN FUCHS schaft für Bildung und Wissen e.V. [http://bildung-wissen.eu/ fachbeitraege/bildung-istein-menschenrecht-keine-ware-die-gesellschaft.html; abgerufen am 13.10.2014]. ICD10 (2013): ICD10-WHO. Version 2013. [www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10who /kodesuche/onlinefassungen/htmlamtl2013; abgerufen am 3.5.2014.]. Kokemohr, Rainer (2007): Bildung als Welt- und Selbstentwurf in Anspruch des Fremden. Eine theoretisch-empirische Annäherung an eine Bildungstheorie. In: Koller, HansChristoph/Marotzki, Winfried/Sanders, Olaf (Hg.). Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrungen. Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Bielefeld: transcript, 13-68. Kühn, Martin (2006): Bausteine einer „Pädagogik des Sicheren Ortes“ − Aspekte eines pädagogischen Umgangs mit (traumatisierten) Kindern in der Jugendhilfe aus der Praxis des SOS-Kinderdorfes Worpswede. [http://www.jugendsozialarbeit.de/ media/raw/martin_ kuehn.pdf; abgerufen am 15.09.2016]. Künkler, Tobias (2011): Zum Verhältnis von Subjektivität und Relationalität in Lernprozessen. Bielefeld: transcript. Levine, Peter (2014): Trauma – Emotions – Memory. Vortrag anlässlich der Weiterbildung Trauma – Emotions – Memory vom 6.-19.6.2014 in Bad Boll. Vortragsmitschrift. Petzold, Hilarion G./Wolf, Hans Ulrich/Landgrebe, Birgit/Josic, Zorica (2000): Integrative Traumatherapie – Modelle und Konzepte für die Behandlung von Patienten mit posttraumatischer Belastungsstörung. In: Van der Kolk, Bessel A., u. a. (Hg.): Traumatic Stress. Grundlagen und Behandlungsansätze. Theorie, Praxis und Forschung zu posttraumatischem Stress sowie Traumatherapie. Paderborn: Junfermann, 445-580. Rosa, Hartmut/Endres, Wolfgang (2016): Resonanzpädagogik. Wenn es im Klassenzimmer knistert. Weinheim, Basel: Beltz. Ricken, Norbert (2006). Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bildung Wiesbaden: VS-Verlag. Thompson, Christiane/Weiß, Gabriele (2008) (Hg): Bildende Widerstände – widerständige Bildung. Blickwinkle zwischen Pädagogik und Philosophie. Bielefeld: transcript. Thompson, Christiane (2009): Bildung und die Grenzen der Erfahrung. Randgänge der Bildungsphilosophie. Paderborn: Ferninand Schöningh. Van der Kolk, Bessel A. u.a. (Hg.) (2000): Traumatic Stress. Grundlagen und Behandlungsansätze. Theorie, Praxis und Forschung zu posttraumatischem Stress sowie Traumatherapie. Paderborn: Junfermann. Villa, Paula-Irene (2000): Sexy Bodies. Eine soziologische Reise durch den Geschlechtskörper. Opladen: Leske & Budrich. Weiß, Wilma. (2003): Philipp sucht sein Ich. Zum pädagogischen Umgang mit Traumata in den Erziehungshilfen. 8. Aufl. (2016) Weinheim: Beltz Juventa. Wuttig, Bettina (2016): Das traumatisierte Subjekt. Geschlecht – Körper – Soziale Praxis. Eine gendertheroretische Begründung der Soma Studies. Bielefeld: transcript.

Topographie des Traumatischen

Die Perspektive der Humanistischen Pädagogik Zum Umgang mit belasteten Kindern und Jugendlichen in der Schule H EINRICH D AUBER „Die Schule darf nie vergessen, dass sie es mit noch unreifen Individuen zu tun hat, denen ein Recht auf Verweilen in gewissen, selbst unerfreulichen Entwicklungsstadien nicht abzusprechen ist. Sie darf nicht die Unerbittlichkeit des Lebens für sich in Anspruch nehmen, darf nicht mehr sein wollen als ein Lebensspiel.“ FREUD 1942, GEW VIII: 63

Vorbemerkung Da es – nach meiner Kenntnis – noch wenige systematische Untersuchungen zum Thema gibt, auf denen für diesen Beitrag aufgebaut werden konnte, wurde ein methodischer Zugang gewählt, der verschiedene theoretische Perspektiven und Grundpositionen der Humanistischen Pädagogik mit persönlichen Erfahrungen und Selbstreflexionen verbindet sowie empirische Daten an einem biografischen Interview veranschaulicht. Daneben werden Konsequenzen für die Lehrerbildung und praktische pädagogische Handlungsmöglichkeiten für den Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen im Raum der Schule skizziert. Zwei literarische Texte bilden den Abschluss. Dabei wird in diesem Artikel von einem breit gefassten Traumabegriff als komplexer psychosomatischer Reaktion (im Sinne einer Gestaltbildung) auf einem komplexen Hintergrund ausgegangen. Dieses Verständnis von Trauma und Traumatisierung umfasst schwere körperliche Bedrohungen und Verletzungen,

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die zu einem Verlust persönlicher Integrität führen, aber auch dauerhafte Erfahrungen von Abhängigkeit und Entmündigung mit dem Verlust von Selbstachtung und Selbstermächtigung. Ob es zu schweren psychischen Störungen kommt oder innere Widerstandskräfte (‚Resilienz‘) aufgebaut werden können, hängt vor allem von zwei Schutzfaktoren ab: sicherer Bindung und der Fähigkeit zur Verbalisierung. Einleitung Wie geht die Schule mit – aus welchen Gründen auch immer – traumatisierten Heranwachsenden um? Oder: Führt der institutionelle Kontext der Schule und ihre gesellschaftliche Selektions- und Allokationsfunktion selbst zu direkten und latenten Traumatisierungen? Wie oft werden Kinder und Jugendliche in den Ritualen der alltäglichen schulischen Interaktion durch Nichtbeachtung oder Abwertung ihrer Gefühle, durch permanente Leistungskontrolle und Leistungsvergleiche, z.B. bei der Rückgabe von Arbeiten (oder im Sport) entmutigt, beschämt, gedemütigt und bloßgestellt (Marks 2005). Die Beispiele sind Legion. Auch wenn sich die gesellschaftlichen Kontexte geändert haben (‚Recht auf gewaltfreie Erziehung‘, BMFSFJ 2003) und wir insbesondere durch die moderne Säuglings- und Bindungsforschung (Largo 2010) sowie Ergebnisse der Stressforschung inzwischen besser verstehen, welche Faktoren bei der Entstehung von und Disponibilität für traumatische Erfahrungen und ihre Verarbeitung eine Rolle spielen, zeigen neuere Untersuchungen (z.B. Ravens-Sieberer u.a. 2007; Beisenkamp u.a. 2012) doch immer noch einen erschreckend hohen Anteil von Kindern und Jugendlichen, die insbesondere auf dem Hintergrund prekärer familiärer Verhältnisse unter den institutionellen Selektions- und sozialen Ausgrenzungsmechanismen der Schule leiden oder zumindest unter Stress geraten (Wocken 2013). Diese systemischen Faktoren müssen nicht per se ‚automatisch‘ zu Traumatisierungen führen; sie führen aber in Verbindung mit vorangegangenen Gewalterfahrungen in der Familie fast unvermeidlich in schulische Sackgassen (vgl. das folgende Fallbeispiel von Alexander). In der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion scheinen sowohl die entwicklungspsychologisch-individuelle wie die gesellschaftlich-institutionelle Dimension des Themas teilweise ausgeblendet. Stattdessen werden generalisierte Präventionsstrategien zur Resilienzförderung im Umgang mit (potentiell traumatischen) Belastungserfahrungen propagiert, die als Lernstörungen aufgefasst und durch professionelle Experten ‚behandelt‘ werden sollten. In dieser Perspektive

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stellt Traumatisierung vor allem einen individuellen Mangel an Ressourcen und Kompetenzen dar. Ist es nicht erschreckend, dass inzwischen schon ab der Grundschule neue Präventions- und Gesundheitsprogramme für Stressresilienz vorgeschlagen werden, um eine potentiell traumatisierende Schule zu überleben? (FröhlichGildhoff 2012). Die Beziehung zwischen Ursachen und Folgen von Traumatisierungen sind nicht befriedigend mit linear-kausalen Modellen beschreibbar, weshalb Resilienz aus meiner Sicht auch nicht präventiv trainiert werden kann. Verschiedene wissenschaftliche Perspektiven Ganz gleich, auf welchem theoretischen Hintergrund und mit welchen Prämissen man Erfahrungen in schulischen Kontexten als ‚traumatisch‘ klassifiziert, stets kann davon ausgegangen werden, dass es sich um komplexe Zusammenhänge zwischen verschiedenen, voneinander abhängigen inneren Faktoren und äußeren Kontexten handelt. Dies zeigt sich schon im Vergleich verschiedener Sichtweisen bzw. Ebenen der Betrachtung: Aus soziologisch-sozialpsychologischer Sicht können direkte oder strukturelle Gewaltverhältnisse (Galtung 1982) zu traumatischen Erfahrungen führen1. Dann lässt sich fragen: Inwieweit stellt die öffentliche Pflichtschule ein zwar rechtlich abgesichertes, aber doch menschliche Bedürfnisse massiv einschränkendes institutionelles Gewaltsystem dar? Und: Wie korrespondieren familiäre Gewaltverhältnisse aus Familien in prekären Lebenslagen mit der schulischen Selektions- und Allokationsfunktion, d.h. der Zuweisung zu bestimmten Schulformen, die unterschiedliche Abschlüsse und damit Berufslaufbahnen eröffnen oder versperren? Wie verarbeiten Kinder und Jugendliche ihre traumatischen Erfahrungen aus beiden Bereichen? Aus psychoanalytischer Sicht können insbesondere frühe Bindungsstörungen (Trautmann-Voigt/Voigt 2012: 21) und Traumatisierungen zu neurotischen Fehlentwicklungen führen, die sich in unbewussten Re-Inszenierungen in späteren Lebensphasen und Kontexten zeigen (Fonagy/Target 2002). Dies gilt auch für die besonders vulnerable Zeit der Adoleszenz (Bohleber 2006). Insbesondere ständige Leistungskontrollen, ‚objektive‘ Bewertungen durch Ziffernnoten und Sitzenbleiben lösen bei fast einem Fünftel der Schüler Versagens-ängste aus. Schule wird zu einem ‚pathogenen Ort‘ (Haubl 2007).

1

Galtung definierte strukturelle Gewalt als eine vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt, was potentiell möglich ist.

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Aus Sicht der kognitiven Sozialpsychologie sind traumatische Erfahrungen vor allem abhängig von einem komplexen Zusammenhang zwischen äußeren Belastungen und deren Bewertung und Verarbeitung im Blick auf vorhandene persönliche und soziale Ressourcen. Unsichere und prekäre Lebenslagen, von denen immer mehr Erwachsene, aber auch Kinder und Jugendliche betroffen sind, können dann leicht in einer Abwärtsspirale von Überforderungserfahrungen enden (Lantermann u.a. 2009; Haubl/Voß 2011). Aus gestaltherapeutischer, gestaltpädagogischer Sicht geht es weniger um das Was, den ‚kausalen‘ Grund einer Traumatisierung, sondern um das Wie in der Struktur ihrer Verarbeitung, um achtsames Gewahrsein des jetzigen Erlebens in der Gegenwart. Aus dieser Sicht geht es vor allem um die Gestaltung stützender sozialer Beziehungen, in denen traumatisierte Kinder nicht als ‚Symptomträger‘, sondern als Dialogpartner wahrgenommen werden (Dreitzel 2004). Aus psychogenealogischer Sicht werden individuelle psychische Traumata in den Kontext transgenerationeller, historischer Ereignisse gestellt; eine Betrachtungsweise, die den Blick auf die unbewusste Weitergabe familiärer und gesellschaftlicher Erfahrungen lenkt (Schützenberger 2005). Dies gilt sowohl für die unbewusste Weitergabe von Erziehungseinstellungen und -techniken, als auch für die kollektive Verarbeitung von Krieg und Vertreibung und Migration (Radebold 2006). Rein fachdisziplinäre Zugriffsweisen und Erklärungsmuster scheinen der Komplexität der Zusammenhänge unangemessen. So plausibel der Rückgriff auf in anderen Bereichen bewährte Konzepte zu sein scheint, kommt es – aus Sicht der Humanistischen Pädagogik – darauf an, das Phänomen einer traumatischen Erfahrung vor allem aus der Perspektive der betroffenen Person nachzuvollziehen und zu verstehen, anstatt diese diagnostisch zu etikettieren. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht in der Tradition der Humanistischen Psychologie und Pädagogik (Dauber 2009) ‚die erlebende Person‘, ihre Würde und ihre Fähigkeit, selbstgewählte Entscheidungen zu treffen und eigene Kräfte und Fähigkeiten zu entwickeln (Rogers, 1974, 1980) ,nicht eine scheinbar ‚objektive‘ Symptomatik. Das Menschenbild der Humanistischen Psychologie und Pädagogik Schon die herausragenden Vertreter der reformpädagogischen Bewegung in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts vertraten ein Menschen- und Gesellschaftsbild, das in Amerika von den Begründern der Humanistischen Psychologie, darunter viele Flüchtlinge und Exilanten aus Nazideutschland, als ‚3.Kraft‘

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(zwischen Psychoanalyse und Behaviorismus) ausgearbeitet und später weitergeführt wurde und sich mit wenigen Stichworten zusammenfassen lässt: • Orientierung an den schöpferischen Kräften des Individuums, • Orientierung an einer auf Respekt und Würde der Person gegründeten Ord-

nung der Gemeinschaft als Modell einer demokratischen Gesellschaft, • Überwindung der letzten Reste der alten Paukschule des 19. Jahrhunderts mit

• •

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ihren festgelegten Lernrhythmen und -zeiten, der Einteilung nach altershomogenen Alters- und Leistungsgruppen und staatlich für alle vorgegebenen Lerninhalten, Im Zentrum reformpädagogischer Arbeit stand (und steht bis heute) die Orientierung an weitgehend selbstgesteuerten, ganzheitlichen Lernkonzepten. Kurz zusammengefasst gibt es einen gemeinsamen erkenntnistheoretischen oder anthropologischen Kern der verschiedenen Richtungen der Humanistischen Pädagogik, der mit folgenden Stichworten umrissen werden kann: Menschen entwickeln sich, indem sie ihrem Leben, ihrem Handeln einen Sinn geben und damit persönliche Bedeutung verleihen. Sie tun dies insbesondere in direkter, ganzheitlicher Begegnung mit anderen Menschen und in Kontakt und Auseinandersetzung mit den natürlichen, sozialen, kulturellen und transpersonalen (i.w.S. spirituell-religiösen) Kontexten, in denen sie leben. Wahrnehmung und Erkenntnis der ‚inneren‘ wie der ‚äußeren‘ Welt sind leibgebunden; Eindruck und Ausdruck verschränken sich in phänomenologischer Erfahrung. Im Menschen angelegt ist eine formative Tendenz zur Selbstverwirklichung, die besonders gefördert wird in einem Modus schöpferischer Indifferenz, einer breiten Wahrnehmung von Körperempfindungen, Gefühlen, Gedanken und Phantasien und damit offen ist für alles, was da ist. Die Auseinandersetzung mit sich selbst und den Kontexten, in denen Menschen sich verwirklichen, geschieht in einem Wechselspiel von Identifikation und Disidentifikation, sodass ‚alte‘, im Prozess des Wachstums unangemessen gewordene, unbewusste Muster und Verhaltensweisen bewusst gemacht, erkannt und verändert werden können, mithin der innere und äußere Erfahrungsund Bewegungsraum größer wird. Dies geschieht ganz wesentlich in der Form ‚dialogischen Verstehens‘. Nach wie vor gilt der von Martin Buber geprägte Leitsatz: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung." (Buber 1962: 18) Seit ihren Ursprüngen – etwa in der Person von Paul Goodman (1975), dem amerikanischen Bürgerrechtler, Schriftsteller, Pädagogen und Gestalttherapeuten der ersten Generation – aber auch bis heute nehmen Gestaltpädagogen, lei-

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der oft eher implizit als explizit, eine kritische Position zu den gesellschaftlichen Verhältnissen ein, in denen sie in der Tradition der Humanistischen Psychologie eine der Hauptursachen für individuelle und soziale Entfremdung sehen. Auf diesem Hintergrund leisten (natürlich nicht nur) gestaltpädagogisch arbeitende Lehrer_innen in ihrer alltäglichen Arbeit, wie dies aus vielen Praxisberichten (Bürmann/Heinel 2000) hervorgeht, einen wesentlichen Beitrag zur Humanisierung der persönlichen und sozialen Beziehungen zwischen Lehrer_innen und Schüler_innen, der Regelung von Konflikten untereinander sowie der Gestaltung eines lebendigen, kreativen Schullebens. In ihrem Unterricht heben gestaltpädagogisch arbeitende Lehrer_innen die künstliche Dualität zwischen sachbezogenem und personbezogenem Lehren durch didaktisches Handeln (Bürmann 1997) auf und ermöglichen so persönlich bedeutsames Lernen. Indem sie auf diese Weise auf vielen Ebenen versuchen, Polaritäten in Form unfruchtbarer Gegensätze – wie etwa ‚persönliche Autonomie‘ versus ‚Verbundenheit in der Gemeinschaft‘ – zu überwinden, schaffen sie alltäglich Raum für neue, ‚integrale‘ Formen der Begegnung, des Bewusstseins und des Handelns. Wie eine empirische Studie zu salutogenen Faktoren im Lehrberuf (DöringSeipel/Dauber 2013) ergeben hat, verfügen gestaltpädagogisch arbeitende Lehrer_innen, die sozialen Beziehungen und Bedürfnissen ihrer Schüler_innen Raum einräumen und gleichzeitig ein breites Spektrum an selbständigen und erlebnisorientierten Arbeitsformen verwirklichen, über mehr persönliche und soziale Ressourcen als Lehrkräfte, die diese Bereiche aus ihrem professionellen Handeln weitgehend ausklammern und sich stattdessen einseitig auf die Vermittlung von Stoff konzentrieren. Solche Formen des Unterrichtens, die ein hohes Maß an sozialer Gestaltung und emotionaler Sensibilität verlangen, sind offenbar an persönliche Voraussetzungen gebunden, die es ermöglichen, ‚offene‘ Situationen zuzulassen und erfolgreich bewältigen zu können. Betrachtet man die Zusammenhänge zwischen persönlichen Ressourcen und der Dimension ‚rigidestöranfälliger Unterricht‘ so wird Unterrichten offenbar dann zum Problem, wenn Lehrkräfte wenig Zutrauen in ihre professionellen Kompetenzen haben und nur eingeschränkt über Möglichkeiten zur inneren Distanzierung und emotionalen Bewältigung von problematischen Ereignissen verfügen. Umgekehrt ist zu vermuten, dass ein hohes Maß an Lehrerselbstwirksamkeit, Achtsamkeit und Ungewissheitstoleranz auf Seiten der Lehrkräfte dazu beiträgt, auf die emotionale, kognitive, soziale und körperliche Situation von Schüler_innen einzugehen und damit zumindest latent traumatisierenden Schulerfahrungen vorzubeugen.

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Pädagogik als generative, selbstreflexive Praxis Pädagogisches Handeln unterscheidet sich von technischem Handeln wie von künstlerischer Praxis. In pädagogischen Kontexten haben wir es nicht mit Gegenständen, die nach eigenen Vorstellungen geschaffen, bearbeitet oder konstruiert werden, zu tun, sondern mit lebendigen Menschen. Darum besteht pädagogische Arbeit vor allem anderen in der Gestaltung von Beziehungen zwischen lebenden Subjekten, in Sonderheit zwischen den Generationen. Lebendige Beziehungen zwischen Menschen sind stets wechselseitig, selbstreflexiv und generativ, d.h. ‚generieren‘, schaffen aus sich heraus in der Begegnung selbst neue Beziehungen. Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber, wichtigster Lehrer von Lore Perls, der Mitbegründerin der Gestalttherapie, drückt dies in seiner Sprache so aus: „Das Fundament des Mensch-mit-Mensch-seins ist dies Zwiefache und Eine: der Wunsch jedes Menschen, als das was er ist, ja was er werden kann, von Menschen bestätigt zu werden, und die dem Menschen eingeborene Fähigkeit, seine Mitmenschen ebenso zu bestätigen. Dass diese Fähigkeit so unermesslich brachliegt, macht die eigentliche Schwäche und Fraglichkeit des Menschengeschlechts aus: aktuale Menschheit gibt es stets nur da, wo diese Fähigkeit sich entfaltet.“ (Buber 1978: 28)

In der ‚vollen Vergegenwärtigung des anderen‘, wie Buber dies nennt, nehme ich den anderen nicht bloß so, wie er scheinbar ist, sondern wie er sich selber in seiner eigenen Selbst-werdung mir zeigt und sich von mir vergegenwärtigt, d.h. ganz und gar angenommen weiß. „Denn das innerste Wachstum des Selbst vollzieht sich nicht, wie man heute gern meint, aus dem Verhältnis des Menschen zu sich selber, sondern aus dem zwischen dem Einen und dem Andern, unter Menschen also vornehmlich aus der Gegenseitigkeit der Vergegenwärtigung, aus dem Vergegenwärtigen des anderen Selbst und dem sich in seinem Selbst vom anderen Vergegenwärtigtwissen – in einem mit der Gegenseitigkeit der Akzeptation, der Bejahung und Bestätigung.“ (Buber 1978: 35f.)

‚Humanistische Erziehung‘ ist zunächst und vor allem Selbst-erziehung des Subjekts, die sich nicht in dem erschöpft, was der Einzelne an wissenschaftlichen Kenntnissen, sozialen oder technischen Fähigkeiten und Fertigkeiten erworben hat, aber diese einzigartige Person auch nicht festlegt auf diagnostizierte Defizite und biografische Traumatisierungen.

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„Im Unterschied zur Konditionierung, zur Indoktrinierung und Dressur sucht die Erziehung wesensgemäß beim Individuum die Fähigkeit entstehen zu lassen, sich seiner selbst auf autonome Weise anzunehmen, das heißt, sich zum Subjekt seines Selbstbezugs und seines Bezugs zur Welt und zu den anderen zu machen. Diese Fähigkeit kann nicht gelehrt werden, sie muss hervorgerufen werden. Sie kann nur durch die affektive Bindung des Kindes oder Jugendlichen an eine Bezugsperson entstehen, die ihm das Gefühl vermittelt, es wert zu sein, bedingungslos geliebt zu werden, und ihm das Vertrauen in seine Fähigkeit gibt, etwas zu lernen, zu machen, zu unternehmen und sich mit den anderen zu messen. Das Subjekt entsteht dank der Liebe, mit der ein anderes Subjekt es dazu aufruft, sich zum Subjekt zu machen, und es entwickelt sich durch das Bedürfnis, von diesem anderen Subjekt geliebt zu werden.“ (Gorz 2000: 96f., Herv. i. O.)

Dies ist – auch – die Erziehungsaufgabe der Lehrer_innen. Sie lässt sich nicht in Formen ‚objektiver‘ Ergebnisse messen, sondern zeigt sich an der Qualität solcher Beziehungen. Ganz allgemein scheint die Möglichkeit und Form der Verarbeitung traumatischer Erfahrungen, nicht zuletzt ihre dialogische Versprachlichung, darüber zu entscheiden, ob es angesichts einer traumatischen Erfahrung zu einer psychischen Integration und neuen ‚Selbstermächtigung‘ kommen kann (Ding 2013). Der französische Neurologe, Psychiater und bekannte Traumaforscher Boris Cyrulnik bezeichnet sichere Bindung und die Fähigkeit der Verbalisierung als die wertvollsten Schutzfaktoren gegen dauerhafte Traumatisierung (Cyrulnik 2014: 60). Fallbeispiel Mit 10 Jahren wurde unser Jüngster von einem Auto erfasst und mehrere Meter durch die Luft geschleudert. Er erlitt einen schweren Knochenbruch und war im Schock, als wir, durch andere Kinder alarmiert, zu ihm kamen. Zwei Nächte später, wir wechselten uns als Eltern an seinem Bett im Krankenhaus ab, fragte er mich immer wieder: „Papa, was ist eigentlich passiert? Erzähl mir alles ganz genau.“. Nach meiner Schilderung der äußeren Umstände des Unfallhergangs schwieg er lange und sagte dann: „Papa, weißt du, ich wusste einen Moment lang nicht mehr, ob ich noch leben oder sterben wollte (sic!), aber dann habe ich mich für das Leben entschieden.“ Ich verstand diesen Satz als Anzeichen dafür, dass er seine traumatische Erfahrung ‚umdefiniert‘ hatte. Er sah sich nicht mehr als Opfer, sondern hatte sich aus eigenem Entschluss für das Leben entschieden. Die folgenden Wochen ließ er sich im Rollstuhl von seinen Klassenkameraden abholen und wild auf dem Schulhof herumfahren, eine Rolle, die ihm offensichtlich Vergnügen bereitete.

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Im Kontext der Schule war wichtig, dass diese zweifellos traumatische Erfahrung mit ihren sichtbaren Folgen (Rollstuhl) weder dramatisiert noch bagatellisiert wurde und diese Zeit im erinnernden Gedächtnis sogar als glückliche Zeit gespeichert werden konnte (vgl. dazu ausführlich Cyrulnik 2014, insbes. Kap.3). Schule als pathogener Ort – Kinderrechte und Kindergesundheit Aus systemischer Sicht kann die Schule auch ohne unmittelbare traumatische Erfahrung latent traumatisierend wirken. Der Erziehungswissenschaftler und Sonderpädagoge Hans Wocken hat in seinem ‚Essay zur Therapie einer krankmachenden Institution‘ (Wocken 2013) kritisiert, wie die bildungspolitisch ‚modische‘ Debatte um Inklusion in ihr Gegenteil verkehrt wird, wenn das Kindeswohl von behinderten und nichtbehinderten Kindern so umgedeutet wird, dass konsequente Inklusion das gegliederte Schulwesen als Gefährdung für die Entwicklung der Kinder in Frage stellt. Seine Auswertung verschiedener empirischer Studien (Beisenkamp u.a. 2012; KiGGS-Studie 2007; BEK-Arztreport 2013) zeigt, dass die Hauptursache für psychische Probleme und Verhaltensauffälligkeiten aus dem Selektionsdruck eines gegliederten Schulsystems herrührt, der insbesondere im zweiten Halbjahr des 3. Grundschuljahres (VER3 Leistungsvergleich) sowie in der verkürzten gymnasialen Oberstufe (G8) für Schüler_innen, Lehrkräfte und Eltern zum Stressfaktor wird. In besonderem Maß sind davon benachteiligte Gruppen, wie Migranten, Kinder aus Armutsfamilien, Jungen sowie Kinder von Alleinerziehenden, betroffen. Die internationalen Vergleichsstudien (IGLU, TIMMS) zeigen zwar, dass es mehr Abiturient_innen und Studierende gibt als früher, aber 15-20% der Jugendlichen von diesen Chancen dauerhaft ausgeschlossen bleiben (Bundesbildungsbericht 2012; vgl. auch die SPIEGEL-Artikel von Bartsch u.a. (2013); Friedmann (2013); Goos (2014). Wocken weist zu Recht darauf hin, dass jedes System, das die Erfolgreichen belohnt, gleichzeitig Versager ‚produziert‘. Insbesondere der permanente Prüfungs- und Bewertungsdruck löst Stressreaktionen aus und erzeugt Angst. „Es ist ein Gefühl, das aus dem Bauch zu kommen scheint und sich bis in die Haarwurzeln ausbreitet. Wenn es ausgelöst wird, fängt unser Herz an zu rasen und der Pulsschlag pocht in unseren Ohren. Wir bekommen feuchte Hände, müssen aufs Klo, fühlen uns schlecht, ohnmächtig, alleingelassen und hilflos. Das ist die Angst, die wir als dieses sonderbare Sammelsurium von angstbegleitenden Reaktionen erleben.“ (Hüther 2012: 33)

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Dabei entscheiden unter solchem Stress erworbene schulische Abschlusszeugnisse heute zwar weithin über die Zulassung zu einzelnen Studiengängen, korrelieren aber wenig mit erfolgreichen Studienabschlüssen und sagen noch weniger über spätere berufliche Erfolgschancen aus. Wocken (2013) schlägt deshalb vor, die Schule von ihrer Allokationsfunktion zu entlasten und auch die Zuweisung zu späteren beruflichen Positionen nicht Persönlichkeits- und Eignungstests zu überlassen, sondern an erfolgreichen Probezeiten zu orientieren. Das entspricht auch einem Vorschlag, der 1974 im sog. Manifest von Cuernavaca von einer internationalen Gruppe von Erziehungswissenschaftlern, Psychologen, Lehrern, Bildungsplanern, Gewerkschaftlern, Erwachsenenbildnern und Journalisten in dem von Ivan Illich gegründeten Centro Intercultural de Documentación (CIDOC) in Cuernavaca, Mexiko im Kontext der sog. ‚Entschulungsdebatte‘ formuliert wurde. „Noten, Zeugnisse und Prüfungen sind abzuschaffen. Es soll gesetzlich verboten sein, schulische Abschlusszeugnisse oder irgendeine Form von Persönlichkeitstests zur Voraussetzung dafür zu machen, einen Beruf ergreifen zu können. Die Fähigkeit einer Person, einen Beruf qualifiziert auszuüben, soll von den Mitarbeitern am Arbeitsplatz oder den Klienten beurteilt werden.“ (Dauber/Verne 1976: 18)

Wocken (2013: 32) resümiert: „Die alte Schule selektiert sich zu Tode. Auf der Strecke bleiben Lehrer, Eltern und Kinder, die alle Krankheitssymptome von Ausgrenzung, Ausschluss, Diskriminierung, Beschämung und Schulverweis mit sich herumtragen. Und auf der Strecke bleibt auch die Bildung – sofern man denn darunter (auch) verstehen darf, dass Bildung nicht Nürnberger Trichter und Bulimie bedeutet, sondern die Ermächtigung jedes Individuums, die vielfältigen, jedem Menschen innewohnenden Begabungen in ,Muße‘, d. h. in der Schule zu entdecken und zur Entfaltung zu bringen.“

Im Nicht-Wahrnehmen, Verdrängen und Unterdrücken von subtilen oder offenen Beschämungen gehen Eltern und Lehrer_innen oft eine unheilige Allianz ein. Das beginnt mit der harmlosen Frage am Mittagstisch: „War etwas Besonderes in der Schule?“ – „Nein, nichts.“ Und wenn etwas war? Kann und darf es zur Sprache gebracht werden?

44 | HEINRICH D AUBER „Wenn das ganze Erleben einer Person mit pathologischer Scham durchtränkt ist, wird Feedback leicht als Beschämung empfunden. Einen Fehler gemacht zu haben wird erlebt als: ‚Ich bin ein Fehler‘. Aufgesetztes Lob dringt nicht durch, selbst echte Wertschätzung kann nur schwer angenommen werden.“ (Marks 2005: 10)

Die Grundhaltung: biografische Selbstreflexion Der pädagogische (wie therapeutische) Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen lässt sich nicht aus allgemeinen Hypothesen oder quasi-objektiven Testmerkmalen ableiten, sondern erfordert eine grundlegend andere innere Haltung seitens der Lehrer_innen und betreuenden Pädagog_innen, um dadurch die verlorengegangene innere Kohärenz von traumatisierten Kindern und Jugendlichen wertschätzend wieder aufzubauen und ihnen zu ermöglichen, neues Vertrauen in sich selbst und die Welt zu gewinnen. Eine solche dialogische, nichtobjektivierende Beziehung aufzubauen, ist nur auf der Grundlage von gegenseitigem personalem Respekt möglich. Psychologische Tests können die zur Bewältigung traumatischer Erfahrungen notwendigen Selbstdeutungsprozesse (und ihre Neuintegration) nur unzureichend erfassen, da sie „zwar einen statistischen Vergleich […] liefern können, aber bei der Bedeutungszuordnung im individuellen Lebenslauf wenig aussagen können und auf das Erfassen von komplexen, persönlichen und evtl. einmaligen Bezugssystemen angewiesen bleiben“ (Hartmann-Kottek 2004: 97). Sich nur noch als Objekt einer ‚Akte‘, als Träger objektiv ‚messbarer‘ Leistungsmerkmale zu sehen, kann sogar selbst zum Auslöser schleichender Traumatisierung werden. Der statistische Zusammenhang von traumatischen Erfahrungen/posttraumatischen Belastungsstörungen und Lernstörungen ist in der Literatur unbestritten (Haubl 2007; Bohnsack 2013) Deshalb kommen durch biografische Selbstreflexion gewonnene Beziehungskompetenzen wie Empathie, innerer Perspektivwechsel und Distanzierungsfähigkeit im Verhalten der Pädagog_innen zentrale Bedeutung zu (Dauber/ Zwiebel 2006). Dies bedeutet: Mit traumatisierten Menschen kann man nur ‚arbeiten‘, wenn man seine eigenen Traumatisierungen nicht abgespalten und verdrängt hat. Autobiografisches Fallbeispiel Ich hatte zwar schlechte Erinnerungen an einen Physiklehrer in der gymnasialen Oberstufe, der seine Stunden mit einem zynisch verzögerten Ritual eröffnete: „Es kommt an die Tafel…“ und dann demonstrativ langsam sein Notenbüchlein von vorn bis hinten durchblätterte, ehe er einen Namen aufrief. Die Klasse er-

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starrte innerlich, bis er sein Opfer gefunden hatte. 40 Jahre später kam die Rede bei einem Klassentreffen auf ihn und meine ehemaligen Klassenkameraden erzählten mir, er habe mich in jeder Stunde aufgerufen und mich (quasi als Eröffnungsritual der Stunde) regelmäßig an der Tafel gedemütigt. Auf einmal verstand ich, warum ich mich in dieser Zeit schrittweise der Schule verweigert und das Abitur nur durch das Wohlwollen meines Klassenlehrers gerade noch geschafft hatte. Diesem Klassenlehrer hatte ich einmal anvertraut, dass ich jeden Morgen mit dem Motorrad auf dem Weg in die Schule mit der Versuchung kämpfen musste, nicht gegen einen Brückenpfeiler zu rasen, um den ganzen Anforderungen in Familie und Schule endgültig zu entgehen. Er kommentierte diese Selbstoffenbarung knapp mit: „Heinrich, ich schlage Ihnen vor, damit zu warten bis nach dem Abitur“ – ein offenbar erfolgreicher Rat. Die pädagogische (und im Einzelfall therapeutische) Durcharbeitung der eigenen Schulerfahrungen ist eine für die Lehrerbildung immer wieder erhobene Forderung. Nicht bewusst gemachte eigene traumatische Schulerfahrungen lösen angesichts traumatisierter Kinder allzu leicht eigene Ängste aus, die zu Abwehr oder u.U. aggressiver Zurückweisung der betroffenen Kinder und Jugendlichen führen können. Dies gilt umso mehr, als Lehrer_innen in vielen Fällen zu Ersatzpersonen in der Übertragung früherer, in der Familie gemachter traumatischer Erfahrungen gemacht werden, ohne unmittelbar eigene Anteile an den damit verbundenen Beziehungsstörungen zu haben. Fallbeispiel In dem Seminar ‚Psychosoziale Basiskompetenzen‘, das seit 2008 an der Uni Kassel als verpflichtender Bestandteil der Studieneingangsphase für alle Lehramtsstudierenden verankert ist, geht es in einer von vier zentralen Übungen um biografische Selbstreflexion der eigenen Lerngeschichte. „Die Motive der Berufswahl bei angehenden Lehramtsstudierenden sind mehr oder weniger eng mit den individuellen Schul- und Kindheitserfahrungen verknüpft. Nicht wenige zukünftige Lehrerinnen und Lehrer haben belastende Schulerfahrungen gesammelt und vor diesem Hintergrund beschlossen, ‚es einmal besser zu machen‘, andere identifizieren sich mit eigenen Lehrern als Vorbilder. Die Reflexion dieser Motive und Erfahrungen erscheint unabdingbar im Blick auf die Entwicklung eines professionellen Selbst. Verschiedene Studien zu Belastungen im Lehrerberuf kommen zu dem Ergebnis, dass belastende Arbeitsbedingungen und psychosoziale Konflikte nur dann zu einer Minderung der Arbeitsfähigkeit und gesundheitlichen Beeinträchtigungen (Burnout) führen, wenn keine entsprechenden Ressourcen und Formen der Verarbeitung entwickelt worden sind.

46 | HEINRICH D AUBER Die Fähigkeit zur Selbstreflexion ermöglicht, entsprechende damit verbundene emotionale und kognitive Prozesse differenziert wahrzunehmen und gegebenenfalls zu verändern. Hauptziele der Übung sind das Training nicht bewertender Anteilnahme, Anleitung zu Selbstreflexion anhand eigener biografischer Erfahrungen und der Austausch unter den Teilnehmern über unterschiedliche Erfahrungen (Umgang mit Heterogenität). Die dreidimensionale Darstellung bedeutsamer pädagogischer Erfahrungen aus der eigenen Schulzeit mithilfe von Bauklötzen bietet eine Möglichkeit, Erfahrungen und Gefühle in einer Form mitzuteilen, die über eine rein sprachliche oder bildnerische Darstellung hinausgeht.“ (Bosse u.a. 2012: 227)

Etwa ein Drittel aller Lehramtsstudierenden berichtet in dieser Übung von demütigenden Erfahrungen mit Lehrer_innen (vor allem in der Sek.stufe I) und Erfahrungen von Ausgrenzung und Mobbing durch Mitschüler_innen. Deren Bearbeitung im Seminar hält bewusst den pädagogischen Rahmen, ohne diese Erfahrungen biografisch zu vertiefen. Mithilfe des psychodramatischen ‚sharings‘ lernen aber auch nicht persönlich betroffene Studierende, sich in die Lage ihrer Kommiliton_innen und (damit indirekt im Transfer) von betroffenen Schüler_innen zu versetzen. Unter Hunderten von Studierenden gab es praktisch niemanden, der solche Situationen nicht wenigstens miterlebt hatte. Praktisch-pädagogische Hinweise im Umgang mit traumatisierten Kindern Für den pädagogischen Alltag lassen sich generelle Regeln zum Umgang zwischen Erwachsenen und Kindern und Jugendlichen formulieren, die auch für traumatisierte Kinder von Bedeutung sind (Nelsen 2000). • Kinder sind von Geburt an als soziale Wesen auf interpersonale Resonanz an-

gewiesen. Entscheidend ist, wie sie sich selber sehen lernen und wie sie glauben, von anderen gesehen zu werden. Ziel der Erwachsenen darf nicht sein, Kinder gefügiger zu machen, sondern Selbständigkeit und Verantwortung in ihrem Verantwortungsbereich (= Handlungsbereich) zu fördern. • Traumatisierte Kinder zeigen zwar häufig auch sog. Verhaltensstörungen (von ständiger Aufmerksamkeitssuche, Machtkämpfen, verletzendem Verhalten, Rückzug und vermeintlicher Unfähigkeit). Diese Verhaltensweisen sind oft unbewusst und müssen von ihrer Handlungsbedeutung her verstanden werden, anstatt sie zu beurteilen. Handlungen sind nicht determinierte, d.h. vorbestimmte, festliegende Reaktionen, sondern Ausdruck von Intentionen, von Zielen.

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• Vorrangiges Ziel von Kindern und Jugendlichen ist es, dazuzugehören und als

wichtig wahrgenommen zu werden. Gegenüber diesem Ziel von Kindern und Jugendlichen kann ich mich als Erwachsener nicht ,objektiv‘ distanziert verhalten, sondern nur als Mitbetroffener meinen Beitrag dazu leisten. • Traumatisierte‘ Kinder und Jugendliche sind vor allem entmutigte Kinder und Jugendliche. („Ich fühle mich nicht dazugehörig und nicht wichtig und ich weiß nicht, wie ich das ändern kann.") Entscheidend ist, Verständnis dafür zu entwickeln, wie es diesen Kindern und Jugendlichen innerlich geht, anstatt darauf zu achten, wie oft sie was tun. Pädagogische Aufmerksamkeitshaltungen Darüber hinaus gilt es, andere pädagogische Aufmerksamkeitshaltungen als Teil einer professionellen pädagogischen Haltung auszubilden, sog. ,Risikomarker‘ frühzeitig zu erkennen, darauf zu reagieren und im Blick auf absehbare, weitere Folgen präventiv einzugreifen. Dazu gehört vor allem • die Spuren körperlicher oder seelischer Misshandlungen bei Kindern und Ju-

gendlichen zu erkennen und ihren Ursachen nachzugehen, • das Wissen darum, dass traumatisierte Kinder/Jugendliche (und Erwachsene)

häufig blockierte, zerfahrene, extrem spannungslose oder verlangsamte Bewegungsmuster zeigen (Trautmann-Voigt/Voigt 2012: 20), • Schulschwänzen und Schulverweigerung als Ausdruck einer Notlage zu verstehen und den familiären und sozialen Kontext, in dem diese Notlage entstanden ist, aufzuklären, • Alkohol- und Drogengebrauch bei Kindern und Jugendlichen nicht hinzunehmen, sondern durch Aufklärung und soziale Ächtung aktiv entgegenzutreten, • auf kommunaler Ebene darauf hinzuwirken, dass keine sozialen, kulturellen oder ethnischen Ghettos entstehen. (‚Spiel nicht mit den Schmuddelkindern …‘, Degenhardt) Im Einzelfall, und immer werden Einzelfälle der Ausgangspunkt sein, sollten Lehrer_innen • frühzeitig den Kontakt mit Kolleg_innen, Schulleitung und Eltern aufnehmen, • das Jugendamt und die schulpsychologischen Dienste einschalten,

48 | HEINRICH D AUBER • gegebenenfalls wichtige Schlüsselpersonen im sozialen Umfeld (Jugendzent-

rum, Sportverein, Kirchen, kommunale Verwaltung, Ärzte) beratend mit einbeziehen. Last but not least muss in der Öffentlichkeit, nicht zuletzt in und durch die lokalen und regionalen Printmedien, darauf hingearbeitet werden, Kinder und Jugendliche in problematischen Lebenslagen nicht als individuelle Problemfälle zu betrachten oder gar mit einem sozialen Label zu versehen (‚Asoziale‘, ‚Ausländer’), die ausgegrenzt, abgeschoben und eingesperrt werden müssen, – und sei es auch mit der besten Absicht, ihnen zu helfen –, sondern dazu beizutragen, dass sie ihre verfassungsmäßigen Grundrechte auf Bildung und freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit wahrnehmen können. Dazu bedarf es auf allen Ebenen (Kindertagesstätten, Grundschulen, weiterführende Schulen, Berufsausbildung, allgemeine soziale Dienste, kommunale Jugendarbeit, Vereine, Kirchen etc.) und in allen Politikbereichen (soziale Grundsicherung, Bildung, Justiz, Wohnungsbau, Gesundheitswesen) eines grundlegenden Umdenkens: weg von individuumzentrierten Interventionen und hin zu lokalen und regionalen Netzwerken sozialer Prävention. Lehrer_innen sind herausgefordert, neue pädagogische und kommunikative (und interkulturelle) Kompetenzen zu entwickeln. Ihr Selbstverständnis als Lehrende darf sich nicht länger auf die Vermittlung von Wissen beschränken. In den ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen treten ihnen nicht – mehr oder weniger leistungsstarke und mehr oder weniger verhaltensauffällige – Schüler_innen entgegen, sondern ‚ganze‘ Menschen mit einer einmaligen Biographie, nicht zuletzt geprägt durch ein ganz spezifisches familiäres und soziales Milieu. Der dänische Familientherapeut Jesper Juul betont zu Recht, dass, wer in einer Krise steckt und die Schule nicht mehr ertragen kann, damit nur weiterkommt, wenn auch die Erwachsenen, Eltern und Lehrer_innen erkennen, dass nicht nur das Kind/der Jugendliche ein Problem hat, sondern auch sie selbst, das nur im gemeinsamen Gespräch gelöst werden kann (Juul 2013) Professions- und institutionsspezifische Sichtweisen, Sozialarbeiter vs. Lehrer_innen, Kindertagesstätte vs. Schule, sind hier nur begrenzt hilfreich. Wichtiger ist die innere pädagogische Haltung, in der Erwachsene Kindern und Jugendlichen in problematischen Lebenslagen gegenübertreten. Solche pädagogischen Haltungen auszubilden und einzuüben, muss im Zentrum einer professionellen pädagogischen Ausbildung stehen.

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Fallbeispiel Alexander wurde schon vor der Einschulung in der Uniklinik Frankfurt auf ADHS getestet und nach nur drei Monaten Grundschule auf eine Internatsschule für verhaltensgestörte Kinder abgeschoben. Interview mit Alexander (Name geändert) A.: Jede Woche kommt ein Psychologe zu mir, aber mit dem kann ich eigentlich nicht viel anfangen. H.D.: Woran liegt das deiner Meinung nach? A.: Ich hab immer das Gefühl, der ist zu oberflächlich, der geht nicht auf mich ein, der redet immer über Gott und die Welt und redet drum rum, aber er geht nicht auf mich als Person ein, und ich habe ihm das auch schon zweimal gesagt und er sagt, ja, worüber willst du denn reden und ich sage ihm das dann, aber es führt nicht viel weiter. Ich halte ihn halt nicht für sehr kompetent in Bezug auf mich jedenfalls. Dann hat’s für mich irgendwie keinen Zweck mehr mich großartig ihm zu öffnen. Ich erzähl ihm halt ein bisschen was, wie’s mir geht und ich sage ihm auch, wenn’s mir schlecht geht oder irgendwas, aber er kann einfach nicht so auf mich eingehen. Eigentlich hilft’s mir schon immer, wenn ich meiner Freundin einfach schreibe. Wenn’s mir schlecht geht, schreibe ich meiner Freundin, und wenn’s dann einfach erstmal aus mir draußen ist und ich weiß, sie liest das, und ich kann ihr das mitteilen, dann reicht mir das meistens … Mit dem Psychologen mach ich schon seit zwei Jahren eine Therapie. H.D.: Was für eine Therapie machst du da? A.: Wegen meiner Hyperaktivität. Dieses ADS-Syndrom. Kennen Sie das? ... H.D.: Wann haben sie das bei dir festgestellt? A.: Mit sechs Jahren … Na ja, zu meiner Schule, das fing dann alles so an, ich war in der Schule und so und dann haben die Lehrer halt gemeint, ich bin halt mitten in der Klasse aufgestanden, während die Unterricht gemacht haben und hab dann halt gesagt: Ich geh jetzt raus, mach Pause. Und dann hat die Lehrerin gesagt: Was ist mit dir los? Das kannst du doch nicht machen. Dann hab ich gemeint: Das werde ich jetzt doch tun. Und hab meinen Trotzkopf durchgesetzt und bin einfach in die Pause ganz alleine. Ich habe halt lauter Blödsinn gemacht, hab Papier auf die Tafel geworfen und Kreide hab ich mir eingesackt und hab die dann auf die Tafel geworfen, hab Hampelmann gespielt … Dann kam jemand vom Jugendamt …Ich war ja schon vorher in dieser Universität in Frankfurt und die haben mich halt untersucht und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass ich unter diesem ADHS-Syndrom leide … H.D.: Bist du denn als Kind zu Hause geschlagen worden? A.: Ja.

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H.D.: Von wem? A.: Von meinem Vater. H.D.: Als du noch ganz klein warst? Weil du immer so ein Zappelphilipp warst? A.: Ja. H.D.: Hast du da noch Erinnerungen dran? ... A.: (weint) Entschuldigung. H.D.: Nimm dir Zeit. – Welche Szene ist jetzt gekommen? A.: Schwer. A.: Na ja, mit dem Finger auf dem Ofen und so. Auf die heiße Platte. H.D.: Wie alt warst du da? A.: Es ist total doof, also komisch, aber ich kann mich noch an alles erinnern. Heut ist mein Vater ja nicht mehr so, aber bis ich so 18 war, da war das noch. H.D.: Das heißt, bis du 18 warst, hat er dich auch geschlagen? A.: Ja. Mit dem Gürtel und auch mit der Faust ins Gesicht und so …Der hat auch meine Mutter auf den Boden geworfen und so und hat meine Mutter dann weggeschubst. Dann hab ich mich ins Bett verkrochen und dann hat er schon den Gürtel in der Hand gehabt und dann hat er mich aus dem Bett gezogen und hat mich dann ausgepeitscht mit dem Ding … H.D.: Wie alt warst du da? A.: Da war ich auch so fünf, sechs. Ich kann nur sagen, das erste Mal war die Heizung, also, die Finger auf die Heizung. Wir haben so’n Grillofen zu Hause gehabt und da hab ich mit Feuer gespielt und dann hat er den Finger genommen und hat ihn so draufgehalten. Dann hab ich mir dann die Finger so verbrannt gehabt. Ich kann mich auch nicht an alles erinnern. Es war, wenn ich so sage, wie viel Schläge ich in meinem Leben gekriegt hab, dann waren es 300 Mal gewesen, vielleicht 150, 200, 300, ich kann’s nicht sagen. Wegen jeder Kleinigkeit auch: ‚Papa, Papa, krieg ich das?‘, ‚Nein, sei jetzt ruhig‘, ‚Och bitte‘. Dann hatte ich schon die fünf im Gesicht sitzen gehabt. H.D.: Bist du in der Schule geschlagen worden? A.: Auch ja. H.D.: Von Lehrern? A.: Von Lehrern, ja. Von einem, da kann ich mich gut dran erinnern, der hieß Herr K. Der hat immer gesagt zu meinen Eltern, es wäre halt sein Stil, Kinder zu schlagen. Mein Vater hat gemeint zu dem ‚Ja, das macht ja nix‘ und so, das brauchen die und lauter so Sachen …Auf jeden Fall hat er gesagt: ‚Steh auf, Freundchen‘. Und wenn man dann aufgestanden ist, hat er einem in den Magen geboxt, dieser Herr K. Der war halt schon krass. Einem hat der einen Schlüsselbund an den Kopf geworfen. …

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A.: Ja, ich darf einfach nicht mehr versuchen, mich irgendwie großartig zu verstellen oder irgendwas für irgendwelche Leute. Ich bin halt so, wie ich bin, und meine Macken sind toll einfach. H.D.: Meine Macken sind toll, sagst du. A.: Ja, es gehört einfach zu mir. Diese ganzen Sachen, alles das, mich so zu akzeptieren, wie ich bin, das hat meine Freundin alles in mir hervorgerufen. Ich sag, du weißt, auf was du dich einlässt oder? Ich hab richtig viele Macken, sie sagt, ja, das ist okay, und genau deswegen lieb ich dich ja. Ich darf einfach nicht mehr versuchen… früher war’s immer so, ich hab immer versucht, mich zu verstellen, um halt immer dieser große starke Macker zu sein. Ich hab nie wirklich gewusst, wer ich eigentlich bin. H.D.: Du bist ja auch groß und stark. A.: Ja, aber nach außen hin. Aber das ist es nicht. In mir gibt’s auch andere Seiten. Und die kann ich genauso zum Vorschein bringen, weil’s einfach nichts Negatives ist oder nichts Angreifbares für mich ist, wenn ich weiß, dass ich diese Seiten habe, mir darüber bewusst bin, dass ich diese Seiten habe. Und es einfach nicht negativ finde. Dass es meine Seiten sind, dass es zu mir gehört und dass es einfach positiv ist, dass ich diese Seiten habe … Ich brauch’s einfach für mich selbst nicht mehr in Frage zu stellen, ob es gut war, Gefühle zu zeigen, oder ob es nicht gut war. Mittlerweile kann ich halt, früher hätt ich mir das nie vorstellen können, dass ich irgendwie so offen über meine Gefühle rede, aber ich hab vielleicht die Sehnsucht danach gehabt, das zu tun, aber ich hätt es mich nie getraut aus Angst, irgendwie enttäuscht zu werden oder irgendwas, oder dass ich dadurch angreifbar werde. Und das ist mir einfach alles genommen worden. Ich kann jetzt offen über meine Gefühle reden, weil ich irgendwie denke, das ist ein Teil von mir. Es hilft nix, das alles zu verstecken, darauf geht’s dir nur noch schlechter … H.D.: Die größte Schwierigkeit? A.: Den Anfang zu finden. Der erste Schritt ist immer so meistens der schwierigste, wenn man so was von Vertrauen in Angriff nimmt. Weil man nicht weiß, wie ist es, und bei mir war’s jedenfalls so, ich bin oft früher enttäuscht worden von allen möglichen Menschen und ich hab immer mehr gesucht oder Vertrauen oder irgendwas, aber ich bin immer wieder auf die Fresse gefallen. Ich bin immer wieder enttäuscht worden. Und hier habe ich dann einfach die Erfahrung gemacht, mal nicht enttäuscht zu werden, und das hat mir ein großes Stück weitergeholfen. Wieder Vertrauen finden zu können zu Menschen. … H.D.: Wie war das Gespräch für dich? A.: Sehr gut, erleichternd.

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H.D.: Heut morgen hast du ja gesagt, gestern ging’s dir schon scheiße seit ein paar Tagen. Und damit haben wir angefangen. Wie ist es jetzt? A.: Es geht mir besser. Ich muss erstmal das ganze Gespräch wieder ein bisschen verarbeiten. Aber es wird mir besser gehen. Weil es einfach was anderes ist zu reden als zu schreiben. Obwohl das Schreiben mir auch sehr hilft, aber das ist einfach was anderes.“ Bindungsangebote und Verbalisierung: das Konzept des ‚reflective functioning‘ Das hier wiedergegebene Interview entstand im Rahmen der Prozessberatung eines Kooperationsprojekts „der Universität Kassel mit der Jugendstrafanstalt (JVA) Wiesbaden und der Hessischen Landeszentrale für Politische Bildung als Teil eines Forschungsprojekts zur Gewaltreflexion mit der Methode der prozessorientierten Spielfilmarbeit, die seit 2001 in der JVA in regelmäßigen Workshops durchgeführt wird.“ (Nolle/Hildebrandt 2006: 4). Bei der Konzipierung der Interviews mit den Insassen der Justizvollzugsanstalt, deren Straftaten – wenn überhaupt – nur auf dem Hintergrund ihrer eigenen Traumatisierungen verständlich werden, wurde auf das in der psychoanalytischen und kognitionspsychologischen Literatur beschriebene Konzept des Reflective-Functioning (Fonagy/Target 2002) zurückgegriffen. Dieses Konzept bezieht sich auf die Fähigkeit, eigene Ziele wie die Ziele anderer wahrzunehmen und zu verstehen (Gedanken, Absichten, Meinungen, Wünsche) und über das damit zusammenhängende Verhalten nachzudenken. Es geht also um Prozesse reflexiver Metakognition, die für ein fühlendes und denkendes Selbst entscheidend sind, das die Fähigkeit besitzt, Sinn und Bedeutungszusammenhänge herzustellen und auf diese Weise das Verhalten zu regulieren. Theoretischer Hintergrund der biografischen Spielfilmarbeit wie der Interviews war die empirisch geprüfte Auffassung, dass solche Fähigkeiten zu ,reflective functioning‘ in den ersten Lebensjahren, insbesondere in der Interaktion zwischen dem Kind und der Mutter und deren Fähigkeit zur Metakommunikation entwickelt werden, aber als Prozess der Mentalisierung (‚Bewusstwerdung‘) sich auch im späteren Leben fortsetzen. Wie Fonagy und Mitarbeiter in ihrer Prison-Health-Care-Centre-Studie gezeigt haben, liegt bei 80-90 % der jugendlichen Straftäter eine Vorgeschichte von Misshandlung vor, die es erschwert bis unmöglich macht, sich in positiver Weise an Individuen und soziale Institutionen zu binden und entsprechende emotionale und kognitive Steuerungsprozesse zu entwickeln. (Rund ein Viertel

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der Menschen, die in ihrer Kindheit und Jugend schwer misshandelt wurden, werden später als Straftäter verurteilt.) Im Blick auf die Fähigkeit des ,reflective functioning‘ sind folgende Kriterien von besonderer Bedeutung: • Art und Häufigkeit der Erwähnung eigener oder fremder innerer Befindlich-

keiten • Einfühlungsvermögen für die Charakteristika, Komplexität und Vielfalt innerer Befindlichkeiten • Bemühungen, beobachtbares Verhalten mit innerer Befindlichkeit zu verknüpfen, sowie die Fähigkeit, eine Änderung der inneren Befindlichkeit und daraus folgende Änderungen des Verhaltens in Betracht zu ziehen. In allen Interviews zeigte sich, dass diesen jungen Erwachsenen weder in der Familie noch in der Schule eine Gelegenheit geboten wurde, über sich selbst nachzudenken und zu sprechen. Sie waren ihren Erinnerungen (und ihren Taten!) im wörtlichen Sinne ‚sprachlos‘ ausgeliefert. Fast allen fehlte eine grundlegende Grammatik, eigene und fremde Gefühle zu spüren und auszudrücken. Die gemeinsame Arbeit im Projekt bot den Gefangenen eine neue und einmalige, bisher so nie zuvor gebotene Möglichkeit, sich selbst und die eigene Geschichte in einem anderen Licht zu sehen und vor anderen zu zeigen. Dabei kam den verschiedenen Prozessphasen in der Produktion eigener Spielfilme zum Thema Traumatisierung und Gewalt unterschiedliche Bedeutung zu: Erzählen der eigenen Geschichten im geschützten Raum der Gruppe, Aufschreiben von Geschichten und erinnerten Szenen, Vortragen vor der Gruppe, Umsetzen der verschiedenen Geschichten in ein gemeinsames Drehbuch, Spielen der Geschichten und schließlich: sich selbst im Film sehen und den Film vor der Öffentlichkeit der JVA vorführen. Dabei wird bei jedem der Interviewpartner eine andere Dynamik von Kontinuität und Diskontinuität in der eigenen Biografie deutlich. Entscheidend ist jedoch, dass alle interviewten Insassen sich dieser Veränderungsprozesse, auf dem Weg zu sein – mehr oder weniger – bewusst geworden sind. Die humanistische Tradition als Vision Ein seit 1953 immer wieder versteckt publizierter und verstreut zitierter Bericht von Rainer Maria Rilke aus dem Jahr 1904/5 vom Besuch einer schwedischen Schule soll zum Abschluss in Auszügen zitiert werden (Rilke 1987: 672ff.). Ril-

54 | HEINRICH D AUBER

ke war mit der schwedischen Reformpädagogin Ellen Key (‚Das Jahrhundert des Kindes‘) eng befreundet. Samskola „Ich werde erzählen, was sich neulich in Gothenburg begeben hat. Es ist merkwürdig genug. Es geschah in dieser Stadt, dass mehrere Kinder zu ihren Eltern kamen und erklärten, sie wollten auch nachmittags in der Schule bleiben, auch wenn kein Unterricht ist, immer. Immer? Ja, so viel wie möglich. In welcher Schule? Ich werde von dieser Schule erzählen. Es ist eine ungewöhnliche, eine völlig unimperativische Schule; eine Schule, die nachgibt, eine Schule, die sich nicht für fertig hält, sondern für etwas Werdendes, daran die Kinder selbst, umformend und bestimmend, arbeiten sollen. Die Kinder, in enger und freundlicher Beziehung mit einigen aufmerksamen, lernenden, vorsichtigen Erwachsenen, Menschen, Lehrern, wenn man will. Die Kinder sind in dieser Schule die Hauptsache. Man begreift, dass damit verschiedene Einrichtungen fortfallen, die an anderen Schulen üblich sind. Zum Beispiel: jene hochnotpeinlichen Untersuchungen und Verhöre, die man Prüfungen genannt hat, und die damit zusammenhängenden Zeugnisse. Sie waren ganz und gar eine Erfindung der Großen. Und man fühlt gleich, wenn man die Schule betritt, den Unterschied. Man ist in einer Schule, in der es nicht nach Staub, Tinte und Angst riecht, sondern nach Sonne, blondem Holz und Kindheit. Man wird sagen, dass eine solche Schule sich nicht halten kann. Nein, natürlich. Aber die Kinder halten sie. Sie besteht nun im vierten Jahre, und man zählt in diesem Semester zweihundertfünfzehn Schüler, Mädchen und Knaben aus allen Altern. Denn es ist eine richtige Schule, die beim Anfang anfängt und bis ans Ende reicht. Freilich: dieses Ende liegt noch nicht ganz in ihrer Hand. An diesem Ausgang der Achtzehnjährigen steht, gespenstisch wie ein Revenant, die Reifeprüfung. Und sie treten, aus der Zukunft, in der sie schon waren, in eine andere Zeit zurück. In die Zeit ihrer Zeitgenossen. Aber sie sind doch, sozusagen, im Kommenden erzogen; werden sie das ganz verleugnen? Wird man es später an ihrem Leben merken? […] Wenn wir nicht aufdringlich, mit dem Recht des Stärkeren, den Kindern all das Fertige in den Weg stellen, das für unser Leben gilt, wenn sie nichts vorfinden, wenn sie alles machen müssen: werden sie nicht alles machen? Wenn wir uns hüten, den alten Riss zwischen Pflicht und Freude (Schule und Leben), Gesetz und Freiheit in sie hinein zu vergrößern: ist es nicht möglich, dass die Welt heil in ihnen heranwächst? Nicht in einer Generation freilich, nicht in der nächsten und übernächsten, aber langsam, von Kindheit zu Kindheit heilend? […] Was diese Schule versucht, ist dieses: nichts zu stören. Aber indem sie dies auf ihre tätige und hingebende Weise versucht, indem sie Hemmungen entfernt, Fragen anregt, horcht, beobachtet, lernt und vorsichtig liebt, – tut sie alles, was Erwachsene an denen tun können, die nach ihnen kommen sollen […] Es tut so gut, zu fühlen, dass in diesen Kindern nichts verkümmern kann. Jede, auch die leiseste Anlage muss nach und nach zum Blühen kommen. Keins von diesen Kindern muss sich dauernd zurückgesetzt glauben. Der

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Möglichkeiten sind so viele. Für ein jedes muss der Tag kommen, da es sein Können entdeckt, irgendeine Fähigkeit, eine Geschicklichkeit, eine Lust zu irgend etwas, die ihm in dieser kleinen Welt seinen Platz, seine Berechtigung gibt […] Die Menschen, die diese Schule am meisten lieben, haben nach Tagen und nach Nächten, im ganzen Bewusstsein ihrer Verantwortung, diesen Beschluss gefasst. Nun muss man Vertrauen zu ihnen haben. Kinder und Eltern. Denn diese Bedeutung scheint mir leise in dem Namen Samskola mitzuklingen: Gemeinschule, Schule für Knaben und Mädchen, aber auch: Schule für Kinder und Eltern und Lehrer. Da ist keiner über dem anderen; alle sind gleich und alle Anfänger. Und was gemeinsam gelernt werden soll, ist: die Zukunft..."

Eine rückwärtsgewandte, romantische Illusion? Aus Sicht der modernen Hirnforschung ist auch 110 Jahren nach Rilkes Schulbesuch nicht viel hinzuzufügen (Renz-Polster/Hüther 2013). Das aus meiner Sicht anschaulichste, in Frankreich preisgekrönte literarische Buch zum Thema stammt von dem Gymnasiallehrer und Schriftsteller Daniel Pennac (2009: 170f.): Schulkummer „Träumen wir einen erquicklichen Traum. Die Lehrerin ist jung, geradeheraus, durch keine Stanzmaschine gegangen, von der Mühle noch nicht aufgerieben, sie ist ganz und gar präsent, und in ihrer Klasse sitzen sämtliche Schüler, Eltern, Kollegen und französischen Staatsdiener, denen sich – es mussten Extrastühle herbeigeschafft werden – die letzten zehn Bildungsminister angeschlossen haben. „Können wir es wirklich nicht ändern?“, fragt die junge Lehrerin. Die Klasse antwortet nicht. „Habe ich richtig gehört? Wir können es nicht ändern?“ Stille. Da reicht die junge Lehrerin dem amtierenden Minister die Kreide mit der Aufforderung: Schreib das an die Tafel: „Wir können es nicht ändern.“ „Ich habe das nicht gesagt“, protestiert der Minister, „das waren meine Beamten! Es ist das Erste, was sie jedem von uns beim Amtsantritt sagen: ‚Wie dem auch sei, Monsieur le Ministre, wir können es nicht ändern!‘ Aber mir, bei all den Reformen, die ich auf den Weg gebracht habe, mir kann man nicht unterstellen, dass ich so etwas gesagt hätte! Es ist schließlich nicht mein Fehler, wenn tausenderlei Schwerfälligkeiten verhindern, dass mein reformerischer Einfallsreichtum zum Tragen kommt!“ „Es ist nicht wichtig, wer es gesagt hat!“, antwortet die strahlende, junge Lehrerin, „schreib es an die Tafel: Wir können es nicht ändern.“ Wir könnens nicht ändern. „Schreib das es mal voll aus: es nicht ändern, damit es deutlich zu sehen ist. Denn es gehört mit zum Problem. Und zwar entscheidend!“

56 | HEINRICH D AUBER Wir können es nicht ändern. „Perfekt. Was ist das für ein es deiner Meinung nach?“ „Weiß nicht.“ „Nun, meine guten Freunde, das müssen wir unbedingt herausfinden, wofür dieses es steht, andernfalls ergeht es uns allen schlecht.“

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D IE P ERSPEKTIVE DER H UMANISTISCHEN P ÄDAGOGIK | 57

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Relationale Grenzgänge des Traumatischen Pädagogische Reflexionen entlang von Existenz, Resonanz und Differenz M ONIKA J ÄCKLE Trauma: ohne (begrifflichen) Halt – wider einer „Geräuscheverstärkung des Identitären“ 1 Das ‚Sich bewohnen in der Welt‘ stellt in der folgenden Ausführung die doppelte Figur dar, die durchkreuzt wird vom Einbrechenden, der Plötzlichkeit, einer Schlagkraft, die das ,Existenzielle‘ ins Sichtbare und gleichsam Unsagbare katapultiert. Die Bodenlosigkeit des Traumas scheint in der Unsagbarkeit des Erfahrenen, in der Inkohärenz des Selbstverhältnisses, in der Entzeitlichung des Daseins auf. Im Trauma wird die symbolische Ordnung (der Sprache, des Sinns) durchbrochen und ein Riss aus gewohnten Wahrnehmungsrastern ist ihre (phänomenologische) Geste schwemmender Haltlosigkeit. Trauma ist die Unmöglichkeit der differenzierten Wahrnehmung von Grund und Figur, eine Leerstelle der Erinnerung, die Erlebtes dennoch behält. Die Gestaltbildung einer sinnhaftsinnlichen Ordnung wird gesprengt, das Antwort- und Anerkennungsnetz des ,Du‘, die Referenzfelder des Relationalen werden unterbrochen. Trauma ist als Resonanzerfahrung eine Resonanzflut. Die nun folgende erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Trauma2 setzt, wie angedeutet, nicht an der Innerlichkeit einer Subjekt-Entität, gar ‚Identität‘ an, welche von einem Ereignis mit katastrophalem Ausmaß im Außen die Grenzen einer individuellen Bewältigbarkeit oder gar

1

Rosa (2016: 743).

2

Die Auseinandersetzung entlang der Dimensionen Existenz, Resonanz und Differenz ist maßgebend den vielen Impulsen aus den Gesprächen mit Christian Fuchs geschuldet.

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Resilienz durchstößt, wie es in den diagnostischen Klassifikationssystemen festgehalten wird. Sondern: Sie geht einen diskursiven Schritt „zurück“ und wendet sich zunächst einer subjekttheoretischen Reflexion zu, die die Konstitution von Subjektivität in den Blick nimmt, deren Historizität und Kontextualität im Begriff der Relationalität zum Ausdruck kommt.3 Mit dieser kritischen pädagogischen Anthropologie verbindet sich eine Haltung für „offene Fragen“ (Bollnow 1965: 52), die die „grundsätzliche Bildlosigkeit in bezug auf den Menschen“ (ebd.) anerkennt und sich einer Schließung bzw. essentiellen Zementierung verweigert. Mit anderen Worten: Eine Identifizierung dysfunktionaler Selbstverhältnisse im normativen Raster eines Gesundseins wird vernachlässigt und der Blick auf ein Subjektverständnis gewendet, das das Kontinuum von Offenheit und Geschlossenheit, von Identität und Alterität thematisiert und im ‚Recht auf Leid und Entzogenheit‘ versus einer ‚medikalisierenden Wegtherapeutisierung von Leid‘ kulminiert. Im Zentrum dieser reflexiven Auseinandersetzung liegt der Blick auf der Relationalität, welche als Theorem im Weiteren den spezifischen Zugang zum Phänomen Trauma darstellt. So sind nicht Fragen danach von Interesse, was ein Trauma aus pädagogischer Sicht ‚ist‘, wie sich Trauma pädagogisch denken lässt oder was Trauma als Strukturkategorie des Verletzlichen kennzeichnet. Vielmehr geht es darum, die Spezifik des Traumatischen aus den relationalen Zugangsweisen des In-derWelt-Seins (existenzphilosophischer Zugang), der leiblich-räumlich antwortenden Resonanz (phänomenologischer Zugang), sowie der Anrufung als ein Jemand im Raster des Menschlichen (poststrukturalistischer Zugang) herauszuarbeiten und in ein erziehungswissenschaftliches Spannungsverhältnis zu bringen (ohne dieses hier lösen zu wollen): Trauma als Unterbrechung des relationalen Verhältnisses eines „Mir“ (Böhme 2012: 12ff.) in-der-Welt: Das Pädagogische markiert hier den roten Faden in Gestalt der Figur Subjektwerdung durch Intersubjektivität in sozialen Verhältnissen4 im Rahmen von erzieherischen Resonanzverhältnissen bzw. von Erziehungs- und Bildungsprozessen der „Weltanverwandlung“ (Rosa 2016: 408) und konkretisiert sich hier im Modus der Unterbrechung als Dynamik des Traumatischen. So gehe ich nicht von einem Subjekt

3

Dieser Text vermag die subjekttheoretischen Implikationen in ihren Differenzen nicht herauszuarbeiten und zu systematisieren. Anliegen des Textes ist kein Vergleich der unterschiedlichen wissenschaftlichen Zugänge oder ein Herausarbeiten der Kohärenzstränge.

4

Vgl. Thiersch (2014).

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des Traumatischen aus, sondern betone das Sich im Selbst bzw. das „Mir“5, welches also die unausweichliche Betroffenheit betont (Selbst-Verhältnis), nur in Bezogenheit existiert (Anderen-Verhältnis) und die Situiertheit in-der-Welt (Raum-Welt-Verhältnis) als leibliches Sein berücksichtigt: Das Traumatische im Relationalen als dem Anderen ausgeliefert und sich seiner nie ganz gegeben. Es werden im Weiteren unterschiedliche Zugangsweisen auf das Verständnis der Relationalität befragt und ihre Implikationen für ein anderes Verstehen von Trauma formuliert. Konkret: Vor dem Hintergrund der Oikeiosis-Lehre wird diese relationale Zugangsweise in der Figur des Wohnens, des Hauses in der Welt zur diskursiven Schnittstelle der weiteren Ausführungen. Das ,SichBewohnen in der Welt‘ wird zum Referenzort einbrechender Verletzbarkeit und im Folgenden nicht in Gestalt einer Entwicklungspathologie, sondern in einer pädagogischen Theorie des Aufwachsens gebettet, die bildungstheoretische wie auch entwicklungspsychologische Perspektiven berücksichtigt und das Feld der Verletzbarkeit in Bildungsprozessen denkt. Im zweiten Teil wird die Figur des Wohnens unter einer existenzphilosophischen, phänomenologischen und poststrukturalistischen Denkfolie betrachtet und an das Phänomen Trauma angeschlossen. „Sich selbst bewohnen und in der Welt heimisch werden“ „Wir fangen etwas an; wir schlagen unseren Faden in ein Netz der Beziehungen. Was daraus wird, wissen wir nie. Das ist ein Wagnis.“ ARENDT 1964

Die Lehre Oikeiosis Oikeiosis fungiert im Folgenden als Ausgangsarchitektur einer pädagogischen, bildungstheoretischen Sicht auf die kindliche Entwicklung6, welche nicht das

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Das „Mir“ beschreibt Böhme im dialektischen Verhältnis zum „Ich“ (das „Ich“ als substanzieller, verkapselter Urheber der Gedanken und Handlungen, als vernünftige Kontrollinstanz) als etwas Abhängiges zwischen Tun und Erleiden; es ist das „Mir“/ “Mich“, das betrifft: „[M]ir fährt der Schreck in die Glieder, mir tut etwas weh. Das Ich erscheint erst im Versuch der Emanzipation, im Versuch von dem, was ihm geschieht, sich zu distanzieren“ (Böhme 2012: 16f.).

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Unter kindlicher Entwicklung verstehe ich einerseits immer schon eine kulturelle Praxis, welche in eine generative Ordnung eingelassen ist und von Asymmetrie bestimmt wird (vgl. Kelle 2005) und andererseits Momente der Bedürftigkeit aufgrund des

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Scheitern relationaler Anverwandlungsprozesse zum Augenmerk macht, also von einer Pathologie ausgeht, sondern den intersubjektiven Raum als Resonanzraum eines Gelingens der Oikeiosis und damit auch der Weltanverwandlung versteht: Weltanverwandlung als relationales Werden in und durch dialogische Resonanzmomente der Weltbeziehung (Rosa 2016). Oikeiosis ist eine von Zenon, dem Begründer der frühen griechischen Stoa, formulierte Lehre kindlicher Entwicklung, die die Subjektwerdung als Prozess versteht, sich selbst zu bewohnen, bzw. „in sich selbst häuslich-Werden und Zuhause Fühlen“ (Wolfstetter 1993: 64ff.). Oikos bedeutet griechisch „Haus“ und osis „der Prozeß der seelisch-geistigen Anverwandlung“ (ebd.: 65). Dies wird im Weiteren als Selbstbildungsprozess eines ,zur-Welt-Seins‘ gedacht, was den Fokus auf SelbstBildungsprozesse (ebd.)7 in Weltbeziehungen des Aufwachsens legt. So formuliert Wolfstetter (ebd.: 66) diesbezüglich in Auseinandersetzung mit der Oikeiosis-Lehre vier zentrale Stationen: Zuneigung – Zuwendung – Zueignung – Zugehörigkeit. Zu den grundlegenden Thesen der Oikeiosis-Lehre entlang eines nichtnormativen, nicht-pathologischen, vielmehr gelingenden Verlaufs: • Im idealtypischen Sinne begegnen Eltern ihrem Kind mit einer Hinwendung

und Fürsorge zum Kind, welche in Gestalt eines „regulative[n] Modus“ (Wolfstetter 1993: 65) dafür sorgt, dass grundlegende Bedürfnisse beantwortet und basale Funktionen für das Kind erfüllt werden. Diese stark sensomotorisch-somatischen Handlungsdialoge und interaktiven Zuwendungsweisen werden auch vom Kind erfahren und in ein spezifisches Körperwissen einverleibt, was mit dem Begriff der Zuneigung zum Ausdruck kommt. • Das resonante Antwortverhalten des Kindes besteht in einer Zuwendung zu den Bezugspersonen: „Es spiegelt die Zuneigung in sich quasi so, wie eine Linse in sich das Licht sammelt und zentriert, das auf sie fällt.“ (Wolfstetter 1993: 66) Durch diese relationalen Dialoge konstituiert sich das ,Ich‘ am ,Du‘.8 • Sich in den ‚Augen der Anderen zu sehen‘ ermöglicht darüber hinaus, sich Fähigkeiten und Fertigkeiten über das relationale Beziehungsverhältnis der El-

Ausgeliefertseins an die vorhergehende Generation bzw. an die nährenden und fürsorgenden Anderen. 7

Siehe Wolfstetter (1993: 66f.) und seine Auseinandersetzung zum Verhältnis von

8

Vgl. Buber (1928).

Selbstzuwendung und Konstitution mit Foucaults antiker Philosophierezeption.

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tern (wie auch der Erzieher_innen und Lehrer_innen) zuzueignen. Mit anderen Worten: Identifikation als Zueignung. • Sich seiner selbst in-der-Welt zugehörig fühlen, entspricht letztlich einem subjektkonstitutiven Prozess der Selbst-Bewohnung (als immer schon FremdBewohnung). Die Oikeiosis basiert auf einer relationalen Sozialität, so dass die Beziehung der Ich-Werdung vorausgeht. In diesen frühen Erfahrungen formiert sich gleichsam das Weltverhältnis, welches über die Lebensspanne hinaus Wirkungen entfalten und gleichsam modifiziert und transformiert werden kann. „Das Grundverhältnis zur Welt manifestiert sich in der Antwort auf die Fragen, ob wir uns in der Welt getragen oder in sie geworfen fühlen, ob wir sie als prinzipiell responsiv oder als repulsiv erfahren, als attraktiv oder als gefährlich, ob wir zu ihr eher eine instrumentelle oder eine resonanzsensible Haltung einnehmen und ihr gegenüber eine stärker pathische oder überwiegend intentionalistische Orientierung entwickeln.“ (Rosa 2016: 235f.)

Dies hängt von den erworbenen und zu erwerbenden Beziehungsverhältnissen ab, von den Qualitäten der Interaktionsmodi, den Normen der Anerkennbarkeit, wie von den biografischen, sozialen, kulturellen und räumlichen Topographien im Prozess der Weltanverwandlung und lässt sich im Bereich des Relationalen verorten. Die Angewiesenheit und Bezogenheit menschlicher Selbstwerdung durch Andere und durch machtvolle Normen ist durch eine Fülle interdisziplinärer theoretischer Auseinandersetzungen begründbar, welche in diesem Rahmen nicht weiter ausbuchstabiert werden.9 Die Lehre Oikeiosis thematisiert genau die

9

So sind hier philosophisch fundierte Lesarten des Relationalen (Emmanuele Levinas, Martin Buber, Maurice Merleau-Ponty, Judith Butler), psychologisch fundierte Lesarten des Relationalen (sozialpsychologische mit George Herbert Mead, postkognitivistisch-sozialkonstruktivistische mit Kenneth J. Gergen, psychoanalytisch-feministische mit Jessica Benjamin, psychoanalytisch-entwicklungspsychologische mit Donald W. Winnicott, Peter Fonagy und Michael Tomasello, psychoanalytisch-relationale mit Stephen A. Mitchell und gestalttherapeutische mit Fritz Perls), soziologisch fundierte Lesarten des Relationalen (Michel Foucault, Norbert Elias, Hartmut Rosa), sowie pädagogisch fundierte Lesarten des Relationalen (Käte Meyer-Drawe, Annedore Prengel, Norbert Ricken, Tobias Künkler, Nicole Balzer) zu nennen. Insbesondere Künkler (2011) setzt sich systematisch mit dem Verhältnis von Relationalität und Subjektivität von Lernprozessen auseinander.

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Entwicklung des Welt-Selbstverhältnisses des Menschen unter relationaler Perspektive. Bildungstheoretische Implikationen Oikeiosis betont in diesem Zusammenhang die bildsame Werdung durch die Welt, die sich stets durch Andere, durch affektives Betroffensein, kulturelle Symbolisierungen und leibliche Atmosphären vermittelnd vollzieht und vom Einzelnen als Beziehungsmodus einverleibt wird. Oder wie Rosa pointiert formuliert: „Existenz ist geradezu Bezogenheit, sie verändert und entfaltet sich in und aus der Weltbeziehung.“ (Rosa 2016: 235) Das „zur-Welt-Sein“ (ebd.) ist also imstande, als Relationalität ein Angeregt- und Angestecktwerden, ein Staunen, ein wechselseitiges Verstärken zu erzeugen – nicht aus einer Harmonie heraus – vielmehr braucht es hierzu Spannungen des Widersprüchlichen, Bruchhaften, Fremden, die als Dissonanzen Bildungsprozesse initiieren können. Als Widerhall (re-sonare ~ widerhallen) verweist es auf das Feld der Resonanzen, die als Antwortbeziehungen die Modi des Kontaktes, des relationalen Beziehungsverhältnisses zwischen Subjekt und Welt einzufangen vermögen.10 Bildung verstanden als ,Selbstbildung-in-der-Welt‘ ist dieser Lesart zufolge ein relationales Werden in und durch Resonanzmomente der Weltbeziehung oder wie Dauber formuliert: „Bildung ist wie Erziehung ein ständiger Prozess von Ergreifen und Sich-Ergreifen-lassen, in der Bindung an einzelne Menschen und dem Kampf um die eigene Autonomie; in der Verankerung in den Traditionen und der Neuschaffung der sozialen und kulturellen Welt.“ (Dauber 2001: 5) So geht es um Antworten, um Erfahrungen der Responsivität, also einer antwortenden Weltbeziehung, die dafür ausschlaggebend ist, ob Bildungsprozesse in ihren Bedingungen möglich werden.11 Weltanverwandlung im Konkreten geschieht, indem über die Modi der relationalen Einverleibungen sich eine eigene, persönlich bedeutsame, sinnhafte, immer schon diskursiv bedingte Ordnung formiert. Erst dadurch kann etwas Neues anverwandelt werden mit der Folge, ein Anderer zu werden, der immer schon in der Sozialität gesellschaftlicher Normen eingespeist ist, die ihn hervorbringen. Dabei gewinnt das Nichtverfügbare, das Fremde, Andere, Indifferente und Irritierbare an Bedeutung, während durch den herrschenden Bil-

10 Resonanz ist in der Oikeiosis grundgelegt als „primäre[s] Weltverhältnis [...], aus dem Subjekt und begegnende Welt als Erfahrungstatsachen erst hervorgehen“ (Rosa 2016: 741). 11 Bildungsprozesse sind stets Selbstbildungsprozesse, die Ricken (1999; 2006) in der Figur der „Subjektivität als relationale Relationalität“ zum Untersuchungsgegenstand macht (Ricken 1999: 271).

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dungsdiskurs mitsamt der empirischen Bildungsforschung die Planbarkeit, Kontrollierbarkeit und Messbarkeit von Lernprozessen dominiert. Um den Blick auf die Schule zu lenken, sind Prozesse der Weltanverwandlung eingelassen in die erlebte Zeitlichkeit des Lebens, in biografisch orientierte Zusammenhänge und in dispositive Räume der Lebenswelt wie der Schule.12 Junge Menschen in der Schule sind weder freie Gestalter ihrer selbst noch determinierte agencylose Diskursvollstrecker. Im performativen Tun verhandeln sie relational das in der Schule dargereichte (diskursive, soziale, symbolische wie auch curriculare) Bildungswissen und bewegen sich dabei in einem dispositiven Wissensregime, welches durch Normen der Anerkennbarkeit geleitet ist. Wie sie diese Welt erleben, wie sie sich positionieren und entwickeln, und wie sie darin sichtbar werden, hängt nicht nur von biografischen Erfahrungen und ihrer Lebenswelt ab (Familie, Peergroup, soziale Netzwerke etc.), sondern stark von der Matrix der Anerkennbarkeit13. Daran schließt sich ein pädagogisches Verstehen an, das − von der Bildsamkeit und Erziehungsnotwendigkeit des Menschen (Weber 1996: 225ff.) ausgehend − sich der Verletzbarkeit relational zuwendet. Verletzbarkeit von Bildungsprozessen Wie bereits angedeutet kann nicht mehr von klaren einheitlichen GrenzSubstanzen eines Ich und einer Welt, eines Innen und eines Außen gesprochen werden. Das dynamische Spannungsverhältnis der Subjektwerdung in-der-Welt findet − gestaltpsychologisch − an der Grenze statt: Ihre Durchlässigkeit und Offenheit speist sich aus der Angewiesenheit auf die Zugewandtheit und Antwortbeziehung des Anderen und der Unhintergehbarkeit dieser relationalen Verfasstheit und Bedürftigkeit des Menschen. „Unsere Vulnerabilität – unsere Verletzlichkeit – bedingt, dass wir ein existenzielles Bedürfnis nach anerkennender Fürsorge haben, dass wir von ihr abhängig sind.“ (Prengel 2013: 45) Mit kindlicher Vulnerabilität bzw. Verletzbarkeit beziehe ich mich auf die Gleichzeitigkeit menschlicher Empfindungsfähigkeit, leiblich-emotionaler Bedürftigkeit nach Bindung und Autonomie (durch Für-Sorge und Unterstützung) und der Unverfügbarkeit der Beziehungsverhältnisse:

12 Als Teil der Bildungsgeschichte sind sie damit Bestandteil des Lebenslaufs mitsamt seiner Lebensherausforderungen, die im Sinne der Biographizität als Praxis biografischer Signifikationen in einem dispositivem, machtdurchdrungenen Feld zu verstehen sind. 13 In Bezug auf die Schule vgl. Jäckle u.a. (2016: 128ff.).

66 | M ONIKA J ÄCKLE „Diese frühe Heteronomie geht einher mit gesteigerter Verletzlichkeit, die durch wachsende Autonomie im Verlauf des ‚Größerwerdens‘ kompensiert, aber niemals grundlegend aufgehoben wird. Sie ist nicht nur Merkmal der Kindheit, sondern Merkmal der menschlichen Existenzweise.“ (King 2015: 25)

Mit dem Begriff der ‚Verletzlichkeit‘ betone ich hier die Dimension des Bezogenseins auf den Anderen im leiblich-affektiven Betroffensein und Erleben. Verletzbarkeit umschreibt weniger die leibliche affektive Relationalität wie die Verletzlichkeit, sondern mehr die existenzielle Angewiesenheit und Verwobenheit des Selbst mit dem Anderen14, das Ausgeliefertsein des jungen Menschen an den Schutz und die Versorgung eines Gegenübers, insbesondere in den Anfängen des Lebens. Dies verweist darauf, dass ein Ausgesetztsein existenziell angelegt ist und markiert letztlich die Offenheit und damit Resonanzfähigkeit des Menschen. Sich vom anderen her bewohnen zu lernen, für Andere ansprechbar zu sein und angesprochen zu werden, ist das Einfallstor der Verletzbarkeit. Bildungsprozesse sind Suchprozesse nach Sinn und nach Bezogenheit, die über Hören und Antworten die „Sehnsucht und Suche nach Resonanz“ (Rosa 2016: 747) zum Ausdruck bringen und gleichsam ein riskantes ,sich-Aussetzen‘ einfordern und dabei Ängste hervorrufen, da nicht gewusst wird und nicht darüber verfügt werden kann, wie der/die Andere und die Welt sich zeigen und wie sie entgegentreten: als offen, freundlich, ambivalent, nüchtern, starr, kalt, abwertend, gewaltvoll etc. „Menschen sehnen sich danach, die Welt als tragend, nährend, wärmend und entgegenkommend und sich selbst als in ihr wirksam zu erfahren, und sie fürchten sich vor einer schweigenden, mitleidlosen Welt, der sie ohnmächtig ausgesetzt sind.“ (Rosa 2016: 748) Während bei Hartmut Rosa das Resonanzverlangen die Verletzbarkeit des Menschen offenlegt, arbeitet Judith Butler die Verletzbarkeit in der Anerkennung und insbesondere in den Normen der Anerkennbarkeit heraus. Ihnen gemeinsam ist die relationale Perspektive des Angewiesenseins und der Ausgesetztheit auf den Anderen als „Basiserfahrung“ (Wuttig 2016: 265) menschlicher Existenz. Vulnerabilität markiert zudem die Verletzungsoffenheit des Menschen auf einer normativ-strukturellen Ebene, insofern hier die Wirkung der Ordnung der Vulnerabilität mit der Ordnung der Anerkennung verbunden ist. Als ein Jemand anerkannt zu werden, also durch einen Subjektstatus

14 Vgl. hierzu Andresen u.a. (2015), die von „Vulnerabilität als Dimension von Beziehung und Bindung“ (2015: 11ff.) sprechen.

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sichtbar zu werden, hängt nicht nur vom Anderen als demjenigen, von dem man abhängig ist, ab, sondern von der Normativität der Anerkennung.15 Bildung als Prozess der Weltanverwandlung ist von Offenheit geprägt und daher mit Verletzbarkeit verbunden. Im Trauma ist ein ‚sich-selbst-Bewohnen‘ nur schwer möglich − der Prozess der Weltaneignung und Welterfahrung wird durchkreuzt durch die Wirkmächtigkeit der offenen Gestalt des Traumas. Relationale Grenzgänge „Dass das Wohnen ein Wandern ist, heißt, dass es nicht im Drinnen verharrt, unter feststehenden Prinzipien und Normen, dass es nichts Ständiges und sich Wiederholendes ist, sondern dass ihm eine eigene Offenheit zukommt, eine Unabgeschlossenheit, etwas immer erst und immer noch Mögliches.“ GUZZONI 1999: 19

Der durch die Oikeiosis-Lehre sich formierende rote Faden des ‚Sich selbst Bewohnens und in-der-Welt heimisch Werdens‘, rückt das ‚Haus‘-‚Welt‘Verhältnis ins Zentrum, das durch den Fokus der Relationalität bisher Begründung fand. Es geht im Folgenden weniger um das ‚Haus‘ (also um eine subjekttheoretische Perspektivierung) und auch weniger um ‚Welt‘ (also um eine Gesellschaftsanalyse), sondern um das ‚Wohnen‘ des erlebten Raumes (Bollnow 1963: 18ff.) als pädagogisches Verhältnis. Trauma wird im hegemonialen, medizinisch dominierten Traumadiskurs als hormonelle Stressreaktion bezeichnet, die durch eine massive Kortisolausschüttung bewährte Bewältigungsstrategien verunmöglicht. Unter psychologisch-diagnostischer Perspektive befindet sich ein Trauma im Außerhalb der Erfahrungsnorm und ist als objektivierbares Ereignis identifizierbar. Die folgende Auseinandersetzung mit Trauma entspringt nicht dieser vorherrschenden Logik. Als Folie zur Beschreibung existenzieller Widerfahrnisse wird – so der hier gewählte thematische Ausgangspunkt – der Zugang zu den a) Weisen des Existierens, b) Erfahrungen erstarrter Entfremdung und c) Akten dispositiver Anerkennung beleuchtet.

15 Vgl. Jäckle/Wuttig/Fuchs Traumatische Gespenster (Schule M(m)acht v(V)erletzbarkeiten) i.d.B.

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Trauma und Existenz Die in sich sehr vielfältig aufgestellte existenzphilosophische Denkströmung16 der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat ihr Interesse in der menschlichen ‚Existenz‘, die in Grenzsituationen17 aufscheint, „sich grundsätzlich jeder bleibenden Formung entzieht, […] sich immer nur im Augenblick realisiert“ (Bollnow 1959: 15) und sich in zitternden Momenten der Bedrohung, der Todesangst und des Entsetzens zeigen kann als unstete Form menschlichen Lebens. Nicht die Frage nach der menschlichen Essenz, der Wesenhaftigkeit ist von Belang, sondern „Fragen nach der Möglichkeit von Freiheit und Würde unter widrigen oder nicht-idealen Bedingungen“ (Reichenbach 2007: 156). Trauma ist Ausdruck einer existenziellen Gegenwärtigkeit, in der die Endlichkeit, Ausgeliefertheit und Unverfügbarkeit menschlichen Lebens an die Oberfläche tritt und mit Gefühlen des Entsetzens verbunden ist. Mit anderen Worten: Trauma unterbricht mit plötzlicher Schlagkraft die steten Vorgänge des Lebens. Existenzialität beschreibt die Notwendigkeit sein Leben zu leben in einer Welt mit Anderen. Existenzphilosophisches Denken verdeutlicht wie keine andere philosophische Strömung die Bedeutung des ,Entfremdet-Seins‘, des ,in-dieWelt-Geworfen-Seins‘, des ,Ausgeliefert-Seins‘ und ,Angewiesen-Seins‘: „Der Mensch findet sich in betroffener Selbstgegebenheit und die ist nirgends eindrucksvoller als in Angst und Schmerz.“ (Böhme 2012: 247, Herv. i. O.) Emotionales Betroffensein von Angst, Schmerz und Hilflosigkeit trifft heute auf gesellschaftliche Regulierungsstrategien einer globalisierten Risikogesellschaft, die wappnet, aufrüstet, optimiert, kontrolliert und Sicherheit suggeriert und gleichsam Haltlosigkeit zum Credo erhebt: durch Schnelligkeit, vernetzter Bezugslosigkeit und digitalem Dahinkonsumieren. Als Gegenströmung hierzu kann der existenzphilosophische Zugang in der Pädagogik als nun nicht mehr irritierend und antiquiert, sondern als hoch aktuell eingestuft werden.

16 Einschlägige deutsche Vertreter_innen des existenzphilosophischen Denkens sind Martin Heidegger, Hannah Arendt, Karl Jaspers sowie Martin Buber, wie auch die Vordenker Sören Kirkegaard und Friedrich Nietzsche. Die französischen Denker Jean-Paul Sartre und Albert Camus werden dem Existenzialismus zugeordnet. In der Erziehungswissenschaft sind in diesem Zusammenhang primär Otto F. Bollnow, Maxime Green und Eugen Fink zu nennen. Zur existenzphilosophischen Erziehungsphilosophie vgl. auch Reichenbach (2007). 17 In Anlehnung an Jaspers konstatiert Reichenbach: „Zur Grenzsituation aber wird die Grundsituation, wenn die Limitierung des Lebens in einer bestimmten Qualität erfahren wird: als existenzielle Begegnung mit dem Tod.“ (Reichenbach 2007: 167) Gerade aus pädagogischer Sicht möchte ich die Dimension des Staunens daneben setzen.

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‚Sich selbst bewohnen und in der Welt heimisch werden‘? Im existenzphilosophischem Denken gibt es kein Wohnen, kein ‚HeimischWerden‘, kein existentiales ‚Ankommen‘. Der Einzelne ist in die Welt geworfen, ist konfrontiert mit der Endlichkeit und dem Tod des eigenen Lebens, mit belastenden Situationen, mit Krisen, der körperlich-leiblichen Verletzbarkeit und Anfälligkeit, der Abhängigkeit, Einsamkeit und Scham etc. Und dennoch ist das ,Sich-selbst-Bewohnen‘ auch verbunden mit der Frage, wie Freiheit unter widrigen Umständen praktiziert werden kann, wie das eigene Leben und das eigene Selbst in einen sich-entscheidenden und handelnden Ausdruck kommen, also letztlich existieren kann. Und diese Frage wird umso dringlicher, wenn es sich um das Phänomen des Traumas handelt, denn dieses ist als „erschütternde Erfahrung“ imstande, den Einzelnen „aus der Gedankenlosigkeit des alltäglichen Dahinlebens heraus[zu]reißen und zu seinem eigentlichen Selbstsein [zu] führen“ (Bollnow 1968: 16). Bollnow formuliert aus einer existenzphilosophischen Denkungsart kommend Implikationen für die Pädagogik und versucht, „die Fesseln der existenziellen Einsamkeit zu sprengen und den tragenden Bezug zu einer Realität außerhalb des Menschen wiederzugewinnen“ (Bollnow 1955: 18). ‚Sich selbst zu bewohnen‘, d.h. hin zu einem haltenden Bezugspunkt wechseln zu können, sich ins Verborgene eines Hauses zurückzuziehen, entspricht nach Bollnow nicht einem romantisierenden Ideal einer unverwüstlichen essentialistischen Festungsstätte eines ‚Ichs‘. Sondern es ist das permanente herausfordernde Selbstverhältnis zum erlebten Raum, sich mit seinem eigenen räumlichen Ort und Leib in Beziehung zu setzen, mit sich selbst-in-der-Welt zurechtzukommen – mit anderen Worten: das Wohnen zu lernen (Bollnow 1963: 125). Sich in den „finsteren Zeiten“ behaupten zu können, braucht der Mensch Tätigkeit und „Anstrengung“, sich „gewissermaßen fest[zu]krallen“ (ebd. 128). Vor diesem existenzphilosophischen Hintergrund kann Wohnen, hier also das zenonische ‚in-sich-selbstheimisch-Werden‘ in einer Welt voller Unsicherheit, Gewaltsamkeit und Widerfahrnissen als pädagogische Herausforderung an die Geborgenheit und das Vertrauen (Bollnow 1955) (gegenüber der vorherrschenden Sicherheitsrhetorik) betrachtet werden – im Wissen um seine Begrenztheit und Unverfügbarkeit. Denn: „Es gibt grundsätzlich keinen anderen Weg zur Welt als über den konkreten menschlichen Bezug.“ (Bollnow 1968: 20) Gerade weil existentialistische Vertreter_innen kein Wohnen kennen, braucht es die polare Gegenbewegung (nicht Gegensätze), die Bollnow im Bewohnen eines sicheren Raumes von Geborgenheit und Rückzug und Sicherheit als „unerlässliche Aufgabe der Erziehung“ (Bollnow 1968: 26) betrachtet. Der Begriff „Wohnen“ ist für Bollnow „die Weise, wie der Mensch in seinem Hause lebt“ (Bollnow 1963: 125): „E[e]ine feste

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Stelle im Raum haben, an diese Stelle hingehören und in ihr verwurzelt sein“ (ebd.: 128); einen Raum, einen Leib zu haben, wo man sich ausdehnen, mit dem man sich bewegen kann. Und trotzdem ist Wohnen für Bollnow keine ontologische, sondern eine anthropologische Grundverfassung, bei der es wesentlich darauf ankommt, die Geborgenheit eines Ortes zu begründen, ‚Heimat‘ zu finden, Halt zu bekommen und in ethymologischem Bezug zum Begriff „Aufenthalt“: „aufrecht bleiben, ohne Wanken widerstehen“ (ebd.: 127). Die hier von Bollnow vollzogene doppelte anthropologische Setzung weist auf das Verhältnis des Menschen zur Welt hin: das ,Verbunden-Sein‘ und das Vertrauen zur Welt und das dem Leben ,Ausgeliefert-Sein‘. Beide Erfahrungsmodi stehen nebeneinander. Gerade in der Verletzlichkeit des Hauses, gar in seinem Verlust scheint nun − existenzphilosophisch gesprochen − die Existenz auf. Sich in sich zu Hause fühlen, ‚sich selbst bewohnen‘, den beschützenden Raum eines Daheims zu erfahren − all dies ist im Modus einer Existenzweise zu lesen, die ein ,Verloren-Sein‘, ein ,Ausgeliefert-Sein‘ kontrastiert. Trauma kann demnach − dieser Lesart entsprechend − als ein Herausgerissenwerden aus der Welt verstanden werden, als ein bedrohlicher Unfrieden im „eigenen Haus“ oder als ein Riss, der versagt, sich im Boden zu gründen (Bollnow 1963: 128).18 Die pädagogische Antwort meint hier, sich wieder zu bewohnen und in der fluiden Zeit ,Festigkeit‘ zu gewinnen. Denn das Haus umgrenzt, birgt Präsenz, gibt Sicherheit und verleiht Orientierung – wohingegen das Trauma Grenzen fragmentiert, Da-Sein verunmöglicht, Verunsicherung inkorporiert und Verwirrung und ‚Raumverlassenheit‘ zum Ausdruck bringt. Grenzsituationen, die einbrechen oder durch Gewaltakte menschlicher Intentionen geschaffen werden, tragen also die Herausforderung, das Wohnen wieder zu lernen, zu lernen, sich selbst zu bewohnen in der Welt, um sich im Anschluss auch wieder verlassen zu können. Wohnen bedeutet ,Hier-Sein‘, bleiben, zum Frieden gebracht sein, mit der Welt vertraut sein. Und das tritt in seiner Offensichtlichkeit im Trauma zu Tage und entzieht sich dem leiblichen Sein im Trauma.

18 ‚Sich selbst bewohnen‘ fasse ich – nun Bollnows Zugang überschreitend (als Aktivierung der „schützenden Mauern und des bergenden Dachs“ (Bollnow 1963: 129)) – als transitorischen Entwurf auf, sich im Modus der Kontingenz auf eine Bildung im Sinne einer Formung einzulassen, die die eigene geborgene ,Innenzone‘ als schon immer gefährdete – da unhintergehbar relational in der Außenzone eingeflochten − offen legt.

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Trauma und Resonanz „Denn das Haus ist unser Winkel der Welt. Es ist – man hat es oft gesagt – unser erstes All.“ BACHELARD 1957: 31

Gaston Bachelard thematisiert in seiner Phänomenologie ‚des Wohnens‘, in seiner Poetik des Raumes (1957), weniger die Inhalte, sondern erzeugt entlang seiner dichterischen Einbildungskraft „im Widerhall […] eine Klangfülle“ (Bachelard 1957: 8), welche das Glück des Wohnens über das leibliche Wahrnehmen von Bildern einfängt. Bachelard sieht im Haus „ein[en] Verband von Bildern, die dem Menschen eine Stabilität beweisen oder vortäuschen“ (ebd.: 43). „Im Leben des Menschen schließt das Haus Zufälligkeiten aus, es vermehrt seine Bedachtheit auf Kontinuität. Sonst wäre der Mensch ein verstreutes Wesen. Es hält den Menschen aufrecht, durch alle Gewitter des Himmels und des Lebens hindurch. Er ist Körper und Seele. Es ist die erste Welt des menschlichen Seins. Bevor er „in die Welt geworfen“ wird, [...] wird der Mensch in die Wiege des Hauses gelegt. Und immer ist das Haus in unseren Träumen eine große Wiege.“ (Bachelard 1957: 33)

Die Träumerei hilft gegen das Ungenügen ganz im Heimischen des Hauses identifiziert zu sein und gleichsam gegen die Angst „nach draußen geworfen [zu] werden“ (ebd.: 34): „vor die Tür gesetzt, außerhalb des häuslichen Seins, eine Lage, in der sich die Feindlichkeit der Menschen und die Feindlichkeit des Weltalls zusammenballen.“ (ebd.) Dennoch betont Bachelard die haltgebende Funktion des Hauses: Sie erlaubt in Frieden zu träumen, von wo aus erst in die Ferne geblickt werden kann. So geht es auch in der Oikeiosis weniger um das Was, als vielmehr um das Wie. Wie ein Haus in der Welt bewohnt wird, formuliert Rosa mit Blick auf Resonanzverhältnisse, welche sowohl implizites, relationales Wissen, als auch Formen des dynamischen Austausches der Weltanverwandlung miteinschließen: So ist der Prozess der Subjektwerdung als ein relationaler Prozess zu beschreiben, der durch Resonanzerfahrungen entlang von Resonanzbeziehungen als Anverwandlung von Welt zu verstehen ist. Die Beziehungsmodi der Zuneigung, wie es in Zenons Lehre idealtypisch beginnt, ist eine sensomotorische, emotionale, somatische und leibliche Realität. Diese ist Resonanz. Und wie Rosa formuliert: „Sie ist die primäre Form unserer Weltbeziehung.“ (Rosa 2016: 747). Rosa betont, dass Resonanz nicht aus einer entspannten, harmoni-

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schen, in sich gleichklingenden19 Weltbeziehung entsteht, sondern ein hegelsches Fremd-Verhältnis braucht: „Sie ist vielmehr gerade umgekehrt das Aufblitzen der Hoffnung auf Anverwandlung und Antwort in einer schweigenden Welt“ (ebd.: 321). Eine traumatische Erfahrung wird hier als nichtanverwandelbares Anderes gelesen und bricht aus dem Raster einer bidirektionalen Resonanzerfahrung (ebd.: 755) heraus: Was heißt das? In einer Resonanzerfahrung findet eine Bewegung statt, die berührt und bewegt (affiziert werden im ,passiven Modus‘), und gleichsam trifft diese Bewegung auf eine andere Bewegung, die die Selbstwirksamkeit meint, also selbst etwas zu erreichen (agencybedingt autonomer, ,aktiver Modus‘). Aus diesen beiden Momenten entsteht Resonanzbeziehung. Die Affizierung durch ein existenzielles Widerfahrnis mit starker Intensität in traumatischer Gestalt lähmt die Möglichkeit einer zweiseitigen Beziehung (Emotion) und führt in die Immobilität der Selbstwirksamkeit. Die oben beschriebene Hoffnung auf Anverwandlung und Antwort wird in überwältigender Weise gekappt und ein Zustand der Isolation ist das Ergebnis einer „Resonanzkatastrophe“ (Rosa 2016: 283). Die eigene Schwingungsfähigkeit wird geschlossen oder, gestalttheoretisch gesprochen, die Kontaktgrenze bleibt dicht. Dadurch hat die Welt nichts mehr zu sagen. Sie ist nicht nur stumm, sondern sie ist ,getrenntes Gegenüber‘. „An der Wurzel der Resonanzerfahrung liegt der Schrei des Nicht-Versöhnten und der Schmerz des Entfremdeten.“ (ebd.: 322) Dieser Zustand wird im Trauma eingefroren, ein Resonanzverlust in Erstarrung. Die Resonanzachse wird zu sehr gespannt, dass sie reißen kann und sich darin die Welt nicht als antwortende zeigt, sondern als einbrechende. Zum Empfinden traumatischer Atmosphären: Sinnliche Spuren traumatischer Gestalten Traumatische Erinnerungen leben hauptsächlich als leibliche, somatische Erinnerungen weiter, zeigen sich nicht primär im Inhalt, in Geschichten, sondern im Wie, in den Gestalten, im spürbaren Leib (Schmitz 2015), in den Atmosphären (Schmitz 2014; Böhme 2013) und in den dynamischen Ausdrucksformen der Vi-

19 Entwicklungspsychologisch zeigt sich dies auch in der Affektspiegelung eines Elternteils. Affekte werden interaktionell-leiblich markiert (Fonagy/Target 2005), d.h. sie werden dem Kind moduliert, in leicht veränderter und erträglicher Form „zurückgegeben“. Wilfred Bion (1997) spricht diesbezüglich vom Containing, welches spannungsreiche affektiv-leibliche Erlebensmodi über die relationale Beziehungsdimension in etwas in-sich-Haltbares transformieren kann.

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talität (Stern 2011), welche − wie Wuttig (2016) zeigt − nicht ohne Macht zu denken sind. Zur Gestalt des Traumatischen Das Selbst in Gestalt lebendig verkörperter Erinnerungsnetze und gefühlsgesättigter, leiblicher Sinn(es)schichten ist immer schon das Andere, der Andere, die Welt. Damit erhält der sozial-leibliche Raum, die Topographien des Traumatischen, besondere Bedeutung, sodass eine traumatische Erfahrung nichts Subjektentitäres ist, wie es der hegemoniale Traumadiskurs suggeriert, sondern erst im Prozess der Gestaltbildung zu verstehen ist. Das Unnennbare des Traumatischen entsagt sich der sprachlich symbolischen Identifizierung, aber nicht der somatischen Verkörperung: heftige Eindrücke ohne Inhalt, Sinn ohne Logik, Erleben ohne Ordnung, Wahrnehmung ohne Organisation. Trauma sprengt die ,kausalen‘ Beziehungen von Raum und Zeit. Dabei ist die Gestalt des Traumatischen das erlebte Phänomen eines Grauens, welches Kontakt unterbricht und als ‚offene Gestalt‘ auf Schließung drängt, d.h. auf eine affektiv-sensomotorisch-leibliche Einordnung des Erlebens vor einem Hintergrund, durch den erst Symbolisierung möglich wird. Trauma als unfinished business20 resultiert aus einem Resonanzgrund (dem Kollabieren der Differenzierung von Hintergrund – Figur; vgl. Urmann i.d.B.), der hinreichende Prozesse, Strukturen und Erfahrungen zur Einordnung dieses Ereignisses im Moment seines Erlebens verunmöglicht.21 Dies zeigt sich in intrusiv-vermeidenden, leer-überschwemmenden Erlebensmodi, in denen sich der ‚Grund‘ hervortut. Durch die Fragmentierung der Kontinuität einer Zeit-Raum-Dynamik bleiben die „Ausdrucksformen der Vitalität“ (Stern 2011) im (fixierten) Figur-HintergrundProzess stecken: “The dynamic of figure/ground is interrupted. Trauma, as the figure, becomes so compelling that the context is lost. The attention is narrowed and the traumatised person is not able to widen the perceptual field to allow other aspects of life to become figural.“ (Vidakovic 2016: 3) Traumatische Atmosphären Trauma ist Ausdruck einer „unwillkürlichen Lebenserfahrung“22 in besonderer Intensität, deren Erleben als Leibempfinden nur mit Blick auf die sinnliche

20 Vgl. Serok (1985). 21 Denn: Eine Gestalt kann sich erst zurückziehen, wenn sich die Figur in den Hintergrund betten lässt. 22 „Unwillkürliche Lebenserfahrung ist alles, was Menschen merklich widerfährt, ohne dass sie es sich absichtlich zurechtgelegt haben.“ (Schmitz 2014: 30)

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Wahrnehmung ‚aisthesis‘ verstehbar wird: „Das primäre Thema von Sinnlichkeit sind nicht die Dinge, die man wahrnimmt, sondern das, was man empfindet: die Atmosphären.“ (Böhme 2013: 15) Atmosphären wahrnehmen meint, sich leiblich in einem Raum zu spüren. Atmosphären werden also durch die leibliche Betroffenheit gespürt und gleichsam ist das leibliche Bewohnen immer ein Räumliches (ebd.: 34), eines, das sich ausdehnen und dynamisch zeigen kann. Das Verhältnis der wahrgenommenen Qualia eines Raumes zu den eigenen leiblichaffektiven Befindlichkeiten ist das Schnittfeld, an dem sich auch das ‚Traumatische‘ zeigt. Eine traumatische Atmosphäre ist die „gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen“ (ebd.), welche sprachlich als überschwemmend, soghaft, einbrechend, eiskalt und glühend heiß zugleich, geballt, überspannend, aufberstend, explodierend, zerschellend, aufgeregt, drückend, hochenergetisch, eingefroren etc. umkreist werden kann. Dies meint nicht, dass es eine objektivierbare traumatische Wirklichkeit gibt, sondern es scheint eine Sphäre der Anwesenheit erregter, kollabierend-engender Spannung auf, die als Schreckensflut oder begrifflich in die Nähe von etwas Entsetzlichem gebracht werden kann und sich beim Trauma in eine weitende Schwellung der Leere wenden kann.23 Damit oszilliert traumatisches Erleben (willkürlich) zwischen hochenergetischer Spannung (Enge) und aktivierter Schwellung (Weite).24 Die atmosphärische Ausdehnung und Form des ‚Grausamen‘ wird durch die leibliche Anwesenheit des Wahrnehmenden zugänglich und durch seine affektive Betroffenheit ‚einbrechbar‘ als „leibliches Ergriffensein“ (Schmitz 2014: 40) in Starre. Atmosphären des Zerstörerischen und Grauenhaften evozieren leiblich ergriffene Gefühle des ,Getrennt-Seins‘, der Einsamkeit, der Hoffnungslosigkeit und der Ohnmacht. Gefühle werden durch naturwissenschaftlich-psychologisierendes Denken dem Einzelnen als Urheber seiner Innenwelt zugeschrieben. Diese psychologisch-reduktionistische „Verseelung“ (ebd.: 44) von Gefühlen in ein abgeschlossenes Inneres dominiert die regelstrukturierten Aussagensysteme des hegemonialen Traumadiskurses, welche Innen und Außen ebenso trennen wie Psyche und Leib. Dass Gefühle25 – der neuen Phänomenologie Schmitz‘ zu Folge – „räumlich ergossene Atmosphären“ (ebd.: 30) sind, die leiblich ergreifen und betreffen, kann beispielhaft am Phänomen der Selbstver-

23 Vgl. Schmitz (2014: 40f.). 24 Der vitale Antrieb äußert sich in der Schwingungsfähigkeit, dem Pendeln zwischen Enge und Weite, beispielsweise zwischen aktivem Tun und Schlaf. Er wird beim Trauma überspannt, sodass die Schwingungsfähigkeit ,reißt‘. 25 Vgl. Schmitz (2014: 30-49).

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letzung als Phänomen traumatischen Erlebens und „Ausdruck verletzter Leiblichkeit“ (Moldzio 2016: 1) verdeutlicht werden. Der sich aufbauende Druck hin zum selbstverletzenden Verhalten ist im Hinblick auf die leibliche Dynamik in der „primitive[n] Gegenwart“26 (Schmitz 2014: 117) verankert, also in der Präsenz der gegenwärtigen Leibgebundenheit, in der ein besonderer Zustand der Subjektivität als präreflexive Bewusstheit beschrieben werden kann. Diese hängt als schmerzhafte Erregung an der Enge der leiblichen Gegenwart fest, d.h. eine Orientierung, eine situative Einordnung, ein Mentalisieren, eine reflexive Distanznahme (entfalteter Gegenwart) ist nicht möglich: „Das zarte Band zwischen Engung und Weitung ist partiell gerissen“ (Moldzio 2016: 2). Eine Bewegung zwischen diesen Polen ist nicht möglich, also ein Changieren zwischen leiblich-emotionalem Erleben und kognitivem Einordnen. Dies kann als Moment des Traumatischen ausgewiesen werden, der als Riss ein Hinübergehen zum anderen Pol verunmöglicht und sich zu einer hochenergetischen, leiblichen Regung totalisiert, die die Gegenwart besetzt. In Anlehnung an Schmitz (2014: 32) kann das leiblich-räumliche Ergriffensein einer traumatischen Atmosphäre (in Bezug auf selbstverletzendes Verhalten (im Davor) folgendermaßen zusammengefasst werden: • leibliche Regungen: z.B. hochenergetische Leere (dahinter Druck, Spannung); • affektives Betroffensein leiblicher Regungen: Numbing (emotionale Taubheit)

(dahinter z.B. Verzweiflung, Wut, Ohnmacht, Scham etc.); • gespürte willkürliche und unwillkürliche Bewegungen: z.B. ‚ausleibende‘ Be-

wegungen, Leerläufe etc.; • leibliche Richtungen: z.B. Blick ‚ins Leere‘, flaches oder unterbrochenes At-

men. Durch die Selbstverletzung der Haut kann sich der Zustand leiblicher Weitung, welcher auch als Antidissoziativum, als Schutz vor psychischer Fragmentierung beschrieben werden kann, an die Enge der leiblichen Schmerzen anschließen. Das wieder ,zu-sich-Kommen‘, das ,sich-wieder-selbst-Bewohnen, welches auf der leiblichen Ebene über Selbstverletzung verhandelt wird, kann als ruckartige ‚Brücke‘, als Anbindung von Engung und Weitung gelesen werden. Oftmals berichten Betroffene von einem erleichternden, beruhigenden, erdenden und leben-

26 Primitive Gegenwart zeigt sich als „Maximum leiblicher Enge“ (Schmitz 2014: 117), „wenn der plötzliche Einbruch […] eine Gegenwart exponiert, in der ich nur noch hier jetzt dieses in völliger Verschmelzung bin, aber nicht mehr Fall von etwas, als das ich mich verstehen könnte“ (ebd.).

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digen Zustand des Danach, der mit einem affektiven Betroffensein zu existieren einhergeht. Moldzio (2016) weist auch auf die Bedeutung der leiblichen Kommunikation bei selbstverletzendem Verhalten hin, verweist hier auf die Ebene des Beziehungsaustausches bzw. der Resonanzbeziehung zu Anderen, welche der tragende Grund ist, der sich „zwischen den Leibern“ (Merleau-Ponty 1994: 194) als zwischenleibliche Resonanz ereignet: „Ein adäquates und förderliches Gegenüber, sei es im eigenleiblichen Spüren oder in der leiblichen Kommunikation mit einem Partner, fehlt, so dass als ultima ratio die eigene Leiblichkeit verletzt wird.“ (Moldzio 2016: 10) Diese Zwischenleiblichkeit ist die schmitzsche „wechselseitige Einleibung“ (Schmitz 2014: 57), die im atmosphärischen Austausch von Gestiken und Mimiken Resonanz hervorbringen kann, sich auf etwas konzentriert und ermöglicht, das Erleben des anderen zu verstehen. Die „Ausleibung“ (ebd.: 117) (Weitung) ist hingegen ein versunkener Zustand, wie er in dissoziativen Zuständen stattfindet, „wo der leibliche Dialog mit der Mitwelt wie aufgehoben erscheint“ (Moldzio 2016: 9). Trauma und Differenz ‚Sich selbst bewohnen und in-der-Welt heimisch werden‘ wird im Weiteren durch den perspektivischen Blick auf die Zusammenhänge von Macht, Diskurs und Subjekt skizzenhaft ausgelotet und durch die Dekonstruktion des grammatikalischen Ichs durchkreuzt. Anstelle des Ichs tritt das Subjekt mit seinen Formen der Subjektivierung: Ich werde in Abhängigkeit der mir sozial vorläufigen Welt zu dem, dessen Namen bzw. Adressierung ich mich umwende. Der Begriff der Differenz markiert die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit entlang von Praktiken der Unterscheidung, Ab- und Ausgrenzung: Ich bin stets das, was ich nicht bin und komme demnach nie an, bin immer auch die Negation, ein stetig Suchender oder diskursperspektivisch gesprochen: einer der sich in und durch Diskurse stets formiert. Dieses Vagabundendasein betont nun eben nicht das Haus, sondern das Umherziehen in der Welt im Kreislauf des Diskursiven, der Sozialität. So multipliziert sich das ‚eine‘ Haus um ein Vielfaches, scheint im Wohnen aufzugehen und ist mir nie gegeben im Ausgesetztsein an den Anderen. Die diskursive Konstruktion des Traumas Wie setzt sich ein spezifisches Wissen über letztlich massives Leid durch (die ‚Wahrheit‘ des hegemonialen Traumadiskurses), wie konstituiert sich eine soziale Ordnung, die Leid anerkennt oder verkennt (normative Vulnerabilitätsmatrix) und wie wird ihre Diskursivität situativ vollzogen (subjektivierende Anrufung als Traumatisierte/r)? Wenn im Alltagsdiskurs oder Expertendiskurs Trauma zum Gegenstand wird, dann geht es in erster Linie nicht darum, zu rekonstruie-

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ren, was über Trauma gesprochen wird, sondern, wie über den Zusammenhang von Wissensformationen, Machtverhältnissen und Subjektivierungen das Phänomen Trauma als Gegenstand hervorgebracht wird. Der hegemoniale Traumadiskurs ist Ausdruck einer machtvollen Konstruktion einer Wirklichkeit, die Menschen als Opfer und Täter, Gesunde und Kranke, Gute und Böse hervorbringt. Trauma ist der diskurstheoretischen Perspektive zur Folge nicht ohne Macht zu denken; Macht ist nach Foucault nicht repressiv zu verstehen oder als etwas, das man besitzt, sondern Macht ist produktiv, bringt hervor und zeigt sich in den Verhältnissen: was wird, nach welcher Logik, wie zur allgemeingültigen – nicht zu hinterfragenden – Wahrheit und ist imstande, Menschen zu führen und in ihrem Selbstverhältnis zu formieren. Michel Foucault verweist mit seiner machtvollen Wahrheitspolitik (Foucault 1992: 15) daraufhin, wie aus einem spezifischen gesellschaftlichen Wissen ein machtvolles Wahrheitswissen wird, welches in Gestalt einer normativen Vulnerabilitätsmatrix eine normative Ordnung installiert, die soziale Praktiken reguliert sowie subjektivierende Effekte am Einzelnen erzielt. Diese normative Vulnerabilitätsmatrix kennzeichnet sich auf vertikaler Ebene durch das kategoriale Diagnosesystem der ICD-10/DSM IV in Form der symptomatisch-performanten Erlebensweisen des Hyperarousals, der Intrusion und der Vermeidung (APA 2001: 487) innerhalb eines Zeitfensters und auf horizontaler Ebene offenbart sich die Wahrheitslogik durch die diskursiven Strategien der Ein- und Ausschlüsse: • durch Praktiken der Naturalisierung (z.B. Erregung des autonomen Nerven-

systems als scheinbare Ursache von Traumasymptomen) entschwindet das Kulturelle (Mecheril 2015), also die sozial-kulturellen Entstehungsweisen (vgl. Wuttig; Wuttig et al.; Pesch i.d.B.); • durch Praktiken der Universalisierung (z.B. der westlichen-PTBS Diagnose) wird das Partikulare (ebd.) (z.B. die kulturell-pluralen Erscheinungen) kolonisiert, absorbiert, wodurch imperiale Machtverhältnisse gefestigt werden (vgl. Eißner i.d.B.); • durch Praktiken der Normalisierung (medizinisch-diagnostische normalisierende Durchschnittswerte) wird das heterogen Empirische (ebd.) in die medizinische Gesundheits-Krankheitslogik und seiner Normabweichung übergeführt und damit Leiden als krank stigmatisiert (vgl. Fuchs; Hartmannsberger i.d.B.); • durch Praktiken der Essentialisierung (z.B. durch Anerkennung bzw. Ontologisierung des Krieges) wird das Relationale (ebd.) unsichtbar gemacht und damit auch die willentliche Entscheidung von Menschen dazu (vgl. Bahcelibas i.d.B.);

78 | M ONIKA J ÄCKLE • durch Praktiken der psychologisierenden Vernotwendigung (traumatherapeuti-











sche Heilung bei Leid) gerät das Kontingente (ebd.) (Leid als Aufscheinen der Existenz, vgl. Jäckle; Urmann i.d.B.) aus dem Blick;27 durch Praktiken der Materialisierung (bildgebende Verfahren und ihre positivistische Kurzschließung) fällt das Übersummative des Leids der wissenschaftlich-medizinischen Methodengläubigkeit zum Opfer (vgl. Fuchs i.d.B.); durch Praktiken einer entzeitlichenden und entkontextualisierenden Kausalisierung (traumatisches Ereignis, Entwicklung posttraumatischer Symptome) wird der anhaltende traumatischen Prozess unsichtbar und damit die Historizität, die Gegenwart und Zukunft entpolitisiert (vgl. Becker; Eck i.d.B.); durch Praktiken der Individualisierung (es liegt am Einzelnen und seiner Resilienz) wird das Gesellschaftliche und damit die oftmals gesellschaftlich bedingten Entwertungs- und Zerstörungsprozesse (die sozialen, kulturellen und historischen Gegebenheiten genauer gesagt die gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse) unsichtbar gemacht (vgl. Brenssell; Kühn i.d.B.); durch Praktiken der Biologisierung (durch das Gehirnregime und beispielsweise seiner dysfunktionalen Hormonproduktion) fällt der Eigensinn (individuell-kreative (Über)lebenspraktiken) durch das biologistische Funktionsraster28. In dieser Logik leiden Betroffene an der organisch-physiologischen Konstitution und nicht daran, was ihnen wiederfahren ist und wiederfährt (vgl. Gregor i.d.B.); Durch Praktiken der Emotionalisierung (beispielsweise medial geführte Schreckensszenarien) wird die Subjektposition ‚Traumatisiertes Subjekt‘ auf der öffentlichen Bühne verhandelt und instrumentalisiert. Menschen werden in betrauerbare und nicht-betrauerbare Subjekte unterteilt (vgl. Butler 2010). Mit-Gefühl und Empörung ‚des Menschlichen‘ sind nur selektiv möglich (vgl. Jäckle i.d.B.).

27 Die bisher aufgezählten Strategien gehen auf Paul Mecheril zurück im Rahmen der Ringvorlesung „Erziehungswissenschaftliche Migrationsforschung in Vergleichender Perspektive“ am 02.06.2015 an der Universität Augsburg zum Thema „Kontexte und ihre Subjekte. Was Cultural Studies zur migrationsgesellschaftlichen Bildungsforschung beizutragen haben“. 28 Die diskursiven Strategien, wie sich der Gegenstand Trauma in seiner Ordnung formiert, werden hier in diesem Rahmen nur hypothetisch ausgeführt und nicht diskursanalytisch.

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Hierdurch wird implizit eine Antwort auf die Frage gegeben: Wie wird welche Vulnerabilitätsordnung theoretisch legitimiert und praktisch umgesetzt? Becker formuliert zusammenführend und positionierend: „Wenn man sich heutzutage in der Weiterentwicklung der sich an der PTBS orientierten Forschung immer stärker auf die Gehirne der betroffenen Personen fixiert, dann wird dabei auch ein politisches Selbstverständnis der Wissenschaft deutlich, die glaubt, man könne Leid durch Farbfotografien des Hirns besser erfassen, als wenn man politische Zustände analysiert und die von Unterdrückung und Zerstörung betroffenen Personen nach ihren Erfahrungen befragt.“ (Becker 2009: 68)

Dispositive Topographie des Traumatischen Der hier verwendete Begriff des Dispositivs geht auf den Philosophen und Historiker Michel Foucault zurück. Er betont die Verhältnisse zwischen Wissen, Norm und Subjektivität und versteht unter Dispositiv „Gesagtes ebensowohl, wie Ungesagtes “ (Foucault 1978: 119). Trauma ist als sinnhafter Gegenstand nicht einfach gegeben, sondern im dispositivtheoretischen Verständnis nach als gesellschaftliche, kulturelle Praxis (entlang machtvoller Regeln) hervorgebracht gedacht. Im Mittelpunkt stehen die Machteffekte, wie sich Trauma als diskursive Praxis in einem Netz von Institutionen, Gesetzen, Spezial- und Alltagsdiskursen etc. formiert und strategisch etabliert und wie Subjekte in diesem komplexen Zusammenspiel als ,dysfunktionale‘ Subjekte hervorgebracht werden. So werden Subjekte über eine strategische Praxis der Vulnerabilitätsordnung binär ,funktional/dysfunktional‘ erzeugt, indem sie in ihrem Denken, Wahr-Nehmen und Handeln als traumatisierte Subjekte adressiert und positioniert werden. Das neurobiologisch-medizinische Wissen ist hierbei Effekt des Traumadispositivs und seiner diskursiven Wahrheitspolitiken: So zeigt sich das Trauma über biologistische Naturalisierungen als eine ,Wahrheit‘ im Sinne einer nicht zu hinterfragenden, machtvollen Naturhaftigkeit, einer ontologischen Dysfunktionalität des Organischen. Trauma unter einer dispositivtheoretischen Perspektive zu betrachten, hat somit zur Folge, die komplexe Verschränkung von Subjektbildung, traumfigurativem Wissen und Machtrelationen offenzulegen. Damit rücken die historischkulturellen Bedingungen in den Vordergrund und die dominierenden, machtvollen Praktiken, die das Phänomen des Traumas unweigerlich mit der Frage nach Herrschaft zusammenführen.29 In Praktiken des doing traumadiscourse30 (Ertei-

29 Vgl. Bührmann/Schneider (2013: 24). 30 in Anlehnung an Füssel/Neu (2010: 214ff.).

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len einer PTBS-Diagnose durch medizinisch Befugte, Teilnahme an einer Stabilisierungsgruppe, Fortbildungen in Traumapädagogik, Informationsbroschüren für betroffene Eltern traumatisierter Kinder, Praktizieren von Trauma-Yoga etc.) wird nicht die Realität abgebildet, sondern die soziale Wirklichkeit des Traumas (was ein Trauma ist und wie sie zu behandeln ist) dispositiv hergestellt. Die Gegenstandskonstitution des Traumas findet ihren Vollzug in der diskursiven Praxis, so auch in der pädagogischen Praxis. Die herrschende normative Ordnung der Vulnerabilität orientiert sich an der Differenz normal/pathologisch im Sinne von ,funktional/dysfunktional‘, organisiert gesellschaftliche Strukturen und Praxen, kennzeichnet sich über das messbare Vorhandensein spezifischer Symptome, in einem spezifischen Zeitraum und durch ein objektivierbares Ereignis im Außen. Die subjektivierende Wirkweisen pathogener Adressierungen verlaufen entlang der normalisierenden Parameter der hegemonialen PTBS-Diagnose: Über regelstrukturierte Praxen der Differenzsetzungen gesund – krank, normal – unnormal, verletzbar – resilient werden aus Menschen mit leidvollen Erfahrungen kranke Subjekte, die vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels durch das normative Raster der ‚Fitness‘, der Selbstoptimierung und des Funktionierens fallen. Werde ich als ‚traumatisiert‘ angerufen, dann bin ich gefordert, mich ins Verhältnis zur normativen Vulnerabilitätsmatrix zu setzen, die meine leidvolle Existenzweise legitmieren oder de-legitimieren kann.31 Trauma als gesellschaftlich dominierende Diskursfigur entspringt einem institutionalisierten Wissenskomplex der Medizin, genauer gesagt dem Spezialdiskurs der Psychotraumatologie. Die Medizin und somit auch die Psychotraumatologie beschäftigen sich in der gegebenen Vulnerabilitätsordnung mit der Isolierung der Dysfunktion (Strassberg 2009: 107). Dieser hegemoniale Traumadiskurs – mitsamt seinem Wahrheitswissen und seinen Effekten auf das Individuum – entwickelt sich im Dispositiv, also in einem strategischen Netz unterschiedlicher Praktiken, durch die er spricht, in denen er sich zeigt, seine Wirkungen am Subjekt entfaltet und sich letztlich machtvoll materialisiert.32 Die durch das Dispositiv wirkenden Normalisierungsmechanismen bringen dabei die Grenzen, die Ausschlüsse hervor, die entsprechend der Matrix

31 Vgl. Brenssell i.d.B. 32 Das Sichtbare und Gegenständliche des Traumadiskurses zeigt sich demnach im Dispositiv als psychotraumatologische Abteilungen und traumatherapeutische Praxen (als materiale-architekturale Objekte), in psychotraumatologisch-wissenschaftlichen Messverfahren und in medizinisch-wissenschaftlichen Techniken (als diskursive Praktiken), in Gesetzesbeschlüssen, in PTBS-Diagnosen, in formalisierten kassenärztlichen Kalkulationen (als diskursive Objektivationen).

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der Vulnerabilitätsordnung Sagbarkeits- und Machbarkeitsfelder abstecken: Aus menschlichem Leid wird eine organische Dysfunktionalität. Ich führe die These ins Feld, dass das Traumadispositiv auf einen gesellschaftlichen Notstand (Foucault 1978: 120) hinweist: Der Notstand bezieht sich auf Ungewissheiten und Unsicherheiten, die im Zuge der Globalisierung, Digitalisierung und der Risikogesellschaft virulent geworden sind. Diese Unsicherheiten erzeugen ein Bedürfnis der Kontrolle, der Pseudoautonomie, der Steuerung und Verfügbarmachung einfacher, linearer Lösungen, wie sie sich in neoliberalen Gesellschaftsformationen bereits zeigen. Das Traumadispositiv ist daher dieser Lesart entsprechend eine Antwort auf die neoliberale Neuordnung der Gesellschaft33 bzw. eine Antwort auf das (gouvernementale) Regierungsproblem menschlicher Verletzbarkeit. Dem Traumadispositiv kommt damit die Funktion zu, die Gesellschaft strategisch zu normalisieren und zu hierarchisieren: So werden die verschiedenen Elemente, die unter dem Blickwinkel einer Zeit und in einer Kultur auf das Phänomen Leid antworten, in den strategischen Dienst des hegemonialen Traumadiskurses mit seinen Normen der Funktionalität gestellt, die durch das Raster des Neuroliberalismus34 laufen. Anerkennungsverhältnisse und die sozialen Grenzen von Leid Subjektivierung, d.h. zum Subjektwerden ist nicht außerhalb der Diskursivität zu verstehen, denn es sind die Diskurse, die normativ angeleitet werden und über diskursive Praktiken das Individuum zu einem spezifischen Subjekt konstituieren. Damit ist der Einzelne relational eingebunden im dispositiven Netz von Machtverhältnissen. Mit Judith Butler (2001) geht damit die These einher, dass es keine soziale Ordnung gibt, die dem Einzelnen gegenübersteht: Vielmehr durchdringen Normen den Einzelnen und ermöglichen seine soziale Existenz. So ist Trauma nicht im Inneren des Individuums zu verorten, sondern in der Gleichzeitigkeit von Erleben und Struktur – als gesellschaftliche Positioniertheit, die Leid in Form einer Pathologie in die Anerkennung bringt. Die Positionierung zum herrschenden Traumadiskurs ist damit immer ein Antwortverhalten, eine Responsivität, die zugleich durch mich hindurchgeht und mich formiert.

33 Auch wenn der Begriff Trauma in seinen historischen Auseinandersetzungen v.a. in den 70er und 80er Jahren Ausdruck einer politischen Praxis der Anerkennung für menschliche Leids war, fungiert Trauma heute als Dispositiv im Zeichen einer neoliberalen Gesellschaftsordnung, deren Währung das Ökonomische ist (vgl. Fuchs i.d.B.). 34 Vgl. Fuchs i.d.B.

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So ist nicht jedes Leid anerkennbar, sondern nur solches, welches (durch eine sprachliche Markierung als performative Praxis) aus einem Jemand einen Traumatisierten macht. Diese Differenz ermöglicht Anerkennung, indem gleichsam ein riskanter Verlust einhergeht, der das Andere des Leids ausschließt, welches sich nun eben auf der ‚anderen Seite‘ der Psychotraumatologie bewegt. Anerkennungsverhältnisse machen sich demnach am „Gitter der Lesbarkeit“ (Butler 2012: 73) fest, daran, mit welcher Ordnung der Vulnerabilität Akzeptabilität hergestellt werden kann. Normen wirken dann gewaltvoll, wenn die Möglichkeit sozial zu existieren entzogen wird und wenn Leid ausschließlich als Posttraumatische Belastungsstörung zu einer „nicht-lebbaren Zumutung“ wird (ebd.: 339). Indem Normen die Anerkennbarkeit über Ein- und Ausschluss aus gesellschaftlichen Zusammenhängen also regeln, markieren sie immer auch den Teil, der nicht ins Leben gebracht werden kann, der Ungesagt und Ungetan offen bleibt. Und dies trifft vor allem Menschen, die eine erhöhte Angewiesenheit, eine erhöhte Verletzbarkeit haben, die durch das produktive Funktionalitätsraster hindurchrutschen. „Manchmal geraten Normen, die die Anerkennung regeln, gerade dadurch in die Krise, dass der Andere nicht anerkannt werden kann.“ (Butler 2007: 36). Werden Kinder und Jugendliche in die normalisierende Wissensordnung hineingerufen, dadurch in die Sozialität gebracht, dann entfalten die Normen der Vulnerabilitätsmatrix ihre Wirkung am Einzelnen: „Die Einpassung geht einher mit dem Zwang, sich selbst zu gleichen, um anerkannt zu sein. [...] Betreffende müssten sich jeden Morgen in der Schule wieder in das ‚TraumaGefühl‘ hinein positionieren, um als glaubhaft traumatisiert zu gelten: dadurch derselbe/dieselbe wie gestern sein zu können. Eine Anrufungsdynamik kohärenter, traumatisierter Identität würde sich so entfalten.“ (Wuttig 2016: 216).

Trauma als Dispositiv verweist auf das uneingeschränkte Eingebundensein in die normalisierende medizinische Wissensordnung, deren Wahrheitspolitik die Erfahrungsebene durchzieht und Gefühle formiert. Unter Rekurs auf Cvetkovich (2003) formuliert Wuttig, „dass politische Systeme und gesellschaftliche Machtund Herrschaftsverhältnisse Gefühlsarchive, traumatische Archive bilden“, (ebd.: 257), worin die gesellschaftliche – symbolische und physische – Gewalt der sozialen Ordnung, sich einverleibend fortschreibt. Wuttig verortet die Schlagkraft der Verletzbarkeit in dieser Inkorporation normierten Wahrheitswissens, das schmerzhaft, da nicht sagbar, mit Nietzsche mnemotechnisch materialisiert wird. Darin figuriert sich eine somatische Erinnerungsspur im Zeichen der herrschenden Ordnung und installiert einen somatischen Nachhall, der die trau-

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matische Dimension bildet (ebd.: 277f.). Diskurse verdichten sich mit subjektivem Erleben, formieren Erfahrung und sind somit tief in den Körper eingelassen. Darin zeigt sich, dass „wir mit dem Anderen ‚bis aufs Blut‘ verwoben sind. Es ist nicht mehr möglich, erst ein einzelnes Wesen zu denken, dann die Körperlichkeit und dann ‚irgendwie‘ die Sozialität. Einen Körper zu haben heißt leiblich zu sein, d.h., dass wir immer Formierungen ausgesetzt sind. In unser Fleisch, in unseren Körper schreiben sich diese Erfahrungen gleich Engrammen ein. Und der Körper vergisst nicht. Kinder, die missbraucht wurden, geschlagen, verwahrlost lebten, vergessen diese Erfahrungen nicht. Der Körper ist ihr eigener Körper, aber eben in der Form der Auslieferung an andere.“ (Stinkes 2013: 133)

Ausblick: Pädagogische Sorge Das verbindende Moment dieser ideengeschichtlich pluralen Auseinandersetzung mit den theoretischen Figuren der Existenz, Resonanz und Differenz zeigt sich im Moment der Relationalität, der existenziellen Unhintergehbarkeit des inder-Welt-Seins (Heidegger 1976), „der Trennung von Subjekt und Objekt vorausgehenden Grundbezogenheit als dem Urgrund für Weltpräsenz und subjektiver Erfahrung“ (Rosa 2016: 66), des unlesbaren Ichs als „Zeichen eines Anderen“ (Butler 2007: 95f.) in einer schon immer diskursiv vorläufigen Welt. Menschliches Leben spannt ein polares Spektrum auf, welches sich unter anderen zwischen den Polen des Staunens und Entsetzens ereignet. Die Gestalt des Traumatischen besetzt die Polarität des Entsetzens, unterbricht die Bewegung und verunmöglicht ein Changieren im Zwischen. In der Figur des Wohnens - als Changieren auf dieser Polarität - wird die dynamische Bezugnahme von ‚Haus‘ und ‚Welt‘ zum Thema der Bildung. Diese dynamische Spannung, die das Individuum ereilt, wenn es darum geht, bei sich im eigenen Haus zu sein und zu bleiben und in der Welt zu sein und diese zu bewohnen, kulminiert im Trauma. Pädagogische Herausforderungen beziehen sich vor dem Hintergrund der Oikeiosis – so die hier geführte These – auf die Gestaltung von Resonanzbeziehungen in der Auseinandersetzung mit Welt: Und diese kreist um die pädagogischen Kategorie care.35

35 Dies ist Thema meines Beitrages Sorge i.d.B.

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Die innere und äußere Beziehungsstörung Eine (psychoanalytisch-)pädagogische Perspektive auf das Phänomen Trauma D AVID Z IMMERMANN Das unbekannte Bekannte Die Publikationen der letzten Jahre zum Thema ,Trauma‘ haben auch für Fachleute ein unüberschaubares Maß angenommen. Hierzu haben Forschungserträge verschiedener Fachrichtungen beigetragen, unter anderem in der Psychiatrie (Rosner 2010; Kolk 2005), der Psychoanalyse (Bohleber 2012) sowie den Neurowissenschaften (Hüther u.a. 2010, 2012). Wesentliche Perspektiven auf das Phänomen ,Trauma‘ aus Sicht der entsprechenden Forschungsrichtungen werden auch in dem vorliegenden Band diskutiert und müssen deshalb an dieser Stelle nicht erneut wiedergegeben werden. Zudem liegen entsprechende Handbücher vor, in denen umfangreich der Forschungsstand wiedergegeben wird (Seidler 2013; Seidler u.a. 2011). Gleichwohl ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Trauma durch ein geringes Maß an Verbundenheit zwischen den Fachrichtungen geprägt. Auch in den Handbüchern werden die fachlichen Perspektiven eher parallel als miteinander verwoben diskutiert. Interdisziplinäre Auseinandersetzung findet bislang nur punktuell statt, so etwa zwischen den Neurowissenschaften und der Psychoanalyse (Leuzinger-Bohleber 2009). Zu den traumaforschenden Fachdisziplinen gehören traditionelle Handlungsfelder, primär die Kinder-, Jugend- und Erwachsenenpsychiatrie, die psychosomatische Medizin sowie verschiedene therapeutische Schulen. Zur Ausdifferenzierung traumabezogener Praxisbereiche hat auch die Entwicklung der Traumapädagogik beigetragen. Jenes Fachgebiet hat sich vor allem aus dem Handeln mit schwer belasteten Kindern und Jugendlichen heraus entwickelt (Kühn 2012). Es fundiert sich nicht zuletzt über die teils jahrzehntelangen Praxiserfahrungen der ideengebenden Professionellen in der sozialen Arbeit. Zur Traumapädagogik

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gibt es eine zwar zahlenmäßig noch verhältnismäßig kleine, aber doch intensive Publikationstätigkeit (Bausum u.a. 2013; Weiß 2009; Zimmermann 2012a). Neben entsprechenden Handbüchern, Sammelbänden und Monografien verweisen drei Themenhefte der Zeitschrift Trauma und Gewalt (Schmid/Fegert 2008, 2009; Streek-Fischer 2012) auf die Bedeutung des Fachgebietes innerhalb der Pädagogik genauso wie für den anstehenden interdisziplinären Austausch. Traumapädagogische Weiterbildungen genießen ein hohes Maß an Popularität, an vielen anbietenden Instituten sind entsprechende Kurse über Jahre hinweg ausgebucht. Demnach sollte es ein Leichtes sein, eine pädagogische Perspektive auf das Phänomen ,Trauma‘ zu formulieren. Ein genauerer Blick auf die vorliegenden Publikationen zeigt jedoch erste Schwierigkeiten auf. Verlässt die Traumapädagogik ihr angestammtes Habitat der praxisnahen Formulierung von Haltungen und Handlungen und begibt sich in die manchmal fremde Umgebung theoretischer Fundierung, bezieht sie sich bislang vor allem auf oben genannte Fachrichtungen. Trauma, auch jenes, das sich im pädagogischen Setting aktualisiert, wird stets über die ,starken‘ Bezugswissenschaften definiert. Die als pädagogisch deklarierten Definitionsversuche sind dabei nicht selten durch einen mehr oder weniger wahllosen Eklektizismus gekennzeichnet. So verweisen Scherwath und Friedrich (2012: 21 ff.) in einem insgesamt lesenswerten Buch zur Erläuterung des Phänomens ,Trauma‘ auf folgende Kategorien: Neurobiologische Auswirkungen, posttraumatische und komplexe Belastungsstörungen, Störungen der Bindungsentwicklung sowie Schuld- und Schamgefühle. In dieser Reihenfolge rekurrieren Sie demnach mehr oder weniger explizit auf Forschungsergebnisse der Neurowissenschaften, der Psychiatrie, der Bindungstheorie sowie der Psychoanalyse. Beckrath-Wilking u.a. (2013) verweisen zwar im Titel auf Traumapädagogik, die zahlreichen Kurzbeiträge zu den theoretischen Grundlagen der Psychotraumatologie beziehen sich aber ausschließlich auf klinische sowie bindungstheoretische Kategorien. Eine explizit pädagogische Perspektive, die die genannten Aspekte zusammenführen könnte, fehlt in beiden Fällen. Auch die vielfältigen Praxis- und Fallbeispiele traumapädagogischer Veröffentlichungen werden primär mithilfe der Bindungstheorie sowie der Psychoanalyse erläutert (Gahleitner 2011; Zimmermann 2015a). So denn das Traumaverständnis in pädagogisch relevante Haltungen und Handlungsmöglichkeiten überführt werden soll, ist eine fachbezogene Fundierung jedoch dringend notwendig. Ein Hintergrundwissen über neuronale Prozesse oder psychiatrische Symptomatiken mag von Interesse sein – traumapädagogische Professionalisierung kann es kaum vorantreiben. Im Gegenteil: Eine in dieser Art beschränkte Sichtweise auf Trauma konterkariert die

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Notwendigkeit pädagogischer Professionalität in der Arbeit mit den betroffenen Kindern und Jugendlichen und fördert gleichsam die Übergabe der Verantwortlichkeit an medizinische und psychologische Fachkräfte. Während die Traumapädagogik demnach an einer mangelnden praxisrelevanten Theoriebildung leidet, verstehen Fachkräfte aus Medizin und Therapie ihre Forschungsergebnisse und Handlungsstrategien als explizit pädagogisch relevant (Hantke 2012). Dies ist primär nicht zu kritisieren und entspricht einer langen Tradition der Integration von Bezugswissenschaften in die Pädagogik (Willmann 2012). Gerade im Hinblick auf die Schnittstelle von Jugendhilfe einerseits und Kinder- und Jugendpsychiatrie andererseits ist ein Austausch von Forschungs- und Praxiserfahrungen sogar explizit wünschenswert (Schmid 2010). Die Pädagogik muss für sich selbst jedoch Leitwissenschaft bleiben. Jenes Desiderat markiert gleichwohl eine große Herausforderung, da die Pädagogik als solche sehr verschiedene Traditionslinien aufweist. Ein gemeinsamer Nenner könnte heißen: Pädagogik beruht auf einer theoretischen und praktischen Auseinandersetzung mit einer hierarchisch organisierten Beziehung zwischen Erwachsenem und Kind (Benner 2010). Aufgrund der seelischen Verletzungen der Adressat_innen, mit denen Traumapädagogik definitorisch befasst ist, muss sie noch stärker als andere Subdisziplinen über jenen oben genannten Beziehungsaspekt gedacht werden. Zentrale Fragestellungen heißen demnach: Wie äußern sich schwere psychische Verletzungen in der pädagogischen Beziehung und welche Folgen hat ein solches Verständnis für die (zunächst theoretische) Formulierung pädagogischen Handelns? Der vorgelegte Beitrag versucht folgerichtig, die pädagogische Perspektive auf ,Traumatisierung‘ stärker von der Pädagogik selbst aus zu denken. Traumapädagogische Forschung und Praxis sollten dabei in enger Wechselseitigkeit gesehen werden: Eine profilierte Definition bedarf der Analyse der praktischen Erziehungstätigkeit. Letztere wiederum erfährt eine Stärkung durch die theoretische Fundierung. Die menschliche Beziehung in der pädagogischen Diskussion Die Pädagogik kann aufgrund ihrer starken Ausdifferenzierung sowohl hinsichtlich der Handlungsfelder als auch ihrer wissenschaftlichen Verortung schwer als einheitliches Gebilde erfasst werden. Ein „allgemein anerkanntes, diese leitendes und verbindendes pädagogisches Denken, Wissen und Können“ (Benner 2010: 17) ist nur schwer zu bestimmen. Als Grundprinzipien pädagogischer Theorie und Praxis gibt Benner (2010: 59) jene der Bildsamkeit und der Aufforderung zur Selbsttätigkeit an. Diese Prinzipien, so kann sinnhaft angenommen werden,

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können nur in unmittelbaren menschlichen Beziehungen ihre Bestimmung finden (Künkler 2011). Jene Beziehungen sind gekennzeichnet durch eine Generationendifferenz zwischen Erziehendem und zu Erziehenden, „in welcher [die] Identität [der Kinder] noch nicht als personale Charakterstruktur in Erscheinung tritt, sondern als eine strukturierte Beziehung des Selbst zu bestimmten Objekten“ (Hirblinger 2011: 227, Herv. i. O.). Zu entwickelnde Identität ist dabei nicht als statische Größe im Sinne eines einmal entwickelten und dann stets stabilen Seins aufzufassen. Pädagogisch gesprochen: Eine „Erziehungsbedürftigkeit“ (Benner 1980: 487) und Beziehungsfähigkeit des Menschen spiegelt sich lebenslang in wechselnden Identitätsanteilen. Gleichwohl verweisen nicht zuletzt Beziehungsanfragen schwer seelisch verletzter Menschen auch auf eine Suche nach stabilen Identitätskernen, die über wechselnde soziale Bezugssysteme hinaus Bestand haben können (Fickler-Stang 2009). In diesem Kontext benennt Bohleber (2012) die Zerstörung des Kontakts zu (stabilen) inneren Objekten als Kernmerkmal von Traumatisierung. In der unmittelbaren Bedeutung der Beziehung zwischen zwei Menschen findet sich so ein über die pädagogischen Schulen hinweg geltendes, allgemeines Kernmerkmal von pädagogischer Praxis wie auch ihrer theoretischen Fundierung. Die Parallelität von emotionaler, in Beziehung eingebundener und kognitiver Entwicklung gilt dabei heute als „Allgemeinplatz“ (Katzenbach/Ruth 2008: 61). Pädagogik ohne die Gestaltung der Beziehung zum Kind ist demnach kaum vorstellbar (Herz/Zimmermann 2014). Richtungsübergreifend dürfte es an dieser Grundannahme der Pädagogik kaum Kritik geben. Dennoch zeigen sich deutliche Unterschiede: Die verhaltensmodifikatorische Pädagogik sieht die Beziehung eher als Begleiterscheinung, bestenfalls als Basis darauf aufbauender Förderung: „Ungeachtet der geläufigen Rede von der hohen Bedeutung der Beziehungsarbeit in der […] Förderung wird zur Verbesserung sozial-emotionaler Kompetenzen letztlich doch eher auf curricular orientierte Trainings […] gesetzt“ (Katzenbach/Ruth 2008: 62). Einige der gerade in der Sonderpädagogik populären Förderkonzeptionen scheinen dem Psychologen Frazier in Skinners Roman Walden Two (1980) zu folgen: „Was ist das, Liebe?“, wird darin gefragt. „Doch nur ein anderer Name für die Anwendung von positiver Verstärkung“ (Skinner 1980: 266). Zwischenmenschliche Beziehung wird nach dieser Logik auf ein technizistisches Verständnis von pädagogischen Handlungen reduziert, demnach ihres Kerns enthoben. Den Gegenentwurf zu einer solchen weitgehend beziehungsleeren Handlungslogik liefert die Psychoanalytische Pädagogik. Konzeptionell stellt die Beziehung hier die Grundlage der Diagnostik und der ganzheitlichen Entwicklung

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selbst dar (Crain 2005). Die Beziehungsreflexion durch die Fachkraft dient demnach dem Verständnis der (beeinträchtigten) Entwicklung, durch die Gestaltung der Beziehung werden korrigierende Erfahrungen ermöglicht. Die mit erschwerten Lebenssituationen beschäftigten pädagogischen Teildisziplinen, etwa die Sonder-, ebenso jedoch die Traumapädagogik, haben in diesem Diskurs eine besondere Relevanz: Mit dem Fokus auf nachhaltige Störungen der Entwicklung lassen sich die Brüche zwischen entindividualisierten Förderverständnissen und auf die Beziehung selbst aufbauenden Haltungs- und Handlungsprämissen besonders gut aufzeigen. Ein technizistisches Modell von Handlungsanweisungen ist dabei in aller Regel kontraproduktiv und in diesem Sinne traumachronifizierend. Der Beziehungsbegriff sollte also als Ausgangspunkt für eine pädagogische Betrachtung des Themas ,Trauma‘ gewählt werden. Mit ihm kann, so eine erste Annahme, eine Reihe von Kernmerkmalen der Traumatisierung für den pädagogischen Kontext formuliert werden. Im Folgenden soll dieser Idee deshalb strukturierter nachgegangen werden. Die Psychoanalytische Pädagogik stellt dabei eine wichtige Referenz dar, da sie sich wie keine andere pädagogische Teildisziplin über „differenziertes und sorgfältiges Nachdenken über Beziehungsprozesse“ (Wininger 2012: 53) definiert. Sie beschäftigt sich mit der Analyse von emotionaler und sozialer Verbundenheit unter Einbezug unbewusster Anteile der inneren Welt wie auch des Interaktionsgeschehens. Trauma als Beziehungsstörung Die Zerstörung innerer Objekte Gelungene pädagogische Praxis besteht, soviel kann nun sinnhaft generalisiert werden, primär aus der Gestaltung von zwischenmenschlichen Beziehungen. Die realen zwischenmenschlichen Beziehungen sind jedoch nicht verstehbar, ohne die inneren Repräsentanzen des Kindes in den Blick zu nehmen. Das Kind entwickelt in der Beziehung zu anderen Menschen Vorstellungen von diesen und damit von sich selbst. Stern (2003: 143f.) spricht von „RIGs – Representations of Interactions that have been generalized“. Die in der psychoanalytischen Terminologie so genannten Fremd- und Selbstobjekte kennzeichnen demnach weniger Einzelinteraktionserfahrungen, sondern spiegeln die Menge der verinnerlichten Erfahrungen mit anderen Menschen. Diese innerpsychischen Objekte ergänzen sich mit den realen, aktuellen Beziehungserfahrungen, primär jenen mit den wichtigsten Umgebungspersonen. Gemeinsam bilden sie den „potentiellen Raum“ (Winnicott 2006: 111ff.), in dem innere und äußere Welt miteinander interagieren. Werden die primären wie auch die sekundären Beziehungspersonen

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(zu denen auch Pädagog_innen gehören) demnach als sicher und schutzgewährend erlebt, verinnerlicht das Kind eine Vorstellung der Umwelt, die haltend und vertrauensgebend ist. In der frühen Interaktion entstehen zudem Vorstellungen von Selbstwirksamkeit, demnach haltende Selbstobjekte. Erlebt das Baby und Kleinkind seine wichtigsten Beziehungspersonen als liebend und zuverlässig, kann es sich auch selbst als wirksame, zunehmend autonome Person verinnerlichen (Diem-Wille 2009). Eine wichtige Entwicklungsbedingung, mithin einen Katalysator zur Vermeidung von kumulativen Traumatisierungen1 (Solnit/Kris 1967), stellt ein so genanntes „Containing“ in den ersten Lebensjahren dar (Bion 1990: 177). Das Kind verfügt in diesem Alter noch nicht über ausreichend sichere innere Fremdund Selbstobjekte. Empfindungen wie Hunger, Angst in der Dunkelheit oder Kälte erlebt es deshalb als bedrohlich, teils als lebensbedrohlich. Gelingt der vor allem nonverbal angelegte Dialog zwischen den Bezugspersonen und dem Kind, können die Eltern die Emotionen des Kindes wahrnehmen. Sie nehmen dann, so die Theorie, die negativen Empfindungen in sich auf, um das Kind zu entlasten. Zu einem späteren Zeitpunkt kann das Kind die von den Eltern gereinigten Emotionen wieder in seine eigene psychische Struktur integrieren. Durch diese personal vermittelte Sicherheit werden äußere Belastungen für das Kind aushaltbar und verlieren ihren bedrohlichen Charakter (Gerspach 2002: 151f.). Gelingt dieser Dialog nicht oder nur bruchstückhaft, erlebt das Kind Frustrationen und Herausforderungen langfristig als nicht bewältigbar, teilweise überflutend. Traumatische Erfahrungen haben nunmehr einen überstarken Einfluss auf die Ausgestaltung der inneren Objektwelt: Mütter und Väter, die selbst schwer belastet sind, sind vielfach nicht sensitiv genug, um entsprechend mit ihren kleinen Kindern agieren zu können (Brisch 2000). Die psychische Energie emotional beeinträchtigter Männer und Frauen reicht nicht aus, um in diesen wichtigen Dialog mit den Kindern einzutreten. Dies hat Folgen für die emotionale und soziale Entwicklung des Kindes: „The more disorganised the parent, the more disorganised the child“ (Streek-Fischer/Kolk 2000: 903). Noch weitergehend: Zusätzlich

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Trotz unscharfer Rezeption in der traumatheoretischen, insbesondere traumapädagogischen Literatur: Mit kumulativen Traumatisierungen sind ursprünglich langfristige Belastungen auf der interpersonalen Ebene gemeint, die singulär keinen traumatischen Gehalt aufweisen, chronifiziert jedoch einen solchen entwickeln. Psychoanalytisch gesprochen: Der Reizschutz des Kindes wird dauerhaft verletzt. Hiervon unterscheiden sich die Sequentiellen Traumatisierungen, die, verkürzt dargestellt, singulär traumatische soziale Erfahrungen beschreiben, die sich innerpsychisch zu einem hoch wirkmächtigen Geschehen verdichten (Keilson 2006; Zimmermann 2012a).

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zu ihren eigenen Emotionen müssen die Kinder dann die Hilflosigkeit der Eltern ertragen. Sie werden unbewusst versuchen, die unaushaltbaren Emotionen der Eltern zu reinigen, mit dramatischen Folgen für ihre eigene Objektwelt: „Die Vorstellung von den Objekten ist von Misstrauen, Wut und Angst geprägt, die vom eigenen Selbst von Wertlosigkeit, Ohnmacht und der Überzeugung, auf die Objekte keinen Einfluss zu haben“ (Gerspach 2002: 147). Aus der psychoanalytischen Traumaforschung stammt noch eine andere wichtige Überlegung: Eltern mit traumatischen Erfahrungen müssen ihre eigenen Erinnerungen oft dissoziieren. Das heißt, kognitive Erinnerung und dazugehörige Emotionen werden abgespalten (Bohleber 2012: 154). Emotionen werden deshalb in den an die traumatische Erfahrung erinnernden Situationen, manchmal sogar generalisiert, als bedrohlich erlebt. Ist dies der Fall, ist die Fähigkeit zum Containing ängstigender Affekte massiv eingeschränkt. Werden so Objekte, mithin innere Beziehungsrepräsentanzen, ausgebildet, die die Welt feindlich und bedrohlich wirken lassen, kann dies in sinnvoller Weise als Traumatisierung aufgefasst werden. Die Kinder erleben dann auch neue Beziehungen als unzuverlässig und angsteinflößend. Der „unlösbare […] Konflikt“ (Beckrath-Wilking u.a. 2013: 97) dieser Kinder besteht in einem ungestillten Beziehungswunsch, gleichzeitig wird Nähe und Schutz als bedrohlich wahrgenommen. Die Kinder verhalten sich deshalb oft unberechenbar, teils aggressiv-ausagierend. Pädagogisch aber ist die übermäßige Angst als Kernmerkmal der traumadominierten Beziehungserfahrungen dieser Kinder entscheidend. Nur so lassen sich die nachhaltigen Störungen der Interaktion, auch der pädagogischen, verstehen. Die stark beeinträchtigten inneren Objekte als Folge von Beziehungsstörungen sind regelhaft Merkmal von frühen, kumulativen sowie sequentiellen Traumatisierungen. Traumatische Erfahrungen können jedoch auch, und dies mag ein deutliches Unterscheidungsmerkmal zu anderen belastenden Erfahrungen sein, vorhandene sichere Strukturen und Objektrepräsentanzen zerstören. Das Vorhandensein von Resilienzfaktoren im Sinne positiver Beziehungsrepräsentanzen kann dann nicht davor schützen, innerlich überflutet zu werden. Der Kontakt zu den haltenden Objekten geht in der traumatischen Situation verloren. Anders ausgedrückt: die Kraft der traumatischen Erfahrung ist ausreichend, um seelische Strukturen zu zersetzen. Die überwältigende Kraft der traumatischen Erfahrung erzeugt interindividuell Ohnmachtserfahrungen, gegen die die verinnerlichten haltenden Objekte nicht ausreichend schützen können. „Die kommunikative Dyade zwischen dem Selbst und seinen guten inneren Objekten bricht auseinander, was absolute innere Einsamkeit und Trostlosigkeit zur Folge hat“ (Bohleber 2012: 114). Die „dauerhafte Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses“ (Fischer/

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Riedesser 2009: 90) zeigt sich somit im Zusammenbruch der inneren Objektwelt. Dies wird dadurch verstärkt, dass traumatische Erfahrungen in ihrer Absolutheit der Macht-Ohnmacht-Beziehung an hochgradig gestörte ElternKind-Beziehungen erinnern. „Hier entsteht durch die erzwungene Regression eine Beziehungsqualität wie zwischen mächtigem ‚Erwachsenen‘ und ohnmächtigem ‚Kind‘, wie sie im familiären Trauma schon vorgegeben ist“ (Hirsch 2011: 44). Die innerpsychische Störung der Beziehung zu sich selbst und zu anderen kann deshalb als ein Kernmerkmal eines pädagogischen Traumaverständnisses gelten. Die als feindlich erlebten inneren Objekte hindern die betroffenen Kinder und Jugendlichen am Beziehungsaufbau zu neuen, auch pädagogischen Beziehungspersonen sowie in der Peer-Group. Eine gestörte Beziehung zu den inneren Selbst- und Fremdobjekten geht immer einher mit der Entwicklung starker Ängste, die sich symptomatisch sowohl in aggressiv-ausagierendem als auch depressiv-zurückgezogenem Verhalten zeigen können (Willmann 2012). Kinder und Jugendliche mit traumatisch belasteten Beziehungen zu sich selbst werden darüber hinaus im Lernen vielfach behindert, da sie kaum Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten entwickeln konnten. Die Reflexion dieser nachhaltig gestörten inneren Welt traumatisierter Kinder hilft, die als unverständlich geltenden Erlebens- und Verhaltensmodi der Kinder im pädagogischen Setting als subjektiv gut begründet nachzuvollziehen. Die belasteten äußeren Beziehungen Ausgehend von den verletzten, manchmal an den Grenzen zum Zusammenbruch befindlichen Beziehungen zu den inneren Objektrepräsentanzen, lässt sich eine weitere Dimension eines pädagogischen Traumabegriffs definieren: die traumatische Störung der realen Beziehung zu den Menschen der Umgebung. Dabei können zwei Aspekte unterschieden werden: Die Beziehungen zu den unmittelbar traumatisierenden Erwachsenen und jene zu weiteren Bezugspersonen. Lehrer_innen geben in einer aktuellen Untersuchung an, regelhaft mit stark vernachlässigten und mit Gewalt aufwachsenden Kindern zu arbeiten (Ullrich/Zimmermann 2014). Das heißt, die das pädagogische Arbeiten prägenden Belastungen entstammen in großer Mehrheit langfristigen Beziehungstraumatisierungen in den Familien. Jene menschlichen Beziehungen sind regelhaft durch eine nicht-integrierbare Ambivalenz geprägt. Denn die traumatisierenden Bezugspersonen sind in einer übergroßen Anzahl gleichzeitig nicht zu ersetzende Schutz- und Erziehungspersonen. Da das Kind aufgrund seiner fehlenden psychischen Reife auf die Schutzfunktion dieser schwer verletzenden Erwachsenen nicht verzichten kann, ist Spaltung ein traumalogischer, wenn auch nicht immer

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ausgebildeter Lösungsversuch der Betroffenen. Eine solche innerpsychische Spaltung ist subjektiv vielfach notwendig, um die guten Objekte zu schützen (Kreuter-Hafer 2012). Gleichzeitig bilden die verfolgenden Objekte eine permanente Quelle der Gefahr. Die Beziehung zu diesen Menschen wird nicht mehr integriert erlebt. Stattdessen werden verfolgende und schützende Anteile der Beziehungspersonen getrennt voneinander wahrgenommen. Es dominieren extreme Ängste vor erneuten Traumatisierungen einerseits und Rettungsfantasien durch die Beziehungspersonen andererseits. Trennungs- und Autonomiekonflikte, die zur kindlichen und adoleszenten Entwicklung hinzugehören, werden vor dem Hintergrund der traumatischen Beziehungserfahrung meist als lebensbedrohlich erlebt (Wolff 2012). Der entwicklungsförderliche Prozess der De-Idealisierung der Eltern kann mitunter nur schwer gelingen, da sie in diesem Fall als gute Identifizierungsobjekte nicht mehr erhalten bleiben würden (Bohleber 2006: 122). An der hoch gestörten Beziehung zu unmittelbar traumatisierenden Beziehungspersonen dürfte es demnach kaum Zweifel geben; sie erschließt sich aus der traumatischen Erfahrung der Kinder. „Ich glaube, dass der Kern jeder Traumatisierung in extremer Einsamkeit besteht. Im äußersten Verlassensein“ (Hart, zit. nach Huber 2007: 61). Diese populär gewordene Aussage trifft ganz sicher auch auf die beziehungstraumatisierten Kinder zu. Pädagogisch aber erscheint genauso wichtig, dass das Kind in seinem Angewiesensein selbst bei schwerer Traumatisierung versucht, das innere Band zu den guten Restobjekten aufrechtzuerhalten. Das Zerrissensein zwischen dem Bedürfnis nach Hilfe und Zuwendung einerseits und extremen Gefühlen von Angst sowie Panikattacken anderseits, bleibt für viele betroffene Kinder deshalb dauerhaft prägend (Felitti u.a. 2007). Die bildgebenden Verfahren der Neurowissenschaften zeigen die Unverbundenheit der neuronalen Korrelate in Form von Schächten auf. Mit ihren eigenen Methoden verweist demnach auch die Hirnforschung auf die Tatsache innerpsychischer Spaltung (Hüther u.a. 2010: 26). Für das Verständnis der pädagogischen Situation ist nunmehr die Erweiterung dieses Modells auf die Störungen der professionellen Beziehungen in der Übertragung entscheidend. Übertragung im psychoanalytischen Sinn bedeutet, dass verinnerlichte Erfahrungen die Wahrnehmung der neuen Beziehung stark beeinflussen. In neuen Interaktionspartner_innen werden demnach Aspekte früherer Beziehungspersonen gesehen. „Es gelingt [den betroffenen Kindern] nur unter großen Schwierigkeiten, tragfähige Beziehungen (erneut) aufzubauen und aufrecht zu erhalten“ (Ahrbeck 2006: 21). Aufgrund ihrer Abspeicherung vor allem im Unbewussten wirken traumatische Erfahrungen besonders stark auf die Wahrnehmung der aktuellen Interaktionssituation ein. Letztere kann kognitiv deshalb nur sehr einge-

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schränkt bewertet werden. Das Beziehungsverhalten der betroffenen Kinder und Jugendlichen wird somit nachhaltig von den aus der traumatischen Erfahrung stammenden Bedürfnissen und Notwendigkeiten geprägt. Die diesem Beziehungsverhalten zugrunde liegenden Ängste, aber auch die Bedürfnisse, können jedoch meist kaum formuliert werden: „Sprache als ausdrucksfähiges, erlebensnahes Medium steht nicht wirklich zur Verfügung“ (Gerspach 2009: 109). Aus diesem Grund kann die traumatische Erfahrung oft nur über als schwierig empfundenes Verhalten ausgedrückt werden. Der Zusammenhang von Misshandlungserfahrungen und Verhaltensproblemen ist dabei mittlerweile gut belegt (Desbien/Gagné 2007). Pädagog_innen treffen demnach in ihrer Praxis auf Kinder und Jugendliche, die ihre traumatischen Erfahrungen und die assoziierte Erlebenswelt in die Institutionen hineintragen und dort reinszenieren (Herz & Zimmermann 2015). Aus dem oben Beschriebenen wird jedoch deutlich, dass mit dem psychoanalytischen Begriff der Reinszenierung keine bewusste Darstellung, keine aktive ,Aufmerksamkeitssuche‘ gemeint sein kann. Vielmehr handelt es sich um eine unbewusste Darstellung des Erlittenen und der damit verbundenen Emotionen (Zimmermann 2015b). Mit diesem Verhalten lösen die traumatisierten Kinder und Jugendlichen eine enorme emotionale Involviertheit bei den Professionellen aus (Mack 2002). Psychoanalytisch gesprochen handelt es sich um starke Gegenübertragungsgefühle bei den Pädagog_innen. Dabei bilden Formen konkordanter (ein ,Mitschwingen‘ mit den Emotionen des Kindes) und komplementärer Gegenübertragung (Erleben von Gefühlen der ursprünglich traumatisierenden Erwachsenen) kein Gegensatzpaar, sondern emotionale Anteile, die oft in derselben Person vorkommen (Clarkin u.a. 2008: 63; Gerspach 2012: 149f.). Die Störung der pädagogischen Beziehung kann demnach gut aus den zurückliegenden traumatischen Erfahrungen der betroffenen Kinder und Jugendlichen erklärt werden. Die Begründung über ein Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen allein ist jedoch nicht ausreichend, insofern die aktuellen Umstände nicht im notwendigen Maß reflektiert werden (Zimmermann 2013). „Emotionale Katastrophenerfahrungen“ (Herz 2013: 59) erleben die traumatisierten Kinder und Jugendlichen auch im pädagogischen Kontext selbst. Hierzu gehören wiederholte Ausschlüsse aus Institutionen, in denen die Kinder und Jugendlichen als nicht tragbar gelten. Ebenso bedeutsam sind nicht-transparente Abläufe und auf Verhaltensmodifikation fixierte pädagogische Angebote. Eine damit verbundene weitgehende Verweigerung haltender Beziehungsangebote kann sinnhaft als traumatisches Bedingungsfeld verstanden werden. Somit schließt sich auch ein Kreis unter Maßgabe des notwendigen Abwehrmechanismus der Spaltung. In der ursprünglichen traumatischen Erfahrung

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des Kindes begründet, spiegelt er sich auch in den pädagogischen Beziehungen, konkret in den Gegenübertragungsgefühlen der Professionellen, wider. Professionelle können belastete Kinder dann nur noch als ,gut‘ und ,bedürftig‘ oder ,unaushaltbar‘ und ,böse‘ wahrnehmen. Diese reinszenierte Spaltung zu überwinden, ist eine genuin pädagogische Aufgabe mit dem Ziel, dem Kind oder Jugendlichen eine Veränderung dieses Erlebensmodus zu ermöglichen. Erleben von zwischenmenschlicher Nähe und Stabilität wird es demnach nur auf der Grundlage der Reflexion der traumatischen inneren und äußeren Beziehungserfahrungen geben können. Es bedarf der Analyse der aktuellen pädagogischen Situation unter der Maßgabe ,Sicherer Orte‘ – Aspekte, auf die die Traumapädagogik von Beginn ihrer Entwicklung an deutlich hingewiesen hat (Kühn 2012; Weiß 2009). Nur in diesem Rahmen können förderliche Beziehungsangebote, die korrigierenden Charakter für die Verinnerlichungen des Kindes haben, realisiert werden. Verstehen und Handeln Die gestörte Beziehung zu den inneren Objekten und den realen, insbesondere den pädagogischen Bezugspersonen, konnte nunmehr als ein Kernmerkmal eines pädagogischen Traumaverständnisses herausgearbeitet werden. Demnach muss auch das Verstehen der traumatisierten Erlebenswelt in der pädagogischen Praxis von der Beziehung aus konzeptualisiert werden. Die Grundlage eines pädagogischen Traumaverstehens bilden deshalb drei „Datensätze“ (Argelander 1970: 12ff.): Biografische Daten (inklusive aktueller Lebenssituation) Eine lebensgeschichtliche Anamnese stellt einen wichtigen Bestandteil des Verstehens dar. Insbesondere müssen die traumatischen Beziehungserfahrungen analysiert werden. Zwar lassen sich einige traumapädagogische Haltungs- und Handlungsleitgedanken auch ohne detaillierte biografische Kenntnisse umsetzen (vgl. Ding, i.d.B.). Zum Verständnis des individuellen traumatischen Prozesses ist jedoch ein möglichst genaues Wissen um die schweren Belastungserfahrungen nötig. Ist dies nicht der Fall, lassen sich die in der aktuellen Beziehung gewonnenen Informationen viel schlechter entschlüsseln (Zimmermann 2014). Subjektive Daten Unter subjektiven Daten sind die Erlebensweisen des Kindes, insbesondere die assoziierten Emotionen zu verstehen. Die Traumapädagogik arbeitet hierbei mit der Leitidee des „Guten Grunds“ (Weiß 2009: 173). Die Erlebensmodi des Kin-

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des oder Jugendlichen sind subjektiv insofern stets sinnvoll und auf seine lebensgeschichtlichen Erfahrungen bezogen. Es lassen sich sowohl generalisierte „Leitaffekte“ (Felitti u.a. 2007: 24) als auch auf spezifische Interaktionen oder Situationen bezogene subjektive Wahrnehmungen der Kinder und Jugendlichen entschlüsseln. Dennoch können gerade traumatische Erlebensmuster von den Kindern und Jugendlichen meist nicht symbolisiert werden. Das heißt, die Kinder und Jugendlichen können diesbezüglich keine oder kaum Emotionen benennen, oft erleben sie stattdessen körpernahe Empfindungen. Traumapädagogik ist deshalb ähnlich wie die Heilpädagogik auf die Entschlüsselung nicht-symbolisierbarer Informationen angewiesen (Gerspach 2009). In Fallberatungen übernehmen die Fachkräfte daher die Perspektive der traumatisierten Heranwachsenden. In IchSätzen rekonstruieren sie die Erlebensmodi des Kindes. Auch hierbei steht die Entschlüsselung der Emotionen im Vordergrund. Szenische Daten Pädagogische Fachkräfte benötigen zudem Informationen, die aus selbstreflexiven Prozessen stammen. Im Unterschied zu den subjektiven Daten ist damit kein Einfühlen in die innere Welt des Gegenübers gemeint. Vielmehr stehen die eigenen Affekte der Erwachsenen in der Interaktion mit dem traumatisierten Kind oder Jugendlichen im Mittelpunkt dieser Informationen. Denn im oben beschriebenen Modus traumatischer Übertragung und Gegenübertragung lassen sich über die Emotionen der Professionellen wesentliche Erfahrungs- und Erlebensmuster der Kinder und Jugendlichen entschlüsseln. Für die Analyse sind dabei alle Emotionen legitim, eine Tabuisierung von scheinbar ,unprofessionellen‘ oder ,unpädagogischen‘ Gefühlen ist nicht hilfreich. Gefühle der „Ohnmacht, sogar Angst […] bis hin zu Schuldgefühlen“ (Hirsch 2011: 77) stellen typische Reaktionen auf die Übertragungen traumatisch belasteter Heranwachsender dar. Fallvignette Michael ist elf Jahre alt und besucht eine fünfte Klasse einer Schule mit dem Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung. Im Kontext einer kollegialen, psychoanalytisch orientierten Fallberatung können folgende Daten rekonstruiert werden: Objektive Daten In der frühen Kindheit erlebt Michael emotionale Deprivation in der Beziehung zu seiner Mutter. Da sich diese nur zeitweise um den Jungen kümmert, ist er ge-

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rade abends bereits in den ersten Lebensjahren oft allein zu Hause. Im Alter von drei Jahren zieht Michael nach einer Inobhutnahme in ein Wohnheim für Kinder und Jugendliche. Dort lebt er bis zu seinem achten Lebensjahr in einer Wohngruppe mit wechselnden Bezugsbetreuern. Die Großeltern seines Halbbruders (die er selbst „Oma“ und „Opa“ nennt) nehmen Michael in diesem Alter bei sich auf. Soweit dies beurteilt werden kann, sind diese beiden sehr bemüht, gleichermaßen aber auch überfordert in der Erziehungsarbeit mit Michael. Der Kontakt zur Mutter ist sporadisch, Vereinbarungen werden von dieser oft nicht eingehalten. Es gibt zudem ein laufendes Gerichtsverfahren um die Vormundschaft für Michael, dessen Inhalte für alle an der Fallbesprechung Beteiligten etwas unklar bleiben. Michael besucht die genannte Schule seit der dritten Klasse, eine Umschulung in eine weiterführende Schule steht am Ende des Schuljahres an. Der Junge ist ausgesprochen klein und zeigt noch keine äußeren Anzeichen einer beginnenden Pubertät. Subjektive Daten Michael kann, insbesondere in der Zwei-Personen-Interaktion, gut beschreiben, was in ihm vorgeht. Besonders stark und schmerzhaft erlebt er die Sehnsucht nach seiner Mutter. Dabei hat er große Angst, dass sie erneut Verabredungen nicht einhalten könnte. Er begründet sein stark auffälliges „zappeliges“ Verhalten selbst damit, dass sich ihm unaushaltbare Gedanken aufdrängten, wenn er zur Ruhe kommen würde. Michael freut sich sehr über direkte Zuwendung Erwachsener, kann jedoch auch das gemeinsame Spiel mit Klassenkameraden genießen. Regelhaft unterbricht Michael jedoch Phasen der positiven Interaktion durch beleidigende Sprüche. In der Perspektivübernahme formulieren die Professionellen unter anderem folgende Ich-Sätze: Ich möchte gar nicht hier sein, sondern bei meiner Mutter. Ich möchte doch hier sein, denn ich mag euch. Lass mir meinen Glauben an meine gute Mutter! Eigentlich hab ich dich sehr gern, aber du darfst nicht besser sein als meine Mutter. • Manche Lerninhalte machen mir Spaß, aber sie sind mir oft nicht wichtig. • • • •

Szenische Daten In der Arbeit mit Michael erleben die beteiligten Lehrer_innen sehr gegensätzliche eigene Emotionen: Gefühle der Mütterlichkeit bzw. Väterlichkeit werden ergänzt durch eine generalisierte Sympathie und den Wunsch, den Jungen schützen

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zu wollen. Dem gegenüber stehen Gefühle der Wut und Entwertung, die mit Michaels unberechenbarem Verhalten, insbesondere seiner so empfundenen Undankbarkeit in Verbindung gebracht werden. Mehrere Fachkräfte äußern den Wunsch, den Jungen „richtig durchzuschütteln“, damit er im Hier und Jetzt ankomme. Interpretation In allen drei Datensätzen zeigen sich die für Michael traumatischen Ambivalenzen seiner Beziehungserfahrung und seines Erlebens. Haltenden realen Beziehungen stehen tief traumatische Verinnerlichungen, insbesondere der frühen Erfahrungen, gegenüber. Aber auch die aktuellen Beziehungen zu den nichtleiblichen Großeltern und zu den pädagogischen Fachkräften sind von massiven Unsicherheiten geprägt. Das Vormundschaftsverfahren einerseits und der anstehende schulische Übergang andererseits, repräsentieren diese Unsicherheiten auf der äußeren Ebene. Traumapädagogisch lassen sich nunmehr folgende Kernthemen rekonstruieren: • Der traumatische Prozess ist nicht abgeschlossen. Der Verlust der Mutter wird

stets aufs Neue erlitten. Auch die schulischen Beziehungen sind für Michael aufgrund des anstehenden Wechsels hochgradig gefährdet. Die in Herkunftsfamilie, Heim und Schule erlebten personalen Abbrüche interagieren innerpsychisch miteinander; Michael erlebt sich als ausgeschlossen und ungewollt. • Michael benötigt das haltende Restobjekt der leiblichen Mutter, d.h. eine Vorstellung, dass diese trotzdem auch gut ist. Die die Spaltung bedingende Erfahrung aus Verlassenwerden und existentieller Bedürftigkeit reinszeniert er in der Schule. So lassen sich denn die widersprüchlichen Beziehungsgestaltungen, die starken Wünsche nach Zuwendung wie die plötzlichen Abbrüche, als subjektiv sinnvoll nachvollziehen. Die auffälligen Widersprüche innerhalb der Perspektivübernahme und in den Gegenübertragungsgefühlen sind als Widerspiegelung der inneren Ambivalenzen Michaels zu verstehen. • Ein derart angelegtes Verstehen der traumatischen Beziehung dient nunmehr in mehrfacher Hinsicht der pädagogischen Professionalisierung. • Das hoch unruhige Verhalten ist deutlich auf die traumatischen Ängste zurückzuführen. Michael kann das sogar selbst benennen. Das heißt: Eine Verhaltensänderung bedingt unzweifelhaft eine sensible Thematisierung dieser Ängste, ohne dass Pädagogik hier den Auftrag des Durcharbeitens hätte. Noch weitergehend: Verhaltensmodifikation ohne die Integration der traumatischen Angst dürfte letztere noch verstärken und zu gravierenderen Symptomatiken

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führen. Es zeigt sich (wie nach vielen anderen Fallbesprechungen), dass bereits die Thematisierung dieses Zusammenhangs mit einer entsprechenden Haltungsänderung der Professionellen einhergeht und zu einem besseren Miteinander mit Michael führt. Zielgerichtete Handlungen (z.B. die Integration des ,Sicheren Ortes‘ in den Unterricht) ergänzen diese innere Veränderung bei den Professionellen. • Michael wünscht sich haltende und gute pädagogische Beziehungspersonen, gleichzeitig dürfen diese aber als Objekte die Beziehung zu seiner verinnerlichten Mutter nicht gefährden. Die Abbrüche, die Michael gerade in positiven Beziehungsentwicklungen immer wieder herbeiführt, werden vor diesem Hintergrund nachvollziehbar. Die Fachkräfte können ihre eigenen Gefühle als Teilhabe an Michaels erlebter Enttäuschung genauso verstehen, wie als Anfrage an die aktuelle Beziehung. Hat letztere trotz der Beschimpfungen Bestand, kann Michael nach und nach verinnerlichen, dass zwischenmenschliche Beziehungen nicht stets zerstört werden müssen. Eine derartige Reflexion der Emotionen seitens der Professionellen ist in pädagogischen Kontexten vielfach nicht etabliert, wird teils sogar als unprofessionell gebrandmarkt. Werden die starke affektive Involviertheit von Kind und Erwachsenem jedoch nicht reflektiert, zeigt sie sich symptomatisch in verstrickten Beziehungsgestaltungen. Aufgrund der starken emotionalen Beteiligung fällt es Lehrkräften dann oftmals schwer, ein extrem unterrichtsstörendes Verhalten als ,Überlebensstrategie‘, demnach als das Ergebnis der bisherigen traumatischen Erfahrung eines Kindes oder Jugendlichen zu verstehen. Sie reagieren dann wenig integrierend, es dominieren entweder strafend-verhaltensmodifikatorische Elemente oder ebenso wenig hilfreiches Gewährenlassen. Hierbei ist somit erneut der Beziehungsmodus ,Spaltung‘ bedeutsam: Die traumatisch beeinflussten Beziehungsangebote der Kinder und Jugendlichen legen dann nahe, die Pädagogin oder der Pädagoge dürften nur gut oder nur strafend sein. Nimmt die professionelle Person dieses wirkmächtige Angebot auf, ohne es vor dem Hintergrund der Lebenserfahrung und der aktuellen Beziehung zu reflektieren, wird sie in einer der angebotenen Formen handeln. Die Vorannahme des Kindes wird dabei in traumatischer Weise bestätigt. In der psychoanalytisch-pädagogischen Reflexion hingegen öffnen sich Möglichkeiten, die biografische Bedingtheit und die aktuelle Beziehungsanfrage des Kindes im Verhalten zu entschlüsseln. Mit einer letztlich einfachen Struktur ermöglicht derartige Reflexion bereits in der Fallbesprechung einen emotionalen Diskurs. Obwohl dies bei Fachkräften auch Unsicherheiten auslösen kann, überwiegen letztlich die Vorteile im Vergleich zu hoch komplexen Analyseanleitun-

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gen (vgl. Schmid/Lang 2015). Im Mittelpunkt verbleibt das subjektive Sinnverstehen. Denn mit dem Verhalten des Kindes ist immer auch ein Lösungsversuch verbunden. „Das heißt, die Reinszenierung ist stets als Anfrage an die aktuelle professionelle Beziehung zu verstehen. Sie bildet demnach die Klammer aus Vergangenem und Aktuellem“ (Herz/Zimmermann 2014: 156). Die pädagogische Haltung dem Kind gegenüber verändert sich im Kontext der Reflexion und mit ihr auch die professionellen Handlungsmöglichkeiten. Beziehungsarbeit als kontinuierliche Herausforderung Im Fokus des hier vorgestellten Traumaverständnisses stehen die gefährdeten, manchmal zerstörten inneren und äußeren Beziehungen zu anderen Menschen. Dies gilt zunächst für die Beziehungen zu den unmittelbar traumatisierenden Erwachsenen. Noch stärker kennzeichnend als Verlust und Einsamkeit ist dabei eine oft unvermeidliche Spaltung in gute und verfolgende Anteile dieser Personen. Ein solcher traumatischer Erlebensmodus spiegelt sich in der pädagogischen Arbeit. Die Kinder und Jugendlichen bringen ihre Wünsche und ihre Verletzungen primär unbewusst in die Interaktion in Schule und Jugendhilfe ein. Der Abwehrmodus ,Spaltung‘ bedingt dabei absolute Erwartungen; kleine Enttäuschungen müssen regelhaft mit dem Abbruch der Beziehung beantwortet werden. Es ist deshalb die primäre Anforderung an die dortigen Professionellen, diese Beziehung zu reflektieren und unter Maßgabe der korrigierenden Beziehungserfahrungen zu gestalten. Traumapädagogische Methodiken im engeren Sinn nehmen demgegenüber eine dienende Rolle ein. Mit diesem Ansatz ist ein besonders hohes Maß an Selbstreflexion gefordert. Neben der intensiven Auseinandersetzung mit der Geschichte und dem Erleben der Kinder fordert dieser pädagogische Zugang auch zur Analyse der eigenen Biografie auf. Denn die wirkmächtigen Gegenübertragungsgefühle auf die Beziehungsangebote von Kindern wie Michael bestimmen die Reaktionen der Fachkräfte nachhaltig mit. Es sind zudem die eigenen lebensgeschichtlichen Erfahrungen der Lehrkräfte, die unbewusst einen massiven Einfluss auf die Wahrnehmung von und den Umgang mit diesen Kindern haben (Wininger 2012; Weiss 2002). Dies gilt entgegen mancher Annahme besonders dann, wenn die Übertragungen und die eigenen Emotionen nicht reflektiert werden. Nur die Wahrnehmung und Analyse der emotionalen Beteiligung aller ermöglichen einen traumapädagogischen Umgang mit den schweren seelischen Verletzungen. Somit lassen sich zwei Kernthemen der pädagogischen Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen herausarbeiten:

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Die Gestaltung der aktuellen Beziehungen bedingt eine traumapädagogische Haltung bei den Professionellen. Diese setzt Fallanalysen voraus, bei denen objektive, subjektive und szenische Daten die Grundlage des Traumaverständnisses bilden. Die traumatischen historischen Beziehungserfahrungen werden in der Schule nicht tabuisiert. Sie prägen, ohne explizit durchgearbeitet zu werden, das verbale und nonverbale Miteinander. Diese Akzeptanz des lebensgeschichtlichen Leids wirkt deutlich angstreduzierend und ermöglicht eine Integration der traumatischen Erfahrung in die Identität der Kinder und Jugendlichen. Literatur Ahrbeck, Bernd (2006): Das schwierige Kind: Innenwelt, äußere Realität, Verhaltensgestörtenpädagogik. In: Ahrbeck, Bernd/Rauh, Bernhard (Hg.): Der Fall des schwierigen Kindes. Therapie, Diagnostik und schulische Förderung verhaltensgestörter Kinder und Jugendlicher. Weinheim, Basel: Beltz, 17-37. Argelander, Hermann (1970): Das Erstinterview in der Psychotherapie. Darmstadt: Wiss. Buchges. Bausum, Jakob/Besser, Lutz-Ulrich/Kühn, Martin/Weiß, Wilma (Hg.) (2013): Traumapädagogik. Grundlagen, Arbeitsfelder und Methoden für die pädagogische Praxis. 3. Aufl. Weinheim: Juventa. Beckrath-Wiling, Ulrike/Biberacher, Marlene/Dittmar, Volker/Wolf-Schmid, Regina (2013): Traumafachberatung, Traumatherapie & Traumapädagogik. Ein Handbuch für Psychotraumatologie im beratenden, therapeutischen & pädagogischen Kontext. Paderborn: Junfermann. Benner, Dietrich (1980): Das Theorie-Praxis-Problem in der Erziehungswissenschaft und die Frage nach Prinzipien pädagogischen Denkens und Handelns. In: Zeitschrift für Pädagogik, 26/1980, 486-497. Benner, Dietrich (2010): Allgemeine Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns. Weinheim, München: Juventa. Bion, Wilfred R. (1990): Lernen durch Erfahrung. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Bohleber, Werner (2006): Adoleszente Gewaltphänomene. Trauma, Krisen und Sackgassen in der jugendlichen Entwicklung. In: Leuzinger-Bohleber, Marianne/Haubl, Rolf/ Brumlik, Micha (Hg.): Bindung, Trauma und soziale Gewalt. Psychoanalyse, Sozialund Neurowissenschaften im Dialog. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 121-141. Bohleber, Werner (2012): Was Psychoanalyse heute leistet. Stuttgart: Klett-Cotta. Brisch, Karl Heinz (2000): Bedeutung von Vernachlässigung und Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen aus Sicht der Bindungstheorie. In: Finger-Trescher, Ur-

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ÄUSSERE

B EZIEHUNGSSTÖRUNG

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Trauma zwischen Diagnostik und Verstehen Ein Plädoyer für eine kritisch-reflexive Haltung im pädagogischen Umgang mit vulnerablen Kindern L ENA H ARTMANNSBERGER „Es gibt im Leben Augenblicke, da die Frage, ob man anders denken kann, als man denkt und anders wahrnehmen kann, als man sieht, zum Weiterschauen und Weiterdenken unentbehrlich ist.“ FOUCAULT 1986: 15, EIG. HERV.

Der Begriff Trauma ist in den letzten Jahren „zum Modewort geworden“ (Becker 2006: 151) und das psychiatrische Konzept der ‚posttraumatischen Belastungsstörung‘ (PTBS) erlebt gegenwärtig eine geradezu inflationäre Verbreitung (Frances 2013: 228ff.). Inmitten einer „sich zunehmend unter klinischen Gesichtspunkten beobachtende[n] Gesellschaft“ (Schrödter 2013: 1751) konnte sich mit der PTBS „ein medizinalisiertes Traumaverständnis“ (Becker 2006: 73) durchsetzen, das in Orientierung an den erklärenden Naturwissenschaften versucht, das Leid der Betroffenen über objektiv beobachtbare, ,greif-bare‘ Symptome zu ,be-greifen‘ und zu durchschauen. Wurde dieser „Tunnelblick“ (Reddemann 2015: 225) auf die messbaren Oberflächenphänomene, wie er für die „modernen operationalen Klassifikationssysteme des ICD und des DSM psychiatrischer Störungen“ (Kraus 2008: 209) charakteristisch ist, lange Zeit kaum ernsthaft hinterfragt, so scheint der seit vielen Jahrzehnten gültige Konsens über den Wert der operationalen Diagnosemanuale zunehmend ins Wanken zu geraten. So prangert Becker (2006: Klappentext) an, dass „die moderne Psychiatrie“ noch immer am „nutzlosen und krankmachenden Begriff der posttraumatischen Belastungsstörung“ festhält, während Frances (2013: 56) vom überdiagnostizierten „Stigma PTBS“ spricht und Weisser (2005: 36) kritisiert, dass die Diagnose-

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kategorie „mehr zudeckt als aufdeckt“, indem sie über die Konstruktion einer scheinempirischen Wahrheit „das Denken am Denken [hindert]“. Angesichts dieser deutlich vernehmbaren Stimmen, die sich gegen die diagnostische Praxis eines „biologisch-medizinischen Mainstream[s]“ (Wenke 2006: 82) richten, drängen sich dem kritischen Geist unweigerlich die folgenden Fragen auf: „Was erfasst die Diagnose ‚posttraumatische Belastungsstörung‘, was geht darin verloren?“ (Brenssell 2014: 125) Worin besteht „die verführerische“, worin „die zerstörerische Kraft dieses Konzeptes“ (Becker 2006: 184f.)? Ist die „Optik eines Mediziners“ wirklich zielführend, wenn es darum geht, „[i]ndividuelles Leid anzuerkennen und zu verstehen“ (Becker 2006: 10)? Können wir der ,Wirklichkeit‘ vielleicht etwas anders begegnen, indem wir weiterschauen, weiterdenken und angesichts der Widersprüche in den „fein verästelten Denkweisen der Herrschenden“ dem „Wunsch nach Veränderung [nach]spüren“ (Brenssell/Weber 2014: 10)? Da sich auch die Pädagogik − will sie „ihren spezifisch humanen Sinn“ (Wenke 2006: 132, Herv. i. O.) im Umgang mit vulnerablen Kindern1 nicht ver-

1

Das Vulnerabilitätsverständnis dieses Beitrags distanziert sich bewusst von klinischpsychiatrischen Definitionsversuchen, die dem Phänomen der „Verletzlichkeit oder Verletzbarkeit“ (Baader 2015: 80) die Bedeutung einer „persönlichen Disposition für die belastungsabhängige Entwicklung eines bestimmten Problemverhaltens (oder einer Störung)“ (Fingerle 2016: 422) einschreiben. Vielmehr soll das Sprechen über ,vulnerable Kinder‘ umorientiert werden, indem der psychiatrischen Verortung des Vulnerabilitätskonzeptes eine andere ,Wahrheit‘ entgegengestellt wird, welche sich fernab eines pathologisierenden Begriffsverständnisses positioniert: Das Phänomen der Verletzlichkeit erscheint an „Lebensphase[n] oder Lebenslagen“ gekoppelt, „deren Eintreten durch die Betroffenen nicht aktiv verhindert werden kann“ (Fingerle 2016: 424). So ist aus konstitutionstheoretischer Perspektive festzuhalten, dass Vulnerabilität (im weiteren Sinne) untrennbar mit der menschlichen Existenzweise verknüpft ist: Sie ist „grundlegende Dimension und Folge der leiblichen und psychischen Bedürftigkeit“ und damit „niemals grundlegend aufgehoben“ (King 2015: 25). Die Lebensphase der Kindheit scheint jedoch mit „gesteigerter Verletzlichkeit“ (ebd.) einherzugehen − schließlich impliziert die „basale Angewiesenheit“ (ebd.) des Kindes eine besondere „Abhängigkeit vom Anderen“ (King 2015: 27) und von „konstruktive[n] Ermöglichungsbedingungen des Heranwachsens“ (King 2015: 25); werden diese von einer Gesellschaft nicht bereitgestellt (oder finden sich gar ,Verhinderungsbedingungen‘ für kindliche Entwicklung, z.B. in Form von verletzenden Ohnmachtserfahrungen), so erwerben vulnerable Kinder im Zuge ihres Aufwachsens eine besondere Verletzlichkeit (Vulnerabilität im engeren Sinne), die einer ,gesunden‘ Entwicklung jedoch nicht

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lieren − eben diese Fragen stellen muss, möchte der vorliegende Beitrag philosophische Denkanstöße liefern und dazu anstiften, dem mächtigen PTBSDiskurs selbstbewusst ,die pädagogische Stirn‘ zu bieten. Hierfür soll dem klinischen Blick auf das Phänomen ,Trauma‘ (Kapitel 1) eine andere Denk- und Wahrnehmungspraxis entgegengesetzt werden, die die psychiatrische Wirklichkeitskonstruktion zu irritieren vermag: Mithilfe der Philosophie sind ,blinde Flecken‘ des PTBS-Diskurses offenzulegen (Kapitel 2), wobei im Kontext der hier skizzierten Problemstellung primär zwei philosophisch geschulte Denker lohnende Einsichten versprechen: Karl Jaspers, der vielleicht erste “philosopherpsychiatrist“ (Fulford u.a. 2004: 132), der als „hellsichtiger Diagnostiker unserer Gegenwartskultur“ (Gerdsen 2011: 193) stets die Notwendigkeit betonte, psychiatrische Grundbegriffe und -methoden philosophisch zu ergründen (Luft 2008: 32), sowie Michel Foucault, ein Meisterdenker, der sich „den Regularitäten von Diskursen“ widmete, um „neue Sichtweisen auf vermeintlich altbekannte Gegenstände“ aufzuschließen (Kammler u.a. 2008: VII)2. Ihr philosophischer Blick scheint in der Lage, das verletzende Potential des PTBS-Diskurses offenzulegen, indem mitunter illustriert wird, inwiefern das Denken in Kategorien daran scheitert, „physische und psychische Vulnerabilitätserfahrungen“ (Ecarius 2015:155) zu verstehen und verletzte Kinder „in ihrer konkreten Existenz anzuerkennen“ (Winkler 2008: 125). Mit dem Wissen um die (philosophischen) ,Leerstellen‘ der PTBS-Diagnose gilt es sodann einen pädagogischen Ausweg aus der „Sackgasse“ (Becker 2006: 10) einer falsch verstandenen Diagnostik (Wenke 2006: 10) zu skizzieren, indem (in Kapitel 3) die „Schlüsseldimension“ (Schwer/ Solzbacher 2014: 7) einer professionellen, kritisch-reflexiven Haltung nicht nur implizit mitgedacht sondern bewusst expliziert sowie die Notwendig-

im Wege steht. Über diesen Annäherungsversuch hinaus ist eine diskursanalytische Erweiterung des Vulnerabilitätskonzeptes zu bedenken, welche die gesellschaftlich bedingte „(Re-)Produktion von Vulnerabilität“ fokussiert und mit Foucault davon ausgeht, dass „Vulnerabilität als Effekt spezifischer Formen der Subjektivierung“ entsteht (Künstler 2015: 173). Besonders vulnerabel erscheinen folglich all diejenigen Subjekte, „denen innerhalb der diskursiven Ordnung spezifische (abgewertete) Subjektpositionen zugewiesen wurden“ (Künstler 2015: 174), weshalb Vulnerabilität stets nur in Bezug auf kulturell etablierte Differenzsetzungen fassbar wird. 2

Ob der Verschiedenheit ihrer Denksysteme (vgl. Fußnote 8) kann es dabei nicht Ziel dieses Artikels sein, Jaspers und Foucault stets widerspruchslos zusammenzudenken. Ihre Denklinien, welche sich oftmals komplementär verhalten, sind vielmehr zur skizzierten Problemstellung in Beziehung zu setzen, um neue Einsichten zu gewinnen, die eine kritisch-reflexive traumasensible Pädagogik letztlich befördern können.

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keit eines pädagogischen ,Alternativdiskurses‘ betont wird. Letztgenannter sollte Distanz zum PTBS-Diskurs wahren, indem davon abgesehen wird, dem diagnostischen Urteil „eine persönlichkeitscharakterisierende Allmächtigkeit zu[zuschreiben], die kaum noch einer kritischen Überprüfung unterliegt“ (Thole u.a. 2007: 316). Mit anderen Worten: Um vulnerable Kinder „als ,gebildete‘ und ,sich bildende‘ Menschen“ (Bosshard 2007: 7) bestmöglich begleiten zu können, sollten Pädagog_innen weder „enthusiastisch unkritisch[e] Anhänger“ der kategorialen Diagnostik sein, noch „alle ihre Leistungen in Abrede stell[en]“ (Frances 2013: 336); vielmehr sollten sie eine PTBS-Diagnose in kritischreflexiver Manier „quasi wie in Anführungszeichen [...] setzen“ (Reddemann 2015: 230) und dem klinischen Blick, der letztlich „antipädagogisch“ (Wenke 2006: 10) ist, einen auf Verständnis basierenden, anderen Blick (Gahleitner u.a. 2015: 9; Hantke/Görges 2012: 110) entgegensetzen. Der klinische Blick: Die PTBS im DSM-5 „[D]er Psychiater als Kliniker will eine Diagnose machen“ (Jaspers 1965: 471, Herv. i. O.)3, die die „individuellen Befunde und Beschwerden des einzelnen Patienten in ein wissenschaftliches Begriffssystem [einordnet]“ (Jäger 2015: 19). Hierfür richtet er seinen „[neutralen] klinischen Blick [...] auf die Erscheinungen“ − so Foucault (2011: 139)4 in seiner Charakterisierung des medizinischen Diskurses − und überprüft, inwiefern diese den Diagnosekritierien einer PTBS entsprechen. Tabelle in Anlehnung an das DSM-5 (Falkai/Wittchen 2015: 369ff.)5 PTBS: Diagnostische Kriterien für Erwachsene, Jugendliche und Kinder ab 6 Jahren A. Konfrontation mit einem oder mehreren traumatischen Ereignissen (d.h. mit tatsächlichem oder drohendem Tod, ernsthafter Verletzung oder sexueller Gewalt) B. Symptome des Wiedererlebens (belastende Erinnerungen oder Träu-

3

Auf Jaspers (1965) wird nachfolgend durch die Sigle AP (+ Seitenzahl) Bezug genommen.

4

Der Bezug auf Foucault (2011) erfolgt im Folgenden über die Sigle GK (+ Seiten-

5

Der Verweis auf Falkai/Wittchen (2015) erfolgt nachfolgend über die Abkürzung

zahl). DSM-5.

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me; dissoziative Reaktionen; Konfrontation mit Hinweisreizen bewirkt psychische Belastung oder körperliche Reaktion) C. Anhaltende Vermeidung traumaassoziierter Reize (z.B. Gedanken, Gefühle, Erinnerungen, Aktivitäten, Situationen oder Gegenstände) D. Krankhafte traumabezogene Veränderungen von Kognitionen oder der Stimmung (d.h. defizitäres Erinnerungsvermögen, übertriebene negative Erwartungen, fehlerhafte Kognitionen, negativer Gemütszustand, vermindertes Interesse, Gefühl der Abgetrenntheit oder Entfremdung von anderen, Negativität bzw. Unfähigkeit, positive Gefühle zu empfinden) E. Veränderungen des Erregungsniveaus und der Reaktivität (z.B. Reizbarkeit und Wutausbrüche, riskantes oder selbstzerstörerisches Verhalten, übertriebene Schreckreaktionen, Konzentrationsschwierigkeiten) Das Störungsbild dauert länger als einen Monat (F), verursacht Leiden / Beeinträchtigungen (G) und tritt nicht als Folge von Substanzkonsum oder eines medizinischen Krankheitsfaktors auf (H). Als eine „Feststellung von − im Kern − abweichenden Zuständen“ (Markard/ Kaindl 2014: 193, Herv. i. O.) setzt die klassische psychopathologisch-psychiatrische Diagnostik auf eine „explizit[e] und operationalisiert algorithmisch spezifiziert[e]“ (Wittchen 2011: 39) Ableitung der PTBS-Diagnose. Hierfür liegen deskriptive Kriterien auf der Symptom- und Syndromebene vor (Kriterien B-E), wobei „alle relevanten Ausschlusskriterien [F-H] ohne wesentlichen Interpretationsspielraum vorgegeben sind“ (ebd.). Trifft Kriterium A zu, so ist vom Diagnostiker zu ermitteln, inwiefern das „Hauptmerkmal“ der PTBS, „die Entwicklung charakteristischer Symptome nach der Konfrontation mit einem oder mehreren traumatischen Ereignissen“ (DSM-5: 373), als erfüllt gelten kann. Zu diesem Zweck greift er auf diagnostische Verfahren zurück, die eine möglichst standardisierte und objektive Erhebung des individuellen Ist-Zustands erlauben (DSM-5: 28f.). Zu vergeben ist die PTBS-Diagnose letztlich dann, wenn die „Schwelle“ des geforderten Symptom-Minimums „überschritten“ wird (DSM-5: 1009) und der Kliniker − nach differen-tialdiagnostischer Abklärung anderer Störungen (DSM-5: 380ff.) − zu dem Schluss kommt, dass „die verschiedenen Symptome am besten durch eine Diagnose PTBS erklärt werden können“ (Carrion u.a. 2013: 906, eig. Herv.).

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Der philosophische Blick auf die PTBS-Diagnose: Karl Jaspers und Michel Foucault Bis heute ist und bleibt die PTBS „die häufigste Art und Weise, wie weltweit Trauma erfasst wird“ (Becker 2006: 184). Dabei scheint es, als hätte der Siegeszug der kategorialen Diagnostik eine ,Verschwörung des Schweigens‘ ausgelöst, die nur noch jene zu Wort kommen lässt, die im Sinne einer ,psychiatrischen Wahrheit‘ agieren (Foucault 1973: 8ff.)6. Da in einer Gesellschaft jedoch verschiedene ,Wahr-heiten‘ existieren, gilt es nachfolgend unsere (diagnostischen) „Selbstverständlichkeiten ganz neu zu befragen“ (Wenke 2006: 153) und mit Jaspers und Foucault „andere Welten in der Welt zu denken“ (Weisser 2005: 95, eig. Herv.). Beide Philosophen haben dem klinischen Blick Enormes entgegenzusetzen, indem sie sich − zur provokativen Infragestellung etablierter ,Wirklichkeiten‘ bereit (Gerdsen 2011: 109; Sarasin 2006: 10) − den „Täuschungen“ und „Verschleierungen“ (Jaspers 2011: 26), den ,Grenzziehungen‘ und ,Ausschließungssystemen‘ (Foucault 1991: 13ff.)7 unserer Zeit widmen und damit letztlich auch Partei für all jene ergreifen, die von den „Limitationen“ (DSM5: 1009) der PTBS-Kategorie betroffen sind8.

6

Der Bezug auf Foucault (1973) erfolgt im Folgenden über die Sigle WG (+ Seiten-

7

Auf Foucault (1991) wird nachfolgend durch die Sigle OD (+ Seitenzahl) verwiesen.

8

Unter den Vorzeichen „einer gewissen thematischen Nähe und radikaler methodischer

zahl).

Divergenz“ (Schneider 2008: 179) scheinen sich Jaspers und Foucault vielversprechend zu ergänzen: Während erstgenannter die recht konkreten Inhalte psychiatrischen Denkens und die „Erfahrung des individuellen In-der-Welt-Seins“ (Waldschmidt 2007: 183) in den Fokus rückt, widmet sich letztgenannter den abstrakten Strukturen, die etablierten Wahrnehmungsmustern zugrunde liegen, dem „anonym generierte[n] Sinn“ (Schneider 2008: 180) und dessen Auswirkungen auf die „Subjektwerdung des Menschen“ (Veyne 2009: 107). Diese Komplementarität sollte jedoch nicht zu der Annahme verleiten, Jaspers und Foucault ließen sich stets widerspruchslos zusammendenken. Gerade im Kontext der Ontologiedebatte vertreten sie vielmehr divergierende Positionen, die keineswegs immer anschlussfähig sind. So geht Jaspers als namhafter Existenzphilosoph (Jäger 2015: 133) davon aus, dass das empirisch erforschbare Dasein des Menschen stets durch die Gesellschaft mitbedingt werde (AP: 595), während die Existenz und Transzendenz des Menschen etwas Unbedingtes darstelle, das den Blick auf den „Ursprung unseres Wesens“ (AP: 635) freigebe (vgl. Hoffmann 2001: 22-52). Von dieser Denklinie distanziert sich (v.a. der späte) Foucault deutlich, denn während er in jungen Jahren durchaus noch daran glaubte,

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In seiner Allgemeinen Psychopathologie illustriert Jaspers (1965), dass der klinische Blick, der nur „die Maßstäbe naturwissenschaftlicher Erkenntnis“ gelten lässt, übersieht, dass „stets auch noch anderes Verstehen möglich [ist]“ (AP: 296f, eig. Herv.). Verabsolutiert man das kausale Erklären objektiver Phänomene also zur einzig wahren Methode, so beraubt man sich der Option einer verstehenden Annäherung an die Seinserfahrung des verletzten Kindes (AP: 23ff.). Mit Foucault ist desweiteren zu zeigen, dass die PTBS-Diagnose primär als Grenze fungiert, mit der unsere „Kultur etwas zurückweist, was für sie außerhalb liegt“ (WG: 9): Der PTBS-Diskurs, der „auf ideologischen Figuren wie beispielsweise der Biologisierung, Pathologisierung und Personalisierung ver-rückter Phänomene aufbaut“ (Küpper 2014: 111), „reduziert“ und „entwaffnet“ das betroffene Kind, indem es ihm „den zerbrechlichen Status eines pathologischen Fehlers verleiht“ (WG: 12) und vulnerable Subjektpositionen letzten Endes erst hervorbringt (Künstler 2015: 180). Karl Jaspers und die ,Praxis des Erkennens‘ „Wer meint, die Philosophie ausschalten und sie als belanglos beiseite lassen zu können, wird von ihr in ungeklärter Gestalt überwältigt“ AP: 643F

Als Psychiater und Philosoph beschlich Jaspers schon früh das Gefühl, dass wir „im naturwissenschaftlichen Zeitalter“ (AP: 675, Herv. i. O.) zunehmend „den Menschen in seinem Sosein“ (AP: 673) übersehen. Durch philosophische Reflexion der modernen Wissenschaft wollte er „die kulturelle Prägung“ daher „auf einen humanen Weg“ zurückführen (Gerdsen 2011: 196), wobei seine Allgemei-

dass es hinter ,den Dingen‘ so etwas wie eine ursprüngliche Erfahrung und ein eigentliches Sein gebe, betreibt er in seinen späteren Schriften eine radikale „Dekonstruktion [...] ontologischer Wahrheiten“ (Bublitz 1998: 212), die auch das ,Sein‘ des Menschen betrifft: Foucault leugnet „die Existenz eines transzendentalen, mit Willen und Bewußtsein jenseits historisch-gesellschaftlicher Zusammenhänge ausgestatteten Stiftersubjekts“ (ebd.); der Mensch erscheint vielmehr stets als diskursiv konstituiertes „Subjekt moderner Gesellschaften“ (Bublitz 1998: 214). Sollte mit Foucault im Folgenden dennoch vom menschlichen ,Sein‘ (respektive ,Wesen‘) die Rede sein, so ist dies den oftmals vergessenen Anfängen seiner Philosophie geschuldet, die den phänomenologischen und daseinsanalytischen Ansatz respektierten und rezipierten (Novella 2008: 16, 51).

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ne Psychopathologie danach strebte, „das Menschsein“ auch im diagnostischen Prozess „nicht aus den Augen zu verlieren“ (AP: 648). Davon überzeugt, dass man dem Menschen „als offene Möglichkeit“ (AP: 640, Herv. i. O.) niemals durch das Operieren „mit bloßen Kategorien“ (AP: 33) gerecht werde, wollte er dem klinischen Blick eine humane „Praxis des Erkennens“ entgegensetzen, die nicht nur „Einzeltatbestände“ erfassen, sondern auch „Zusammenhänge“ erforschen und „Ganzheiten“ ergreifen sollte (AP: 22, Herv. i. O.). Nur so könne letztlich verhindert werden, dass sich das Diagnostizieren als ein „steriles Imkreisedrehen“ (AP: 18) entpuppe und komplexe Vulnerabilitätserfahrungen in der „Leere der Abstraktion“ (AP: 29) untergingen. Da „psychische Traumata“ (AP: 586) stets das gesamte Wesen eines Menschen erfassen, benötigt der Diagnostiker ein „methodologisches Bewußtsein“ (AP: 36), das ihm eine Annäherung an die „Erschütterungen des Ganzen“ (AP: 585) erlaubt. Die „methodologische Besinnung“ ist dabei „in philosophischer Schulung zu erwerbe[n]“ (AP: 5), da nur diese den Diagnostiker vor „hemmenden Vorurteilen [...]schützt, die bei unphilosophischen Köpfen in der Psychopathologie nicht selten eine Rolle spielen“ (AP: 6). So erscheint es z.B. essentiell, das somatische Vorurteil (AP: 15f.), das ein Trauma auf „einen biologischen Stressvorgang im Gehirn“ (Brenssell 2014: 123) reduziert, als auch das medizinische Vorurteil, das „nur quantitative Feststellungen“ und „sinnlich Wahrnehmbares“ gelten lässt (AP: 17f., Herv. i. O.), zu überwinden. Nur so kann der Diagnostiker „vorübergehend ganz wertungsfrei“, ja „hingebend“ sein (AP: 676) und die Basis für den „erste[n] Schritt“ des Erkennens, die umfassende „Auffassung der Einzeltatbestände“ (AP: 22), schaffen. In prinzipieller Einigkeit mit dem kategorialen Ansatz postuliert Jaspers, dass es zunächst um ein „Begrenzen, Unterscheiden und Beschreiben bestimmter erlebter Phänomene“ gehen muss, „die dadurch klar vergegenwärtigt und mit einem bestimmten Ausdruck regelmäßig benannt werden“ (AP: 22, Herv. i.O). Während sich der klinische Blick dabei jedoch auf die rational greifbaren, objektiven Erscheinungen beschränkt (AP: 23), bedarf eine „möglichst restlose innere Anschauung von Einzelfällen“ (AP: 48) nach Jaspers mehr: Der Diagnostiker muss auch die subjektiven Symptome des vulnerablen Kindes erfassen, indem er sich „durch Einfühlen und Miterleben“ (AP: 23, Herv. i. O.) in das Seelenleben hineinversetzt, d.h. statisch versteht. So wäre z.B. zu erkennen, ob das verletzte Kind, das „nach objektive[r] Beurteilung der Symptomrepräsentationen“ (DSM5: LIX) keine ,Wutausbrüche‘ zeigt, vielleicht dennoch Wut empfindet. Denn nur weil ein Phänomen gemäß der quantitativen Messinstrumente des Klinikers nicht relevant erscheint, bedeutet dies nicht, dass es im individuellen Erleben nicht existiert (AP: 23).

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Wurden die „Bruchstück[e] des wirklich erlebten Seelischen“ phänomenologisch ermittelt, so sollte sich der Psychopathologe in einem nächsten Schritt fragen, „in welchen Zusammenhängen alle diese stehen“ (AP: 23). Über die Vergegenwärtigung „ruhend[er]“ Einzelsymptome hinaus, widmet sich der umsichtige Diagnostiker also der „Unruhe des Seelischen“, indem er zu verstehen versucht, „wie Seelisches aus Seelischem [...] hervorgeht“ (ebd., Herv. i. O.). Da dieses genetische Verstehen der seelischen Zusammenhänge jedoch stets an Grenzen stößt, bedarf es der Ergänzung um das kausale Erklären (AP: 24): „Beide Tendenzen haben ihren spezifischen Sinn, aber beide scheitern, wenn eine für sich allein die Erkenntnis begründen oder vollenden möchte“ (AP: 133). Verstehen − als „das von innen gewonnene Anschauen des Seelischen“ (AP: 24) − und Erklären − als das „Erkennen objektiver Kausalzusammenhänge“ (ebd.) − stehen letztlich also in einem komplementären Verhältnis, „weil wir immer, wenn wir etwas verstanden haben, auch wissen wollen, was die Ursache des Verstandenen ist“ (Wiltsche 2008: 72). Nur wenn der Diagnostiker dieses konstruktive Nebeneinander von Verstehen und Erklären zu nutzen weiß, kann er Vulnerabilitätserfahrungen zunehmend erkennen und den „Ganzheiten des Seelischen“ (AP: 464, Herv. i. O.) auf die Spur kommen. Zeigt sich dem Psychopathologen über die „Analyse immer neue[r] Einzelzusammenhänge [...] die Gesamtheit des Seelenlebens“, so neigt er dazu, diesen Blick auf ,das Ganze‘ in einem letzten Schritt „diagnostisch verwerten“ zu wollen (AP: 464). Man glaubt, „die Wirklichkeit selber“ (AP: 464) erkannt zu haben und die Welt des vulnerablen Kindes „durch konstruierte Totalitäten“ (ebd.) erfassen zu können: Der „diagnostisch[e] Nam[e]“ (AP: 18) ,PTBS‘ bildet als vermeintlich erkanntes „Prinzip der Sache“ (AP: 30) den scheinbaren Endpunkt der Einzelfallanalyse. Dabei übersieht der Diagnostiker jedoch, dass das „Ganze [...] nie fertig sein [kann]“ (ebd.): „Die Erkenntnis gerät in die Irre, wenn sie das Ganze schlechthin sich zum festen, bestimmbaren Gegenstand als Ganzheit machen will.“ (AP: 464) Diagnostische Kategorien wie die ,PTBS‘ − von Jaspers als „Typen“ (AP: 468) bezeichnet − können folglich stets nur „methodische Hilfsmittel“ (ebd.) sein, die dem ergebnisoffenen Prozess des Erkennens als „Orientierungspunkt“ (AP: 477) dienen: Vergleicht man „die wirklichen Einzelfälle“ (AP:469) vulnerabler Kinder mit dem „relative[n] Ganze[n]“ (AP: 468) der PTBS, so muss jede Abweichung dazu auffordern, individuelle Nuancen zu erblicken und weiter zu fragen (AP: 469); wird die PTBS-Kategorie jedoch als „fertige Schilderun[g]“ (AP: 477) missverstanden, so riskiert man, „daß das Chaos der Erscheinungen durch einen diagnostischen Namen für die Erkenntnis totgeschlagen wird“ (AP: 18). Das Bedürfnis des klinischen Blicks, alle Erscheinungen „in einer einzigen Diagnose“ zu treffen (AP: 512, Herv. i. O.), um „das

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Ganze [...] mit einer begrenzten Anzahl von Elementen zu beherrschen“ (AP: 30), ist folglich nie zu befriedigen, da die Geschichten individuellen Leids stets mehr und anderes umfassen, als wir „durch [die] zusammenhanglose Aufzählun[g]“ (AP: 469) von PTBS-Symptomen ergreifen können: Ob seiner „Freiheit“ (AP: 26) bleibt der Mensch unentwegt ,offener Möglichkeitsraum‘ − die ,Praxis des Erkennens‘ kann daher nie mehr sein als „Bewegung in der Offenheit des Möglichen auf dem Wege zu immer bestimmterer Anschauung“ (AP: 299). Fragt man abschließend nach der „menschlichen Haltung“ (AP: 6), die Jaspers seiner ,Praxis des Erkennens‘ einschreibt, so ist es die Bereitschaft zu „grenzenloser Erfahrung und Erforschung“ (AP: 36), die unabdingbar erscheint: Der wirklich erkennende Diagnostiker vermeidet die „Verabsolutierung von Partialerkenntnissen“ (AP: 30) und begreift, dass die „empirischen Augen des Verstandes“ (AP: 568) nie alles sehen. Gerade das, was im Zuge einer traumatischen Erfahrung − „eine[r] Grenzsituation im Jasper’schen Sinn“ (Fuchs 2008: 95) − erlebt wird, bleibt dem nur „betrachtenden und sachlich behandelnden Psychopathologen“ (AP: 275) verschlossen. Er muss dem verletzten Kind vielmehr zum „Schicksalsgefährten“ (ebd.) werden, der „das Sein selbst [sucht]“ (AP: 638, Herv. i. O.), anstatt sich mit den Seinsunterstellungen des klinischen Blicks (Markard/Kaindl 2014: 200ff.) zu begnügen, der die bloße Beobachterposition verlässt, um sich mit all seinen Resonanzflächen auf den Anderen einzulassen (Schmidt-Degenhard 2008: 263). Besitzt der Diagnostiker diese „Bereitschaft zum Grenzüberschreiten“ (ebd.), so kann er verstehend bis ins Wesen der anderen Welt gelangen und dort den Sinn ,abweichender Zustände‘ als auch die Kompetenzen verletzter Kinder erblicken (AP: 251). Dass dem DSM-Diagnostiker dieser Einblick in ,vulnerable Welten‘ letztlich verwehrt bleibt, hat in einer Zusammenschau der Jaspers’schen Erläuterungen diverse Gründe: Statt für größtmögliche Vorurteilslosigkeit zu sorgen, orientiert sich der klinische Blick an einer biomedizinisch geprägten „DSM-5-Nosologie“ (DSM-5: 1041), die „von vornherein [nur diejenigen] Aspekte des in Frage stehenden Ganzen“ (Wiltsche 2008: 63) berücksichtigt, „die für die Diagnosestellung erforderlich sind“ (DSM-5: 6); anstatt sich das Erleben umfassend phänomenologisch zu vergegenwärtigen, bleibt das DSM-5 auf eine „deskriptive Phänomenologie“ (Wiltsche 2008: 63) beschränkt, die das subjektiv Bedeutsame ignoriert; statt dem ,Sosein‘ des vulnerablen Kindes über die erklär- und verstehbaren Zusammenhänge der Einzeltatbestände näher zu kommen, maßt sich der klinische Blick an, das komplexe Ganze mit der simplen Summe der Einzelelemente gleichsetzen zu können (AP: 133f.); anstatt zu akzeptieren, dass mit der Einordnung in eine diagnostische Kategorie noch nichts erkannt wurde, wird die PTBS-Diagnose zur „Scheinerkenntnis [...], die alsbald sich als ,gegenstandslos‘

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erweisen muß“ (AP: 546). Was bleibt, ist ein diagnostischer Prozess, der in einem „verwirrende[n] Zauberspiel [...] alles und damit nichts erklär[t]“ (AP: 29), weil er sich im bewussten Verzicht auf das ,intersubjektive Erkennen‘ dem Mehrwert des Verstehens beraubt. Michel Foucault und die ,Ordnung des Diskurses‘ „Alle meine Bücher [...] sind, wenn Sie so wollen, kleine Werkzeugkisten. Wenn die Leute sie öffnen und sich irgendeines Satzes, einer Idee oder einer Analyse wie eines Schraubenziehers oder einer Bolzenzange bedienen wollen, um die Machtsysteme kurzzuschließen, zu disqualifizieren oder zu zerschlagen, [...] ...nun, umso besser!“ FOUCAULT 2002: 887F, EIG. HERV.

Vom Verstehen der ,Geisteskrankheit‘ und der „Einheit des Menschen“ (Foucault 2015: 21)9 fasziniert, beschäftigte sich auch der junge Foucault mit den Unzulänglichkeiten der „naturalistische[n] Analyse“ (PG: 72), die in seinen Augen „zwar ein Erklären, selten aber ein Begreifen“ der vulnerablen Existenz zulasse (PG: 72). Jaspers ,Praxis des Erkennens‘ entnahm er in diesem Zusammenhang die Einsicht, „daß [das] intersubjektiv[e] Begreifen bis ins Wesen der [anderen] Welt gelangen“ und eine „[intersubjektive] Wahrheit“ generieren könne (PG: 72f.). Je intensiver sich Foucault jedoch mit der „Gesamtsituation des Individuums in der Welt“ (PG: 20) und den „Erfahrungsstrukturen der Moderne“ (Novella 2008: 13) auseinandersetzte, desto klarer schien ihm, dass der phänomenologische Ansatz (wie ihn auch Jaspers pflegte) notwendigerweise in eine ,Sackgasse‘ münden müsse: Um Vulnerabilitätserfahrungen tatsächlich verstehen zu können, dürfe die Psychopathologie nicht auf psychologische Dimensionen beschränkt bleiben; vielmehr müsse „die Welt selbst [...] befragt werden“ (PG: 90), da sowohl die erlebten Phänomene als auch das erlebende Subjekt „nur innerhalb einer Kultur [ihre Wirklichkeit und ihren Wert haben]“ (PG: 93). In zunehmender „Absetzbewegung“ (Schneider 2008: 179) vom phänomenologischen Denken machte sich Foucault folglich daran, die „Bedingungen allen Seins und allen Sinns“ (Sarasin 2006: 22) zu beleuchten, indem er „die die Mo-

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Der Verweis auf Foucault (2015) erfolgt nachfolgend über die Sigle PG (+ Seitenzahl).

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derne prägenden Macht-, Diskurs- und Subjektverhältnisse“ (Kammler 2008: 10) analysierte und dabei illustrierte, dass sämtliche Erscheinungen − sei es die PTBS-Kategorie oder das Bild vom ,traumatisierten Kind‘ − letztlich von einer Gesellschaft konstruiert werden, um die bestehende Ordnung zu sichern. Mit Blick auf das „zum anderen gewordene Individuum“ (WG: 128) ging es Foucault zunächst darum, „Phänomene − wie die Geisteskrankheit − [...] ihrer scheinbaren Natürlichkeit und Gegebenheit [zu] entkleide[n]“ (Sarasin 2006: 22), indem er sie auf eine intendierte „Struktur der Ablehnung“ zurückführte (WG: 12). So sollte die „Geschichte des Wahnsinns“ (WG: 7) illustrieren, dass „die Erfahrungsstruktur“ (WG: 13) des Wahns kein objektiv gegebenes Faktum, sondern lediglich das Produkt einer historischen Grenzziehung darstellt: Basierend auf einer konkreten Normalitätsvorstellung wird „die große Trennungslinie“ (WG: 36) zwischen ,Wahnsinnigen‘ und ,Vernünftigen‘ gezogen, die fortan „keine gemeinsame Sprache“ (WG: 8) mehr sprechen. Der „moderne Mensch [kommuniziert] nicht mehr mit dem Irren“ (ebd.); vielmehr sieht er in ihm den Wahnsinnigen und Unfähigen (WG: 125), den es mittels „einer schweigsamen Diagnose“ (WG: 109) als den Anderen, den Fremden, den Ausgeschlossenen (WG: 128) zu bezeichnen gilt. Durch diese „Form einer rigorosen Trennung“ (WG: 23) glaubt man die kulturelle „Ordnung“ (WG: 33) sichern zu können − schließlich soll dem „soziale[n] Ausschluß“ (WG: 23) alsbald die Anpassung an das ,Normale‘ folgen (WG: 547). Für die ,Erfahrung des Traumatischen‘ bedeutet Foucaults Gedankengang letztlich das Folgende: Die PTBS-Kategorie erscheint als „Erfindung“ (Becker 2006: 177) unserer Kultur, die nur vor dem Hintergrund einer „imaginären Normalität“ (Löw 2006: 40) existiert und dabei „keine erkennende, sondern eine sozial-selektive Funktion [besitzt]“ (Wenke 2006: 11); ausgehend von „normale[n] Funktionsabläufen“ bzw. „normativ erwartete[n] und kulturell anerkannte[n] Reaktionen“ (DSM-5: 26) markiert sie die Differenz von ,traumatisiert / nicht-traumatisiert‘, die das vulnerable Kind den ,Anormalen‘ zuordnet und Konformitätsdruck erzeugt. Möchte der „Symptomträger“ (Wenke 2006: 133) fortan nicht außerhalb der Ordnung existieren, so gilt es sich an die ,Normalität‘ anzupassen und das ,Anderssein‘ auszuradieren. Die „Diagnostik ist [damit] Normierungsmacht“ (Thole u.a. 2007: 318), die vom ,Anderen‘ stets ,Normalisierungsbereitschaft‘ einfordert. Um die intendierte „Normalisierungsarbeit“ (Waldschmidt 2007: 192) letztlich jedoch initiieren zu können, ist die diagnostische Normierungsmacht auf „die Macht des Psychiaters“ (WG: 533) angewiesen − schließlich entscheidet sein klinischer Blick an der „Grenze zwischen Normalität und Pathologie“ (DSM-5: 19) darüber, ob „die Symptome die normale Bandbreite überschreiten“ und „Behandlungsbedarf“ besteht (DSM-5: 25f.). In seiner Studie zur Geburt der

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Klinik (2011) wendet sich Foucault daher dem „klassifizierenden Blick“ (GK: 23) des Mediziners zu, dem „das Sein des Menschen“ zum „Objekt“ der eigenen positivistischen Erkenntnis wird (GK: 208). Aus der Distanz des passiven Beobachters (GK: 12) versucht er die Symptome einzuordnen (GK: 139), wobei ihm nur das Sichtbare (und damit Aussagbare) wichtig erscheint (GK: 206): „Um die Wahrheit des pathologischen Faktums zu erkennen“, muss der klinische Blick vom vulnerablen Kind „abstrahieren“, sein konkretes Dasein sozusagen „[ein]klammern“ und das „Leiden“ auf die „sichtbare Gesamtheit [...] naturgegebene[r] [Körperphänomene]“ zurückführen (GK: 24f.). Man stellt sich folglich „nicht mehr die Aufgabe, das wesenhafte Wahre unter der sinnlich wahrnehmbaren Individualität zu erblicken“ (GK: 112), sondern konzentriert sich auf die sichtbaren „Phänomene [...] des kranken Lebens“ (GK: 176), die „unbarmherzig [zu] analysier[en]“ (GK: 143) und zu benennen sind (GK: 132f.). Dass der klinische Blick, „der glaubt, den Bedeutungsgehalt des Menschen im reduktiven Begriff eines homo natura ausschöpfen zu können“ (Foucault 2001: 108, Herv. i. O.), dabei das Sein des vulnerablen Kindes verfehlt, scheint sekundär − schließlich geht es primär darum, die Komplexität des Einzelfalls in der „konstante[n] Wahrheit“ (GK: 133) der PTBS-Kategorie aufzulösen. Das verletzte Kind wird zum „ärztliche[n] Ding“ (WG: 545), das begutachtet wird, ohne „daß [es] über sich wahrheitsgemäß reden könnte“ (WG: 544). Man spricht über, nicht mit dem Kind, man durchleuchtet es von außen, anstatt die subjektive Sinnhaftigkeit des Erlebens von innen zu erfassen (GK: 206ff.). Dass dieses Vorgehen neben biologistisch-pathologisierenden Deutungsmustern auch eine Verobjektivierung und Entmündigung des erlebenden Subjekts impliziert (Küpper 2014: 90ff.), erscheint umso problematischer, bedenkt man, dass das vulnerable Kind eine ähnliche Ohnmachtserfahrung bereits verkraften musste − im Erleben des traumatischen Ereignisses, das ihm die Kontrolle entzog (Fuchs 2008: 98). Stellt man sich schließlich Foucaults Gedankengang, „daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird“ (OD: 10f.), so drängt sich die Frage auf, wem die „Prozeduren“ (OD: 11) des PTBS-Diskurses nützen. Wer profitiert von der „Ausschließung“ (ebd.) des zum ,Anderen‘ gemachten und damit stigmatisierten Kindes und wem hilft der klinische Blick auf vulnerable Erfahrungen? Auf der Suche nach Antworten ist mit Foucault zunächst zu betonen, dass der „Diskur[s] als geregelte und diskrete Seri[e] von Ereignissen“ (OD: 38) stets ein machtvolles Element darstellt: Er bringt Wirklichkeiten hervor (Künstler 2015: 175f.) und ist daher „dasjenige, worum und womit man kämpft; er ist die Macht, deren man sich zu bemächtigen sucht“ (OD: 11). Als der „wahre Diskurs“ (OD: 14) unserer Zeit scheint folglich auch der PTBS-Diskurs machtpolitischen Interessen zuzu-

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arbeiten. So spiegelt sich Foucaults Überzeugung, der moderne Staat strebe „mit schrecklichen Mächten“ (OD: 13) nach ,normalen‘ Individuen, in einer Diagnosepraxis, die das verletzte Kind einer „taxinomischen Ordnung unterwirft“ (Bublitz 2008: 294), um alsbald „Symptombeseitigungsaktivität[en]“ (Becker 2006: 199) einzuleiten. Die Pathologisierung einer bestimmten Form des Erlebens legitimiert dabei das gewaltvolle Eingreifen von außen (GK: 24f.), während die Entmündigung des vulnerablen Subjekts der „Repression jener unzulässigen Wahrheit“ (WG: 547, eig. Herv.), der Wahrheit des verletzten Kindes, dient. Um die bestehende Ordnung vor „Gefahren“ (OD: 11) zu schützen, suggerieren „Mythen von wissenschaftlicher Objektivität“ (WG: 533), dass nur der Diagnostiker „in die wahre Rede eingeweiht“ (GK 129) sei − schließlich könnte das vulnerable Kind, würde es gehört und ernstgenommen, von dem in der Gesellschaft „herrschenden Bösen“ (WG 547) berichten und die „Kulturillusion“ (PG: 97) zerstören. Auch das körperorientierte Vorgehen des klinischen Blicks scheint dieser Verschleierung gesellschaftlicher Realitäten zu dienen (WG: 535): Reduziert man das verletzte Kind auf einen ,homo natura‘, so werden Vulnerabilitätserfahrungen biologisiert und personalisiert; die PTBS-Symptome erscheinen sodann als individuelles, medizinisches Problem, dessen Beseitigung in den Verantwortungsbereich des verletzten Subjekts delegiert werden kann (WG: 509). Dass man darüber den “central point − that external forces created the internal changes in the first place“ (Terr 1991: 10) − vergisst, scheint den mächtigen Hütern der Ordnung nur recht; denn letztlich gelingt es so, die ,kranken‘ Verhältnisse, die es eigentlich zu ,behandeln‘ gälte, von vornherein jeder Kritik zu entziehen. Für Foucault ist letzten Endes klar, dass die Prozeduren des Diskurses „wesentliche Strukturen des gesamten Lebens [...] treffen“ (WG: 77) und das ,Andere‘ erst als „Gegenstand der Wissenschaft“, als Objekt des klinischen Blicks, „eine diskursive Existenz [...] gewinn[t]“ (GK: 207). Unsere „Grenzziehung“ (OD: 11) ist es, die den „Fremde[n] par excellence“ (WG: 509, Herv. i. O.) hervorbringt, wobei die „Maske“, die wir „ihm schweigend durch den Blick auferleg[en]“ (ebd.), eine Art Aufruf darstellt, „sich als Irrer zu konstituieren“ (WG: 539). Der „psychologisch[e] Gewaltakt“ (WG: 14) einer PTBS-Diagnose beeinflusst folglich das Selbstverständnis der Heranwachsenden, die als Kinder unserer Zeit von mächtigen Dispositiven hervorgebracht und geformt werden (Veyne 2009: 126). Mit anderen Worten: Das „psychiatrische Denken“ (WG: 542) verwandelt das starke Ich des überlebenden Kindes in das defizitäre Subjekt des traumatisierten Kindes, dessen „negativ[e] Dimension“ (WG: 543) der „positiven Natur“ (ebd.) fortan zur Abgrenzung dient. Verglichen mit dem chaotischen ,Anderen‘ erscheint die eigene Position ,in Ordnung‘, sodass der „normale

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Mensch“ gut daran tut, das System, das „[den Irren] in Richtung der Randzonen der Normalen ab[setzt]“, nicht zu kritisieren (WG: 126). Es mag diese „Legitimation des Eigenen“ (Buttner 2014: 43) sein, die dazu führt, dass „das harte Gesetz der Grenze“ (GK: 209) − und mit ihm der mächtige PTBS-Diskurs − durch ein „ganze[s] Geflecht von Praktiken“ (OD: 15) aufrechterhalten wird. Den „Regeln einer diskursiven ,Polizei‘ gehorch[end]“ (OD: 25) übersieht eine Gesellschaft jedoch, dass stets auch „neue Diskurse“ (OD: 19) möglich sind: Die Ordnung, deren klinischer Blick den ,Traumatisierten‘ besondere, vulnerable Subjektpositionen zuweist, muss nicht (re-)produziert werden; vielmehr steht es den Einzelnen − mögen sie auch ,konstituiert‘ sein (Veyne 2009: 117) − frei, den „Maulkorb“ abzulegen und neue „Bedeutungshorizonte“ zu ergründen (OD: 31). Zur kritisch-reflexiven Haltung im pädagogischen Umgang mit vulnerablen Kindern „Wenn ich ein Wort verwende“, sagte Humpty Dumpty nun ziemlich gereizt, „dann bedeutet es genau das, was ich will − nicht mehr und nicht weniger.“ „Es ist nur die Frage“, sagte Alice, „ob Sie Wörter einfach so sehr Unterschiedliches bedeuten lassen können.“ „Es ist nur die Frage“, sagte Humpty Dumpty, „wer hier das Sagen hat − so siehts aus.“ CARROLL 2012: 91

Foucault mag der Überzeugung sein, dass die diskursiven Mächte unser Dasein formen, jedoch zweifelt er nicht daran, dass es dem Subjekt dennoch möglich ist, „aufgrund seiner Freiheit zu reagieren und dank seines Denkvermögens Abstand zu gewinnen“ (Veyne 2009: 117). Auch der Pädagogik, die zunehmend von prekären Psychologisierungstendenzen geprägt scheint (Reichenbach/Oser 2002), steht es somit frei, die Bedeutungszuschreibungen des PTBS-Diskurses − dem Humpty Dumpty der Traumadebatte − zu reflektieren und kritisch zu fragen, inwiefern diese pädagogischen Zielsetzungen widersprechen. In Zeiten der diagnostischen Inflation und der Inklusionsdebatte, in denen die verletzenden Deutungsmuster des klinischen Blicks zunehmend auch den Lebensraum ,Schule‘ berühren, scheinen dabei vor allem Schulpsycholog_innen und (Beratungs-) Lehrkräfte gefordert, „eine professionelle pädagogische Haltung zu finden“ (Lotze/Kiso 2014: 165), die sich bewusst von der Produktion vulnerabler Subjekte distanziert, um im Umgang mit biografisch belasteten Kindern „[f]ördernd,

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unterstützend und gegenwirkend diskursiv zu sein“ (Reichenbach 2002: 186, Herv. i. O.). Mit anderen Worten: Wollen Lehrende ihren genuin pädagogischen Auftrag, die Subjektwerdung aller Schüler_innen zu unterstützen, erfüllen, so sollten sie ihr Wissen um die (philosophischen) ,Leerstellen‘ einer PTBSDiagnose in „Strategien diskursiver Resistenz“ (Parr 2008: 236) überführen, welche im Umgang mit vulnerablen Kindern eben das fokussieren, was der klinische Blick (bewusst) ausblendet: die sinnhafte Existenzweise eines starken (wenn auch nur bedingt handlungsmächtigen) Subjekts, dem eingebunden in einen konkreten gesellschaftlichen Zusammenhang Unvorstellbares widerfahren ist und nicht selten noch immer widerfährt. Wohlwissend, dass der klinische Blick stets „eine besondere Hinsicht“ (Buttner 2014: 38) impliziert, die empirisch beobachten und sachlich beurteilen will (AP: 676), sollten Pädagog_innen zunächst darauf achten, die erklärende Perspektive des DSM-Diagnostikers um einen verstehenden Ansatz zu erweitern. In ihrer Beschränkung auf objektiv messbare ,Defizite‘ kann die PTBS-Diagnose nie „die ganze Geschichte“ (Frances 2013: 55) des verletzten „Körper-SeeleGeist-Wesen[s]“ erzählen, das in „seiner [...] Lebenswelt [...] auf allen Ebenen angegriffen“ wurde (Kreiner u.a. 2015: 86). Umso wichtiger erscheint es, dass Schüler_innen, die „mit dem nichtssagenden Etikett der [PTBS-]Diagnose“ (Weber 2014: 67) versehen wurden, auf Lehrende stoßen, die in einem ergebnisoffenen „Entdeckungsgang“ (AP: 716) nicht nur ,abweichende‘ Verhaltensweisen erklären sondern ganze Menschen verstehen wollen. Mit einem „unbedingte[n] Wille[n] zum Wissenwollen“ (AP: 716) sollten sich Pädagog_innen daher dem „Gewordensein“ (Wenke 2006: 10) verletzter Kinder zuwenden, wobei der Blick gerade in „jenes Halbdunkel“ (GK: 183) subjektiver Empfindungen und versteckter Zusammenhänge zu richten ist, das der Kliniker zu ignorieren versucht. Nur wenn sich Lehrkräfte die Mühe machen, verborgene „Intention[en] und [...] Geheimnisse zu ergründen“ (WG: 509), können sie hinter ,störenden‘ Symptomen (seien es dissoziative Reaktionen oder Wutausbrüche) sinnvolle, wertvolle, ja lebenserhaltende Muster erkennen (Baierl u.a. 2014: 60) und in der „Bildungsbiografie“ (Bosshard 2007: 7) vulnerabler Kinder fortan zu „unterstützenden Begleiter[n]“ (Weber 2014: 81) werden. Denn eines ist klar: Haben Pädagog_innen erst einmal den guten Grund des ,ver-rückten‘ Verhaltens verstanden, so können sie auch den ,Symptomträgern‘ einen „neuen Blick auf die eigene Welt“ (Hantke/Görges 2012: 125) eröffnen und Selbstverstehen fördern. Um sich der vulnerablen Existenz verstehend und human annähern zu können, muss sich die Pädagogik letztlich klar zu einem dialogischen, intersubjektiven Austausch bekennen, der das ,traumatisierte Andere‘ nicht auf ein Forschungsobjekt reduziert, sondern den „unmittelbar-lebendigen Gesprächsprozess

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zwischen leiblich Anwesenden“ (Schrödter 2003: 1763) sucht. Im Unterschied zum diagnostischen Prozess, dem die „Beschreibungsformel zugleich [entlarvende] Enthüllungsgeste ist“ (GK: 207), darf es dabei nicht darum gehen, dass sich das vulnerable Kind „in den Augen der vernünftigen Vernunft als vollkommener Fremder [...] objektivier[t]“ (WG: 509); vielmehr ist die gleichberechtigte, „echte Kommunikation“ (AP: 673) anzusteuern, in der „es zu neuen, sich bewusst verflechtenden Begegnungen kommt“ (Becker 2006: 23): Pädagog_innen und verletzte Schüler_innen sind „auf gleichem Niveau gegenwärtig“ (AP: 669), begegnen sich „aus Schicksalsverbundenheit in voller Offenheit“ (ebd.) und ermöglichen so ein Erkennen, das beide Parteien im Innersten berührt (AP: 19). Mit anderen Worten: Lehrkräfte nehmen „verletzte Kinder in ihrem Akteurstatus ernst“ (Baader 2015: 96), indem sie ihnen eine Stimme geben, anstatt der ,Wahrheit‘ einer nivellierenden „Checklisten-Psychiatrie“ (Frances 2013: 54) blind zu vertrauen. Der Versuch, sich durch einen empathischen Perspektivwechsel auf das Erleben vulnerabler Schüler_innen einzulassen, geht dabei stets mit einem „Sich-von-sich-Lösen“ einher (Fink-Eitel 1992: 12), d.h.: Lehrende müssen bereit sein, ihr eigenes „Wahrnehmen und Denken“, ihr „fixiertes und autoritäres Besserwissen“ immer wieder neu „aufs Spiel [zu] setze[n]“ (ebd.). Nur so können sie im Dialog letztlich ganz bei dem Anderen sein, ihn auf seinem Weg begleiten anstatt einen Weg vorzugeben (Hoffmann 2001: 129). Im Kontext des PTBS-Diskurses kommt einer kritisch-reflexiven Pädagogik zudem die Aufgabe zu, die doppelte Vulnerabilität betroffener Schüler_innen anzuerkennen: Nicht nur wurden ihre „Selbst- und Weltwahrnehmungen“ (Baierl u.a. 2014: 60) durch das traumatische Erlebnis verändert, auch die Diagnose erzeugte eine besondere Verletzlichkeit, als sie „zu einem dokumentierten Teil des Selbst“ (Wenke 2006: 47) wurde, der − nicht selten bis ins Hier und Heute − Exklusion und Abwertung implizierte. Zwar sind Pädagog_innen außerstande, das, was einmal erfahren wurde, rückgängig zu machen (AP: 585), jedoch können sie versuchen, das vulnerable Kind „in seinem Sosein zu dem ihm angemessenen Selbstverständnis zu bringen“ (AP: 673), indem sie den erlebten Verletzungen mit „Humanitas, Besonnenheit und Offenheit“ (AP: 674) begegnen. Denn klar ist: Werden die (seelischen) Narben einfach „ignoriert oder aktiv verleugnet [...], dann verschärft das unweigerlich den traumatischen Prozess“ (Becker 2006: 74), der Betroffene ent-mächtigt anstatt sie zu er-mächtigen. Gerade im schulischen Kontext ist dem klinischen Blick daher ein „positive[r] Blick“ entgegenzusetzen, der „den Kindern trotz erschwerter Bedingungen eine Entwicklung [...] ermöglich[t]“ (Kiso/Lotze 2014: 146). Dabei ist als „Grundvoraussetzung jeder Erziehung und Bildung“ (ebd.) darauf zu achten, die defizitorientierte Sicht auf das vulnerable Kind konsequent durch eine Ressourcen- und Stärkenorientierung zu

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ersetzen; nur so kann die durchlebte „Erfahrung des Disempowerments“ langsam einem ,Empowerment‘ weichen, das „den Weg für eine neue Zukunft [ebnet]“ (Becker 2006: 184). Zudem hat eine verantwortungsvolle Pädagogik dafür zu sorgen, nicht Teil jener „Ausschließungssysteme“ (OD: 14) zu sein, die dem ,wahren Diskurs‘ ehrfürchtig nacheifern: Niemals sollten vulnerable Schüler_innen das Gefühl haben, „auf der ,anderen‘ Seite zu stehen“ (Waldschmidt 2007: 190f.); stets ist ihnen zu vermitteln, dass ein Jeder die schulische Lebenswelt durch sein individuelles ,Anderssein‘ bereichert. Fühlt sich das verletzte Kind letztlich in all seinen Facetten angenommen, wird es an den Wert dessen, was es ist und sein kann, zu glauben lernen, und „in Beziehung zu sich“ nicht länger „ein Entfremdeter“ sein (WG: 543, Herv. i. O.). Um die Leidensgeschichten vulnerabler Kinder im beiderseitig verpflichtenden Dialog verstehen und selbstbestimmtes Handeln fördern zu können, kommen Lehrende nicht umhin, die potentiell „als gewaltvoll und beschränkend erlebte[n] Umgangsweisen im Unterstützungs- und Begleitungsprozess“ (Küpper 2014: 97) kritisch zu reflektieren. Zwar stellt erzieherisches Handeln stets „ein machtförmiges Verhältnis“ (Meyer-Drawe 1997: 311) dar, jedoch steht es der Pädagogik frei, ihre „Macht“ zum Wohle des Kindes einzusetzen und „die großen Prozeduren der Unterwerfung“ zu durchbrechen (OD: 30). So sollten die Rollenzuschreibungen der „klinischen Allianz“ (DSM-5: 1029) − der Diagnostiker als Experte, das vulnerable Kind als passives, zu kategorisierendes Objekt (Lütjen 2014: 52ff.) − keinesfalls im schulischen Kontext reproduziert werden: Verletzte Schüler_innen sind als Expert_innen ihres Lebens zu begreifen; stets gebührt ihnen die Deutungshoheit über ihr Sosein. Für die verantwortlichen Lehrkräfte bedeutet dies, als verlässliches Gegenüber für vulnerable Kinder da zu sein, ihnen jedoch niemals ihre Wahrheit und ihre Freiheit zu nehmen (WG: 543). Gerade im Beratungskontext kann Schule dabei auch „Raum [...] für beglückende Träume“ (AP: 676) lassen, indem sie die leistungsorientierten „Prinzipien des Zeitalters“ (ebd.) machtkritisch analysiert und vulnerablen Subjekten die Chance bietet, in der Auseinandersetzung mit mächtigen Normen „eine alternative Erzählung von sich auf[zu]bauen“ (Plößer 2013: 1372). Kurz: Als pädagogisches Gegengewicht zum mächtigen PTBS-Diskurs, sollten Lehrkräfte ihr „Herrschaftsmoment“ (Ecarius 2015: 164) gegen die „Mechanismen gesellschaftlicher Ungleichheitsproduktion“ (Behrensen 2014: 133) richten, indem sie die „anerkennende Adressierung“ vulnerabler Kinder mit der Möglichkeit verbinden, verletzende „Erfahrungen von Nicht-Anerkennung [offen] zu kommunizieren bzw. zu skandalisieren“ (Plößer 2013: 1376). Vielleicht können Pädagog_innen so „das Schema der Unterwerfung überschreite[n]“ (Bublitz 2008:

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295) und abseits der Differenzsetzung von ,Abweichung‘ und ,Norm‘ eine emanzipierte und starke Subjektposition verletzter Schüler_innen befördern. Über den ,klinischen Blick‘ hinaus: Pädagogisch weiterdenken und weiterschauen Das hier formulierte (philosophische) Plädoyer für eine kritisch-reflexive Haltung im pädagogischen Umgang mit vulnerablen Kindern ist letztlich keinesfalls als unreflektierte Generalverurteilung der PTBS-Diagnose misszuverstehen. Vielmehr besitzt das Denken in Kategorien, das uns dabei hilft, „die Phänomene der Welt zu strukturieren, die uns andernfalls ein verwirrendes Chaos wären“ (Frances 2013: 33), als „diagnostische[s] Hilfsmittel für Ärzte und Psychologen“ (Jäger 2015: 95) durchaus seine Berechtigung: Es standardisiert die „diagnostische Zuordnung“ (ebd.), stellt über einheitliche Termini den fachlichen Austausch sicher (Schrödter 2013: 1761) und schafft darüber hinaus die Basis, um menschliches Leid im diagnostischen Prozess erkennen und anerkennen zu können (Plößer 2013: 1374). „In [ihrer] − eng umrissenen − Funktion [einer] persönlichkeitsübergreifende[n] Beschreibungskategori[e]“ (Lütjen 2014: 52) erfüllt die PTBS-Diagnose also fraglos einen wichtigen Zweck. Dies sollte jedoch nicht über die „Unzulänglichkeiten“ (Margraf/Milenkovic 2009: 198) der kategorialen Diagnostik hinwegtäuschen, die mithilfe von Jaspers und Foucault illustriert werden konnten: Da subjektiv Bedeutsames ausgeklammert und der Mensch auf ein objektiv analysierbares ,Naturwesen‘ reduziert wird, ist der klinische Blick weder imstande, individuelle Vulnerabilitätserfahrungen zu verstehen, noch gelingt es ihm verletzte Kinder in ihrem konkreten ,Da-Sein‘ anzuerkennen − schließlich ist sein Bezugspunkt ein diagnostisches Konstrukt, das als Kulturprodukt auf willkürlichen Differenzsetzungen basiert und über diverse Mechanismen vulnerable Subjektpositionen befördert (Weisser 2005: 35f.). Diese ,Leerstellen‘ der PTBS-Diagnose „zum Gegenstand bewußter Reflexion [zu] machen“ (AP: 674) fällt in den Verantwortungsbereich einer Pädagogik, die dem „Diskursangebot nicht blind folge leisten“ (Weisser 2005: 94) sondern dafür sorgen möchte, dass „medizinische Diagnostik und pädagogisches Verständnis“ im Umgang mit vulnerablen Kindern „in einem komplementären Verhältnis [...] stehen [können]“ (Wenke 2006: 40, eig. Herv.): Nur wenn sich Schulpsycholog_innen und (Beratungs-)Lehrkräfte bewusst machen, was eine PTBSDiagnose generell nicht erkennt, welche Einblicke sie uns verwehrt und was sie für betroffene Schüler_innen bedeutet, lassen sich „institutionsbezogene und intersubjektiv vermittelte Handlungsmöglichkeiten [...] entwickeln“ (Markard/ Kaindl 2014: 216), die das ,Urteil‘ des klinischen Blicks als ersten Orientie-

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rungspunkt nutzen, dabei jedoch stets pädagogisch weiterdenken und weiterschauen. Die Bereitschaft zur reflexiven Auseinandersetzung wird folglich zur Basis einer professionellen pädagogischen Haltung, die das Entwicklungspotential aller Schüler_innen betont und das zum Vorschein bringen möchte, „was vorher [vielleicht] niemand ahnte“ (AP: 604): das starke Subjekt, das sich trotz (oder gerade wegen) all der erlebten Verletzungen in jedem vulnerablen Kind befindet und nur darauf wartet, entdeckt zu werden. „Die psychiatrische Diagnose ist zu wichtig, um allein den Psychiatern überlassen zu werden“ (Frances 2013: 304), die ,Leerstellen‘ der PTBS-Diagnose allzu prekär, als dass man sie im pädagogischen Kontext ignorieren sollte. Als Teil jener „gesellschaftlich-historischen Bedingungen, in denen Bedeutungen generiert werden, die dann allen Beteiligten selbstverständlich erscheinen“ (Löw 2006: 64), sollte die Pädagogik ihre Chance nutzen und „das Feld des Sag-, Sicht- und Bearbeitbaren nachhaltig veränder[n]“ (Kammler u.a. 2008: VII). Denn „niemals ist es beliebig, wie [vulnerable Kinder] sich sehen, wie sie sich thematisieren, was sie sein möchten und in welches Verhältnis zu diesen Wünschen und Sehnsüchten sie sich zu setzen vermögen“ (Reichenbach 2002: 186); immer sind wir es, die ihre Welt konstituieren und mit ihnen „um die Wichtigkeit und Richtigkeit“ (ebd.) ihrer Selbstinterpretationen kämpfen. Mit anderen Worten: Macht sich die Pädagogik das verletzende Potential des PTBSDiskurses bewusst, so hat sie „über Alternativen nachzudenken, welche vielleicht eine radikale Differenz zu dem setzen, was eben geschieht“ (Winkler 2008: 126). Gerade Kinder „haben einen Anspruch darauf, ernst genommen, verstanden und nicht einfach mit einer Diagnose abgespeist und als ,geisteskrank‘ abgestempelt zu werden“ (Wenke 2006: 8). Einer Schule, die vulnerablen Kindern auch in Zeiten inflationärer PTBS-Diagnosen zum ,Sicheren Ort‘ (Kühn 2006) werden möchte, muss es folglich um die Gestaltung ,anderer Welten‘ gehen. Denn eines ist klar: „Kein Mensch ist falsch, und seine Gefühle und Ausdrucksgestalten sind immer die richtigen [...]. Es geht um die Existenz, akzeptiertes Sein“ (Wenke 2006: 133) und darum, verletzten Schüler_innen „das zurückzugeben, was man empathisch ihre Würde nennen könnte“ (Winkler 2008: 125). Literatur Andresen, Sabine/Koch, Claus/König, Jutta (Hg.) (2015): Vulnerable Kinder. Interdisziplinäre Annäherungen. Wiesbaden: Springer VS.

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Politische Dimensionen von Trauma Zur gesellschaftlichen Vermitteltheit von Gewaltfolgen A RIANE B RENSSELL Backlash in der Traumadebatte: Entpolitisierungstendenzen? In einem Interview zum 25-jährigen Bestehen von Wildwasser Berlin – Arbeitsgemeinschaft gegen sexuelle Gewalt an Mädchen – nimmt die langjährige Mitarbeiterin Martina Hävernick Stellung zur aktuellen Verwendung des Traumabegriffs: „Der Blick auf die Menschen, die sexuelle Gewalt erlebt haben“, hat sich verschoben. Heute werden „alle als Traumatisierte wahrgenommen. Traumatisierung, im Fachjargon ‚posttraumatische Belastungsstörung‘, ist eine psychiatrische Diagnose. Da wird also nicht mehr das Opfer einer Gewalttat gesehen, sondern ein kranker Mensch. Natürlich wird mit der Diagnose auch anerkannt, dass sexuelle Gewalt Folgen hat“ (Schwab 2008, 4). Die Verwendung des Begriffs ,Trauma‘, darauf weist dieses Statement hin, birgt Widersprüche. Einerseits wird anerkannt, dass Gewalt schwere Folgen für die Einzelnen haben kann, andererseits werden die Betroffenen damit pathologisiert, als psychisch krank oder gestört betrachtet. Dass dies auch für den wissenschaftlichen Diskurs über Traumatisierungen geltend gemacht werden kann, zeigt Klaus Ottomeyer in einer scharfen Replik auf die neueren Entwicklungen des Fachdiskurses: „Als vor fast 20 Jahren Judith Hermans Bestseller ‚Trauma and Recovery‘ (1992; dt.: ‚Die Narben der Gewalt‘ 1993) erschien und das Traumakonzept, die ‚Posttraumatic Stress Disorder‘ (PTSD) sowie die damals neu entwickelten Möglichkeiten einer Traumatherapie einer breiteren Öffentlichkeit in der westlichen Welt bekannt machte, war dies auch ein Ausdruck des Widerstandes gegen große und kleine Machthaber, gegen Militärs, autoritäre Psychiater und Gutachter, welche die Folgen von Folter und Missbrauch am liebsten verleugnen und bagatellisieren wollten“ (Ottomeyer 2011: 3).

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Pionier_innen des Widerstands waren in den 1970er Jahren die VietnamVeteranen und Akteur_innen aus der Frauenbewegung, die für die Anerkennung der psychischen und sozialen Folgen von Gewalt − im einen Fall Kriegsgewalt, im anderen (sexualisierte) Gewalt gegen Frauen und Mädchen − kämpften1. Besonders letztere traten dafür ein, dass die Ursachen von Gewalt wahrgenommen und im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen betrachtet werden. Sie übten scharfe Kritik an gesellschaftlichen Machtstrukturen, die Gewalt gegen Frauen und Mädchen fördern, dulden, begünstigen oder sich ihrer bedienen. Längst ist Trauma zu einem breit anerkannten Thema in der Medizin, vor allem in der Psychiatrie und Psychologie, aber auch in vielen Nachbardisziplinen, wie der Pädagogik oder der Sozialen Arbeit geworden. Es gibt eine fast unübersehbare breite Forschungslandschaft. Der politische Blick der Pionier_innen spielt indes kaum mehr eine Rolle. Die Artikulationsformen haben sich verändert. Ottomeyer fasst diese Verschiebung als „Medizinalisierung“ (ebd.) der Traumadiskurse: die politischen Perspektiven werden zugunsten der „Orientierung an psychiatrisch-medizinischen Manualen und Kassenrichtlinien, an verfeinerten diagnostischen Rastern, an wissenschaftlichen Karrieren, Publikationsund Kongressritualen“ (ebd.) aufgegeben. Determinanten der Entpolitisierung: Skizze Die Vorherrschaft der Traumakonzepte und Forschungsperspektiven, in denen die politisch-gesellschaftlichen Dimensionen der Verursachung und Bearbeitung von Trauma eher nebensächlich sind, wird durch verschiedene Entwicklungen begünstigt. Diskussionen über traumatische Erfahrungen sind zunächst stark durch die psychiatrische Diagnostik beeinflusst, sie sind zweitens geprägt durch die Wissenschaftsvorstellungen der evidenzbasierten, naturwissenschaftlichen Medizin und drittens nicht losgelöst von den Zielsetzungen der Gesundheitsökonomie – von Einsparungen und Effizienzkriterien – zu betrachten. Implikationen psychiatrischer Diagnostik und ihrer Deutungshoheit 1980 wurde die Diagnose „Posttraumatische Belastungsstörung“ in das DSM III, den Krankheitskatalog der Amerikanischen Psychiatriegesellschaft aufgenom-

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Zur politischen Dynamik um die Entstehung der DSM Kriterien siehe Linder (2004).

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men2. Das psychiatrische Konzept der Posttraumatischen Belastungsstörung wurde zum zentralen Bezugspunkt für Forschung und Praxis, für rechtliche Ansprüche und Behandlungsmöglichkeiten. Mit zunehmender Orientierung an der psychiatrischen Diagnostik wurden Fragen nach den gesellschaftlichen Zusammenhängen von Entstehung und Aufrechterhaltung von Traumata aufgegeben. Die psychiatrische Diagnostik orientiert sich vornehmlich an Krankheitszeichen – den Symptomen; sie richtet den Blick entsprechend auf eine Beseitigung der Symptome. Mit dem Fokus auf Symptome werden Betroffene zu Symptomträger_innen, so dass eine Verengung auf die individuelle Pathologie stattfindet. Dies zeigt sich unter anderem in diskursiven wie auch an alltäglichen (medizinischen) Praxen der Pathologisierung von Gewaltfolgen und von Gewaltverhältnissen. Gesellschaftliche Zusammenhänge, beispielsweise Mechanismen von struktureller, sozialer und personeller Gewalt, werden aus dieser Perspektive für ein Verständnis von Gewaltfolgen unwesentlich. Die Art und Weise, in der die „posttraumatische Belastungsstörung“ in der ICD-10 ausformuliert wird, befördert diese Perspektive. In der ICD-10 werden zwar mögliche Auslöser einer Posttraumatischen Belastungsstörung benannt, doch werden Gewalt und Folter als potentielle Auslöser von Traumata mit Naturkatastrophen gleichgesetzt. Damit geschieht eine ‚Naturalisierung‘ von Gewalt: Man-made-desaster werden zu natural desaster gemacht (Bianchi 2009: 40). Die Folge: Die Form der Benennung in der ICD-10 impliziert eine Entnennung3. Entnennung bezeichnet einen Vorgang, der gesellschaftliche Zusammenhänge auf einen ersten Blick verdeckt und unauffindbar macht (Pieper 2008: 105). Dieser Vorgang ist im Sinne einer Nahelegung zu verstehen, die den Blick der Rezipient_innen so organisiert, dass sie auf bestimmte Zusammenhänge nicht unbedingt kommen (wohl aber natürlich kommen könnten!), weil sich Fragen danach nicht anbieten. Die Mehrzahl der Traumata wird durch die Gewalt, die durch andere Menschen ausgeübt wird, ausgelöst. Das sind die sog. man-made-desaster. Bei Traumata, die durch die von anderen Menschen ausgeübte Gewalt verursacht

2

In der Folge wurde die Posttraumatische Belastungsstörung dann in den Krankheitskatalog der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die ICD eingeführt. Die ICD ist das in Deutschland geltende und rechtsverbindliche psychiatrische Klassifikationsschema.

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Dieser Vorgang der Ideologieproduktion wurde von Roland Barthes in „Mythen des Alltags“ (2003) herausgearbeitet. Es geht hier darum, dass etwas so repräsentiert wird, dass – wie hier im Fall der Diagnostik – Fragen nach gesellschaftlichen Zusammenhängen bzw. der gesellschaftlichen Vermitteltheit nicht aufkommen.

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werden, sind die sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen, die Machtverhältnisse, die Traumata sowohl verursachen als auch aufrechthalten, von entscheidender Bedeutung. Dies auszublenden verschärft Tendenzen der Individualisierung und Pathologisierung. Die Verengung des Fokus auf die Symptome im Kontext einer Störung erkennt Folgen von Gewalt primär im Rahmen einer psychiatrischen Diagnose und damit um den Preis der Etikettierung der Einzelnen als ,krank‘ oder ,gestört‘ an. Kurzgefasst: Das Deutungsmonopol einer medizinischen oder psychiatrischen Sicht auf Traumata mit seiner Diagnostik und seinen Behandlungsvorstellungen nimmt vor allem die Störung bei den Einzelnen in den Blick. Politische, gesellschaftliche und soziale Machtverhältnisse, die Gewalt hervorbringen, und die dazu beitragen, dass Gewalterfahrungen nicht oder nur schwer zu bearbeiten sind, werden ausgeblendet. Implikationen naturwissenschaftlicher und evidenzbasierter Wissenschaftlichkeitskonzepte In den letzten Jahren steigt der öffentliche und politische Druck, die evidenzbasierte Medizin in allen Gesundheitsbereichen zu priorisieren (Teigler u.a. 2015). Die Annahme, dass sich allein durch Evidenzbasierte Verfahren wirksame (medizinische) Interventionen begründen lassen, basiert auf einem bestimmten Wissenschaftlichkeitsverständnis. Die evidenzbasierte Medizin baut auf der Vorstellung auf, dass Wirksamkeit von Therapien in Experimenten und Wirkungsstudien nachgewiesen sein muss. Der Wissenschaftlichkeitsvorstellung der evidenzbasierten Medizin liegen daher naturwissenschaftliche Doppelblindstudien zugrunde. Diese Studien müssen unabhängig von Raum und Zeit standardisiert wiederholbar sein. Die Studien gehen (implizit) davon aus, dass verallgemeinerbare Ergebnisse nur dann zustande kommen, wenn Subjektivität und Gesellschaft eliminiert werden. Beides ist im Kontext der Doppelblindstudien ein Störfaktor. Das macht den Kern der evidenzbasierten Medizin aus4. Studien, die dieser Logik nicht folgen gelten als „naturalistisch unkontrollierte Studien“ (Ottomeyer 2011: 7). Ihre Erkenntnisse haben auf einem Terrain, das von der evidenzbasierten Wissenschaftlichkeitsidee beherrscht ist, einen denkbar schlechten Stand. Damit wird die Vorstellung einer experimentell-naturwissenschaftlichen

4

Das Gütekriterium der Replizierbarkeit von Studien gilt – interessanterweise – laut Hasler (2012: 58ff.) nicht für die Ergebnisse der Hirnforschung.

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Psychologie – der sogenannten Variablenpsychologie5, die alles messbar machen kann – zum „Kernstück der Wissenschaftlichkeitsvorstellung“ (Holzkamp 1985: 19), auch in der Traumaforschung. Die Anpassung an diese vorherrschende Vorstellung von Wissenschaftlichkeit beinhaltet also die Aufforderung, dass all das, was nicht per Experiment/Variablenpsychologie fassbar ist, aus der Forschung zu eliminieren ist. Denn das sind aus dieser Perspektive Störfaktoren für die verlangte Standardisierung, Messbarkeit und Replizierbarkeit einer ‚Wirksamkeitsstudie‘ Auf der Grundlage der skizzierten Wissenschaftlichkeitsvorstellungen werden standardisierte Verfahren in Forschung und Intervention state of the art. Die Implikationen für die Frage, wie ein Trauma bearbeitet werden kann und soll, sind allerdings erheblich. Das zeigt beispielsweise die zunehmende Popularität von standardisierten Kurzzeittherapien. Interventionsverfahren, wie die standardisierte Kurzzeitintervention „Narrative Expositionstherapie“ (NET), die Trauma auf eine hirnbiologische und lerntheoretische Vorstellung reduzieren, haben in den letzten Jahren nicht nur in Kriegs- und Krisengebieten Fuß fassen können. Die NET wird als eine Methode präsentiert, die in einer kurzen Anzahl von Stunden (vier bis zehn) und im Rahmen eines genormten Vorgehens, das die einzelnen mit den schlimmsten traumatischen Ereignissen konfrontiert, zu einer Verbesserung einzelner Symptome der Posttraumatischen Belastungsstörung führt6. Die Idee der Wirksamkeit der NET basiert unter anderem auf Wirksamkeitsstudien, die mit Kindern in Sri Lanka nach dem Tsunami und ehemaligen Kindersoldaten durchgeführt wurden. Ihre Ergebnisse werden aus methodologischen Gründen aber auch aufgrund der Frage angezweifelt, ob hier psychosozialen Problemen und kulturspezifischen Fragen ausreichend Rechnung getragen wird (Mundt u.a. 2011). Zugespitzt lässt sich sagen, dass solchen Interventionsverfahren eine Konzeption von Trauma zugrunde liegt, die vorgibt, dass Gewaltfolgen losgelöst von sozialen, kulturellen, gesellschaftlichen Kontexten bearbeitet werden können. Solche Reduktionismen sind im Diskurs der evidenzbasierten Medizin verankert und werden hier letztlich gefordert. Die evidenzbasierte Medizin findet nicht im luftleeren Raum statt, ihre technokratischen Standardverfahren erhalten ihr Gewicht auch durch Entwicklungen im Gesundheitssystem.

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„Man setzt dabei Versuchspersonen […] einer bestimmten Reizbedingung aus (unabhängige Variable) und registriert, wie sich darauf bestimmte Reaktionen (abhängige Variable) verändern.“ (Ottomeyer 2011: 6).

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Vgl. hierzu ausführlicher Brenssell (2014: 132ff.).

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Implikationen der Gesundheitsökonomie: Standardisierungen im Gesundheitssystem Die skizzierten Vorstellungen von Wissenschaftlichkeit passen sich gut in die aktuellen Entwicklungen im Gesundheitssystem ein, die der politischen Konjunktur folgen, dass alles nach Markt- und Effizienzkriterien zu ‚optimieren‘ ist. Das setzt das reduzierte „Verstehen nach Schemata und Vorgaben“ (Maio 2011: 133) geradezu voraus. Abläufe im Sozial- und im Gesundheitswesen werden den Regeln des Marktes unterworfen, der vorgibt, dass Abläufe nach Profit- und Effizienzgesichtspunkten organisiert und also modularisiert und standardisiert werden können (ebd.): „Das Diktat des Marktes ist ein Diktat der Zeitökonomie; das heißt nichts anderes, als dass alle Abläufe so beschleunigt werden sollen, dass am Ende das wegrationalisiert wird, worauf es bei der Gesundung von Menschen zentral ankommt, nämlich die Zeit für das wirkliche Verstehen“ (Maio 2011: 134). Kritiker_innen sprechen angesichts dieser Entwicklungen von dem „Verschwinden der Individuen aus der Medizin“ (Abholz 2012), von einer „Totalität der Messbarkeit“ (Maio 2011: 136), die das nicht messbare Eigentliche vernachlässigt, oder von einer Entpolitisierung, die dazu führt, dass für das Leiden der Menschen „immer weniger die sozialen Verhältnisse“, sondern „die Menschen selbst“ verantwortlich gemacht werden (Merk 2015). Ein Verstehen von Traumata, das Traumata mit den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen vermittelt denkt, hat das Nachsehen und gerät so ins Hintertreffen. Die Linien in der Debatte und in der Praxis, die auf einem solchen Verstehen basieren, werden kaum mehr gewürdigt, geraten in Vergessenheit und – schlimmstenfalls – unter Beweispflicht. Der traumatische Prozess: Zur gesellschaftlichen Vermitteltheit von Gewaltfolgen Überschaubar sind die wissenschaftlichen Perspektiven, die Trauma als einen gesellschaftlich vermittelten Prozess verstehen und die untersuchen, wie diese Vermitteltheit von persönlichem und politischem bei der Verarbeitung von Gewaltfolgen gedacht werden kann. Zu den wichtigsten Bezugspunkten für eine umfassende und in Zusammenhängen denkende Tradition gehört in Europa das Konzept der sequentiellen Traumatisierung von Hans Keilson7 (vgl. Keilson

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Keilson war Arzt, Lehrer, Schriftsteller. Er wurde als Jude verfolgt, emigrierte 1936 in die Niederlande, gründete dort nach dem Krieg die jüdische Kriegswaisenorganisation „Le Ezrat Hajeled“, arbeitete als Psychoanalytiker und führte eine Langzeitstudie mit jüdischen Kriegswaisen in den Niederlanden durch.

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2005). Keilson geht in seiner Forschung nicht von Trauma, sondern von einem traumatischen Prozess aus, der aus verschiedenen Sequenzen besteht. In Interviews mit überlebenden Kriegswaisenkindern nach dem Holocaust kristallisierten sich drei Sequenzen heraus: • die Besetzung der Niederlande und der Beginn des Terrors ab Mai 1940; • die Phase der direkten Verfolgung – Deportation der Eltern und Kinder, die

Trennung von Eltern und Kindern und die Konzentrationslager – ab Februar 1941; • die Phase nach dem Krieg, die von kontroversen Entscheidungen geprägt war. Dies meint etwa Vormundschaftsfragen, in denen über die Zukunft der Kinder entschieden wurde. Alle Sequenzen sind von Bedeutung für den Verlauf des traumatischen Prozesses. Nicht das einzelne Ereignis – das Gewalterlebnis – und die Bearbeitungskapazitäten des Einzelnen sind allein entscheidend für den Verlauf eines traumatischen Prozesses. Vielmehr ist die Abfolge von Ereignissen entscheidend. Keilson zeigt in seiner Forschung, dass es um das Zusammenspiel der Sequenzen geht: Dieser Blick erschwert zwar die „Würdigung der isolierten traumatischen Phase hinsichtlich ihres traumatisierenden Endeffektes […] Er bedeutet jedoch eine Erleichterung, wenn man sich einmal entschlossen hat, seine Aufmerksamkeit auf das Zusammenspiel der verschiedenen traumatischen Abläufe zu lenken und versucht, den Konnex herzustellen zwischen den verschiedenen traumatischen Sequenzen“ (Keilson 2005: 61).

Für die von Keilson interviewten Kriegswaisen ist es die Zeit nach Kriegsende – die Zeit also in der die Verfolgung aufhörte, wenn also eigentlich die Zeit der Verarbeitung anbricht – die unter Umständen einen wesentlichen Teil der traumatischen Erfahrung ausmacht, nämlich dann, wenn das Trauma in dieser Sequenz aus unterschiedlichen Bedingungen nicht verarbeitet werden kann. Diese Zeitspanne wurde „von vielen […] als die eingreifendste und schmerzlichste ihres Lebens bezeichnet“ (Keilson 2005: 58). Keilson zeigt, dass für die langfristige ‚psychische Gesundheit‘der Kriegswaisen nicht unbedingt der Schweregrad der ersten beiden traumatischen Phasen entscheidend war. Den Kindern, die in der Nachkriegszeit unter relativ guten Bedingungen aufwuchsen, ging es besser als denjenigen, die eine schwierige Nachkriegszeit (dritte Sequenz) nach einer (vergleichsweise) weniger schrecklichen Zeit der Verfolgung erlitten hatten (Kühner 2002). Hier wird deutlich, dass Traumata eine scharfe gesellschaftliche

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Kontur haben. Die Folgen von Gewalt, die Keilson als traumatische Prozesse fasst, sind gesellschaftlich vermittelt. Die Perspektive Keilsons hat entscheidende Implikationen: „Entscheidend für die Entwicklung psychischer Schwierigkeiten ist also nicht nur, wie grausam das Trauma an sich war, sondern wie es unmittelbar danach und später weiterging.“ (Kühner 2002: 27) Die Ergebnisse von Keilson sind daher von enormer Bedeutung für das Verständnis der Möglichkeiten oder Schwierigkeiten bei der Bearbeitung von Traumata. Seine Ergebnisse zeigen deutlich, dass Traumata nicht adäquat zu verstehen sind, ohne eine Erweiterung der Perspektive auf die sozialen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse. Die meisten Therapeut_innen richten den Blick auf das Trauma und stellen die Bearbeitungsmöglichkeiten in Zusammenhang mit den Möglichkeiten und Grenzen des Individuums. Hier steht der Einzelne mit seinen Möglichkeiten und Grenzen im Zentrum, die gesellschaftlichen Aspekte bleiben außen vor. Wenn in der Folge dieses Blicks die Schwierigkeiten der Verarbeitung auf die Einzelnen abgewälzt werden, kann das eine vorhandene, kaum verheilte Wunde schnell und immer wieder aufreißen. Angela Kühner, die 2002 eine Studie zu kollektivem Trauma durchführte, betont: „Das Konzept von Keilson hat enorme Bedeutung für die individuelle Traumatherapie als auch für die Reflexion kollektiver Prozesse. Die Aufmerksamkeit des Gegenübers allgemein wie auch des Therapeuten, der das Leiden des Opfers verstehen will, richtet sich meist intuitiv fast nur auf das, was in der ersten traumatischen Sequenz geschah (,Wenn ich weiß, was dir vom Täter angetan wurde, kann ich dich besser verstehen‘). Das Konzept der sequentiellen Traumatisierung ist auch deshalb revolutionär, weil es alle ,mit in die Pflicht nimmt‘, die mit dem Opfer zu tun hatten und haben, auch nach der Traumatisierung“ (ebd.).

Keilson formuliert als leitende Frage für die dritte Sequenz, für die Zeit nach der Verfolgung: „Was haben wir für diese Kinder getan?“ (Keilson 2005: 287) Was sind ihre unverschuldet fehlenden sozialen und sozialpsychologischen und gesellschaftlichen Kompetenzen? Dazu gehören für ihn Fragen nach der gesetzlichen Regelung der Vormundschaft, danach, welche Möglichkeiten zur Verarbeitung erlittener Traumata geschaffen wurden und ob Ausbildungseinbußen aufgearbeitet werden konnten. Trauma nicht als einzelnes Erlebnis oder als eine Summe von Symptomen, sondern als Abfolge traumatischer Sequenzen unterschiedlicher Art und Bedeutung zu verstehen, verschiebt und erweitert den Blick: „Es ist nicht mehr allein entscheidend, was initial erlebt wurde, sondern es wird bedeutsam, was auf die traumatische Erfahrung folgt“ (Schriefers 2007: 52). Entscheidend für den trau-

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matischen Prozess und für die Frage, ob er endet oder weitergeht, ist also nicht nur, wie grausam das Trauma an sich war, sondern wie es unmittelbar danach und später weitergeht. Was passiert nach einer Vergewaltigung? (Becker 2002) Entscheidend ist also nicht allein die Intensität des traumatischen Erlebnisses, sondern „auch die Unfähigkeit der Subjekte und der Gesellschaft, adäquat darauf zu antworten“ (Becker 2000: 37). Während Keilson sein Traumakonzept aus der Arbeit mit jüdischen Kriegswaisen ableitet, bezieht David Becker seine sozialpolitische Traumakonzeption aus der Arbeit mit Folteropfern in Chile und von dem Befreiungspsychologen Ignacio Martín-Baró. Dieser entwickelte seine ‚Psychologie der Befreiung‘ im Bürgerkrieg in Salvador: Er fasst als erster Trauma als offene Wunde und betont den „dialektischen Charakter der von dem Erleben des lang anhaltenden Krieges aufgerissenen Wunde“ (Martín-Baró 1990, zit. nach Becker 2000: 42). Für Martín-Baró ist von Bedeutung, dass sich das Trauma „aufgrund seiner eigenen Qualität aus der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft, mittels verschiedener institutioneller, gruppenbezogener und individueller Vermittlungen nährt und erhält“ (ebd.). Eine erste Besonderheit bei diesem Blick auf Trauma als gesellschaftlich vermitteltem Prozess ist, dass eine Brücke zwischen psychischen, sozialen und politischen Dimensionen geschlagen wird. Zweitens tauchen hier wieder Menschen mit Gründen auf, nicht kranke Menschen (oder Gehirne), hier gibt es wieder eine Gesellschaft, nicht nur Umwelt und (traumatische Stress-)Reize. Eine dritte Besonderheit ist, dass Keilson eine genaue historisch-gesellschaftliche Kontextualisierung vornimmt. Er übersetzt historische Sequenzen in die Frage nach den Anforderungen an die bereits traumatisierten Kinder und fordert somit ein, dass die konkreten historischen Bedingungen beim Verstehen von Traumata Beachtung finden müssen. Und das heißt entsprechend danach zu fragen, was die Bedingungen für die Bearbeitungsmöglichkeiten sind, da ein traumatischer Prozess – wie skizziert – auch die Frage einschließt, was an Möglichkeiten zur Bearbeitung eines Traumas gesellschaftlich und sozial zur Verfügung steht. Traumatische Prozesse im Kontext Schule: Fragen nach Zusammenhängen Ein Perspektivwechsel von Trauma als einem individuellem Störungs- oder Krankheitsbild zu einem gesellschaftlich-vermittelten Verständnis im Sinne eines traumatischen Prozesses öffnet den Blick für strukturelle gesellschaftliche Zusammenhänge und auf Probleme der Lebensführung nach Gewalterfahrungen. In der Folge bekommt beispielsweise die Reflektion des aktuellen Bildungssys-

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tems eine Bedeutung für das Verständnis eines traumatischen Prozesses. Wichtig werden auch epistemologische Fragen danach, welche Ausblendungen und Entnennungen nicht nur mit gängigen psychiatrischen, sondern auch mit pädagogischen Konzepten einhergehen. Ich möchte dies im Ausblick exemplarisch skizzieren8. Bildung in einer neoliberalen Gesellschaft: Bleiben ‚Räume‘ für seelische Erschütterungen? „Wenn Geld zum Grundwert erhoben wird, gehorcht Bildung nur noch dem Prinzip der Zweckmäßigkeit, und das Denken gilt nur dann noch etwas, wenn es messbare Resultate hervorbringt – das alles war mir nicht klar gewesen.“ (Winterson 2013: 156)

Jeanette Winterson reflektiert in diesem Zitat ihre anfängliche Begeisterung für die neoliberale Politik von Margaret Thatcher, die die Suggestionskraft hatte, dass alle als Einzelne Erfolg haben könnten. Keine Gesellschaft mehr, sondern Individuen, die es schaffen können und müssen – ein zentrales Credo neoliberaler Politik. Diese geht jedoch mit dem Ausverkauf des öffentlichen Gemeinwohls, dem Abbau des Sozialstaates, der Privatisierung der staatlichen und öffentlichen Aufgaben, der Einführung des Wettbewerbs und der Priorisierung von unternehmerischen Interessen und Profiten gegenüber dem Sozialen einher. Kann in diesem Zusammenhang auch von einem veränderten Auftrag der Schulen gesprochen werden, wie die Autor_innen des Bandes „Was bildet ihr uns ein? Eine Generation fordert die Bildungsrevolution“ (Malter/Hotait 2012) postulieren? Schule wird zu einem „(schlecht gemanagten) Produktionsstandort für den Arbeitsmarkt, statt ein Ort der Entfaltung und Entwicklung zu sein“ (Gründinger 2012: 9). Statt von Bildung wird heute von Kompetenzvermittlung gesprochen. Diese soll zudem möglichst operationalisierbar und in Evaluationen messbar sein sowie den Arbeitsmarkterfordernissen präzise entsprechen. Welche Anforderungen dies an die Schüler_innen stellt, zeigen die Autor_innen u.a. an der Einführung des sogenannten Turbo-Abiturs: „In Bayern schafft jeder dritte Schüler das Turbo-Abitur nur mit Nachhilfe. Die Arbeitszeit eines Schülers beträgt dort mehr als vierzig Stunden pro Woche – wohlgemerkt in einem Halbtagsschulsystem. […] Wer das Schulversagen nicht durch privat bezahlte Paukstunden kompensieren kann, fliegt raus.“ (ebd.). Ist das Leben von Kindern zu-

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Die Ausführungen bleiben holzschnittartig und sind Fragmente, die eine Perspektive auf Zusammenhänge traumatischer Prozesse im Kontext von Schule nur andeuten können.

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nehmend von Wettbewerb und Leistungsdruck bestimmt, wie es die Schülerin Yakamoz Karakurt im Dokumentarfilm ALPHABET. ANGST ODER LIEBE (2013) von Wagenhofer beschreibt? „Jeder weiß, dass die Schule nicht das Leben ist. Mein Leben aber ist die Schule, was heißt, dass da etwas falsch gelaufen sein muss. Ich komme um 16 Uhr aus der Schule und gehe nicht vor 23 Uhr ins Bett. Und das liegt nicht daran, dass ich fernsehe, mich entspanne oder sogar Spaß habe. Mein Leben ist voll. Zu voll. Was denken sich eigentlich diejenigen, die über unser Schulleben bestimmen?“ (Ebd.)

Wenn traumatische Prozesse gesellschaftlich vermittelt sind, werden solche Entwicklungen relevant für eine Diskussion über Trauma im Kontext von Schule. Was bedeuten sie für die Möglichkeiten einer sozialen Auseinandersetzung über Gewalt und deren Folgen im Schulalltag? Eine Psychotherapeutin, die mit (traumatisierten) Kindern arbeitet, berichtet von Kindern, die mit 17 Jahren über die Angst sprechen, dass ihnen Rentenjahre fehlen, wenn sie aufgrund einer seelischen Erschütterung ein Schuljahr versäumen müssen9. Was heißt es für Kinder, sich unter den aktuellen Bedingungen mit seelischen Erschütterungen und den Folgen von Gewalt auseinanderzusetzen? Was heißt es aber auch für Lehrer_innen, wenn sie Trauma als einen Prozess verstehen, in dem es entscheidend auch von den Begegnungen im Rahmen von Schule und von den schulischen Bedingungen abhängt, ob und wie ein Trauma bearbeitet werden kann? Individualisierung und Pathologisierung als Notwehr in verdichteten Bildungsinstitutionen? Das Beispiel „Resilienz“ 10 Resilienz ist ein verbreitetes Konzept in der (Sozial)Pädagogik. Mit ihm werden Ressourcen und Widerstandskräfte von Kindern und Jugendlichen in schwierigen Lebensbedingungen erhoben. Es lädt dazu ein, die Ressourcen von Kindern zu erkennen und zu aktivieren. Resilienz hat einen wichtigen Stellenwert im Zusammenhang mit Trauma, weil es die Widerstandsfähigkeit der Einzelnen, mit schweren Lebenssituationen umzugehen, auslotet. In einem Vortrag zeigt Thomas von Freyberg (2015) auf, welche Machtmechanismen das Konzept der

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Quelle: Eigene Interviews im Herbst 2014.

10 Eine differenzierte Auseinandersetzung über die aktuelle Resilienzdebatte führt Medico International unter dem Titel „Fit für die Katastrophe?“. Eine Dokumentation hierzu findet sich auf der folgenden Internetseite: https://www.medico.de/fit-fuer-diekatastrophe-15981/ (abgerufen am 16.07.2016).

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Resilienz untergründig transportiert: Hier wird zugespitzt unterstellt, dass alle Kinder und Jugendlichen über die Ressourcen verfügen, die sie benötigen und dass diese in Verhaltenstrainings verstärkt werden können. Die einzelnen haben zudem die Verantwortung dafür, ihre Ressourcen auch zu aktivieren. Freyberg analysiert die Resilienzdebatte auch als einen Entlastungsdiskurs. Schulen und Staat ziehen sich aus der sozialstaatlichen Verantwortung zurück: „Als gebe es keine Armut und Massenarbeitslosigkeit, keine Verelendung von Migranten und Hartz IV-Abhängigen keine zu kleinen, feuchten Wohnungen, keine zerstörten Familien, […] keinen Mißbrauch von Kindern, keine Gewalt in den Familien. Kompetenz, Resilienz und individuelle Ressourcen werden beschworen, als dürfe nicht die Rede sein von gesellschaftlichen Verhältnissen, die Kinder vernachlässigen, verletzen, um ihre Entwicklung betrügen und ihrer Zukunft berauben.“ (Freyberg 2015: 4)

Es braucht eine kritische Reflexion der Verhältnisse, um nicht diejenigen, die Gewalt erfahren haben, zu pathologisieren und somit an ihrem Ausschluss mitzuwirken. Die Delegation von Kindern und Jugendlichen an Expert_innen im Gesundheitssystem hat Schule gemacht. Es gibt gute Gründe dafür in einem Bildungssystem, in dem alle in verdichteten Handlungsräumen mit knappen Ressourcen funktionieren müssen. Doch welche Konsequenzen hat die Delegationskultur? Wie viele Kinder mit ‚gutem Gewissen‘ an die Medizin und oft auch die dahinterstehende Pharmaindustrie weitergereicht werden, zeigt das Phänomen ADHS. Wer sich mit traumatischen Prozessen im Kontext von Schule beschäftigt, braucht die Verständigung über Zusammenhänge, um nicht ungewollt Teil einer diagnoseaffinen Verantwortungsdelegation zu werden, die im Endeffekt Ausschließungen in Kauf nimmt und verhindert, dass eine soziale und politische Verständigung über Gewaltverhältnisse und ihre Folgen wiederaufgenommen wird. Literatur Abholz, Heinz-Harald (2012): Die Verdrängung des Individuums aus der Medizin. [http://www.impatientia-genarchiv.de/index.php/id-01_abholz.html;

abgerufen

am

17.07.16]. Barthes, Roland (2003): Mythen des Alltags. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Becker David (2000): Prüfstempel PTSD – Einwände gegen das herrschende „Trauma”Konzept. In: medico international (Hg.): Schnelle Eingreiftruppe „Seele“: Auf dem

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Weg in die therapeutische Weltgesellschaft. Texte für eine kritische „Traumaarbeit“. medico-Report 20, 25-47. Becker David (2002): Flüchtlinge und Trauma. Interview mit Dr. David Becker. [http://userpage.fu-berlin.de/wolfseif/verwaltet-entrechtet-abgestempelt/texte/becker_ trauma.pdf; abgerufen am 17.07.16]. Bianchi, Reinhold (2009): Neoliberalismus – Viktimisierung, Desorientierung und pathologischer Elitennarzißmus. In: Bernd Nielsen/Kurth, Winfried/Reiß, Heinrich J. (Hg.): Psychologie der Finanzkrise. Heidelberg: Mattes, 35-53. Brenssell, Ariane (2014): Traumaverstehen. In: Brenssell, Ariane/Weber, Klaus (Hg.): Störungen. Hamburg: Argument, 123-150. Dilling, Horst/Mombour, W./Schmidt, M.H. (Hg.) (2010): Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien, 7. Aufl. Bern: Verlag Hans Huber. Freyberg, Thomas von (2015): Resilienz in der Pädagogik. Stärkung von Autonomie … oder die Privatisierung sozialer Verantwortung? [https://www.medico.de/resilienz-inder-paedagogik-16102/; abgerufen am 17.07.2016]. Gründinger, Wolfgang (2012): Vorwort. In: Malter, Bettina/Hotait, Ali (Hg.): Was bildet ihr uns ein? Eine Generation fordert die Bildungsrevolution. Berlin: Vergangenheitsverlag, 7-13. Hasler, Felix (2012): Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung. Bielefeld: Transcipt. Holzkamp, Klaus (1985): Selbsterfahrung und wissenschaftliche Objektivität. Unaufhebbarer Widerspruch? In: Braun, Karl-Heinz/Holzkamp, Klaus (Hg.): Subjektivität als Problem psychologischer Methodik. 3. Internationaler Kongress Kritische Psychologie, Marburg 1984. Frankfurt/Main: Campus, 16-36. Keilson, Hans (2005): Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. Untersuchung zum Schicksal jüdischer Kriegswaisen. Gießen: Psychosozial Verlag. Kühner, Angela (2002): Kollektive Traumata. Eine Bestandsaufnahme. Annahmen, Argumente, Konzepte nach dem 11. September. [https://www.berghof-conflictresearch. org/documents/publications/br9d.pdf] Linder, Meadow (2004): Creating Post-Traumatic Stress Disorder: A Case Study of the History, Sociology, and Politics of Psychiatric Classification. In: Calan, Paula J./ Cosgrove, Lisa (Hg.): bias in psychiatric diagnosis. Lanhan u.a.: Jason Aronson, 25-40. Maio, Giovanni (2011): Verstehen nach Schemata und Vorgaben? Zu den ethischen Grenzen einer Industrialisierung der Psychotherapie. In: Psychotherapeutenjournal. 10 (2), 132-137. Malter, Bettina/Hotait, Ali (Hg.) (2012): Was bildet ihr uns ein? Eine Generation fordert die Bildungsrevolution. Berlin: Vergangenheitsverlag.

146 | A RIANE B RENSSELL Merk, Usche (2015): Vom Trauma zur Resilienz. [https://www.medico.de/vom-traumazur-resilienz-15983/; abgerufen am 17.07.2016]. Mundt, Adrian/Wünsche, Petra/Heinz, Andreas/Pross, Christian (2011): Traumatherapien in Krisenregionen und Katastrophengebieten – Eine kritische Auseinandersetzung mit standardisierten Interventionsverfahren am Beispiel der Narrativen Expositionstherapie. Psychiatrische Praxis 38, 300 – 305. Ottomeyer, Klaus (2011): Traumatherapie zwischen Widerstand und Anpassung. In: Journal für Psychologie, 19 (3). [http://www.journal-fuer-psychologie.de/index.php/jfp/ article/view/89/35; abgerufen am 17.07.2016]. Pieper, Tobias (2008): Symbolische und materielle Barrieren beim Zugang zum gesellschaftlich Exkludierten. In: Freikamp, Ulrike/Leanza, Matthias/Mende, Janne/Müller, Stefan/Ullrich, Peter/Voß, Heinz-Jürgen (Hg.): Kritik mit Methode? Forschungsmethoden und Gesellschaftskritik. Berlin: Karl Dietz Verlag, 105-126. Schriefers, Silvia (2007): Trauma und Bewältigungsmöglichkeiten- eine subjektwissenschaftliche Untersuchung von Ressourcen in Flüchtlingsbiographien. Schkeuditz: Schkeuditzer Buchverlag. Schwab, Waltraud (2008): Sensation statt Tabu. Interview mit Martina Hävernick. In: Lara e.V. (Hg.): Wortmeldungen zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen (25. November 2008), 4. [http://www.lara-berlin.de/fileadmin/DATEN/downloads/ LARA_taz-beilage_web.pdf; abgerufen am 17.07.2016]. Teigler, Leonie/Löhne, Susanne/Slaby, Jan (2015): Eine kritische Analyse des Konzeptes „appetitive Aggression“. Wissenschaftliche Schwierigkeiten in der Trauma- und Gewaltforschung und ihre politischen Konsequenzen“. In: Psychosozial. 38 (142), 25 – 43. Winterson, Jeanette (2013): Warum glücklich statt einfach nur normal. München: Carl Hanser Verlag.

Filmverzeichnis ALPHABET. ANGST ODER LIEBE (2013) (Österreich, R: Erwin Wagenhofer)

Trauma und Traumadiskurse im sozialen Prozess D AVID B ECKER Probleme Traumata existieren als Abstraktion nicht. Sie existieren nur in konkreten sozialen Umständen. Es geht immer um Menschen, die Schreckliches in schrecklichen Verhältnissen erleben. Es geht um Leid, das in konkrete Körper eingeschrieben wird. Ein Grundlagenartikel zum Thema „Trauma“ hat es hier schwer. Einerseits müssen theoretische Grundlagen beschrieben und diskutiert werden, sodass es also gerade nicht um spezielle Gegebenheiten geht, andererseits macht es aber nur Sinn, über dieses Thema zu reden, wenn man dabei bereit ist, sich auf konkrete Verhältnisse einzulassen. Fängt man dann aber über diese oder jene Diktatur, über diesen oder jenen Krieg, über diese oder jene Familie an zu erzählen, läuft man Gefahr, sich in speziellen Verhältnissen zu verlieren. Zunächst sieht man die Bäume vor lauter Wald − und dann den Wald vor lauter Bäumen nicht. Diese Schwierigkeit kann dem Leser nicht völlig erspart werden. Zwar ist die Auswahl des praktischen Bezugsrahmens zunächst fast beliebig, aber sie ist unumgänglich nötig, will man wirklich über Traumata nachdenken. Im Folgenden soll einerseits eine grundlegende theoretische Diskussion geführt, andererseits aber von Anfang an Bezug genommen werden auf eine konkrete Konfliktlage. Ich berate seit 2004 Projekte im Nahen Osten. Die nicht enden wollenden Kriege dort beschäftigen mich seit vielen Jahren und sind auf vielfache Art und Weise speziell mit Deutschland und deutscher Vergangenheit verknüpft. Deshalb wird auf diese Realität hier immer wieder Bezug genommen. Leser_innen seien aber vorgewarnt: Traumatisches passiert nicht nur im Krieg und vieles, was auf den kommenden Seiten beschrieben und diskutiert wird, kann und soll auch zum Verständnis des Leides von Kindern bei uns herangezogen werden. Im Frühjahr 2010 befand ich mich in Gaza-Stadt und sprach mit Kolleg_innen aus den Schulen, die die Vereinten Nationen dort für die palästinensi-

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schen Flüchtlinge unterhalten, über die Situation der Kinder. Der letzte schwere Krieg war gerade vorbei. Der Gazastreifen war schwer bombardiert und dann vorübergehend durch die israelische Armee wieder besetzt worden. Es hatte viele Tote gegeben und die Zerstörungen waren überall sichtbar. Am Gespräch nahmen Lehrer_innen, Schuldirektor_innen und sogenannte Counselors, also schulpsychologische Berater_innen teil. Es ging unter anderem um die Frage, ob es − im Sinne einer Krisenintervention − sinnvoll sei, ob der hohen Anzahl von traumatisierten Kindern vorübergehend mehr Psycholog_innen oder BeraterInnen einzustellen. Die Mehrheit der Anwesenden sprach sich gegen solche zusätzlichen Hilfskräfte aus. Der Krieg sei zwar furchtbar gewesen und sie hätten sicherlich alle seit langem nicht mehr so viel Angst, so viele schreckliche und verzweifelnde Erlebnisse zu verarbeiten gehabt. Aber eigentlich sei hier doch sowieso die ganze Zeit Krieg; manchmal schlimmer oder ganz schlimm und dann wieder ein paar Monate Ruhe und dann ginge es wieder weiter. Die Kinder im Gazastreifen seien traumatisiert, aber eben nicht nur jetzt, sondern eigentlich ihr ganzes Leben lang. Und das gelte auch für sie selbst, schließlich seien sie genauso gestresst wie die Kinder, mit denen sie arbeiteten. Und dann berichteten sie über diverse Erlebnisse aus den vergangenen Monaten. Besonders deutlich in Erinnerung geblieben sind mir zwei Themen. Zum einen der Hinweis auf den Beginn des Krieges im Dezember 2009: Im Gazastreifen gibt es nicht genug Schulen, weshalb der Schulbesuch in Schichten organisiert ist. Der Krieg begann genau in dem Moment als die Kinder auf dem Heimweg beziehungsweise auf dem Schulweg waren. Für längere Zeit waren also Eltern und Kinder höchster Gefahr ausgesetzt und wussten gleichzeitig nicht voneinander. Ein zweites wichtiges Element der Schilderungen war der Schrecken und die Trauer über die vielen Toten. Sie alle hatten Menschen sterben sehen, hatten Familienangehörige verloren, hatten nicht helfen können. Unser Gespräch drehte sich also nicht nur um Trauma, sondern auch − und zwar ohne, dass man das genau hätte abgrenzen können − um Angst und Trauer. Die hier erinnerte Diskussion im Gazastreifen verdeutlicht viele grundlegenden Probleme, die immer sichtbar werden, wenn von Trauma die Rede ist. Was ist das überhaupt ,Trauma‘? Geht es um ein kurzfristiges überwältigendes Ereignis, das relevante psychische Folgeerscheinungen hervorbringt? Geht es um langfristige Prozesse und falls ja, wie versteht man diese? Ist Trauma einfach nur eine Metapher für ein schreckliches Erlebnis oder geht es um einen genauer abgegrenzten klinischen Begriff? Ist Trauma und der Umgang mit Traumata eine Aktivität für psychologische Fachkräfte oder handelt es sich um Problematiken, die in der Mitte der Gesellschaft angesiedelt sind und dementsprechend auch von Angehörigen ganz unterschiedlicher professioneller Disziplinen bearbeitet wer-

T RAUMA UND T RAUMADISKURSE IM SOZIALEN P ROZESS

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den müssen? Sind Traumata letztendlich psychosoziale Phänomene, die also nicht nur intrapsychisch, sondern immer auch sozial verortet sind? Als ich vor ein paar Jahren zum ersten Mal das Wort „Traumapädagogik“ hörte, lief es mir kalt den Rücken hinunter. Nachdem der Begriff „Trauma“ bereits durch die öffentlichen Medien zur Dauermetapher für alles Furchtbare gemacht worden war, nachdem in unserer modernen Welt anscheinend jedweder durch jedwedes „traumatisiert“ werden konnte − vom KZ bis zum Bonbonlutschen war alles möglich −, musste nun noch die Pädagogik sich dieses Begriffes annehmen. Pädagogik also für „Traumatisierte“ oder auch Pädagogik, um präventiv „Traumatisierungen“ vorzubeugen, möglicherweise die all so hochgeschätzte Resilienz zu fördern − vielleicht sogar, weil irgendjemand auf die Idee gekommen sein könnte, dass Pädagogik per se traumatisierend ist. Nachdem ich meine eigenen Vorurteile etwas zurückgestellt hatte, und ich mich auch an die vielen Gespräche erinnerte, die ich im Laufe der Jahre mit Menschen in verschiedenen Ländern der Welt geführt hatte, in denen traumatische Prozesse zum Alltag gehörten, wuchs meine Sympathie für diesen neuen Begriff. Vielleicht war dies ja eine Chance, die Traumathematik aus der begrenzten und gerade in sozialpolitischen Zusammenhängen falschen, rein klinischen Ecke herauszuholen, ohne sie deshalb zu entwerten. Vielleicht gab es hier also nochmal die Chance, über die Traumabegrifflichkeit und die damit zusammenhängenden Arbeiten auf breiter Ebene nachzudenken, dabei den individuellen psychologischen Bezug nicht zu vergessen, aber endlich auch den sozialen Realitäten angemessen Rechnung zu tragen. Im Folgenden soll den hier kurz umrissenen Problemen nachgegangen werden: An erster Stelle wird der Begriff „Trauma“ im Rahmen eines allgemeinen psychosozialen Rasters vorgestellt, das sich entlang der Begriffspaare Bedrohung/Angst, Zerstörung/Trauma und Verlust/Trauer strukturiert. In diesem Zusammenhang soll dann auch kurz über ,Empowerment‘ und ,Disempowerment‘ nachgedacht sowie mögliche Verknüpfungen zur Pädagogik verdeutlicht werden. An zweiter Stelle folgt dann eine historische Diskussion der Entwicklung des Traumabegriffs, wobei auf seine doppelte Identität als wissenschaftlicher Begriff einerseits und als sozialer Diskurs andererseits verwiesen wird. Hier wird dann auch kritisch über das Konzept der ,posttraumatischen Belastungsstörung‘ nachgedacht und in die Vorstellung von der sequentiellen Entwicklung traumatischer Prozesse eingeführt. Danach folgen einige Überlegungen zur Bedeutung von Traumata im pädagogischen Umfeld, wobei sowohl auf Kinder als auch auf Lehrer_innen Bezug zu nehmen ist. Zum Schluss werden noch zwei Beispiele aus meiner praktischen Arbeit im Nahen Osten vorgestellt, die helfen können, das traumapädagogische Feld abzustecken. Dabei handelt es sich zum einen um

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den niedrigschwelligen Zugang zu psychosozialer Unterstützung durch Sportaktivitäten für Kinder im Gazastreifen und in der West Bank, zum anderen um ein israelisch-palästinensisches Geschichtsbuch, in dem es darum geht, die historischen Narrative des anderen kennen zu lernen. Psychosoziale Grundkategorien Von „psychosozial“ zu reden impliziert, dass es sowohl um Inneres, um Gefühle, Wünsche, Gedanken, Glauben und Werte geht, darum, wie wir über uns selbst und die Beziehungen, in denen wir stehen, denken, als auch um die Umwelt, die sozialen Realitäten, in denen wir leben. Letzteres meint unseren gesamten sozio-kulturellen Kontext − vom komplexen Beziehungsnetz, in dem wir leben, über die vielfältigen kulturellen Produktionen, bis hin zum Gemeinwesen und zum Staat. Das Innere (psycho) und das Äußere (sozial) beeinflussen und strukturieren sich gegenseitig. „Psychosozial“ fragt also nach der Befindlichkeit von Individuen im Verhältnis zu ihrer Umwelt. Dabei geht es immer um die bewusste Verknüpfung von individuellen und sozialen Dimensionen der Realität, d.h. um ein ganzheitliches Verständnis von psychologischen und sozialen Prozessen. Im Mittelpunkt psychosozialer Konzeptionen steht der Begriff des ,Empowerment‘. Dieser wurde in den 1970er Jahren in den USA entwickelt und zwar sowohl von Menschen, denen es um sozialen Widerstand in der schwarzen Bürgerrechtsbewegung ging (Solomon 1976), als auch von eher konservativen Wissenschaftlern, die das angeblich zu starke Eingreifen des Staates in die sozialen Verhältnisse der Menschen in den USA kritisierten (Berger/Neuhaus 1977). Der Begriff des Empowerment hat in den Folgejahren dann vielfältige Verwendung gefunden, wobei manchmal der Schwerpunkt mehr auf Veränderungen des Selbstwertgefühls gelegt wurde, manchmal eher auf Stärkung der Eigeninitiative und Kritik an staatlicher Bevormundung, manchmal eher auf soziale Veränderungsprozesse. In der Regel werden − z.B. nach Rodenberg/Wichterich (1999) − drei Dimensionen des Empowerments unterschieden: 1. Innere Macht, d.h. die Fähigkeit, die eigenen Lebensumstände zu erkennen sowie die Einsicht, dass jede Person selbst die Möglichkeit hat, auf diese Situation Einfluss zu nehmen. 2. Macht zusammen mit anderen, eine Dimension, die der Tatsache Rechnung trägt, dass man einer Gruppe angehört und gemeinsam etwas verändern kann. 3. Macht über andere, was die Frage nach den Machtverhältnissen in Gesellschaften überhaupt impliziert (Welche Gruppen beherrschen andere bzw. inwieweit können sich Menschen eine Machtteilhabe erkämpfen?). Betrachtet man die Empowerment-Diskussion genauer, so wird deutlich, wie sehr hier immer die Frage nach der Fähigkeit, Macht auszuüben bzw. die Frage

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nach dem Fehlen von Macht im Vordergrund steht. Entsprechend könnte man sagen, dass man von Empowerment nur dann reden sollte, wenn man vorher das Disempowerment verstanden und analysiert hat. ,Disempowerment‘ ist das Resultat des Zerstörungsprozesses auf individueller und sozialer Ebene, der teils plötzlich und überraschend einsetzt, teils sich langsam und fast unmerklich entwickelt, immer aber in langjährigen kulturell bestimmten Macht- und Beziehungsstrukturen wirksam ist. „Wenn Empowerment Macht bzw. Ermächtigung ist, dann ist die extremste Form von Disempowerment absolute Ohnmacht“ (Becker 2006: 182). Der sozialen Realität der extremen Zerstörung entspricht also die psychische Realität des Traumas. Dem können dann noch zwei weitere Kategorien hinzufügt werden, die ebenso unmittelbar wie das Trauma psychologische Begrifflichkeiten sind, mit einem überdeutlichen sozialen Bezug: So kann man davon ausgehen, dass der Angst die soziale Realität der Bedrohung und der Trauer die soziale Realität des Verlustes entspricht. Schematisch lassen sich diese Zusammenhänge wie folgt darstellen:

(Becker/Weyermann 2006)

Dieses Schema verdeutlicht, dass es die psychischen Phänomene ohne die dazugehörigen sozialen ebenso wenig gibt, wie die sozialen Realitäten ohne die entsprechenden psychischen Korrespondenzen auftreten. Zudem sind die sozialen als auch die psychischen Prozesse immer nur in Bezug auf einen bestimmten Kontext zu verstehen. Nicht immer, aber häufig, geht der Zerstörung die Bedrohung voraus und letztendlich bedeutet jede Zerstörung stets auch Verlust. Ähnlich könnte man konstruieren, dass die Angst dem Trauma vorausgeht bzw. dass die traumatische Erfahrung selbst eine ins Unermessliche gesteigerte Angst ist. Und dann ist zwar Trauer nicht die Folge von Traumata, aber jedes Trauma ist sicher auch ein Verlust und in vieler Hinsicht ist Trauer eigentlich sowieso das

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einzige, was im positiven Sinne einer langfristigen Trauma-Verarbeitung möglich ist. Natürlich überschneiden sich die hier erwähnten Begriffe; sie unterscheiden sich aber auch deutlich, sind nicht als einfache Abfolge denkbar. Umschrieben wird hier aber ein Feld, in dem zentrale soziale Prozesse und die dazugehörigen psychischen Dimensionen erfasst werden. Jeder, der sich irgendwann einmal mit Traumata beschäftigt hat, wird bestätigen können, dass sowohl die Angst als auch die Trauer zentrale Bestandteile des Phänomens sind, mit dem wir uns hier auseinandersetzen. Nicht jede Angst ist traumatisch, ebenso wenig wie jedwede Trauer; allerdings liegen extremer Trauer bzw. schwer gestörten Trauerprozessen meist traumatische Verluste zugrunde, ebenso wie extreme Angst in der Regel Ausdruck extremer Ohnmacht und damit traumatischer Zerstörung ist (vgl. bspw. Volkan/Zintl 1993; Weinstein u.a. 1987; Balint 1973). Das hier umschriebene Kontinuum oder auch psychosoziale Feld erlaubt es uns, ,Trauma‘ nicht als Einzelphänomen, als engumgrenzte psychische Krankheit zu verstehen, sondern als soziales Phänomen. Diese Unterscheidung ist wichtig und zentral für die Traumapädagogik. Solange wir Trauma als Krankheit begreifen, die neben anderen psychischen Krankheiten steht, bleibt es ein Arbeitsfeld für Psychiater und Psychologen. Sobald wir aber erkennen, dass Traumata zum einen eng verknüpft sind mit allgegenwärtigen Erfahrungen wie Angst und Trauer und auch noch verstehen, dass sie eben nicht nur als überraschende Einzelphänomene, sondern vor allem auch als breit angelegter und langwieriger Prozess in gegebenen sozialen Verhältnissen stattfinden, dann hören sie auf, sinnvoll einzelwissenschaftlich analysierbar zu sein, dann müssen sie als soziale Phänomene verstanden werden, die überall − und gerade auch in der Pädagogik − relevant sind. Die anfangs beschriebene Diskussion im Gazastreifen wird in diesem Kontext nachvollziehbar: Hier gab es schreckliche traumatische Erfahrungen, diese sind jedoch Bestandteil einer breiten sozialen Realität. Sehr häufig geht es nicht um einen spezifischen traumatischen Zusammenbruch, sondern es geht um Bedrohung und Angst. Der Krieg begann, als die Kinder in den Straßen unterwegs waren. In den folgenden Monaten hatten sowohl Kinder als auch Eltern gerade um diese Zeit des Tages besondere Angst. Man kann das als traumatische Reaktion verstehen, es ist aber mehr als das. Es geht unter anderem z.B. um das Wissen von realen Bedrohungen. Bevor eine Bombardierung im Gazastreifen stattfindet, kreisen meist stundenlang Drohnen über der Stadt, die ein penetrantes und unverwechselbares brummendes Geräusch verursachen. Der Begriff ,Trauma‘ erfasst die Lernerfahrung schlecht, die jedem der dort Lebenden − und auch dem gelegentlichen Besucher − schnell in Leib und Blut übergegangen ist: Wenn man die Drohnen hört, weiß man, dass es in ein paar Stunden eine Bom-

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bardierung geben wird. Diese kann dann massiv oder auch punktuell sein, aber die Angst ist stets gleichermaßen präsent. Ja, sie ist sogar vernünftig, denn sollte man z.B. zufälligerweise gerade an einer Polizeistation vorbeilaufen, dann wird man zu Recht schleunigst das Weite suchen − schließlich stellt diese ein potentielles Angriffsziel dar. Auch braucht es einen nicht wundern, wenn in solchen Verhältnissen Kinder nicht nur unaufmerksam sind, sondern gleichzeitig auch hyperaufmerksam, was bestimmte Geräusche betrifft. Für die Lehrer_innen im Gazastreifen ging es damals also eben nicht so sehr um eine akute traumabezogene Krisenintervention; vielmehr ging es um den Umgang mit der chronischen Angst, um die Furcht vor dem, was jeden Tag passieren konnte. Es ging dann auch – und zwar zeitgleich – um spezifische traumatische Erfahrungen, so etwa das Schicksal einer Familie, in der die Mutter vor den Augen der Kinder verblutet war. Letztendlich stellte sich dann auch im Gespräch der Erwachsenen immer wieder die Frage, ob man das eigene Leid – wenn schon nicht verhindern – dann doch wenigstens beweinen könne bzw. dürfe. In den ersten Wochen nach dem Krieg war die Angst und auch die Traumatisierung oft noch zu massiv, aber ein paar Wochen später war dann doch ein gewisses Trauern möglich. Bemerkenswert war übrigens in dieser − wie in vielen ähnlichen Diskussionen auch −, dass die meisten Menschen sehr viel leichter über Angst und Trauer als über Traumata reden. Angst und Trauer drücken Gefühle aus, die wir alle zu kennen meinen, Trauma hingegen ist ein Wort, das im normalen Sprachgebrauch zu Recht noch immer fremd ist. Angst ist ein normaler psycho-physiologischer Prozess, mit dem wir uns vor Gefahren schützen. Mit Angst können wir auf eine Gefahr schneller reagieren, als wir sie bewusst erkennen − aber genau da liegt auch das Problem. Wurde eine Angstreaktion erst einmal erlernt, so besteht sie − unabhängig von der eigentlichen Bedrohung − fort, sofern nur die auslösenden Bestimmungsmerkmale gegeben sind (z. B. bestimmte Geräusche, eine Tageszeit oder Gerüche), also Elemente, die zentrale Signalgeber für die entsprechende Angstreaktion sind. Dann gibt es noch ein weiteres Problem, dass nämlich die Angst immer dann, wenn sie sie sich auf eine chronische Bedrohung bezieht, auf die Dauer ihre Schutzfunktion verliert. Man kann nicht ununterbrochen starke Angst haben. Man schiebt die Angst also weg, vergisst sie, verdrängt sie, macht sie zum Bestandteil des Alltags. Man stumpft ab. Das alles führt aber wiederum dazu, dass Gefahren nicht mehr richtig erkannt werden, man manchmal über- und manchmal unterreagiert. Menschen, die traumatisiert worden sind, haben extreme Gefahr erlebt, gegen die sie sich nicht wehren konnten; sie kennen also die extreme Angst, aber diese war nutzlos, konnte sie nicht schützen. Nach solchen Erfahrungen wird häufig versucht, Macht dadurch wieder zu gewinnen, dass es gelingt, die nächste Kata-

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strophe vorauszuahnen. Angst wird hier zum ,Traumabekämpfungsmittel‘, vertieft dabei jedoch die bereits stattgefundene Zerstörung nur noch.1 Auch über Trauer, d. h. über Verluste, können die meisten Menschen leichter sprechen als über Traumata: „Mein Haus ist zerstört worden“, „meine Mutter ist gestorben“, „mein Freund ist weggegangen und er fehlt mir“ sagt sich leichter als „ich bin traumatisiert“, „ich kann nicht mehr denken, nicht mehr fühlen, bin zerbrochen“. Ein Verlust, der benannt werden kann, ist für das Umfeld nachvollziehbarer als der namenlose Schrecken, der uns im Kern schwerer Traumatisierungen begegnet. In den meisten Gegenden, in denen Menschen tagtäglich mit schweren Bedrohungen und Zerstörungen umgehen müssen, ist die Trauer zunächst nicht hoch angeschrieben. Es gibt so viele Dinge, über die man weinen könnte, dass man möglichst versucht, gar nicht erst die eigene Betroffenheit sichtbar werden zu lassen. In Kriegs- und Krisengebieten ist der Tod jedoch allgegenwärtig, die Tränen fast immer ganz nah an der Oberfläche. Wer immer sich also traut, an dieser Oberfläche ein bisschen zu kratzen, bzw. eine ausreichend vertrauensvolle Beziehung aufzubauen, wird dem Schmerz und der Trauer begegnen und wird sehr schnell lernen, dass in der Trauer nicht nur die Folge von Leid sichtbar wird, sondern auch ein enormes Ermächtigungspotential steckt. Tod und Trauer sind allerdings keine Themen, die sich auf Kriegsgebiete beschränken. Sie sind eigentlich allgegenwärtig. Wer es einmal riskiert hat, mit Kindern im Kindergarten über den Tod zu reden, der weiß, dass dieses Thema immer präsent ist und dabei nur von uns Erwachsenen in der Regel tabuisiert wird. Tod und plötzliche Verluste können immer traumatisierend sein, müssen es aber nicht, vor allem dann nicht, wenn wir bereit sind, darüber zu sprechen.2 Die doppelte Identität des Traumabegriffs Die französischen Soziologen Fassin und Rechtmann sprechen in ihrem Abriss der Geschichte der Traumatheorie von einer „doppelten Genealogie“ (Fassin/Rechtmann 2007, 25-39). Sie meinen damit, dass sich die Entwicklung der Traumatheorie zwar bis zu einem gewissen Grad als wissenschaftsimmanenter Entwicklungsprozess beschreiben lässt, aber eigentlich nicht in ausreichender Form. Um die zum Teil sehr essentiellen Veränderungen im wissenschaftlichen Verständnis von Traumata nachvollziehen zu können, bedarf es des Blickes auf

1

Zum Bezug zwischen Trauma und Angst vgl. auch Freud (1926) sowie Becker (1992).

2

Ein kunstvolles, aber auch sehr hilfreiches Buch, um mit Kindern und Erwachsenen über den Tod zu sprechen ist „Ente, Tod und Tulpe“ von Wolf Erlbruch (2007); ebenso zu empfehlen ist Astrid Lindgrens „Die Brüder Löwenherz“ (1974).

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sich verändernde gesellschaftliche Verhältnisse. Man kann also einerseits etwa bestimmte Entwicklungen in der Psychoanalyse nachverfolgen, muss aber andererseits verstehen, wie entscheidend und nachhaltig z. B. der Holocaust das Traumaverständnis verändert hat. Man kann folglich von einer doppelten Identität der Traumatheorie sprechen, nämlich als klinische Theorie und als moralische Kategorie in gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen. Die ersten Traumatheorien tauchen noch im 19. Jahrhundert in Bezug auf verunglückte Eisenbahnreisende in England auf. Später werden vergleichbare Theoriediskussionen − nun bezogen auf Arbeitsunfälle − in der deutschen Psychiatrie geführt und schließlich geht es zur Zeit des ersten Weltkriegs um Soldaten, die unter dem sogenannten „shell shock“ leiden. Dabei geht es immer um die Frage von der psychischen Wirkung überwältigender Erlebnisse, wobei sich die Fachleute im Wesentlichen dafür interessieren, ob die Betroffenen simulieren oder nicht. Gefragt wird also, ob die Eisenbahnverunglückten Versicherungsbetrüger, die verunglückten Arbeiter arbeitsscheu und die Soldaten Feiglinge sind. Die Behandlungsmethoden fallen damals auch entsprechend aus: Meist sind sie aversiv und reichen von kalten Duschen über Insulinüberflutung bis zu Elektroschocks. Im besten Fall bedient man sich noch manipulativer Techniken wie der Hypnose. Als nach dem 2. Weltkrieg begonnen wird, das unendliche Ausmaß der Naziverbrechen wahrzunehmen, ändert sich das Verhältnis, ja eigentlich die Definition von „Opfer“ vollständig. Die Überlebenden der KZs sind weder Feiglinge noch Simulanten, sondern sie können und sollen Zeugnis ablegen über ungeheuerliche Verbrechen, von denen die Nazis hofften, dass keiner je von ihnen berichten können würde. Die Traumatheorie fokussiert nunmehr auf die Anerkennung des Schadens, versucht Verwirrungen zu verstehen und zu überwinden. Und noch einmal ganz entscheidend verändert sich das Traumaverständnis gegen Ende des Vietnamkrieges. Die zu diesem Zeitpunkt erfolgende „Erfindung“ der posttraumatischen Belastungsstörung macht Trauma zum Weltphänomen, entmoralisiert aber den Begriff. Ging es in Bezug auf den Holocaust noch ganz wesentlich um die Anerkennung der Opfer, hat die USA mit sozial ge- und verstörten Rückkehrern aus dem Vietnamkrieg ein ganz anderes Problem. Hier geht es um Opfer, aber möglicherweise auch um Täter. Man denke z. B. an das Massaker von My Lai. Nunmehr geht es im Trauma nicht mehr so sehr um den Kontext der Traumatisierung, sondern es geht um die psychischen Folgeerscheinungen. Das (oder die) auslösende(n) Ereignis(se) interessieren als solche nicht mehr, sie sind nur Stressoren, die den psychischen Zusammenbruch auslösen. Ob KZ-Opfer, ob Täter in Vietnam, ob sozial-isolierter Rückkehrer in den USA oder ob Opfer eines Autounfalls − es macht keinen Unterschied mehr. Sie alle können traumatisiert sein. Trauma wird nun einerseits zu einer psychischen Krankheits-

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diagnose, die weltweit Gültigkeit hat und damit auch die Chance bietet, dass Opfer weltweit auch als solche anerkannt werden. Andererseits aber wird Trauma auch zu einer leeren Hülle. Der Kontext, die auslösende Situation, interessiert nicht mehr oder nur wenig. Die bezüglich des Holocaust noch so überdeutliche sozialpolitische Verknüpfung verschwindet aus der Traumatheorie. Dadurch wird sie unanstößiger, erkennt aber gleichzeitig auf viel breiterer Ebene traumatisches Leid an. Allerdings kann mit dieser Traumatheorie auch niemand mehr auf die Idee kommen, dass man eventuell die Trauma auslösenden politischen Verhältnisse ändern müsste, wenn man sich wirklich für die Opfer interessieren würde. Vielmehr können jetzt überall auf der Welt kontextfrei Kranke behandelt werden. Man darf die Bedeutung der Anerkennungsthematik für Traumatisierte keinesfalls unterschätzen. Gerade dann, wenn Traumatisierungen sozial verursacht sind, stellt Anerkennung die einzige Möglichkeit dar, die Verletzung als das wahrzunehmen, was sie ist und gleichzeitig ein positives, wertschätzendes, vermenschlichendes Beziehungsangebot zu machen. Die PTBS bedeutet ein Stück Anerkennung, ist aber potentiell so sinnentleert, dass sie genau das Gegenteil bewirken kann, nämlich Stigmatisierung. Heutzutage ist es gang und gebe, Traumata nicht nur vergleichsweise kontextfrei zu diagnostizieren, sondern immer biologistischer zu definieren. Natürlich spricht nichts gegen die Erkenntnisse der modernen Neurobiologie, aber auch hier wird sehr häufig die Tendenz erkennbar, den zur Traumabestimmung unweigerlich notwendigen sozialen Bezug auszublenden. Wie sehr Traumadiskurse, auch wenn sie sich streng wissenschaftlich geben, immer an politische Prozesse gebunden sind, hat zuletzt der Soziologe José Brunner überzeugend an Beispielen aus USA, Israel und Deutschland belegt (Brunner 2014). Kehren wir einen Moment um und betrachten die wissenschaftsimmanenten Entwicklungen in der Traumatheorie. So geht Sigmund Freud (1895) − gemeinsam mit Josef Breuer − in seiner sogenannten Verführungstheorie noch davon aus, dass seine Patientinnen sexuell missbraucht worden waren und ob dieser, ihre psychische Struktur überwältigenden Erfahrung später hysterische Symptome entwickelt hätten. Obwohl Freud diese Theorie nur wenige Jahre später selbst in Frage stellte, blieb sie doch ein wichtiger erster Schritt. Hier wurden die möglichen schweren intrapsychischen Konsequenzen eines externen Ereignisses beschrieben. Diese Grundmetapher vom ,Riss‘ zwischen Selbst und Realität, von einer die psychische Struktur überwältigenden Lebenserfahrung, bleibt bis heute ein wesentliches Merkmal jedweder Traumatheorie. Trauma kann also erklärt werden als ein

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„Ereignis im Leben des Subjekts, das definiert wird durch seine Intensität, die Unfähigkeit des Subjektes adäquat darauf zu antworten, die Erschütterung und die dauerhaften pathogenen Wirkungen, die es in der psychischen Organisation hervorruft. Ökonomisch ausgedrückt ist das Trauma gekennzeichnet durch ein Anfluten von Reizen, die im Vergleich mit der Toleranz des Subjekts und seiner Fähigkeit, diese Reize zu bemeistern und zu bearbeiten exzessiv sind“ (Laplanche/Pontalis 1977: 513).

Freuds Denken war aber schon damals recht kompliziert. Da er zunächst noch keine Theorie über die kindliche Sexualität hatte, musste er versuchen, irgendwie zu begründen, warum ein Kind einen sexuellen Übergriff als traumatisch erlebt konnte, wenn es doch eigentlich noch keine Sexualität hatte. Freud erfand hierfür das Konzept der ,Nachträglichkeit‘, welches die Vermutung beinhaltete, dass ein Ereignis in der Kindheit einer Person nachträglich traumatisch werden konnte, wenn die inzwischen eingesetzt habende sexuelle Reifung die Bedeutung dieses Ereignisses entscheidend veränderte. Freud glaubte also, dass die erwachende Sexualität − sozusagen mit zeitlicher Verspätung − die ganze zerstörerische Kraft des erlittenen Missbrauchs für die Opfer deutlich mache und sie an dieser Stelle dann Symptome entwickelten. Freud selbst kamen später Zweifel an dieser Theorie. Er entwickelte daher grundlegende Theorien zur frühkindlichen Sexualität (Freud 1905) und beschäftigte sich später nicht mehr so direkt mit Traumatisierungen. Natürlich kann man sich fragen, weshalb Freud erst die Bedeutung sexueller Übergriffe durch Erwachsene herausarbeitete, um sie dann später mit der Entdeckung der kindlichen Sexualität beiseite zu legen − Ein Vorgehen, das weder logisch noch sinnvoll ist. Traumatheoretisch ist an dieser ganzen seltsamen ersten Konstruktion allerdings nicht nur interessant, dass die zerstörerische Wirkung exogener Faktoren bei einer psychischen Erkrankung erstmals anerkannt wurde, sondern auch, dass zwei sich scheinbar widersprechende Gedanken zur Zeitlichkeit im Trauma sehr klug entwickelt werden: Zum einen wird die plötzliche und einschneidende Überwältigung hervorgehoben, zum anderen wird aber auch bereits gezeigt, dass Traumata einen Entwicklungsprozess haben können, dass sie auch Jahre später erst symptomatisch zum Ausbruch kommen können, dass ,Zeit‘ im Trauma auf seltsame Art und Weise nicht nur von der Vergangenheit in die Gegenwart funktioniert, sondern vielleicht auch umgekehrt. Später war es Sandor Ferenczi, den man auch als ‚Mutter' der Psychoanalyse bezeichnen kann, der über Traumatisierungen weiter nachdachte und entscheidende Impulse für die Theorie lieferte. Er erkannte frühzeitig, dass sexueller Missbrauch durch den Erwachsenen unmittelbar traumatisch wirkt, weil der kindliche Liebeswunsch, die kindliche Liebesbedürftigkeit und die kindliche

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Liebesfähigkeit durch den Erwachsenen mit seiner erwachsenen Sexualität und seinen erwachsenen Wünschen frontal angegriffen und pervertiert werden. Ferenczi verstand sehr deutlich, dass das Trauma hier seinen Ausgang nahm, selbst wenn es nicht unbedingt zu unmittelbaren Symptombildungen führen musste. In seiner Abhängigkeit blieb dem Kind als Reaktion eigentlich nur der Tod oder die Unterwerfung. Wenn also später Opfer, scheinbar identifiziert mit dem Täter, sich selbst beschuldigten oder sich scheinbar gewünscht hatten, was ihnen passiert war, dann war das eben ein Resultat des Versuchs, die Traumatisierung zu überleben. In seinem hervorragenden, 1933 erstmals erschienenen Artikel „Sprachverwirrungen beim Kinde“ (Ferenczi 1982) erklärt er, dass es Aufgabe des Therapeuten sei, die Sprache des Täters als solche zu erkennen und die sich in ihr ausdrückende traumatische Unterwerfung des Opfers zu verstehen. Wir sehen also bei Ferenczi lange vor dem 2. Weltkrieg bereits eine Fokussierung auf die Anerkennung des Leids des Opfers und ein Bemühen, die externe Zerstörung anzuerkennen und zu benennen, auch wenn dies schwerfällt. Bei Ferenczi bleibt die Anerkennung des externen Ereignisses folglich von Bedeutung, selbst wenn er als Psychoanalytiker gleichzeitig über die Komplexität intrapsychischer Prozesse nachdenkt. Ferenczi war es auch, der als erster herausgearbeitet hat, dass Traumatisierte über ihre eigenen Erfahrungen entweder scheinbar distanziert und gefühllos, dafür aber bewusst und direkt erzählen können, oder sich aber emotional eng bzw. direkt verknüpft mit dem Trauma ausdrücken, dabei aber die Sprache verlieren, in Trance verfallen, bewusstlos werden. Es ist so, als ob man entweder über das Trauma spricht, dann aber nicht wirklich beim Trauma ist oder man ist im Trauma, dann setzt aber die Fähigkeit zu denken aus. Dieses von Ferenczi schon 1932 beschriebene Dilemma (Ferenczi 1988) schildert unwahrscheinlich genau die zentralen Spaltungsprozesse, denen man bei Traumatisierten begegnet. Wenn die traumatische Erfahrung wirklich ein Zusammenbruch war, dann kann das normale Denken zu diesem Zeitpunkt nicht weiter funktioniert haben. Ein solcher Zusammenbruch kann aufgrund eines einmaligen Erlebnisses oder auch als Folge einer Reihe von Erfahrungen auftauchen, aber an irgendeiner Stelle ist die Struktur, die wir ,Psyche‘ oder ,Selbst‘ oder ,Ich‘ nennen, zusammengebrochen. Die Personen sind − wenn auch nicht physisch − so doch psychisch in gewissem Sinne gestorben. Es ergibt sich also eine Gleichzeitigkeit von ,Leben und Weiterleben‘ und von ,Gestorben sein‘. Im Mittelpunkt der traumatischen Erfahrungen steht der Tod. Da gibt es keine Worte, da gibt es nur endlose Angst und Terror. Aber aus der Spaltung heraus kann dieser Tod betrachtet, beschrieben und hinterher auch rekonstruiert werden. 3

3

Vgl. hierzu auch Balint (1970) und Winnicott (1974; 1976).

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In den Folgejahren gab es in der Psychoanalyse vielfältige Entwicklungen, durch die sich in der Traumatheorie die Akzentsetzung verschob. Stand ursprünglich vor allem noch das quantitative Element im Vordergrund, rückt in der Nachfolge von Ferenczi − etwa bei Balint (1966) oder auch Winnicott (1974) − immer mehr das Beziehungsgeschehen in den Vordergrund der Analyse. Ohne dass das quantitative Element vollkommen verschwindet, wird nun Trauma als Prozess denkbar; damit wird der Sprung möglich zur wohl bedeutendsten Traumatheorie, der sequentiellen Traumatisierung von Hans Keilson (1979). Keilsons Theorie, die aus seiner langjährigen Arbeit mit jüdischen Kriegswaisen in Holland resultierte (er betreute diese Kinder während des Krieges im Untergrund als auch nach dem Krieg und beforschte über 200 Fälle auch im Erwachsenenalter), ist einerseits also einer psychoanalytischen Entwicklung geschuldet, in welcher Beziehungen immer wichtiger wurden und das Milieu − gerade beim Verständnis intrapsychischer Prozesse − in den Mittelpunkt rückte. Andererseits aber ist diese Theorie nur denkbar als Teil des Kampfes um die Folgen der Judenvernichtung durch die Nazis. Hans Keilson erlitt diese Verfolgung selbst und arbeitete, wie gesagt, ein Leben lang mit den Opfern. Seine Traumatheorie unterscheidet zunächst drei Sequenzen: die Zeit vor Beginn der Verfolgung, die Zeit der Trennung von Mutter und Kind (Deportation, KZ, Untergrund) und die Zeit nach dem Krieg mit dem zentralen Thema der Vormundschaftszuweisung für die Kinder, d. h. der Frage, ob im Untergrund überlebt habende Kinder wieder in ein jüdisches Milieu zurückgeführt werden oder bei ihren holländischen Pflegefamilien aufwachsen sollten. Hans Keilson konnte in seiner Untersuchung nachweisen, dass der Prozesscharakter des Traumas zentral ist, und dass die Traumatisierung sich fortsetzt − auch nach dem Ende der Verfolgung. Mehr noch: Er konnte zeigen, dass fürchterliche Erlebnisse in der zweiten Sequenz relativ gut verarbeitet werden konnten, wenn die dritte Sequenz ein ausreichend unterstützendes Milieu zur Verfügung stellte. Umgekehrt gilt: Nicht ganz so schlimme Erfahrungen in der zweiten Sequenz konnten sich zu schweren Störungen in der dritten Sequenz auswachsen, wenn die Lebensverhältnisse in dieser dritten Sequenz schlecht waren. Keilson war nicht nur Analytiker, sondern auch Sportlehrer und Schriftsteller. Vielleicht könnte man unterstellen, dass seine Traumatheorie so etwas wie eine ,traumapädagogische Grundidee‘ ist: Schreckliche Ereignisse haben schreckliche Wirkung, die aber weitgehend verarbeitet werden können, wenn das nachfolgende Milieu gut genug ist. Die Vergangenheit wird also durch die Gegenwart immer wieder neu geformt und verändert. Wichtiger als die Schwere der Verletzung in der Vergangenheit ist das nachfolgende Beziehungsangebot. Damit wird jenseits von Therapie und medizinischer Behandlung die gesamte Beziehungswelt des Traumatisierten bedeutsam − eine Konsequenz, die eine große

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Chance impliziert, aber auch eine unwahrscheinlich große Verantwortung. Traumatisierte leiden nicht nur an einer Krankheit in der Vergangenheit, sondern sie gesunden oder erkranken immer auch an einer Gegenwart, an der die gesamte Umwelt beteiligt ist. Das Schicksal der Traumatisierten wird also nicht nur durch die bestimmt, die ihnen ursprünglich Schreckliches angetan haben, sondern durch uns alle, die wir später mit diesen Traumatisierten besser oder schlechter umgehen. In diesem Zusammenhang wird auch noch einmal verständlich, weshalb mit dem Resilienzkonzept so vorsichtig umzugehen ist. Wenn unter ,Resilienz‘ eine innere Fähigkeit verstanden wird, Traumatisierungen zu widerstehen, dann ist es eine Illusion, die mehr schaden als helfen kann. Wenn ,Resilienz‘ aber als sozialer Prozess begriffen wird, also als Konstruktion im sozialen Milieu, welches Verletzten hilft, Stärken wiederzufinden, neu zu entwickeln bzw. in sich zu entdecken, dann mag es ein sehr hilfreiches Konzept sein. , Um die Keilson schen Kategorien auch jenseits des Holocaust nutzbar zu machen, habe ich in Anlehnung an seine Ausführungen gemeinsam mit Barbara Weyermann folgendes Schema entwickelt:

(Becker/Weyermann 2006)

Aus den drei Sequenzen sind hier sechs geworden, was vor allem der Tatsache geschuldet ist, dass der Vergleich mit anderen traumatischen Verfolgungssituationen weltweit gezeigt hat, dass die akute Verfolgung zu unterteilen ist in ,Momente des direkten Terrors‘ und ,Momente des Wartens‘ oder der ,Chronifizierung‘. Kriege verlaufen nicht wie im Kino, wo in drei Stunden viele

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Jahre zusammengefasst werden können. In Kriegen gibt es immer den Moment, in dem gekämpft, gemordet, zerstört wird und dann das stunden-, tage-, wochen-, monatelange Warten in Angst, währenddessen sich das Leben teilweise normalisiert, teilweise aber auch der Terror einfach chronisch wird. Diese beiden Sequenzen lösen sich im Krieg immer weiter voneinander ab. Und dann gibt es auch noch die Zeit des Übergangs, die manchmal kurz und eindeutig sein kann, manchmal aber auch viele Jahre andauert. In Chile z. B. wurde das Ende der Diktatur mit dem Plebiszit von 1988 eingeleitet; damit war aber die Macht der Generäle nicht gebrochen. In den Folgejahren gab es einen langen und langsamen Übergang zur Demokratie, u. a. mit zwei Wahrheitskommissionen und einer nach wie vor nicht ganz vollständigen Beseitigung der Gesetze aus der Diktatur. Auf die Phase des Übergangs folgt nicht notwendig die Nachkriegs- oder Nachkonfliktzeit, denn die Verhältnisse können sich auch wieder verschlimmern. Auch gilt, dass nach dem Trauma manchmal vor dem Trauma bedeutet. Denkt man etwa an Jugoslawien, dann kann man die sechs Sequenzen grob von vor dem Weltkrieg bis in die Tito-Zeit hinein verordnen; diese Sequenzen beginnen jedoch erneut Anfang der 1980er Jahre und sind, zumindest was Bosnien betrifft, auch heutzutage noch nicht abgeschlossen. Im Falle von Flüchtlingen ist die sequentielle Traumatisierung noch etwas anders zu beschreiben, da sie durch die Flucht ja scheinbar dem Traumatisierungsprozess ihres Landes entkommen, obwohl genau dadurch ein eigener Traumatisierungsprozess erst einsetzt.

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(Becker/Weyermann 2006)

Die erste Sequenz ist die Zeit vom Beginn der Verfolgung bis zur Flucht. Menschen fliehen nie freiwillig. Sie werden durch Lebensumstände dazu gezwungen. Sie haben manchmal Zeit, bis zu einem gewissen Grade noch eine eigene Entscheidung zu fällen, zum Beispiel in Bezug auf die Fragen wohin sich fliehen oder was sie mitnehmen, häufig aber werden sie einfach vertrieben. Die zweite Sequenz ist dann die Flucht selbst, die lange dauern kann, die alleine oder in einer Gruppe stattfindet und in der es oft einfach um den Überlebenskampf geht, wobei gleichzeitig die Erinnerung an all das, was man verloren hat, sehr lebendig ist. Und wenn dann schließlich ein Ort relativer Sicherheit erreicht worden ist, ist dies selten genau der Ort, den man sich vorgestellt bzw. erhofft hat oder an dem man gerne bleiben möchte. Die Ankunft am Aufnahmeort ist immer eine prekäre Zeit. Hier kommen die Menschen erstmals ein bisschen zur Ruhe, während sie sich gleichzeitig all den Herausforderungen stellen müssen, die mit der notwendigen neuen Lebensorganisation zusammenhängen. Aus dem anfänglichen bewussten Prekariat wird dann ein Dauerzustand. Die Menschen richten sich ein, kommen irgendwie mit ihrer Flüchtlingsexistenz zurecht, finden manchmal neue Zugehörigkeiten, integrieren sich oder auch nicht. Und irgendwann stellt sich dann die Frage, ob man zurückkehrt ins Heimatland oder im Aufnahmeland bleibt. Wenn die Rückkehr nicht freiwillig beschlossen, sondern erzwungen wird, stellt sie meist eine neue traumatische Sequenz dar, und auch

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dort, wo sie freiwillig erfolgt, birgt sie große Gefahren, denn eine Rückkehr im eigentlichen Sinne gibt es nicht. Das Land von dem die Flüchtlinge geträumt haben, hat sich verändert. Sie werden es nicht wiederfinden, selbst wenn es manchen durchaus gelingt, ihr Zuhause wiederaufzubauen. Aber es ist ein anderes Zuhause. Diejenigen aber, die nicht zurückkehren, müssen sich selbst endgültig als Migrant_innen akzeptieren, mit all den komplexen Identitätsbestimmungen, die das mit sich bringt. Auch die Flucht kann also als spezielle Abfolge traumatischer Sequenzen begriffen werden. Überhaupt macht es wahrscheinlich Sinn, immer wieder spezielle Sequenzabfolgen für unterschiedliche Traumatisierungen zu beschreiben, z. B. bei sexuellem Missbrauch. Das Grundschema − vor dem Trauma / im Trauma / nach dem Trauma − bleibt wohl meist bestehen, jedoch variieren die speziellen Ausformungen und müssen daher definiert werden. Die Theorie der sequentiellen Traumatisierung bestreitet die schwere psychische Verletzung, die bei Traumata immer eine Rolle spielt, nicht. Aber sie verlegt unsere Aufmerksamkeit notwendigerweise auf das Umfeld und den langfristigen Prozess. Traumata werden so zu Phänomenen, die nie nur einzelne Personen betreffen, sondern immer uns alle. Wir sind alle Bestandteile des traumatischen Prozesses, helfen diesen im positiven Sinne zu bearbeiten oder müssen Verantwortung für dessen Verschlimmerung, Vertiefung, Verlängerung übernehmen. Die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ist eine klinische Diagnose, die alle Vor- und Nachteile einer solchen hat. Auf der einen Seite benennt sie eine Reihe von Symptomen, die tatsächlich häufig auftreten und zu denen insbesondere die sogenannten Flashbacks, (Nachhallerinnerungen, Träume und Alpträume) gehören, sowie erhöhte Schreckhaftigkeit und Sensibilität (Hypervigilanz) als auch das sogenannte Numbing, also eine Art Rückzug von Erinnerungen und Affekten, ein Verhalten, das wir meist als depressiv erleben. Die Betroffenen müssen darüber hinaus nicht nur die eben genannten Symptome zeigen, sondern davor einem belastenden kurz oder lang andauernden Ereignis ausgesetzt gewesen sein, welches eine außergewöhnliche Bedrohung bedeutete oder katastrophales Ausmaß hatte und bei fast jedem Menschen eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde (vergl. den von der WHO herausgegebenen ICD-10, 2016). Ein solcher Definitionsversuch erweckt den Eindruck, man hätte es mit einer klar umgrenzten Problematik zu tun, einer Problematik mit eindeutigen auslösenden Faktoren und eindeutigen Symptomen. Das Schwierige ist nur, dass diese Symptome zwar häufig, aber nicht ausschließlich auftreten, dass es kulturell sehr große Unterschiede gibt in Bezug darauf, welche Symptome auftreten und schließlich, dass unklar ist, zu welchem Zeitpunkt Symptome erkennbar werden. Manche schwer traumatisierte Personen bleiben jahrelang scheinbar

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symptomfrei. Andere werden kurzfristig schwer krank. Hinzu kommt, dass es sich um eine individualpsychiatrische Diagnose handelt, dass also Störungen des Familienlebens oder auch Schwierigkeiten im Sozialverhalten, etwa in der Arbeit oder im Lernprozess, überhaupt nicht erfasst werden, obwohl gerade diese bei Traumatisierten sehr häufig auftreten. Tatsächlich interessiert sich die posttraumatische Belastungsstörung, wie bereits ausgeführt, für den auslösenden Kontext nicht. Wenn aber die oben entwickelte These stimmt, dass Trauma überhaupt nur in Bezug auf bestimmte Kontexte verstanden werden kann, dann bedeutet die PTBS als Diagnose bereits eine potentielle Verschlimmerung des Leidens der Betroffenen. Aus Sicht des Autors dieser Zeilen ist die PTBS daher keine hilfreiche Diagnose und der mit ihr einhergehende diagnostische Prozess sollte − gerade auch im Schulbereich − besser durch eine genaue psychosoziale Diagnostik, sprich Situationsbeschreibung ersetzt werden.4 Es scheint mir kein Zufall zu sein, dass die PTBS gerade am Ende des letzten großen Kolonialkrieges „erfunden“ wurde: Einerseits wird so die Möglichkeit anerkannt, dass auf der ganzen Welt Menschen leiden, andererseits aber wird dieses Leid entpolitisiert, zu einer nicht mehr weiter hinterfragbaren psychischen Krankheit gemacht. Wer schon einmal die 1899 verfasste Erzählung „Herz der Finsternis“ von Joseph Conrad (2004) gelesen oder die moderne filmische Version APOKALYPSE NOW (1979) gesehen hat, weiß, dass das, was hier diskutiert wird, Teile des imperialen Schreckens sind. Dieser wird aber dargestellt als eine quasi magische Wirklichkeit, die schrecklich ist, von der wir uns aber nicht mehr fragen müssen, woher sie kommt. Tatsächlich wird der koloniale Zusammenhang bei Conrad noch sehr viel deutlicher als bei dem berühmten ersten großen Film über den Vietnamkrieg. Die Existenz des Herzens der Finsternis wird anerkannt, aber die Frage, woher diese Finsternis kommt, was sie verursacht hat, wird nicht mehr gestellt. Es kann in diesem Zusammenhang übrigens nicht verwundern, dass einer der ersten, der Traumatisierungen im politischen Konflikt beschrieben hat, eben nicht ein westlicher Traumatheoretiker war, sondern ein Psychiater, der zwar in Frankreich ausgebildet worden war, sich aber selbst als Produkt, als Leidtragender der kolonialen Gewalt verstand: Die Rede ist hier von Franz Fanon (1969) der der Erste war, der über Traumatisierungen im Rahmen des algerischen Befreiungskrieges − und dabei insbesondere über Folteropfer − nachgedacht hat.

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Zur Kritik an der PTBS-Diagnose siehe auch Hamber (2009) sowie Summerfield (1996).

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Trauma in der Schule Es kann hier nicht darum gehen, bereits die ganze Problematik des Umgangs mit Traumata in der Schule angemessen abzuhandeln, aber stichwortartig soll doch überlegt werden, was diese ganze Konzeption vom Trauma als sozialem Phänomen und sozialem Prozess in einer der zentralen pädagogischen Institutionen, nämlich der Schule, bedeuten könnte. Dabei müssen uns hier vor allem vier Fragen beschäftigen: • Wie können wir Traumata erkennen? • Wie können wir mit Traumata umgehen und dabei Ermächtigung fördern und

Entmachtung sowie Stigmatisierung verhindern? • Können wir Traumata verhindern? • Was bedeutet der Umgang mit Traumatisierungen für uns, die wir Leh-

rer_innen, Psycholog_innen, Sozialarbeiter_innen sind? Die erste Frage ist außerordentlich schwierig zu beantworten. Wenn wir PTBS Symptome beobachten, können wir eine Traumatisierung annehmen. Wenn wir bei Kindern, von denen wir wissen, dass sie traumatische Situationen erlebt haben, problematisches Verhalten wahrnehmen oder auch ungewöhnliche physische Krankheitsverläufe (etwa zu häufig erkältet, immer hohes Fieber etc.), auch weit jenseits der bekannten Symptome, können wir eine Traumatisierung vermuten. Wir müssen allerdings unterscheiden zwischen traumatischer Situation, Trauma und Trauma-Symptomen; und ob ein Trauma vorliegt, kann oft nur ein genaues und vertrauensvolles Gespräch mit dem Betroffenen ergeben. Grundsätzlich gilt die Regel, dass jemand, der über sein Problem berichten kann, noch weniger bedroht ist, als jemand, der schweigt. Ein Kind also, das Krach macht, das auffällt, sollte uns weniger Sorgen machen, als das stets schweigsame, ordentliche und fleißige Flüchtlingskind, das atemberaubend schnell Deutsch gelernt hat. Wichtig bleibt auch, nicht zu vergessen, dass es ein großes Kontinuum zwischen Angst, Trauma und Trauer gibt. Wichtiger als die genaue klinische Diagnose, für die uns meist sowieso die Zeit fehlt, ist einfach die grundlegende Bereitschaft, uns auch im Schulbereich mit der emotionalen Befindlichkeit von Kindern ernsthaft auseinanderzusetzen. Damit sind wir bei der zweiten Frage, nämlich der des Umgangs mit Traumata. Dazu ist zu sagen, dass man erst recht, wenn es sich um traumatisierte Kinder handelt, diese ernst nehmen muss. Das Schlimmste, was einem leidenden Menschen passieren kann, ist von anderen vor allem dadurch marginalisiert und stigmatisiert zu werden, dass man mit Vorsicht und Mitleid, gleich einer exoti-

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schen, gefährdeten, potentiell giftigen und zerbrechlichen Pflanze, behandelt wird. Es geht also zunächst einmal darum, nicht wegzulaufen, nicht selber zu viel Angst vor dem zu haben, was Traumatisierte einem erzählen könnten und sich auf die betreffenden Kinder einzulassen. Ein traumatisiertes Kind ernst zu nehmen, bedeutet sowohl die Verletzung anzuerkennen, als auch wahrzunehmen, was dieses Kind sonst noch alles kann, denkt, will, möchte. Man sollte einerseits nie vergessen, dass Traumatisierte zwar den Tod erlebt haben und uns irgendwie zwingen, uns selbst mit diesem zu beschäftigen, andererseits aber auch berücksichtigen, dass sie das Schreckliche überlebt haben, dass sie also Kräfte haben, die man bewundern und anerkennen kann, selbst wenn man sich gleichzeitig in die extreme Verletzung einfühlen muss. Es darf nie darum gehen, entweder stark oder schwach, entweder gesund oder krank zu sein; stets muss es um das Recht gehen, beides gleichzeitig sein zu dürfen. Die dritte Frage muss mit einem eindeutigen „Nein“ beantwortet werden. Wir können Traumata nicht verhindern, aber wir können ein Klima erzeugen, in welchem Kinder sich trauen, über ihre Ängste zu sprechen, Bedrohungen, die sie erlebt haben und noch immer erleben, mitzuteilen und zu vertrauen. Wir können lernen, auch in der Schule, auch im Unterricht, nicht vor ihren Emotionen davonzulaufen. Prävention im Traumabereich heißt vor allem, ein offenes Ohr für die Ängste der Kinder zu haben. Es heißt auch, Kindern zu helfen, im Umgang miteinander nicht destruktiv mit jenen umzugehen, die die Schwächsten sind. Und schließlich geht es immer auch um die Frage, ob das, was man verloren hat, auch in irgendeiner Art und Weise betrauert werden kann und ob es − gerade auch in der Schule − Räume gibt, aus dieser Trauer heraus etwas Kreatives entstehen zu lassen. Und hier wäre dann Prävention als eine Arbeit zu verstehen, die dabei hilft, die verschiedenen traumatischen Sequenzen so gut als möglich stattfinden zu lassen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Schließlich ist immer auch noch die Frage nach uns selbst zu stellen. Auch wenn wir selbst nicht direkt betroffen sind, können die Erfahrungen anderer sehr wohl für uns überwältigend sein. Außerdem gibt es Themen, die für alle erschreckend sind, selbst wenn sie − wie zum Beispiel der Tod − zum Leben dazu gehören. Es ist Teil unseres Selbstschutzes, aber auch Teil einer guten Präventionsarbeit, uns mit existenziellen Themen wie Tod, Krankheit oder auch politischer Verfolgung etc. auseinanderzusetzen. Wir müssen lernen, hinzuschauen, nicht nur bei anderen, sondern auch in Bezug auf das, was uns das alles selbst bedeutet. Traumatisierungen beinhalten immer Schreckliches. Dass uns das betrifft, Ärger und Verzweiflung, ja manchmal auch Krankheit hervorrufen kann, ist normal. Erst wenn uns die entsprechenden Themen nicht mehr erschrecken, dann sollten wir uns Sorgen machen.

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Traumaarbeit in Palästina und Israel Ich komme zum Schluss dieses Artikels auf Arbeiten in Palästina und Israel zurück, nicht weil ich sie für die perfektesten und besten Beispiele halte, sondern einfach weil sie zeigen, dass interessante Traumaarbeit auch in einem äußerst verzweiflungsvollen Umfeld möglich ist: Seit ein paar Jahren arbeite ich in einem Projekt, das wir „Kicking the ball and taking care“ genannt haben und welches durch das Auswärtige Amt unterstützt wird. Konkret geht es darum, Kindern an Schulen im Gazastreifen als auch in der West Bank die Teilnahme an Sportgruppen zu ermöglichen, in denen sie ein bis zweimal pro Woche in festen Gruppen Fußball spielen. Dabei werden sie von Trainer_innen betreut, die nicht nur Sportlehrer_innen sind, sondern spezielle Ausbildungen im Bereich des Kinder- und Jugendtrainings absolviert sowie elementare Aspekte psychosozialer Unterstützung erlernt haben. Die Sportgruppen sind einfach eine Möglichkeit für die Kinder, sich regelmäßig zu treffen, zueinander Vertrauen zu gewinnen und einen Ort an der Schule zu haben, an dem sie sowohl Spaß haben, als auch regelmäßig über ihre Schwierigkeiten miteinander und mit ihren Betreuern kommunizieren können. Dieses Projekt, das mittlerweile an insgesamt 40 Schulen stattfindet, wirkt zunächst wenig spektakulär. Die einzige spezielle Qualität, die man vielleicht festhalten kann, ist, dass man hier sehr bewusst daraufgesetzt hat, den Kindern eine langfristige Gruppenzugehörigkeit zu ermöglichen und ebenso bewusst eine Verknüpfung von Sportaktivität und psychosozialer Hilfe gewählt hat. Dies alles ändert an dem schwierigen Leben der Kinder hier nichts, aber es gibt ihnen einen kleinen Raum der Sicherheit, der sie stützt, einen kleinen Raum des Gesprächs, in dem sie manchmal an ihren Problemen arbeiten können, einen kleinen Raum des Vergnügens und der Freundschaft. Last but not least können Kinder, die spezialisierte Hilfen brauchen, aufgrund der regelmäßigen Treffen rasch weitervermittelt werden. Das Alles kann man als Präventionsarbeit in einem traumatischen Umfeld verstehen. Das zweite Projekt, von dem ich hier berichten möchte, wurde von dem israelischen Sozialpsychologen Dan Bar On und dem palästinensischen Pädagogik Professor Sami Adwan ins Leben gerufen. Zusammen mit einer Gruppe von palästinensischen und israelischen Lehrer_innen haben sie ein paar Jahre darauf verwendet, ein gemeinsames Geschichtsbuch zu schreiben (Adwan u.a. 2011). Dieses ist auf jeder Seite dreigeteilt. Im einen Drittel steht die israelische Version der Geschichte, im anderen Drittel die palästinensische Version und in der Mitte ist ein Platz für die potentiellen Leser_innen freigelassen. Dieses Geschichtsbuch kann den Frieden in der Gegend nicht herstellen. Es behauptet auch gar nicht mit Traumata umzugehen. Aber in einer Situation, in der Krieg herrscht

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und beide Seiten einander als Feind wahrnehmen und erleben, stellt dieses Buch eine der wenigen Möglichkeiten dar, sich mit ,dem Anderen‘ zu beschäftigen. Dieses Buch verspricht keine Versöhnung, aber es stellt einen Dialog her − einen Dialog zwischen Menschen, die zurzeit eigentlich nicht miteinander reden können. Für mich ist dieses Geschichtsbuch und seine Verwendung im Unterricht nicht nur eine außerordentlich wichtige und zukunftsweisende Initiative, sondern eben auch ein Buch, das mir ein Beispiel für gute Traumapädagogik zu sein scheint: Es versucht nicht die Klinik zu ersetzen, es schlägt keine großartige neue Traumabehandlung vor, aber es erkennt die tiefe Spaltung an. Es versteht, dass Lernprozesse in dieser Gegend von den aktuellen kriegerischen Auseinandersetzungen geprägt sind. Es zeigt einen Weg an, auf dem Traumatisierte und Nicht-Traumatisierte, in dem Kinder auf beiden Seiten, ein bisschen etwas davon lernen können, was ihr eigenes Leben größer macht, ihnen vielleicht hilft, mit mancher Angst besser umzugehen. So kann dieses Buch vielleicht auch irgendwann ein Beitrag zum Frieden sein. Literatur Adwan, Sami/Bar-On, Dan/Naveh, Eyal (Hg.) (2011): Side by Side: Parallel Histories of Israel-Palestine. New York: The New Press. Balint, Michael (1966): Die Urformen der Liebe und die Technik der Psychoanalyse. Stuttgart: Klett. Balint, Michael (1973): Therapeutische Aspekte der Regression – Die Theorie der Grundstörung. Stuttgart: Klett. Becker, David (1992) Ohne Hass keine Versöhnung. Das Trauma der Verfolgten. Freiburg: Kore-Verlag. Becker, David (2006): Die Erfindung des Traumas – Verflochtene Geschichten. Berlin: Edition Freitag. Becker, David/Weyermann, Barbara (2006): Gender, Konflikttransformation und der psychosoziale Ansatz. Arbeitshilfe. [http://opsiconsult.com/wp-content/uploads/1822875 1271636.pdf; abgerufen am 25.05.2016]. Berger, Peter L./Neuhaus, Richard J. (1977): To Empower People. The Role of Mediating Structures in Public Policy. Washington D.C.: American Enterprise Institut. Brunner, José (2014): Die Politik des Traumas. Gewalterfahrungen und psychisches Leid in den USA, in Deutschland und im Israel/Palästina-Konflikt. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Conrad, Joseph (2004): Herz der Finsternis. München, Zürich: Diogenes. Erlbruch, Wolf (2007): Ente, Tod und Tulpe. München: Kunstmann. Fanon, Franz (1969): Die Verdammten dieser Erde. Reinbek: Rowohlt.

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Fassin, Didier/Rechtmann, Richard (2007): L'Empire du Traumatisme. Enquête sur la condition de victime. Paris: Flammarion. Ferenczi, Sándor (1982): Sprachverwirrung zwischen dem Erwachsenen und dem Kind. In: Ders. (Hg.): Schriften zur Psychoanalyse. Bd. 2. Frankfurt/Main: Fischer, 303-313. Ferenczi, Sándor (1988): Ohne Sympathie keine Heilung – Das klinische Tagebuch von 1932. Frankfurt/Main: Fischer. Freud, Sigmund (1905): Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. In: Freud, Anna (Hg.) (1942): Gesammelte Werke. Band 5. London: Imago, 27-145. Freud, Sigmund/Breuer, Josef (1895): Studien über Hysterie. In: Freud, Anna (Hg.) (1942): Gesammelte Werke. Band 1. London: Imago, 99-162. Hamber, Brandon (2009): Transforming Societies after Political Violence. New York: Springer. Keilson, Hans (1979): Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. Deskriptiv-klinische und quantifizierend-statistische follow-up Untersuchung zum Schicksal der jüdischen Kriegswaisen in den Niederlanden. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag. Laplanche, Jean/Pontalis, Jean-Bertrand (1977): Das Vokabular der Psychanalyse. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Lindgren, Astrid (1974): Die Brüder Löwenherz. Hamburg: Oetinger. Rodenberg, Birte/Wichterich, Christa (1999): Macht gewinnen. Eine Studie über Frauenprojekte der Heinrich Böll Stiftung im Ausland. Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung. Solomon, Barbara B. (1976): Black Empowerment: Social Work in Oppressed Communities. New York: Columbia Univ. Press Summerfield, Derek (1996): The Impact of War and Atrocity on Civilian Populations: Basic Principles for NGO Intervention and a Critique of Psychosocial Trauma Projects.

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Filmverzeichnis APOKALYPSE NOW (1979) (USA, R: Francis Ford Coppola)

Traumata und Traumatisierung im Entwicklungsverlauf C HRISTINE K ÖCKERITZ Begriffe Traumata sind nach Fischer und Riedesser Ereignisse, die vitale Diskrepanzerlebnisse zwischen Bedrohung und Bewältigungsmöglichkeiten hervorrufen, Gefühle von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe auslösen und die dauerhafte Erschütterung von Welt- und Selbstverständnis bewirken (Fischer/Riedesser 2009: 84). Solcher Schrecken kann viele Gesichter haben. In der Psychotraumatologie hat es sich deshalb bewährt, potentiell traumatische Ereignisse nach Verlauf und Verursachung zu unterscheiden. Terr (2003: 14 f.) unterscheidet bezüglich des Verlaufs zwischen den Einzelereignissen (Typ I) und anhaltenden Belastungskonstellationen (Typ II). Hinsichtlich der Verursachung spielen bei akzidentiellen Ereignissen wie Unfällen oder Naturkatastrophen schädigende Absichten anderer Personen keine Rolle. Sie können langwierige Folgen haben, indem z.B. die Infrastruktur einer Region zerstört wird und sich die Lebensbedingungen der Bevölkerung massiv verschlechtern. Anders als bei akzidentiellen Ereignissen liegen gewalttätigen Übergriffen schädigende Absichten der Angreifer zugrunde; sie können als Einzelereignisse auftreten – z.B. als einmaliger tätlicher Angriff durch eine fremde Person –, als wiederholte Gewalterfahrung durch fremde Personen etwa in Kriegsgebieten oder als Misshandlung in der Familie. Da interpersonelle Gewalt in der Familie sehr oft wiederholt auftritt und sich sogar steigern kann, wird sie als kumulatives Trauma (Khan 1977, zit. nach Fischer/Riedesser 2009: 42) oder in Fortsetzung der Systematik von Terr als Typ III Trauma (Solomon/Heide 1999) klassifiziert. Weil sie durch Handlungen oder Unterlassungen einer wichtigen Bezugsperson entsteht, kann sie als Beziehungstrauma bezeichnet werden (Fischer/Riedesser 2009: 152ff.). Traumatisierung oder Traumareaktion heißen die psychischen Auswirkungen, die dem Erleben eines überfordernden und erschütternden Ereignisses fol-

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gen können. Der klinisch-psychologischen Forschung kommt der Verdienst zu, das Wissen über die seelischen Veränderungen, die Menschen nach überwältigenden Belastungen erleiden können, systematisiert zu haben. Mit der Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörung stellt sie eine diagnostische Kategorie zur Verfügung, die es erlaubt, aus dem Spektrum möglicher menschlicher Reaktionen auf erlebten Schrecken diejenigen zu identifizieren, die eine nachhaltige und schwerwiegende Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit anzeigen. Die Diagnose nach dem DSM-5 ist an das Erleben eines als traumatisch geltenden Ereignisses gebunden und umfasst neben Symptomen des Wiedererlebens (bei Kindern z.B. in Form des Spiels, in dem Aspekte des Traumas nachgestellt werden), der Vermeidung, der negativen Veränderung von Kognitionen auch Anzeichen gesteigerter Erregbarkeit (Falkai/Wittchen 2015: 369f.). Die klinische Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörung sensibilisiert für kindliches Leid. Sie trägt dazu bei, dass das Erschreckende und Zerstörerische, das Kindern zugemutet werden kann, nicht nur im Außergewöhnlichen des Unfalls oder der Katastrophe zu erkennen ist, sondern sogar im soziokulturell Verbreiteten – nämlich in den vielfältigen Formen von Gewalt, die ihnen angetan wird. Gleichwohl fordert die klinische Betrachtungsweise der Traumatisierung mehrere Einwände heraus: Erstens handelt es sich um eine kategoriale Diagnose, die graduelle Unterschiede in der Intensität der Symptome bei einzelnen Personen nicht abbildet (Broman-Fulks u.a. 2009). Damit ist die Störung möglicherweise zu eng definiert. Da nicht alle Personen, die das Ereignis erlebt haben, anschließend das Vollbild einer Belastungsstörung aufweisen, gelten alle denkbaren SchreckensEreignisse nun als potentiell traumatisierend. Und einem positivistischen Zeitgeist folgend, erhalten nur die Personen Hilfe, die den eng definierten „Schaden“ aufweisen können (Summerfield 2001, zit. nach Kostoula 2011: o.S.). Zweitens legt die Festlegung einer Diagnose nahe, andere als die symptomatischen Erlebnisreaktionen aus der Betrachtung von Traumafolgen auszugrenzen. Selbst wenn neben der posttraumatischen Belastungsstörung noch weitere Traumafolgestörungen berücksichtigt werden, bleiben z.B. kultur- und damit auch geschlechtsspezifisch unterschiedliche Ausdrucksformen von traumabedingtem Leid außer Betracht (Kostoula 2011: o.S.). In etlichen Studien zum Auftreten von posttraumatischen Belastungsstörungen zeigt sich z.B., dass Mädchen bei vergleichbarer Exposition häufiger betroffen sind als Jungen. Denkbar wäre, dass potentiell traumatische Ereignisse gemäß geschlechtsrollenspezifischer Erwartungen erlebt und ausgedrückt werden. Jungen könnten Belastungsfolgen eher verneinen, um ihr männliches Selbstbild nicht zu gefährden (Kar/Bastia 2006; Tolin/Foa 2006). Schließlich können auch die nachfolgenden psychischen

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Auffälligkeiten ein geschlechtsspezifisches Gepräge aufweisen. Die Befundlage ist allerdings nicht einheitlich (Landolt 2012: 84). Drittens zeichnet die Diagnose zwangsläufig ein individualisiertes Bild von Leid und von persönlicher Schwäche, vom Nicht-Standhalten und von der individuellen Behandlungsbedürftigkeit der von traumatischen Erfahrungen betroffenen Menschen. Sie suggeriert zudem, dass mit der Heilbarkeit der Traumafolgen zugleich die Abschließbarkeit einer Leidenserfahrung zu erwarten sei. Leid jedoch kann uferlos und namenlos sein; mit den Kategorien von Gesundheit oder Krankheit ist es nicht zu fassen (Summerfield 2004: 241ff.). Da in diesem Text beschrieben werden soll, wie der Entwicklungsstand eines Kindes auf Traumaexpositionen und Traumareaktionen Einfluss nimmt, ist bei aller Kritik an einer klinisch enggeführten Betrachtung von Traumareaktionen ohne die Bezugnahme auf den Begriff der posttraumatischen Belastungsstörung nicht auszukommen. Die meisten Studien, die sich der Traumatisierung Heranwachsender widmen, sind nämlich klinische Studien. Sie konzentrieren sich darauf herauszufinden, warum und unter welchen Bedingungen eine posttraumatische Belastungsstörung entsteht, bestehen bleibt oder wieder zurückgeht. Es soll hier dargestellt werden, in welchem Entwicklungsabschnitt welche Ereigniskonstellationen als potentiell traumatische Stressoren Bedeutung haben können, wie der emotionale und kognitive Entwicklungsstand Erleben, Erinnerung und Interpretation des Ereignisses beeinflussen kann und in welchen Symptomen sich mögliche Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit zeigen können. Außerdem soll gezeigt werden, welche Entwicklungsbedingungen in der Familie, im Umfeld der Schule und im Gemeinwesen für das Erleben und das Weiterleben mit Leid Bedeutung haben können. Der lange Schatten der Traumatisierung in der frühen Kindheit Eine gelingende Schul-Kindheit ist auf viele Voraussetzungen angewiesen. Die Schule selbst kann nicht alle Bedingungen für erfolgreiches Lernen schaffen. Sie muss z.B. am Entwicklungsstand und der Entwicklungsgeschichte der Schüler_innen anknüpfen. Die kindliche Fähigkeit zur Steuerung der Aufmerksamkeit, der Stand des Spracherwerbs, kindliche Neugier, Lerneifer und Verhaltensanpassung sind in der frühen Kindheit im Wege einer Alltagsbildung entstanden, zu der die familiären Prozesse wesentlich beitragen (Rauschenbach 2007). Traumatisierende frühe Erfahrungen können einen zerstörerischen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung haben. Vernachlässigung, sowie physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt durch die Bezugspersonen kommen eine potenziell traumatisierende Wirkung zu: Durch Misshandlungen, durch Un-

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terversorgung mit Nahrung und Flüssigkeit und unbehandelte Erkrankungen erfahren Säuglinge überwältigende Schmerzen. Emotional nicht ansprechbare Pflegepersonen, die das Kind ohne jede Beruhigung seinem Erregungszustand überlassen, erzeugen eine überfordernde und überwältigende Stressexposition im Sinne eines Beziehungstraumas. Mit der Entstehung einer ersten Vorstellungswelt im zweiten Lebensjahr gewinnen - zusätzlich zu den für Kinder im ersten Lebensjahr relevanten Ereignissen - solche Geschehnisse an Bedeutung, die geeignet sind, dem Kind existenzielle Ängste zu bereiten (Pynoos u.a. 1999). Drohungen (etwa von den Eltern getötet oder verlassen zu werden) sind in diesem Lebensalter zutiefst verstörende Ereignisse, da Vorstellungen ebenso ängstigen können wie Tatsachen (Fonagy u.a. 2004: 267). Die Folgewirkungen früher Vernachlässigung und Misshandlungen wurden in Langzeituntersuchungen widerholt belegt. So beschreibt die Minnesota-HighRisk-Studie (Sroufe u.a. 2009) die Entwicklungspfade misshandelter Kinder bis ins frühe Erwachsenenalter hinein: Beginnend mit Bindungsdesorganisation und emotionaler Dysregulation in der frühen Kindheit führen sie über Probleme der Aufmerksamkeitslenkung, der Verarbeitung sozialer Informationen und der Selbstwahrnehmung der Vorschulkinder zu vielgestaltigen Schwierigkeiten im Sozialverhalten während der mittleren Kindheit. Im Bereich der geistigen Entwicklung tragen Misshandlung und Vernachlässigung maßgeblich zur Entstehung kognitiver Defizite bei. Die Unterschiede zwischen misshandelten und nicht misshandelten Kindern können durch andere Bedingungen – z.B. den sozioökonomischen Status im Elternhaus, Geburtskomplikationen oder genetische Faktoren – nicht ausreichend erklärt werden (Enlow u.a. 2012; Mills u.a. 2011; Straus/Paschall 2009). Während der Adoleszenz entstehen fast regelhaft weitere Schwierigkeiten wie z.B. Substanzenmissbrauch oder affektive Störungen. Stigmatisierung und sozialer Ausschluss reduzieren die Teilhabe an Bildung und sozialen Beziehungen und schaffen ihrerseits neue Gefahren für die weitere Entwicklung. Umfangreiche aussagekräftige Einzelstudien, in denen Kinder, deren Misshandlung oder Vernachlässigung aktenkundig geworden war, in ihrem weiteren Entwicklungsverlauf beobachtet und mit nicht misshandelten Kindern verglichen wurden (Jonson-Reid u.a. 2012; Mersky/Topitzes 2010) bestätigen die Befundlage. Forschungsüberblicke und Metaanalysen belegen eindeutig die problematischen Entwicklungsverläufe.1 In individuellen Lebensverläufen fügen sich gravierende Beeinträchtigungen nicht nur zu den umschriebenen posttraumatischen Belastungsstörungen, sondern vielmehr zu komplexen Störungsverläufen, die nahezu unausweichlich erscheinen. Die langzeitigen Folgeerschei-

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Für zusammenfassende Analysen siehe Miller u.a. (2013) sowie Trickett u.a. (2011).

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nungen wie affektive und physiologische Fehlsteuerungen, Schwierigkeiten der Aufmerksamkeits- und Verhaltenssteuerung und die gravierenden Probleme der Selbstwertregulation und Beziehungsgestaltung, die in der Folge früher Beziehungstraumatisierung häufig zu beobachten sind, können daher als Symptome einer Traumaentwicklungsstörung aufgefasst werden (Schmid u.a. 2010). Obwohl der Diagnosevorschlag nicht Eingang in das DSM-5 gefunden hat2, erweitert er den Horizont künftiger entwicklungspsychopathologischer Diskurse. Störungsorientierte Betrachtungen bleiben den Leidensgeschichten der Betroffenen gleichwohl äußerlich. Sie bedürfen der Ergänzung und Erweiterung durch einfühlendes und nachvollziehendes Verstehen: Wie erleben Heranwachsende die Beziehung zu ihren bedrohlichen, emotional nicht verfügbaren Bezugspersonen und zu ihrer Umwelt? Der Psychoanalytiker Ferenczi beschreibt 1932 in seinem Vortrag „Sprachverwirrung zwischen dem Erwachsenem und dem Kind“ (Ferenczi 1932, zit. nach Masson 1984: 317 ff.)3, die „Identifikation mit dem Aggressor“, bei der das Kind den Misshandler verinnerlicht, um ihn sich auf diese Weise in seiner Vorstellung als gutes Objekt erhalten zu können. Dies führe dazu, dass es nun meint, die Misshandlungssituation selbst herbeigeführt zu haben. Das Kind erhalte sich so die Illusion, die Situation kontrollieren zu können. Fritz Redl und David Wineman (1979) interpretieren die vielfältigen Symptome früh traumatisierter Kinder als Ausdruck des „delinquenten Ich“ (Redl/Wineman 1979: 147), das sich gegen ein grausames Über-Ich wehrt und im ständigen Kriegszustand mit der Realität seine Triebbefriedigung sichert. Die „delinquenten Techniken des Ich“ sind letztlich Versuche, die innere Stabilität vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit bedrohlichen Lebensumständen zu erhalten (Redl/Wineman 1979: 149 ff.). Sutterlüty (2002: 157ff.) belegt anhand von Interviews, die er mit jugendlichen Gewalttäter_innen führte, wie sie als Opfer und Zeugen familiärer Gewalt in permanenter Angst vor Übergriffen aufwuchsen, dabei negative Selbstbilder verinnerlichten und lernten, sich in die Täterperspektive einzufühlen, um Attacken vorherzusehen und dabei sogar ihr Unrechtsempfinden unterdrückten – all dies, um die unentrinnbare Situation aushalten zu können. Dabei entstehen „Erfahrungen der Ohnmacht, die sich selbst bei Jugendlichen aufzeigen lassen, die negativen Beziehungserfahrungen mit dem schlagenden Elternteil abwehren, und bagatellisieren oder in aggressiver Weise mit dem [vom Partner] geschlagenen Elternteil verstrickt sind“ (Sutterlüty 2003: 169). Sie erleben, neben der Erfah-

2

Zu Argumenten für und gegen die Diagnose siehe Schmid u.a. (2010).

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Besonders hinzuweisen ist hierbei auf die Seiten 324f in Masson (1984).

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rung physischer Wehrlosigkeit, Angstzustände und entwickeln vermeidendes Verhalten und – insbesondere bei Beobachtung häuslicher Gewalt – eine moralische Verletzung, die darin besteht, gegen erlebtes Unrecht nichts tun zu können (ebd.). In der Folge entstehen nicht nur Gleichgültigkeit und Indolenz, sondern auch auf die Zukunft gerichtete Rachephantasien und sogar gegen die Elternperson gerichtete Todeswünsche (Sutterlüty 2003: 178f.). Es ist diese Ohnmachtserfahrung, die mehr als alles andere im weiteren Entwicklungsverlauf eigene Gewalttaten motiviert, deren Ausübung schließlich zur „epiphanischen Erfahrung“ der Jugendlichen wird, „die ihre Biographien strukturiert und ihre Selbstbilder nachhaltig [ge]prägt [hat] (Sutterlüty 2003: 253). Die Schule wird für in der frühen Kindheit traumatisierte Kinder und Jugendliche zum Ort der Inszenierung und Austragung ihrer Ängste und Aggressionen. Von der Grundschule an sind inklusive Konzepte gefragt, die ihren Bedürfnissen nach Sicherheit und Anerkennung entsprechen (Ding 2013). Die Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe ist unerlässlich. Es bedarf noch weitreichender gesellschaftlicher Reformen im Gesundheitswesen, im Jugendhilfesystem und im Bildungssystem, um Strukturen zu schaffen, die traumatisierten jungen Menschen gerecht werden (von Freyberg/Wolff 2006). Traumatisierung während der mittleren Kindheit und des Jugendalters Gewalterfahrungen Prävalenzstudien aus verschiedenen Staaten zeigen, dass Gewalterfahrungen in der mittleren Kindheit und im Jugendalter wahrscheinlich zu den am häufigsten vorkommenden potentiell traumatischen Ereignissen gehören (Tagay u.a. 2013; Nooner u.a. 2012; Essau u.a. 1999). Die Schule kann durch tätliche Angriffe Einzelner auf Schüler_innen und Lehrpersonal (Elklit/Kurdahl 2013) oder durch das mittelbare Erleben von Gewalt oder Tod in der Familie von Mitschüler_innen zum Ort des Schreckens werden (Kultalahti u.a. 2008). In Heimen und Schulinternaten ist es über lange Jahre hinweg zu körperlicher und sexualisierter Gewalt Erwachsener gegenüber Kindern und Jugendlichen gekommen (Andresen/Heitmeyer 2012; SchäferWalkmann u.a. 2011 für katholische Heime; Oelkers 2012; Dehmers 2011 für die Odenwaldschule). Schließlich sind auch die als Bullying oder Mobbing bezeichneten absichtsvoll schädigenden Handlungen von zahlen- und statusmäßig überlegenen Gleichaltrigen gegenüber einzelnen Kindern oder Jugendlichen Gewaltexpositi-

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onen, die traumatisieren (Mynard u.a. 2000; Idsoe u.a. 2012) und sogar zu Suizidalität führen können (Jantzer u.a. 2012; Winsper u.a. 2012; Klomek u.a. 2009). Neben direkten Gewalthandlungen gegen die Person oder ihre Schulsachen gewinnen im Laufe der Entwicklung des sozialen Verstehens relationale Aggressionen an Bedeutung. Sie umfassen solche Handlungen, die zur Bloßstellung des Opfers und zu seinem Ausschluss von Beziehungen führen (Gasser/Malti 2011; Garner/Hinton 2010). Mädchen scheinen diese Form der Schikane mehr zu bevorzugen als Jungen (Jugert u.a. 2000). Cyberbullying bedeutet schließlich die Ausdehnung und/oder Verlagerung von relationalen Aggressionen in den virtuellen Kontext des Internets (Sitzer/Marth 2014). Die besondere Belastungswirkung des Bullying folgt aus der wachsenden Bedeutung der Gemeinschaften von Gleichaltrigen, in denen Kinder kooperieren und wetteifern, sich aneinander und an einer sie alle angehenden Kinderkultur orientieren, in der sie Regeln und Grenzen aushandeln und sich miteinander vergleichen. Je besser sich Kinder vergegenwärtigen können, welches Bild andere von ihnen haben und welche Absichten sie mit ihrem Handeln verbinden, desto wahrscheinlicher werden Schädigung und Ausgrenzung zu potentiell traumatischen Erlebnissen. Angesichts der umfangreichen Forschung zur problematischen emotionalen und sozialen Entwicklung von Kindern nach frühen traumatisierenden Misshandlungs- und Vernachlässigungserfahrungen gibt es gute Gründe für die Annahme, dass die davon betroffenen Kinder z.B. wegen ihrer Schwierigkeiten, sich einzufühlen und Ärger und Wut zu regulieren, im Schulalter zugleich Täter und Opfer von Schikanen sein können (Garner/Hinton 2010). Etwa ab dem Alter von 12 Jahren beginnen Heranwachsende, ihr Realbild von ihrem Idealbild zu unterscheiden und die nur ihnen selbst zugängliche Selbstwahrnehmung von der nach außen gerichteten Selbstdarstellung zu trennen (Fend 2005: 413 ff.). Nun geht es ihnen darum, die eigene Persönlichkeit durch das Betonen bestimmter Seiten zur Geltung zu bringen und die Aspekte, die als Schwächen bewertet werden könnten, zu verbergen. Peers haben eine unterstützende Bedeutung für die Auseinandersetzung mit der eigenen Person, für die Sicherung des eigenen Status (Ausubel 2003: 116) und bieten die Bühne, auf der vielfältige Kommunikationspraktiken wie z.B. das unernste Beleidigen, Veralbern und Sich-lustig-machen, das Klatschen über Abwesende und das Angeben der Selbstbehauptung, der Abgrenzung und dem Statusgewinn dienen (Neumann-Braun u.a. 2002: 260). Die erprobende Selbstinszenierung kann selbst bei erfolgreicher Selbstdarstellung mit dem Gefühl einhergehen, von den Anderen nicht wirklich verstanden zu werden (Fend 2005: 413ff.). Abgelehnte Jugendliche werden von dieser Bühne vertrieben, bleiben mit ihren emotionalen

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Verletzungen allein und sind massiven Gefährdungen ihrer psychischen Gesundheit ausgesetzt. Eine weitere potenziell traumatische Erfahrung im Jugendalter ist das Erleben von physischer, psychischer und sexueller Gewalt in Paarbeziehungen, die Jugendliche in dieser Zeit eingehen. (Leen 2013; Drauker u.a. 2010). Reynolds und Shepherd (2011: 328) rekonstruieren in Interviews mit Mädchen, wie Bedrohung, Beschämung und die Isolation von Herkunftsfamilie und Freundeskreis zu Konfusion und zum Verlust von Selbstachtung, und Handlungsfähigkeit führen können. Erlebnisreaktion und Erlebnisverarbeitung Nach der Ereignisexposition können Kinder unter anhaltenden psychischen Belastungen in Form von Wiedererleben, Vermeidung und gesteigerter Erregung – per definitionem einer posttraumatischen Belastungsstörung – leiden. Ehlers und Clark (2000) haben gedächtnis- und kognitionstheoretische Überlegungen vorgestellt, die die Entstehung und Aufrechterhaltung dieser Störung bei erwachsenen Menschen erklären soll. Der Ansatz ist auch geeignet, Reaktionen von Kindern ab Beginn der mittleren Kindheit nachzuvollziehen.4 Ehlers und Clark (2000: 320ff.) beschreiben, wie erstens die Vorstellungen bzgl. des traumatisierenden Ereignisses und zweitens die Bewertungen der eigenen ereignisbezogenen emotionalen Reaktionen die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung begünstigen können. Erstens – Vorstellungen vom Ereignis: Schon während der potentiell traumatischen Belastungsexposition entwickeln Kinder im Schulalter Vorstellungen von dem, was sie tun könnten, um bedrohliche Vorgänge abzumildern, zu unterbrechen oder schon eingetretene Folgen zu revidieren (Eth/Pynoos 1994). Sie sollen schon während der Belastungsexposition und später, in der Erinnerung, eine Vorstellung der eigenen Handlungsfähigkeit sichern, um damit einem qualvollen Ohnmachtsgefühl zu entgehen.5 Nach der Belastungsexposition können sich Kinder mit der Überzeugung quälen, dass sich die Katastrophe wiederholen wird, um sich vorbereitet und handlungsfähig zu fühlen (Meiser-Stedman 2002: 227). Ihre während der Exposition erlebte Hilflosigkeit kann nun quälende Schuldgefühle fördern, in der Situation nichts getan zu haben.

4

Für eine auf ihre Überlegungen bezogene entwicklungspsychologische Forschungs-

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Dornes (2010: 344) verweist in diesem Zusammenhang auf die psychoanalytischen

übersicht siehe Salmon/Bryant (2002). Konzepte der Identifikation mit dem Aggressor und des Wiederholungszwangs.

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Selbstbeschuldigungen können sich sogar auf zurückliegende traumatisierende Ereignisse beziehen, deren Bedeutung entwicklungsbedingt erst deutlich später verstanden wird. In 27 rückblickenden Interviews mit in der Kindheit sexuell missbrauchten Personen fanden Clancy und McNally (2005) überwiegend Personen, die als jüngere Kinder zunächst nicht verstanden hatten, was die in der Regel vertrauten Erwachsenen mit ihnen taten, obwohl sie deren Tun als abstoßend erlebten. Ihre hochgradige emotionale Belastung entstand erst, als sie verstanden, dass sie Opfer sexueller Übergriffe geworden waren und sie sich den damit verbundenen Verrat an ihren Beziehungswünschen vergegenwärtigen konnten. In diesem Zusammenhang erlebten sie Scham und beschuldigten sich selbst, sich nicht geweigert oder entzogen zu haben. Zweitens – Bewertungen der eigenen Reaktionen: Intrusive Erinnerungen und Gedächtnislücken sowie individuelle Symptome, wie z.B. Stimmungsschwankungen, Gefühlsabstumpfung und Konzentrationsmängel, sind Ausdruck von traumabedingten Gedächtnisproblemen.6 Einige Studien zeigen, dass Kinder und Jugendliche über traumatische Erlebnisse nicht selten zeitlich und sachlich desorganisiert und ohne emotionale Beteiligung berichten (Kenardy u.a. 2007; Salmond u.a. 2011). Ehlers und Clark gehen davon aus, dass solche Reaktionen als Versagen bewertet werden und Scham, Schuldgefühle oder Trauer um vermeintlich verlorene Möglichkeiten hervorrufen (Ehlers/Clark 2000: 323). Während Kinder, die jünger als sechs Jahre alt sind, noch nicht über metakognitive Fähigkeiten verfügen und deshalb mögliche Symptome einer Belastungsreaktion zwar verspüren aber noch nicht reflektieren, beginnen Kinder in der mittleren Kindheit durchaus, sich mit ihren Intrusionen oder Konzentrationsmängeln auseinanderzusetzen und dagegen anzukämpfen (Pynoos u.a. 1999). Naheliegend ist nun die Vermeidung von Gedanken an die erlebte Traumatisierung, von Orten und von Personen, die an die Traumatisierung erinnern könnten. Als langfristiger Versuch, das eigene Erleben zu steuern, scheint die Vermeidung aber problematisch zu werden: Gerade der Versuch, Gedanken zu unterdrücken und erinne-

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Nach der dualen Repräsentationstheorie (Brewin/Holmes 2003) werden Erinnerungen an traumatisierende Ereignisse anders repräsentiert als Erinnerungen an alltägliche Ereignisse. Im sensorisch zugänglichen Gedächtnis werden Sinneseindrücke und primäre Emotionen bewahrt, während das verbal zugängliche Gedächtnis die Geschichte des Ereignisses, seinen Hergang, seine Bedeutung und die darauf bezogenen Gedanken, Gefühle und Interventionsfantasien speichert. Problematische Überzeugungen, zum Beispiel zur Verursachung des Geschehens und zu den eigenen Handlungsmöglichkeiten, sowie unkontrollierbar wiederkehrende Erinnerungen andererseits sind im Lichte dieser Theorie die Folge einer fehlenden Integration beider Gedächtnissysteme.

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rungsträchtige Situationen zu vermeiden, muss immer wieder scheitern und begünstigt das ungewollte Wiedererleben, während Schuldgefühle und Zukunftssorgen anhaltende emotionale Unruhe stiften (Meiser-Stedman u.a. 2014; Elwood u.a. 2009; Stallard/Smith 2007; Ehlers u.a. 2003). Die hier vorgestellten kognitions- und gedächtnispsychologischen Überlegungen versuchen, die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung als Versuche von Belastungsbewältigung und Selbstkontrolle verständlich zu machen. In jedem Fall zu Recht bezeichnen deshalb Riedesser u.a. (2008) die Versuche von Heranwachsenden, durch die Entwicklung traumakompensatorischer Schemata den belastenden Konstellationen zu entkommen, als „Schwerstarbeit“ (Riedesser u.a. 2008: 283). Nachvollziehbar wird, in welchem Ausmaß Traumareaktionen den Alltag der Kinder belasten und gerade schulisches Lernen erschweren. Zugleich ergeben sich wichtige Anhaltspunkte für eine im schulischen Rahmen angebotene Aufklärung über die seelische Bedeutung traumatischer Ereignisse und über traumspezifischen Reaktionen der betroffenen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen. Eine angemessene Psychoedukation, die Eltern und Kindern anschaulich macht, welche Reaktionen auf schwere Belastungen typischerweise auftreten, welchen Sinn diese Reaktionen in der Auseinandersetzung mit dem Geschehen haben, warum sie gleichwohl die Belastung fortsetzen können und wie es möglich ist, sie in das eigene Erleben und Verhalten zu integrieren, also nicht länger von ihnen beherrscht und gestört zu werden, geht jeder Behandlung einer posttraumatischen Belastungsstörung voraus (Steil/Rosner 2009: 73ff.). Außerhalb des therapeutischen Rahmens kann Psychoedukation den Kindern beim Selbstverstehen helfen, die sich wegen ihrer als abweichend wahrgenommenen Reaktionen schämen und versuchen, sie zu verbergen. In solchen Fällen eröffnet solche Aufklärungsarbeit gegebenenfalls sogar den Weg in die Psychotherapie. Sie kann – und sollte auch – dazu beitragen, negative Zuschreibungen unter Gleichaltrigen zu unterbinden und ein Gruppenklima der gegenseitigen Unterstützung zu fördern. Die Bedeutung der Eltern Wenn Kinder in der mittleren Kindheit und Jugendliche in der Adoleszenz in kummervollen oder schwierigen Situationen rasch und direkt bei ihren Eltern Trost und Rat suchen, folgen sie dem inneren Arbeitsmodell einer sicheren Bindung an die Elternpersonen. Die sichere Bindung ist das Ergebnis eines Entwicklungsverlaufs, der dem Kind immer wieder die Erfahrung verlässlicher einfühlsamer Unterstützung seitens der Elternperson ermöglicht hat; unter akuten Belastungen bewährt sich das Vertrauen auf die elterliche Unterstützung ein weiteres

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Mal (Grossmann/Grossmann 2012: 520). Bereits während des Erlebens einer potentiell traumatischen Situation können beruhigend wirkende Vorstellungen von elterlichen Kompetenzen und elterlichem Schutz als hilfreich erlebt werden (Jensen u.a. 2013). Eltern können unmittelbar schützen, indem sie potentiell traumatische Konstellationen – z.B. Missbrauchs- oder Mobbingsituationen – beenden. Sie können ihren Kindern zuhören, Verständnis für ihre Reaktionen zeigen, sie von Schuldgefühlen entlasten, beraten und weitergehende Hilfen zugänglich machen. (Nooner u.a. 2012; Kliewer u.a. 2006). Die Unterstützung seitens der Eltern kann aber möglicherweise nicht ausreichend zur Verfügung stehen. Erstens: Sind Kinder bereits in einer nur wenig unterstützenden, emotional wechselhaften, verständnislosen, von Beziehungsabbrüchen oder Gewalt gekennzeichneten Beziehung mit den Eltern aufgewachsen, werden sie bei aktuellen Belastungen auf die Unterstützung durch die Eltern nicht vertrauen können. Das ist zum Beispiel beim Erleben sexualisierter Gewalt der Fall. Sie wird in beachtlichem Ausmaß von Kindern erlitten, die außerdem Misshandlungs- und Vernachlässigungserfahrungen machen und somit ohne die notwendige Vertrauensbeziehung zu unterstützenden Elternpersonen aufwachsen müssen (Andrews u.a. 2004: 1886). Die Vorwegnahme negativer Rektionen von Bezugspersonen ist ein wichtiger Grund dafür, sich nicht anzuvertrauen (Mc Elvaney u.a. 2014; Foster/Hagedorn 2014; Hershkowitz u.a. 2007). Das Fehlen einer angemessenen sozialen Unterstützung kann dazu beitragen, dass problematische Bewertungen oder vermeidende Reaktionen bestehen bleiben und damit Belastungsreaktionen aufrechterhalten werden, während die Aufdeckung von sexuellem Missbrauch gegenüber vertrauten Personen vor emotionalen Folgeproblemen schützen kann (Broman-Fulks u.a. 2007; Bal u.a. 2009; Ullman 2007). Zweitens: Bei von Eltern und Kindern gemeinsam erlittener Traumatisierung – z.B. bei Naturkatastrophen – können das Ausmaß der posttraumatischen Belastungsstörung der Mütter, aber auch sonstige Stressreaktionen oder reaktive Veränderungen im Erziehungsstil, die traumabedingten Verhaltensauffälligkeiten der Kinder beeinflussen (Bokszczanin 2012; Kelley u.a. 2012; Spell u.a. 2008). Während Eltern die Reaktionen von Kindern unterschätzen können, werden Kinder die Belastung der Eltern in ihren Bewältigungsstrategien berücksichtigen. Bereits gegen Ende der frühen Kindheit – also im Alter von etwa fünf bis sechs Jahren – beziehen Kinder ihre Vorstellungen vom Denken und Fühlen ihrer Bezugspersonen in die Regulation ihrer Gefühle mit ein: Sie können ihre Gefühle

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verbergen, um eine Bezugsperson nicht zu beunruhigen.7 Je besser sie sich vergegenwärtigen können, mit welcher Besorgnis oder Verzweiflung die Eltern auf ihre – der Kinder – Belastung reagieren werden, umso eher verbergen sie möglicherweise ihr Befinden vor den Eltern, um sie zu schonen. Dies kann zur Verstärkung der kindlichen Symptomatik beitragen (Steil/Straube 2002: 8). Vor dem Hintergrund einer Forschungsübersicht haben Scheeringa und Zeanah vorgeschlagen, die Traumareaktion des Kindes als relationale posttraumatische Belastungsstörung zu betrachten, die entstehen kann, wenn die Bezugsperson und ihr Kind Anzeichen von posttraumatischem Stress zeigen. In einem Kreisprozess kann das Kind mit seinen Belastungsreaktionen die Anspannung der Bezugsperson erhöhen, die außerdem mit eigenen Stressreaktionen zu kämpfen hat. Ihre emotionale Unerreichbarkeit für das Kind, ungeeignete oder fehlende Erklärungen, einengende Verbote und Kontrollen oder die übermäßige Beschäftigung mit dem traumatisierenden Erlebnis, in die das Kind einbezogen wird, können die Beziehung zum Kind beeinträchtigen und bei ihm eventuell vorhandene Stresssymptome verstärken (Scheeringa/Zeanah 2001: 809 ff.). Für die Erziehungspartnerschaft zwischen Eltern und Schule haben solche Einsichten Bedeutung: Die Familie ist eine Umwelt für Kinder und sie hat selbst eine Umwelt, der sie ausgesetzt ist. Die Lehrer_innen können Eltern die Spezifika der kindlichen Wahrnehmung und ihre spezifischen Bedürfnisse verdeutlichen. Dabei können Eltern Wege finden, mit ihren Kindern über die Erlebnisse in einen Austausch einzutreten. Bedeutung der Lehrenden Da Traumatisierungen Einfluss auf die Auseinandersetzung mit alterstypischen Entwicklungsaufgaben haben – Vermeidung kann z.B. so weit gehen, dass ein selbstständiger Schulweg unmöglich wird; Unruhe und Konzentrationsstörungen können schulisches Lernen blockieren und der emotionale Rückzug kann die Beziehungen zu Gleichaltrigen erschweren – wäre danach zu fragen, was in der Schule seitens der Lehrenden getan werden kann, um die Bedürfnisse traumatisierter Kinder und Jugendlicher angemessen zu berücksichtigen. Eine auf die einzelne Person bezogene Traumasensibilität – die Aufmerksamkeit von Lehrer_innen für schwere Belastungserfahrungen im Leben der ihnen anvertrauten Kinder und die Bereitschaft, solchen Erfahrungen traumatische Auswirkungen zuzutrauen – ist die erste Voraussetzung für weitere Unterstützung. Wenn einzelne Kinder z.B. Opfer von Bullying werden, wäre zunächst die Wahrnehmung und sofortige Beendigung ihrer Notlage angemessen. Danach

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Für einen Überblick siehe Petermann/Wiedebusch (2008: 78 ff.).

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folgen Interventionen auf unterschiedlichen Ebenen, die zukünftige Gewalt verhindern (Olweus 2008). Selbstverständlich sind auch die Kinder wahrzunehmen, deren traumatische Erfahrungen außerhalb der Schule stattgefunden haben. Sie – und ihre Eltern – benötigen individuelle Beratung, die Unterstützung ihrer Lernprozesse und ihrer sozialen Beziehungen im Rahmen inklusiver Konzepte. Darüber hinaus sollten Angebote der Jugendhilfe und der Kinder- und Jugendpsychotherapie zugänglich gemacht werden. Sind alle Kinder und die Lehrenden in einer Schule oder in einem Gemeinwesen – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – gegenüber einer traumatischen Situation exponiert gewesen, können Lehrende für Kinder Modell sein, indem sie über die eigenen Erfahrungen sprechen und Kinder selbst zur Auseinandersetzung mit dem Erlebten ermutigen. Dieses Angebot sollte allen Kindern gelten. Auf die Gefahr, dass von Katastrophen betroffene Kinder erst dann Aufmerksamkeit erhalten, wenn sie Symptome im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung oder einer Depression zeigen, macht Mutch (2013) aufmerksam. In ihrem Projekt – einer Fallstudie – wurden alle Schulkinder und Lehrende aus drei Schulen im neuseeländischen Christchurch angeregt, sich nach dem Erdbeben von 2010 mit ihren jeweiligen Geschichten auseinander zu setzen und diese mit unterschiedlichen Medien zu symbolisieren und zu dokumentieren. Die Kinder nahmen die Projektarbeit engagiert an, setzten in ihren Erinnerungsarbeiten jeweils unterschiedliche Akzente und bestätigten dadurch, welche Bedeutung einer Aufarbeitung belastender Ereignisse zukommt, wenn sie ihre Aufmerksamkeit auf die kindlichen Erfahrungswelten richtet und nicht ausschließlich Interesse an klinischen Symptomen zeigt. Für ihr Handeln benötigen auch die Lehrenden Hilfe. Eine strukturelle Traumasensibilität sozialstaatlicher Akteure ist notwendig, um allen betroffenen Kindern, ihren Eltern und Lehrer_innen weiteres Leid zu ersparen. Die Erfahrungen, die im US-Bundesstaat Louisiana nach dem Hurrican Katrina mit den den Kindern geltenden Unterstützungsangeboten gemacht wurden, lehren zum Beispiel folgendes: Alle Unterstützungsmaßnahmen müssen berücksichtigen, dass auch Lehrer_innen oder Helfende und Eltern von der Katastrophe betroffen sind und gegebenenfalls Beratung und weitergehende Hilfen brauchen, wobei ihr Lebenskontext und ihre Kultur einzubeziehen sind (Snider u.a. 2010: 43ff.). Alle schulischen und gemeinwesensbezogenen Bemühungen sind folglich in einen weitergehenden sozialpolitischen Kontext einzubetten, in dem medizinische Hilfen ebenso selbstverständlich sind wie die Ermöglichung kultureller Praxen der Sinngebung, mit denen eine auf die Zukunft bezogene Orientierung geschaffen

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werden kann (Kilmer/Gil-Rivas 2010; Betancourt/Khan 2008; Abramson u.a. 2006). In Deutschland stehen derzeit begleitete und unbegleitete geflüchteter Kinder vor der Gefahr, unzureichend versorgt zu werden. Die Datenlage zu ihrer gesundheitlichen Situation, und den ihnen geltenden Bildungs- und Betreuungsangeboten in Deutschland ist ebenso unbefriedigend wie die zu ihrem Schutz vor Gewalt (Johansson 2014; Kindler 2014). Anlass zu Optimismus ist angesichts der Lebensverhältnisse von geflüchteten Familien jedenfalls nicht gegeben. Die BRD steht vor der überaus drängenden Frage, welche sozialpolitischen Antworten sie finden wird, um Belastungen von geflüchteten Kindern und deren Eltern zum Beispiel durch ungeeignete Wohnbedingungen, fehlenden Schutz vor Gewalt und durch mangelhafte medizinische und psychosoziale Hilfe zu vermeiden. Entwicklungen nach einer Traumatisierung Die Betrachtung der weiteren Entwicklung von Kindern und Jugendlichen nach einer Traumatisierung wird aus klinischer Sicht auf die Frage nach der Chronifizierung oder dem Abklingen einer posttraumatischen Belastungsstörung konzentriert (McLaughlin u.a. 2013). Darüber hinaus wird zur Diskussion gestellt, ob das Leiden an traumatischen Erfahrungen und die Auseinandersetzung mit ihnen positive Veränderungen in den Denk- und Handlungsweisen der betroffenen Personen anstoßen kann. Der Begriff des posttraumatischen Wachstums wurde zunächst für Erwachsene entwickelt (Tedeschi/Calhoun 2004). Er bezeichnet die Erfahrung, durch die Überwindung einer Traumatisierung wertvolle Beziehungen und Handlungspotenziale gewonnen zu haben. Posttraumatische Wachstumsprozesse werden auch bei Kindern für möglich gehalten, wenn sie – etwa zu Beginn des Schulalters – zu entsprechender Metakognition und Selbstreflexion in der Lage sind. Einer Forschungsübersicht von Meyerson u.a. (2011) zufolge gibt es empirische Belege dafür, dass das Auftreten einer posttraumatischen Belastungsstörung positive kognitiv-affektive Ereignisbewertungen im Sinne eines aktiven emotionalen Copings ermöglichen, die zur Erfahrung eines posttraumatischen Wachstums führen können. Die soziale Unterstützung durch Eltern, Lehrpersonal und Altersgenossen sowie religiöse Bindungen spielen dabei eine wichtige Rolle. Aus entwicklungspsychologischer Sicht fehlen jedoch aussagekräftige vergleichende Langzeitstudien, die zeigen könnten, ob und inwieweit sich posttraumatisches Wachstum von erwartbaren Entwicklungsprozessen im Kindes- und Jugendalter unterscheidet und wie stabil seine Folgen unter dem Eindruck weiterer Erfahrungen sind.

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Kritisch soll hier vor allem eines angemerkt werden: Solange die Zeit des Heranwachsens als für die weitere Entwicklung bedeutsamer Schonraum angesehen wird, in dem Kindern Naivität und Unbeschwertheit zugestanden wird, bringt posttraumatisches Wachstum das vorzeitige Verlassen dieses Schonraums mit sich. Einstellungen, die man als Altklugheit und übermäßigen Ernst bezeichnet, könnten die traumaerfahrenen Kinder von Altersgenossen trennen und sie sogar zu Außenseitern machen. Sie könnten – vor allem als Mitglied einer belasteten Familie – auch zur destruktiven Parentifizierung im Sinne der Verantwortungsübernahme für Eltern und Geschwister gelangen, die das kulturell übliche Maß weit übersteigt und sich zur Belastung auswachsen kann (Graf/Frank 2001: 317f.). Angesichts solcher Entwicklungsmöglichkeiten wäre die Abgrenzung des posttraumatischen Wachstums gegenüber Anpassungsprozessen, die Entwicklungsmöglichkeiten beschneiden, dringend zu wünschen. Fazit Traumatischer Schrecken erlangt entsprechend des kindlichen Entwicklungsstandes auf unterschiedliche Weisen Zugang zum Seelenleben des Kindes. In frühen Entwicklungsabschnitten wird er vor allem durch Gewalt und durch das Fehlen einfühlsamer Beziehungen erlitten, bleibt im Wortsinne namenlos und hinterlässt gleichwohl Spuren in der Persönlichkeitsentwicklung. Entwicklungsgeschichte als Traumatisierungs-Geschichte kann eine Adaption des Erlebens und Verhaltens an ein ständiges Ausgesetzt-Sein gegenüber Not und Leid um des Überlebens willen erzwingen. Die gravierenden Auswirkungen solcher frühen traumatisierenden Lebensbedingungen, die von den bestehenden klinischen Klassifikationssystemen noch nicht ausreichend auf den Begriff gebracht werden, erfordern eine personenbezogene und eine strukturelle Traumasensibilität der Institutionen, die Verantwortung für das gesunde Aufwachsen von Kindern tragen. Die Schule wird auf die emotionalen und kognitiven Bedürfnisse früh traumatisierter Kinder mit inklusiven Konzepten antworten müssen. Auf ein Zusammenwirken mit den Trägern sozialpädagogischer Angebote und den Anbietern psychotherapeutischer Versorgung ist sie dabei dringend angewiesen. Traumatischer Schrecken in der mittleren Kindheit bricht über individuelle Lebens- und Entwicklungsgeschichten herein und verstört den bisherigen Erfahrungshorizont. Er wird gemäß dem sich entwickelnden sozialen Verstehen interpretiert und erlangt so Einfluss auf das bewusste Bild von der Welt. Schreckenserfahrungen fordern Bewältigungsprozesse heraus, in die die sich entwickelnden kognitiven, metakognitiven und selbstreflexiven Möglichkeiten von Kindern und Jugendlichen eingehen. Die klinische Erfahrung lehrt, dass Bewäl-

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tigungsversuche nach traumatischen Erfahrungen Erleben und Verhalten nachhaltig beeinträchtigen und die Lösung von Entwicklungsaufgaben behindern können. Neben dem entwicklungsinformierten Blick auf Traumatisierungen ist folglich ein traumainformierter Blick auf die kindliche Entwicklung in dieser Lebensphase unverzichtbar. Elterliche Unterstützung ist eine der wichtigsten Voraussetzungen, um traumatischen Schrecken zu bewältigen. Die Aufmerksamkeit, mit der Lehrende Bewältigungsprozesse von Kindern begleiten und ihnen ermöglichen, Lernprozesse wieder zu wagen und sich dabei als erfolgreich zu erleben, ist für die Auseinandersetzung mit dem Erlebten und mit den eigenen Reaktionen darauf unverzichtbar. Dazu bedarf die Schule eines Bildungsverständnisses, das Leidenserfahrungen aufzugreifen bereit ist, und pädagogisch-didaktischer Praktiken, durch die solche Erfahrungen beschrieben und reflektiert werden können. Zu ihrer Unterstützung brauchen die Schule und das Gemeinwesen, dessen Teil sie ist, eine sozialpolitische Rahmung, die die Bedingungen des Aufwachsens nach existenziellen Erschütterungen durch umfassende medizinische und psychosoziale Angebote gestaltet und – immer im Bewusstsein einer wahrscheinlich nicht endgültigen Abschließbarkeit von Leid – Lebenswege ebnet und neue Erfahrungen eröffnet. Literatur Abramson, David M./Garfield, Richard M./Redlener, Irwin E. (2006): The Recovery Divide: Poverty and the Widening Gap Among Mississippi Children and Families Affected by Hurricane Katrina. [academiccommons.columbia.edu/download/fedora_ content/download/ac:148101/CONTENT/Abramson_-_Mississippi_Recovery_Divide .pdf; abgerufen am 01.03.2016]. Andresen, Sabine/Heitmeyer, Wilhelm (Hg.) (2012): Zerstörerische Vorgänge. Missachtung und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Institutionen. Weinheim: Beltz Juventa. Andrews, Gavin/Corry, Justine/Slade, Tim/Issakidis, Cathy/Swanston, Heather (2004): Child Sexual Abuse. [http://158.232.12.119/publications/cra/chapters/volume2/18511940.pdf, abgerufen am 11.07.2016]. Ausubel, David P. (2003): Die Funktion der Gruppe gleichaltriger Jugendlicher. In: Nörber, Martin (Hg.): Peer Education. Bildung und Erziehung von Gleichaltrigen durch Gleichaltrige. Weinheim u.a.: Beltz, 116-118. Bal, Sarah/Crombez, Geert/Bourdeaudhuij, Ilse De/Oost, Paulette van (2009): Symptomatology in adolescents following initial disclosure of sexual abuse: The roles of crisis support, appraisals and coping. In: Child Abuse & Neglect. 33 (10), 717-727.

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Trauma, Attachment and Neuroaffective Developmental Psychology S USAN H ART The human brain needs stimulation for growth. At a seminar in 1998, Daniel Stern (1998c) pointed out that just as food is necessary for the body to grow, mental stimulation is needed to supply the brain with the raw materials needed for the perceptual, cognitive and sensorimotor processes to mature. Different brain regions need different stimulation, because the cognitive, emotional and motor structures in the brain mature in different ways. Basically, emotional development follows the same principles as cognitive and motor learning. The key difference is that the medium of emotional stimulation is interactions with other people–initially the child’s closest caregivers. Human beings are highly advanced social mammals, and the development of an emotional life is what binds us together. Therefore, human relationships form the arena where our emotional potential has the opportunity to unfold. It is obviously important to know which neural conditions have to be present for a potential to develop, but it is equally important to know what sort of stimulation our interpersonal relationships have to provide for our emotional capacity to develop. Humanity and humanisation depends much more on emotional and personality development than it does on cognitive development. In recent years, there has been an increasing interest in attachment theory. The first step in formulating attachment theory was made by Donald Winnicott and John Bowlby (Hart/Schwartz 2008) and occurred in the aftermath of the Second World War with all its departures, separations and evacuated children. Bowlby’s theories highlighted the fact that everything caregivers habitually do for their children is generally taken so much for granted that the impact goes unnoticed. He pointed out that being a caregiver for a child is not something that can be put on a formula–it is a living, unfolding human relationship that changes both the parents’ and the child’s personalities. Bowlby formulated that although attachment behaviour

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is particularly evident in early childhood, it is considered a human characteristic throughout life, from cradle to grave. In everyday interactions, children form mental images of themselves and others based on what Bowlby called internal working models. Any flaws in the sending and/or receiving apparatus in one of the interacting systems or in their mutual synchronisation may interfere with development. In most cases, the internal representations that the child establishes of his or her attachment experiences leads to the emergence of a secure base, a function that organises the child’s behaviour, also in other social relationships later in life. The English psychologist Peter Fonagy (Fonagy et al. 2002) argued that psychological principles are naturally bound by neurophysiological limitations; he also pointed out that this does not mean that human psychology can be reduced to mere biology. There is a close link between nature and nurture, and no resources or weaknesses can unfold without a genetic predisposition. Our genetic predispositions unfold within the framework of environmental influences. As the American psychiatrist and Nobel Prize laureate Eric Kandel (2005) pointed out, even the most socially conditioned disorder is ultimately biological. All psychological disorders reflect specific changes in nerve cells and their synapses. He also describes how microbiological studies show that both genetic and developmental processes govern neural connections. Of course this is true, but we have to keep in mind, that nerve cells and synapses are the condition for our human ability and acquirement, but not their cause (Bennett/Hacker 2003). Our genetic material alone does not determine variations in personality–social and developmental factors play an equally important role. The attachment that the child forms with his or her caregivers is a biological structure, which is necessary for the child’s emotional potential to unfold. For example, the attachment relationship is a prerequisite for the child’s ability to regulate affect, since we are not born with an innate ability to regulate our emotional responses. The expression of our genes are affected by the stimuli we are exposed to, and it is therefore crucial to consider how we can best support the stimulation of the neural connections that are possibly based on the child’s genetic make-up. Without a suitable environment to shape, support and encourage them, the changes would either not take place or take a maladaptive course. In the world of research, there has until recently been little interest in uncovering how nature and nurture interact in shaping personality development. With regard to the development of human emotional life, this understanding is particularly difficult to attain, since human development is a very fluid and intuitive process, where the mutual synchronization processes occur subtly and with many repetitions and variations. With a traditional scientific approach, it is difficult to chart emotional

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development with a very high degree of specificity; this leaves us with an important challenge, because a greater understanding of emotional development and personality resiliency has the potential to bring more humanity into the world and help us solve some of the complex issues that the world is facing. The focus of neuroaffective developmental psychology is how personality, emotions and social functions develop, and how we can generalise this important knowledge. A greater understanding of personality development would in turn give us a better basis for supporting a healthy personality development in people who have been exposed to highly stressful or traumatic events, for example through psychotherapy. Thus, neuroaffective developmental psychology brings together brain research, the understanding of trauma, modern developmental psychology and attachment theory. This relatively new focus stems from a renewed interest in the complexity of personality development and the recognition that personality is shaped both by our innate temperament and close personal relational experiences, and that it is thus vulnerable to overwhelming life events (Hart 2011b). The potential that is present within the nervous system from birth determines the individual’s development, and the child’s innate biological capacity puts him or her in a position to engage in social interactions and emotional communication, because humans are biologically predisposed to establish attachment. The child’s ability to self-regulate enables the child to develop confidence and selfesteem in a process where trust in the caregiver forms the basis for trust in oneself with the caregiver and ultimately confidence and self-reliance. If the opportunity to attach is lost, the opportunity to develop regulatory mechanisms for assessing and reorganising mental content is also lost. The later developed mentalising capacity enables the child to distinguish between internal and external reality and to understand conscious and unconscious mental states in him-/herself and others. The vulnerability associated with insecure attachment, according to Peter Fonagy et al. (2002), is primarily related to the child’s inadequate mentalising capacity, resulting from an emotional development process that was never quite completed, and which can never be maintained completely in all situations. The development and maturation of the nervous system depend on complex neuroanatomical and neurobiological development processes that occur at specific times in child development (Hart 2008, 2011a). The course of this development is shaped by the highly complex interactions that take place in the child’s close relational contact with attachment figures. This understanding is important for grasping what is needed in psychotherapy in order to achieve personal integration and overcome trauma, as the intervention method must be determined by the individual level of personality development, regardless of the

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person’s biological age. My focus in this chapter is on how we can use neuroaffective developmental psychology as a framework for understanding healthy emotional development, the nature of trauma and interventions aimed at helping traumatised children, parents and other adults recover from traumatic states. The impact of attachment The child needs to be recognised in order to develop emotionally, which means that the child’s primary caregivers must be emotionally available and able to empathise with the child’s needs. It is this recognition that gives the child a sense of being entitled to have feelings, regardless what they are, and for the child to develop appropriate strategies and relational social competencies (Hart 2008, 2011a). It is only in recent years that trauma research has begun to integrate with attachment research; this has enabled a fuller understanding of the seriousness of trauma that occurs in childhood, and which is caused by the people who matter most to the child, especially when the abuse occurred during early childhood. Parents’ interactions with their children have a great influence on the child’s development of coping skills and abilities to engage in social interactions with others. In a research project involving families with 4-6-year-old children, Kahen, Katz and Gottman (1994) found that children raised by parents who are positive and who frequently engage with the child through emotional communication have a much easier time establishing friendships and engaging in creative play with peers. Mothers who often express negative emotions or who are neutral in their contact with the child typically create more anxiety and less facial expressiveness in the child. Children whose parents are unpredictable, shifting erratically between positive and negative communication, or parents who constantly interfere with the child’s actions or use sarcasm, are typically included in fewer play relationships, are more negative and encounter more conflicts. The child’s ability to engage in social interaction and, later, in sophisticated role play seems to depend largely on the parents’ ability to nurture the child through synchronised interactions (Pellis/Pellis 2010). Empathy depends on one’s ability to match the other’s affect and to make a synchronised response. This positive attunement builds confidence and serves as the driving force in establishing interpersonal ties. Apparently, what the other person does has an emotional impact on one’s nervous system, which Daniel Stern (2004) has described as the basis for empathy. When two persons interact, they are mutually attracted to one another’s emotional world and attune emotionally with one another, which in turn enables them to influence one another. When the primary caregivers are unable to protect the child in an appropriate

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way, to understand the child’s needs and to mentalise the child, there is real risk that the child will be traumatised. Traumatisation of mental functions implies that the child either fails to develop emotional skills, regresses easily or tends to dissociate, all of which are self-protective responses to overwhelming events which the mental system is not able to assimilate. Thus, positive attunement with significant others makes it possible to recover from a difficult childhood or mental trauma and to develop mental flexibility and self-regulation capacities. Emotional development Through inter-subjective experiences, infants begin to organise their sense of themselves. Infants need to experience and internalise that their parents perceive them as loveable and unique and enjoy being with them. It is the precision of the interaction and the liveliness of the interactive process that drive sense of engaged pleasure. Moments with communicative exchanges in connection with play activities contribute to the child’s ability to develop and maintain emotional ties while developing the capacity for self-regulation, which ultimately leads to the development of a mentalising capacity. Mentalising allows us to ‘read’ other people’s minds as well as understanding and reflecting both our own and others’ feelings (Fonagy 2003; Fonagy et al. 2002; 2007; Trevarthen 1979, 1998; Hart 2014). When the dysregulated emotional states of insecure and traumatised parents– fear, anger, emptiness, sadness, meaninglessness etc.–are internalised in the infant, this can produce a generational transfer of trauma, described as attachment trauma or vicarious traumatisation. Through the interaction with caregivers, the child internalises the co-created meaning that parents pass on to the child through their emotional reactions. If parents, for example, respond to a stranger with fear, the child will perceive the stranger as dangerous. If parents react to objects, people and events with confusion, emptiness, sadness etc., the child experiences that this is what the world is like. When children are not able to establish a positive interaction with their primary caregivers, they either lose control and react in maladaptive ways or withdraw and seek reassurance through selfstimulation or passivity. The failure to connect intersubjectively often sparks anxiety and mobilises defensive or self-protective strategies. The child needs to feel capable of dealing with the world and needs to know that a clear authority figure is in charge. If the child experiences contact as either neutral or threatening, he or she will withdraw and fail to receive the necessary stimulation for developing emotional, empathetic and mentalising skills; as a result, the child risks

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being with... and getting away from... . The transfer of emotional information is reinforced by the present moments that develop the nervous system’s emerging capacity for self-regulation and attention control. Attachment-based trauma occurs in relationships where mismatches are never repaired (Sander 1988, 1992; Schore 2003a, 2003b; Sroufe 1997; Stern 1990, 1998a, 1998b, 2004). The importance of shared and coordinated experiences can be illustrated by Tronick et al.’s (1978) famous ‘still face’ experiment, where infants initially engage their mothers in a mutual interaction, but after a short while the mothers are instructed not to respond to the infant’s initiative and to make their faces expressionless in the middle of an interaction. The experiment showed how infants with a good attachment to their mother took the initiative to vitalise her and sought strategies to bring her out of this expressionless state. The experiment also showed the severity of the child’s reactions when the mother remained expressionless despite the child’s efforts. Although the mothers in Tronick et al.’s (1978) experiment only remained expressionless for two minutes, the infants found the temporary violation extremely disturbing. When the child is not offered a joyful interaction, he or she loses interest in the surroundings; and in the absence of sufficient joyful stimulation, the child will not be encouraged to enter into the engaging experiences that are needed to unfold his or her creativity. The child cannot engage in the external world without the caregiver’s immediate involvement but needs engaged and authentic relationships. The less selfconfidence and self-esteem the child has developed, the more external recognition he or she will need in the future through micro-regulation processes (Tronick 2007; Hart 2008). Learning in the zone of proximal development All higher personality features, such as bonding, self-regulation, impulse control, reflection and mentalisation, are established through countless social microinteractions that are internalised and become part of the child’s intra-psychic habits and patterns, making the nervous system both more resilient and flexible in its ability to daily frustrations and develop coping and self-regulation skills. These interactions need to be present from the beginning of life through interactions with the primary caregivers. Somewhat later, micro-interactions are trained through peer interactions but structured and regulated by adults. As the child gets older and more mature, he or she requires progressively less adult control. The late Russian psychologist Lev Vygotsky (1978) emphasised that the higher psychological functions are learned in interactions; only later are they internalised as mental skills. The internalisation process takes place in what he

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called the zone of proximal development, which he defined as features under development. What the child can only manage with help from the caregiver today, he or she will be able to manage independently in the future. This may seem obvious for acquired skills such as riding a bike, reading, arithmetic etc., but it also applies to social interaction and personality formation. Vygotsky thus argued that all learning takes place in the zone of proximal development and that all higher mental functions have their origin in real interpersonal relationships. What is implicitly shared between two in an external interaction becomes an inner intrapersonal mental skill. The child’s growing capacity to self-regulate promotes self-confidence and self-esteem, which goes from trusting the caregiver to trusting oneself with the caregiver and ultimately having an internal confidence and trust in relationships with others. There will always be a certain dialectic between inter- and intrapersonal regulation; an inner process is thus always regulated through both self-regulation and interpersonal regulation. Both processes are always present and influence each other, and one process is not more important than the other (Beebe/Lachmann 2002; Hart 2012; Bentzen & Hart 2014). In neurological circles, the term ‘windows of opportunity’ describes certain moments in child development where a competency is normally and ideally developed, marking the precise time when the nervous system is most accessible to the given type of learning. If the nervous system has the innate potential and receives appropriate stimulation, which normally happens through interactions in ordinary daily life experiences, the skill appears to be acquired ‘automatically’. However, once the child moves past the ‘window of opportunity’ the nervous system is no longer as available for the given type of learning, and the child requires a focused effort to learn the skill. While the ‘window of opportunity’ for language development, for example, is from approximately 1½ to 12 years of age, the ‘window of opportunity’ for the development of emotional skills is from late foetal life to approximately 1½ years of age–long before the child has developed language skills. Consequently, if the child’s attachment to the primary caregivers was not established sufficiently within the first 1½ years of life, the child’s ability to develop the regulatory mechanisms that are needed to engage in appropriate interactions with others and to develop empathy, mentalising skills etc. later in life will be reduced, regardless of the child’s language skills. The child or adult will have no problem talking about events but will not be able to verbalise emotions; this is called alexithymia. The child will have difficulty selfregulating and will struggle to develop coping skills through narrative dialogues (Hart 2012).

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There can be a huge difference in a person’s cognitive and emotional levels of development. In psychotherapy with both children and parents whose cognitive capacity is more developed than the emotional capacity, the therapist has to be able to interact with the child or the parents in a way that meets both their cognitive development needs and their immature emotional development needs. When an emotional skill has to be learned outside the ‘window of opportunity’, the intervention must be based on accurate knowledge about the emotional level of development in order for the child or the parents to receive the right support to develop relational skills that will support personality development. There is a wide variation in the types of interventions that are needed in relation to trauma healing, as a traumatic reaction will have a different impact on the nervous system depending on the personality structure and self-protective responses that were developed before the external trauma happened. The child’s natural development processes through three mental organisation levels Paul MacLean’s (1990) theory of the brain’s hierarchical structure as expressed in his triune brain model has been a great source of inspiration for understanding human development processes and for the development of neuroaffective developmental psychology. The triune brain model, which MacLean developed in the late 1950s, describes the brain as structured in three layers, which he viewed as quantum leaps in the evolutionary development of the human brain. MacLean's understanding of the brain as a hierarchical structure is often used as a tool for understanding the brain’s hierarchical functions. MacLean attributed the three brain structures, which interact intensively, to three different mentation levels. He called the most primitive layer protomentation the middle layer emotional mentation and the third layer rational mentation1. In recent years, Jaak Panksepp (Panksepp/Biven 2012) has called the three levels the primary, secondary and tertiary levels, and in neuroaffective developmental psychology, the levels are labelled the autonomic-sensing, the limbic-emotional and the prefrontal-mentalising. The mental organisation of the three levels defines three primary maturing interaction forms which the caregiver should offer and take part in (Bentzen & Hart 2014):

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These terms should not be confused with Peter Fonagy’s concept of mentalisation and mentalising capacity.

202 | S USAN H ART • At the autonomic-sensing level, the maturing interactions occur in the syn-

chronised ‘dance’ with the child’s sensory impressions. • At the limbic-emotional level, the maturing interactions occur in the attune-

ment processes with the child’s emotions. • At the prefrontal-mentalising level, the maturing interactions occur in a verbal

dialogue with the child. Development of arousal-regulation and synchronisation at the autonomic-sensing level From the age of 0-3 months, the child needs to enter into interactions that enable him or her to feel pleasure and displeasure and regulate arousal. The development of the regulation of autonomic functions helps the child to regulate and coordinate arousal and maintain awareness. The child develops these regulatory skills through attuned interactions, acquiring skills that help the child to develop self-reassurance and find inner balance. Sensations of pleasure and displeasure experienced through the autonomic nervous system form the foundation of experiences and assessments that are later going to play an important role in regulating thoughts and behaviour. The earliest and most basic type of stimulation occurs through the body, i.e. through bodily reactions, which are triggered by stimulation that affects the autonomic nervous system. It is the development of this body-competence that most body-psychotherapies seek to regulate and refine. Meltzoff and Moore (1977, 1999) described how the child, shortly after birth, imitates the caregiver’s gestures and facial expressions. The child imitates the caregiver’s posture, facial expression and prosody, and through deep-seated brain areas, imitation skills and body sensations are connected with others’ attuned support. Synchronising with others through imitation and body sensations gives the child a sense of others’ emotional state. Through the so-called mirror neurons, the child is able to share other people’s actions and emotions simply by observing the action or the emotional state, without necessarily imitating it. We perceive the other as if one were to carry out the other’s action, feel the same feeling, express the same vocalisation or be affected, as the other is affected. This inner mirroring makes the interaction interesting and lays the foundation for curiosity and engagement. This non-verbal synchronisation is one of the most important non-specific factors in all secure attachment relationships. As Trevarthen and Panksepp (2014) point out, children have the wonderful gift of being able to share rhythms and emotions without using words. They learn by examining the sensory effects of moving around and thereby achieve self-confidence and knowledge of intimacy by playing with others, both with caring adults and

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supported by them. This attachment ability allows us to find engagement through community and the joy of collaboration, which is a resource we often take for granted, but which is highly likely to help vulnerable children develop coping skills. Often, severe mental trauma at this deep neural level leads to a lack of skills in relation to arousal regulation and development of body sensations. Development of affect attunement–emotional attunement The limbic system matures when the infant is approximately 2-3 months of age. From this age, the child gets a sense of the difference between their own and others’ feelings. The limbic system enables the development and refinement of social interactions, such as playfulness, delight or sadness. Humans have developed so-called categorical emotions, which can be read through facial expressions. Categorical emotions are universal emotion categories, for example joy, surprise, sadness, fear etc. From these emotional states, action impulses are formed, and the limbic system is therefore sometimes referred to as the motivation system (Hart 2008, 2011a, 2011b, 2012, 2016). Children begin to experience that feelings both vary in intensity and valence, and they learn to alternate between feelings that are perceived as positive and negative. Similarly, children learn to alternate between a healthy self-centred interest in matters that concern and satisfy them and an interest in other people’s actions and, later, internal states. Children thus develop an ability to engage in social interactions by first paying attention to the other, that is, to experience what the other is experiencing, as if their orientation and perspective were centred in the other. The limbic system makes it possible for children to distinguish themselves from others, that is, to combine self-awareness with an awareness of others and to regulate themselves emotionally. Already at this early stage, the child is capable of a primitive form of self-regulation (ibid.). In the limbic maturation period, the parents will make use of various emotional expressions through play, with an initial focus on positive emotions such as joy, surprise and curiosity, and later through playful interactions with joint expressions of negative emotions such as sadness, anxiety or anger. Both children’s positive and negative feelings must be regulated and handled to ensure that they get repetitive and distinct experiences that the adults are reliably capable of challenging them while providing empathic care and support. Through the interactions and forms of play that unfold, integrating autonomic synchronisation with the limbic capability of emotional exchange, the child begins to develop healthy internal representations of time spent with reassuring adults, thus developing regulated ways of interacting with other children. At this level, attach-

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ment-related trauma disables the emotional self-regulation capacity, and the child requires interventions that target autonomic and emotional regulation through play, for example in Theraplay (ibid.). The development of mentalising–bonding through dialogues By far the longest neurological development period is that of the frontal lobes. The child’s ability to mentalise develops in a gradual process that is not fully completed until the age of approximately 20 years. The prefrontal cortex is critical for the maintenance of emotional stability, and its development creates our capability to control primitive behaviours and basic emotions by inhibiting impulses and overriding the reflexive and instinct-driven system and the limbic structures. The development of the prefrontal cortex enables us to achieve a sense of continuity between past, present and future, which is a prerequisite for stable friendships. It is in this area that we experience shame, embarrassment, remorse or regret. Another result of the development of the prefrontal cortex is the ability to reflect on our own and others’ emotions, thoughts and actions and to understand what is likely going on in others. This structure is a prerequisite of mental flexibility and lets us alter thoughts and actions on the basis of associations. When this area matures, there is an integration of cognitive and emotional areas, that is, the ability to mentalise (Fonagy et al. 2002). The development of a mentalising capacity occurs around 3-5 years of age, when the child begins to reflect on others’ internal mental states and actions. Through the narrative process, the child makes sense of the world, and it is through the narrative organisation that raw emotions are transformed into symbols. Verbal symbols ascribe meaning to experiences acquired through sensations and feelings by interactions with and perceptions of the environment. Mentalisation is the process that makes us aware that we have our own view of the world that is not necessarily identical to other people’s perception. This capability lets us ‘read’ someone else’s mind and predict and make sense of other people’s behaviour. Because mentalisation is such a crucial aspect of human social functioning, the development of mental structures for interpreting interpersonal actions is crucial for the development of social skills (Hart/Schwartz 2008; Hart 2016; Fonagy et al. 2002; 2007). A precondition for developing mentalising skills is that the autonomic and limbic areas are activated. Thinking about feelings and thoughts develops mentalisation and is an integral part of a more nuanced understanding of oneself. Language seems to be a key mechanism for this integration; for example, language combines actions with sensations and emotional perception, and through

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storylines, we interlink sensations, feelings, thoughts and actions in ways that organise both our inner and outer reality. The aim for all narrative-based psychotherapeutic methods is to develop a mentalising capacity (Fonagy et al. 2002). The relationship between emotional development, attachment problems and trauma Human beings are social creatures, and the development of either psychological difficulties or healthy self-regulation strategies depends on our interactions with the social environment throughout life. In 1889, Pierre Janet wondered whether the nervous system may stop maturing at a specific point in development, without being able to develop further and add new elements, which would lead to a lack of integration of emotional structures and thus negatively impact personality formation. When the nervous system shuts out external stimuli, it encapsulates, and is inaccessible to interpersonal communication, which prevents cognitive and emotional development (Kolk 1987, 1994, 1996; Kolk/Fisler 1994; Kolk/McFarlane 1996). Many have been inspired by Mary Ainsworth and Mary Main’s understanding of how children develop different attachment patterns during their first year of life, and how it is possible, at this early stage of life, to distinguish between secure and insecure attachment patterns. What they found was that in children who are in a secure attachment relationship will have received predictable and attuned care, which have made them more autonomous and only inclined to seek the caregiver when the challenges are greater than they can handle on their own. These children exhibit more imagination and complexity in their play, and they are better at cooperating with others (Sroufe 1989a). They are able to generalise the experiences into an expectation that others will be responsive and accessible, and they often have positive expectations and a trusting attitude towards others. They develop self-worth and competence, and they have faith in their own ability to master life’s challenges. They appreciate good relationships with others and have an internalised template for empathy and reciprocity in relationships. Children with insecure attachment patterns show less enthusiasm and persistence in problem-solving situations, less curiosity and lower self-esteem, and they tend to either show greater emotional dependence or to isolate themselves and are far less competent in their social relationships with peers. They are easily frustrated, take a negative view or withdraw, both in play and in problem-solving situations, even with relatively simple tasks. Their thinking is more concrete and they talk less about their feelings. When children with an insecure attachment pattern are placed in an environment without stress or challenges, they adapt, but

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they are easily affected by minor stressors and quick to respond with adaptive self-protective strategies. Many authors point out that an inability to regulate emotions is one of the most profound and persistent consequences of early neglect, and that it causes vulnerability to psychological trauma (Sroufe/Fleeson 1986; Sroufe 1989b, 1997; Schwartz/ Hart 2013; Hart 2011c). As previously described, relational trauma has a particularly profound negative impact on the development of the child’s brain–much more than trauma caused by non-human factors such as natural disasters. As the development progresses, previous behaviour integrates hierarchically with more complex behaviour. When the new behavioural capabilities are developed, the earlier capabilities become subordinate to the more mature behaviour, but the earlier forms are still potentially active. Under intense stress, past behaviours are activated, while the behaviours that have matured later are deactivated. Later matured behaviour patterns are more vulnerable to disturbances and deactivate more rapidly than earlier matured behaviour patterns. An insecure attachment pattern may in some cases be dormant, so that it is only activated during periods of increased stress. Past behaviour patterns may also be manifest in the present behaviour as part of the child’s way of adapting to a stressful environment. Sometimes, the child’s behaviour may be an appropriate way to adapt to the environment, while at other times, it will prevent further development. The presence of less differentiated early behaviours is often evident as apparent rigidity or anxiety, which can interfere with continued adaptation (Santostefano 1978; Sroufe/Rutter 1984; Schwartz/Hart 2013). The potential for development in any intervention method is that every interaction holds a potential for a mutual capacity for developing self-regulation. In the normal development process, the child’s growing capacity for self-regulation dampens the arousal associated with overstimulation and helps the child maintain his or her attention and inhibit unfavourable behavioural expressions. It is this potential for learning that is exploited in psychotherapy. Vicarious trauma and dissociation as a self-protective strategy As previously mentioned, there are three reasons why personality, empathy and the ability for mentalisation might fail to unfold. One is that the nervous system, for example due to early deprivation, has never received the stimuli needed to achieve its potential. The second reason is that the nervous system has experienced one or more events that it could not assimilate, because the experience was too frightening, incomprehensible or chaotic, which has caused a symptom reaction in the form of either traumatic dissociation or PTSD. The third reason is that the nervous system is exposed to overwhelming situation-related stress,

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causing a regression to an earlier level of development. The human brain is ‘user-friendly’ and tries to adapt to possible options in the environment (Hart 2012). Trauma research has been especially concerned with dissociation phenomena. Pierre Janét, who in the late 1880s thought that some people were genetically unprepared to cope with overwhelming stress evoked by emotional trauma, developed the idea of dissociation. He believed that mental functions derived from anatomically distinct but related neural circuits, and that severe traumatic experiences can dissolve the mental ‘glue’, which causes the neural circuits to be torn apart. Janét believed that adaptive behaviour depends on an ability to synthesise and make sense of the environment through sensory and affective stimuli. An adaptive response to extremely stressful events requires the ability to synthesise sensory, emotional, cognitive and behavioural responses. When a person is overwhelmed beyond the capacity to integrate experiences, the integration process is disturbed, and the self-protective responses are evoked. There are two psychobiological reactions to trauma: either experiencing too much (invasion of sensations and affections), often referred to as PTSD, or experiencing too little (avoidance, denial and distancing), often described as traumatic dissociation. Both reactions impair the ability to mentalise–in other words, with regard to experiences and feelings there is a general rule of thumb: If you can’t step into them, you can’t mentalise them; if you can’t step out of them, you can’t mentalise. Thus, mentalising capacity is the flexibility of stepping into and out of experiences and the emotions they create. Both traumatic dissociation and PTSD are possible responses to trauma (Steele et al. 2009; Hart 2011c, 2011d). Whether people survive an earthquake or are exposed to repeated sexual abuse, what matters most is how they are supported by close relationships. The worst disassociation occurs when the people who should love and protect the child are the cause of the trauma, that is, when abuse or rejection happens. Children who never have felt safe and valued will be much more vulnerable to attachment and dissociative disorders later in life–even in adulthood. If the capacity to mentalise is undeveloped, the person will be extremely vulnerable to future stressors (Hart 2011a, 2011b, 2011c, 2011d; Fonagy/Target 2003). Healing trauma The human brain is extraordinarily malleable, and with the proper understanding and support, the human nervous system is never completely fixed. In most cases, it is always possible to develop healthier ways to relate to others, which means that any type of interaction, for example in trauma therapy with parents, family

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therapy and therapy with children, can make a difference (Beebe/Lachmann 2002; Hart 2011a, 2012). We need manageable challenges to develop feelings of competence, selfconfidence and belief in our own agency. For children, play is important for acquiring this type of expertise. For example, play based on physical, motor and sensory activity is an important precursor for as-if and role play, which involves planning, rehearsing, imagination, problem solving, social flexibility, language, communication and empathic processes, all of which are important for human contact (Burghardt 2006). Through play, children learn to be part of life’s many exchanges and challenges. The content of the play is not important; the important part is the way in which the child interacts with others. The developing aspect in play is that the child gets to test boundaries and learn in the safe context of play. An important element of play is smile and laughter. Smile and laughter are important ways of showing the child that he or she is not exposed to danger or threats. As the English paediatrician and psychoanalyst Donald Winnicott (1964) explained, the potential playful space builds self-esteem in the child, because without hallucinating, here the child can fulfil his or her dreams in a relational context. As Winnicott (1971) explains, it is easy to see that children play to have fun, while it is much harder to see, but no less important, that children also play in order to master anxiety or to master the ideas and impulses that cause anxiety, if one has no control over them. The basis for emotional attunement and emotional integration lies in the symmetric synchronisation that occurs through body language, facial expressions, tone and rhythm of voice and touch in mutual relationships. Through the engaging contact with a person that the child perceives as trustworthy, safe and calm, and who is able to synchronise with the child, he or she begins to selfregulate (Hart 2013). Relationships with others are crucial for the development of identity and self-understanding, but without emotions, other people do not mean anything. As David Cohen (2006) points out, active, energetic and spontaneous physical play stimulates neural circuits in the frontal lobes and Panksepp (1998) points out that physical play builds our self-regulatory capacity. Through play, children develop social skills, as they learn turn-taking, engaging in various roles, taking care of each other, expressing care and closeness etc. Children’s emotional development through play is a long process, and play competence can also be used in psychotherapy with adults–as humans are never too old to play. In psychotherapy with both children and adults, the aim of the intervention is always to address the person’s zone of proximal emotional development and develop interactions through the micro-regulatory interactions that generate present

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moments. The goal is not to avoid spontaneous feelings but rather to learn to be aware of them and decide whether to act on them or not. This is a skill that it takes time to develop, because it requires a mentalising capacity. All forms of Attention Deficit Disorder can be traced to reduced activity in specific parts of the frontal lobes, and delay of gratification, awareness functions etc. is learned through playful activities. Closing remarks There is now extensive research-based evidence that it is possible to develop personal capabilities, regardless whether the mental imbalances stem from experiences of neglect from the caregivers or other forms of traumatic experiences. A classic study by Werner and Smith (2001) followed a group of children born in 1955 for more than 40 years. The study looked specifically at children who performed well in spite of several social risk factors. One third of the children were born in at-risk families, including families marked by instability and numerous conflicts. The study showed that at 10 and 18 years of age, the majority of these children and youths had developed behavioural and learning difficulties and mental disorders. However, a third of the children and youths could be described as resilient, and they grew up to be harmonious, efficient, happy and helpful. The study identified three key factors in the resilient children, now adults: they had normal intelligence, they had developed an emotional attachment to a close relative or another significant person, and they had access to an education system that rewarded their skills and gave them opportunities to collaborate with other youths and adults. The human nervous system consists of innate structures that define the interactions we invite other people to join into, and the answers we get from the environment in turn alter these structures. Integration and reintegration of neural circuits in the affective structures of the nervous system require that the child’s nervous system is connected to another, more mature nervous system, which it synchronises with. That is a primary principle in all psychotherapy, whether aimed at children or adults. Empathy and compassion do not develop by themselves or in isolation but are founded in the early parent-child attachment and, later, through children’s play with each other. Motivation to establish emotional affiliation is an innate ability, and early in the infant’s life, the parents provide psychological coherence in a process where both arousal and affect regulation unfold from second to second. The basis of emotional and social development can be found in the optimal caregiver-infant relationship and transferred to other contexts later in life. Self-

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regulation skills initially develop in the child’s interaction with the closest caregivers and later in interactions with other authority figures and peers. Virtually all studies of children who have managed well despite difficult circumstances show that these children have benefited from contact with adults or peers who have supported them and helped them develop adaptive strategies and manage difficult behaviour by providing structure, nurture and care. Children with good emotional, personality and social resources very often gain a high mentalising capacity, which is one of the most crucial capabilities in a postmodern society that values efficiency, competitiveness and adaptability as well as more nurturing aspects such as democracy, solidarity, cohesiveness and compassion. Literature Amadei, Gherardo/Bianchi, Ilaria (Hg.) (2008): Living Systems, Evolving Consciousness, and the Emerging Person. A Selection of Papers from the Life Work of Louis Sander. New York: Analytic Press/Routledge. Beebe, Beatrice/Lachmann, Frank M. (2002): Infant research and adult treatment. Coconstructing interactions. Hillsdale/London: Analytic Press. Bennett, Maxwell R./Hacker, Peter M.S. (2003). The Philosophical Foundations of Neuroscience. Hoboken: John Wiley & Sons. Bentzen, Marianne & Hart, Susan (2014) Through Windows of Opportunity: A Neuroaffective Approach to Child Psychotherapy. London: Karnac Books. Burghardt, Gordon M. (2006): The Genesis of Animal Play. Testing the Limits. London: MIT Press. Cohen, David (2006): The development of play. 3rd ed. London: Routledge. Fonagy, Peter (2003): The development of psychopathology from infancy to adulthood: The mysterious unfolding of disturbance in time. In: Infant Mental Health Journal. 24 (3), 212-239. Fonagy, Peter/Gergely, Gyorgy/Jurist, Elliot/Target, Mary (2002): Affect Regulation, Mentalization and the Development of the Self. New York: Other Press. Fonagy, Peter/Target, Mary (2003): Psychoanalytic Theories. Perspectives from Developmental Psychopathology. London: Whurr Publishers. Fonagy, Peter/ Gergely, Gyorgy/ Jurist, Elliot/ Target, Mary (2007) The parent-infant dyad and the construction of the subjective self. Journal of Child Psychol. Psychiatry 48, 288-328. Hart, Susan (2008): Brain, Attachment, Personality. An Introduction to Neuroaffective Development. London: Karnac.

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Leidvolle Geschichte(n) Ein soziohistorischer Blick auf transgenerationale Traumatisierung am Beispiel von Flucht und Vertreibung S ANDRA E CK Traumatisierungen1 schreiben sich oft über Generationen hinweg in Familien ein. Mit anderen Worten: Traumatisierungen und ihre Auswirkungen werden von einer Generation zur nächsten weitergegeben. Dies stellt nicht nur für sich genommen ein betrachtenswertes Phänomen dar, sondern rückt auch den Traumabegriff selbst sowie zeitgeschichtliche Analysen um Krieg, Gewalt und Flucht in ein neues Licht. Mir geht es daher im Folgenden darum, transgenerationale Traumatisierung als etwas darzustellen, was a) hoch aktuell ist, b) etwas mit kollektiver Traumatisierung zu tun hat und c) etwas ist, was gleichermaßen die implizit ahistorischen Prämissen der Psychotraumatologie, umgekehrt betrachtet aber auch die Psychologie- und Gegenwartsferne der bundesdeutschen Erinnerungskultur infrage stellt. Diese Fragen werde ich anhand eines Beispiels betrachten, das ich gleichermaßen aus tagesaktueller (Stand: Sommer 2016) wie aus historischer Perspektive als relevant erachte: Phänomene von Flucht und Vertreibung und deren Auswirkungen auf die betroffenen Subjekte sowie nachfolgende Generationen. Zwischen Willkommenskultur und Brandanschlägen Herbst 2015: Jede Woche kommen zehntausende Geflüchtete nach München. Empfangen werden sie von Hunderten von Münchner_innen, die am Haupt-

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Ich spreche bewusst nicht von ‚Traumata‘, sondern von ‚Traumatisierungen‘, weil ich Traumatisierung als etwas zutiefst Prozesshaftes betrachte, das ohne soziale Kontexte nicht denkbar ist. Damit grenze ich mich auch von essentialisierenden Traumabegriffen ab.

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bahnhof, in den Kleidersammelstellen, in den Unterkünften ehrenamtlich tätig werden. Die, die sich engagieren, sind nicht nur Aktivist_innen, die sich seit Jahren für Migrant_innen einsetzen, sondern meist bis dato wenig politisch sozialisierte und engagierte Menschen, so mein Eindruck. Was all diese Personen dazu motiviert, von heute auf morgen Zeit, Geld und Sachmittel in riesigem Umfang aufzubringen, beeindruckt mich zutiefst. Frühjahr 2016: Was bereits 2015 wie eine zweite, hässliche Tonspur den Trend ehrenamtlicher Hilfe für Refugees begleitet hat, wächst sich nun zu einem manifesten, öffentlichen Klanggewitter aus: Überall brennen Unterkünfte für Geflüchtete, Gruppen und Parteien am rechten Rand des politischen Spektrums polemisieren auf teilweise offen rassistische Art (o.A. 2016a) und gewinnen damit Wähler_innenstimmen2. Laut aktuellen Forschungsergebnissen sind xenophobe und antimuslimische Äußerungen innerhalb des gesellschaftlichen Mainstreams ,salonfähig‘ wie nie in der Geschichte der Bundesrepublik: So konstatiert die Leipziger Mitte-Studie in den vergangenen Jahren einen starken Anstieg abwertender Einstellungen gegenüber Muslim_innen sowie Geflüchteten (Decker u. a. 2016a: 48), der bis weit in die Wählerschaft von SPD und CDU/CSU hineinreicht. Was ist innerhalb dieses knappen halben Jahres passiert? Was ist aus der viel beschworenen „Willkommenskultur“ geworden? Und womit hängt diese extreme Polarisierung zusammen? Antworten auf derlei Fragen gibt es – wie notwendigerweise immer in Gesellschaftsanalysen – viele. Es wäre z. B. sicherlich interessant, den Blick darauf zu lenken, wie sich die politische Strategie der EU, die Verantwortung für Migrationsfragen an ihre Außengrenzen zu übertragen (Hess/Kasparek 2010), nunmehr innerdeutsch zu wiederholen scheint oder aber auf migrationspolitische Brüche und Widersprüche vergangenen Jahrzehnte3, um nur zwei von vielen Herangehensweise zu nennen, die mir speziell für die Situation in Deutschland interessant erscheinen. Indes, mein Ansatz ist ein anderer. Ich möchte mich im Folgenden historischkollektivbiographischen Zusammenhängen zuwenden, aufbauend auf der These, dass die deutsche Nachkriegsgesellschaft ein ganz besonderes Verhältnis zum Thema Flucht hat, das bis heute nicht annähernd aufgearbeitet ist. Des Weiteren gehe ich davon aus, dass dieser Sachverhalt mit kollektiven, transgenerationalen Traumatisierungen in Verbindung steht. Dies wiederum bietet den Nährboden

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Jüngst z. B. die Wahlen zum Abgeordnetenhaus in Berlin, bei der die AfD rund 14%

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Herbert (2003) liefert hierzu einen ebenso fundierten wie zugänglichen Überblick.

der Stimmen bekam (Amt für Statistik Berlin-Brandenburg 2016).

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für einen gesamtgesellschaftlich höchst polarisierten, bisweilen irrationalhasserfüllten Umgang mit der „Flüchtlingskrise“ und ihren Auswirkungen. Soweit in aller Kürze meine These. Was dies im Einzelnen bedeutet, werde ich im Folgenden ausführen. Dabei betrachte ich Trauma als einen komplexen, vielschichtigen Prozess. Dabei spielen sowohl psychologische und körperliche als auch soziale und politisch-historische Faktoren eine wichtige Rolle und sind untrennbar miteinander verbunden. Dementsprechend erwartet die Leser_innen ein interdisziplinärer Blick auf das Thema (transgenerationale) Traumatisierungsprozesse. Zunächst wende ich mich der Frage zu, wie ich Trauma aus soziologischer und psychologischer Perspektive verstehe, worauf eine historische Einordnung zum Thema Flucht/ Vertreibung in und nach Deutschland folgt, um sich wiederum dem Phänomen der Übertragung traumatischen Potentials zwischen Generationen zuzuwenden. Diese Stränge werden anschließend auf zweierlei Weisen zusammengeführt: Ich spanne den Bogen zurück zur Ausgangsfrage nach der Einordnung der öffentlichen Reaktionen auf die ,Flüchtlingskrise‘, um abschließend einen Ausblick darauf zu geben, was meine Ausführungen für pädagogisches Denken und Handeln, insbesondere in schulischen Kontexten, bedeuten können. Ein Blick zurück nach vorn: bundesdeutsche Gedenkkulturen um Flucht und Vertreibung Kurz vor Abgabeschluss dieses Textes ist der Shoa-Überlebende und ,Gedenkkulturaktivist‘4 Max Mannheimer gestorben. Sehr plastisch erinnere ich mich bis heute daran, wie der schon damals ältere Herr mir und meiner damaligen Schulkasse berührend, einfühlsam und humorvoll zugleich von seinen Erlebnissen im KZ und danach erzählt hat. Rückblickend betrachtet hat diese Begegnung meine Perspektive auf Krieg, Verfolgung und Flucht entscheidend geschärft. Diese Art der unmittelbaren Begegnung mit Geschichte(n) wird in der näheren Zukunft nicht mehr möglich sein, denn die Zeitzeug_innen, die den 2. Weltkrieg und die gewaltsamen Umwälzungen im Anschluss bewusst erlebt haben, sind entweder bereits tot oder mittlerweile äußerst betagt. Es ist dementsprechend fraglich, wie ein würdiges ,Gedenken danach‘ aussehen könnte. Im Zuge dessen wurden in den vergangenen Jahren auch wiederholt Stimmen laut, die ei-

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Max Mannheimer war nicht nur lange Jahre Vorsitzender der Vereinigung der ehemaligen Häftlinge des KZs Dachau, sondern stand im Laufe seines langen Lebens auch tausenden Schüler_innen in Zeitzeugengesprächen Rede und Antwort (o.A. 2016b).

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ne thematische Neuorientierung bzw. zusätzliche Schwerpunkte im Gedenken einfordern (Roth 2015: 10). In diesem Kontext ist meines Erachtens auch die Kontroverse um ein ,Zentrum gegen Vertreibungen‘ (Romaniec 2013) zu sehen. Die medial breit rezipierten öffentlichen Debatten hierzu werfen Schlaglichter auf einige der Leerstellen und Engführungen der bisherigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um Flucht und Vertreibung und letztlich auch um die Nazi-Zeit: Zum einen werden politische Debatten um dieses Thema nach wie vor von Personen am rechten Rand des politischen Spektrums dominiert (Deutsche Presseagentur 2010), obwohl die Nachkommen der ursprünglich rund 14 Millionen Menschen (Faulenbach 2002: 44), deren familiäre Herkunft in den ehemaligen deutschen Ostgebieten liegt, politisch ebenso divers orientiert sind, wie die übrige Bevölkerung. Damit in Zusammenhang liegt der Fokus speziell auf dem an der deutschen Bevölkerung begangenen Unrecht, was andere Formen von Vertreibung sowie die Verbrechen der Nationalsozialist_innen relativiert (Müller-Hohagen 2015: 5). Zum anderen wird an den Debatten um das ,Zentrum gegen Vertreibungen‘ deutlich, dass eine Aufarbeitung dessen, was die Vertreibung und Flucht für die Einzelnen bedeutet bzw. wie sich Spuren dieser Migrationsgeschichte5 in den Biographien auch und gerade der Nachkommengenerationen ablagern, gerade erst am Anfang steht. Um den historischen Nährboden solcher Diskursstränge besser nachvollziehen zu können, lohnt es, einen Blick in die Zeit nach dem 2. Weltkrieg zu werfen. 1945: Der 2. Weltkrieg ist zu Ende, die Nazi-Diktatur liegt darnieder, ganz Europa formiert sich neu und Millionen Menschen befinden sich zwangsweise auf dem Weg aus ihren Herkunftsländern in eine ungewisse Zukunft anderswo. Viele dieser Menschen sind Überlebende der Shoah, die in ihren Herkunftsländern nach dem Krieg erneut mit Verfolgung und Enteignung konfrontiert sind und als sogenannte ,Displaced Persons‘ nicht dorthin zurückkehren können (Schneider 1999). Andere Menschen wiederum werden in gewaltsamen Umsiedlungsmaßnahmen im Zuge der Staatenneubildungen zu Geflüchteten: Pol_innen werden aus dem nunmehr sowjetischen östlichen Teil Polens nach Westen ver-

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Interessanterweise haben die Nachkommen von Vertriebenen offiziell keinen Migrationshintergrund: Die Definition des Statistischen Bundesamts hierzu klammert Menschen, die vor 1949 in die BRD/die DDR eingewandert sind, explizit aus dieser Definition aus (Statistisches Bundesamt 2009: 6). Im scharfen Gegensatz dazu erweist sich die Migrationsgeschichte von Vertriebenen und ihren Nachkommen in sozialforscherischen und therapeutischen Settings immer wieder als höchst bedeutsam (Stein 2009: 183).

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trieben (Hryciuk 2010: 100). Als deutsch etikettierte Personen müssen sie z. B. Schlesien oder das Sudetenland verlassen (Ruchniewicz 2010). Viele dieser Menschen treffen im Nachkriegsdeutschland ein und werden entsprechend spezifischer Verteilungsschlüssel den einzelnen Bundesländern zugewiesen. Schnell fassen viele sogenannte „Vertriebene“ augenscheinlich Fuß in der jungen Bundesrepublik: Unternehmen wurden gegründet, Häuser wurden gebaut (Fehse 2011b: 164) und binnen einer Generation identifizierten sich sehr viele der Menschen aus den ehemals deutschen Ostgebieten mehr als Münchner_innen, Berliner_innen oder Allgäuer_innen als Sudetendeutsche, Ostpreuß_innen oder Schlesier_innen (Faulenbach 2012: 227). Für eine Aufarbeitung der Nazizeit sowie des erlittenen Leides durch Flucht und Vertreibung bot die Nachkriegsgesellschaft privat wie zivilgesellschaftlich kaum Raum (Spranger 2010: 237) wie folgender Interviewausschnitt mit einer Vertriebenen untermalt: „Ich habe ganz viele Jahre weder an Lager noch an Flucht, noch an sonst was gedacht. Man hat gearbeitet, man musste irgendwie durchkommen, man hat viele Kontakte aufgebaut, viele Abschiede genommen. Es war immer Gegenwart. Die Vergangenheit, die kommt jetzt im Alter, jetzt kommt sie stückchenweise zurück.“ (Fehse 2011a: 102)

Die Stimmung des Ankommens und des Wiederaufbaus der Nachkriegszeit war im großen Stil geprägt von einer Nicht-Thematisierbarkeit all dessen, was explizit oder implizit mit der NS-Zeit zu tun hatte. Doch auch als diese Tendenz − unter anderem durch die sogenannten ,68er‘ − zunehmend aufgebrochen wurde (Faulenbach 2012: 228), führte dies nicht zu größeren diskursiven Möglichkeitsräumen, innerhalb derer Flucht und Vertriebensein in all ihrer Vielschichtigkeit denk- und sagbar geworden wären. Über das – trotz teilweiser Mittäter_innenschaft (Müller-Hohagen 2015: 5) – erlittene Leid zu sprechen, blieb nicht nur innerhalb der Familien, sondern auch innerhalb des politischen Diskurses lange Zeit eine Art Tabu: „50 Jahre nach Kriegsende war es noch immer verpönt, die Flucht und Vertreibung der Bevölkerung aus den Ostgebieten zu erwähnen. Die Gefahr, eine rechte Außenseiterposition zugewiesen zu bekommen, war groß.“ (Stein 2009: 183) Es sei erwähnt, dass sich diese undifferenzierte Betrachtungsweise diskursiv nicht nur aus übertrieben dichotomisierenden antifaschistischen Kreisen speiste, sondern auch Wurzeln in den bis heute sehr einflussreichen Vertriebenenverbänden hatte, die sich bis weit in die 1980er Jahre mit revisionistischen, bisweilen völkischen Forderungen nach Wiederaneignung der ehemaligen deutschen Ostgebiete hervortaten (Faulenbach 2012: 230). Erst in der jüngsten Vergangenheit scheinen sich diskursive Räume herauszukristallisieren, innerhalb derer über Flucht und Vertreibung in all ihrer Ambivalenz aus

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Mittäterschaft und Leid gesprochen werden kann. Nichtsdestotrotz stecken derlei Entwicklungen noch in den Kinderschuhen und gerade wenn es um Gewalt größeren Ausmaßes geht, scheint innerfamiliäres Schweigen sowohl auf der Seite der ,Täter_innen‘ als auch der ,Opfer‘6 vielfach eine schwer zu durchbrechende Norm darzustellen. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass das erlittene Leid sowohl gesamtgesellschaftlich als auch innerfamiliär lange Zeit nicht thematisierbar war und mitunter bis heute ist. Vor dem Hintergrund transgenerationaler Traumatisierung stellt dies einen hoch interessanten ,Befund‘ dar, scheint doch die Weitergabe von Traumata von einer Generation zur nächsten tendenziell dann in besonders ausgeprägtem Maße stattzufinden, wenn über das erlittene Leid nicht gesprochen wird/ gesprochen werden kann (Baer/Frick-Baer 2012: 12; Rauwald 2013: 14; Rosenthal 1999: 29). Zum Traumabegriff: Traumatisierung als Dispositiv 7 „Jede Person ist, unabhängig davon, ob sie es weiß oder nicht und ob sie damit einverstanden ist oder nicht, Zusammenfassung und Spiegel ihrer Zeit und ihres Ortes. […] Subjekt einer persönlichen und einer kollektiven Geschichte zu sein, dies ist eine Schnittlinie, aus der niemand entkommen kann.“ (Viñar 1996: 112)

Die wissenschaftliche (vor allem psychologische) Beschäftigung mit Trauma hat in den vergangenen Jahrzehnten einen erheblichen Aufschwung erlebt (Reddemann 2012: 13), was jedoch durchaus nicht besagt, dass die einzelnen Autor_innen und Richtungen unter „Trauma“ jeweils dasselbe verstehen. Zwar gibt es etwas, was sich als ,Mainstreamtraumabegriff‘ bezeichnen ließe. Dieser basiert auf der Klassifikation des ICD-10, worin Trauma letztlich folgendermaßen definiert wird: Als „belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“ (ICD-10 2016: F43.1). Unter Kritik geriet und gerät dieses Verständnis vor allem deshalb, weil, so die Kritiker_innen, Trauma als etwas Individualisiertes, Pathologisierendes dar-

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,Opfer‘ und ,Täter_innen‘ stelle ich hier in Anführungszeichen, um zu markieren, dass diese Begriffe keineswegs als dichotome, streng voneinander getrennte Kategorien gedacht sind, sondern dass Individuen vielmehr in einem Zusammenhang als Opfer, in einem anderen hingegen als Täter_innen fungieren können.

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Vgl. hierzu ausführlich Jäckle i.d.B.

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gestellt wird und so z. B. soziale und politische Faktoren der Traumagenese aus dem Blick geraten, wie Bettina Wuttig ausführlich darlegt (Wuttig 2016: 251). Auch die Perspektive, die ich in diesem Text auf das Thema Trauma anlege, teilt diese Kritik. Dabei ist es mir wichtig, Trauma als etwas zu deuten, das nicht ohne den zugrunde liegenden sozialen Hintergrund zu verstehen ist und damit in Verbindung ein Traumaverständnis zu entwickeln, das das stigmatisierende8, weil individualisierende Potential (vgl. hierzu auch Wuttig 2016 und Pusch in diesem Band), welches dem Begriff „Trauma“ innewohnt, möglichst gering hält. Daher betrachte ich Trauma als eine untrennbare und sich gegenseitig bedingende Kombination individuellen psychisch-physischem Erlebens und dessen soziohistorischen Hintergrunds, ähnlich einem Seil, das aus einzelnen Strängen besteht und die sich zwar voneinander lösen lassen, dann aber eben kein Seil mehr ergäben. Um diese Verknüpfungen theoretisch und praktisch-empirisch fassbar zu machen, bietet es sich meines Erachtens an, mit dem Dispositivkonzept von Michel Foucault zu arbeiten. Unter Dispositiv versteht Foucault Folgendes: „ein heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes eben sowohl wie Ungesagtes umfasst“ (Foucault 1978: 119). Übertragen auf Trauma-Konzepte bedeutet dies, dass nicht nur Ausformungen individuellen Leides in den Blick geraten oder einzelne belastende Ereignisse, sondern dass der Kontext unhintergehbar Teil von „Trauma“ ist. Betrachtet man „Trauma“ als Dispositiv, dann spielen beispielsweise Institutionen, die Gewalt zulassen oder ausüben, ebenso eine Rolle, wie die Möglichkeitsräume innerhalb derer leidvolle Erfahrungen sagbar und denkbar werden oder nicht. Mit anderen Worten spielt für die Frage, wie sehr leidvolles Erleben traumatisches Potential annimmt, eine wichtige Rolle, ob dieses thematisiert und dadurch ein Stück weit aufgefangen werden kann. Inwieweit dies geschieht, ist aufs Engste mit Macht und Sozialer Ungleichheit verknüpft, etwa damit, wer bestimmt, was wann als Leid gilt (Wuttig 2016: 252). Auch der Zugang zu professionellen Unterstützungssystemen ist schichtspezifisch sehr unterschiedlich (Mayrhofer 2012). Der ,Mehrwert‘ der Arbeit mit dem Dispositivkonzept liegt meines Erachtens darin, dass es theoretisch durchdacht Verknüpfungen zwischen ebensolchen Macht- und Herrschaftsphänomenen, Institutionen, Materialitäten (z.B. Häuser, Körper, Maschinen) und Subjekten vornehmen lässt. Bei der Beschäftigung mit dem hier interessierenden Thema Krieg und Flucht, ist dies in besonderem Maße

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Grundlegendes zum Stigmabegriff findet sich in Goffman 1999.

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der Fall. Solcherlei Phänomene lassen sich mit dem Foucaultschen Dispositivund Machtkonzept gut einfangen, denn Foucault denkt Dispositive als Verknüpfungen unterschiedlicher Diskurse, Institutionen und Materialitäten, die erst in ihrem Zusammenspiel machtvolle Wirkung erzeugen und sich gegebenenfalls zu etwas Traumatischem verdichten. Angewendet auf das Thema Flucht sei exemplarisch verdeutlicht, wie eine dispositive Lesart von Trauma aussehen kann: Die erlittene physische Gewalt, etwa die massenhaften Vergewaltigungen flüchtender Frauen durch Soldaten kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, verknüpft sich mit dem gesetzlichen Rahmen, der dies ermöglicht, dem historisch tradierten Machtungleichgewicht zwischen Militär und Zivilpersonen, welches sich wiederum in Waffen lebensbedrohlich materialisiert, und trifft auf den tief in patriarchalen Geschlechterstereotypen eingelagerten Zwang, das Erlittene zu tabuisieren sowie die Nichtthematisierbarkeit flucht- und vertreibungsbezogener Traumatisierungen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. All dies zusammen spannt nun das Trauma-Dispositiv Flucht9 auf, das nur in eben diesem Zusammenwirken angemessen fassbar wird. Es geht also nicht nur um das gewaltvolle Ereignis als solches, sondern eben auch und vor allem um seine Einbettung in einen sozialen Kontext der Thematisierbarkeit oder eben Nicht-Thematisierbarkeit. Weder im Fall der ShoaÜberlebenden noch der sogenannten Vertriebenen war gesellschaftlich und familiär der Rahmen gegeben, innerhalb dessen erlittenes Leid thematisierbar und damit – bis zu einem gewissen Grad – integrierbar hätte werden können. Auf diese Weise wurden die traumatischen Komponenten des Erlebten gleichsam in die Subjekte zurückverlegt. Gleichzeitig wurde die Thematisierung diskursiv verunmöglicht. So wird der Schrecken der Shoa bis heute in Aussagen wie „Nach Auschwitz ist keine Lyrik mehr möglich“ oder der Unvergleichbarkeit des Geschehenen gegossen, was zwar einerseits eine Würdigung und Mahnung darstellt, andererseits aber die Monstrosität der Ereignisse einfriert und so auch das Leiden der betroffenen Subjekte in den Bereich des Nicht-Fassbaren, NichtSagbaren und so nur sehr beschränkt Thematisierbaren rückt. Auch was die Thematisierung von Flucht und Vertreibung betrifft, gestaltet sich die Würdigung des erlittenen Leides bis heute schwierig (siehe Kapitel 2). Kurz gesagt wird bis heute die Thematisierung von Verletzbarkeit und Verletztheit dadurch überlagert, dass Vertriebene verallgemeinernd und ausschließlich als

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Die Bezeichnung „Trauma-Dispositiv Flucht“ erscheint möglicherweise holzschnittartiger, als sie gemeint ist. Dispositive sind stets kontingent zu denken, d. h. sie sind potentiell unendlich und immer in Bewegung. „Trauma-Dispositiv Flucht“ oder jede andere Überschrift ist demnach als Momentaufnahme zu verstehen.

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,Täter_innen‘ etikettiert werden, letzteres nicht zuletzt innerhalb linksalternativer Kontexte.10 Das Dispositivkonzept fungiert hier also auch als Brücke zur kollektiven Dimension und zum Umgang mit geflüchteten Personen heute. Für das Thema transgenerationale Traumatisierung ist diese Untrennbarkeit der einzelnen Elemente (psychische, soziale, historische, ...) besonders wichtig, wie im folgenden Abschnitt ersichtlich wird. Psychologischer und soziologischer Strang: Was ist transgenerationale Traumatisierung? Wie also lässt sich nun aus (sozial-)psychologischer Sicht greifbar machen, was der eben beschriebene historische Hintergrund mit traumatischen Potentialen in der Gegenwart zu tun hat? Meines Erachtens erweist sich hier die Idee transgenerationaler Traumatisierung als fruchtbares Konzept. Einen wichtigen Ausgangspunkt dieses Konzepts bildet die Ergebnisse der Forschung zu ShoaÜberlebenden und ihren Nachkommen (Gahleitner u.a. 2012: 23): Nicht nur die Überlebenden selbst, sondern auch ihre Kinder, die die Shoa nicht selbst miterlebt hatten, weisen häufig deutliche Symptome von Traumatisierung auf (Rosenthal 1999: 25). Dies umfasst unterschiedliche Komponenten, wobei es zum einen um den Hintergrund geht, d.h. inwieweit das familiäre Klima bzw. die emotionale Rahmensituation von Traumatisierungen beeinflusst erscheint und zum anderen um den Vordergrund, d.h. inwiefern sich emotional-leibliche Elemente traumatischen Erlebens von einer Generation zur nächsten übertragen. Ersteres erweist sich dabei in der Außenbetrachtung als unmittelbar verstehbarer: Während es naheliegt, dass das Aufwachsen mit Eltern, die an den Folgen unbearbeiteter Traumatisierungen leiden, einen belastenden Einfluss auf die Nachkommen haben kann (Baer/Frick-Baer 2012: 71ff.), erscheint der in obiger Gesprächssequenz skizzierte Zusammenhang weniger unmittelbar (be-)greifbar: Offensichtlich werden potentiell traumatische Elemente nicht nur als atmosphärischer Hintergrund, sondern auch durch für die Nachkommen leiblich-emotional schmerzhaft spürbare Bilder übertragen. Zudem scheint dieses Phänomen die Tendenz zu haben, stärker auszufallen, je weniger solcherlei traumatische Situationen innerhalb der Familie explizit thematisiert werden, wie oben bereits erwähnt.

10 Diese Fragestellung wäre sicherlich eine eigene Studie wert, welche bislang aussteht. Da hierzu kein wissenschaftlich tragfähiges Datenmaterial vorliegt, beruht diese Aussage an dieser Stelle ausschließlich auf meinen eigenen Beobachtungen sowie auf von der Stein (2009).

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Wie „funktioniert“ die transgenerationale Weitergabe von Traumatisierungen? Wie also werden Traumatisierungen von einer Generation zur Nächsten übertragen? Hierzu lassen sich unterschiedliche Ansätze zurate ziehen, die transgenerationale Weitergabe von Traumatisierungen aus je unterschiedlicher Perspektive betrachten. Insbesondere für den pädagogisch-erziehungswissenschaftlichen Kontext dieses Werkes erscheinen mir zwei Perspektiven als besonders fruchtbar: Psychoanalytisch inspirierte Theorien zum Verhältnis von Dissoziation und transgenerationaler Weitergabe sowie Überlegungen zum Leib-Gedächtnis, die Ideen der Leibphänomenologie, der Gestaltkörpertherapie und der Soma Studies11 zusammenführen. Dissoziation als ‚Einfallstor‘ − psychoanalytisch inspirierte Theorien Der bereits erwähnte Befund, dass Traumatisierungen tendenziell umso mehr von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden, wenn nicht über das erlittene Leid gesprochen wird, wirft die Frage auf, wie transgenerationale Traumatisierung ,funktioniert‘. Mit anderen Worten: Wie wird etwas wirksam, was bewusst unter Umständen gar nicht gewusst wird, weil darüber nie wirklich gesprochen wurde/ wird. Wie entsteht dieses „Leiden, ohne wissen zu können, warum“ (Baer/Flick-Baer 2012: 38)? Hier lohnt es sich, das viel zitierte Schweigen über traumatisierende Situationen etwas genauer anzusehen. Vielfach handelt es sich um ein Schweigen, das eher ein Abbrechen ist, d. h. Sachverhalte werden angerissen, aber nicht zu Ende berichtet. Was bleibt, ist eine Atmosphäre des Tabus, des Unsagbaren, der Leere (Baer/Frick-Baer 2012: 40), die emotional umso mehr wirkt und eine kontinuierliche, phantomhafte Bedrohung generiert: „Eine nicht greifbare Last ist eine unendliche Last, weil sie kein Maß hat, weil sie den Impuls produziert, […] dass gegen etwas gekämpft werden muss, was gar nicht bekannt ist“ (Baer/Frick-Baer 2012: 71). Ein Blick in bindungs- und entwicklungspsychologische Betrachtungen macht deutlich, wie tief derlei Prozesse gehen können. Knapp auf den Punkt gebracht, sehen diese die Neigung zur Dissoziation bei vielen von Traumatisierun-

11 „Soma Studies“, geprägt von Bettina Wuttig (2016), bezeichnet eine Richtung innerhalb der Sozial- und Geisteswissenschaften, die davon ausgeht, dass sich „Macht- und Herrschaftsverhältnisse [...] nicht nur in leibliche Empfindungen, sondern auch in somatische Impulse eingraben [...]“ (Wuttig 2016: 21).

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gen betroffenen Eltern/ Hauptbezugspersonen als Einfallstor, über das Traumatisierungen an deren Kinder weitergegeben werden können (Fonagy 2002: 73). Nach Erkenntnissen von Bindungstheorien verhält es sich so, dass Kinder ihre Eltern gewissermaßen als Spiegel für ihre eigene Entwicklung nutzen (Fonagy/Target 2006: 367). Vor allem kleine Kinder sind noch nicht in der Lage, ihre Bedürfnisse selbst zu regulieren, und verlagern dies auf ihre Eltern. Letzten Endes fungieren Eltern also als eine Art Auffangsystem der Bedürfnisse ihrer Kinder. Wenn nun aber Eltern aufgrund dessen, dass sie zu Dissoziation neigen, in der direkten Interaktion mitunter nicht wirklich präsent sind, läuft die Resonanz, die Kinder für die Entwicklung brauchen, gewissermaßen ins Leere. Damit fehlt den Kindern in solchen Momenten schlichtweg ein Gegenüber, weshalb sie sich selbst nicht adäquat spüren können. Genau solche Momente hält Fonagy (2002) wiederum für die Punkte, in denen transgenerationale Traumatisierung stattfindet, weil die traumatischen Komponenten der elterlichen Biographie implizit klar zu Tage treten (daher die Dissoziationsneigung) und traumatische Fragmente gleichzeitig nicht mehr ,gehalten‘ werden können. Gleichzeitig fällt das ,Auffangbecken‘ weg und die Kinder sind gewissermaßen auf sich alleine gestellt, wodurch eine erhöhte Durchlässigkeit für traumatische Fragmente besteht. Wenn der Körper weiss, was dem Geist nicht bewusst zugänglich ist – Theorien des Leib-Gedächtnisses Oben geschilderte Prozesse finden ab der frühesten Kindheit statt, weshalb ein großer Teil dessen non-verbal funktioniert. Dementsprechend lässt sich die Frage, wie potentiell traumatische Dispositionen von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden, kaum klären, ohne körperlich-leibliche Phänomene einzubeziehen. Die Grundidee dabei besteht darin, dass Erinnerungen nicht nur auf kognitiv-sprachlicher Ebene weitergeben werden, sondern auch auf körperlicher. Mit anderen Worten: Auch wenn etwas nicht verbal kommuniziert wird, so kann es sich dennoch in den Leib einer anderen Person einschreiben. Es gibt also so etwas wie ein intersubjektiv geteiltes Leibgedächtnis (Gugutzer 2012: 67ff.). Was auf den ersten Blick möglicherweise etwas mysteriös erscheint, wird plastischer vorstellbar, wenn wir es uns anhand einer scheinbar banalen Alltagssituation vergegenwärtigen. Möglicherweise kennt jede_r Leser_in folgende Situation: Würde sie_er nach der Telefonnummer von – sagen wir – Tante Erna gefragt, könnte er_sie diese nicht verbal aufsagen. Würde sie_er allerdings vor einem Telefon sitzen, wäre es ihr_ihm ein Leichtes, die Telefonnummer in die Tasten des Telefons einzutippen, weil die Anordnung und Abfolge der Tasten gleichsam in den Fingerbewegungen erinnerbar und wiederholbar erscheint.

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Dieses einfache Beispiel leiblichen Gedächtnisses lässt sich auch auf weit komplexere Situationen übertragen und funktioniert auch auf einer Ebene, die über das einzelne Subjekt hinausgeht (Gugutzer 2012: 67ff.). Für Traumatisierung und insbesondere transgenerationale Traumatisierung ist dies hoch interessant, wie im Folgenden zu sehen sein wird. Hierzu muss zunächst einmal festgehalten werden, dass Traumatisierung als solches ein hoch körperlicher Prozess ist, der zum einen viel mit Wahrnehmung zu tun hat (Huber 2012: 50) und sich zum anderen gleichsam in den Körper einschreibt. Dies geschieht nicht nur in der potentiell traumatisierenden Situation selbst, sondern hat das Potential, sich gewissermaßen zu verselbständigen: Wenn etwas geschieht, was an ein traumatisierendes Ereignis erinnert (ein sogenannter ,Trigger‘), kann es auf leiblicher Ebene wiedererlebt werden. Geschieht dies wiederholt, kann es zu einer „dauerhaften sensorischen Einprägung der Eindrücke“ (Wuttig 2016: 223) kommen, d.h. das traumaspezifische leibliche Erleben tritt dann dauerhaft auf und schreibt sich unter Umständen tief in körperliche Strukturen (Haltung, Anspannungsgrad etc.) ein. Inwiefern ist dies nun für transgenerationale Traumatisierung bedeutsam? Wie im vorherigen Kapitel erläutert, findet die Weitergabe von Traumatisierungen zwischen den Generationen auch und vor allem im Säuglings- und Kleinkindalter statt und damit in einer Lebensphase, die von nicht- bzw. vorsprachlicher, körperlich-leiblicher Kommunikation zwischen Kind und Bezugsperson_en geprägt ist. Dementsprechend erlebt das Kleinkind körperliche Befindlichkeiten der engsten Bezugspersonen gleichsam ungefiltert durch Symbolisierung. Es erlebt z.B. die traumatisierungscharakteristische Anspannung des Elternteils gleichsam am eigenen Leib. Hinzu kommt, dass eben diese Anspannung den Kontakt, d.h. einen sozial nährenden Austausch, mitunter verhindern kann. Genauer ausgedrückt reguliert sich die Durchlässigkeit für Kontakt auf körperlicher Ebene unter anderem über die An- und Entspannung der Oberflächenmuskulatur. Mit anderen Worten: Wie viel oder wenig ich den_die Andere_n an mich heranlasse und wie viel oder wenig ich von mir selbst preisgebe, wird auch dadurch bestimmt, wie hart oder weich ich mich leiblich-körperlich fühle und zeige (Kepner 2010: 239ff.). Bezogen auf transgenerationale Traumatisierung bedeutet dies eine sehr charakteristische Form von Desorientierung, die daraus resultiert, dass kein wirklicher Kontakt zur Bezugsperson möglich ist. Apropos Bezugsperson: Meine Verwendung dieses Wortes, anstelle des vielleicht erwarteten „Mutter“ oder „Vater“, verweist indirekt darauf, dass Traumatisierung keines Falls als bloß individuelles Problem zu betrachten ist, denn die in den beiden vorherigen Abschnitten geschilderten Bindungsschwierigkeiten etc. stellen sich auf den zweiten Blick als zutiefst normativ durchzogen heraus. Um

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dieses Argument nachvollziehen zu können, gilt es zunächst festzuhalten, dass Bindungsproblematiken und transgenerationale Traumatisierung keinesfalls deterministischerweise als unentrinnbares Schicksal zu betrachten sind, sondern z.B. durch zuverlässiges, empathisches Auffangen der Kinder durch weitere Bezugspersonen ein gutes Stück weit kompensiert werden können (Huber 2012: 105). Wie weit dies jedoch möglich ist, hängt soziologisch betrachtet wiederum davon ab, inwiefern gesellschaftliche Vorstellungsfelder, Institutionen und Strukturen so angelegt sind, dass dies überhaupt denkbar ist. Sofern die Sorge um und für Kinder rechtlich wie sozial vornehmlich Kleinfamilien der traditionellen Vater-Mutter-Kind-Form zugeschrieben wird, werden viele Formen solchen zuverlässigen Auffangens zumindest erschwert, wenn nicht verhindert. Zwischenfazit: Die sogenannte Flüchtlingskrise als Quasi-Trigger und Projektionsfläche Auch entsprechend der oben eingeführten Betrachtungsweise von „Trauma“ als Dispositiv versteht es sich beinahe von selbst, dass die Betonung innerpsychischer und körperlicher Aspekte von Traumatisierung nicht bedeutet, dass diese losgelöst von sozialen und historischen Kontexten zu verstehen sind. Im Gegenteil: Die Beschäftigung mit transgenerationaler Traumatisierung, am Bespiel von Flucht und Vertreibung, erweist sich gleichsam als Lehrstück darüber, wie untrennbar diese Ebenen miteinander verbunden sind. Denkt man die Ausführungen des vorherigen Kapitels zu Ende, so erscheint vieles, was Menschen mit Fluchtgeschichte heutzutage als Hass entgegenschlägt auch als eine Art kollektiver Projektion: Das Thema Flucht triggert gleichsam eine ganze Reihe schmerzhafter, nicht-integrierter traumatischer Fragmente, die nicht gehalten werden können und deshalb nach außen transportiert werden. Ohnehin vorhandene rassistische und nationalistische diskursive Muster bilden hierfür gewissermaßen den Nährboden, gestärkt durch jahrzehntelange Versäumnisse in der Migrationspolitik (Herbert 2003). Hinzu kommt, dass Gewalterfahrungen und das damit einhergehende traumatische Potential offenbar dazu neigen, gewissermaßen die Ebenen zu wechseln, auch − aber nicht nur − über Generationen hinweg: Betroffene kollektiver Gewalt (Krieg, Flucht, etc.) und deren unter Umständen traumatischen Folgeerscheinungen wenden die sozusagen verinnerlichte Gewalt überdurchschnittlich häufig gegen sich selbst oder andere (Huber 2012: 165ff.). Insbesondere über mehrere Generationen betrachtet, lässt sich am Beispiel transgenerationaler

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Traumatisierung also auch ausmachen, wie unterschiedliche Arten von Gewalt miteinander verknüpft sind und ineinander übergehen12. Soweit die pessimistische Perspektive auf das Sujet. In anderer Lesart birgt das Phänomen transgenerationale Traumatisierung jedoch auch entgegengesetzte Impulse. Angelehnt an Judith Butler lässt sich Verletzbarkeit als eine Art Grundkonstante menschlichen Seins begreifen (Jäckle u. a. 2016: 47). Dies wird am Beispiel transgenerationaler Traumatisierung in mehrfacher Hinsicht deutlich: Zum einen verweist jene durch den Aspekt der Weitergabe darauf, dass nicht nur unmittelbar von Gewalterfahrungen betroffene Menschen unter den Folgen derselben leiden und sich dadurch die schiere Anzahl der von traumabezogener Verletzbarkeit betroffenen Menschen erhöht. Zum anderen bildet transgenerationale Traumatisierung eine Brücke zwischen individueller und kollektiver Verletzbarkeit13, was Verletzbarkeit in ihrer Kontingenz und Überzeitlichkeit aufscheinen lässt. Mit anderen Worten: Wenn die Möglichkeit besteht, auf die eine oder andere Weise von traumatischen Fragmenten betroffen zu sein (etwa im Zusammenhang mit einer familiären Fluchtgeschichte), so wird die strikte Aufteilung in „wir“ versus „die anderen“, wie sie aktuell in der Flüchtlingsfrage geschieht, sehr schnell sehr sinnlos. Was daraus stattdessen erwachsen könnte, wäre ein gesteigertes Ausmaß an Empathie und Geschichtsbewusstsein. Was kann dies für schulische Zusammenhänge bedeuten? Abschließende Thesen und Vorschläge Soweit die abstrakte Version meines gemäßigt utopischen Ausblicks. Was dies wiederum für ganz konkrete gesellschaftliche Settings bedeuten könnte, möchte ich abschließend am Beispiel des Feldes ,Schule‘ in knappe, thesenartige Anregungen gießen. Eine andere Gedenkkultur erfordert einen anderen Geschichtsunterricht. Um an die Eingangsbeobachtung anzuknüpfen, dass Gedenkkultur sich ändert, wenn die Zeitzeug_innen sterben: Die Beschäftigung mit transgenerationaler Traumatisierung relativiert gelegentlich geäußerte Impulse des ,die Vergangenheit ruhen Lassens‘ nachhaltig (Roth 2015: 9). Denn wie vergangen ist Vergangenheit, wenn es bis heute Menschen, bisweilen sogar junge Menschen gibt, die

12 Vertiefend hierzu siehe Perls u.a. (2013: 333ff.). 13 Siehe Abschnitt Dispositiv und Abschnitt kollektive Traumatisierung.

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unter den Folgen historischer Gewalttaten leiden? Für die Praxis des Geschichtsunterrichts resultiert daraus meines Erachtens, dass mit persönlicher Betroffenheit der Schüler_innen auch im Jahr 2016 und danach noch zu rechnen ist. Dies erfordert einen Unterricht, der Raum für etwaige emotionale Reaktionen einräumt und Familiengeschichten bewusst und achtsam einbezieht, sofern von Seiten der Schüler_innen die Bereitschaft und Stabilität hierfür vorhanden ist.14 Es gilt, interdisziplinäre Angebote zu stärken. Aus den bisherigen Ausführungen folgt, dass eine Psychologisierung der Erinnerungskultur ebenso notwendig ist, wie eine Historisierung und Soziologisierung der Beschäftigung mit Trauma. Für beides finden sich in der Schule nur selten curriculäre Angebote, wobei Projektseminare hierfür ein gutes Format darstellen könnten. Räume für unverzweckte/ unbewertete Leiblichkeit Wie wir gesehen haben, ist Traumatisierung ein zutiefst körperlich-leibliches Phänomen. In einem sozialisatorisch so wichtigen Feld wie der Schule wäre es daher sinnvoll, Körperlichkeit in einem geschützten, (be-)wertungsfreien, achtsamen Rahmen lebbar machen. Bisher ist dies nur sehr bedingt und nichtinstitutionalisiert der Fall (Langer 2011), da etwa Sportunterricht in seiner Leistungslogik weder als (be-)wertungsfrei noch als geschützt gelten kann. Verletzbarkeit thematisierbar machen Verschiedene Analysen des Bildungssystems verweisen darauf, dass Leistungsund Selbstoptimierungsdruck an Schulen und anderen Bildungsinstitutionen in den vergangen Jahren stark zugenommen haben (Hradil 2001; Maeße 2010). Dies führt tendenziell zu einer Logik der Härte und des Durchhaltens, was bereits alltägliche Probleme, von Traumatisierungen ganz zu schweigen, dethematisiert. Dem könnte ein konsequentes Nutzen der Räume und Strukturen, innerhalb derer ein stigmatisierungsarmer Umgang mit Schwierigkeiten und Leid dennoch in begrenztem Umgang möglich ist, entgegenwirken. Ich denke dabei auf der einen Seite an Klassleitungs-, Vertrauenslehrer_innen- und Tutor_innenSysteme und eine gute Zusammenarbeit mit externen Stellen (Schulsozialarbeit, Jugendhilfe, etc.), auf der anderen Seite aber auch an die Förderung achtsamer Kommunikationsstrukturen mit und unter den Schüler_innen.

14 Weiterführende Literatur findet sich hierzu z.B. bei Assmann (2006) oder Meier (2010).

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Es ist wichtig, Lehrer_innen mit dem Thema Trauma nicht ,im Regen stehen zu lassen‘. In einer Zeit, in der vermehrt junge Menschen mit potentiell traumatischen Erfahrungen an Schulleben und Unterricht teilnehmen, gilt es, Lehrkräfte hiermit bildungspolitischerseits nicht alleine zu lassen, sondern in Sachen Trauma weiterzubilden. Vor der Folie transgenerationaler Traumatisierung gelesen, erscheint es unumgänglich, dass etwaige Qualifizierungen diesbezüglich auch Selbsterfahrungselemente enthalten. Wenn die Verletzbarkeit und der Erfahrungsraum der Lehrer_innen selbst Raum findet, erhöht dies meines Erachtens einerseits die stigmatisierungsfreie Auseinandersetzungsfähigkeit der Lehrkräfte mit ähnlich gelagerten Problemlagen bei den Schüler_innen und trägt andererseits zur BurnOut-Prävention bei Lehrer_innen bei. Eine gute Lehrer_in-Schüler_in-Beziehung kann heilsam wirken. Generell lässt sich „Schule als Beziehungsfeld, in dem positive soziale Erfahrungen gemacht werden können“ (Möhrlein/Hoffart 2014: 93), betrachten. Die erscheint umso wichtiger, wenn es um (transgenerationale) Traumatisierung geht. Lehrer_innen kommt dabei als präsenten erwachsenen Bezugspersonen eine wichtige Rolle zu. Allerdings sollte das relationale Denken auch hier weiter gefasst und das (Schüler_innen-)Subjekt immer in seinen Verknüpfungen und seinem Gewordensein in den Blick genommen werden. Innovative Ansätze, um lebensweltliche Kontexte des Schüler_innen-Lebens mitzudenken, bietet in der Bildungsarbeit etwa das Sozialraumkonzept (Otto/Rauschenbach 2012). Literatur Amt für Statistik Berlin-Brandenburg (2016): Pressemitteilung: Berliner Wahlen 2016. [https://www.wahlen-berlin.de/wahlen/BE2016/presse/20160918c.pdf?sel1=1253& sel2=1500; abgerufen am 04.10.2016]. Assmann, Aleida (2006): Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: Beck. Baer, Udo/Frick-Baer, Gabriele (2012): Wie Traumata in die nächste Generation wirken. Untersuchungen, Erfahrungen, therapeutische Hilfen. Neukirchen-Vluyn: Semnos. Burk, Henning/Fehse, Erika/Krauss, Marita/Spröer, Susanne/Wolter, Gudrun (2011): Fremde Heimat. Das Schicksal der Vertriebenen nach 1945. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Brähler, Elmar (Hg.) (2016): Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland. Gießen: Psychosozial.

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Trauma-Ozean Sozialphilosophische Reflexionen B USE B AHCELIBAS Einleitung „Besteht die Hellsichtigkeit − die Öffnung des Geistes für das Wahre − nicht darin, die permanente Möglichkeit des Krieges im Auge zu behalten? [...] Daß sich dem philosophischen Denken das Sein als Krieg zeigt; daß der Krieg als die offenkundigste Tatsache nicht nur mit dem Sein zu tun hat, sondern die eigentliche Offenbarkeit des Wirklichen − oder seine Wahrheit − ausmacht, dazu bedarf es keines Beweises anhand dunkler Heraklitischer Fragmente.“ LÉVINAS 2008: 19

Es scheint, als seien Lévinas’ Worte zum Zustand der Seins, der Welt inzwischen überholt. Ist der Einzelne, ist die gesamte Menschheit nicht längst daran gewöhnt, dass Krieg und Gewalt nicht mehr nur permanente Möglichkeit, sondern alltägliche, reale Gegebenheiten sind? Können sich die Augen den stündlichen Nachrichten und Berichten von Krieg und Kriegsgeschehen, von alten, neuen, wieder aufflammenden oder demnächst drohenden kriegerischen Auseinandersetzungen und kriegerischer Gewalt überhaupt verschließen? Legen die weltweiten Flüchtlinge, die ertrunkenen und die nicht-ertrunkenen, nicht Zeugnis davon ab, dass die Welt sich im unentwegten „Kriegszustand“ (ebd.) befindet, im ökonomischen, im militärischen, im politischen, im digitalen, im kulturellen und im religiösen Kriegszustand? Zieht nicht für alle vom Krieg noch Verschonten das herauf, was für unzählbar viele längst Wirklichkeit ist: „Der Krieg errichtet eine Ordnung, zu der niemand Abstand wahren kann“ (Lévinas 2008:

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20), da das Gesetz des Krieges, wenn er herrscht, keinerlei Abstand mehr möglich macht, keinerlei Abstand erlaubt? Andererseits: Bedeutet die alltägliche Hinnahme des Kriegs nicht schon das innerliche Einverständnis, das ‚Ja‘ zum Krieg? Die Bejahung seiner vermeintlichen, seiner ‚heraklitischen‘ Unausweichlichkeit, demnach der Krieg ,der Vater aller Dinge‘ sein soll? Drückt die Vorstellung des Krieges als ein von scheinbar niemanden gewolltes, unheilvolles ,Ereignis‘1 nicht aus, dass der Krieg angeblich aus der Menschheitsgeschichte nicht zu verbannen ist, wie es auch Exponenten des Traumadiskurses postulieren?2 Hat also die sozialphilosophische Reflexion, die Krieg und Gewalt zum Thema macht, überlebt, weil Krieg und Gewalt

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Der Begriff „Ereignis“ ist elementar für die sozialphilosophische Reflexion und die Philosophie Lévinas’, elementar auch für den Traumabegriff und den Traumadiskurs; und elementar für die klinisch-psychologisch-psychiatrischen Klassifikationssysteme, sowie für die psychotherapeutische Arbeit mit traumatisierten Menschen.

2

So etwa: „Traumata durch Naturkatastrophen und Kämpfe bzw. Kriege gehören − unter einer menschheitsgeschichtlichen Perspektive − zum Leben der Menschen, wie prähistorische Funde zeigen.“ (Petzold u.a. 2000: 447) Abgesehen von der Gleichsetzung von Naturkatastrophen mit Kämpfen und Kriegen, sowie von der Ineinssetzung von Kämpfen mit Kriegen, prähistorische Funde dürften nicht in der Lage sein, die jüngsten Kriege des angebrochenen 21. Jahrhunderts zu verstehen, wie den seit 2011 wütenden Krieg in Syrien, wie den seit 2014 stattfindenden Krieg in der Ukraine. Auch zum Begreifen sonstiger moderner Kriege, wie dem Ersten oder Zweiten Weltkrieg, vermögen prähistorische Funde nichts beizutragen. Lévinas bemerkt hierzu: „Seit 1914 haben die Kriege jedes menschliche Maß verloren“ (Lévinas 1956: 139). Das heißt, moderne Kriege sind historisch-epochal von absolut neuer Qualität. Prähistorische Funde belegen allenfalls die Unvergleichlichkeit der prähistorischen Menschenhorden mit der modernen Subjektivität und Menschheit des 21. Jahrhunderts und deren nicht prähistorische, sondern sehr moderne kriegerische Gewaltanwendungen, die „jedes menschliche Maß verloren [haben]“ (ebd.). Die Zuschreibung des „Ereignisses“ Krieg, kriegerische Gewalt und Gewalt überhaupt unter dem Titel „Kämpfe“ als „zum Leben der Menschen“ (Petzold u.a. 2000: 447) gehörend, ist von nicht geringer Bedeutung im Traumadiskurs und für den Traumadiskurs als solchen. Unter dem Begriff (moderner) „Traumadiskurs“ fasst die vorliegende Abhandlung alle Sagbarkeiten, die in den theoretisch-konzeptionellen Entwürfen und Diskussionen, den medizinisch-psychiatrischen Klassifikationssystemen sowie den therapeutischen Modellen und ihrer praktischen Arbeit regelstrukturiert zum Ausdruck kommen, zusammen.

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sich allen als scheinbar unabänderliche Faktizität und Seinsmächtigkeit aufdrängen? Doch ohne Abstand nehmende, ohne sozialphilosophische Reflexion bleibt die alltägliche Zurkenntnisnahme von augenfälligem Krieg und kriegerischer Gewalt dem unmittelbaren Sein verbunden, bleibt ein „Beharren im Sein“ (Lévinas 2008: 10). Dann erscheinen Krieg, kriegerische Gewalt und die Gewalt überhaupt, weil als das real Gegebene, als das unabänderlich ‚Wahre‘ schlechthin.3 Der sozialphilosophischen Reflexion hingegen erweist sich das augen-

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Krieg und kriegerische Gewalt sind wesentliche Konstitutionsbedingungen des modernen Traumadiskurses, sein ihn Begründendes, spätestens seit 1914, als der ohne „jedes menschliche Maß“ (Lévinas 1956: 139) geführte Erste Weltkrieg das unüberschaubare Heer von Kriegstraumatisierten hervorbrachte, welche monatelang in den Schützengräben den Feuerregen von Flammenwerfern, Granaten, Granatsplittern, Maschinengewehren, Gewehrkugeln, Bajonetten und Giftgaskampfstoffen gegenseitig zum Einsatz brachten und ihm ausgesetzt waren. Morgens war die soldatische Existenz Täter der Gewalt, mittags deren Opfer, abends wieder ihr Vollstrecker. Die aus dieser wechselseitigen Gewaltzufügung hervorgegangenen Kriegstraumatisierten, die „(Verdun-) shellshocks“ oder „Granat- bzw. Kriegszitterer“ (Stelzenmüller 2003), wurden der damaligen Medizin und Frontpsychiatrie zur ,Behandlung‘ überwiesen − zum Zwecke der Wiederherstellung ihrer Gewaltbereitschaft, ihrer Wiedereinsatzfähigkeit in den Schützengräben, oder zur sozialen Diskriminierung, wie die zweideutige Bezeichnung „Kriegszitterer“ erahnen lässt (Hassenkamp 2014). Bedeutsam für den erwachenden Traumadiskurs ist, dass die klinisch-psychiatrische ,Behandlung‘ der Kriegs-Traumatisierten den Krieg in Gestalt des Ersten Weltkrieges abstandslos als das Faktische und Unabänderliche hinnimmt, was sich im modernen Traumadiskurs offensichtlich ungebrochen fortschreibt: als eben kriegsbedingtes, belastendes, traumatisierendes ,Ereignis‘, gleichgeltend sonstigen, nicht abwendbaren katastrophalen ,Ereignissen‘. So gerinnen Krieg und kriegerische Gewaltanwendung im modernen Traumadiskurs zu traumatisierenden Belastungsfaktoren unter anderen: „Krieg wie Katastrophen” (Bessel u.a. 2000: 83) gelten unbesehens ihrer gänzlich unterschiedenen ,Ereignisqualität‘ als gleichwertig. Selbst Traumatherapeuten wie David Becker, der therapeutische Arbeit mit ,Extremtraumatisierten‘, mit Folteropfern der chilenischen Militärdiktatur leistete, kann sich dieser einreihenden Hinnahme von Krieg und kriegerischer Gewaltanwendung nicht entziehen wenn er schreibt, „dass Ereignisse wie Krieg, Verfolgung und Naturkatastrophen [...] schwerwiegende Folgen nach sich ziehen können“ (Becker 2006: 9). Die gleichwertige, die gleichgültige „Aufzählung” (ebd.) so unvergleichbarer katastrophaler ,Ereignisse‘ − wie Naturkatastrophen, Unfälle und Krieg − als unterschiedslos gleichgeltende „viele verschiedene Variablen“

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scheinlich ‚Wahre‘ als nur das Augenscheinliche, nicht als das, was das Verstehen oder Begreifen des Augenscheinlichen ausmacht. Erst ein Denken, das seine Gebundenheit an das Sein überwindet und Abstand zu ihm gewinnt, eröffnet eine Hellsichtigkeit über die Ontologie des modernen Seins. So ist sozialphilosophische Reflexion Einladung: Die Einladung, die durch Krieg und kriegerische Gewalt gekennzeichnete Ontologie einer „rauen und brutalen Welt“ (Lévinas 1934: 26) zu verstehen, sich nicht mit dem zu befrieden, was als ,das Wahre‘ und ,Wirkliche‘ des Seins oder der Welt erscheint. Krieg und kriegerische Gewalt sind dann nicht mehr ein menschheitsgeschichtliches oder schicksalhaftes ,Ereignis‘. Das ist das Versprechen der sozialphilosophischen Reflexion an den Traumadiskurs. Ist damit nicht auch eine Neubestimmung des Traumadiskurses möglich, wie manche fordern, „um die aktuelle Sackgasse in der Traumadebatte zu verlassen und einen Neuanfang zu riskieren“ (Becker 2006: 10)? Die abstandnehmende, die sozialphilosophische Reflexion stellt die Rede vom Krieg als „Verhängnis“4, wie es der Traumadiskurs vom Krieg als menschheitsgeschichtliches und traumaauslösendes ,Ereignis‘, das „ausbricht“5, formuliert, notwendig in Frage. Der sozialphilosophischen Reflexion zeigt sich das moderne Sein als eine gewaltbereite und gewalttätige Ontologie des Seins weltweiten und maßlosen, ozeanischen Ausmaßes: Ein universaler, ein planetarischer Trauma-Ozean, ein grenzenloser Ozean des Traumatisierens und der Traumatisierten. Er ist das Vorgängige, der Daseinsgrund des Trauma-Diskurses, der Traumatherapie, der Traumapädagogik, der medizinisch-psychiatrischen Klassifikationssysteme, ihr Geburtsort und ihre scheinbar nie endende Quelle. Die sozialphilosophische Reflexion erhebt dieses ozeanische „Äußere“ (Becker 2006: 179) des Traumadiskurses zum eigentlichen Untersuchungsgegenstand des modernen Traumadiskurses, weil es sein Wesensgrund ist.

(Bessel u.a. 2000: 241), verleihen Krieg und kriegerischer Gewaltanwendung den Schein des unabänderlich ,Faktischen‘ und augenscheinlich ,Wahren‘. 4

Als solches bezeichnen Albert Einstein und Sigmund Freud in ihrem Briefwechsel „Warum Krieg?“ aus dem Jahr 1932 die Erscheinung des Krieges (siehe Freud/Einstein 1932).

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Vgl. Bessel u.a. (2000: 81): „Ab 1939, als der Zweite Weltkrieg ausbrach [...]“.

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Der Trauma-Ozean „Jeder sucht den anderen durch physische Gewalt zur Erfüllung seines Willens zu zwingen; sein nächster Zweck ist, den Gegner niederzuwerfen und dadurch zu jedem ferneren Widerstand unfähig zu machen. Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen.“ (Clausewitz 1832: 17)6

Die Elementarbestimmung des Krieges als eines Willensverhältnisses, in welchem die physische Gewalt Mittel ist, den als Gegner oder Feind bestimmten Anderen zur Erfüllung des eigenen Willens zu zwingen, ist für den herrschenden Traumadiskurs weitreichend: Die Anwendung physischer Gewalt verdankt sich einem gegensätzlichen Willensverhältnis, in dem jeder den anderen Willen mit aller gebotenen Macht niederzuwerfen und widerstandslos zu machen sucht. Diese Elementarbestimmung eines gegensätzlichen Willensverhältnisses teilt die kriegerische Gewalt mit jeder Gewaltanwendung in allen ihren Formen und Schattierungen und legt die Tragweite der sozialphilosophischen Reflexion dar, die die moderne Ontologie des Seins zum Gegenstand des Nachdenkens macht. Denn unübersehbar ist, „dass alles Unglück, das uns ereilt, von unserem Nächsten kommt [...]“ (Lévinas 1956: 138). Der Trauma-Ozean ist ein Universum kriegerischer Gewalt auch darin, als der zur Anwendung von Gewalt bereite „freie Wille“ (Lévinas 1992: 191) sich keineswegs nur im militärischen Krieg und Kriegsgeschehen offenbart, vielmehr als ,unser Nächster‘, immer schon anwesend ist. Der Trauma-Ozean ist Ontologie des militärischen Krieges und Ontologie der zur Gewaltanwendung bereiten, freien Willen, die überall zuhause sind, auch in den vom Krieg augenscheinlich noch verschonten Regionen der Welt: „Die Freiheiten führen Krieg gegeneinander“ (ebd.), inmitten des zivilen und zivilisierten Lebens.7

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Hier und im Folgenden zit. aus der 3. Aufl. des Werkes Vom Krieg, erschienen 1991.

7

Die Bestimmung des Trauma-Ozeans als eines Ozeans des zur Gewaltanwendung bereiten modernen, „freie[n] Wille[ns]“ (Lévinas 1992: 191, eig. Herv.) des Nächsten, scheint im herrschenden Traumadiskurs als das Insgesamt der von Menschen an Menschen begangenen Gewalttätigkeit, kategorisiert als men-made disasters wider und umfasst das ganze Gewaltspektrum in seiner ozeanischen Weite: von Kindesmisshandlung und Vernachlässigung; von sexueller Gewalt gegenüber Kindern, Mädchen und Frauen; von familiärer, partnerschaftlicher, häuslicher Gewalt; von diskriminierender, ethnischer, rassistischer, institutioneller, bürokratischer, psychiatrischer, alltäglicher Gewalt; von der Gewalt in allen nur erdenklichen Formen und Schattierungen, der physischen, der verbalen, der psychologischen Gewaltbereitschaft und Ge-

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Die sozialphilosophische Reflexion erweist den planetarischen Trauma-Ozean als einen Kriegs- und Gewalt-Ozean, in welchem die Gewalt, die angetan wird, sich ausschließlich willentlicher Entscheidung verdankt. Die „Natur“ dieser Gewalt ist von der Gewalt der Natur grundlegend unterschieden: Zuweilen wirkt die Natur als reine Gewalt, als ,Ereignis‘ oder Einbruch einer höheren Gewalt oder Macht.8 Doch die Natur ist kein mit Willen und Bewusstsein begabtes, handelndes Subjekt. Ihre Gewalt oder Macht enstammt nicht der Idee, dem Anderen, dem Nächsten oder Fernen Gewalt anzutun.9 Die Naturgewalt ‚ereignet sich‘, ohne jede Absicht, ohne Plan, ohne bewusste Handlung zu sein. Die ,Macht‘ der

waltanwendung. Wie unterschiedlich im Einzelnen auch immer, die elementare Bestimmung, den Anderen oder den Nächsten niederzuwerfen und zu jedem ferneren Widerstand unfähig zu machen, um ihn gefügig zu machen und den eigenen Willen auf jede nur mögliche Weise durchzusetzen, eint die vielgestaltigen Gesichter der modernen Gewaltbereitschaft und Gewaltanwendung. Zur ozeanischen Universalität des gewaltbereiten freien Willens vgl. auch Heitmeyer/Schröttle (2006), Brunner (2014) sowie Becker (2006). Anders als der hegemonial-herrschende Traumadiskurs, der die Wirklichkeit des Trauma-Ozeans als „eine erschütternde Realität“ (Bausum u.a. 2013: 47), als ein „erschreckende[s] Ausmaß an Gewalt“ (ebd.: 48), als „Schrecken oder Grauen“ (Petzold u.a. 2000: 451) beschreibt, versucht die sozialphilosophische Reflexion zu sagen, warum der Wille des Nächsten, den Nächsten oder Fernen widerstandslos zu machen, allgegenwärtig und ozeanischen Ausmaßes ist. 8

„Immer schon gab es Momente, in der sie mit ganzer Wucht in die zivilisierte Welt hereingebrochen ist: ein Komet, der sich nähert, ein Vulkan, der Feuer spuckt, die Erde, die bebte. Auf diese Weise bot sie − ungebändigt − den gesellschaftlichen Institutionen, die zu Prinzipien erhoben wurden, und der Geschichte, die in den Rang einer Kosmogonie erhöht wurde, eine Demonstration ihrer Macht. Hinter allem gab es also noch etwas, mit dem zu rechnen war. Ohne dass jemand einen ausdrücklichen Befehl gegeben hätte [...]“ (Lévinas 1956: 139). Lévinas’ Bemerkung, die Gewalt und ,Macht‘ der Natur, das ,Ereignis‘ naturbedingter Katastrophen, geschehe ohne ,ausdrücklichen Befehl‘, ist für die nähere Bestimmung der Gewaltbereitschaft im Trauma-Ozean bedeutsam: Die kriegerische Gewaltanwendung, das traumatisierende ,Ereignis‘ Krieg gibt es Lévinas zufolge nicht ohne ,ausdrücklichen Befehl‘, in der Sprache des Traumadiskurses: keine kriegsbedingte Traumatisierung oder Belastungstraumata ohne ausdrücklichen Befehl hierzu.

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Das mag die Menschheit zu prähistorischen Zeiten geglaubt haben, da ihr die Natur notwendig als Subjekt, als eine mit höherem Willen begabte Wesenheit erschien und sie das Augenscheinliche als das ,Wahre‘ und ,Unabänderliche‘ zu nehmen genötigt war.

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Natur ist anonym, blind, kein Wille zur Macht, kein Wille zur Unterwerfung, Gefügigmachung oder Herabsetzung des Anderen oder Nächsten ist in ihr eingeschrieben. Die Gewalt, die im Trauma-Ozean herrscht, ist anderer Natur. Diese Gewalt verdankt sich nur dem „freie[n] Wille[n]“ (Lévinas 1992: 191) der modernen, selbstbewussten Subjektivität mit ihren Absichten und Zielen, die die Gewalt als Mittel der Willensdurchsetzung im Auge hat. Als von Menschenhand geschaffene Gewalt ist diese Gewalt durch Menschenhand aufhebbar, mit ihr der Krieg wie alle un-natürliche Gewalt: von Menschenhand ins Werk gesetzt, durch Menschenhand auch aufhebbar. Anders sieht es der hegemonial-dominierende Traumadiskurs: „Manche mußten Vergewaltigung, Raub, Folter [...] erleiden, Morde ihrer Angehörigen ansehen, die Zerstörung ihres Heims und ihrer Lebensgrundlagen durch Krieg oder Naturkatastrophen erleben, grauenhafte Unfälle, schlimmen Mißbrauch, Vergewaltigung mit der Folge der Zerstörung ihrer physischen, psychischen, mentalen, sozialen Gesundheit [...] Natürlich liegen derartige Ereignisse − leider − innerhalb der menschlichen Erfahrung, besonders in wilden Zeiten und an entsetzlichen Orten.“ (Petzold u.a. 2000: 451)10

10 Zwar trifft der Traumadiskurs klassifikatorisch die Unterscheidung zwischen natural-, technical- und men-made disasters; diese fügt sich aber der summarischen Ineinssetzung, Aneinanderreihung und gleichgültigen ,Aufzählung‘ der qualitativ unterschiedlichsten Gewalt-,Ereignisse‘, allem voran der Ineinssetzung der Naturgewalt mit der Gewalt, die dem menschlichen Willen entstammt, und setzt sich auch darüber hinweg, dass Traumatherapie und Traumapädagogik sehr wohl mit den unterschiedlichsten Gewalten und ihren Wirkungen konfrontiert sind: Siehe hierzu die weitgestreuten Prävalenzen der PTBS (ca. 50% nach Vergewaltigung, ca. 50% bei Kriegs- und Vertreibungsopfern, ca. 25% nach anderen Gewaltverbrechen, jeweils ca. 15% bei Verkehrsunfallopfern und bei schweren Organerkrankungen (vgl. hierzu Flatten 2011). Selbst die rein menschlichem Willen sich verdankenden traumatischen ,Ereignisse‘ widerstreben der Sache nach einer summarischen Aufzählung: Durch Folter „Extremtraumatisierte“ (vgl. hierzu Becker 2006: 29-59) haben eine grundlegend andere Gewalterfahrung als ein auf der Straße vom Nächsten Überfallener und Verletzter. Diese Unterschiede werfen auch die für die Traumatherapie und Traumapädagogik bedeutsame Frage der unterschiedlichen ,Beziehungen‘ zwischen Täter und Opfer auf. Die unterschiedlichen Schattierungen der willentlichen Gewaltbereitschaft und Gewaltanwendungen im Trauma-Ozean weisen andererseits auf den in ihnen obwaltenden, allgemeinen Grund hin: die Niederwerfung des Anderen zum Zwecke der eigenen Willensdurchsetzung.

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Sozialphilosophische Reflexion stellt die im dominierenden Traumadiskurs konstitutiven Aneinanderreihung von Naturgewalt und willentlicher Gewalt in Frage, denn ihr geht es um die mit Willen und Bewusstsein herbeigeführte Gewalt. Die ist kein ,Ereignis‘, welches ,natürlich‘ innerhalb der menschlichen Erfahrung liegt. Sozialphilosophische Reflexion bringt zur Anschauung, was sich im Schmerz, im Schweigen, in der Niedergedrücktheit, in der Verwirrtheit der Traumatisierten und Extremtraumatisierten seit 1914 ausspricht, auch wenn diese selbst es vielleicht je nicht benennen werden können. Diese Reflexion will benennen, warum die moderne Ontologie des Seins als ein gewaltbereiter und gewaltttätiger, kriegsträchtiger Trauma-Ozean verfasst ist, dem der Einzelne, ganze Gruppen, Bevölkerungen, Regionen, Kontinente ausgesetzt sind. Der Krieg im strengen, im militärischen Sinn als das epochenzeichnende und das den Trauma-Ozean wesentlich bestimmende Moment, mit dem der moderne Traumadiskurs angesichts der ,Kriegszitterer‘ und ,Kriegsneurosen‘ 1914 zu erwachen begann, ist nicht die einzige willentlich herbeigeführte Gewaltanwendung. Aber als die ultimativste und epochal bestimmende Gewalt, die auch den Traumadiskurs konstituierte, ist der Krieg der allernächste Gegenstand des philosophischen Nachdenkens. Der Wille zum Krieg und die Planung des Entsetzens Der Krieg als Ausdruck eines gegensätzlichen Willensverhältnisses, in welchem jeder beteiligte Wille den Anderen gefügig zu machen sucht, bringt den „Akt der Gewalt“ (Clausewitz 1832: 17) in die Welt. Diese Gewalt bedarf der Vorbereitung, der Planung, der Überlegung, um diese Gewalt bis zu ihrer ultimativsten Form hinauf wirklich werden zu lassen. Eine Gewaltbereitschaft und Gewaltanwendung, die sich von den zivilen Gewaltanwendungen im Trauma-Ozean abhebt. Gewiss entstammen die kriegerische wie die zivile Gewaltanwendung dem freien Willen und menschlicher Gewaltbereitschaft11; doch sind sie unterschieden, worüber die vereinheitlichende Klassifikation als men-made disaster hinwegsieht. Der zum Krieg bereite Wille zielt auf dies: „Das ontologische Ereignis, das sich in dieser schwarzen Klarheit abzeichnet, ist die Mobilisierung der bis dahin in ihrer Identität verankerten Seienden; die absolut Seienden werden mobilisiert kraft eines absoluten Befehl, dem sie sich nicht zu entziehen vermögen.“ (Lévinas 2008: 20)

11 Die Rede von der „menschlichen“ Gewaltbereitschaft ist im Grunde ein Pleonasmus: Eine andere als die menschliche Gewaltbereitschaft gibt es nicht.

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Die in der Ontologie des Seins alltäglich versunkene Subjektivität oder Identität ist ,im Ernstfall‘, in der ,Stunde der Wahrheit‘ genötigt, einem höheren Willen, einem absoluten Befehl Folge zu leisten. In seiner Mächtigkeit tritt der absolute Befehl so unausweichlich auf, dass er die Gewalt eines ontologischen Ereignisses besitzt.12 Er ist von herrischer Unnachgiebigkeit: „Der Krieg errichtet eine Ordnung, zu der niemand Abstand wahren kann.“ (ebd.) Der Wille zum Krieg erfordert mit der Planung des kriegerischen Gewalteinsatzes die Reflexion auf die Rationalität und Effektivität der Instrumente der Gewalt: „Die Gewalt rüstet sich mit den Erfindungen der Künste und Wissenschaften aus, um der Gewalt zu begegnen. Unmerkliche, kaum nennenswerte Beschränkungen, die sie sich selbst setzt unter dem Namen völkerrechtlicher Sitte, begleiten sie, ohne ihre Kraft wesentlich zu schwächen.“ (Clausewitz 1832: 17)

Um den als Gegner oder Feind ausgemachten Willen niederzuwerfen und dem eigenen Willen den Sieg zu bescheren, bedarf es der effektivsten und rationellsten Instrumente der Gewaltanwendung, denn der gegnerische Wille hat, auf der Ebene des Krieges, seinerseits dasselbe Ziel vor Augen. In möglichst effektiven Waffen materialisiert, sollen Wissenschaft und Technik dazu dienen, den anderen Willen zu beugen, zu brechen: Durch Zufügung von Schmerz, durch Verwundung, durch Zerstörung und Vernichtung seines Körpers, seiner Seele, seines Geistes, seines Hab und Gutes, durch das ganze erdenkliche Gewaltkontinuum hindurch, das keine Grenzen, keine „nennenswerte[n] Beschränkungen“ (ebd.) kennt, soll der Anderen gefügig gemacht oder ausgelöscht werden. Der kriegsbereite Wille entfesselt die Gewalt und steigert sie ohne „jedes menschliche Maß“ (Lévinas 1956: 139), bis zum Äußersten: „Nun könnten menschenfreundliche Seelen sich leicht denken, es gebe ein künstliches Entwaffnen oder Niederwerfen des Gegners, ohne zu viel Wunden zu verursachen, und

12 Die Frage, ob der absolute Befehl und die Mobilisierung im Phänomen der sogenannten ,neuen‘ Kriege im weltweiten Trauma-Ozean, die sich augenscheinlich durch Entstaatlichung, Privatisierung, Asymmetrisierung, Ökonomisierung und Entgrenzung der Gewalt kennzeichnen, noch dieselbe Geltung haben wie in den klassischen Kriegen, kann hier nur aufgeworfen werden. Unzweifelhaft scheint, dass mit den ,neuen‘ Kriegen im planetarischen Trauma-Ozean, die traumatisierenden ,Ereignisse‘ und Erfahrungen von Krieg, Verfolgung, Verwundung, Zerstörung und Vernichtung eine neue, eine weitere Qualität gewonnen haben. Zu den ,neuen‘ Kriegen vgl. Münkler (2002) und Kaldor (2007).

242 | B USE B AHCELIBAS das sei die wahre Tendenz der Kriegskunst. Wie gut sich das auch ausnimmt, so muß man doch diesen Irrtum zerstören, denn in so gefährlichen Dingen, wie der Krieg eins ist, sind die Irrtümer, welche aus Gutmütigkeit entstehen, gerade die schlimmsten. Da der Gebrauch der physischen Gewalt in ihrem ganzen Umfang die Mitwirkung der Intelligenz auf keine Weise ausschließt, so muß der, welcher sich dieser Gewalt rücksichtslos, ohne Schonung des Blutes bedient, ein Übergewicht bekommen, wenn der Gegner es nicht tut. Dadurch gibt er dem anderen das Gesetz, und so steigern sich beide bis zum äußersten, ohne daß es andere Schranken gäbe, als die der innewohnenden Gegengewichte.“ (Clausewitz 1832: 18)

Dem Willen zum Krieg ist die Zufügung von Schmerz, von Leiden, Tod und Zerstörung immanent, notwendiges Mittel des Erfolges. Kriegskunst und Kriegshandwerk zeichnen sich dadurch aus, dass sie auf rationellste und effektivste Weise dem Anderen „das Unerträgliche“ (Becker 2006: 57) bereiten; ihn mit allen erdenklichen Gewaltmitteln „der unerträglichen Situation“ (Bessel u.a. 2000: 85) aussetzen; ihm alle nur vorstellbaren „traumatischen Erlebnisse und Erfahrungen“ bereiten; ihn „schweren Belastungen“ (ICD-10 F43.-)13 unterwerfen; ihn den Krieg als „ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“ (ICD-10 F43.0) erleben lassen; ihn in eine Lage versetzen, ihm ein ,Ereignis‘ widerfahren lassen14, „das schwere körperliche Verletzung, tatsächlichen oder möglichen Tod oder eine Bedrohung der physischen Integrität der eigenen oder anderer Perso-

13 Die ICD-10 wird hier und im Folgenden zit. n. Krollner/Krollner (2015). 14 „Ein Ereignis widerfährt uns, ohne dass wir das geringste >a priori< hätten, ohne dass wir den mindesten Entwurf, wie man heute sagt, haben könnten. Der Tod, das ist die Unmöglichkeit, einen Entwurf zu haben“ (Lévinas 1946: 47). Es war schon darauf hingewiesen, dass der Begriff des ,Ereignisses‘ oder der ,Situation‘ in der sozialphilosophischen Reflexion Lévinas’ elementar ist. Das Ereignis als ,Situation‘ oder Moment, da die Subjektivität ohnmächtig und ohne jede Hilfe höheren Gewalten oder Mächten ausgeliefert ist, ist eine Grunderfahrung, die der Krieg und die zivilen Gewalttätigkeiten im Trauma-Ozean dem Einzelnen bereitet. Aber, dies im Unterschied zur Gewalt der Naturkräfte, als durch den freien Willen herbeigeführtes ,Ereignis‘. Die zivilen Gewalttätigkeiten im Trauma-Ozean folgen der gewalttätigen Logik der kriegerischen Gewalt, weisen allerdings mannigfaltige besondere Abwandlungen und Schattierungen auf. Lévinas’ Sozialphilosophie stellt diese, durch den freien Willen herbeigeführte Negativität des Ereignisses und der Situation, der die bewusste Zufügung von Trauma und Tod will und plant, in Frage.

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nen beinhaltet“ (DSM-IV 309.81 A1)15; und zwar so, dass „subjektive Reaktion mit intensiver Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen“ (DSM-IV 309.81 A2) sich zwangsläufig einstellen wird; letztlich ihn ausweglos einer „[e]xposure to actual or threatened death, serious injury […] in one (or more) of the following ways: directly experiencing the traumatic event(s) [...]“ (DSM-5 309.81 F43.10 A1)16 aussetzen; mittels „Big-T-Traumata“ (Bausum u.a. 2013: 45) oder „Traumatische Zange“ (ebd.), durch waffentechnologische Gewaltmittel der auch furchtbarsten Art den anderen Willen in den unvermeidbaren „Zustand des „inescableshock“ (Bausum u.a. 2013: 46)17 versetzen; ihn unrettbar in die „No-Flight-No Fight-Freeze“-Situation (ebd.) hineintreiben, notfalls mit langen und längsten sequentiellen Traumatisierungen, wenn schon nicht gleich ihn zu töten und auszulöschen. Darin liegt der ganze Zweck des technologisch wohldurchdachten Instrumentes, der Waffe, der Gewalt in ihrer ultimativsten Form, der modernen kriegerischen Gewalt. Die ozeanische, wechselseitige Hervorbringung von (post)traumatischen Reaktionen18, der mittels „absolute[m] Befeh[l]“ (Lévinas 2008: 20) erteilte Auftrag, dem Anderen Erinnerungen aufzuherrschen, Intrusionen, die er sein Leben lang nicht mehr vergisst und an denen er früher oder später zugrunde geht; Flashbacks, Alpträume, Panikattacken, die ihn, wenn er überlebt, verfolgen, fragmentieren, dissoziieren, all das ist vorab gewusst und geplant: die modernen Kriege seit 1914, die waffentechnologischen Entwicklungen, die einzelnen Waffengattungen, konventionell, chemisch, biologisch, atomar, lärmend, redend oder stumm, legen Zeugnis davon ab. Je rücksichtsloser und schonungsloser, je maßloser die zugefügte Katastrophe, je apokalyptischer die Tragödie, das Trauma, umso greifbarer winkt der Sieg, auch der Zuwachs an Macht. Der Krieg, wie alle Gewalt im Trauma-Ozean, ist die Tat der Bereitschaft und Entschlossenheit zur Anwendung von Gewalt durch eine Subjektivität oder ein Selbst, das sich mit sich und seinen Taten identisch weiß: „das gute Gewis-

15 Das DSM-IV wird hier und im Folgenden zit. n. Tagay (2015). 16 Zit. n. Bressert (2016). 17 Der von Lévinas bereits im Ersten Weltkrieg identifizierten Kriegsführungsstrategie, die kriegerische Gewalt ohne ,jedes menschliche Maß‘ anzuwenden, haben die USA im Zweiten Golf- oder Irakkrieg 2003 den offiziellen Namen „Shock and Awe“ (Angst und Entsetzen) verliehen (vgl. hierzu Stelzenmüller 2003). 18 Zwar wurde die Diagnose der PTBS − dem Namen nach − wesentlich in den 1980er Jahren bei den amerikanischen Heimkehrern aus dem Vietnamkrieg gestellt. Der Sache nach dürften die millionenfachen ,Kriegszitterer‘ und ,Kriegsneurosen‘ im Ersten Weltkrieg, ganz zu schweigen von denen des Zweiten Weltkrieges und aller Kriege danach, aber noch vor dem Vietnamkrieg das Phänomen der PTBS gewesen sein.

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sen der Koinzidenz des Selben mit sich selbst“ (Lévinas 1992: 225). Keine Gewalt im Trauma-Ozean, die sich nicht auf der Seite des Rechten und des Guten sieht, die nicht über eine „Philosophie des Selben“ (Lévinas 1992: 189) verfügt: „Das Bewußtsein, gewappnet wider jeden traumatischen Einbruch, secura adversus deos, gibt Rechenschaft vom Universum.“ (Lévinas 1970: 91). Die Wappnung und Gerüstetheit des Selbst, der modernen Subjektivität im Universum oder Ozean der traumatisierenden Gewalt drängt sich dem Selbst auf, ohne ihm im Trauma-Ozean je den Schutz gewähren zu können, um dessentwillen es sich rüstet. Dies umso mehr, je mehr die Subjektivität vermeint, sich behaupten zu müssen in der eigentümlichen, in der modernen, kriegsträchtigen Ontologie des Seins, die die Selbstbehauptung, die Durchsetzung des Selbst und den Willen zur Macht zur Maxime des freien Willens macht. Der sozialphilosophische Reflexion wächst angesichts dessen diese Aufgabe zu: „Die Aufgabe einer Kritik der Gewalt läßt sich als die Darstellung ihres Verhältnisses zu Recht und Gerechtigkeit umschreiben.” (Benjamin 1965: 29) Die Ethik der Gewalt und das gute Gewissen „Ich gebe mich dieser Erwartung um so lieber und um so bestimmter hin, als wir nicht nur das gute Recht auf unserer Seite haben, sondern auch den Willen und die Macht, unserem Rechte Geltung zu verschaffen [...]. Mit einem Worte: wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.“ (Bülow 1897) „Der freie Wille kann im Krieg unterliegen, ohne sich deswegen selbst in Frage zu stellen, ohne auf sein Recht und auf Vergeltung zu verzichten. Die Freiheit findet sich nur dann durch den Anderen in Frage gestellt und zeigt sich als unberechtigt, wenn sie sich selbst als ungerecht weiß.“ (Lévinas 1992: 191)

Als eine Ontologie des allgemeinen Kriegszustandes und des Krieges ist das moderne Sein eine Ontologie der Selbstbehauptung, die an jeden Willen die Frage und Entscheidung heranträgt, ob er auf der Seite der Macht, der überlegenen Gewalt, oder auf der Seite der Unterlegenheit, des Schwächeren, der Ohn-Macht, des Nachsehens und des Nachgebens stehen möchte: auf der Seite des Besiegten, der Gefügigkeit und der Unterordnung. Die Ontologie der Selbstbehauptung bringt „den Willen zur Macht, dessen Legitimität und gutes Gewissen“ (Lévinas 1992: 194), hervor. Es ist jederzeit dessen freie Entscheidung, ob er seinem guten Recht auf einen „Platz an der Sonne“ (Bülow 1897) im Trauma-Ozean Gel-

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tung verschaffen und sich behaupten will.19 Doch warum sollte er auf das „gute Recht“ (ebd.), warum sollte er auf die Behauptung seines Selbst, warum auf seinen legitimen Willen zur Macht verzichten? Warum sollte er sich nicht die Mittel zur Macht, zur Machterhaltung und Machterweiterung verschaffen, die ihm einen Platz an der Sonne im Trauma-Ozean in Aussicht stellen? Die ozeanische Bereitschaft und der planetarische Griff zur Gewalt, auch und gerade der kriegerischen Gewalt, weiß und begreift sich als gerechte Gewalt: „Gerechte Zwecke können durch berechtigte Mittel erreicht, berechtigte Mittel an gerechte Zwecke gewendet werden.“ (Benjamin 1965: 31) So ozeanisch die allgemeine Gewaltbereitschaft und Gewalt, so ozeanisch das Gerechtigkeitsbewusstsein des freien Willens: Seine Bereitschaft zur und seine Ausübung von Gewalt dienen gerechten Zwecken oder gleich der Gerechtigkeit als solcher durch berechtigte Mittel; selbst die „bis zum äußersten“ (Clausewitz 1832: 18) gehende und die „ohne jeg-

19 Lévinas bemerkt zum macht- und gewaltbereiten Selbstbewusstsein, das mit gutem Gewissen auf sein ihm zustehendes, legitimes Recht auf einen ,Platz an der Sonne‘ im Gewalt- und Trauma-Ozean besteht: „Sind mein >In-der-Welt-Sein< oder mein >Platz an der SonneDritte Welt< geschickt werden.“ (Lévinas 1995: 181) Ausgedrückt ist damit zum einen die Gegensätzlichkeit der freien Willen: „Die Freiheiten führen Krieg gegeneinander“ (Lévinas: 1992: 191). Die freien Willen bekunden darin den Willen zur Macht und dass sie vom Krieg, von Gewalt nicht Abstand nehmen wollen und auf diese Weise den Trauma-Ozean verewigen; zum anderen, dass nicht gesagt werden kann „die Thesen von Lévinas (Herv. i. O.) über den Krieg, der aus der naturgegebenen Machtentfaltung des Seienden erwachse [...]“ (Petzold 2014: 342), seien Lévinas‘ Sichtweise: für Lévinas‘ Sozialphilosophie ist der Krieg, der moderne zumal, den er vor Augen hat, nicht Ergebnis ‚naturgegebener Machtentfaltung‘, sondern Ausdruck des freien Willens, dem die Gewalt als legitimes Mittel der berechtigten Rechts- und Willensdurchsetzung gilt. Die Frage, wie Sozialphilosophie und Traumadiskurs sich zur Macht stellen, ist ohnehin wesentlich: Wo der herrschende Traumadiskurs die „Veränderung ungerechter Machtstrukturen […] mit der realistischen Perspektive der Veränderung der Machtstrukturen“ (Becker 2006: 181) formuliert, oder den „Machtmißbrauch“ (Petzold u.a. 2000: 455) in Frage stellt, stellt die Sozialphilosophie den Willen zur Macht und die Macht selbst in Frage, denn ihnen ist die Gewaltbereitschaft und die Gewaltanwendung immanent: „Die Macht hingegen zeichnet sich durch eine andere Art der Verbreitung aus. Wer sie ausübt, hält an ihr fest. Die Macht verliert sich nicht unter denjenigen, die ihr unterworfen sind. Sie bleibt an die Person oder Gesellschaft gebunden, die sie ausübt; sie vergrößert sie, indem sie den Rest unterwirft.“ (Lévinas 1934: 33)

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liches menschliche Maß“ (Lévinas 1956: 139) geführte Anwendung der Mittel der Gewalt, gelten als berechtigte Mittel zur Verwirklichung gerechter Zwecke oder der Gerechtigkeit als solcher. Die Gewalt in allen vorstellbaren Formen und Ausmaßen im Trauma-Ozean, die kriegerische, wie die im zivilen und zivilisierten Leben vollstreckte, begreift sich als gerechtfertigte und gerechte Gewalt.20 Es herrscht eine allgemeine Ethik oder Sittlichkeit der Gewaltbereitschaft und der Gewaltanwendung des freien Willens, der selbst in der größten Niederlage nicht auf sein Recht auf einen ,Platz an der Sonne‘ im Universum der Gewalt verzichtet; der auf ‚Vergeltung‘ (Lévinas) besteht, weil er sich mit sich identisch und im Recht, und seine Gewalt im Lichte der Gerechtigkeit sieht. Das gute Gewissen der Gewaltbereitschaft und Gewalt ist „gewappnet wider jeden traumatischen Einbruch“ (Lévinas 1970: 91), gleichsam unerschütterlich gegenüber der InFrage-Stellung seines Gerechtigkeitsbewusstseins. So begreift sich die Gewaltanwendung als eine ethische Tat des Guten, als eine Tun der guten, der gerechten Zwecke; und die Lehre vom gerechten Krieg (bellum justum) oder Tun ist der Gewalt des zivilen und zivilisierten Lebens ebenso eingeschrieben. Nirgendwo unterliegt die gerechte Gewalt einer ‚nennenswerten Beschränkung‘ (Clausewitz), jederzeit geht sie „bis zum äußersten“ Clausewitz (1832: 18), denn es gilt: „Der Böse kann aber ferner in seinem sonstigen Gutes tun oder Frömmigkeit, überhaupt in guten Gründen, für sich selbst eine Berechtigung zum Bösen finden, indem er durch sie es für sich zum Guten verkehrt.“ (Hegel 1821: 268) 21

20 Die Sonderform der Gewalt, die explizit im Dienste des Gerechten mit aller Gewalt das Unrecht oder Ungerechte niederzuringen sucht, findet sich vornehmlich im Krieg, in Abwandlungen auch im zivilen und zivilisierten Leben des Trauma-Ozeans. 21 Die Erwähnung des Bösen, als welches die Gewalt im Trauma-Ozean und im Traumadiskurs erscheint, ist insofern notwendig, als es der Traumadiskurs als Anthropologikum fasst: „Kurz gesagt, konfrontiert einen die Untersuchung des Traumas mit den besten und schlechtesten Seiten der menschlichen Natur.“ (Bessel u.a. 2000: 30) So gerinnt „das Böse“ (Petzold 2014: 342) zur Anthropologie des „Destruktiven im Menschen“, einschließlich des „Todestriebes“, weshalb sich der Traumadiskurs „dem Problem der ‚ganz gewöhnlichen Schlechtigkeit des Menschen‘ […] offen stellen“ müsse (Petzold 2014: 347). Auch wohne traumatischen Ereignissen überhaupt eine „anthropologische Dimension“ (Petzold u.a. 2000: 452) inne. Anders als die anthropologische Sichtweise des Traumadiskurses bestimmt die Sozialphilosophie Lévinas‘ mit Hegel das „Böse“ und das „Gute“ als Tat der Entscheidung des modernen Willens. Der Wille hat die absolut freie Wahl zu entscheiden: „Alles, was uns glücklich macht und alles, was uns vernichtet, rührt von uns selbst her, den Menschen,

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Die Ethik der gerechten Gewalt und des guten Gewissens enthemmt und universalisiert die Gewaltbereitschaft und die Anwendung von Gewalt. Sie verwirklicht sich im Gerechtigkeitsbewusstsein der soldatischen Existenz, welches „die Vietnamesen gar nicht als menschliche Wesen betrachtet, Kriegsgefangene ermordet und Zivilisten ohne mit der Wimper zu zucken erschossen [hat]“ (Brunner 2014: 92)22; sie ist schon lebendig im 11-jährigen Kindersoldaten aus El Salavdor, dessen soldatische Existenz eine Zeit lang dem Kind einen vagen Blick auf den ,Platz an der Sonne‘ mitten im Töten gestattete (Becker 2006: 202); sie verleiht dem Folterer das souveräne Bewusstsein, zielstrebig das Richtige zu tun und die ,Foltertechnik‘ sachgerecht anzuwenden (Becker 2006: 54)23; der militärischen Gewalt zu allererst, der Gewalt in all ihren Abwandlungen und Schattierungen im zivilen und zivilisierten Leben kaum weniger, geben die Ethik der gerechten Gewalt und das gute Gewissen die Selbstgewissheit und das Selbstbewusstsein, das Rechte zu tun und das Gute zu wollen. Die Gewalt der fundamentalistischen Bewegungen und Gruppierungen ist, in der nahöstlichen oder westlichen Ontologie des Krieges geboren und aufgewachsen, ebenso beseelt von der Ethik der gerechten Gewalt und der Selbstgewissheit des guten Gewissens, wie alle sonstige Gewalt vor ihr und neben ihr im TraumaOzean. Mit diesem Bewusstsein ihres Selbst betreiben sie eine Exegese des Korans, die dem Begriff des „Jihad“ nur eine Bedeutung, nur eine sinnhafte Auslegung beilegen mag: die, welche die Exegeten längst vor der Auslegung des Korans und unabhängig von ihm im Auge haben. Ihre Idee des Jihad gewinnen sie

von deren Gut- oder Böswilligkeit, die Katastrophen auslöst[...].“ (Lévinas 1956: 138) Nicht nur verdeutlicht Lévinas, dass das ,Ereignis‘, die Zufügung von ,Katastrophen‘ sich in der seit 1914 anhebenden modernen Ontologie des Seins exklusiv dem freiem Willen verdankt, der von der Gerechtigkeit seiner Gewaltbereitschaft und Gewaltanwendung überzeugt ist; vielmehr bildet die Freiheit des Willens auch hinsichtlich des „Guten“ und „Bösen“ das Fundament des Lévinas’schen Entwurfs einer Sozialphilosophie, die die kriegsträchtige und kriegswillige ‚Wahrheit‘ des Trauma-Ozeans als eben nur die bedingte, menschlich erzeugte Wahrheit dieser Epoche kennzeichnet. 22 Vgl. hierzu Brunner (2014: 91) zum My-Lai-Massaker in Vietnam. 23 Die Folter, eine der ausgeklügelsten Formen der planmäßigen Zufügung des Entsetzens mit dem Ziel, den Anderen in eine „Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“ (ICD-10 F43.1) hineinzubringen, ist überall in der modernen Welt zuhause und keineswegs auf ferne und monströs anmutende Gewalt beschränkt (vgl. hierzu Neskovic 2015 zum CIA-Folterbericht).

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nicht durch die Auslegung des Korans, vielmehr lesen und tragen sie ihre anderswo gewonnene Idee des Jihad in den Koran hinein: „Durch unseren Jihad lassen wir Felsen zerbröckeln und reißen den Tyrannen und den Unglauben in Stücke. Durch eine mächtige Entschlossenheit und einen Willen, der die Beugung nicht kennt [...]. Durch unseren Jihad, mit der lodernden Fackel wird die Nacht der Götzendienerei (shirk) und der Gottlosigkeit verschwinden. Wir lassen uns mutig mit Entschlossenheit und Kampf darauf ein und brechen die Unterdrückung der Ketten und Fesseln.“ (Zit. n. Said 2014: 31)

Auf diese Weise erweitert die Ethik der gerechten Gewalt und des guten Gewissens das Gewaltspektrum des Trauma-Ozeans um neue Formen der Gewaltanwendung und um neue Gruppierungen von Traumatisierten, auch bei Rückkehrern aus dem in Syrien geführten Krieg und Jihad: „Denn bei den nach Syrien Ausgereisten handelt es sich oft um junge Männer mit einem durchschnittlichen Alter von 18 bis 29 Jahren, die zumeist nicht über eine militärische Ausbildung verfügen. Viele haben in ihrem früheren Leben auch keine direkten Erfahrungen mit Krieg und Elend gemacht. Nun werden sie das erste Mal mit extremen Formen von Gewaltabwendung, mit Not und Armut konfrontiert. Diese Erfahrungen werden sie zeit ihres Lebens prägen und können eventuell auch posttraumatische Belastungsstörungen (postraumatic stress disorder; PTBS) auslösen, ähnlich wie bei den Soldaten, die an der Front gekämpft haben.“ (Said 2014: 170)

Traumadiskurs, Traumatherapie, Traumapädagogik, auch den medizinisch-psychiatrischen Klassifikationssystemen und ihren Fortschreibungen erwachsen daraus möglicherweise neue Aufgaben, neue Forschungsgebiete, neue Perspektiven. Doch bedeutet dies nicht auch die Hinnahme, das unausgesprochene oder ausgesprochene praktische Einverständnis, das ,Ja‘ zur modernen, zur kriegsund gewaltträchtigen Ontologie des Seins? Heißt dies nicht, dass der Traumadiskurs den Krieg, in welchem die Willen sich der „Gewalt rücksichtslos, ohne Schonung des Blutes“ (Clausewitz 1832: 18) und ohne „jedes menschliche Maß“ (Lévinas 1956: 139) bedienen, als Faktizität und Wahrheit des Seins anerkennt, ihm die Würde des Unausweichlichen und Notwendigen verleiht, wenn der Traumadiskurs vermeint: „Man kommt wieder bei Augustin an: ‚Frieden zu haben erfordert den Willen dazu, Krieg ist eine Sache der Notwendigkeit – Pacem habere debet voluntas, bellum necessitas‘.“ (Petzold u.a. 2000: 455) Die sozialphilosophische Reflexion erweist den Krieg und alle Gewaltbereitschaft und Gewalt als Entscheidung des freien Willens, der mit dem gerechten Zweck die

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gerechten Gewaltmittel und Gewalt jederzeit einzusetzen bereit ist. Dann heißt es: „Immer, wenn die Nation in Gefahr gerät, beginnt das Kriegsgeschrei und es wird auf alle möglichen Notwendigkeiten verwiesen.“ (Lévinas 1960: 159) Die proklamierte Notwendigkeit von Krieg und Gewalt ist jedoch keine Notwendigkeit, es ist die Entscheidung des freien Willens dazu. Mit dem Krieg hebt seit 1914 die moderne Ontologie des Seins an und verwandelt die Welt seitdem in einen grenzenlosen Trauma-Ozean, in welchem der Traumadiskurs zum Leben erwacht. Ist angesichts dessen dem nicht recht zu geben, wenn es heißt: „Der Traumadiskurs muss also selbst zum Thema der Analyse gemacht werden [...]“ (Becker 2006: 177)? Der Traumadiskurs im Trauma-Ozean „Wir behandeln Patienten, fliegen in der Welt herum, um den lokalen Helfern zu vermitteln, wie sie mit ihren Patienten umgehen sollen, wir organisieren Kongresse darüber und veröffentlichen Bücher. Genau wie überall bestimmen die Gesetze des Marktes das Spiel. Traumaarbeit ist ein Produkt, das verkauft wird, und der Gewinn hängt nur davon ab, wie viel verkauft wird, und nicht davon, wie gut das Produkt ist.“ (Becker 2006: 207)

Der sozialphilosophischen Reflexion geht es um das „Studium des in eine planetarisch gewordene Zivilisation und Ökonomie eingefügten Menschen“ (Lévinas 2005: 85). Auch der Traumadiskurs ist eingefügt in die planetarische Zivilisation und Ökonomie, die sich als planetarischer Kriegs- und Gewalt-Ozean offenbaren. Diese „ontologischen Verflechtungen“ (Lévinas 2005: 96) haben den Traumadiskurs erschaffen, in die Welt gebracht. Der Trauma-Ozean ist ontologischer Daseinsgrund, erste Ursache, Ausgangspunkt und Anlass des Traumadiskurses: seiner theoretischen Konzeptionen, seiner medizinisch-psychiatrischen Klassifikationssysteme, seiner therapeutischen und pädagogischen Anstrengungen. Die planetarische Gewaltbereitschaft und Gewalt in all ihren Schattierungen ist das objektive Land, der Nährboden, in dem sich der Traumadiskurs bewegt, dem er sein Dasein, seine ganze Existenz verdankt. Der Trauma-Ozean ist das Außen, das Vorgängige, das vom Traumadiskurs Unabhängige und ihm gegenüber Gleichgültige, das ihn bis ins Innerste seines Selbst, seiner Kategorien, seiner Klassifikationen, seiner ,Patienten‘, seiner therapeutischen und pädagogischen Arbeit bestimmt und kennzeichnet. Der Trauma-Ozean ist ontologisch da, das Vorher, das Während, das Nachher des Traumadiskurses. Im Traumadiskurs scheint der Trauma-Ozean wider, der Traumadiskurs ist Widerschein des Krieges und der Gewalt, die den Traumadiskurs am Leben erhalten, ihm Nahrung und ein Land zu bewohnen geben. Wie es scheint, hat der herrschende Trauma-

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diskurs sich in diese ozeanischen Gegebenheiten, in dieses Diesseits eingefügt und eingerichtet. Legt ein Projekt, das eine „wissenschaftliche Untersuchung des Leidens“ (Bessel u.a. 2000: 30) anstrebt, nicht Zeugnis davon ab, dass das willentlich hervorgebrachte menschliche Leiden nicht beendet, sondern als Objekt der wissenschaftlichen Untersuchung der Fortschreibung und Lebenserhaltung des Traumadiskurses dienen soll? Verdankt sich die traumatheoretische Freude darüber, dass nun „auch im deutschsprachigen Raum der Umfang wissenschaftlicher Literatur zur Neurobiologie, Stressforschung, Psychotraumatologie und Traumatherapie auf ein erstaunliches Niveau angestiegen [ist]“ (Bausum u.a. 2013: 40) nicht der Entscheidung, Krieg und Gewalt entgegen ihrer unnatürlichen Beschaffenheit als gleichsam naturgegebene Unausweichlichkeit hinzunehmen? „Rasante Fortschritte der neuro- und kognitionswissenschaftlichen [...], der biologischen und physiologischen Forschung durch bildgebende Verfahren einerseits und die Erschließung der molekularbiologischen Ebene andererseits haben für die Psychopathologie ganz allgemein und für die Psychotraumatologie im besonderen [...] Entwicklungen eingeleitet, deren Konsequenzen - auch und gerade für die Therapie von Traumabelastungen und ihren Nachwirkungen (etwa auf der hirnphysiologischen und auf der immunulogischen Ebene) noch nicht absehbar sind.“ (Petzold u.a. 2000: 463)

Ist dieser erwartungsfrohe Stolz nicht Hinweis darauf, dass der herrschende Traumadiskurs die ozeanisch-planetarische Gewaltbereitschaft und Gewalt, der er sein Dasein, seine Existenz verdankt, nicht längst zu seinem Zuhause, zu seiner Heimat, zu seinem Vaterland, zu seiner „Ruhestätte in der Welt“ (Lévinas 1970: 101) gemacht hat? Die universelle Gewaltbereitschaft und Gewalt als sein Lebens- und Existenzmittel begreift, dargelegt auch in traumatheoretischen Fachzeitschriften, Büchern und auf Kongressen? Und dies obgleich etwa die konventionelle, die biologische, die chemische und die nukleare Waffentechnologie auf nichts anderes berechnet ist, die ,Eigenen‘ und die ,Anderen‘ traumabelastenden ,Ereignissen‘ auszusetzen, die verheerende neuronal-hirnphysiologische, molekularbiologische, immunologische und psychologische ,Reaktionen‘ hervorrufen sollen, die jede ,Resilienz‘ − auch der Widerstandsfähigsten − zerstört, um sie mit Sicherheit in den Tod oder wenigstens in „eine tiefe Verzweiflung“ (ICD-10 F43.1) zu stürzen. So ist der Traumadiskurs ontologisch in den Trauma-Ozean ,eingefügt‘ und ,verflochten‘; und von Anbeginn an ist er gekennzeichnet durch eine bedeutsame, ihn offensichtlich zunehmend konstituierende theoretisch-konzeptionelle Verschiebung: vom Belastungsgrund des Traumas weg, hin zum anderen Pol, zum Studium und zur Erforschung der Re-

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aktion des zu verletzenden und verletzten Körpers, Geistes und der Seele. Eine Verschiebung, die, je weiter und weiter sie sich vom Belastungsgrund entfernt, im Begriff ist, den Traumadiskurs abstandslos zur endgültigen Beute der ozeanischen Gewaltbereitschaft und Gewalt werden zu lassen. Wird dieser fortschreitenden Einschmelzung des Traumadiskurses in den Trauma-Ozean nicht auch durch ein auf seine Weise spezifisches ,gutes Gewissen‘ des Traumadiskurses Vorschub geleistet? Andererseits: Ist innerhalb des Traumadiskurses nicht irgendwo ein Moment, das der abstandslosen Einschmelzung widerstrebt? Das einen sicheren Ort, einen Schutzraum, eine Zuflucht vor dem kriegs- und gewaltträchtigen Trauma-Ozean bietet? Eine Insel der Sicherheit und vielleicht sogar der Heilung vom zugefügten Schmerz und Entsetzen inmitten des Ozeans der allgemeinen Unsicherheit und Gewalt? Die konkrete Traumaarbeit, die „therapeutische Dyade“ (Bessel u.a. 2000: 17), sei es in der Traumatherapie, sei es etwa in der Traumapädagogik einer dazu befähigten Schule, kann diese Insel, kann dieser für die Opfer notwendige „erste soziale Raum“ (Becker 2006: 198) sein. In der relativen Abgeschiedenheit des therapeutischen Prozesses liegt ein Moment des Abstandnehmens von der Allgegenwart und Unmittelbarkeit des Trauma-Ozeans, liegt die Chance, Sicherheit vor dem Willen zur Macht und vor der allgemeinen Gewaltbereitschaft, vor der faktischen Gewalttätigkeit zumal, zu finden24: Hier wird der Geflüchtete nicht verfolgt, der Gefolterte nicht gefoltert, die Vergewaltigte, nicht vergewaltigt, das misshandelte Kind nicht misshandelt, der vom Krieg Traumatisierte nicht an die Front geschickt. Das „harte Gesetz des Krieges“ (Lévinas 2008: 27), der „absolut[e] Befeh[l]“ (Lévinas 2008: 20), sind im therapeutischen Moment außer Kraft gesetzt. Dem therapeutischen Moment wohnt die Gewinnung des Abstandnehmens von der ,Eingefügtheit‘ in die „planetarisch gewordene Zivilisation und Ökonomie“ (Lévinas 2005: 85) inne. Und dennoch: als Insel ist der therapeutische Moment eingefügt in den Trauma-Ozean, umgeben und eingekreist von den unberechenbaren Wellen der allgemeinen Gewaltbereitschaft und Gewalt, der kriegerischen wie der sonstigen, innerhalb der ,planetarisch gewordenen Zivilisation und Ökonomie‘. Der Trauma-Ozean besteht weiterhin,

24 Ob diese ,Chance‘ ergriffen werden kann und dieser therapeutische Moment gelingt, hängt mitunter davon ab, inwieweit die mit Traumatisierten Arbeitenden von ihren „ontologischen Veflechtungen“ (Lévinas 1970: 96) im allseitig gewalttätigen und offensichtlich alle Gewalt verewigenden Trauma-Ozean sowie von ihrer Verflochtenheit im Traumadiskurs, der den Trauma-Ozean zu seiner Ruhestätte gemacht hat und macht, Abstand nehmen können; auch Abstand nehmen von jedem Machtbedürfnis oder Willen zur Macht innerhalb des therapeutischen Momentes.

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vor, während und nach dem therapeutischen Moment, der auf seine ,Inselhaftigkeit‘ im doppelten Sinne des Wortes verwiesen bleibt. Ist kein Ausweg, keine andere Erfahrung, kein absolut anderes ,Ereignis‘, keine absolut andere ,Situation‘ auch nur denkbar? Ausblick: Die Eule der Minerva „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ HEGEL 1821: 28

Wenn, wie der ICD-10 Code (F43.-) festhält, die „Störung“ ohne das „belastende Ereignis“ „nicht entstanden [wäre]“; wenn es sich so verhält: „Das Krankmachende war die Diktatur und die durch sie ausgeübte Repression. Durch die Diktatur war der Patient vorübergehend in Umstände geraten, in denen er sich nicht mehr wehren konnte.“ (Becker 2006: 49) Wenn also der allzeit kriegs- und gewaltbereite freie Wille und das ,gute Gewissen‘ (Lévinas 1992: 194) allererster und unzweifelhaft einziger, ,wahrer‘ Grund für das zugefügte Entsetzen sind, welches der Einzelne sein Leben lang nicht mehr vergessen kann und nicht vergessen soll, dann liegt darin auch die unendliche Möglichkeit, das absolute Ereignis, es anders zu wollen. Doch „dieses Ereignis des Unendlichen“ (Lévinas 2008: 27) erfordert den „Zusammenbruch des guten Gewissens des Selben“ (Lévinas 1992: 202), den Zusammenbruch des in die planetarische Zivilisation und Ökonomie eingefügten freien Willens. Das Ereignis dieses Unendlichen scheint so fern, dass es eines neuartigen, eines absolut anderen ,Traumas‘ bedarf. Eines „Trauma[s], welches das Bewusstsein aus dem Sattel hebt“ (Lévinas 1970: 96), auch darin, dass Gewaltbereitschaft, Krieg und Gewalt jederzeit aufhebbar sind, durch eben nichts anderes als durch den freien Willen und zwar ohne jedes legitimierende ,Wenn und Aber‘. Dann käme der Traumadiskurs nicht immer zu spät wie die Eule der Minerva, die ihren Flug erst mit der einbrechenden Dämmerung, nach vollbrachter Gewalt beginnt, dann, wenn der Trauma-Ozean sein Grau in Grau längst gemalt hat, ein Grau in Grau das der Traumadiskurs nur nach-zeichnen kann. Das ist es, was Sozialphilosophie dem Traumadiskurs zu erweisen vermag.

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Diskursive Grenzen des Sagbaren

Alterität Die Erfahrung der Verletzbarkeit und der ‚Rat‘ der Dekonstruktion K ERSTIN J ERGUS „Ist es eine Frage der Ähnlichkeit, die mich den Nächsten überhaupt erst als Nächsten erkennen lässt, bevor ich sein Leid als meinem ebenbürtig anerkennen kann?“ EMCKE 2016: 115

Einleitung: Leiden als Erfahrung der Andersheit In der hier vorangestellten Frage der Publizistin Carolin Emcke nach den Möglichkeiten und Bedingungen, unter denen anderes Leiden wahrnehmbar werden kann, verbindet sich das Problem der Anerkennung mit dem Verhältnis von Fremdheit und Eigenheit und unmittelbar geht es hierbei auch um Fragen der Macht – des Sehens, Erkennens und der Gültigkeit von Perspektiven. Dass das Leiden anderer nicht das eigene Leiden ist, dass dieses Leiden jedoch den Sehenden und Hörenden nicht äußerlich bleibt, verwickelt die Frage nach dem Umgang mit Leiden in das komplexe Problem des Verhältnisses von Eigenheit, Fremdheit und Vertrautheit. In seiner Schrift „Das Unheimliche“ aus dem Jahr 1919 schreibt Sigmund Freud, dass es das „Vertraute“ ist, das „unheimlich, schreckhaft werden kann“, während zugleich „das Unheimliche […] auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht“ (Freud 1999: 244). Die Gleichzeitigkeit von Vertrautheit und Fremdheit leitet Freuds Untersuchung und irritiert damit die – auch gegenwärtig – häufig geäußerte Annahme, etwas „wäre eben darum schreckhaft, weil es nicht bekannt und vertraut ist“ (ebd., Herv. i. O.). Demgegenüber verweist Freud ausgehend vom Begriffs- und Wahrnehmungsfeld des ‚Heimlichen‘, darauf, dass

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eine Entzogenheit im Spiel ist: „Das Unheimliche ist […] das ehemals Heimische, Vertraute. Die Vorsilbe ,un‘ an diesem Wort ist die Marke der Verdrängung“ (ebd.). Ohne dieser Spur der Verdrängung und Freuds Analysen an dieser Stelle weiter zu folgen, lässt sich an der Doppelerfahrung von fremd/vertraut das Motiv der ‚Alterität‘ einführen: Erschrecken oder Faszination entstehen durch eine Differenz zwischen der gegenwärtigen Erfahrung und den bisherigen Annahmen bzw. Bildern. Wird etwas anders als erwartet und zugemutet erlebt, berührt dies eine Grenze des Eigenen. Anderes und Eigenes sind relational aufeinander bezogen (Babka 2003). Die Erfahrung der Alterität – der „Andersheit des Anderen“ (Schäfer 2004: 707) – macht eine Grenze im eigenen Wissen spürbar, die das Gewusste und auch die Vorstellungskraft irritiert; die somit auch Grenzen des eigenen Selbstverständnisses berührt (Jergus 2016). Der erfahrene Unterschied wird vor allem als Entzogenheit merklich, als Differenz zwischen dem Erwarteten und dem Erfahrenen. Diese Differenz berührt auch eine Grenze der Sprache: Was am Anderen1 bisher nicht gewusst wurde, wird vornehmlich in Abgrenzungen und Negativierungen („ganz anders als bisher“, „nicht so wie erwartet“) umschrieben. Die Erfahrung der Gegenwart – einer Verletzung, eines Leidens, einer Faszination – ist eine der Entzogenheit, die als Differenz zu dem Bisherigen und dem noch Kommenden wahrgenommen wird. Mit diesen kurzen Markierungen sind bereits einige wichtige Punkte angesprochen, die eine bildungstheoretische Betrachtung der Traumathematik unter Rückgriff auf das Motiv der Alterität nahelegen. Die Erfahrung des Traumas verweist auf ein komplexes Verhältnis des Eigenen und des Anderen bzw. von Innen und Außen. Die Herkunft des Wortes ‚Trauma‘ (gr.: trauma ~ ,Wunde‘) als Kennzeichnung einer Wunde – als Zeichen eines Innen-Außen-Kontakts – lenkt den Blick auf eine Offenheit und Ansprechbarkeit des Selbst durch Andere(s): Mit Trauma werden Verletzungen oder Risse des Selbst angesprochen. Als Ursachen von Traumata werden kontingente, unabsehbare Ereignisse genannt, die dem erfahrenden Subjekt von außen zukommen. Trauma als Kennzeichen einer Verletzung bzw. Wunde wird zudem häufig in eine direkte Verbindung mit einem Heilungswillen oder einer Hoffnung auf Linderung, Bearbeitung oder sogar Tilgung gebracht: Therapie, Bewältigung und eine Arbeit an den Folgen ste-

1

Bernhard Waldenfels hebt aus phänomenologischer Perspektive hervor, dass die Geschlechterdifferenz nicht von einer geschlechtslosen Neutralität heraus thematisch wird, sondern immer schon von der Begegnung mit dem anderen Geschlecht aus artikuliert wird (Waldenfels 2008: 168; vgl. Rendtorff 2006 und Fischer 2000). Aus diesem Grund wird im Folgenden auf ein einheitliches Gendering verzichtet.

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hen im Zentrum der Literatur (vgl. exemplarisch die Beiträge in Gahleitner u.a. 2016, Krist u.a. 2014, Bausum u.a. 2013). Die Sprache des Traumas lebt somit auch von der Verheißung und der Zumutung einer kohärenten und geordneten Identität, deren Verlust oder Störung durch die Trauma-Erfahrung markiert wird. Die Sprache des Traumas hängt eng mit sozialen Konventionen zusammen, die darüber entscheiden, welche Formen von Disparatheit des Ich akzeptabel sind2, welches Leiden und welche Freude Eingang in die Sprache finden dürfen und wie mit Brüchen und Krisen umzugehen ist. Unter diesem Blickwinkel lässt sich bemerken, wie die Sprache des Traumas auch Bereiche des gemäßen und erwartbaren Verhaltens aufruft, wie Zonen des Normalen abgezirkelt werden und mit der Sprache des Traumas die Aufgabe der Überwindung von Dysfunktionalität und Entzogenheit eingeführt wird. Die folgenden Ausführungen unternehmen es, die Erfahrung des Traumas mit dem Denken einer Veränderung des Selbst in Verbindung zu bringen. Es geht um das Problem einer dem Ich nicht äußerlich bleibenden Welt; um die in diesem Zusammenhang virulent werdende Frage nach der Gerechtigkeit gegenüber dem Anderen. Wie dem (Leiden oder auch der Freude des) Anderen Gerechtigkeit widerfahren kann, diese Frage stellt sich unmittelbar im Zentrum pädagogischer Sachverhalte, die sich stets zwischen Subjekten vollziehen. Die Traumathematik berührt die Frage nach einem angemessenen Umgang mit Verletzungen als Erfahrung einer grundsätzlichen Offenheit des Selbst für Andere und Anderes. Dies macht es erforderlich, eine Verschiebung der Perspektive auf Verletzbarkeit einzuführen, die dem Umstand Rechnung trägt, dass Andere und Anderes das Eigene berühren. Unter Rückbezug auf das bildungstheoretische Motiv der Alterität besteht das Anliegen der folgenden Ausführungen darin, die Dimension der Verletzlichkeit aus einer pathologisierenden Sprache herauszuführen. Statt ‚Betroffene‘ auch sprachlich immer wieder erneut zu ‚Opfern‘ zu machen oder mögliche Leidens- und Verletzungserfahrungen in einer Sprache der Überwindung zu distanzieren, lässt sich mit dem Motiv der ‚Alterität‘ die nicht zu beseitigende Fremdheit im Vertrauten, die Entzogenheit im Eigenen und damit eine grundsätzliche Anderenverwiesenheit herausstellen, welche für die Frage öffnet, wie dem Leiden Gerechtigkeit widerfahren kann. Dafür ist es zunächst wichtig, die Frage der Anderenbezogenheit für die Selbstwerdung ausführlicher zu be-

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Man vergleiche die Sprache des Traumas mit der Sprache des Surrealismus oder künstlerischer Avantgarden, die das Zerstören, das Fragmentieren und Collagieren von Sprache zelebrieren.

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handeln (1.). Die Erfahrung der Angewiesenheit und die damit aufgezeigte Grenze einer souveränen Verfügbarkeit über sich selbst und andere führt zu einigen Verschiebungen im Denken von Identität und Subjektivität, die sich mit einem ‚Rat‘ der Dekonstruktion in Verbindung bringen lassen (2.). Im Ausblick werden diese Überlegungen auf den Zusammenhang von Bildung und Trauma hin gebündelt (3.). Die Differenz in der Subjektivierung – Andersheit im Eigenen Um das Versprechen einer Selbstidentität, die sich von verletzenden Ereignissen distanzieren können soll, klarer herauszustellen, möchte ich zunächst zwei Perspektiven auf Subjektwerdung vorstellen: Während das moderne Denken seinen Anlass darin findet, das Subjekt gegenüber der sozialen Welt zu profilieren, sind jüngere Subjektivierungstheorien von einer Problematisierung dieser Gegenüberstellung von Subjekt und Sozialem getragen. Für das moderne Denken der Differenz von Subjekt und sozialer Welt lässt sich die Bildungskonzeption Wilhelm von Humboldts heranziehen. Im Motiv der „Bildung“ ist mit der Wechselwirkung von Ich und Welt die moderne Signatur einer Differenz zwischen dem Subjekt und dem Sozialen eingelassen. Es ist bei Humboldt die „Welt, d.i. Nicht-Mensch“ (1980: 235), die ein widerständiges und nicht vollkommen verfügbares Anderes des Ich markiert. Mit ‚Welt‘ kennzeichnet Humboldts Bildungskonzept einen dem Ich unverfügbaren und doch es konstituierenden Bereich, etwas, das der Subjektwerdung voraus- und über sie hinausgeht. Bildung verweist bei Humboldt daher auf die Eröffnung eines Zwischenraums (Thompson/Jergus 2014), eines Mediums, in dem Subjekt und Soziales in einen Prozess der interdependenten Verknüpfung eintreten. Dieser von Humboldt in seinem 1793 verfassten Fragment zur „Theorie über die Bildung des Menschen“ (Humboldt 1980) formulierte Gedankengang ist für die Struktur der Moderne zentral: Der Zwischenraum steht für eine Sphäre des Öffentlichen, einen Bereich, in dem weder soziale Zusammenhänge noch das individuelle Sein als So-Sein für immer fixiert sind. Dieser Zwischenraum erlaubt es, die Möglichkeit einer Veränderung als sich Fremd-Werden, als Abstand zum partikularen Willen und Wissen zu denken.3 Zugleich, darauf ist in der Kritik des

3

Humboldt denkt diese ,Universalisierung‘ „über den Begriff der Menschheit in unsrer Person“ (Humboldt 2002: 235), welche ein Absehen vom Partikularen (etwa dem Eigennutz oder der gesellschaftlichen Verwertbarkeit) und somit eine Öffnung auf einen den Einzelnen überschreitenden Bereich des Allgemeinen hin impliziert. Humboldts Kant-Studien fließen hier ein, denn auch für Kant ist die Sphäre des Öffentlichen jener

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Bildungsdenkens immer wieder hingewiesen worden, liegt im semantischen Erbe des Bildungsbegriffs auch ein Zug zur individualisierten Selbstvervollkommnung, die einer Tilgung des Widerständigen und Unverfügbaren zuarbeitet und die soziokulturellen Bedingungen des Selbst abblendet (Ricken 2006; Mayer u.a. 2013; Wimmer 2013). Die moderne Hoffnung auf eine Versöhnung des Selbst und des Sozialen wird in gegenwärtigen Sozialtheorien problematisiert. So schreibt Judith Butler an einer Stelle, dass „jede Benennung durch einen anderen traumatisch [ist], weil diese Handlung meinem Willen vorausgeht und mich in eine sprachliche Welt versetzt, in der ich erst beginnen kann, meine Handlungsmacht auszuüben“ (Butler 2006: 66). Butler weist hier darauf hin, dass es ein Außen des Subjekts gibt, das dessen Innen konstituiert. Dies lässt sich konkretisieren im Hinblick auf die Verleihung einer Identität durch sprachliche Benennung. Mit dem ,Eigennamen‘ (Widmer 2010) wird Identität sprachlich gestiftet. Der Name lässt sich nicht revidieren, allenfalls überschreiben und ersetzen. Zu diesem Stiftungsakt des Selbst lässt sich lediglich retrospektiv im Medium der Sprache verhalten, ohne ihn gänzlich einholen zu können: Wenn über den eigenen Namen gesprochen wird, dann möglicherweise im Rahmen einer biographischen Erzählung, deren Grundlage jedoch nicht die ‚eigene Erfahrung‘ ist. In jeder biographischen Erzählung verflechten sich vielmehr eigene Erfahrungen, Erzählungen Anderer und die Erfahrung der Erzählungen Anderer unauflöslich. Darüber hinaus wird mit der Namensgebung die soziale Ordnung, etwa durch die darin eingelagerte Zuweisung einer geschlechtlichen Identität im Rahmen der binären Geschlechterordnung, erneuert. Die geschlechtliche Identifizierung reartikuliert auch die Wirkmächtigkeit dieser Ordnung. Die Sozialität der Ordnung und deren sprachliche Einsetzung wird zu einem unverfügbaren Grund des eigenen Selbst.4

Bereich, in dem das partikulare Wollen und Streben des Einzelnen ebenso wie jede bestehende Konvention notwendig zu überschreiten sei. 4

Die Binarität der Geschlechterordnung ergibt sich aus vielfältigen Ausschlüssen: Inter- und Transsexualität gehören zu den verworfenen Möglichkeiten, welche die binäre Logik sprengen würden und als ‚das Andere‘ die Binarität stützen. Zugleich hegemonialisiert die Geschlechterordnung eine ‚heteronormative Matrix‘ auch dadurch, dass sie eine Kohärenz der Trias von sex, gender und desire erzeugt (vgl. dazu Butler 1991), womit Geschlecht und Fortpflanzung in einen engen Zusammenhang rücken: ,Frau‘ ergibt sich nicht nur durch die Abgrenzung zu ,Mann‘, sondern auch zu ,Kind‘.

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Diese Beispiele des Eigennamens und der Geschlechtsidentität verweisen auf eine Nicht-Kohärenz des ,Ich‘, auf eine Fremdheit im Eigenen, die – anders als im Bildungsdenken Humboldts – nicht von einer dem ‚Ich‘ gegenübertretenden Welt isoliert werden kann. Das ‚Außen‘ der Welt und das ‚Innen‘ des Ich sind in dieser Sichtweise ineinander gefaltet.5 Es ist also auch etwas irreführend, hier von einer ‚Identität‘ zu sprechen, denn ganz wesentlich wird das Subjektivierungsgeschehen von Unterdeterminierung und Unbestimmtheit moderiert. Dies weist darauf hin, dass Identitäten immer von ihrer Inszenierung, von ihrer Ausgestaltung abhängen – von den Praktiken des Erkennbarwerdens im Rahmen der sozialen Ordnung. Damit hängen Identitäten maßgeblich von der Anerkennung Anderer und auch von einer permanenten Wiederholung der Bedingungen der Anerkennbarkeit ab.6 Durch diesen Umstand der Anderenverwiesenheit entstehen Fragezeichen an die Signaturen modernen Subjektdenkens wie ‚Souveränität‘ oder ‚Autonomie‘; ‚Angewiesenheit‘ und ‚Verletzbarkeit‘ rücken hingegen in den Blick. Verletzbarkeit resultiert aus der Verwobenheit des Selbst mit Anderen, sie zeigt eine nicht zu tilgende Offenheit für Andere an. Eine Verletzung beruht auf der Gleichzeitigkeit von Fremdheit und Vertrautheit, indem etwas als zugleich äußerliches Ereignis und innerliche Erfahrung erlebt wird. Eine Verletzung wird durch etwas erzeugt, demgegenüber man nicht indifferent bleibt; die Ursache ist nicht etwas absolut Fremdes. Bezieht man in die Betrachtung der Subjektwerdung diese untilgbaren Momente der Entzogenheit ein, welche die bereits im modernen Bildungsdenken angelegte Differenzialität (sowohl für das Subjekt als auch für die soziale Ordnung) stärker in den Mittelpunkt rücken, so irritiert dies ein Denken in auf Ein-

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Das Bild der ,Falte‘ entlehnt Butler von Foucault (1993: 27). Sie arbeitet diese Figur zur rhetorischen Trope der ‚Metalepse‘ aus, d.h. der nachträglichen Setzung eines Ursprungs einer Erzählung (Butler 2001: 102). Zur Figur der Subjektivierung als Faltung vgl. auch Deleuze (1987: 140ff.).

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In ihrer Lektüre der Althusser’schen Szene der Anrufung wendet Butler (2001: 101ff.) dieses Bild des Rufs so, dass es mit der Foucault‘schen Figur des assujetissements als gleichzeitige Unterwerfung und Ermächtigung korrespondiert. Die Anrufung als einsetzender Akt der sprachlichen Identifizierung („Es ist ein …!“) figuriert die Stätte, an der sich das Subjekt einfinden kann (Butler 2006: 49ff.). Am Beispiel der geschlechtlichen Ordnung wird dies besonders deutlich, da diese die binäre Zuordnung als entweder weiblich oder männlich verlangt. Die konkrete Art und Weise des Frau- bzw. Mannseins ist damit jedoch nicht determiniert, eine Infragestellung der sozialen Identität jederzeit möglich.

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heitlichkeit und Kohärenz angelegten Identitätslogiken. Zur Subjektwerdung gehören uneinholbare Momente der Nicht-Identität. Der souveränen Verfügbarkeit über das eigene Selbst sind Grenzen gesetzt. Subjektwerdung ist – und hier liegt die theoriesystematische Nähe zum Bildungsdenken Humboldts als eines Wechselverhältnisses zwischen Ich und Welt – ein prozessuales Geschehen, das am ehesten durch Konzepte wie Relationalität oder Figuration zu fassen wäre und die Rede von einer ‚Finalfigur‘ Subjekt problematisch erscheinen lässt (vgl. Bröckling 2007: 7). In einem universalisierten Sprachduktus bleiben zudem auch „heterogene Formen der Verletzbarkeit“ (Liebsch 2010: 150) außen vor. Dieser Hinweis lässt sich mit Bezug auf das Thema des Traumas so verstehen, dass individuelle Erfahrungen von Gewalt und Leiden in soziale Normen des ,ZurSprache-Bringen-Könnens‘ eingeflochten sind. Verletzungen stehen in einem Verhältnis zum Leiden an Gewaltverhältnissen, die in sich selbst sprachlich codiert sind – wie etwa die Rede von einer ‚intakten‘ Identität verdeutlicht. Es ist daher auch nötig, die Formen, in denen Gewalt und Sozialität miteinander verknüpft sind, in den Blick zu bringen (vgl. dazu auch Wuttig i.d.B.). Verletzbarkeit und der ‚Rat‘ der Dekonstruktion: Wie dem Leiden gerecht werden? Dass Subjekt und Soziales einander unverfügbar bleiben und doch ineinander verwoben sind, bildet den Kern verletzender Erfahrungen. Sie bleiben weder äußerlich und doch werden sie als dem Innen entzogen wahrgenommen. Eben diese Verwobenheit verbindet sich im Alteritätsdenken eng mit der ethischen Frage des Umgangs mit dem Unverfügbaren und der Gewalt der Identifizierung. Hierfür sind die Studien des Phänomenologen Emanuel Lévinas wichtig, der die Vorgängigkeit des Anderen herausgestellt hat (Lévinas 1992). Damit kehrt Lévinas einen wesentlichen Ausgangspunkt modernen Denkens, das cogito des Subjekts, um und verweist auf den Antwortcharakter aller Identifizierungsgesten, die reaktiv (passiv) auf die Existenz des Anderen bezogen bleiben und damit Grenzen intentionaler Verfügbarkeitsansprüche berühren. Es ist hierbei wichtig, die Figur des Anderen nicht mit der Figur des Fremden, für den bereits ‚Namen‘ wie ‚Migrationsandere‘ oder ‚Kind‘ eingesetzt wurden, gleichzusetzen. Dies zeigt sich am deutlichsten daran, dass wir besonders verletzt sind, wenn ein uns sehr nahestehender Mensch etwas uns Unverständliches tut: Die Verletzung offenbart, dass es im Eigenen und im Anderen Zonen des Nicht-Wissens gibt. Lévinas schreibt dazu an einer Stelle, dass die bzw. der Nächste gerade nicht „eine im Voraus […] abgegebene Personenbeschreibung“ bestätige, sondern „mich durch seine exklusive Einzigartigkeit“ treffe (Lévinas 1992: 194). Die

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Verletzung liegt vor allem in der Erfahrung, dass man gar nicht gewusst hat, dort, auf diese Weise und so verletzbar zu sein – Anderenverwiesenheit und Verletzbarkeit stehen in einem engen Zusammenhang.7 Der Hinweis von Lévinas, dass es sich bei der bzw. dem Anderen auch um die bzw. den ‚Nächste_n‘ handeln kann, macht deutlich, dass mit ‚Alterität‘ das jeder Identifizierung sich Entziehende angesprochen ist. Dies lässt sich sowohl im Hinblick auf die oben für das Subjektivierungsgeschehen beschriebene Unverfügbarkeit des Eigenen, als auch für die Identifizierung von Anderen als ‚anders‘ oder ‚vertraut‘ festhalten. Die Verwiesenheit jeder Identifizierung auf soziale Ordnungen, ebenso wie die Angewiesenheit von Subjektivität auf Andere (vgl. Waldenfels 2015), verändert den Blick auf Verletzbarkeit und ruft die Frage nach einem angemessenen Umgang mit Anderen auf. Insbesondere im Hinblick auf Verletzungen und Traumaerfahrungen rückt die Frage in den Vordergrund, wie das Leiden (an)erkannt werden kann. Es geht damit um die Problematik, wie eine Sprache gefunden werden kann, die dem erfahrenen Leiden (und auch der Freude) nicht (erneut) Gewalt dadurch antut, dass sie dem Leiden(den) einen abgezirkelten Ort zuweist. Man könnte auch sagen, es geht um die Frage, wie Solidarität mit Leidens- und Verletzungserfahrungen möglich sein kann, ohne dabei Verletzungen, Missachtungserfahrungen oder Leiden zu kategorisieren. Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden einige Problematiken diskutiert, die traumatische Erfahrungen der Verletzlichkeit mit einem ‚Rat‘ der Dekonstruktion verbinden. Auf einen ‚Rat‘ und eine ‚Beratung‘, auf die Praxis des Sprechens also, wird im Hinblick auf die Frage eines angemessenen Umgangs mit Verletzungserfahrungen deshalb abgehoben, da für einen Umgang mit Traumata häufig therapeutisch-dialogische Umgangsweisen empfohlen werden, in denen Verletzungen geborgen, geheilt und behoben werden sollen (vgl. Zimmermann 2015; Imm-Bazlen/Schmieg 2016). Die bisherigen Darlegungen zur Differenz in der Subjektivität lassen jedoch Zweifel an der Heilungsfähigkeit der dialogischen Gesprächsform entstehen: Nicht nur knüpft die Form des Gesprächs an bürgerliche Praktiken der argumentativen Kommunikation an, in der Sprachbeherrschung und Ausdruckskompetenz zur Eintrittsbedingung eines kommunikativen Austauschs gemacht werden; Sprachlosigkeit und -verlust können hier lediglich als zu beseitigende Pathologien erscheinen. Auch legt die Form des therapeutisch-interventionistischen Gesprächs nahe, dass die Differenz in der Subjektivität zu tilgen bzw. überwinden

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Norbert Ricken (2012) hat diesen Zusammenhang von Subjektwerdung und Anerkennungsbeziehungen für die Problematik sexualisierter Gewalt aufgearbeitet und darauf hingewiesen, dass Missbrauch auf der Angewiesenheit auf Andere aufruht.

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sei. Der Anspruch einer intakten Identität und das Versprechen auf Tilgung der Differenz in der Subjektivität begrenzen jedoch die zur Sprache kommende Verletzung in spezifischer Weise. Demgegenüber nehmen die folgenden Punkte ihren Ausgang von der unumgänglichen Differenzialität von Identitäten, für welche das Motiv der Alterität steht. Ein solcher ‚Rat‘ könnte folgenden Problematiken begegnen: Sagen und Sprechen: Es gibt keine reine Identität, die sich von Identifizierungspraktiken lösen könnte. Es gibt keinen ontologischen Grund oder essenziellen Wesenskern, keine Natur der Dinge oder des Menschen, die per se, vor aller Erfahrung, außerhalb ihres praktischen Vollzugs oder jenseits aller symbolischen Bezeichnungspraxen vorliegt. Kohärenzannahmen und Vereinheitlichungsformen antworten bereits auf den Umstand der Pluralität möglicher Identifizierungen. Es gibt keinen Singular. Identitäten werden lokal, situativ und unter Ausschluss anderer möglicher Zeichenketten erzeugt. 8 Sie sind damit zutiefst in soziale Konventionen dessen verstrickt, was als ‚menschlich‘, ‚natürlich‘, ‚kulturell‘ etc. gilt. Gegenüber dem Verstandenen und dem Gesagten steht die Praxis des Sagens im Zentrum eines ‚Rats‘, ohne jedoch auf ein totales Verstehen hinzuwirken. Es geht dabei um mehr und anderes als die inhaltlichen Punkte des Sprechens: Die Bedeutung des Gesagten bleibt immer reaktiv gegenüber den Möglichkeiten und Verweisungszusammenhängen des Sagens (Lévinas 1992: 29ff.). Es geht im Gespräch nicht vordringlich um die ‚Klärung‘, ‚Identifizierung‘ oder ‚Ausräumung‘ eines Sachverhalts, sondern um die Frage der Gerechtigkeit gegenüber dem, was nicht in der Rede enthalten sein kann, was sich als Problem nur zwischen den Worten transportiert und dem identifizierenden Zugriff entzieht. Herkünfte und Anfänge: Es gibt keinen Ursprung, aus dem Folgen ableitbar wären. Es gibt also auch keinen ‚reinen Anfang‘ (Gamm 2014: 203f.), der nur

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Dies lässt sich auch zeichentheoretisch erhellen: Eine Bezeichnung (Signifikant) steht in einer nur losen, kontingenten Beziehung zu dem bezeichneten Sachverhalt (Signifikat). Der Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure (1967: 79f.) leitete diesen Gedanken der „Arbitrarität“ des Zeichens unter anderem daraus ab, dass es verschiedene Sprachen gibt, in denen jeweils andere Zeichenfolgen auf eine Sache hinweisen. Aus dieser Überlegung resultiert, dass jede Behauptung einer Wesensmäßigkeit (‚der Natur‘, ‚des Menschen‘, ‚der Kultur‘ etc.) lediglich lose auf einen Sachverhalt referiert; sie setzt ihr Signifikat (dass es überhaupt so etwas wie ,Kultur‘ gibt, dass es so etwas wie ‚den Menschen‘ gibt) voraus. Andere mögliche Bezeichnungen des Sachverhalts – ‚das Leben‘, ‚Solidarität‘, ‚humanitas‘/‚humanities‘ – werden notwendigerweise ausgeschlossen, weil es unumgänglich ist, ein Wort für die Sache zu finden.

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dem Selbst zugehörig wäre. Sich Auskunft über das eigene Sein zu geben, ist unmöglich, weil die jeweiligen Gegenwartskonstruktionen (,Identitäten‘) in sich differenziell sind; stets gibt es ausgeschiedene, vernachlässigte oder verschwiegene Anteile (Butler 2001: 125ff.). Statt um die Lokalisierung eines ‚ursprünglichen‘ Problems und dessen Beseitigung, geht es im Medium des Sprechens um Relationen, die der Bestimmtheit eines ‚Problems‘ zuwiderlaufen und damit die Problematizität des ,Bestimmen-Müssens‘ mit sich führen. Es geht um Anfänge ‚mittendrin‘ (Gamm 2014: 203ff.), in denen sich mitteilt, dass das sprechende Subjekt nicht Ursprung seiner eigenen Rede ist und dass andere Stimmen, Geschichten, Perspektiven in der eigenen Rede anwesend sind.9 Das Sprechen wird damit zu einem Nicht-Ort, an dem Vergangenes und Zukünftiges in eine Beziehung treten. Aus deren Nichtkongruenz entspringt die gegenwärtige Erfahrung, die weder vom Vergangenen (den benutzten Worten) noch vom Zukünftigen (den möglichen Worten) eingeholt werden kann. Gegenüber der Identität des Ursprungs einer Erfahrung können so Brüche, die eine Verletzung als gleichermaßen eigen und fremd markieren, zur Sprache kommen. Die Notwendigkeit, im Sprechen von den Begriffen Gebrauch machen zu müssen, eröffnet auch eine Sphäre der Verschiebung und Prozessualität von Bedeutungen; das Sprechen sagt mehr und anderes, als in den Worten enthalten ist. Medialität: Es gibt keine unmittelbare Verbundenheit, weder zur Vergangenheit oder zur Zukunft, aber auch nicht zu den gegenwärtig Nächsten – weil die Erfahrung der Gegenwart von der Erfahrung der Alterität gekennzeichnet ist. Stattdessen besteht die permanente Aufgabe in der Bewegung der Einbindung, ohne durch Vereinheitlichungen (etwa Diagnosen, Typiken, Verlaufskurven, etc.) diese konkrete Erfahrung einzuhegen oder die Differenz zwischen Sprechenden zu tilgen. Die Notwendigkeit des Gebrauchs vorliegender Begriffe und Erzählstrukturen wiederholt auch die Konventionen und Erwartungen bzw. Zumutungen der normalisierten Erzählweise des Selbst – dies betrifft das Darstellen von ‚Stationen‘, ‚Entwicklungslinien‘, ‚Sprüngen‘, ‚Brüchen‘ und die Notwendigkeit der narrativen Verbindung zwischen diesen Ereignissen und Erfahrungen. Einheitlichkeit und Kohärenz resultieren vielmehr aus Erzählungen, Motiven und Vergemeinschaftungsgesten, die von dem darin Ausgeschlossenen konstituiert werden (vgl. Laclau/Mouffe 1991). Der ‚Rat‘ ereignet sich im Modus des Sprechens und ist damit zuvorderst eine Praxis des Zusammenhandelns (Arendt 1967). Im Sprechen eröffnet sich ein

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Zitieren und zitiert werden lässt sich somit bildungstheoretisch ausformulieren (Jergus 2013).

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‚Zwischenraum‘, in dem das angesprochene Selbst, die angesprochene Sache und der Anspruch des/der Anderen in ein neues Verhältnis zueinander treten. Dies verlangt zu sprechen und zu hören, als ob noch nie gesprochen oder gehört wurde. Der angesprochene Sachverhalt wird als konkretes, situatives und damit gänzlich ‚neues‘ Problem eröffnet, dessen Lösung nicht bestimmt ist. Die Artikulation10 im Aus- und Ansprechen verändert alle Beteiligten. Dies impliziert, dass dieser ‚Zwischenraum‘ des Sprechens kein egalitär organisierter Raum ist, in dem Sprachbeherrschung und Positionen gleichmäßig und machtfrei verteilt sind (Ahrens/Wimmer 2012). Es handelt sich vielmehr um einen ‚geteilten‘ Raum, in welchem Positionalität inszeniert und zugewiesen wird; die Mächtigkeit von Begriffen und Identifizierungen bleibt dem Sprechen nicht äußerlich.11 Gastlichkeit: Es gibt keine Kontinuität, es gibt stets das Ereignis des ‚Neuen‘. Dass alles immer wieder im Werden ist, führt zu einer Fragilität der überkommenen Traditionen und Bindungskraft von Konventionen angesichts des Neuen (Arendt 2000; Masschelein 1996). Ob die bisherigen Antworten auf das, was angemessen, wünschenswert und machbar erscheint, für den nächsten Moment, für die Nachfolgenden, für die Neuen hinreichen und tragen werden, zeigt sich als Frage, als offenes Problem ohne Lösung erst und besonders angesichts der Erfahrung des Neuen.12 Es ist daher weder eine ‚außergewöhnliche‘ noch eine einfach zu behandelnde Frage, die das Neue aufwirft. Die Erfahrung des Anderen und einer Veränderung, die sich in Leiden, Verletzung und Ausgesetztsein artikuliert, berührt unmittelbar das bislang für selbstverständlich Gehaltene. Die Frage des Neuen verweist auf die Praxis der Gastlichkeit, die Platz da einräumt, wo ein Ankommen des ‚Neuen‘ und etwas Unerwartetes nicht vorgesehen ist. Gastlichkeit berührt daher auch die Frage, in wessen Souveränitätsbereich die Verfügung über das Ankommen des Anderen liegt; das Gewähren wie

10 Vgl. de Saussures Überlegungen zur Artikulation, die auf das lateinische „articulus“ (Saussure 1967: 134) als Verbindung, Gelenkstelle zurückgeht; vgl. Laclau/Mouffe (1991) zu einer sozialtheoretischen Fassung von Artikulationen als diskursive Praktiken der Verbindung und Etablierung von ‚Identitäten‘. 11 Vgl. Trautmann (2010) zum Konzept der ‚Partage‘, das gleichermaßen Teilung und Teilen umgreift. 12 Es ist diese Frage nach der Gegenwart des eigenen Seins, die Michel Foucault an Kants Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ (1784) so sehr beeindruckte, dass er ihr eine eigene Fassung gab: „[…] was bin denn nun eigentlich ich, der ich zu dieser Menschheit gehöre, zu dieser Franse, zu diesem Moment, zu diesem Augenblick von Menschheit, der der Macht der Wahrheit im allgemeinen und der Wahrheiten im besonderen unterworfen ist?“ (Foucault 1992: 27)

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auch das Verwehren von Gastlichkeit antwortet auf die Anwesenheit des Anderen (Derrida 2001). Der ‚Rat‘ im doppelten Sinne nimmt den/die Andere/n auf: als Gesprächspartnerin, als Fragenden, als Jemanden, dem man antwortet und zugleich eine Antwort schuldig bleibt (Lévinas 1992). Solidarisch und gerecht gegenüber der Erfahrung der Verletzbarkeit sein zu können, verlangt daher auch, sie als etwas ‚Neues‘ und exklusiv zu behandeln. Angewiesenheit: Es gibt keine vollkommene Anerkennung: Verlaufen Identitätskonstruktionen stets über praktische Etablierungen eines ‚Innen‘ gegenüber einem ‚Außen‘, bedeutet dies, dass Innen und Außen selbst durchkreuzte ‚Identitäten‘ besitzen. Das ‚Außen‘ ist auf eine Weise im ‚Innen‘ anwesend, die eine ‚reine‘ Identität verunmöglicht.13 Daher geht mit jeder Form von Anerkennung auch immer Verkennung einher (Bedorf 2010).14 Anerkennungspraxen verfehlen stets Anteile des Anzuerkennenden, da sie auf sozialen Konventionen der Darstellung, Zuweisung und Inszenierung des ‚Erkennens‘ beruhen. Die in der Rede enthaltene Anrede – als Ratsuchender, als Ratende, als Berater, als Sprachlose, etc. – besitzt subjektivierende Qualitäten, die zugleich im Modus des Sprechens in der Schwebe gehalten werden. In der Praxis des Sprechens wird das Begehren nach Anerkennung als Begehren, jemand zu sein, beantwortet. Anders gesagt: Im Sprechen werden Subjektpositionen (re)artikuliert; sie werden in ihrer Vorläufigkeit wie auch Mächtigkeit durch die Notwendigkeit der Wiederholung (die zugleich Aufschub ist) erfahrbar. Im Sprechen wird die begriffliche Fixierung in der Schwebe gehalten; die Gleichzeitigkeit von Anerkennen und Verkennen (eine Umformulierung für: Alterität) zeigt sich performativ als Problem, von einer zugewiesenen Position aus sprechen zu müssen. Im Aussprechen und Ansprechen wird das Begehren, erkannt zu werden, beantwortet und unendlich fortgesetzt. Schuldigkeit des Antwortens: Es gibt keine neutralen oder unschuldigen Zonen der Sprache. Anerkennungspraxen sind aufs Engste mit Macht verbunden, da die Modi des ‚Sich-erkennbar-Zeigens‘ und ‚Erkannt-Werdens‘ nicht außer-

13 Diese Figur der ‚abwesenden Anwesenheit‘ hat Jacques Derrida als Grundmuster jeglicher Kommunikation und als grundlegendes Moment jeder Sinngebung herausgearbeitet (Derrida 2001). 14 Andreas Hetzel weist darauf hin, dass Anerkennung gerade nicht ‚als‘ oder ‚für‘ etwas zu erlangen und zu gewähren sei, da auf diese Weise lediglich die Leistung, sich in den Kategorien der Erkennbarkeit gezeigt zu haben, honoriert werde (Hetzel 2011: 18). Anerkennung sei daher eine unmögliche Aufgabe, die Gerechtigkeit im Umgang mit Alterität – als dem Nicht-Identischen – verlange.

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halb der Normen von akzeptablen Identitäten liegen.15 Dies zeigt sich auch hier in der Form der Darstellung eines nicht-darstellbaren Sachverhalts, die nicht umhinkommt, Worte wie ‚Identität‘ oder ‚Subjekt‘ zu verwenden. Die semantische Last dieser Konzepte der Selbstbeschreibung lässt sich nicht ohne Weiteres abschütteln, die Geschicht-lichkeit der Begriffe, in denen wir uns verstehen, wird Teil unserer Geschichte. Es ist daher nur schwer möglich, einen Unterschied zu machen zwischen dem Gebrauch der Begriffe und dem ,In-Gebrauchgenommen-werden‘ durch die Begriffe. Dies impliziert, keinen neutralen Ort jenseits oder außerhalb der Sprache einnehmen zu können. Dass in der Praxis des Sprechens unendliche Verweisungszusammenhänge entstehen, die sprachlich kaum eingeholt oder sortiert werden könnten, bedeutet auch, dass die Praxis des Sprechens ein Ver-Sprechen ist. Sprechen reagiert immer schon auf die Anwesenheit des Anderen und angesichts der ‚Anderen‘ werden Antworten schutzlos: Die konkret-exklusive Antwort auf eine Verletzung kann keinen Rückhalt in einem allgemeinen Rat finden. Antworten auf Andere ist immer exklusive und konkrete Ansprache an jemand Bestimmten. Dass sich im Sprechen mehr und anderes mitteilt, impliziert ein Ver-Sprechen als unendlichen Aufschub: Im Aus- und An-Sprechen erfährt sich das Selbst als zugleich identisch und entzogen. Im Gespräch bleiben Anteile un-thematisch, auch Antworten bleiben stets etwas schuldig und sind in Verkennungen verstrickt. Verzeihlichkeit: Es gibt keine Unfehlbarkeit. Liegen Identitäten nicht jenseits eines sozialen Zugriffs, sind sie daher mit anderen Worten stets innen und außen zugleich, dann beinhaltet jede Form der Selbst- und Welterkenntnis auch immer ein grundlegendes Missverstehen. Dieses Missverstehen ist nicht zu beseitigen oder in der Zukunft zu verringern, sondern entspringt der Unmöglichkeit eines absoluten Wissens. Jedes Wissen um sich selbst und um Andere ereignet sich als verfehlendes ‚Erkennen‘. Statt von einer reinen, machtfreien und erlösenden Sphäre der Unverletzbarkeit auszugehen, geht es also mit einem ‚Rat‘ der Dekonstruktion auch darum, die Fremdheit im Eigenen zu ihrem Recht kommen zu lassen. Dies meint die Öffnung für das sich im Leiden und der Verletzung artikulierende Außen im Innen, für das Unverfügbare, dem man sich trotz seiner Entzogenheit nicht entziehen kann. Dies betrifft auch die Erfahrung der Fehlbarkeit, die Erfahrung der Unzulänglichkeit allen Wissens um sich selbst und um andere, die Erfahrung der permanenten Verkennung in der Anerkennung und die Einsicht in die Inkommensurabilität von Eindruck und Ausdruck.

15 Judith Butler (2003) bezeichnet diesen Bereich der ‚Intelligibilität‘ daher als jenen Bereich, in dem sich Normen und Subjekte kreuzen, ohne ineinander aufzugehen.

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Damit ist der Bereich des Ethischen angesprochen, der dort zum Tragen kommt, wo moralische Grundsätze und leitende Handlungsmaßgaben an ihre Grenzen kommen, weil sie auf das Unregelbare, Unwissbare, Undeutbare stoßen. Die ethische Konsequenz aus diesen Überlegungen besteht also darin, nicht etwa Grundsätze des Verzeihens zu proklamieren, sondern – im losen Anschluss an Derrida (2000) – Verzeihlichkeit zu praktizieren, wo es unmöglich erscheint, etwas verzeihen zu können. Das Versprechen der Gerechtigkeit: Es gibt keine Gerechtigkeit, sie ist stets ‚im Kommen‘ (Derrida 1993). Die hier vorgenommenen Überlegungen laufen auf einen Grundgedanken der Dekonstruktion hinaus, der sich als die ‚ImKommen-befindliche- Gerechtigkeit‘ kennzeichnen lässt (Feustel 2015). Identifizierungen verlaufen über soziosymbolische Praxen der sprachlichen Kennzeichnung, die ihrerseits keinem neutralen Bereich entspringen, sondern machtvoll auf das Subjekt zukommen und seine Identität durch Ausschluss anderer möglicher Bezeichnungen stiften. Mit Alterität wird auf das sich im Identifizieren Entziehende hingewiesen, das ein vollkommenes und unmittelbares Wissen und Verstehen verunmöglicht – sowohl des Selbst als auch des Anderen. Alterität liegt damit jedoch nicht außerhalb des Verstehens- und Erkenntnisprozesses, vielmehr durchkreuzt sie jedes Verstehen.16 Die Dekonstruktion hat diese Perspektive als Frage der Gerechtigkeit gegenüber dem bzw. der Anderen behandelt: Es geht dabei um eine Ethik, die im ‚Durchgang‘ das Ausgeschlossene und Nicht-Identische nicht einfach vergisst, hingegen die Gewaltförmigkeit der Identifizierung deutlich werden lässt (Feustel 2015). Das Sprechen findet daher zwar seinen Anlass in der Erfahrung einer Öffnung auf den Anderen hin (der Gast war schon da und wartete darauf, gastlich behandelt zu werden, selbst dann, wenn das Gastrecht verwehrt wird). Es bleibt aber in jeder Hinsicht ein Versprechen, da es immer Bereiche gibt, die nicht aus- und angesprochen werden können – etwa weil es soziale Konventionen des Sagbaren gibt, weil aus der Vielzahl von Darstellungsweisen eines Problems eine ausgewählt werden muss, weil das Sprechen sich in der Zeit vollzieht und das Ausgesprochene das zukünftige Sprechen nicht determinieren kann etc. An diese Ausführungen müssen sich Fragen anschließen: Woher nehmen sie ihren apodiktischen Stil einer Behauptung des „es gibt/ es gibt nicht …“? Wie kann in einem Atemzug von Dekonstruktion – jener Bewegung des Aufschubs

16 Auf diesen Punkt läuft eine kritische Replik Derridas auf Lévinas hinaus (1976: 190f.): Die Verabsolutierung des Anderen ziehe eine wesensmäßige Unterschiedenheit ein, die dessen Status ontologisiere. Stattdessen wäre die Andersheit im Eigenen als differenzielle Figur zu denken.

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im Durchgang – und einem assertorischen Gestus des (Nicht-)Vorhandenseins gesprochen werden? Mehr noch: Handelt es sich hier nicht sogar um performative Widersprüche der Erteilung ungebetener Ratschläge, die das Beraten, das konkrete Antworten für jemanden unterlaufen – erfolgt dieser ‚Rat‘ der Dekonstruktion doch ungefragt, abstrakt, universalisiert? Die hierfür als ‚Rat‘ eingeführte Perspektive der Dekonstruktion ist keine Beratungsinstanz; sie ist auch keine Methode (Feustel 2015), weshalb die hier beschriebene Beratung nicht dem Anspruch auf eine Überwindung traumatischer Erfahrungen folgt. Es geht zuallererst auch um eine Verschiebung dessen, was unter einem ‚Rat‘ verstanden werden kann: Ein ‚Rat‘ ist zunächst eine Antwort auf eine Frage, das Wahrnehmen eines Anliegens und eine konkrete Reaktion auf das ,AngesprochenWorden-Sein‘. Zugleich ist der ‚Rat‘ auch ein interdependentes Geschehen der wechselseitigen Bezugnahme, der Raum, in dem das Problem zur Verhandlung steht und damit überhaupt erst als Problem artikuliert wird.17 Mit ‚dem‘ Rat ist also hier eine mehrfache Relation angesprochen, die zustande kommt, weil Dinge nicht vollends oder abschließend geklärt sind.18 Ein Rat – als Praxis und als Geschehen – verlangt, eine Öffnung auf den, die und das Andere(n) hin zu vollziehen, einen zusätzlichen Raum zu etablieren, in dem man voreinander, miteinander und umeinander neu und anders wird. Mit der Frage der Gerechtigkeit angesichts der Unmöglichkeit des Verstehens, angesichts der Nicht-Identität des Selbst und des Anderen, angesichts der Fehlbarkeit von Anerkennung, angesichts der Grenzen des Wissbaren, angesichts der Machtförmigkeit von Identifizierungen und angesichts der Unverbundenheit mit der Gegenwart werden genuin pädagogische Fragestellungen und Problemkreise aufgeworfen, die im folgenden Ausblick in den Vordergrund gestellt werden sollen.

17 Vgl. Latour (2005) zum ‘Thing‘ und zur Öffentlichkeit; vgl. auch die Überlegungen Derridas (2001) zur unbedingten Form der Universität, die sich auf die Praxis des öffentlichen Sprechens bezieht. 18 Vgl. auch die Überlegungen Mollenhauers (1965) zur pädagogischen Form der Beratung, die nicht ohne Grund den Fokus auf die gemeinsame Praxis statt auf die personalen Relata der pädagogischen Beziehung legen, allerdings nicht in aller Konsequenz die Unverfügbarkeit über das praktische Geschehen der Ver-Anderung im ,Rat‘ berücksichtigen.

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Ausblick: Trauma, Verletzbarkeit und die Sprache der Kohärenz Was lässt sich aus diesen Skizzierungen des Zusammenhangs von Subjektwerdung, Alterität und Verletzbarkeit im Hinblick auf den Umgang mit Traumata aus einer pädagogischen Perspektive folgern? Wie lassen sich TraumaErfahrungen als Figurationen zwischen Innen und Außen, als eigen/fremd zugleich behandeln? Ohne diese Fragen gänzlich ausloten oder angemessen beantworten zu können, lassen sich einige Konsequenzen der vorstehenden Ausführungen angeben. Die vorangegangenen Überlegungen nahmen ihren Ausgangspunkt von einem differenziellen Subjektverständnis, welches unter Rückgriff auf das Motiv der ‚Alterität‘ mit Signaturen der Anderenverwiesenheit und Fremdheit im Eigenen gefasst wurde. Dieses Subjektverständnis ermöglicht es, im Trauma und dem Umgang mit Verletzungen eine Verschiebung vorzunehmen. Die Verschiebung besteht darin, von einer grundsätzlichen Unverfügbarkeit des Selbst über sich, die Welt und Andere auszugehen und daher im Trauma eine bildungstheoretische Perspektive einzuführen.19 Dafür ist zunächst auf die bereits eingangs angedeutete Sprache des Traumas zurückzukommen. Mit der Kennzeichnung eines Verhaltens oder einer Selbstverfassung als ‚traumatisiert‘, mit der Markierung eines Erlebnisses als ‚traumatisch‘ oder einer Erfahrung als ‚Trauma‘, werden nicht lediglich Brüche in der Erfahrung herausgestellt; sie werden auch in einer Sprache der ‚Störung‘ bewertet. Das Problem am Trauma ist weniger der Erfahrungsgehalt als solcher oder das Erlebnis an sich – vielfach wird darauf hingewiesen, dass ein Trauma von innerlichen und äußerlichen Bedingungen abhängig ist –, sondern die Unmöglichkeit, die Erfahrung als dem eigenen Sein zugehörig einordnen zu können. Es handelt sich also meist um ‚Störungen‘, die auf eine Erfahrung folgen, um einen Überschuss unsortierbarer Gefühle und Affekte, die in keine Ordnung zu bringen sind. Die ,Un-Ordnung‘ der Trauma-Erfahrung kann auch zu einem Ausgangspunkt für eine Fortsetzung des Traumas werden: Ähnliche Auslöser (Trigger) und sich wiederholende Rahmungen können zu einer Verlängerung, einem erneuten Aufleben oder einer Verstärkung des Traumas führen. Hinzu kommt,

19 Es ist wichtig, an dieser Stelle zu bemerken, dass es hier mit dem Horizont einer bildungstheoretischen Perspektive nicht darum geht, die Trauma-Erfahrung in der Rede des ‚Wachsens am Trauma‘ zu behandeln, wie sie etwa in aktuellen Resilienzrhetoriken zu vernehmen ist. Es geht nicht um eine ‚Pädagogisierung‘ des Traumas, sondern um die Frage, inwiefern etwas Pädagogisches zur Sprache kommen kann – etwas, das einen Bruch in der Tradierung und eine Zäsur im Selbstverständlichen artikuliert.

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dass als unentschieden gilt, ob mit ‚Trauma‘ die Ursache oder die Erfahrung einer unzulänglichen Verarbeitung eines Ereignisses bezeichnet wird, während immer auch bemerkt wird, dass der Begriff ‚Trauma‘ in die Alltagssprache als Bezeichnung für belastende oder außergewöhnliche Erfahrungen gewandert ist. Bei aller sprachlichen Diffusität wird jedoch klar, dass es sich um eine Kennzeichnung eines ungewöhnlichen Zustandes oder Verhaltens handelt, der als dysfunktional bzw. pathologisch kategorisiert wird. Nun lässt sich aus den bisherigen Überlegungen zum Vorgang der Subjektivierung entnehmen, dass Identitäten niemals bruchlose Kohärenzen darstellen – und dies trifft an dieser Stelle auch die Formierung kollektiver Subjekte wie einer ‚Generation‘ oder ‚der Neuankömmlinge‘. Die Subjektivität eines Individuums oder die Identität eines Akteurs werden über soziale Konventionen und deren je spezifische ‚Ausformung‘, ‚Um-Wendung‘ oder ‚Ein-Faltung‘ hervorgebracht; sie existieren nicht vor oder außerhalb der Zeit und des Raums, weshalb sie sowohl von ihrem Entstehungszusammenhang her an Praktiken (der Anrufung, der Zuschreibung, der Inszenierung etc.) gebunden sind, als auch in der Zeit immer wieder praktisch vollzogen und ausgewiesen werden müssen. Aus diesem Umstand resultiert erstens eine dauerhafte Entzogenheit bzw. Inkohärenz jeder Identität, wofür das Motiv der ,Alterität‘ steht. Unter bildungstheoretischen Gesichtspunkten geht es also kaum um die Frage, dass bzw. ob ein Trauma vorliegt, als vielmehr um die Frage, wie das erfahrene ,Andere‘ oder ,Neue‘ zur Sprache kommen kann, ohne es einzuhegen und bereits als zu überwindende Dysfunktionalität oder Un-Fertigkeit zu markieren. Wurde eingangs mit Humboldts Bildungskonzeption bereits angesprochen, dass es mit Bildung um eine gleichzeitige Überschreitung des Eigenen auf die Welt hin und eine Entzogenheit der Welt im Ich geht, so kann mit diesem Motiv auch ein Verständnis für das Trauma gewonnen werden. Verlässt man mit jüngeren Subjektivierungstheoremen das im Bildungsgedanken Humboldts enthaltene Versöhnungsversprechen einer möglichen Einheit von Ich und Welt, dann lässt sich auf die Unmöglichkeit einer Einheit aufmerksam machen. Für einen solidarischen, möglicherweise gerechten, Umgang mit Verletzungserfahrungen und Krisen kann daraus gefolgert werden, dass Verletzungen als Überschreitung des Gegebenen, als Ex-Positionierung des Eigenen kaum etwas mit Fehl- oder Dysfunktionalität zu tun haben, die beseitigt bzw. nivelliert werden könnte.20

20 „Krisen“ ebenso wie die Überschreitung von „Grenzen“ besitzen in aktuellen Bildungstheorien eine wichtige theoriesystematische Stelle. So fasst Hans-Christoph Koller etwa unter Bildung nicht jedes Lernen, sondern jene Erfahrung der „grundlegenden Veränderung von Selbst- und Weltverhältnisse“ (Koller 2012: 16; Hervorhebung

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Es ist vielmehr zweitens so, dass die Brüchigkeit von Identitäten der Einsatzpunkt ist, um einem Ereignis überhaupt eine ‚traumatische‘ Qualität zusprechen zu können: Dass etwas als ‚traumatisch‘ erlebt wird und damit im eigenen Selbstverständnis ein Ereignis als unverarbeitbar und folglich unzugehörigzugehörig (fremd und eigen zugleich) qualifiziert wird, setzt die Veränderbarkeit des Selbst voraus. Der Bruch, für den das Wort ‚Trauma‘ steht, verweist auf die Unmöglichkeit einer kohärenten Einverleibung, auf die zu lose Verknüpfung zwischen dem einen Moment und dem anderen und damit auf die fragmentarische Verfasstheit von Identitäten. Die Erfahrung der Verletzbarkeit hängt kaum an der Qualität eines Ereignisses oder der Unverständlichkeit des Anderen per se. Vielmehr trifft die Unmöglichkeit, etwas in die bisherigen Grenzen des Verständlichen einsortieren zu können deshalb das eigene Selbst, weil es mit den eigenen Grenzen und der eigenen Brüchigkeit, mit dem eigenen ‚Nicht‘ konfrontiert ist, was eine Erfahrung der Paradoxie kennzeichnet. Verletzungen resultieren nicht aus dem Äußeren, das auf ein Inneres trifft, sondern sie verweisen auf die Äußerlichkeit des Inneren und die Innerlichkeit des Äußeren. Mit anderen Worten: Die Erfahrung des Traumas, die Erfahrung verletzt worden zu sein, ist deshalb ein bildungstheoretischer Topos, weil sie auf die Anderenverwiesenheit und die grundsätzliche Relation zwischen Ich und Welt verweist. Damit ist die Erfahrung der Verletzung auch eine Erfahrung der Verletzbarkeit, des OffenSeins für Anderes und Neues. Dies konfrontiert mit der Trauer um das NichtZugehörige und Abwesende ebenso wie mit der Erfahrung einer Grenze der Verfügbarkeit über sich selbst und die Welt. Aus diesem Grund ist das Sprechen und die Sprache der Bildung − wie die des Traumas − gerade kein ,Nebenschauplatz‘, sondern die Stätte, an der die Unmöglichkeit, eine Erfahrung adäquat beschreiben zu können, zum Tragen kommt.21

K.J.). Es besteht in der gegenwärtigen Bildungstheorie jedoch auch Uneinigkeit bezogen auf den Umgang mit Krisen und deren Identifizierbarkeit, die aus den hier über Alterität entwickelten Problemen resultieren (vgl. exemplarisch Koller 2006; Schäfer 2006; Thompson 2009). Will man die erlebte Krise oder die Erfahrung des Neuen nicht vorschnell nivellieren, indem man sie mit dem Signum „Bildung“ versieht, so entsteht auch die Frage, wie Möglichkeit und Unmöglichkeit als Erfahrung gefasst werden können (vgl. dazu Wimmer 2014). 21 Während sich die Ausführungen hier vorrangig auf Leidenserfahrungen beziehen, betrifft dies in gleicher Weise auch positiv konnotierte Erfahrungen wie Faszination oder Verliebtheit, die ebenfalls in nur einem sehr umgrenzten Diskursfeld artikuliert werden können (vgl. dazu Jergus 2011).

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Wie also kann ein der Erfahrung des Verletztwordenseins angemessener Bruch in der Sprache des Traumas eingeführt werden? Aus pädagogischer Warte lässt sich auf eine Tradition des Subjektdenkens hinweisen, die stets Fragezeichen an die Kohärenz einer einheitlichen Subjektivität und eine ihm äußerlich bleibende Welt gestellt hat. Eines der Entstehungsmotive modernen pädagogischen Denkens liegt darin, die Unveränderlichkeit des Bestehenden in Frage zu stellen und mit Bildung einen Begriff entwickelt zu haben, der auf die Eröffnung eines Zwischenraums, einer Differenz zu dem Gegebenen und dem Kommenden zuläuft. Bei allen Problemen, die in der Nähe zwischen dauerhafter Veränderung und Optimierung des Selbst liegen, ist mit Bildung zugleich auch ein Bereich des Unverfügbaren angesprochen. Nimmt man diesen Gedanken eines Zwischenraums auf, einer medialen Stelle zwischen Selbst und Welt, dann lässt sich von hier aus stärker noch eine Kritik an Vorstellungen der Kohärenz, Selbstidentität und Einheitlichkeit entwickeln. Diese könnte dazu führen, die soziale Zumutung der Einheit einer Person (oder Einheit des Sozialen) zu hinterfragen. ‚Trauma‘ könnte auf diese Weise als Chiffre in den Blick kommen, die ihrerseits in Autoritäts- und Machtverhältnisse verstrickt ist, als eine, wenn nicht illusorische, so doch möglicherweise ebenfalls traumatisierende Bedingung moderner Subjektivität. Ein kohärentes Subjekt sein zu müssen, das Brüche, Entzogenheiten und Grenzen der Selbsterkenntnis als störende Größen in das Außen zu verlagern hat, ließe sich damit als ,Wahn‘ kennzeichnen (Wimmer 2007). Mit dem Gedanken der ,Alterität‘ verbindet sich das Anliegen, die Differenzialität des Eigenen und Anderen nicht zu entstören. Von hier aus ließe sich über unmögliche Erfahrungen, über Verletzungen und Zumutungen in einer Weise reden, die diese nicht als Aufgabe der Überwindung betrachtet. Statt einer Pathologisierung von Differenzerfahrungen und einer Behebung des Disparaten zuzuarbeiten, wäre unter dem Gesichtspunkt des ‚Rats‘ und der Beratschlagung im praktischen Vollzug des Sprechens die Fremdheit im Eigenen und Vertrautheit im Anderen zur Sprache zu bringen. Im Vordergrund stünde hierbei die Entzogenheit der Gegenwart als unmögliche Erfahrung, als Zwischenraum. Dies würde es (möglicherweise) erlauben, die Trauer über Verlust und Verwerfung, über das Abwesende und Unzugehörige zuzulassen (Butler 2001: 157ff.), statt auf illusionäre Einordnungen, Kohärenzanforderungen und Vereinheitlichungen hinzuwirken und auf diese Weise ‚das Trauma‘ fortzuschreiben und fortwährend zu wiederholen (vgl. Thompson 2012). Damit wäre einerseits eine Artikulation von Verletzungen ermöglicht, die diese nicht bereits vorab als störend pathologisiert, sondern getragen ist von der Einsicht der Differenz in der Subjektivierung, einer nicht zu tilgenden Anders-

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heit im Anderen bzw. Fremdheit im Eigenen. Möglicherweise wäre damit ein Weg zu einer anderen Art von Solidarität geöffnet, die aus der Unmöglichkeit entspringt, das Erfahrene vollends zur Geltung bringen zu können, und die der je differenten Trauer um Verlust, Entzogenheit und Abwesenheit einen Raum eröffnet. Statt Bereiche des ‚Nicht-Traumatischen‘ von Bereichen des ‚Traumatischen‘ abzuzirkeln, ginge es um ein solidarisches Teilen des Unteilbaren, ein Mit-Teilen ohne Aufgabe, welches das Andere (das Erlebte, das Leiden, den Schmerz, die Freude, die Faszination, etc.) nicht den eigenen und herrschenden Kategorien einzuverleiben sucht. Dies würde andererseits jedoch auch eine veränderte bildungstheoretische Fassung von Selbstwerdung erfordern, die sich systematisch von einer Logik des Wachstums zu verabschieden hätte (welche beispielsweise in Bildern des ‚Aufwachsens‘ und der ‚Entwicklung‘ die Normalität von Vollständigkeit, Abgrenzbarkeit und Selbstidentität verteidigt). Denn es lässt sich hier auch sehen, wie das universalisierte Versprechen einer kohärenten Identität sowohl in der Sprache der Bildung als auch in der Sprache des Traumas den Anreiz setzt, das Unverfügbare beherrschen zu wollen und zu müssen. Es gibt also auch in der Sprache der Pädagogik einen Fokus auf die Vermehrung von Souveränität und dem Lossagen von Bindungen, die alle Formen von Angewiesenheit, Dezentriertheit und Verletzung als pathologische Verfallsformen aussondert. Stattdessen wäre daran zu erinnern, dass ‚Autonomie‘ dann illusionär ist (Meyer-Drawe 1990), wenn darauf beharrt wird, Angewiesensein und die Einbindung in Beziehungen zu beseitigen. Autonomos – das hieße in dieser Hinsicht also nicht nur, den Mythos der Souveränität kritisch zu hinterfragen. Vielmehr ginge es darum, die Bedingungen und Beziehungen, die das Selbst zu einem Selbst werden lassen, als ‚Trauma‘, als Wunde anzuerkennen, als Zeichen des Außen im Innen, als auf dem Außen des Innen sich zeigende Grenzen des Selbst. Es wurde bereits angesprochen, dass auch dem modernen Bildungsdenken häufig vorgeworfen wurde, die Modi der Selbst-Bildung in den Vordergrund und die sozialen und politischen Bedingungen der Selbstwerdung in den Hintergrund treten zu lassen (Masschelein/Ricken 2003; Pongratz/Bünger 2008).22 Die Sprache des Traumas wie die Sprache der Bildung beinhalten daher

22 Diese Kritik ist nicht nur am historischen Bildungsbegriff geäußert worden, sondern auch an jüngeren Perspektiven der Bildungsforschung, die lediglich die individuallogische Seite der Verarbeitung von Krisen in den Blick bringe (vgl. etwa Wigger 2004). Aus den Perspektiven sowohl der Migrations- als auch der Genderforschung ist der Bildungstheorie zudem häufig attestiert worden, einem abstrakten Subjektdenken zu folgen und zu wenig die soziopolitischen Machtgefüge der Bedingungen, unter de-

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auch die Gefahr, umgreifende soziale und politische Problemstellungen dem einzelnen Individuum als Aufgabe der Verarbeitung und Überwindung anheimzugeben, statt die notwendigen Ressourcen und Bedingungen für ein gerechtes und solidarisches Miteinander in den Blick zu bringen.23 Für einen pädagogischen Umgang mit der Erfahrung des Traumas kommt es auch darauf an, die soziale Seite der Bildung und damit die soziale Seite der Subjektwerdung in den Vordergrund zu stellen, will man nicht die Traumatisierung bzw. den Wahn einer kohärenten Identität wiederholen. Eine Wunde – ein Trauma – ist etwas, zu dem man sich unmöglich adäquat verhalten kann, weil es weder Teil des Eigenen noch Teil des Anderen ist, etwas das dauerhaft fremd und eigen bleibt. Die Wunde – das Trauma – ist zugleich Zeichen für die Möglichkeit der Veränderung, für die schmerzhafte Unumgänglichkeit des Loslassens und niemals Ankommen-Könnens. Die Wunde des Traumas ist das Zeichen der Verletzbarkeit, die durch das Eingebundensein in Anderenbezüge und Ausgesetzt-Sein von Selbstbezügen entsteht. Literatur Ahrens, Sönke/Wimmer, Michael (2012): Partizipation, Versprechen, Probleme, Paradoxien. In: Brenne, Andreas/Sabisch, Andrea/Schnurr, Ansgar (Hg.): r e v i s i t. Kunstpädagogische Handlungsfelder. #teilhaben #kooperieren #transformieren. München: Verlag Kopaed, 19-39. Arendt, Hannah (1967): Vita activa oder vom Tätigen Leben. München: Piper. Arendt, Hannah (2000): Die Krise in der Erziehung (1958). In: Dies. (Hg.): Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken. Band I. München: Fink, 255-269. Babka, Anna (2003): Alterität. In: Produktive Differenzen. Forum für Differenz- und Genderforschung: Glossar. [http://differenzen.univie.ac.at/glossar.php? sp=7; abgerufen am 19.10.2016].

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„Always placed as the Other“ Rassialisierende Anrufungen als traumatische Dimension im Kontext Schule D ENISE B ERGOLD -C ALDWELL , B ETTINA W UTTIG , J ASMIN S CHOLLE Einführung Traumatische Ereignisse können sehr unterschiedlich sein; häufig werden jedoch eher überwältigende Naturereignisse, von Menschen verursachte Katastrophen, schwere Unfälle und andere schwerwiegende Erlebnisse als traumatisches Geschehen bezeichnet. Doch auch die alltägliche Erfahrung sozialer Ungleichheit und hieraus resultierende Diskriminierungen können, wenn auch nicht im klinischen Sinne als traumatisch, so doch in einer traumatischen Dimension begriffen werden. Der Begriff der traumatischen Dimension meint in Abgrenzung zur Diagnose ,Trauma als posttraumatische Belastungsstörung‘, nicht die Krankheit eines Individuums, sondern Effekte auf der somatischen und affektiven Ebene der Einzelnen, die aus der Einbindung in veränderbare soziale Verhältnisse resultieren. Die „Traumatische Dimension“ soll einen Thematisierungshorizont bilden, für die Verletzungen, die in Subjektivierungsprozesse als Werdung und Unterwerfung in eine diskriminierende gesellschaftliche Matrix eingeschrieben sind (Wuttig 2016). Mit dieser Sichtweise bewegen wir uns im Denkhorizont der poststrukturalistischen und postkolonialen Traumastudien: Hier wird Trauma als eine Art beständiges ,Hintergrundrauschen‘ aufgefasst, das die politischen und sozialen Verhältnisse, die dominierenden kulturellen Diskurse und Praxen erzeugen und innerhalb derer die Einzelnen sich überhaupt erst als Subjekt konstituieren und wahrnehmen können (Fanon 2008; Brown 1993; Cvetkovich 2003; Velho 2011; Kilomba 2010). Gemeint ist damit, dass rassialisierende Gewaltverhältnisse, die für die Einzelnen als Formen der Erfahrung alltäglich sind, als potentiell traumatisch (ohne diese zu pathologisieren und damit Behandlungssubjekte zu erzeugen) mit bedacht werden müssen. Dieses ,Hintergrundrauschen‘ ist

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orchestriert durch Macht- und Herrschaftsverhältnisse, denen die Einzelnen sich nicht ohne weiteres entziehen können, und die das Individuum als Subjekt einer rassistischen Matrix erzeugen. Der Begriff ,Hintergrund‘ wird hier keinesfalls verwandt, um Rassismuserfahrungen zu banalisieren, vielmehr sollen Verletzungen, die sich aus den Vulnerabilitätssetzungen der rassistischen Matrix ergeben, in ihrer Beständigkeit herausgearbeitet werden. Aus der Perspektive der Traumaforschung gesprochen heißt dies: Trauma findet nicht in einem ,geräuschlosen‘ Raum jenseits von sozialen Positionierungen und Diskriminierungsverhältnissen statt. Diese traumatische Dimension, die von vielen als alltägliche Ansprache wahrgenommen wird, sich zu den Verhältnissen zu verhalten, und die konkret leiblich als Schmerzerfahrung erlebbar ist, kann innerhalb unterschiedlicher Kontexte von einzelnen und kollektiven Akteur_innen, aber auch und gerade durch institutionalisierte Settings, ausgelöst werden. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit dieser traumatischen Dimension im Kontext Schule und fokussiert dabei auf schulische Erlebnisse mit und entlang dieses dispositivierten ,Hintergrundrauschens‘, das für viele Menschen in der alltäglichen Konfrontation mit Rassismus in Form von diskriminierenden Sprechweisen, Bildern und Vorstellungen besteht. Ein ,Hintergrundrauschen‘, das über Artikulationen verstärkt und befeuert wird, die als rassialisierende1 Anrufungen2 auf die betroffenen Menschen ähnlich wie ein Trauma wirken können. Im Fokus unseres Beitrags stehen folglich Sprechweisen, Darstellungen und Differenzkonstruktionen,

1

Die Bezeichnung ,Rassialisierung‘ fokussiert auf die Konstruktion, auf den Prozess des beständigen Herstellens von Unterschieden über rassistische Zuordnungen, die von außen vorgenommen werden. Die Zuschreibungen finden über äußerliche Merkmale statt und werden in Zusammenhang mit charakterlichen, kognitiven und emotional-sozialen Eigenschaften eines Menschen gebracht. Entgegen einer biologisch herbeigeführten Rassifizierung kann heute auch von einem Kulturrassismus gesprochen werden. In diesem Zusammenhang werden kulturelle Merkmale bemüht, um die Konstruktion des differenten Anderen herzustellen (Hall 2000).

2

Wir beziehen uns hier auf Judith Butler (1990, 1997, 1998, 2001). Mit ,Anrufungen‘ (Anreden) meint Butler im Anschluss an Louis Althusser Sprechweisen, die sich wie Taten verhalten und in einem „Akt der Konstituierung [...] das Subjekt ins Leben rufen" (Butler 1998: 43). Auch im Anschluss an Foucault hat das Subjekt und historisch differente Weisen der Subjektivierung eine zentrale Bedeutung (vgl. etwa Dreyfus/Rabinow 1994). Da Foucault Subjekt-Werdungen mit Rückgriff auf dispositive Verhältnisse von Diskursen, Praktiken und spezifischen Regierungsweisen beschreibt, beziehen sich bspw. Stuart Hall (2000) und Edward W. Said (2008) auf sein Konzept des Diskurses.

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die auf einer rassifizierenden Ideologie beruhen. Diese Anrufungen als rassialisierte ,Andere‘, welchen Schwarze3 Menschen und/ oder People of Color4 täglich begegnen, können sich, wie wir im Folgenden zeigen werden, traumatisch auswirken (Velho 2011; Kilomba 2010). In der Absicht, kritisch gegen eine rassifizierende Matrix zu schreiben, sind wir darauf verwiesen, unsere jeweilige Sprecher_innenposition kenntlich zu machen, um dadurch weiße-Normalität zu hinterfragen.5 Wir schreiben aus einer Schwarzen und zwei weißen6 Perspektiven; unser Ringen um Worte und um die Möglichkeit des Ausdrucks – das Unsagbare zu sagen − ist diesen Verflechtungen und Positioniertheiten geschuldet. Da wir aus unterschiedlichen Perspektiven und Postionen gegen traumatisierende Diskriminierungen arbeiten, ist es für uns wichtig, neben der Problemskizzierung auch eine Denk- und Handlungsperspektive zu entwickeln und zur Diskussion zu stellen. Zunächst werden wir die subjektivierenden Dynamiken alltäglicher Rassifizierungen theoretisch skizzieren, um im Anschluss, anhand eines Beispiels darzustellen, auf welchen Ebenen diese Zuschreibungen im Kontext Schule wirken können. Mit dem Beispiel wollen wir keine ,Opfer‘perspektiven verfestigen. Auch bzw. gerade weil Rassifizierungen nicht immer direkt (für alle) ersichtlich sind, wollen wir an dem gewählten Beispiel zeigen wie sie ihre Wirkungen entfalten können. Dabei bezieht sich das Beispiel nicht auf Beschimpfungen sondern verdeutlicht, wie banal (Terkessidis 2004) und alltäglich (Mecheril 2007: 3) Rassifizierungen ihre Wirkung entfalten. Verletzende und rassifizierende

3

Die Bezeichnung ,Schwarz‘ ist eine politische Bezeichnung und kennzeichnet, dass Menschen, die sich dieser Beschreibung zuordnen, negativ von Rassismus betroffen sind. Die Bezeichnung ist aus emanzipativen Kämpfen hervorgegangen (Eggers u.a. 2005).

4

Mit dem Begriff ,People of Color‘ sind generell Menschen angesprochen, die Rassismuserfahrungen machen. Der Begriff soll einer Ethnisierung der einzelnen Menschen vorbeugen und ihre gemeinsame Erfahrung als ,negativ von Rassismus betroffen‘ in den Vordergrund bringen (Ha 2012).

5

Wissen wird häufig als etwas dem westlich-weißen Wissenszentrum zugeschriebenen imaginiert. Deshalb ist es wichtig, auch andere Positionen in diesem Diskursfeld zu verdeutlichen, um somit eine unhinterfragte Norm zu destabilisieren.

6

Weiß bezeichnet hier ebenfalls eine politische Positionierung, die im Hinblick auf Rassismus als die Position betrachtet werden kann, welche die superiore in dieser Bezogenheit ist. Weiß wird aufgrund des Charakters der Konstruktion kursiv gesetzt, jedoch im Gegenteil zu ,Schwarz‘ klein geschrieben, da diese Bezeichnung nicht aus emanzipativen Kämpfen hervorgegangen ist (Eggers u.a. 2005).

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Normalitäten werden in einem weiteren Schritt theoretisch beschrieben und wir zeigen auf, warum wir von Gewaltverhältnissen sprechen. Dann wird eine mögliche Kerndynamik von Traumatisierungen angesprochen, um unter Problematisierung der hegemonialen Verwendung des Traumabegriffes aufzuzeigen, wie rassialisierende Bemerkungen und Anrufungen als alltägliche traumatische Dimension wirken. Zum Abschluss werden wir konkreten Bezug auf Schule als Institution und Feld pädagogischen Handelns nehmen. Wir werden hier Empowermentprozesse sichtbar machen und zugleich auf die Notwendigkeit der Arbeit an einer je eigenen diskriminierungskritischen Haltung von Lehrkräften eingehen. Hierbei beziehen wir uns insbesondere auf Grundgedanken des AntiBias Ansatzes7 sowie auf Erkenntnisse aus den critical whiteness studies8 und postkolonialer Theoriebildung9. Durch die Verknüpfung dieser Theorien mit eigenen, kritisch gewendeten, Aspekten traumapädagogischen Denkens werden darüber hinaus neue Handlungsmöglichkeiten sichtbar. Rassismus, seine ,Normalität‘ und epistemische Gewalt Rassismus zu thematisieren ist in Deutschland kein sehr leichtes Unterfangen, wird dieser doch häufig tabuisiert oder aber mit Gewalttätigkeit, Rechtsradikalismus und Pöbelei in Verbindung gebracht (Broden/Mecheril 2011: 12). Deutschland hat, aufgrund seiner nationalsozialistischen Vergangenheit, im Hinblick auf die Analyse und den Umgang mit Rassismus die Problematik, dass die Rede von ‚Rassismus‘ direkt an Vorstellungen und Zusammenhänge des Nationalsozialismus geknüpft ist. Astrid Messerschmidt spricht von einer „unabgeschlossenen Geschichte und diskontinuierlichen Gegenwart“ (Messerschmidt 2009: 60) in einer postnationalsozialistischen Gesellschaft. Auch Kolonialismus, dessen (Aus-)Wirkungen auf den Nationalsozialismus und die Präsenz kolonialer Fortführung, Politiken und Bilder werden im bundesdeutschen Raum kaum zum Thema gemacht (Castro Varela/Dhawan 2009a: 7). Zum einen, weil die Beschäf-

7

Anti-Bias kann sowohl als Haltung, als auch als Ansatz diskriminierungskritischer

8

Die Critical Whiteness Studies beschäftigen sich kritisch mit der Konstruktion von

(Bildungs-)Arbeit, wie auch als institutionelle Ausrichtung bezeichnet werden. weiß-sein als Norm und ihrer unhinterfragter Wirkmächtigkeit als ,unmarkierter Markierer‘ (Eggers u.a. 2005). 9

Die Postkoloniale Theoriebildung ging historisch aus Literature Studies des Commonwealth hervor. Zum Thema haben sie (post-)koloniale Konfigurationen, Machtund Herrschaftsverhältnisse und deren Wirkungen in den westlichen und auch in den vormals kolonialisierten Ländern (Castro Varela/Dhawan 2009a).

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tigung als nicht notwendig empfunden wird, da die Kolonialzeit Deutschlands ,nur‘ von geringer Dauer war10 und zum anderen die Beschäftigung mit dem Holocaust zunächst im Vordergrund stand und die Kontinuität und Parallelen nicht betrachtet wurden. So stehen wir im bundesdeutschen Kontext vor der Problematik, rassialisierende Anrufungen und Rassismus als machtvolle Herrschaftspraxis und theoretische Perspektive zu kennzeichnen und gleichzeitig der normativen Vorstellung, der gemäß ‚Rassismus‘ ausschließlich Rechtsradikalismus sei und häufig mit direkter körperlicher Gewalt in Zusammenhang stehe, entgegenzuwirken. Valerie Batts (2001) spricht bezogen auf den US-amerikanischen wie den südafrikanischen Kontext vom Übergang eines old fashioned racism, der Festschreibung rassistischer Verhaltensweisen und Praktiken in Gesetzen, Institutionen und Strukturen, hin zu modern forms of racism. Modern forms of racism sind negative Vorstellungen, Bilder und Gefühle weiß positionierter gegenüber Schwarz positionierten Menschen, die an old fashioned racism anknüpfen, dessen Wirkweisen auch nach seiner offiziellen Abschaffung auf individueller, zwischenmenschlicher, institutioneller wie kultureller Ebene, präsent sind (ebd.: 7ff.). Wie im Weiteren an einem Beispiel aus dem Schulalltag deutlich wird, kann auch bezogen auf den hiesigen Kontext von einer spezifischen Form des modern racism gesprochen werden, der in Vorstellungen und Bildern von den ,Anderen‘ und die daran geknüpfte ungleiche Verteilung von Anerkennung und Lebenschancen stets aufs Neue erzeugt wird. Rassismustheorie als Kritik- und Analysekategorie zu nutzen bedeutet, Prozessen des Unterscheidens aufgrund vermeintlicher Zugehörigkeiten und damit verknüpften Vorstellungen auf den Grund zu gehen und Zuschreibungen von Identitäten, die über natio-ethno-kulturelle11 Markierungen vorweggenommen werden, zu hinterfragen. Es bedeutet auch, gesellschaftliche (Ungleichheits-) Zustände, die aufgrund von machtvollen Differenzpraxen hervorgerufen werden, zu verdeutlichen. Spätestens mit der PISA-Studie wurde deutlich, dass Menschen mit einem sogenannten Migrationshintergrund in Deutschland potentiell bildungsbenachteiligt sind (Gomolla/Radtke 2009; NeRaS 2014). Dies ist zum einen auf die konkrete Struktur der Institution Schule zurückzuführen, dies z.B. weil Unterricht häufig kulturelle Güter (wie Sprache) nur auf Deutschland

10 Deutschlands Kolonialzeit dauerte etwa dreißig Jahre. Während dieser Zeit sind viele Gräueltaten an den Kolonisierten begangen worden. (Völkermord an Herero und Nama, Morde im Zusammenhang mit dem sogenannten Maji-Maji Aufstand)(Castro Varela/Dhawan 2009a: 11f.). 11 Paul Mecheril (2003) verwendet diese Beschreibung um aufzuzeigen, an welche Dimensionen Unterscheidungspraxen anknüpfen können.

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fokussiert und die Möglichkeiten von zweisprachigem Unterricht nur marginal anbietet; und zugleich zeigen, gerade innerhalb dieser Struktur, gesellschaftliche Bilder und Vorstellungen von den jeweils ,Anderen‘ und daran geknüpfte Lernelemente im Unterricht, Kompetenzzuschreibungen und Aberkennungen, ihre Wirkung. Wie im Beispiel deutlich wird, können diese in sehr subtiler Form im Schulalltag präsent sein. Entgegen der oben aufgeworfenen Problemkennzeichnung, oder eben gerade innerhalb dieser, spricht Paul Mecheril von einer „Normalität des Rassismus“ (Mecheril 2007, eig. Herv.). Er kennzeichnet damit seine gewaltvolle Alltäglichkeit und das Begehren, über rassistische Zuschreibungen eine Ordnung zu etablieren, die als solche a-priori nicht existiert. Vorstellungen und Be-Bilderungen von Kolonisierten – deren angenommene Exotik und deren Anders-Sein − werden stets aktualisiert und erneut revitalisiert (Bergold-Caldwell 2014; Danielzik/Bendix 2010). Die Produktion von Bildern über die ,Anderen‘ schließt an Diskurse und Machtformationen an, die aus der Kolonialzeit stammen. Nikita Dhawan und Maria do Mar Castro Varela sprechen von einer Ränder-Zentrums Dualität, in welcher das Zentrum (und damit das vermeintlich ,Richtige‘ und ,Normale‘) als weiß-westlich gedacht wird und alles Andere davon abweicht (Castro Varela/Dhawan 2003). Diese Ränder-Zentrum, falsch-richtig Zuordnung ist eine Form der Gewalt, die an übergeordnete Diskurse, gesellschaftlich geteilte und akzeptierte Sprechweisen und Darstellungen anknüpft und als epistemische Gewalt bezeichnet wird. Die Analyse und Anstöße zur Überwindung dieser Gewaltform ist Ziel des Artikels, in dem wir diese Beziehung und Herstellung des ,Richtigen‘ und des ,Falschen‘, oder des Zugehörigen und Nichtzugehörigen, oder der „Normalität und Abweichung“ (Busche/Stuve 2012) einer Kritik unterziehen und darüber hinaus diese Gewaltform in ihrer verletzenden, potentiell traumatischen Dimension in den Fokus nehmen und veränderbar machen wollen. Rassistisches Trauma und Schule Im folgenden Beispiel, welches aus einem Tagebucheintrag einer Schülerin stammt und für den Film PERSPEKTIVWECHSEL II – SCHWARZE KINDER UND JUGENDLICHE (2009)12 verwendet wurde, wollen wir auf unterschiedliche Ebenen von epistemischer Gewalt und (post-)kolonialen Konfigurationen in der Schule/im Unterricht hinweisen, um in einem weiteren Schritt zu argumentieren, wa-

12 Der Film erklärt Rassismus und seine Wirkungen und will zur Sensibilisierung von Pädagog_innen/Lehrkräften beitragen.

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rum diese Sprechakte im Unterricht verletzend sind. Auszug aus dem Tagebuch einer Schwarzen Schülerin: Montag 22.09.08, Englischstunde … [Die Schüler_innen der Klasse besprechen] … Gruppenergebnisse zum Thema: Wäre es hilfreich, eine mobile Krankenversorgung für AidsKranke in ,Afrika‘ einzurichten. Ergebnisse der zweiten Gruppe: Eine Schülerin argumentiert dagegen, weil die Leute aus den ,Dörfern‘, die Sprache der Ärzte ja nicht verstehen würden.

Die Schülerin beschreibt weiter in ihrem Tagebuch: „Die Diskussion war wiederum sehr klischeehaft aufgebaut, allein schon wie sie über die Menschen gesprochen haben. Die Aufgabe selbst finde ich schon diskriminierend, weil so getan wird, als wäre Aids überall in Afrika ein großes Problem. Es werden nur die schlechten Sachen herausgepickt und wiedergekäut. Da ich mittlerweile schier am Platzen war, fragte ich meinen Banknachbarn, warum die alle denken, dass Menschen in ,Afrika‘ alle in Dörfern leben. Ich erwähnte meine Reise nach Kenia und dass es dort große Städte mit jeder Menge Hochhäusern gab und die Menschen alle sehr gut Englisch sprachen...“ (Ofuatey-Rahal 2012, eig. Herv.)

Auf drei Ebenen wollen wir anhand des Beispiels aufzeigen, welche rassialisierten Vorstellungen von den ,Anderen‘ eine Rolle zu spielen scheinen und diese Assoziationen von der Lehrperson wahrscheinlich unbewusst evoziert wurden Fragen lässt sich jedenfalls, warum die Lehrperson nicht eingegriffen hat. Unterscheiden lassen sich die drei Ebenen in eine globale – den Kontinent Afrika betreffende Narration – und Diskurse, die an Vorstellungen von Modernität und Nicht-Modernität anknüpfen, welche sich auf die zweite und dritte Ebene beziehen. Zur ersten Ebene: Die Verallgemeinerung im Kontext von Ländern auf dem Kontinent Afrika über ,Afrika‘ im Allgemeinen zu sprechen, ist eine sehr bekannte, jedoch zu kritisierende Sprechweise. Die Vielfältigkeit jeweiliger afrikanischer Staaten erfährt so eine gewalttätige Homogenisierung, die vielmehr auf westlichen Imaginationen und Diskursfiguren als auf tatsächlichen gesellschaftlichen Strukturen beruht. Zudem wird die Größe und Bedeutung des afrikanischen Kontinents unkenntlich gemacht. In diesem Kontext des Allgemeinen dann noch von den „Aids-Kranken in Afrika“ zu sprechen, erschafft eine Denkweise, die es erlaubt, den afrikanischen Kontinent in einen generellen Zusammenhang mit der Aids-Problematik zu stellen. Die Sprechweise schließt an Bilder und Berichte an, die den Kontinent Afrika als „Inkarnation apokalyptischer Krisen, Katastrophen [und] Miseren“ (Mabe 2009, zitiert nach Jacobs/Weiker

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2011: 200) darstellen und damit ein problematisches Nicht-Wissen um die Differenziertheit afrikanischer Länder, Kulturen, Sprachen und Menschen eröffnet. Dies jedoch nicht unter Preisgabe des eigenen Nicht-Wissens, sondern vielmehr getarnt unter dem Deckmantel eines als selbstverständlich erscheinenden ,Allgemein-Wissens‘. Eine weitere Ebene ist die der normativen Gewalt der Sprache (Dhawan 2013). Zum einen wird deutlich, wer aus welcher Sprecher_innenposition über wen sprechen kann, dazu angehalten wird und damit eine weiße Subjektivierung erfährt (Wollrad 2011). Angesprochen ist damit eine Ebene, die im Geschehen Sprecher_innenpositionen verteilt und sie zu wahrhaften Orten des legitimen Sprechens macht, die machtvoll verteilt sind. Zum anderen wird eine hegemoniale Sprach-Normalität deutlich, die sich zugleich mit einer Imagination über die Anderen verbindet. Im Beispiel wird behauptet: „weil die Menschen aus den Dörfern ja die Sprache der Ärzte nicht verstehen“. Fraglich ist zunächst, warum die Ärzte schon von vornherein nicht als der jeweiligen Sprache mächtig, vermutlich als nicht dem Land zugehörig, imaginiert werden. Es scheint so, als würde sich in der Vorstellung der Schüler_innen der Arztberuf und die Zugehörigkeit zu einem afrikanischen Land ausschließen; bzw. wird deutlich, dass die Vorstellungen eher davon ausgehen, dass Ärzte aus einem helfenden Land kommen. Viele Schüler_innen argumentieren, als wäre das Sprachproblem der Menschen ein individuelles, von den Menschen vor Ort zu lösendes Problem. Professionelles Handeln würde voraussetzen, dass die Ärzte die Sprache des Landes beherrschten oder zumindest dafür Sorge trügen, mit dieser Problematik umzugehen. Mithin scheint hier eine ,Sprache der Normalität‘, also die Sprache westlicher Gesellschaften angesprochen zu sein, die wiederum eine ZentrumsRand-Beziehung (s.o.) aufmacht. Als dritte und letzte Ebene ist die Imagination des dörflichen Lebens zu nennen. Die Schüler_innen nehmen vorweg, dass alle Menschen in ,Afrika‘ in einem Dorf leben und eine sehr schlechte Infrastruktur haben. Zusammenfassend lässt sich, mit Katharina Oguntoye gesprochen, feststellen: „Ebenso wenig wie die imperialistische Vergangenheit in den Köpfen der Menschen bewältigt ist – denn sie endete nicht durch Einsicht sondern militärische Niederlagen – sind die damit verbundenen Ideologien über ,Schwarz‘ und ,Weiß‘ überwunden“ (Oguntoye u.a. 1991: 29). Um an späterer Stelle herauszuarbeiten, wie tief verletzend die konstante Begegnung mit den an dieser Stelle aufgezeigten Imaginationen sein kann, wenden wir uns nun dem Begriff des Traumas und seiner normativen Einbindung, daran anschließend der körperlichen Kraft, die Sprache entfalten kann, zu.

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Trauma (und Normativität) Trauma − griech.: , Wunde oder Verletzung − ist in seiner allgemeingültigsten Definition eine paradoxe, plötzliche, überwältigende Erfahrung eines katastrophenhaften Ereignisses (Caruth 1996: 11). Darüber hinaus ist ein traumatisches Ereignis dadurch gekennzeichnet, dass auf dasselbe eine verzögerte Antwort folgt, die sich in einer unkontrollierten inneren Wiederkehr der Situation und in Alpträumen, ,Panikattacken‘, Dumpfheit, dem Gefühl nichts zu fühlen, erstarrt zu sein, ,neben sich zu stehen‘, handlungsunfähig, wie gelähmt oder fremd im eigenen Leib zu sein, zeigen kann (Caruth 1996: 62; Levine 1998: 148ff.; Sachsse 1998: 28ff.). Die akute Gefahr für Leib und Leben in katastrophalen Situationen kann dabei nicht in situ kognitiv/bewusst verarbeitet werden. Sie wird sozusagen verpasst. Genau der Aspekt des nicht in-situ-Verstehens der Verletzung ist für den an ein Trauma geknüpften Verlust der Symbolisierungsfähigkeit dieser Erfahrung ,verantwortlich‘. Trauma ist eine Erfahrung, die nicht geltend gemacht werden kann, weil sie noch nicht gewusst wird (vgl. Caruth 1996: 62). Trauma ist der Schmerz des Unsagbaren, eine Stille – die womöglich genauso weh tut, wie das Sprechen und Hören einer Sprache der Missachtung. Wenngleich in jüngster Zeit von vielen Traumatolog_innen eine systematische Erweiterung des Traumabegriffes, bspw. als emotionales Trauma, vorgenommen wird (Huber 2003; Hirsch 2010), steht eine systematische Einarbeitung und Anerkennung des Wissens um Macht- und Herrschaftsverhältnisse in traumatherapeutische und traumapädagogische Theorie-Praxiskontexte noch aus. Rassialisierende alltägliche Zumutungen müssen unseres Erachtens unter Rückgriff und Einarbeitung postkolonialer Wissensbezüge, als potentielle traumatisch bedacht werden. So lässt sich ein kritischer Blick auf das Zustandekommen von Diagnoserastern einleiten. Die US-amerikanische weiße Psychologin Laura S. Brown hat in diesem Zusammenhang bereits 1993 das US-amerikanische Klassifikationssystem für psychische Störungen DSM (3R) und darin den Passus des Ereignisses „außergewöhnlichen Ausmaßes“ (Brown 1993: 101)13, der die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) umschreibt, einer Hegemonie- und Herrschaftskritik unterzogen. Sie kritisiert, dass menschliche Existenz und Verletzbarkeit eine normative Begrenzung erhält, die sich in Diagnosemanualen implizit aus einer weißen männlichen prototypischen Erfahrungsform speist. Das imagi-

13 Im DSM-3R lautete die entsprechende Formel: „an experience outside the range of normal human experience“ (DSM-3R, zit. n. Brown 1995: 100). Auf diese wie andere Kritiken hin, wurde der Passus im DSM-IV nicht übernommen, während er in der ICD-10 nach wie vor enthalten ist.

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nierte durchschnittliche Leben der Angehörigen einer weißen, gesunden, christlich geprägten, gebildeten Mittelschicht als männlichem Erfahrungsraum wird so zum dominierenden und gleichsam normativen Maßstab, an dem Abweichungen, Schmerzerfahrungen und das Pathologische ausgerichtet werden (Brown 1993: 103). Dasjenige aber, was People of Color womöglich und situativ täglich an subtilen und offenen Entwürdigungen erleben, Zustände die einen manchmal zum ,Durchdrehen‘ bringen können, und eben die Schmerzerfahrungen, die durchaus im Spektrum menschlicher Existenz unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen gemacht werden, sind in ihrer sozialpolitischen Dimension, sobald sie einmal in den Bereich des individuellen Körpers verschoben sind, verunsichtbart und individualisiert. Rassismuserfahrung taucht dann im schlimmsten Fall – bis zur Unkenntlichkeit verzerrt − als Diagnose wieder auf. Inwieweit werden also durch hegemoniale Traumanarrative nicht nur diejenigen, die von sozialem Ausschluss bedroht sind, nicht angemessen repräsentiert, sondern werden durch das systematische Dethematisieren von Herrschaftsverhältnissen abermals Räume des Unsagbaren geschaffen, wird Verstehen verunmöglicht, mithin erneut verletzt? Die Normativität erzeugende Hegemonialität von Traumadiskursen kreist unseres Erachtens um zwei Annahmen: Die Postulierung von Trauma als einer außergewöhnlichen Erfahrung, vor dem Hintergrund einer universellen, sicheren Normalerfahrung der Mehrheitsgesellschaft, und die Annahme, Auslöser für ein Trauma seien mehrheitlich physischer Natur. Normative Wahrnehmungsmuster prägen dabei traumatherapeutische Wissensproduktionen, die gleichsam an der definitorischen und damit exkludierenden Praxis von Vulnerabilitätsräumen mitwirken. Das hängt auch damit zusammen, dass präreflexive (unbewusste) Herrschaftssemantiken in Sprech- und Sichtweisen sämtlicher Akteur_innen, aber im Besonderen derjenigen, die von rassialisierenden und heterosexistischen Verhältnissen profitieren, eingelassen sind (Mecheril u.a. 2010). Oft wird so aus der Perspektive der imaginierten Mehrheitsgesellschaft gesprochen, als dessen Teil Privilegierte sich meist fühlen, samt der daraus sich erzeugenden mangelnden Notwendigkeit einer Reflexion von Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Eine solche Ignoranz können sich die ,Betroffenen‘ nicht leisten, für sie ist die Reflexion von Macht- und Herrschaftsverhältnissen (conciousness raising) eine notwendige Überlebensstrategie, um überhaupt in den Verhältnissen leben zu können, ohne an diesen zu verzweifeln. Die privilegierte Seite kann hingegen sprechen, ohne vom Grunde zu wissen, dass es sich um ein regelgeleitetes und somit privilegiertes Sprechen handelt. Dabei wird die eigene soziale Realität normativ gesetzt und eine aufgrund der eigenen Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft erfahrbare Situation zur Situation aller gemacht. In diesem Zuge wird vor dem Hintergrund der normalen ,sicheren Erfahrung‘ eine

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traumatisierende Situation als ,außergewöhnliche Katastrophe‘ gegenübergestellt, und ein traumatisches Ereignis gerne als außergewöhnlicher ,physischer‘ Übergriff mit seelischen Folgen auf die Integrität des Organismus skizziert. Beide Hegemonie-Aspekte, der der außergewöhnlichen Erfahrung und der des physischen Übergriffes, sind Diskursfiguren, die ineinander wirken und darüber die ganz ,normalen‘ und alltäglichen potentiell traumatischen Sprechweisen und Rituale in ihrer Körperkraft unsichtbar machen. Brown (1993) skandalisiert entsprechend die mit der Dethematisierung und Ausblendung der sozialen Alltagsrealität vieler nicht-weißer, nicht-gesunder und eindeutig als männlich* zu lesender Menschen in psychiatrischen Manualen verbundene Zementierung von Machtverhältnissen. Über den Begriff des „insidious trauma“ kennzeichnet Brown (1993: 103) Verhältnisse von Ausschluss, die über die Unsichtbarmachung von Erfahrungen funktionieren. Darin liegt ihre potentiell traumatisierende Kraft. Sie fasst zusammen: „Feminist analysis also asks us to understand how the constant presence and threat of trauma in the lives of girls and women of all colors, men of color in the United States, lesbian and gay people, people in poverty, and people with disabilities has shaped our society, a continuing background noise rather than an unusual event“ (Brown 1995: 103).

Marginalisierung kann, so Brown (1995), ein Hintergrundgeräusch bilden, ein Trauma in Gestalt einer schwer aufzuweichenden traumatischen Dimension. Dabei muss es sich nicht um einen ,physischen‘ Übergriff handeln. Vielmehr, so machen poststrukturalistische Subjekttheorien deutlich, können Sprechweisen und Alltagsrituale darüber Schmerzerfahrungen entstehen lassen, dass sie prekäre Sphären erzeugen, dass sie das Subjekt an einen Ort sprechen, an dem der Weg der anerkannten Subjektformierung entzogen scheint. Es ist dabei die unhinterfragte und für die Einzelnen in ihrer Lebenspraxis unmöglich zu erreichende (Gewalt der) Normativität, die Prekarität für alle Menschen zum immer möglichen Erfahrungsraum werden lässt, auch wenn es hierin unterschiedliche sozial hergestellte Vulnerabilitätsebenen gibt. Traumatische Dynamiken rassifizierender Anrufungen und die Körperkraft von Sprache Die mit der Anrufung (Anrede) verbundene soziale Markierung, als eine Sprache der ,Macht‘, etwa die immer wiederkehrende Frage nach der Herkunft, die Schwarze Menschen und People of Color im bundesdeutschen Alltag gestellt

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bekommen (Kilomba 2010: 64), kann als Form der psychischen Umwendung14 eine Körperkraft entfalten, die sich ähnlich einem Trauma von ,physischer Natur‘ anfühlen mag (nicht nur bei dem als solchen Individuierten, sondern auch bei den ,anderen‘ Anwesenden), in Form einer somatischen Resonanz: Erstarrung, Lähmung, Bewegungsunfähigkeit, Atemnot, Unklarheit, dichter Nebel und Verwirrung.15 Dies wird deutlich, wenn die Schülerin in der Englischstunde in Bezug auf die Reproduktion stereotyper Darstellungen Schwarzer Menschen davon spricht, dass sie „mittlerweile schier am Platzen war“. Diese Formulierung macht deutlich in welche Not − sprich: emotionale Enge − die Schülerin gekommen war. Als Schwarze Schülerin identifiziert sie sich möglicherweise mit Menschen über die hier in einer kategorialen und einer westlichen Hybris und darum sehr abfälligen Art und Weise gesprochen wurde. Zudem wird sie von außen, von ihren Mitschüler_innen, als Schwarz identifiziert und mithin als imaginierter Teil der Schwarzen Gruppe gesehen. Wenn wir hier davon sprechen, dass die Schülerin „schier am Platzen“ war und dies in den Kontext eines potentiellen Traumas setzen, erzeugen wir eine Bewegung, die den normativen Traumadiskurs zugleich als Referenzpunkt nutzt, indem wir mit diesem auf eine somatische Reaktion verweisen, nämlich, die zunächst unartikulierbare somatisch empfundene Wut, die sich wiederum aus der Ansprache des rassistischen Sprechens speist. Zugleich sprengen wir dessen normative Grenzen: Es handelt sich hier nicht um ein zu individualisierendes klassisches Traumasymptom, sondern Trauma wird zur Chiffre für eine Verletzung, einer leiblichen Materialisierung entlang einer rassistischen Matrix. Die Unterscheidung in eine berechtigte Empörung auf der einen Seite und ein Traumasymptom auf der anderen sähe nur den Aspekt der Sprechfähigkeit der Schülerin, würde aber die primäre Wucht der Aufschlagsenergie rassistischen Sprechens verkennen oder übersehen. Wäre die Schülerin weniger ,resilient‘, könnte diese Situation ,in eine Dissoziation führen‘ (um mit den Worten der konventionellen Traumaforschung zu sprechen, s.o.). Somit verweist ihre somatische Reaktion auf das dispositivierte Hintergrundrau-

14 Laut Butler (1990, 1997, 1998, 2001) sind Identitäten keine entwicklungspsychologischen Ziele, wie z.B. im Kontext hegemonialer Traumaverständnisse (Wuttig 2016), sondern werden entlang normativer Zwänge durch wiederholte performative Sprechakte stets aufs Neue hervorgebracht (Butler 1990: 49). 15 Damit ist ein „gegenseitige[s] aufeinander einstimmen, [die] spontane Spiegelung körperlicher-seelischer Zustände“ gemeint (Maurer/Täuber 2010: 302). Verletzungen anderer können sich situativ wie ,eigene‘ Verletzungen anfühlen. Es ist dann, als ob Verletzung im Raum ist. Zur Räumlichkeit von Gefühlen siehe auch Schmitz (2007: 57ff.).

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schen als machtvolle traumatische Dimension, wenngleich diese Schülerin sprechfähig (empowered) genug ist, um sich dem herrschenden Diskurs und seinen Effekten entgegenzustellen (was aber nicht für selbstverständlich genommen werden kann). Die psychische Umwendung der Anrufung entfaltet hier eine regelrechte Körperkraft. In einem ähnlichen Zusammenhang beschreibt Sarah Bergh (2010) die Situation Schwarzer Menschen in Deutschland als potentiell unsicher; als eine Art beständiges ,Auf-der-Hut-Sein‘ vor möglichen rassialisierenden Markierungen, wenn Räume betreten werden. Nicht nur außergewöhnliche physische Gewalten können verwunden, für viele sind es die alltäglichen sozialen Realitäten, epistemische Gewalten, denen sie ausgesetzt sind (s.o.), verletzende Anreden, ,ganz normale‘ Alltagssituationen und Sprechweisen, die eine Bedrohung der (symbolischen) Existenz bedeuten können und eine schmerzhafte, unsagbare, traumatische Dimension bilden. Zuschreibungen und Zuordnungen von außen, die sich − ähnlich dem genannten Beispiel − über das Ordnungssystem Rassismus ergeben, erfahren People of Color täglich. Trotz der täglichen Erfahrung, gibt es keine Ebene der Mitteilung, um zu beschreiben, was passiert ist und warum diese Erfahrung schmerzhaft ist. Grada Kilomba spricht von einer “Brutal mask of speechlessness“ (Kilomba 2010: 14). Das Subjekt wird auf mindestens zwei Weisen am Sprechen gehindert. Mit Grada Kilomba durch eine Maske, die im kolonialen Kontext materiell und heute eher symbolisch existiert. Diese Maske zeigt sich auf mehrere Weisen, beispielsweise aber durch ein hegemoniales Sprechen über die Ge-Anderten und eine, wenn überhaupt fragile, Möglichkeit der Partizipation am Diskurs mit begrenztem Sprachraum für die ,Betroffenen‘. Weiter kann mit Bezug auf Spivak (2008) gesagt werden, dass der dialektische Prozess des Sprechens und Zuhörens gestört ist, weil auch das Zuhören hegemonial vorstrukturiert ist und nur bestimmte Information wirklich ihren Weg finden. Die Wirkmächtigkeit des modern racism verunmöglicht Artikulationen von Rassismuserfahrung zudem und schafft neues ,Wissen‘ um die Ge-Anderten. Alle Ebenen kumulieren aber in einer ganz und gar tiefgreifenden Dynamik, die wir im Rückgriff auf Frantz Fanon und Grada Kilomba als “always placed as the other never as the self“ (Fanon 2008: 112; Kilomba 2010: 20) beschreiben möchten. Diese Dynamik des immer die/der Andere zu sein, möchten wir als die Grunddramatik, den Grundschmerz rassialisierender Anrufungen begreifen. Astride Velho (2011) spricht in Zusammenhang mit der autoethnografischen Dokumentation Fanons sogar von einem Internalisierungstrauma (Velho 2011: 123). Fanon teilt mit: „What else could it be for me, but an amputation, an excision, a hemorrhage that spatter my whole body with black blood“ (Fanon 2008: 89 eig. Herv.).

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Die körperliche Realität und Empfindung, die Abtrennung (Amputation) der eigenen Realität/der eigenen Erfahrung, niemals das Selbst zu sein sondern immer schon das Andere, bedeutet eine schmerzhafte Trennung von der Identifizierung, die ich vielleicht hätte haben können (Kilomba 2010: 18). Das Schwarze Subjekt wird nur über bestimmte Praktiken und Maßstäbe einer white supremacy anerkannt, die hier als Norm gesetzt ist (s.o.). Alle Praktiken, wie Sprache, Bewegung, Kunst, Vorlieben und vieles mehr, die nicht im Sinne einer weißen Anerkennung stehen, sind de-legitimierte Schwarze Wissensbestände, die in vielerlei Hinsicht vergraben, verbannt und vergessen gemacht wurden. Das Schwarze Subjekt hat also die Möglichkeit der Anerkennung nur (und auch nur bedingt), wenn es sich den weißen Vorgaben und Rezeptionen anpasst und damit sein eigenes Schwarzsein verleugnet. Fanon beschreibt diese Anrufungen folgendermaßen: „Locked in this suffocating reification, I appealed to the Other so that his liberating gaze, gliding over my body suddenly smoothed of rough edges, would give me back the lightness of being I thought I had lost, and taken me out of the world and put me back in to the world.“ (Fanon 2008: 89 eig. Herv.)

Die weiße Benennung gibt ihm das Gefühl zu bestehen – in der Welt zu sein; aber auch gleichermaßen nie Teil zu sein sondern immer der/die Andere. „But just as I get to the other slope I stumble, and the other fixes me with his gaze, his gestures and attitude, the same way you fix a preparation with a dye. I lose my temper, demand an explanation....Nothing doing. I explode. Here are the fragments put together by another me“ (ebd. eig. Herv.).

Am Beispiel von Fanons Schreiben wird deutlich, wie sehr rassistische Anrufungen verletzen können und die traumatische Dynamik schon in der “always placed as the other and never as the self“-Positionierung begründet liegt, die sich in transrationalen (körpersprachlichen, atmosphärischen und energetischen) verobjektivierenden Interaktionen entäußern kann, manchmal noch bevor ein Wort gesprochen wird. Da Macht- und Herrschaftsstrukturen in sich widersprüchlich und ambivalent sind, enthalten sie Momente der Befreiung, die möglicherweise mit kleineren Spalten in Herrschaftsmauern zu vergleichen sind. Um diese Befreiungsmomente wahrzunehmen, ist es von größter Bedeutung, die Herrschaftstechniken, die Fallen, zu kennen und sie zu benennen um sich (teilweise) abseits von ihnen bewegen zu können. Für weiße Menschen birgt diese Reflexion die Möglichkeit,

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die eigene Verstrickung in Herrschaftslogiken zu reflektieren und somit auch weißen Normalitätserwartungen entgegenzutreten. Für Schwarze Menschen birgt diese Reflexion die Möglichkeit des Empowerments und die Stabilisierung eines Schwarzen Selbst außerhalb der Rezeption über einen weißen Blick (BergoldCaldwell 2014; Yancy 2008). Im Folgenden wird diskutiert, welche Handlungsalternativen und Formen der Reflexion aus Schwarzer wie weißer Perspektive für den Schulalltag möglich und hilfreich sind. Suchbewegungen: Handlungsrelevante Perspektiven Wie eingangs angekündigt, wollen wir vor dem Hintergrund des Anti-Bias Ansatzes16 sowie Erkenntnissen aus postkolonialer Theoriebildung und den critical whiteness studies eine diskriminierungskritische Haltung diskutieren, mit dem Ziel des Abbaus von Diskriminierungsformen und der Anerkennung und Veränderung von Diskriminierungsschmerz. In diesem Zuge werden wir vier mögliche Handlungsstrategien benennen: Reflexion von Herrschaftswissen, das Schreiben neuer Geschichten (der Anerkennung von Verstrickung in Herrschaftswissen), der Anerkennung einer auf Diskriminierung beruhenden Gefühlsökonomie und (Selbst)Empowerment. Reflexion des Herrschaftswissens Bezugnehmend auf den bereits oben skizzierten Übergang von einem old fashioned zu einem modern racism geht der Anti-Bias-Ansatz davon aus, dass die Ideologie von Unter- und Überlegenheit in die Gesellschaft eingeschrieben ist, diese

16 Der Anti-Bias-Ansatz entstand zu Beginn der 1980er Jahre in den USA aus den Anforderungen einer (elementar-)pädagogischen Praxis heraus. Diese war, mit Blick auf gesellschaftlich vorherrschende Verhältnisse, zugleich von Vielfalt wie auch (rassistischer) Diskriminierung geprägt. Die Begründerinnen des Ansatzes standen vor der Herausforderung, die Vielfalt der Kinder, die ihnen in den jeweiligen pädagogischen Einrichtungen begegneten, anzuerkennen, jedoch ohne diese festzuschreiben und auf bestimmte Merkmale zu reduzieren. Zugleich galt es die in diese Vielfalt eingeschriebenen Machtverhältnisse und somit diskriminierende Erfahrungen der Kinder ernst zu nehmen (Schmidt 2009: 32). Eine zentrale Weiterentwicklung des Ansatzes erfolgte in den 1990er Jahren in Südafrika unter den Herausforderungen einer Post-ApartheidsGesellschaft. Der Anti-Bias Ansatz sollte Pädagog_innen darin unterstützen, sich aktiv an der Abschaffung der Apartheid (auch in den eigenen Köpfen) zu beteiligen.

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strukturiert und das Zusammenleben wie Selbstverständnis von Menschen durchzieht (Schmidt 2009). Ein Beispiel hierfür zeigt sich im eingangs angeführten Ausschnitt. So nehmen fast alle Schüler_innen wie selbstverständlich auf ein gemeinsames, gesellschaftlich vorherrschendes ‚Afrikabild‘ Bezug, welches von Klischees und Unterlegenheitsvorstellungen durchzogen ist. In Folge dessen ist es notwendig, sich über die Auseinandersetzung mit konkreten, historisch gewachsenen gesellschaftlichen Verhältnissen den eigenen Verstrickungen in diese bewusst zu werden und sich, davon ausgehend, auf die Suche nach Möglichkeiten der ,Entstrickung‘ zu begeben. Bezogen auf den Schulunterricht würde dies bedeuten, Geschichte nicht mehr allein als Nationalgeschichte bzw. als Geschichte des ‚Westens‘ zu lehren, sondern vielmehr als eine Geschichte der Verstrickungen und somit als eine von Dominanzverhältnissen durchzogene Globalgeschichte (Conrad/Randeria 2002: 12-18). Hier zeigt sich die Notwendigkeit, die schulische Wissens(re)produktion auf der Lehrplanebene in ihren spezifischen machtvoll aufgeladenen Deutungsvorgaben zu dekonstruieren und für dialogisch-reflexive, bildende Verhandlungen zu öffnen. So werden die im Beispiel hervorgerufenen, an die Kolonialzeit anschließenden Sprechweisen und Imaginationen als Herrschaftstechniken erkennbar, die sich stets aufs Neue aktualisiert haben. Die Verteilung der Rollen − wer ist hilfsbedürftig und wer hilft – scheint noch immer klar. Dies schließt an den kolonialen Mythos von der ,Bürde des weißen Mannes‘ an, der es als seine Pflicht ausgab, Afrika vor sich selbst zu retten (Arndt 2001: 37). Bezogen auf die Möglichkeit, Institutionen (wie beispielsweise die Schule) zu verändern, weist Batts darauf hin, dass es notwendig ist, auch die Angst derer, die momentan die Struktur kontrollieren, anzuerkennen; die Angst davor, entweder die Kontrolle zu verlieren oder das Falsche zu tun. Diese Angst kann sich auch in Form von Wut, dem Wunsch nach Kontrolle oder der Abwertung der ,Ge-Anderten‘ ausdrücken (Batts 2001: 22). Als Folge werden allzu oft eigene Privilegien, die eigene Handlungsmacht und damit die eigene Verantwortung negiert. Zugleich werden diskriminierende Erfahrungen von Schüler_innen, die aus ihrer gesellschaftlichen Positioniertheit erwachsen (können), unkenntlich gemacht. Durch das Verleugnen eigener Privilegien entsteht zugleich ein Leugnen von Unterdrückungserfahrungen ,GeAnderter‘, mithin auch der eigenen.

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Neue Geschichten einweben: Reflexion der eigenen Verstricktheit als Voraussetzung zur Entwicklung einer diskriminierungssensiblen Schulkultur Zugleich ist es vonnöten, auch den durch die Verstrickungen entstandenen geteilten Erfahrungsraum sichtbar werden zu lassen. Mit Freire (1970) gesprochen, ein Raum in einem Unterdrückungssystem, in das Unterdrücker wie Unterdrückte eingeschlossen sind: “As oppressors dehumanize others and violate their (the oppressed‘s) rights, they themselves also become dehumanized“ (Freire 1970 zitiert nach Batts 2001: 4; vgl. auch Wollrad 2011: 142). So wird deutlich, dass auch die eigene Herrschaftsgeschichte ihre Spuren im westlichen Selbstverständnis und somit auch oder gerade in westlichen Bildungsinstitutionen hinterlassen hat, Spuren die dazu führen, sich selbst nur über die Abwertung der jeweils Anderen zu erkennen. Dies liefert eine Erklärung für die Hartnäckigkeit der steten Reaktualisierung kolonialer Be-Bilderungen auch in staatlichen Bildungsinstitutionen wie der Schule. Einen geteilten Erfahrungsraum sichtbar zu machen bedeutet auch, dass Geschichten und Bilder in den Diskurs eingewebt werden müssen, die von dominanten Erzählungen verdrängt werden. Mit Adichie (2009) gesprochen: „The single story creates stereotypes, and the problem with stereotypes is not that they are untrue, but that they are incomplete. They make one story become the only story. […] The consequence of the single story is this: It robs people of dignity. It makes our recognition of our equal humanity difficult. It emphasizes how we are different rather than how we are similar“ (Adichie 2009).

Diesen Versuch unternimmt die Schwarze Schülerin im angeführten Beispiel, indem sie von ihren eigenen konkreten Erfahrungen auf ihrer Reise nach Kenia berichtet und somit den dominanten Erzählungen etwas entgegensetzt. An die historische Aufarbeitung anschließend, bildet die Auseinandersetzung mit verinnerlichten gesellschaftlichen Strukturen und daran geknüpften Vorstellungen, Imaginationen und Gefühlen, den zentralen Dreh- und Angelpunkt des Anti-Bias Ansatzes. Gerade im Bezug auf eine gesellschaftlich privilegierte Positionierung, beispielsweise als weiß und Akademiker_in (wie dies in Lehrberufen häufig der Fall ist), wird diese eigene, mit einer Vielzahl an Privilegien ausgestattete Subjektposition oft in Abrede gestellt. Die Gründe hierfür sind vielfäl-

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tig und reichen von einem Nicht-Wissen17, dem Wunsch selbst eine Ausnahme zu sein, der Angst vor Rache, bis hin zu Empfindungen wie Scham und Schuld (Broek 1993, in Ritz 2009: 65). Reflexion der je eigenen diskriminierungsbedingten Gefühlsökonomie In traumapädagogischen Sichtweisen, wie auch in der Anti-Bias Arbeit, spielt die systematische Reflexion der eigenen Gefühle, der eigenen Biographie, der eigenen (unverarbeiteten) Erfahrungen eine zentrale Rolle (Weiß 2013; Batts 2001; Schmidt 2009). Gefühle stehen in einem engen Zusammenhang und in einer Komplizenschaft mit gesellschaftlichen Verhältnissen; sie werden durch diese konfiguriert und bilden eine Gefühlsökonomie, eine soziale Vorlage für die Sinnhaftigkeit des Gefühlten, innerhalb derer die Individuen nur scheinbar frei ihr Begehren wählen (Povinelli 2011). Eine Reflexion dieser Gefühle ist so betrachtet ein durchaus politisches Unterfangen. Mit Batts gesprochen: “If we do not examine people’s hearts, this desegregation process will not work.“ (Batts 2001: 7) Verantwortung für die eigenen Gefühle zu übernehmen, anzuerkennen, dass Differenzierungs- und Diskriminierungsprozesse die eigene Gefühlsökonomie prägen, ist zentraler Bestandteil auf dem Weg hin zu einer diskriminierungskritischen Haltung. Als performative Wissensträger sind Lehrer_innen eingebunden in alltägliche Szenen und Prozesse der eigenen Subjektivation wie auch der der Schüler_innen, indem sie Differenzpraxen entlang von Kategorisierungen performieren. Damit sind sie als institutionelle DiskursSprecherSubjekte legitimiert, aus dieser Subjektposition ,identitätsstiftende Zuschreibungen‘ zu vollziehen, die ihre Wirkungen nicht nur auf der Ebene einer semantischen ZuOrdnung zeitigen, sondern vor allem auch auf der Ebene der Strukturierung von Gefühlen, Empfindungen und Bedürfnissen. Demnach produzieren rassialisierende Diskurse nicht nur die Arten und Weisen des Denkens und Wahrnehmens, sondern sind gleichsam tief eingelassen in die leiblich-affektive Erlebensdimension und damit auch in Lernprozesse. Wie oben angedeutet kann das Hingewiesen werden auf eine eigene privilegierte Positioniertheit, auf den Besitz scheinbar selbstverständlicher Privilegien wütend machen. Wenn diese Wut nicht als ein möglicher Effekt der Kritik an und des Destabilisierens von Privilegien erkannt wird, nicht auch die Angst, die mit einem möglichen Verlust von Privilegien verbunden ist, eingestanden wer-

17 Mit Castro Varela (2007: 2) kann dabei auch von einer ‚belohnten Ignoranz‘, welche als gelernte Vergessenheit Teil eines westlichen Bildungskonzepts darstellt und durch dieses ‚Nicht-Wissen‘ Herrschaft stabilisiert, gesprochen werden.

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den kann, kann dies erneut zu diskriminierendem Agieren und diskriminierenden Haltungen führen. Die für die soziale Veränderung hilfreiche Konfrontation mit der eigenen privilegierten Positioniertheit bleibt aus. Als Abwehrstrategie finden negative Zuschreibungen an die ,Ge-Anderten‘ statt. Darüber hinaus kann die Irritation von Verhaltenserwartungen, die gesellschaftlich geteilten klischeehaften Zuschreibungen an die ‚Ge-Anderten‘ geschuldet sind, Unbehagen erzeugen. Hier gilt es, produktive Irritationen willkommen zu heißen und sie als Gelegenheit zur Selbstreflexion zu begreifen, statt unbewusst mit ablehnendem oder gar sanktionierendem Verhalten zu entgegnen. Die Reflexion der eigenen Positioniertheit kann sich anfühlen, wie aus einem langen Schlaf zu erwachen und zu sehen, dass die Dinge nicht das sind, für was man sie gehalten hat. Ein Schock der Vermeidungsverhalten auf den Plan rufen kann. Man findet sich plötzlich auf der Seite ,der Aggressor_innen‘ wieder, wo man sich doch auf der ,Seite der Guten‘ wähnte. Es ist mithin ein Kunststück des Aushaltens, Reflektierens eigener Gemütszustände, des „Da-Bleibens und nicht innerlich oder äußerlich WegGehens“ in Auseinandersetzungen um Herrschaftspraktiken. Gerade weil Herrschaftsverhältnisse eine traumatisierende Dynamik entfalten können und genau wie ,außergewöhnliche Ereignisse‘ zu Zuständen wie nervöser Unruhe, Isolation, Getriebenheit, Zorn, Traurigkeit, Hilflosigkeit, Lähmung führen können, verführen sie leicht zu einer Haltung der Abwehr der Wahrnehmung diskriminierender Verhältnisse. Herrschaftsverhältnisse und ihre Effekte sind dabei aber nicht nur momentaner sondern kumulativer Natur (Khan 1988: 50ff.). Die NichtAnerkennung von Herrschaftsstrukturen und das Ausblenden des eigenen Verstrickt-Seins darin, als Voraussetzung ihrer Destabilisierung, stellen ein insidious trauma dar (s.o.). Um dieses „Da-Bleiben“ zu unterstützen, kann ein Rahmen vonnöten sein, der es erlaubt, den eigenen Gefühlen zu begegnen. Ein Rahmen, in dem wir uns nicht selbst oder gegenseitig dafür beschuldigen, dass die gesellschaftlich erlernten Vorurteile auch in uns wirksam sind, jedoch zugleich Verantwortung dafür übernehmen, neue Informationen aufzunehmen, zu lernen und zu ,verlernen‘. Mithin gilt es im Kontext Schule Räume der Selbstreflexion – etwa durch sensibilisierende Weiterbildungen für das Kollegium − zu schaffen, insofern die der Institution immanenten strukturellen Hierarchiebildungen auch zu Diskriminierungen tendieren. Empowerment als mögliche Handlungsstrategie Sich mit Empowermentprozessen zu beschäftigen oder Empowerment als Ziel zu formulieren, kann „als das Steigern der politischen, sozialen, o konomischen und spirituellen Sta rke einer Community oder Person verstanden“ (Hamaz/Ergün-

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Hamaz 2013: 4) werden.18 Prozesse, wie die oben beschriebenen Diskriminierungserfahrungen, die auch als „Dissempowerment“ (Hamaz/Ergün-Hamaz 2013: 5) gelesen werden können, wirken, wie über den Traumabegriff und unsere Ausführungen beschrieben, nicht nur auf kognitiver sondern vor allen Dingen auch auf der somatischen und der affektiven Ebene. So sprechen Empowermentprozesse auch das gesamte Leib-Körper-Subjekt an (Hamaz/Ergün-Hamaz 2013: 5; vgl. auch Rotter im selben Dossier19). Empowerment-Strategien können als Strategien der Selbstermächtigung bezeichnet werden und sind − wie das Wort Selbstermächtigung bereits nahelegt − Strategien, die im wesentlichen aus dem Subjekt/der Gruppe selbst entstehen, bzw. durch die Erschaffung eines ,empowernden‘ Raumes und/oder Ortes die Möglichkeit haben, zu entstehen. Empowerment-Strategien sollten nicht als etwas verstanden werden, was Personen nahezulegen oder beizubringen ist. Als konkrete Strategie kann hier Communitybuilding aufgegriffen werden, wie es die ISD (Initiative Schwarze Menschen in Deutschland) vornimmt. Die Initiative bietet Treffen von Schwarzen Menschen an und ist darüber hinaus auch als politisches Organ für die Community Schwarzer Menschen in Deutschland tätig. Über die Teilnahme an solchen Treffen entstehen mehrere Ebenen des Empowerments: Zum einen das Bewusstsein der Vielheit Schwarzer Menschen in Deutschland, zum anderen der Austausch und noch weitere community- und selbststärkende Prozesse. Es entsteht die Möglichkeit, über Rassismuserfahrungen zu sprechen, und diese zusammen an die jeweiligen Diskriminierenden zurück zu geben – über Artikulation und eine Benennungspraxis. Für die Unterrichtssituation würde dies bedeuten: Die Artikulation von Empörung als Lernerfahrung für die Lehrkraft zur kritischen Re-

18 Viele Empowerment-Möglichkeiten werden in dem genannten Dossier der Heinrich Böll Stiftung unter der redaktionellen Arbeit von Sofia Hamaz und Mutlu ErgünHamaz entstanden ist, benannt. Die Autor_innen arbeiten auf verschiedenen Ebenen ihre Strategien des Empowerments aus. Einige von ihnen bieten auch Workshops zur Bewusstwerdung von (weißen) Privilegien und Empowerment für People of Color und Schwarze Menschen an. 19 Pasquale Virginie Rotter (2013) spricht über die von ihr und Sebastian Fleary initiierten Workshops „Empowerment in Motion“. Sie bringt ganz bewusst die Verbindung zwischen körperlich-leiblichen Auswirkungen von Diskriminierungen in den Mittelpunkt des Empowermentprozesses: Über körperlich-leibliches Spüren ist es zum einen möglich, beim Empowermentprozess zu merken, wann und wo Sprache und Handlungen den Körper treffen können und zum anderen, diesen Weg zurückzugehen und über Bewegungen aus Erstarrungen, Verengungen und Unruhe (Erscheinungsmerkmale eines Traumas) heraus zu finden.

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flexion ihrer Positioniertheit zu nehmen, und als Anlass zur Entschuldigung. Es würde weiter bedeuten, dass Lehrkräfte den Raum zur Artikulation von Rassismuserfahrungen (verbal und non-verbal), auch wenn diese emotional, ärgerlich, traurig, als schwer zu (be)greifende Atmosphären vorgetragen werden, eröffnen und diese Äußerungen ,als ein Sprechen aus dem potentiellen Trauma heraus‘ willkommen heißen. Damit ist eine Annäherung an das von Audre Lorde angeführte Kredo “Your Silence will not protect you“ (Lorde 1984; vgl. auch Piesche 2012) möglich. Ein Sprechen, dass notwendig ist, weil das Schweigen kaum einen Schutz darstellt. Schützen kann vielmehr eine Sprache der Anerkennung und ein gemeinsames Vorgehen gegen diskriminierende Verhältnisse. Zusammenfassung Nicht nur außergewöhnliche Ereignisse können im Erleben der Einzelnen eine traumatische Spur hinterlassen, auch und gerade die im Rahmen von Institutionen gängigen Wissensbezüge, sprich der ganz banale und normale Alltag, kann für People of Color und Schwarze Menschen belastend sein. Der Beitrag hat aufgezeigt, wie sehr alltägliche Praxen und Sprechweisen durch gewaltvolle Episteme, die sich in einer Kontinuität zur (verdrängten) deutschen Kolonialgeschichte befinden, geprägt sind. Besonders im Kontext Schule, in dem es um eine scheinbare ,neutrale‘ Wissensvermittlung geht, wird die Ebene der epistemischen Gewalt durch Ausblendung und Ignoranz des ,anderen‘ Wissens und eine einseitige Reproduktion dominanter westlicher Perspektiven immer wieder getriggert. In diesem Zusammenhang werden immer wieder Bilder und Vorstellungen von People of Color und Schwarzen Menschen (re-)produziert, die verletzen, schockieren, stumm machen. Mit Bezug auf Postkoloniale Theoriebildung in der Verknüpfung mit einer kritischen Rezeption von Traumakonzepten sollte diese verletzende Dimension hervorgehoben, sichtbar und anerkennbar gemacht werden. Die postkoloniale Theoriebildung, die critical whiteness studies als auch der diskriminierungskritische Anti-Bias Ansatz weisen auf die Problematik diskriminatorischer Ein- und Ausschlüsse immer wieder hin, und drängen auf eine Reflexion von Herrschaftsverhältnissen sowie dem eigenen Sprechen und Handeln darin. Es geht in der Rezeption dieser Theorien, für die wir uns stark machen, nicht um eine ,Traumabehandlung‘ der als traumatisiert Identifizierten, sondern um eine Herausbildung einer diskriminierungskritischen Haltung, damit rassialisierende Strukturen als traumatisches Hintergrundrauschen, als ,hausgemacht‘ entlarvt bzw. aufgelöst werden und im günstigsten Fall gar nicht erst entstehen. Herrschaftskritik hat nicht den Anspruch, psychotherapeutische Praxen zu ersetzen, aber doch die Verhältnisse zu skandalisieren, die

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,Traumasymptome‘ wahrscheinlicher machen, und nach solchen zu suchen, in denen Menschen möglichst diskriminierungsfrei leben können. Damit das gelingen kann, müssen die eigenen Privilegien (sowie Unterdrückungserfahrungen) wahrgenommen werden. Es geht darum, sowohl differenzsensibel zu sein im Sinne einer Wachheit für die an Differenzkonstruktionen geknüpfte unterschiedliche Verteilung von Privilegien, wie auch zugleich Differenz nicht als vorgängig vorauszusetzen und damit stets aufs Neue zu konstruieren. Konkret kann das bedeuten, zu bedenken, welche Erfahrungen (anderer und eigener) ich nicht wahrnehme, welche Sätze ich (auf der privilegierten Seite) nicht höre, weil sie durch die Raster meiner gewohnten, d.h. hegemonialen Wahrnehmungsschemata fallen. Damit verbunden: Wie kann es möglich sein, ,andere‘ Geschichten zu Wort kommen zu lassen, diesen zuzuhören sowie an der eigenen Fähigkeit des Zuhörens zu arbeiten? Um gut zuhören zu können, kann es − vor allem auf der Seite der Privilegierten − wichtig sein, sich der Verstrickung bewusst zu sein, und sich immer wieder zu ,entstressen‘, wie auch immer das im Einzelnen aussehen kann. Eine diskriminierungskritische Haltung bedeutet, aus unterschiedlichen Positioniertheiten zusammenzukommen, das Verwobensein unterschiedlicher Geschichten anzuerkennen und aktiv an einer gemeinsamen Geschichte weiterzuschreiben. Vor dem momentanen gesellschaftlichen Hintergrund betrachtet, kann es indes vonnöten sein, getrennte Lernräume bereitzustellen. Für die einen, um sich aktiv mit ihren eigenen Privilegien zu befassen, für die anderen, um Empowermentprozesse zu ermöglichen. Menschen werden qua Zuschreibungen entlang dominanter Diskursschemata verletzt. Die Anerkennung und das Erarbeiten von Strategien zur Vermeidung von durch rassialisierende Anrufungen hervorgerufenem traumatischem Erleben, das sich unseres Erachtens in der Figur des “always placed as the other“ verdichtet, sollte in Zukunft eine Berücksichtigung in (trauma)pädagogischen und (trauma)therapeutischen Kontexten erfahren. Dabei zeigt der Bezug auf postkoloniale Theorie, dass die Ausklammerung der Erfahrung von Marginalisierung, die Ignoranz der Wissensbezüge um die Produktion „kolonialer Subjekte […] eine prekäre Normativität“ (Spivak 2008: 83) einer bestimmten Erzählung vom Trauma und seinen ,Geschädigten‘ hervorbringt, die immer wieder dann zu kippen droht, wenn eine Stimme nicht gehört wird. Literatur Arndt, Susan (2001): AfrikaBilder. Studien zu Rassismus in Deutschland. Münster: Unrast-Verlag.

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Filmverzeichnis PERSPEKTIVWECHSEL II. SCHWARZE KINDER UND JUGENDLICHE IN DEUTSCHLAND (2009) (Deutschland, R: Nadja Ofuatey-Rahal).

Trauma und Neuroliberalismus C HRISTIAN F UCHS „Es gehört zum Mechanismus der Herrschaft, die Erkenntnis des Leidens, das sie produziert, zu verbieten, und ein gerader Weg führt vom Evangelium der Lebensfreude zur Errichtung von Menschenschlachthäusern so weit hinten in Polen, dass jeder der eigenen Volksgenossen sich einreden kann, er höre die Schmerzensschreie nicht mehr.“ ADORNO 1996: 70

Vom Leid zum Trauma Ein seelisches Trauma bedeutet Leid, oft sogar großes Leid1. Selbst wenn man Trauma nur aus der aktuell vorherrschenden medizinischen Sichtwese heraus betrachtet, ist die Anzahl der Betroffenen höher als viele vielleicht vermuten würden2. Doch wie sich zeigt, reicht der medizinische Blick auf Trauma bei Weitem

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Wenn hier von seelischem Leid gesprochen wird, so wird dies nicht losgelöst von körperlichem Leid verstanden. Dem hier zugrundeliegenden Verständnis nach gibt es keine seelischen Vorgänge ohne körperliche Resonanzen und umgekehrt. Die Unterscheidung ist dennoch erforderlich, da die Beschreibung seelischer Vorgänge und Zustände einer anderen begrifflichen Logik unterliegen, wie die Beschreibung von körperlichen Vorgängen und Zuständen. Trotzdem ist beides stets zusammen zu denken. Wie seelische und körperliche Vorgänge in Resonanz stehen, ist kontingent und folgt keiner Ursache-Wirkungslogik. Die Resonanz findet auf der Ebene von Sinn statt und erfordert einen hermeneutischen Zugang.

2

„PTBS hat sich als eine sehr verbreitete Störung herausgestellt. Extreme Belastungserlebnisse sind weit verbreitet, und bei einem Großteil der belasteten Personen treten

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nicht aus, soll das Phänomen des Traumatischen wenigstens annähernd erfasst werden. Es ist das Anliegen dieses Artikels, die einseitig medizinisch geprägte Bedeutung des Traumabegriffes zu verschieben, damit ihre Perspektivität als solche – unter den vielen anderen Sichtweisen - wieder deutlich wird. Es gibt viele Perspektiven auf Trauma aber nur das eine Wort für dieses vielgestaltige Phänomen. Dies führt immer wieder zu Klagen über eine vermeintlich ‚inflationäre‘ Verwendung des Begriffs Trauma, vornehmlich von Vertretern der ‚wahren‘ Traumadefinition. Doch es gibt nicht die ‚wahre‘ Definition von Trauma. Es gibt viele Perspektiven auf Trauma und einen nicht bestimmbaren Rest im Verständnis dessen, was Trauma ausmacht. Um dies zu verdeutlichen, werden Perspektiven, die vom hegemonialen Traumaverständnis abweichen, in diesem Artikel mit Trauma* bezeichnet. Trauma in seiner existentiellen Kontingenz wird mit T____a symbolisiert. Ziel dieses Artikels ist es, den hegemonialen Traumabegriff wieder in Richtung Trauma* und T____a zu verschieben. Der Ansatzpunkt für diese sinnhafte Verschiebung ist das Leid im Trauma. Egal welche (Trauma*)Perspektive eingenommen wird, Leid ist präsent und sei es in der Negation. Leid ist die Verbindung zwischen den Perspektiven. Spricht man von traumatischem Leid, so ist man schnell versucht, Leid und Leidensfähigkeit als anthropologische Eigenschaften zu verstehen. Doch Leid ist nicht auf den Menschen beschränkt und die Fähigkeit zu leiden, teilen wir mit einer Viel-

Symptome auf […]. Eine Zufallsstichprobe von 1.245 amerikanischen Jugendlichen zeigte, daß 23% Opfer von physischen oder sexuellen Übergriffen oder Augenzeugen von Gewalt gegen andere waren. Einer von fünf der mit Gewalt konfrontierten Jugendlichen entwickelte eine PTBS. Dies legt nahe, daß zur Zeit ungefähr 1,07 Millionen Teenager in den USA an PTBS leiden (Kilpatrick, Saunders, Resnick & Smith 1995). Eine andere Erhebung (Elliot & Briere 1995) ergab, daß 76% der amerikanischen Erwachsenen berichteten, extremer Belastung ausgesetzt gewesen zu sein, und daß zirka 10% davon mit der Entwicklung einer PTBS reagierten. Neun Prozent der Bevölkerung einer großen nordamerikanischen Stadt litten an PTBS (Breslau & Davis 1992), und ungefähr 20 Jahre nach Beendigung des Vietnamkriegs setzte sich bei 15,2% der Kriegsveteranen des US-Vietnam-Kriegsschauplatzes das Leiden an PTBS fort (Kulha et al. 1990). Bei der Mehrheit der stationären Psychiatriepatienten ergab die Anamnese schwerwiegende Traumatisierung (gewöhnlich intrafamiliär), und bei mindestens 15% sind die diagnostischen Kriterien für PTBS erfüllt (Saxe et al. 1993).“ (van der Kolk/Mc Farlane 2000: 29)

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zahl von Lebewesen ebenso wie die Fähigkeit traumatisch zu leiden.3 Die folgenden Betrachtungen beziehen sich jedoch auf traumatisch leidende Menschen. Traumatisches Leid besteht, solange das Trauma besteht. Diese Koppelung ist ein wesentliches Merkmal, das traumatisches Leid in Bezug auf andere Formen von Leid auszeichnet. Traumatisches Leid ist ein Leid, das sich als solches vielfach nicht ohne weiteres zu erkennen gibt und sich hinter verwirrenden und widersprüchlichen Symptomen versteckt. Traumatisch Leidende erscheinen oft gar nicht leidend, sondern aggressiv, hyperaktiv, geheimnisvoll oder schlicht unverständlich für ihre Umwelt. Die Gefahr Leid, und damit auch traumatisches Leid, in seiner Vielschichtigkeit unkenntlich zu machen, indem eine Perspektive wie z.B. die medizinischneurowissenschaftliche absolut gesetzt wird, ist groß. Es braucht viele (Trauma*)Perspektiven um Leid seine vieldimensionale Gestalt zu geben. Dennoch bleibt auch hier immer ein unbestimmbarer (T____a)Rest. Leid ist untilgbarer Bestandteil der Kontingenz menschlicher Existenz: so auch Trauma*. Daher entzieht sich traumatisches Leid und damit das untrennbar verbundenen Trauma der Beschreibung durch eine einseitige naturwissenschaftliche Ursache- Wirkungslogik, die Zusammenhänge in ‚krank‘ und ‚gesund‘ kategorisiert. Leid und seine Bewältigung ist nur zu verstehen, wenn individuelle wie gesellschaftliche Fragen nach dem jeweiligen Sinn des sich zeigenden oder verdrängten Leides mit in den Fokus genommen werden. Leid ist daher kein individuelles Phänomen, vielmehr ist die Sozialität der Entstehungsort von Leid. Die individuelle wie gesellschaftliche Erfahrung von traumatischem Leid wird daher maßgeblich von unserem historisch, kulturell geprägten Verständnis beeinflusst, was ein Trauma ist. Der aktuelle herrschende (Trauma)Diskurs wird immer mehr durch die „neurowissenschaftliche Revolution“ (van der Kolk 2015: 53) bestimmt und kaum eine Veröffentlichung, welche Trauma zum Thema hat, kommt ohne Verweis auf neurowissenschaftliche Erkenntnisse aus. Den Neurowissenschaften4 haben daher eine entscheidende Bedeutung für unser Verständnis von Trauma aber

3

An dieser Stelle sei exemplarisch auf südeuropäische Tötungsstationen oder einen

4

Der Begriff Neurowissenschaften ist eine Sammelbezeichnung für eine Reihe von

schlecht geführten zoologischen Garten hingewiesen. Disziplinen, wenn im Fokus der Forschung das zentrale Nervensystem steht. Dazu zählen die Evolutionsbiologie, Entwicklungsbiologie, Neurochemie, Neurobiologie, Molekularbiologie, Zellbiologie, Neurophysiologie, medizinische Neurologie, Neuroanatomie, Verhaltensforschung, Kognitionspsychologie, Neuropharmakologie und Neuropathologie (vgl. Künkler 2011: 180)

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eben auch für unser individuelles wie gesellschaftliches Verhältnis von Leid, insbesondere, weil die Neurowissenschaften einen umfassenden Erklärungsanspruch für alle psycho-physischen Vorgänge erheben.5 Die Verdrängung von traumatischem Leid Die Auseinandersetzung mit Leid ist eine Herausforderung die oft nicht angenommen wird. Dies gilt sowohl für die individuelle als auch für die gesellschaftliche Ebene. Das Ausmaß der Verdrängung ist dabei enorm, was sich im Folgenden in historischen Bezügen verdeutlichen lässt: Seit sich die wissenschaftliche Forschung Ende des 1900 Jahrhunderts dem Thema der Traumatisierung angenommen hat, gibt es die Verdrängung von Trauma und traumatischem Leid. Obwohl Freud Hinweise hatte, dass sich die Hysterie zumindest einiger seiner Patientinnen auf Missbrauch und Inzest zurückführen ließ und traumatisch war, konnte sich diese gesellschaftlich brisante Sichtweise im stark bürgerlich geprägten Milieu Wiens nicht durchsetzen (Fischer/Riedesser 2003: 36ff.). Die zehntausendfach traumatisierten Soldaten des ersten Weltkriegs wurden zwar zunächst als ‚Kriegszitterer‘ und ‚Granatschockopfer‘ bezeichnet, allerdings wurden diese Bezeichnung später vor allem in der Öffentlichkeit mehr zum Synonym für Feiglinge6, und sollten z.B. aus offiziellen Verlautbarungen der britischen Armee getilgt werden (van der Kolk 2015: 222f.). Im zweiten Weltkrieg wurde dann vom amerikanischen Militär die Auffassung vertreten, nicht der Krieg mache krank, sondern kranke Männer seien ungeeignet für den Krieg, d.h. auftretende Symptome sind auf Ursachen zu-

5

Vgl. Roth/Strüber (2014).

6

„Während Politiker und Ärzte den heimkehrenden Soldaten den Rücken zuwandten, wurden die Schrecken des Krieges in der Literatur und in der bildenden Kunst anschaulich dokumentiert. In dem Roman Im Westen nichts Neues' von Erich Maria Remarque, […], spricht der Protagonist, Paul Bäumer, für eine ganze Generation: »Heute merke ich, daß ich, ohne es zu wissen, zermürbter geworden bin. Ich finde mich hier nicht mehr zurecht, es ist eine fremde Welt ... Am liebsten bin ich allein, da stört mich keiner ... Sie reden mir zuviel. Sie haben Sorgen, Ziele, Wünsche, die ich nicht so auffassen kann wie sie.« […] Als dann einige Jahre später Hitler an die Macht kam, zählte Im Westen nichts Neues zu den ersten »degenerierten« Büchern, die von den Nationalsozialisten auf dem Platz vor der Humboldt-Universität in Berlin verbrannt wurden.“ (van der Kolk 2015: 224, Herv. i. O.).

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rückzuführen, die vor dem Kriegseinsatz zu suchen sind7. (van der Kolk 2015: 226). In Deutschland wurden Holocaust Überlebende nach dem zweiten Weltkrieg als ‚Rentenneurotiker‘ diagnostiziert und so von Entschädigungszahlungen ausgeschlossen (Bailer-Galanda 2004: 215). Eine erzwungene Zäsur in der Verdrängung von Trauma (aber nicht unbedingt in der Verdrängung von Leid), stellt die Folgezeit des Vietnamkrieges dar. In den USA wurde das Trauma in den 1980er Jahren durch die Vietnamrückkehrer öffentlichkeitswirksam akut. „Sie fielen auf durch antisoziales, gewalttätiges Verhalten, Alkohol- und Drogenmissbrauch, Wiedereingliederungsschwierigkeiten, emotionalen und sozialen Rückzug oder Selbstmorde.“ (Lehmacher 2013: 90ff.)“. Erst der massive Druck8 durch das Syndrom der Vietnamveteranen zusammen mit dem Syndrom misshandelter Frauen und dem Syndrom missbrauchter Kinder kulminierte dann schließlich in der Aufnahme der Diagnose PTBS in das DSM-III. (Mc Farlane/van der Kolk 2000: 86) Bei allen berechtigten Kritikpunkten an der Diagnose PTBS9 stellt sie doch einen Meilenstein dar,

7

„[…] Wenn [die Amtsärzte; Anm. d. Verf.] Männer mit schweren Störungen untersuchten, fanden sie fast immer, daß die ursprüngliche Ursache in Vorkriegserfahrungen, meist „häuslicher" Art [lag]: die kranken Männer waren kein erstklassiges Kampfmaterial.... Die militärische Ansicht ist, [daß] nicht der Krieg die Männer krankmacht, sondern daß man mit kranken Männern keinen Krieg führen kann. Die Autoritäten verschärften deren Not, indem sie ihnen Furcht vorwarfen. In Wirklichkeit waren sie zu müde und erschöpft, um überhaupt noch Furcht empfinden zu können (S. 327-328).“ (Mc Farlane/van der Kolk 2000: 56, Herv. i. O.).

8

„Die Zahl der Vietnam-Veteranen, die ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt hätten, sei mit mehr als 58.000 inzwischen höher als die Zahl der amerikanischen Kriegstoten.“ (Süddeutsche Zeitung 2010).

9

„Die Diagnose posttraumatische Belastungsstörung ist im ICD-10 eine der wenigen Diagnosen, die neben den Symptomen auch die Ursachen für die Entstehung der »Störung« benennt: Die posttraumatische Belastungsstörung »entsteht als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes (kurz oder lang anhaltend), die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Hierzu gehören eine durch Naturereignisse oder von Menschen verursachte Katastrophe, eine Kampfhandlung, ein schwerer Unfall« (Dilling 2010, S. 183). Man beachte, dass in dieser Aufzählung verschiedene Ursachen gleichgesetzt werden. Dies suggeriert, es sei egal, welcher Auslöser einem Trauma zugrunde liegt, ob es sich bei dem Auslöser um Folter, um sexuelle Gewalt oder um eine Naturkatastrophe handelt. […] Diese Form der Benennung im ICD-10 ist eine Form der Entnen-

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denn die ursächliche Verbindung zwischen auslösendem Ereignis und traumatischen Symptomen hat weitreichende Folgen für Gesundheitswesen, Rechtsprechung, Finanz- und Wirtschaftspolitik, Staatshaushalt etc.. So lassen sich Entschädigungsansprüche rechtfertigen, Renten können gewährt werden und es entstehen juristisch relevante Taten für die Rechenschaft (vgl. Lehmacher 2013). Die Diagnose PTBS wird so zu einem ökonomisch bedeutsamen Politikum und so verwundert es nicht, dass die die Verdrängung nicht aufhört. Aktuelles Beispiel ist das neue DSM-V Diagnosemanual. Trotz guter Studienlage10 war es nicht möglich die Diagnose ‚entwicklungsbezogene Traumafolgestörung‘ im DSM-V unterzubringen. Dies nochmals mehr vor dem Hintergrund, dass es in den Vereinigten Staaten mehr als eine Million missbrauchte, misshandelte und vernachlässigte Kinder gibt11. Stattdessen existiert eine Vielzahl nicht zusammenhängender Diagnosen, die den Blick auf die sozialen Ursachen verschleiern (van der Kolk 2015: 194). So werden Diagnosen ohne Nennung sozialer Ätiologie massiv ausgeweitet und damit zu einem wahren Eldorado für die Pharmaindustrie, die ihrerseits massiven Einfluss auf die Inhalte des DSM-V12 genommen hat (Hasler 2012: 122f.). Die Veränderung sozialer Verhältnisse in Richtung verbesserter Lebensbedingungen für betroffene Kinder verkommt in dieser Logik zu einem Kostenfaktor ohne Gewinnaussichten und

nung. Durch die Nivellierung der Ursachen verliert die psychiatrische Diagnose, des ICD-10 die gesellschaftlichen, sozialen Dimensionen von Gewalt ebenso aus dem Blick wie den gesellschaftlichen Umgang mit denjenigen, die Gewalt erlebt haben.“ (Brenssell 2014: 129). 10 Die Adverse Childhood Experience Studie mit mehr als 17.000 Teilnehmern, auch bekannt als ACE-Studie, hat ergeben, dass mehr als ein Viertel der USamerikanischen Bevölkerung in der Kindheit immer wieder körperlich misshandelt wurde, dass 28% der Frauen und 16 Prozent der Männer sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren und dass 12% als Kinder Zeuge von Gewalt gegen die eigen Mutter waren. Ergebnis dieser Studie war auch, dass Kinder, die traumatischen Ereignissen in der Kindheit ausgesetzt waren, im Erwachsenenalter ein stark erhöhtes Risiko hatten eine Vielzahl schwerer psychischer und somatischer Probleme zu entwickeln (van der Kolk 2015: 176ff.). Doch fallen die meisten Betroffenen nicht in das Diagnoseraster, das ihnen Hilfe gewähren könnte. 11 Ein weiterer Versuch ‚entwicklungsbedingte Traumafolgestörungen‘ zu negieren, ist die Debatte um ‚Fehlerinnerungen‘ (Mc Farlane/van der Kolk 2000: 60f.). 12 Die APA selbst verdient viele Millionen am DSM-V (van der Kolk 2015: 200).

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hat im Rahmen neoliberaler Ideologie keinen Raum. Die Folgen dieser Verdrängung sind fatal13 und die Gründe der Verdrängung wenig überraschend. „Mächtige soziale Institutionen wie Versicherungsgesellschaften und die Streitkräfte, für die enorme Geldbeträge für Schadenersatzforderungen auf dem Spiel stehen, profitieren auch von der Verharmlosung der Auswirkungen von Traumatisierung auf das Leben der Betroffenen. Unglücklicherweise ist das vielfältige Interesse an der Verleugnung der Wirklichkeit des Traumas so stark, […], daß sich diese Debatte jemals primär durch eine Berücksichtigung der Tatsachen auszeichnen wird.“ (McFarlane/van der Kolk 2000: 62 f.)

Hier wird klar ausgesprochen, dass empirische Tatsachen dem ökonomischen Kalkül nachgeordnet werden. Es sind die ökonomischen Zusammenhänge, die hier maßgeblich mitwirken. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse, die sich auf ein reduziertes naturwissenschaftlich geprägtes Bild vom Menschen stützen, sind nicht in der Lage, dieses auf ökonomische Zusammenhänge zurückzuführendes Leid in ein kritisches Licht zu setzen. Ganz im Gegenteil: Sie unterstützen die Individualisierung von Leid durch krankmachende Diagnosen und fördern so die Verschleierung der gesellschaftlichen Ursachen von Leid. Neurowissenschaften spielen daher in diesem Kontext eine bedeutende politische Rolle und es geht um weit mehr als die naturwissenschaftliche Erforschung von Gehirnfunktionen. Es zeigt sich, dass die Neurowissenschaften innerhalb der Medizin eine prominente Stellung haben, weil sie an der Grenze von Psychischem und des Physischem operieren. Es genügt an dieser Stelle jedoch nicht sich nur physiologische Ursache-/Wirkungszusammenhänge zu kümmern, wenn es um psychische Vorgänge geht. Auch der Sinn menschlichen Handelns und Verhaltens, sowie politische Zusammenhänge müssen berücksichtigt werden, wenn leidenden Menschen geholfen werden soll.14 Solange die Neurowissenschaften ihre Wissenshegemo-

13 „Bei Kindern, die in ihren Familien Mißbrauch, Mißhandlungen und Vernachlässigung erlebt haben und deshalb in Kliniken, Schulen, Krankenhäuser und Polizeistationen kommen, sind die traumatischen Wurzeln ihres Verhaltens weniger deutlich zu erkennen, vor allem deshalb, weil sie nur selten darüber sprechen, daß sie geschlagen, im Stich gelassen oder mißbraucht worden sind, auch wenn man sie danach fragt. 82 Prozent der traumatisierten Kinder, die bei dem NCTSN angehörenden Institutionen vorsprechen, erfüllen nicht die diagnostischen Kriterien für eine PTBS.“ (van der Kolk 2015: 191). 14 „[…] d.h. solange ökonomische und strukturelle Gewalt aus therapeutischen, klinischen, neurobiologischen Diskursen ausgeklammert wird –, wird genau die (soziale)

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nie auf allen gesellschaftlichen Ebenen fortführen, sind sie Teil einer ideologischen Menschführung. Neuro und Neo „Empirische Erkenntnisse sind daher niemals Erkenntnisse ‚an sich' oder „über ,den' Menschen, sondern immer Erkenntnisse relativ zum implizierten [Menschen]Modell, der darauf bezogenen Theorie und den daraus resultierenden Methoden" 

!"

1984, S. 296).

Das heißt auch, daß sie die im Menschenmodell enthaltenen Wertsetzungen transportieren. Wird dieser Vorgang nicht durch entsprechende Explikation der Modellannahmen offengelegt, […], können entsprechende wissenschaftliche Theorien allzu leicht ideologisch mißbraucht werden, um ausschließlich für #$ bestimmte Möglichkeit menschlicher Verwirklichung zu argumentieren […].“ (Hagehülsmann 1984: 36)

Es sind nicht die Forschungsergebnisse der Neurowissenschaften ‚an sich‘, die hier kritisiert werden. Die Neurowissenschaften werden als Teildisziplin nicht in Frage gestellt, sondern ihre Hegemonie und ihre fehlende Reflexivität in Bezug auf soziale Wissenskonstruktionen v.a. im Prozess wissenschaftlicher Wissensgenerierung. Kritisch-reflexiv meint, dass auch empirische Ergebnisse unvermeidlich immer vor einem spezifisch historisch sozialen Kontext gelesen und gedeutet werden, d.h. stets in einem sozialen und damit sinnhaften Wissensfeld von Deutungszusammenhängen überformt sind. Sinngebende hermeneutische, phänomenologische oder dialektische Zugänge dürfen nicht einfach als überkommen klassifiziert und beiseitegeschoben werden (Roth/Strüber 2014: 333). Das naturwissenschaftliche Menschen- und Weltbild gilt in den Neurowissenschaften als gesetzt und wird auch auf psychosoziale Prozesse ausgeweitet ohne vorhandene Bedenken zu berücksichtigen.15 Die mediale Meinungsführer-

Verständigung darüber verhindert, die eine Verfügung über die Bedingungen ermöglichen würde. Wenn wir davon ausgehen, dass Ohnmacht, dass Isolation und die anhaltenden Erfahrungen von Entmachtung wesentliche Aspekte eines Traumas sind, dann setzen technokratische Traumakonzepte das Trauma fort. Sie verhindern eine Verständigung über die gesellschaftliche Vermitteltheit/Mitbedingtheit traumatischer Prozesse, würgen sie ab, leugnen sie und werden so potenziell zum Bestandteil des traumatischen Prozesses.“ (Brenssell 2014: 148). 15 „Die kognitiven Neurowissenschaftler operieren über die Grenze zwischen zwei Gebieten hinweg, der Neurophysiologie und der Psychologie, deren jeweilige Begriffe sich kategorial unterscheiden. Die logischen bzw. begrifflichen Beziehungen zwi-

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schaft neurowissenschaftlicher Publikationen ergeben vor dem Hintergrund dieser nicht stattfindenden kritischen Auseinandersetzung16 der eigenen epistemischen Grundlagen ein machtvolles und ideologisch missbrauchbares und missbrauchtes, diskursives Instrument. So kommt traumatisches Leid in den neurowissenschaftlichen ‚Wahrheiten‘ nicht vor, denn die Neurowissenschaften erklären den Menschen zur „neuronalen Maschine“ (Meyer-Drawe 2012). In der Folge wird das leidvolle Erleben der neuronalen Maschinen als eine Konstruktion ihrer Gehirne gedeutet. Wir werden zu interagierenden Nervensystemen, Objekte kommunizieren mit Objekten.17 Ein derartiges Menschenbild adressiert uns als leicht anheuerbare Legionäre einer Gesellschaftsordnung die das Leid vieler immer mehr zu einer unvermeidlichen, aber notwenigen Randerscheinung macht. Diese ist gleichsam erforderlich, um den immer größeren Wohlstand von immer weniger privilegierten Menschen zu sichern. Unser Gesellschaftssystem ist geprägt durch die in den letzten drei Jahrzehnten Realität gewordene neoliberale Wirtschafstheorie, die damit gleichsam den Hintergrund unserer postmodernen, industrialisierten Gesellschaften darstellt.18

schen dem Physiologischen und dem Psychologischen sind problematisch.“ (Bennett/ Hacker 2012: 2). 16 „Die Tendenz, neurobiologischen. Ansätzen auch psychosoziale Erklärungskraft zuzusprechen (und es dabei epistemologisch nicht so genau zu nehmen), macht die Wissensbestände der Neurobiologie doch erst so interessant, dass sie nicht nur in Sachund Fachbüchern, sondern auch in den Feuilletons mit Verve zitiert werden. Die gut abgestimmte Mischung aus Expertise und Allgemeingültigkeitsanspruch begünstigt, dass eine Auseinandersetzung mit kritischen Gegenargumenten und -positionen nicht stattfindet.“ (Zielke 2009: 135). 17 „Es ist kaum nachvollziehbar, wie und warum die Hirnforschung in einem solch reduktionistischen Bild vom Menschen als einer biologischen Einheitssubstanz, die zugleich in ihre Einzelinformationen zergliedert wird, einen epochalen Fortschritt erblicken kann und damit in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit auch noch auf fruchtbaren Boden fällt. Warum stimmt dieser Reduktionismus nicht bedenklich? Wie kann es sein, dass uns die Vorstellung befriedigt, unser Denken, Fühlen und Handeln seien weniger eigenen Entscheidungen zu verdanken als von anonymen neurobiologischen Impulsen gesteuert?“ (Dungs 2009: 46). 18 „‚Neoliberalismus‘ steht für eine seit den 1930er-Jahren entstandene Lehre, die den Markt als Regulierungsmechanismus gesellschaftlicher Entwicklungs- und Entscheidungsprozesse verabsolutiert. Es handelt sich um eine breite geistige Strömung mit unterschiedlichen historischen wie länderspezifischen Erscheinungsformen, Strategievarianten und Praktiken. […] Das gesellschaftspolitische Projekt des Neoliberalismus

316 | CHRISTIAN F UCHS „Wir haben gesehen, dass die gesellschaftliche Entwicklung in der neoliberalen Lehre ein Prozess unbewusster Anpassungsleistungen der Menschen ist. Das menschliche Sein gründet sich demnach auf den Selektionsmechanismus des Wettbewerbs, der die freie Marktwirtschaft als höchste Form der Zivilisation hat entstehen lassen. Darin wurde der Mensch zum Individuum, weil er sich diesen Prozessen in Demut unterworfen, und nicht, weil er die Entwicklung gestaltet hat. Eigennutz ist das ethische Fundament des neoliberalen Individualismus, der alles Kollektive (mit Ausnahme der Familie) als angebliches Relikt vormoderner Gesellschaften ablehnt. Das neoliberale Freiheitsverständnis beschränkt den Spielraum der Individuen auf die Teilnahme am Markt, wobei strukturelle und ökonomische Macht ausgeblendet werden.“ (Ptak 2008: 66)

Die Haltung, dass sich alles ökonomisch ‚rechnen‘ muss, ist in unserer globalisierten, kapitalistischen Welt zu einer Norm geronnen, die schon beinahe götzenhaft auf allen gesellschaftlichen Ebenen und über alle politischen Lager hinweg gehuldigt wird. Das Leben nähert sich immer mehr einer ökonomischen Kosten-Nutzen Betrachtung die immer schwieriger in ein gutes Verhältnis zu bringen ist. (vgl. Bröckling 2007). Leid spielt im wirtschaftlichen Kalkül keine Rolle.19

strebt nach einem Kapitalismus ohne wohlfahrtsstaatliche Begrenzungen. […] Bis heute bestimmt der Neoliberalismus die Tagespolitik, die Medienöffentlichkeit und das Massenbewusstsein hierzulande jedoch so stark wie keine andere Weltanschauung. […] Das neoliberale Denken ist in fast alle Lebensbereiche eingedrungen und seine Hegemonie, d. h. die öffentliche Meinungsführerschaft des Marktradikalismus, deshalb nur schwer zu durchbrechen. Trotzdem regt sich immer häufiger Protest, weil die innere Widersprüchlichkeit des Neoliberalismus klarer zutage tritt und seine negativen Konsequenzen für die Gesellschaft, den Wohlfahrtsstaat und die Demokratie inzwischen unübersehbar sind.“ (Butterwege/Lösch/Ptak 2008: 11f.). 19 „Man kann dem Nobelpreisträger Hayek fast dankbar sein, dass er die Grundzüge des neoliberalen Wertesystems so unverhohlen preisgibt: „Ungleichheit ist nicht bedauerlich, sondern höchst erfreulich. Sie ist einfach nötig", heißt es einleitend in einem von Stefan Baron für die Wirtschaftswoche geführten Interview mit Hayek, der seine Argumentation im Hinblick auf den Nord-Süd-Konflikt zuspitzt: „Für eine Welt, die auf egalitäre Ideen gegründet ist, ist das Problem der Überbevölkerung [...] unlösbar. Wenn wir garantieren, dass jeder am Leben erhalten wird, der erst einmal geboren ist, werden wir sehr bald nicht mehr in der Lage sein, dieses Versprechen zu erfüllen. Gegen diese Überbevölkerung gibt es nur die eine Bremse, nämlich daß sich nur die Völker erhalten und vermehren, die sich auch selbst ernähren können.". Das war die

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„Fünf Jahre nach dem Ende der Weltwirtschaftskrise ist klar: Die Hyperreichen waren die großen Gewinner des Aufschwungs, auf den der Rest noch immer warten muss. Sie würden alle zusammen in einen einzigen Reisebus passen, und es müsste nicht mal ein großer sein: Die reichsten 62 Menschen der Welt besitzen zusammen genauso viel Vermögen wie die 3,5 Milliarden ärmsten Menschen.“ (Postinett 2016)

Deutlicher und drastischer lässt sich die stetig andauernde Umverteilung von unten nach oben kaum darstellen. Aus diesen wenigen Zahlen heraus lässt sich nur erahnen mit wieviel Leid dieses Ungleichgewicht verbunden sein muss und wie groß umgekehrt die Anstrengungen sein werden, dieses Leid und vor allem seine Ursachen nicht sichtbar werden zu lassen. Die reduktionistischen neurowissenschaftlichen Modellvorstellungen vom Menschen mit ihren rein auf Empirie basierenden Erkenntnissen, spielen einem gleichfalls reduktionistischen System in die Hände, welches einen Großteil der Menschheit in die Unterordnung zwingt, Ungleichheit und Eigennutz zur Triebfeder menschlichen Handelns erklärt und kulturelle wie soziale Prozesse als rein evolutionär getrieben bestimmt. Für den führenden Neoliberalen Hayek steht fest: „Gas Gehirn ist ein Organ, das uns befähigt Kultur aufzunehmen aber nicht Kultur zu entwerfen.“ (von Hayeck zitiert nach Ptak 2008: 57)

Dies ist eine der neoliberalen Denkfiguren, die von den Neurowissenschaften u.a. mit den Erzählungen von Prägung und Neuroplastizität rekapituliert wird. Im Gegenzug erfreuen sich die Neurowissenschaften dank ihrer Systemkompatibilität hoher gesellschaftlicher Aufmerksamkeit, die auch über die Verfügbarkeit von Forschungsgeldern immer weiter gesteigert wird.20 Brain in a Vat Die Neurowissenschaften sind aufgrund ihres gesellschaftlichen Siegeszuges (vgl. Hasler 2012) imstande das menschliche Selbstverständnis zu beeinflus-

offene Antwort des führenden Neoliberalen auf die damalige Forderung der Länder des Südens nach einer neuen, gerechten Weltwirtschaftsordnung.“ (Ptak 2008: 73). 20 „Der niederländische Wissenschaftsphilosoph Ilja Maso ist der Auffassung, dass innerhalb einer Forschungsrichtung jener wissenschaftliche Ansatz am höchsten bewertet wird, der auf materialistischen, mechanistischen und reduktionistischen Annahmen beruht.“ (Hasler 2012: 36).

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sen und haben damit eine politische Dimension.21 Daher ist eine Offenlegung philosophischer Grundlagen, also dessen, was die Neurowissenschaften sinnvollerweise aussagen können und was nicht, von großer Bedeutung. Dies gilt umso mehr als die Neurowissenschaften in ihren Aussagepositionen die eigenen Disziplingrenzen weit überschreiten und mit vermeintlichen Selbstverständlichkeiten operieren, die bei näherer Betrachtung keine Selbstverständlichkeiten sind (vgl. Hasler 2012:7). Zunächst einmal erklären die Neurowissenschaften das Gehirn zu dem Ort, aus dem heraus – auf Basis physiologischer Prozesse – alle kognitiven Prozesse ableitbar und erklärbar sind. Kognitive Prozesse folgen jedoch in ihrer Beschreibung einer anderen begrifflichen Logik und müssen daher erst einer naturwissenschaftlichen Beschreibung zugänglich gemacht werden. Die Möglichkeit, kognitive Prozesse durch physiologische Vorgänge zu erklären, geschieht durch das Konstrukt eines Welt- und Menschenbildes, das sich, wie alle Welt- und Menschenbilder, nicht empirisch belegen lässt, sondern auf metaphysischen Annahmen beruht.22

21 „Zudem haben wissenschaftliche (philosophische, psychologische, soziologische etc.) Aussagen über den Menschen auch deswegen immer eine politische Dimension, weil sie die bestehenden Verhältnisse entweder zu bestätigen oder zu verändern suchen. Da sich, wie bereits angesprochen, die gleichen Implikationen quasi anthropologischer Faktoren wie bei den Wissenschaften auch in der Gesellschaft, Wirtschaft und Politik auffinden lassen (Vogler 1973, S. 16), müssen entweder die Unterschiede und deren angestrebte Veränderungen thematisiert oder aber Kompatibilität zwischen den Grundzügen des Menschenbildes und den Aussagen über Gesellschaft und gesellschaftliche Positionen hergestellt werden.“ (Hagehülsmann 1984: 22). 22 Hagehülsmann verdeutlicht dies pointiert unter Bezugnahme auf Stachowiak und Herzog wie folgt: „Modelle lassen sich nicht empirisch belegen. Ihre konstituierenden Sätze sind nicht nach den Kriterien der Wahrheit zu beurteilen. Sie können einzig hinsichtlich ihrer Wünschbarkeit und Nützlichkeit (oder Relevanz) beurteilt werden. Dabei ist „nicht nur die Frage zu berücksichtigen, wovon etwas Modell ist, sondern auch, für wen, wann und wozu bezüglich seiner je spezifischen Funktionen es Modell ist" (Stachowiak 1973, S. 133, Herv. i.O.). Modelle beinhalten immer aus dem Erkenntnisinteresse des Wissenschaftlers, einer Wissenschaftlergemeinschaft oder einer sozialen Gemeinschaft stammende Wertsetzungen und schaffen damit ein „normatives Fundament" für wissenschaftliches Handeln. Aus dem nicht-empirischen Charakter von Modellen ergibt sich die Gefahr, daß Theorien, die ihre Modellannahmen nicht ausreichend explizieren, „etwas als empirische Erkenntis ausgeben, was tatsächlich eine bloße Deduktion aus den Modellannahmen ist" (Herzog 1984, S. 96). Daher ist

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Die Möglichkeit, des Aufzeigens der ‚Natur an sich‘ durch empirische Verfahren wird als selbstverständlich angesehen. Doch was sich da zeigt, ist nicht die ‚Natur an sich‘, sondern die Welt unter dem spezifischen Blickwinkel der Naturwissenschaften. ‚Etwas zeigt sich als etwas‘ hier im Blickwinkel der Naturwissenschaften. Was Naturwissenschaften als Natur ausgeben ist in Wirklichkeit Methode. Es sind jedoch doch viele andere Perspektiven möglich unter dem sich ‚Etwas‘ zeigen kann, was speziell von den Neurowissenschaften immer wieder ignoriert wird. Um psychische Prozesse mit ihrer unterschiedlichen begrifflichen Logik für die Naturwissenschaften zugänglich zu machen, bedarf es eines Kunstgriffs, der diese psychische Logik der physikalischen Logik unterordnet. Sehr treffend lässt sich das dafür erforderliche Welt- und Menschenbild im Gedankenexperiment ‚Brain in a Vat‘ (vgl. Putnam 1990: 21ff.) wiederfinden und veranschaulichen. Hier eine Kurzfassung: Einem genialen Wissenschaftler ist es gelungen, ein Gehirn in einer Nährlösung mit einem Computer zu verbinden. Dieser Computer ist nun in der Lage, Sinneseindrücke in Form von elektrischen Reizen nachzubilden und so dem Gehirn eine Welt vorzugaukeln. Die Frage lautet nun, ob das Gehirn eine Möglichkeit hat festzustellen, ob es in einer Nährlösung liegt oder in einem Körper steckt?23

Wer sich nun sofort an die Beantwortung der Frage macht, akzeptiert damit implizit einige unausgesprochene Vorannahmen und bewegt sich im neurowissenschaftlichen Welt- und Menschenbild. Zunächst einmal findet sich hier die Vorstellung, dass das Gehirn – ohne in einem Körper verankert zu sein, d.h. ohne in die ‚Welt‘ eingebunden zu sein –, aus unspezifischen elektrischen Reizen die ‚Welt‘ nach einer bestimmten Programmlogik ‚konstruieren‘ kann. In dieser Ideenwelt wird die Vorstellung eines Computers auf das menschliche Gehirn angewendet und das Bild vom Menschen aus dem Vorbild einer Maschine heraus konstruiert.24 Es wird also keinesfalls

die Explikation der Modellannahmen eine notwendige Bedingung wissenschaftlichen Handelns.“ (Hagehülsmann 1984: 16f.). 23 Eine Variation dieser Idee wird im Film ‚Die Matrix‘ erzählt, in dem Menschen von Maschinen in Nährlösungen zur Energieerzeugung gehalten werden und diesen Menschen eine Computer-Welt vorgegaukelt wird. 24 „Eine umgekehrte Anthropologie veranlasst ihn, sich in seinen elektronischen Systemen zu spiegeln und sich selbst als informationsverarbeitendes System zu verstehen, welches der Welt unbeteiligt gegenübersteht. Erkennen wird zum Konstruieren, das

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unvoreingenommen das menschliche Gehirn untersucht, sondern es werden auf Basis von Modellvorstellungen, die der Computertechnologie entnommen sind, Gehirnfunktion ‚entdeckt‘. Das zweite Konzept ist die Unterscheidung einer konstruierten Wirklichkeit des Gehirns und einer ‚Realität‘ eines Labors in dem ein Wissenschaftler das Gehirn und seine ‚Konstruktionen‘ untersuchen kann. In der Annahme einer Realität liegt ein Zirkelschluss vor, denn der Wissenschaftler der die Realität untersucht, könnte ebenfalls ein Gehirn in einer Nährlösung sein und wäre damit in der gleichen verzwickten Lage wie sein zu untersuchendes Gehirn (vgl. Gehring 2006). Der metaphysische Hintergrund der Argumentationslogik des neurowissenschaftlichen Konstruktivismus wird von Roth beiläufig offengelegt: „Ich habe davon gesprochen, daß das Gehirn die Wirklichkeit hervorbringt und darin all die Unterscheidungen entwickelt, die unsere Erlebniswelt ausmachen. Wenn ich aber annehme, daß die Wirklichkeit ein Konstrukt des Gehirns ist, so bin ich gleichzeitig gezwungen, eine Welt anzunehmen, in der dieses Gehirn, der Konstrukteur, existiert. Diese Welt wird als »objektive«, bewußtseinsunabhängige oder transphänomenale Welt bezeichnet. Ich habe sie der Einfachheit halber Realität genannt und sie der Wirklichkeit gegenübergestellt (Roth, 1985). In dieser Welt - so nehmen wir an -gibt es viele Dinge, unter anderem auch Organismen. Viele Organismen haben Sinnesorgane, auf die physikalische und chemische Ereignisse als Reize einwirken, und sie haben Gehirne, in denen aufgrund dieser Einwirkungen und interner Prozesse eine phänomenale Welt entsteht, eben die Wirklichkeit. Wir sind damit zu einer Aufteilung der Welt in Realität und Wirklichkeit, in phänomenale und transphänomenale Welt, Bewußtseinswelt und bewußtseinsjenseitige Welt gelangt. Die Wirklichkeit wird in der Realität durch das reale Gehirn hervorgebracht. Sie ist damit Teil der Realität, und zwar derjenige Teil, in dem wir vorkommen. Dies ist eine höchst plausible Annahme, die wir allerdings innerhalb der Wirklichkeit treffen und die nicht als eine Aussage über die tatsächliche Beschaffenheit der Realität mißverstanden werden darf. Machen wir aber keine solche Unterscheidung zwischen Realität und Wirklichkeit, dann müssen wir entweder annehmen, daß es gar keine phänomenale Welt gibt, sondern nur Realität. Damit gibt es aber auch gar keine Wahrnehmung und kein wahrnehmendes Ich. Umgekehrt müßten wir die Existenz einer bewußtseinsun-

ohne einen Halt in der Realität auskommen muss. Vermutlich zieht aber erst eine perfekte Selbstherstellung des Menschen, mit welcher er sein Spiegelbild materialisiert und die heute am Horizont von Gentechniken aufblitzt, den Schlussstrich unter diese Entwicklung der Selbstverhältnisse des Menschen.“ (Meyer-Drawe 2012: 78).

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abhängigen Welt, der Realität, leugnen; dann aber wären wiederum alle Befunde über das Zustandekommen der »Welt im Kopf« völlig rätselhaft. Wenn ich als Hirnforscher den Zusammenhang zwischen Sinnesreizen, Hirnprozessen und bewußtem Erleben bzw. Handeln aufzeige, so müßte ich in diesem Fall einer außerordentlich merkwürdigen Täuschung unterliegen und mir überdies einbilden, es gäbe Kollegen, denen dies genauso ginge.“ (Roth 1997:325f., Herv. i. O.)

Wie alleine schon die mehrfache Verwendung des Begriffs ‚Annahme‘ im obigen Zitat zeigt, basiert dieses Weltverständnis eben auf metaphysischen Annahmen und nicht auf den sonst so entscheidenden empirischen Tatsachen (vgl. Dettmann 1999: 189ff.). Es sind dies Annahmen, die erforderlich sind, um die psychologische Begriffswelt der physiologischen unterzuordnen und so den umfassenden neurowissenschaftlichen Erklärungsanspruch zu rechtfertigen. Die Unterscheidung zwischen Realität und Wirklichkeit ist erforderlich, um das Paradigma des empirischen Nachweises als objektiv und bewusstseinsunabhängig erscheinen zu lassen. Der Anspruch der Neurowissenschaften, sich mit der Realität durch eine Wirklichkeit hindurch zu befassen und damit eine herausgehobene Stellung einzufordern, beruht auf dieser künstlichen Trennung von Wirklichkeit und Realität, deren Wurzeln bereits bei Galilei zu finden sind (Wenke 2006: 21).25 Mit dieser Trennung werden Wahrnehmungs- und Empfindungsprozesse zu einer Konstruktion und damit analog zum Computermodell gleichsam ‚virtuell‘. Leid ist kein Teil der Realität mehr, sondern nur noch Teil der subjektiven Wirklichkeit. Dabei sind das, was heute als Momentaufnahmen des ‚arbeitenden Gehirns‘ verkauft wird, Computerberechnungen, die auf der Messung minimalster Änderung der Sauerstoffkonzentration im Gehirn unter Verwendung statistischer Verfahren erzeugt werden.26 Hirnbilder „sind keine Abbilder der Natur, sondern Artefakte von Artefakten (Meyer-Drawe 2012: 31)“ und kommen in ihrem epistemischen Status mehr einem Gemälde gleich als einer Fotografie.

25 „Eine besondere Rolle in der Entstehung des modernen Objektivitätsideals spielte Galilei, der die heute so weit verbreitete Auffassung einer unsichtbaren »objektiven Welt« zum Standard erhob, die der abfällig »bloß subjektiv« genannten Welt der sinnlichen Erscheinungen als »eigentliche« Wirklichkeit zugrunde liegen soll und nur logisch und induktiv über Idealisierungen, Abstraktionen und Mathematisierung quasi hinter den Erscheinungen zu finden ist: »Gleich mit Galilei beginnt also die Unterschiebung der idealisierten Natur für die vorwissenschaftlich anschauliche Natur« (H 1986, 255f.).“ (Wenke 2006: 21). 26 Vgl Künkler (2011: 199ff.); Lux (2014: 168ff.); Hasler (2012: 39ff.).

322 | CHRISTIAN F UCHS „Daß sich all das im Gehirn an einer bestimmten Stelle abspielt, stellt noch keine Erklärung im eigentlichen Sinne dar. Denn ‚wie' das funktioniert, darüber sagen die Methoden nichts, schließlich messen sie nur sehr indirekt, wo in Haufen von Hunderttausenden von Neuronen etwas mehr Energiebedarf besteht. Das ist in etwa so, als versuchte man die Funktionsweise des Computers zu ergründen, indem man seinen Stromverbrauch mißt, während er verschiedene Aufgaben abarbeitet.“ (Monyer 2004: 33; zit. n. Künkler 2011: 206)

Auch die Idee des selbstreferentiellen Gehirns27, das sich aus neutralen elektrischen Impulsen eine Welt konstruieren soll und das sonst mit der Welt in keinem Kontakt steht, kann nicht befriedigend erklären warum überhaupt etwas unser Interesse weckt. Der Prozess wie etwas zur Figur wird bleibt rätselhaft so lange das Gehirn ausschließlich mit sich selbst beschäftigt ist und den Hintergrund ausblendet. Der neurowissenschaftliche Diskurs konstituiert determinierte Subjekte. So erhält die neoliberale Forderung nach Unterordnung unter eine evolutionär gewachsene, kapitalistische Gesellschaftsordnung eine biologische Grundlage und damit gleichzeitig eine empirische Basis. Persönlichkeit, Identität, Bewusstsein sind aus Sicht der Neurowissenschaften Erfindungen unseres Gehirns, das genetisch angelegten Programmierungen gehorcht und lediglich im Rahmen dieser Möglichkeiten lernen kann. Kreativität findet nur im engen persönlichen Rahmen, vor allem im Rahmen von Eigennutz statt. Wir haben keinen freien Willen, wie immer wieder vor allem unter Berufung auf die Experimente von Libet (1980) betont wird.28 Wir können uns nur unserer ‚Programmierung‘ und unse-

27 „Das Gehirn trifft die Unterscheidungen über den Wirklichkeitscharakter erlebter Zustände aufgrund bestimmter Kriterien, von denen keines völlig verläßlich arbeitet. Es tut dies in selbstreferentieller Weise; es hat nur seine eigenen Informationen einschließlich seines Vorwissens zur Verfügung und muß hieraus schließen, womit die Aktivitäten, die in ihm vorgehen, zu tun haben, was sie bedeuten und welche Handlungen es daraufhin in Gang setzen muß.“ (Roth 1997: 324). 28 Libet hatte in den 1980ern vor dem bewussten Ausführen einer Bewegung eine Gehirnaktivität gemessen, was seitdem immer wieder als ein Beleg für die Nichtexistenz des freien Willens angeführt wird. Das dies mehr oder weniger die einzige empirische Befundlage zu diesem Thema darstellt (Hasler 2012: 190), mag angesichts der Bedeutung des Themas verwundern. Verwunderung wird aber auch dadurch hervorgerufen, dass die vielen Einwände, das Libet Experiment als Beleg für die Nichtexistenz eines freien Willens heranzuziehen (übrigens auch von Libet selbst), so wenig Gehör finden. (Bennett/Hacker 2012: 308).

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rem Dasein als neuronale Maschine unterwerfen. Das allerdings hat dann auch die Konsequenz, dass wir keine Schuld auf uns laden können, denn: „Nach all den Befunden, […], müssen wir von Folgendem ausgehen: Menschen können im Sinne eines persönlichen Verschuldens nichts für das, was sie wollen und wie sie sich entscheiden, und dies gilt unabhängig davon, ob ihnen die einwirkenden Faktoren bewusst sind oder nicht, ob sie sich schnell entscheiden oder lange hin und her überlegen.« (Roth 2001: 541)

Nicht nur für Opfer von Gewalttaten, die traumatisch leiden, sind derartige Aussagen zynisch. Hier findet nicht nur eine Verdrängung von Leid sondern auch eine Verdrängung von Schuld statt. Die Verdrängung ist dabei zweifach: Wir können nicht frei handeln, wir sind gezwungen und alles, was wir wahrnehmen, ist eine Konstruktion unseres Gehirns. In dieser Logik bleibt den Menschen wirklich nur die freiwillige Unterordnung, sei es unter evolutionäre oder gesellschaftliche Prozesse. „Trotz all dieser Einwände scheinen neurowissenschaftliche Argumentationen die Lufthoheit im Streit darüber erlangt zu haben was den ‚Geist‘ des Menschen ausmacht. Sie fädeln sich mit ihren virtuellen Bildern nahtlos ein in die virtuellen Welten unserer modernen Gesellschaft. Sie erschaffen Evidenz wo es Sie nicht gibt. Ihr Denken in vernetzten Systemen und Synapsen korreliert mit einer Selbstdeutung mit der wir uns selbst im Spiegel des Internet immer mehr als einen Knoten im Netz deuten.“ (Meyer-Drawe 2012: 38)

Die bloße Bezugnahme auf neurowissenschaftliche Erkenntnisse im Sinne von ‚neueste neurowissenschaftliche Erkenntnisse haben gezeigt‘ importiert gleichzeitig ein neurowissenschaftliches Welt- und Menschenbild. Die Folgen reichen weit über den naturwissenschaftlichen Erkenntnishorizont hinaus. Dennoch scheinen Verweise dieser Art beinahe schon zum guten ‚wissenschaftlichen‘ Ton zu gehören. Aber die naturwissenschaftliche Perspektive ist nicht die einzige Möglichkeit psychische Vorgänge zu beschreiben. So gibt es z.B. aus einer phänomenologischen Perspektive heraus keine künstliche und eben auch nicht belegbare Trennung von ‚subjektiver‘ Wirklichkeit und ‚objektiver‘ Realität. „Auch Phänomenologen glauben nicht, an die Dinge selbst heranzugelangen. Sie begegnen jemandem oder etwas stets in der Differenz des etwas als etwas. „[…] Im Unterschied zum Konstruktivismus zeigen phänomenologische Überlegungen allerdings, „wie sich die Wirklichkeit im Bewußtsein selbst als bewußtseinsunabhängig herausstellt." (Tengelyi

324 | CHRISTIAN F UCHS 2002, S. 793) Es gibt eine Sinnbildung, die nicht von der Sinngebung des Bewusstseins ausgeht. Etwas ist anregend. Etwas stört. Etwas ruft Erstaunen hervor. Etwas überrascht mich, oder ich habe einen Einfall. Dies widerfährt dem Bewusstsein, ohne dass es von ihm gestiftet wird. […] Aber diese Phänomene finden kaum Beachtung. Ihre Unkalkulierbarkeit hat sie diskreditiert. Das Denkkollektiv hat sie längst als Gespenster des Alltags ausgeschieden. Die Beobachtungstechnologien rechnen nicht mit ihnen, weil Kontingenzen durch ihre Optik fallen.“ (Meyer-Drawe 2012: 163)

Aus dem phänomenologischen Blickwinkel heraus gibt es eine subjektive Wahrnehmung.29 Dies wird jedoch nicht als bedauerliche Einschränkung verstanden, sondern letztlich die einzige Möglichkeit mit der Welt in Kontakt zu treten und sie in ihrer Vielfalt zu erfahren. Eine Wahrnehmung, die sich einer objektivierenden naturwissenschaftlichen Beschreibung entzieht. Leid ist in diesem Blickwinkel Bestandteil einer nicht in Wirklichkeit und Realität zergliederbaren Existenz. Die Phänomenologie setzt dem naturwissenschaftlichen Welt- und Menschenbild das Bild eines ganz in die Welt ‚eingelassenen‘ Menschen entgegen, das eine bewusstseinsunabhängige Welt im Bewusstsein anerkennt: wir konstruieren keine fiktiven Welten, sondern die konkrete Welt zeigt sich im Bewusstsein. Die Welt wird wieder ‚verantwortlich‘. Für das Verständnis von Trauma und traumatischen Leid bedeutet ein phänomenologisches Verständnis von ‚etwas zeigt sich als etwas‘, dass jede Verwendung des Begriffs Trauma immer ein Trauma* meint. Das neurowissenschaftlich geprägte hegemoniale (Trauma)Verständnis muss als Trauma* verstanden werden, als eine Perspektive unter vielen. Die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse werden damit für weitere Interpretationen zugänglich. Ein umfassendes Verständnis von Trauma und traumatischem Leid kann es dennoch nicht geben. Die Summe Trauma* Perspektiven ergeben immer ein T___a. Das Ganze ist immer mehr als die Summe seiner Teile, ähnlich wie eine Melodie mehr ist als die Summer der Töne, aus denen heraus sie erklingt. Diese Kontingenz und Unbestimmbarkeit macht eine ideologische Vereinnahmung schwierig und stößt

29 „Alles Wissen begründet sich erst in den Horizonten, die die Wahrnehmung uns eröffnet. Die Wahrnehmung selbst ist nicht zu beschreiben als eines unter den Fakten, die in der Welt vorkommen, da wir im Bilde der Welt nie jene leere Stelle zu unterdrücken vermögen, die wir selber sind, und in der sie erst dazu gelangt, für jemand dazusein, da die Wahrnehmung der ‚Fehler‘ in diesem ‚großen Edelstein‘ ist.“ (Merleau-Ponty 1966: 244).

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dabei umgekehrt auf den Widerstand der herrschenden Diskurse.30 Die naturwissenschaftliche Perspektive, die prinzipiell davon ausgeht, dass die Ordnung des Seienden erfasst werden kann, muss hinterfragt werden und das Menschliche in seiner Unbestimmbarkeit anerkannt werden. Vom Trauma zum Leid Der herrschende (Trauma)Diskurs bildet nicht objektiv ‚die Realität‘ ab, er erschafft eine (Trauma)Welt. Diagnosemanuale erzeugen ‚Traumatisierte‘, die aus dem Tritt geratene ‚neuronale Maschine‘ benötigt manualisierbare (Trauma)Therapien oder eine besondere (Trauma)Pädagogik. Die Traumatisierten fallen in den Zuständigkeitsbereich von spezialisierten (Trauma)Therapeut_innen und (Trauma)Pädagogen_innen.31 In dieser Logik wird seelische Gesundheit zu einem Produkt auf dem (Trauma)Gesundheitsmarkt oder einer normativen Zielvorstellung, auf die es mit pädagogischen Mitteln hinzuarbeiten gilt. Seelische Zustände werden ihres Sinns beraubt und einzig auf ihre physiologischen Ursachen hin betrachtet. Leid und alles seelische Vermögen wird zu einem bloßen Resultat elektrochemischer Vorgänge erklärt. Dies alles geschieht auf der Basis metaphysischer, empirisch nicht belegbarer Vorstellungen von ‚Wirklichkeit‘ und ‚Realität‘. Die Wirkmächtigkeit dieser epistemisch labilen Argumentationen lässt sich in einer neoliberalen Systemkonformität vermuten, denn all dies widerspricht der gelebten Erfahrung. Niemand, der Leid erfährt und erdulden muss, hat je seine aktivierte Amygdala oder seinen Hippocampus gespürt, als defizitär empfunden oder sein Leid, seinen Willen als eine ‚Konstruktion‘ erfahren.32 Die phänomenologische Perspektive macht traumatisches Leid als Erfahrung spürbar und erkennt Leid als eine Erfahrung an, in der ein Sinn liegt. Leid wird zu einem Prozess, einer ‚Seinsweise‘, und menschliche Begegnung wandelt sich

30 Es gibt über das hier gesagte hinaus eine Vielzahl berechtigter Kritikpunkte an neurowissenschaftlicher Forschung. Diese stellen aber in der Regel keine Kritik an neurowissenschaftlicher Forschung an sich dar, sondern an einer Interpretation, welche die tatsächliche Aussagekraft physiologischer Untersuchungen weit überschreitet. Luzide Ausführungen hierzu finden sich exemplarisch bei Künkler (2011) und Hasler (2012). 31 Zur dispositiven Konstruktion des Traumas vgl. Jäckle i.d.B. 32 „Wie fremd muss man sich geworden sein, um das Schnittbild eines menschlichen Gehirns für anschaulicher zu halten als die eigene Erfahrung des freien Willens?“ (Meyer-Drawe 2012: 175).

326 | CHRISTIAN F UCHS

damit von einer Objekt-Objekt-Kommunikation zu einer Mensch-MenschKommunikation. Ein pädagogischer Zugang zu Trauma* ist über die Erfahrung des Leides im Sinne einer Lernerfahrung möglich. Lernen verstanden als ein pädagogisches Phänomen und nicht als ein Reiz-Reaktions-Phänomen: ein Lernen, das sich als Geschehen einer Beschreibung entzieht, aber in seinen Auswirkungen erkennbar wird; ein Lernen, das nicht durch Modalitäten, sondern durch konkrete Inhalte und konkrete Situationen bestimmt ist; ein Lernen, dessen wesentliches Kennzeichen die konkrete, gegenwärtige Erfahrung ist; ein Lernen, das den Anderen braucht, um sich auf das Abenteuer und die Ungewissheit des Lernens einzulassen; ein Lernen, das den Menschen als Person, leibhaftig verändert; ein Lernen, das nicht in Kognition und Bewusstsein aufgeht, sondern auch somatisch erfahren wird.33 Traumatische Erlebnisse sind immer begleitet von der Erfahrung absoluter Hilflosigkeit, Ohnmacht und einer existentiellen Bedrohung. In diesen Situationen wird eine Erfahrung gelernt. Es gehört zum Kennzeichen einer Lernerfahrung, dass sie individuell ist und dass sie von der spezifischen Situation abhängig und nicht vorhersagbar ist. Dies trifft auch auf das Phänomen des Traumas zu und dies gilt auch für das Trauma. Im Falle von traumatischem Leid wird vor allem gelernt, dass die Welt ein unsicherer Ort ist. Diese Unsicherheit nimmt jeder Betroffene individuell wahr. Die Erfahrung der Unsicherheit führt dazu, mit erhöhter Wachsamkeit zu reagieren, einer Wachsamkeit, die chronifiziert und so dauernden Stress erzeugt, Kampf-, Flucht- und Erstarrungsreaktionen als Folge auslöst. Traumafolgesymptome können als eine Reaktion des Organismus aufgefasst werden, mit diesem Stress umzugehen. All dies ist begleitet von der Erfahrung des Leides. Umlernen oder Neulernen braucht Vertrauen besonders bei Menschen, die traumatisch leiden. So ist es die Aufgabe von Schule sichere Räume zu schaffen, wodurch ein Sich-Einlassen auf Lernprozesse erst möglich wird. Grundlage dieser Lernbedingung ist die Schaffung von Sicherheit und Vertrauen in der Mensch-Mensch-Beziehung (vgl. Bollnow 1968: 44ff.). Die therapeutischpädagogische Schnittmenge zeigt sich genau auf dieser Ebene vertrauensvoller Beziehungen. „Wenn interpersonale Sicherheit der ‚zentrale Behandlungsfokus‘ in der Psychotherapie traumatisierter Menschen sein soll, wie viel mehr noch muss dieses Herstellen interpersonaler Sicherheit zum zentralen Focus pädagogischer Interventionen werden, damit wir

33 Vgl. Meyer-Drawe (2012); Künkler (2011).

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Kinder mit traumatischen Erfahrungen in unseren Einrichtungen nicht erneut traumatisieren.“ (Finger-Trescher 2004: 139)

Traumatisches Erleben erwächst aus chronischer Unsicherheit und Wachsamkeit. Aus diesem Blickwinkel wird die Herstellung von Vertrauen zu einer zentralen Aufgabe. Wie Vertrauen hergestellt wird, ist ein pädagogisches Wissen, das sich aus phänomenologischer Beobachtung entwickelt und sich im Zeigen und Handeln erzieherisch manifestiert. Vertrauen erfahrbar, spürbar, lebbar zu machen, wird im Falle traumatisierter Kinder und Jugendlicher zum pädagogischen Grundauftrag. Zu lernen was Vertrauen bedeutet und was das Fehlen von Vertrauen auslöst, was es heißt Leid zu ertragen, dazu braucht es eine pädagogische Haltung und pädagogisches Verständnis von Leid.34 Für die Schule ergibt sich die Möglichkeit Leid als einen existentiellen Bestandteil menschlichen Lebens zum erlebbaren Thema werden zu lassen und neue Erfahrungsräume für den Umgang mit Leid zu eröffnen. Die traumatische Wunde ist offen und traumatisches Leid zeigt sich gerade auch in der Schule. Es wird aber meist in einer schwer fassbaren (T___a)Erscheinung wahrgenommen. Die verwundeten Kinder und Jugendlichen erscheinen aggressiv, delinquent, hyperaktiv oder verschwinden im Unsichtbaren. Lehrkräfte, die in der Regel so viel mehr Zeit mit traumatisierten Kindern verbringen als Therapeut_innen können viel dazu beitragen, Trauma in den Trauma* Perspektiven überhaupt erst sichtbar zu machen. Sie können zur Schaffung der dafür erforderlichen sicheren Umgebungen beitragen und so eine Veränderung der traumatischen Existenzweise der Betroffenen im Alltäglichen initiieren. Damit geraten die pädagogischen Beziehungen ins Zentrum, die zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz (Prengel 2013) wiederum die Erfahrungen in der Schule bestimmen. Ziel ist, den Umgang mit Trauma zu einem Umgang mit Leid werden zu lassen. Die Erfahrung von Leid sollte auch in der Schule nicht weiter dethematisiert und durch Diagnosen neutralisiert werden, wenn Leid gelindert werden soll. Literatur Adorno, Theodor W. (1996): Minima Moralia. Berlin: Suhrkamp. Bailer-Galanda, Brigitte (2004): Entschädigung für seelisches Leid? Verfolgungsbedingte Gesundheitsschäden. In: Friedman, Alexander/Hofmann, Peter/Lueger-Schuster,

34 Vgl. Jäckle Relationale Grenzgänge des Traumatischen i.d.B.

328 | CHRISTIAN F UCHS Brigitte/Steinbauer, Maria/Vyssoki, David (Hg.): Psychotrauma: Die Posttraumatische Belastungsstörung. Wien: Springer-Verlag, 213-221. Bennett, Maxwell R./Hacker, Peter M.S. (2012): Die Philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Brenssell, Ariane (2014): Traumaverstehen. In: Brenssell, Ariane/Weber, Klaus (Hg.): Störungen. Hamburg: Argument Verlag, 123-150. Bollnow, Otto Friedrich (1968): Die Pädagogische Atmosphäre. Essen: Verlag Die Blaue Eule. Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Butterwege, Christoph/Lösch, Bettina/Ptak, Ralf (2008): Kritik des Neoliberalismus. Wiesbaden: VS Verlag. Dettmann, Ulf (1999): Der Radikale Konstruktivismus. Tübingen: Mohr Siebeck. Dungs, Susanne (2009): Soziale Arbeit zwischen aktivierender Sozialpolitik und determinierender Biopolitik. In: Dungs, Susanne/Gerber, Uwe/Mührel, Eric (Hg.): Biotechnologie in Kontexten der Sozial- und Gesundheitsberufe. Frankfurt am Main: Peter Lang, 33-60. Finger-Trescher, Urte (2004): Was ist ein Trauma?. In: Büttner, Christian/Mehl, Regine/Schlaffer,

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Traumatisierung und Intergeschlechtlichkeit A NJA G REGOR Einleitung1 also ich wurde geboren im September, 76, (1) ähm, (2) mit uneindeutigem Genitale, [mhm] u n d sechs: Tage später wurde ich dann verlegt, in eine. spezialisierte. ähm. Universitätsklinik, in Tübingen, (1) u n d da sind halt erstmal zahlreiche Tests gemacht worden. (1) ähm, (1) es wurde damals relativ schnell festgestellt dass ich einen XYChromosomensatz habe,

Lisa*2 ist intergeschlechtlich. Ihr Körper wurde bereits direkt nach der Geburt als ‚intersexuell‘3 diagnostiziert. Ihr Körper entzieht sich einer ‚eindeutigen‘ Einordnung als männlicher oder weiblicher. Bei der Geburt bleibt damit der Ort

1

Die Ausführungen der ersten Abschnitte dieses Artikels basieren auf Überlegungen

2

Die im Artikel angeführten Interviewpassagen stammen aus dem Datenpool einer Bi-

aus meiner Dissertationsschrift (Gregor 2015). ographieforschung mit intergeschlechtlichen Menschen, die 2009 bis 2014 durchgeführt wurde. Die Befragten haben sich mit selbst gewählten Namen anonymisiert und passende Pronomina benannt. Im Folgenden werden die Namen mit einem * gekennzeichnet. 3

‚Intersexualität‘ wird zur Unterscheidung der medizinischen Diagnose vom sozialen Phänomen Intergeschlechtlichkeit in einfachen Anführungszeichen verwendet. Mit dieser Sprachentscheidung folge ich der IVIM und wähle damit einen Begriff, der meinem Verständnis von Geschlecht als untrennbarem Verweisungszusammenhang von sex und gender am ehesten entspricht. Auch hier hat die IVIM bereits 2005 für die englische Übersetzung ihrer Ausstellungsdokumentation bemerkt: „The German word Geschlecht does not seperate between the social (gender) and the biological (sex)“ (IVIM 2005: 44, Herv. i.O.).

T RAUMATISIERUNG

UND I NTERGESCHLECHTLICHKEIT

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einer Anrufung zur Initiation der sozialen Geschlechtsgenese unbestimmt, leer; es gibt kein der Diagnose ‚Intersexualität‘ entsprechendes Signifikat. Oder anders gesagt: Der Satz „Es ist ein Junge!“ bedeutet für das neugeborene Individuum zwar bereits etwas Anderes als „Es ist ein Mädchen!“ − ein Neugeborenes, auf das keine der beiden Bezeichnungen zutrifft, überschreitet die Grenzen unserer sozialen Ordnung jedoch auf eine Weise, von der Judith Butler (2009: 84) sagt, dass es die Überschreitung der Grenze dessen ist, was anerkennbar ist. Mit medizinischen Bezeichnungen wird der intergeschlechtliche Körper als kranker männlicher oder weiblicher Körper markiert. Es gibt kein Skript für Menschen mit geschlechtlich nicht zweifelsfrei diagnostizierbaren Körpern, stattdessen existieren diskursive Materialisierungen wie etwa die Prader-Skala4 oder festgelegte ‚Normalwerte‘ eines vergeschlechtlichten Blutbildes, die beschreiben, welche Komponenten eines ‚gesunden‘ weiblichen respektive männlichen Körpers wie ausgeprägt sein müssen. Der Medizindiskurs hat weiterhin die sich seit der Antike sukzessive diskursiv materialisierte und kulturell sedimentierte Definitionsmacht über die Geschlechtsentwicklung (Groneberg 2008; Klöppel 2010). Es finden entlang dieser Normalisierungsraster umgehend geschlechtliche Zuordnungen statt − die außerhalb der Zusammenhänge intergeschlechtlichen Aktivismus’ fälschlicherweise als Lockerung des kulturellen Systems der Zweigeschlechtlichkeit gefeierte5 Änderung des PStG im November 2013 haben diesem Umstand mit dem Zusatzpassus in §22 Fehlende Angaben6 eine rechtliche Legitimation gegeben. Behandelnde Mediziner_innen erhalten damit nun gleichsam ‚per legis‘ die Aufgabe, medizinische Aktivität um die Geschlechtsbestimmung zu entfalten (Thomas 2005: 20)7 − und damit die Macht der GeschlechterRegulierung, die Wirkung der heterosexuellen Matrix auf den neugeborenen

4

Eine Skala zur Einordnung des intergeschlechtlichen Genitals, in der mit sechs Gra-

5

Der Freitag bspw. kommentiert am 1. November 2013 in einer Kurzmeldung: „Ab so-

phiken ein Kontinuum zwischen männlichem und weiblichem Genital dargestellt ist. fort drei Geschlechter!“ (Ratzel 2013); mittlerweile finden sich aufgrund der kritischen Aufklärungsarbeit insbesondere intergeschlechtlicher Aktivist_innen kaum noch derartige, rundweg positive Reaktionen auf die Gesetzesänderung. 6

Besagter Zusatzpassus lautet wie folgt: „(3) Kann das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so ist der Personenstandsfall ohne eine solche Angabe in das Geburtenregister einzutragen.“ (PStG, Fassung vom 28.08.2013, abzurufen unter http://www.gesetze-im-internet.de/pstg/BJNR012210007. html#BJNR-012210007BJNG000700000; 28.07.2016).

7

Zu dieser Kritik an der Änderung des PStG vgl. auch die Pressemitteilung der Internationalen Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen (IVIM) e.V. 2012.

332 | A NJA GREGOR

Körper normativ zu kanalisieren. Inneres wie Äußeres des pathologisierten Körpers wird vereingeschlechtlicht, indem Körpermerkmale ebenso wie seine Organe einem der zwei gültigen Geschlechter zugeordnet oder gegebenenfalls entfernt werden. Auch wenn es heute durch politische Bildungsarbeit und Aktivitäten betroffener intergeschlechtlicher Menschen8 einzelne Mediziner_innen gibt, die diese Eingriffe ohne Einwilligung der betreffenden Kinder und Jugendlichen als ungerechtfertigt bewerten (Anthuber/Anthuber 2012), werden die allermeisten ,intersexuell‘ diagnostizierten Kinder weiterhin einem der zwei gültigen Geschlechter zugeordnet und ihre Körper entsprechend medizinisch zugerichtet. Diese Verletzungen des Körpers, konkret physische ebenso wie psychische, können eine traumatische Dimension (Wuttig 2016) für die betroffenen Subjekte enthalten, wenn etwa die vergeschlechtlichenden Zurichtungen gegen den Willen oder ohne die informierte Einwilligung (informed choice)9 der betreffenden Personen geschieht. Der vorliegende Beitrag stellt sich damit einer doppelten Herausforderung: Neben der Systematisierung der traumatischen Dimension der Intersexualisierung (Eckert 2010), der Markierung von Körpern als ‚intersexuell‘ mittels Diagnose und vereingeschlechtlichender Diagnostik und ihrer anschließenden kosmetischen Zurichtung, wird der ‚Zurichtungscharakter‘ pädagogischer Einrichtungen untersucht10. Während die Intersexualisierung den Individuen die Geschlechtsmorphologie buchstäblich mit dem Skalpell ins Fleisch schneidet (Butler 2009) und konkret spürbare Schmerzen und psychische Versehrungen bei den betroffenen Subjekten provoziert, stellt die soziale Zurichtung eine Dimension der Gewalt des kulturellen Systems der Zweigeschlechtlichkeit dar, durch die ein Leben als intergeschlechtlicher Mensch verunmöglicht wird und damit die Negation und Auslöschung der Existenz zwischengeschlechtlicher Körper per medizinischer Zurichtung als „‚Exekutive‘ für die Umsetzung gesellschaftlich verhandelter und durchgesetzter GeschlechterNormen am Körper“ (Gregor 2015: 67) ihre soziale Basis (und Re-Produktion) erhält.11

8

Als Beispiele seien hier genannt: IVIM, Intersexuelle Menschen e.V., zwischenge-

9

Vgl. hierzu Elwyn, Edwards und Kinnersley (1999). Ein herzlicher Dank gilt Marion

schlecht.org uvm. Katzer für diesen wichtigen Hinweis zur Definition verschiedener Formen der medizinischen Patient_inneninformation und -behandlung. 10 Vgl. dazu auch Foucault (1977). 11 Intergeschlechtliche Menschen, darauf sei hier aber mit aller Deutlichkeit hingewiesen, sind nicht ohne weiteres unter den Regenschirm des LGBTQ zu subsummieren. Es geht Aktivist_innen in diesem Feld „zuvorderst um ein Ende medizinischer Invasi-

T RAUMATISIERUNG

UND I NTERGESCHLECHTLICHKEIT

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Begriffsapparat: Intersexualisierung und Trauma Intergeschlechtlichkeit wird im Artikel entsprechend verhandelt als soziale Bezugskategorie − ebenso für das kulturelle System der Zweigeschlechtlichkeit wie für die Grenze zwischen den Geschlechtern: Einerseits ist Intergeschlechtlichkeit als soziale Kategorie das Verworfene, das Außen der Matrix, über dessen Ausschluss sich der bestehenden sozialen Ordnung (der Heterosexualität und damit Zweigeschlechtlichkeit inhärent ist)12 versichert wird; andererseits ist die Grenze zwischen männlichen und weiblichen Körpern, wie sie verhandelt wird, Produkt immer detaillierterer Erforschung intergeschlechtlicher Körper seit dem 17. Jahrhundert bis heute und kann damit als ein Element für die geschlechtliche Segregation von Körpern definiert werden. Ich habe Intergeschlechtlichkeit deshalb bereits zuvor als Vexierbild bezeichnet, dessen soziale Relevanz gleichsam zwischen innen und außen, eingeschlossenem ‚Dazwischen‘ und ausgeschlossenem ‚Anderen‘ fluktuiert.13 ‚Intersexualität‘ oder DSD14 gilt in der Medizin in den meisten Fällen weiterhin als eine körperliche Ausprägung des Geschlechts, die es kurz- bis mittelfristig zu korrigieren gilt. Intergeschlechtliche Kinder oder Jugendliche werden selten als solche benannt, stattdessen wird ihnen und/oder ihren Eltern vermittelt, es handle sich bei ihren körperlichen Ausprägungen um krankhafte Veränderun-

on und erst an zweiter Stelle um Identitätsfragen, Anerkennungs- und Umverteilungskämpfe“ (Hechler 2015: 63). Intergeschlechtliche Menschen können „(manchmal zusätzlich oder nur) eine männliche, weibliche oder trans* Identität haben. Zudem können sie queer, hetero-, homo-, bi-, a-, pan- oder ‚was-auch-immer‘ sexuell leben“ (ebd.). 12 Vgl. hierzu Butler (1991). 13 Vgl. zum Vexierbild, seinem theoretischen Fundament und der Genealogie von Zwischengeschlechtlichkeit als ‚Grenzposten der Geschlechter‘ ausführlich Gregor (2015: 65ff, 87ff.). 14 DSD oder Disorders of Sex Development (u.a. übersetzt mit Störungen der Geschlechtsentwicklung) ist seit seinem Entstehen als Ergebnis der Chicago Consensus Conference 2006 (Hughes u.a. 2006) der Terminus, durch den ‚Intersexualität‘ abgelöst werden sollte. Daneben kursieren im deutschsprachigen Diskurs ähnliche Versionen (u.a. Disorders of Sex Differentiation, Differences of Sex Development). Ich vermute, dass sich in dieser ungenügenden Begriffsdifferenzierung die hier dokumentierte (und hochproblematische) Verschränkung von Körper, Geschlecht und Sexualität reflektiert, die sich im Medizindiskurs über die Zeit etabliert und verselbstverständlicht hat.

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gen ihres eigentlich männlichen oder weiblichen Körpers − dabei tritt ‚Intersexualität‘ (als Sammelbezeichnung verschiedenster medizinisch klassifizierter ‚Syndrome‘) laut der Biologin Anne Fausto-Sterling mit einer ungefähren Häufigkeit von 4% auf (dies. 1993: 21) und ist damit mitnichten ein besonders seltenes Phänomen. Eine Entwicklung intergeschlechtlicher Körper als solche ist aus medizinischer Perspektive nicht vorgesehen; je nach ‚intersexuellem Syndrom‘ werden Genitalien operativ dem zugewiesenen Geschlecht angepasst oder mit Medikamenten die Körperentwicklung in die gewünschten Bahnen gelenkt.15 Dass intergeschlechtliche Körper als krank und daher korrekturbedürftig angesehen werden, zeitigt bei den Betroffenen massive physische und psychische Verletzungen, die sich als belastende biographische Erfahrungen in die Körper einschreiben und langwierig und beschwerlich aufgearbeitet werden müssen. Intergeschlechtlichkeit wird damit nicht nur sozial tabuisiert, indem unsere Interaktion streng zweigeschlechtlich strukturiert ist.16 Eine Folge ist zudem, dass eine Berücksichtigung alternativer Geschlechtsentwürfe im sozialen Kontext nahezu verunmöglicht wird. Die Prozedur, normativ vergeschlechtlichte Körpermerkmale als Marker für eine angemessene Entwicklung zu setzen und operativ entsprechend zuzurichten, wird dem intergeschlechtlichen Körper nicht gerecht. Der Körper ist immer untrennbar in den komplizierten Vorgang des Werdens involviert (Roen 2009: 19) und damit nicht als ein Objekt, sondern als event zu verstehen (ebd.: 20f.). Katrina Roen setzt dem Verständnis von sex als passive, formbare Masse, die durch die soziale Zurichtung erst wahrnehmbar und aktiviert wird, die Definition des Körpers als sich entwickelnde Materialität entgegen. Der Clou ihrer Ausführungen ist dabei, dass durch die medizinischen Eingriffe intergeschlechtliche Menschen in besonderer Weise subjektiviert werden, weil diese Erfahrungen in die Entwicklung des Selbst aufgenommen werden (imbricated): Narbenbildung, ästhetische Differenzen, die Veränderung der Empfindsamkeit werden kontinuierlich gelebt (ebd.: 21). Sie sind damit ebenso wie die teils als traumatisch erlebte

15 Es gibt zudem aktuelle Entwicklungen im Medizindiskurs, deviante Körper abzutreiben (Holmes 2008) − alles vor dem Hintergrund eines fragwürdigen Gesundheitsdispositivs, das nur körperlich unauffälligen, eindeutigen Männern und Frauen einen menschenrechtsrelevanten Status einräumt (Butler 1997, 2009). 16 Naheliegende Beispiele sind hier geschlechtsspezifische Kleidung oder Toiletten. Das muss jedoch nicht bedeuten, dass es innerhalb dieser zweigeschlechtlichen Logik keine Brüche geben darf (‚Frauen‘ mit ‚männlichen‘ Eigenschaften u.U.) − so lange sie sich eben innerhalb des kulturellen Systems der Zweigeschlechtlichkeit (HagemannWhite 1984) bewegen.

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Vereingeschlechtlichung Teile der Summe aller Erfahrungen, die über die je individuelle Erfahrungsaufschichtung in Biographien (verstanden als gesellschaftlich verortete, subjektive Sinnkonstruktion)17 eine narrative Konstruktion des Selbst erheblich mitgestalten.18 Erfahrungen mit traumatisierender Dimension sind dadurch gekennzeichnet, dass die betreffende Person unerwartet und unvorbereitet konfrontiert wird. Sie werden als sehr bedrohliche Situationen erlebt, in denen die körperliche Unversehrtheit von ein_er19 selbst oder anderen bedroht ist oder schwerwiegende Verletzungen passieren, denen nicht mit bislang erlernten Bewältigungsstrategien begegnet werden kann. Es entstehen Gefühle von Hilflosigkeit, Angst und Entsetzen. Di_er Betroffene gerät unter enormen Stress, der sich auch auf den Körper auswirkt: Der Organismus bemüht Überlebensstrategien, um den Überfluss an aversiven Reizen zu bewältigen. Auswirkungen können die andauernde ‚Alarmbereitschaft‘ des Körpers, erhöhtes Stressniveau und eine dadurch entstehende innere Unruhe sein. In der traumatisierenden Situation kann der Körper zum Schutz in der Erstarrung verharren (freeze); gleichzeitig wird die Verarbeitung des Erlebten im autobiographischen Gedächtnis derart beeinflusst, dass sich im Nachgang nicht oder nur in Teilen an das Erlebte erinnert werden kann (fragment). Wenn das autobiographische Gedächtnis als eine Art Ringordner verstanden wird, in den Menschen ihre Erfahrungen ‚einheften‘ (und gegebenen-

17 Vgl. hierzu Gregor (2015: 104ff.). 18 Kurz gesagt handelt es sich hier um Biographien der Pathologisierung und Stigmatisierung. Die medizinische Behandlung hat damit gleichsam einen ‚doppelten Boden‘: Mit der oberflächlich recht plausiblen Begründung, die Zurichtung vermeide die spätere Stigmatisierung, ist die medizinische Intersexualisierung in sich ein stigmatisierendes Othering. Die Daseinsberechtigung der intergeschlechtlichen Individuen als solche wird operativ und medikamentös negiert, die medizinische Behandlung vermittelt den zu Patient_innen gemachten Menschen ihre Andersartigkeit und spricht die Existenzberechtigung als die, als die sie geboren sind, ab. Es entsteht für die Betroffenen ein „Vicious circle of shame and stigma“ (Zitat aus dem Beitrag der Intersex Youth Advocacy Group: „What it’s like to be intersex“ [https://www.youtube.com/ watch?v=cAUDKEI4QKI#t=160S; abgerufen am 29.07.2016]. 19 Vergeschlechtlichte Pronomina und Artikel werden mit dem dynamischen Unterstrich versehen, um verzweigeschlechtlichende und leseunfreundliche Doppelungen wie die_der, seine_ihre oder sie_er zu vermeiden. Die Possessivpronomen werden in einer der geschlechtlich assoziierbaren Formen verwendet und mit Unterstrich dynamisiert. Vgl. hierzu auch AG Feministisch Sprachhandeln (2014).

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falls umsortieren20), dann werden bei einem Trauma die Seiten, die das belastende Erlebnis betreffen, herausgerissen und flattern unkontrolliert im Gedächtnis umher. Assoziierte Bilder, Gefühle, Gerüche, Worte etc. werden mit manchmal ähnlichen, manchmal auch nicht unmittelbar mit dem Ereignis in Verbindung zu bringenden Ereignissen oder Eindrücken verknüpft und produzieren dadurch unkontrollierbare, unangenehme affektive Reaktionen (Huber 2003; König u.a. 2012). Empirische Konturierung von Trauma21 Lisa* erlebt operative ‚Korrekturen‘ ihres Geschlechts bereits kurz nach ihrer Geburt: also ich wurde geboren im September, 76, (1) ähm, (2) mit uneindeutigem Genitale, [mhm] u n d sechs: Tage später wurde ich dann verlegt, in eine. spezialisierte. ähm. Universitätsklinik, in Großstadt, (1) u n d da sind halt erstmal zahlreiche Tests gemacht worden. (1) ähm, (1) es wurde damals relativ schnell festgestellt dass ich einen XYChromosomensatz habe, […] mit neun Monaten, äh [wurde ich; ag] von meiner Mutter dann wieder in Krankenhaus gebracht […] ä h m weil, halt ein Leistenbruch aufgetreten war, [mhm] ä h m (1) die: Diagnostik damals, (1) bei mir, zählte von. CAIS, bis echter Hermaphrodit, [mhm] eigentlich, alles durch, über die ganzen Jahre gesehen, […] dann wurde dann halt äh, der Leistenbruch operiert, dabei wurde: die äh: rechte Gonade, entfernt, [mhm] […] u n d, ja. die die linke Gonade wurde dann halt in den ähm Bauchraum verlagert, (1) mh: joh dann, bin ich mit dreizehn, Monaten, wieder, in der Uni gewesen, wurde operiert, da wurde dann halt, äh: das Genitale, korrigiert, u n d ja. dann wurde ich einmal im Jahr, zur ambulanten Endokrinologie, vorgestellt, (3) bis ich dann mit ((atmet hörbar aus)) fünfeinhalb Jahren, ähm, zum zweiten Mal, endgültig gonadektomiert, oder wie man auch so schön sagt kastriert wurde, u n d ähm, (1) von von dieser Operation mit fünfeinhalb Jahren ist auch meine allererste äh Erinnerung als ich damals im: Aufwachraum lag, und hab halt nur geschnü- äh gespürt dass ich halt Schmerzen habe, und ähm, joh.

Noch während die behandelnden Mediziner_innen nach einer Diagnose suchen, wird Lisa* ein weibliches Geschlecht zugewiesen und entsprechend operativ zugerichtet. Die Normierung des intergeschlechtlichen Körpers scheint wichtiger

20 Vgl. dazu Fritz Schützes Konzept der Erfahrungsaufschichtung (Schütze 1987). 21 Die folgenden Interviewpassagen wurden, teils mit ihrer Deutung, übernommen aus Gregor 2015 (ebd.: Kap. V).

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als eine sichere Diagnose dessen, was die Mediziner_innen als ‚Krankheit‘ definieren − die normative Ordnung schiebt sich vor eine redliche medizinische Praxis. Bis zu ihrem sechsten Lebensjahr hat Lisa* bereits drei Operationen im Genitalbereich hinter sich. Der Zeitpunkt, an dem Lisas* Erinnerung einsetzt (im Interview markiert durch ein hörbares Ausatmen), ist die Erinnerung an Schmerzen nach einer Operation. Die Kastration leitet eine Zeit engmaschiger Überprüfung der Entwicklung ihres Geschlechtsstatus’ ein. Lisa* erlebt eine jährliche Routine der Begutachtung und Kontrolle der Geschlechtsentwicklung; in dieser Zeit werden Untersuchungen an ihr durchgeführt, auch solche, über deren Sinn oder Verlauf sie nicht aufgeklärt wird. Lisa* berichtet hier insbesondere von einer Blasenspiegelung, bei der sie sich den fünf anwesenden Mediziner_innen ausgeliefert fühlt − eine Situation, die Levine (2012) als belastend und potentiell traumatisierend beschreibt, weil die Kontrolle über den eigenen Körper auch durch die Verunmöglichung, sich aus der bedrohlichen Situation zu befreien, entzogen wird, ohne dass deutlich wird, warum dies geschieht. Unwissenheit und daraus resultierende Unsicherheit und Angst prägen Lisas* Erleben der Fremdkontrolle ihrer Geschlechtsentwicklung. Zwaantje* berichtet über einen Krankenhausaufenthalt, bei dem sie die Unverfügbarkeit ihres Körpers erlebt: auf alle Fälle, bin ich hier ins Krankenhaus und dann haben mich, in der Folge, (1) Minimum fünfundzwanzig Personen, anal und rektal untersucht niemand hat mit mir gesprochen, innerhalb von drei Tagen, niemand hat mir gesagt was eigentlich los ist, sie haben mir, literweise Blut abgenommen, […] und wir müssen auch noch ihre Nieren untersuchen und ihre: und urologische Untersuchungen machen [mhm] ja was ist denn los, ja, ihr- Ergebnisse wären noch nicht da, und nach ner Woche kriegte ich dann Bescheid, ja ich hätte das falsche Geschlecht. (1)

Zwaantje* erfährt innerhalb weniger Tage die Anwendung einer Vielfalt von Techniken der Vermessung und Katalogisierung ihres Körpers. Durch die medizinische Erforschung ihrer ‚Intersexualität‘ wird Zwaantjes* Körper zum Gegenstand der Erkenntnis. Sie beschreibt die fehlende Information über die Gründe für die Vorgänge bei gleichzeitiger unhinterfragter Voraussetzung der Verfügbarkeit ihres Körpers einerseits und ihrer Kooperationsbereitschaft für die verschiedenen diagnostischen Schritte andererseits. Auch bei der fotographischen Dokumentation ihres Körpers wird ihr die Kontrolle entzogen. Zwaantje* erlebt diese Aufnahmen ebenso wie Rasloa* und Lisa* als Verletzung ihrer Integrität und Vernachlässigung ihrer Persönlichkeitsrechte: Im wortwörtlichen Fokus steht der intergeschlechtliche Körper, nicht der intergeschlechtliche Mensch.

338 | A NJA GREGOR ich hab da: ((holt Luft)) ähm: ja weil die Dame mit dem. Fotoapparat […] die kam dann auch, und ich kann mich erinnern an dieses Riesen.gerät an diese Riesen- äh an diese Riesen- an diesen Fotoapparat, wie sie immer näher an mein Genital ging, ((holt Luft)) und ich mich, an eine Latte stellen musste, einmal von der Seite, [mhm] einmal so von vorne denn ham=se den Kopf vermessen und das auch fotografiert, u n d, ich kannte diese Bilder. (1) [mhm] (1) aus den: KZs, aus diesen: äh aus diesen Rassebüchern. [mhm] äh: genau, (1) diese Aufnahmen sind äh: von mir gemacht worden, ähm: Arm hoch Arm runter weil ich ja keine Schambehaarung, und keine Achselbehaarung habe, [mhm] das wurde dann aus, (1) drücklich, dokumentiert (Zwaantje*) ähm, dann gab es diverse Fotoserien eine als Baby, [mhm] von denen ich aber nichts weiß, ähm, wo die sind, dann gab eine, da wollte einer ne Doktorarbeit schreiben. (1) ähm, das muss 77 oder 78 gewesen sein, da wurden Sippenfotos gemacht, ich hab ne Schwester die ist n Jahr jünger, (Rasloa*) u n d. (3) hab halt so halt auch äh herausgefunden, dass zum Beispiel eine: (1) Publikation von mir existiert, [mhm] (2) mit Fotos ohne Balken, (4) u n d das ist zum Beispiel was, äh, (2) wo ich sag das das darf eigentlich nicht sein, [mhm] es darf auch keine Publikation mit Balken, existieren, (1) (Lisa*)

Der Vergleich mit Bildern aus KZ-Akten und die Bezeichnung „Sippenfotos“ verweisen auf die Dramatik, mit der diese Situationen für die Befragten assoziiert sind. Das Dokumentieren und Vermessen ihrer unbekleideten Körper, insbesondere des Genitalbereiches, wird als grenzüberschreitend erlebt. Den Befragten wird die Kontrolle über die Situation genommen, indem auf einen sensiblen Bereich ihrer Privatsphäre zugegriffen wird: Alle auffälligen Merkmale werden markiert, indem Aufnahmen, zum Teil aus nächster Nähe, davon gemacht werden − es entsteht so eine ‚visuelle Kartographie ihrer Anormalität‘, erzeugt durch den spezifischen fotografischen Blick der Medizin (vgl. Foucault 2011). In der Interaktion wird den Befragten ihre Verletzlichkeit und Ohnmacht im Umgang mit Mediziner_innen ausnehmend deutlich vor Augen geführt. Im medizinischen Umgang mit dem intergeschlechtlichen Körper wird dieser als Erkenntnisgegenstand vom Erleben der ‚Patient_innen‘ gleichsam entkoppelt. Es wird nicht berücksichtigt, in welcher Weise sich diese ‚Verobjektivierung‘ auch psychisch auswirken kann; dass der Erkenntnisgegenstand ‚intersexueller‘ Körper sich gleichsam vor einen rollenangemessenen Umgang schiebt und diesen damit verunmöglicht, kann als ‚typisch‘ für die Berichte intergeschlechtlicher Menschen über den medizinischen Umgang mit ihnen eingeordnet werden. Der Entzug der Kontrolle über den eigenen Körper und die eigenen

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Grenzen können traumatisierend wirken, weil die Wahl zwischen Flucht (flight) und Kampf (fight) entzogen und damit Gefühle der Ohnmacht, Hilflosigkeit und des Ausgeliefert-seins provoziert werden. Dass solche belastenden Erfahrungen mit traumatischer Dimension Individuen in ihrer Wahrnehmung und ihrem Verhältnis zur Welt beeinflussen, wurde bereits oben theoretisch skizziert: Biographien werden, je nach Aufarbeitungsgrad der Traumata, um diese herum und durch diese hindurch konstruiert. Anschließend an die Überlegungen Bettina Wuttigs in diesem Band füge ich mit den Traumatisierungen aufgrund konkretphysischer Zurichtungen im Sinne normativer Vorstellungen von Zweigeschlechtlichkeit ihren Überlegungen zum Trauma Geschlecht damit gleichsam eine Dimension hinzu: Wuttig zeigt, dass die Anforderung ‚(Geschlechts-) Identität‘ an Subjekte als Zumutung und Anrufung bereits potentiell traumatisch ist22. Während sie damit die Verzweigeschlechtlichung der Gesellschaft als potentiell traumatischen Inkorporierungsprozess aller Subjekte des kulturellen Systems beschreibt, konzentriere ich mich hier zunächst auf das traumatisierende Potential der Techniken zur Vereingeschlechtlichung der konkreten körperlichen Materialität intergeschlechtlicher Menschen. Diese Perspektive kritisiert das kulturelle System nicht entlang seiner internen Prinzipien zur Ordnung und Komplexitätsreduktion des Sozialen mittels Zwei_Geschlechts-sozialisation, sondern ‚von den Grenzen her‘, indem Funktionsweisen zum Erhalt des Systems als solchem offengelegt werden. Abschließend werde ich meine bisherigen Überlegungen nun auf die Erziehungsinstanz Schule fokussieren. Im Anschluss an Michel Foucault (1977; 2012) stelle ich Überlegungen zur Funktion von Sozialisationsinstitutionen und deren diskursiv vermachtete Disziplinierung von Subjekten an. Knotenpunkt hegemonialer Diskurslinien: ‚Schule macht Geschlecht‘23 Die Schule, wie sie derzeit funktioniert, ist mit Foucault eine disziplinierende Institution, über die diskursive Macht auf die Subjekte ausgeübt wird: „Jedes Erziehungssystem ist eine politische Methode, die Aneignung der Diskurse mitsamt ihrem Wissen und ihrer Macht aufrechtzuerhalten oder zu verändern“

22 Vgl. dazu auch Wuttig 2013 und insbesondere 2016. 23 In Anlehnung an den Titel der im Literaturverzeichnis genannten Studie von Monika Jäckle (2009) und entlehnt von der bundesweiten Kampagne gegen Sexismus an Hochschulen „Geschlecht Macht Gesellschaft“ (siehe http://www.kein-sexismus.de; abgerufen am 29.07.2016).

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(Foucault 2012: 30). Die zeitliche und inhaltliche Organisation der Institution diszipliniert Körper und Geist, setzt diese auch mittels hierarchischer Überwachung durch. Die „analytische Pädagogik“ (Foucault 1997: 205) diszipliniert die lernenden Subjekte und ihre Körper über die Einführung von Themen/Zeitsegregationen (Unterrichtsstunden) sowie den Schulklassen und Schulformen als Entwicklungsmarker sowohl diskursiv als auch zeitlich. Über die „Besetzung der Dauer mit Macht“ (Foucault 1997: 206), auch, indem der geregelte Ablauf hierarchisch überwacht wird (durch die Lehrer_innen), werden den Subjekten die Werte und Normen der jeweiligen Gesellschaft eingekörpert (Gregor 2015) − die sich noch in der Entwicklung befindlichen Körper werden über die diskursive Disziplinierung in ihren Handlungsoptionen beschränkt. Dieser Vorgang hat, mit Wuttig gesprochen, immer eine potentiell traumatisierende Dimension. Im folgenden Interviewausschnitt sind kulturwissenschaftlicher und klinischer Traumatopos verschränkt. Kess*24 erlebt in der Umkleidekabine nach dem Schulsportunterricht Diskriminierungen von Mitschüler_innen in der Umkleidekabine. (2) da gings halt dann richtig zur Sache, würd ich so sagen, also da wurde ich das erste Mal richtig gedemütigt, das heißt ich wurde dann halt äh: in der Umkleide wo ich war: komplett entkleidet, und zwar gegen meine Willen, das war halt, etwas was mir absolut nicht gefallen hat, ist ja klar, wer will denn schon nackt vor anderen Leuten stehen ohne dass man das eigentlich sozusagen voraus äh im Voraus also sich selbst entschieden hat, ne es gibt ja Menschen die tun das, ich wollt das in dem Moment nicht, jedenfalls is so dass dann da halt dort die sich über- sagen wir mal gewisse Gegebenheiten, 'wenn man so formulieren kann' lustig gemacht haben.

Weil Kess’* Körper nicht den erwartbaren Entwicklungen während der Pubertät entspricht, wird Kess* von den Mitschüler_innen als deviant eingelesen. Der Umgang, der daraus resultiert, ist für Kess* demütigend und verletzend: Die Mitschüler_innen können Kess’* Geschlecht nicht zweifelsfrei bestimmen und

24 Kess’* Formulierungen im Interview verweisen auf keine endgültige Entscheidung zur geschlechtlichen Positionierung. Ich habe mich deshalb entschieden, für Kess* keine Pronomina zu verwenden. Die Sprachpraxis mag einen redundanten Stil zur Folge haben, wird Kess* geschlechtlicher Positionierung m.E. jedoch insofern am ehesten gerecht, als dass ich mir keine Fremdpositionierung anmaße und sie deshalb offen lasse. Zur ausführlichen Argumentation dieser Vorgehensweise vgl. Gregor (2015: 162ff.).

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entkleiden Kess* gegen Kess* Willen – sie verknüpfen das einzulesende Geschlecht explizit mit den Genitalien und versuchen über den gewaltsamen Zugriff auf Kess’* Körper, das ‚wahre‘ Geschlecht herauszufinden. Die Wirkmächtigkeit der Genitalien als (vermeintlich) sicherem Beweis für ein Geschlecht wird in dieser Szene deutlich, ebenso wie die Legitimation eines Umgangs mit Kess* als Stigmatisierte_r, di_er der Konvention legitimierter Interaktion widerspricht, weil Kess* nicht den sozialen Konventionen entspricht und so nicht aufzulösende Widerstände in der Interaktion entstehen. Kess* erlebt hier die zwangsweise Offenlegung des eigenen Zustandes in Form einer doppelten Beschämung: Die Situation selbst, gegen den Willen von mehreren Personen entkleidet und angeschaut zu werden, ist für sich gewalttätig, grenzüberschreitend und beschämend. Die zweite Beschämung erfolgt über die Bloßstellung von Kess’* körperlicher Verfasstheit, die nicht in gängige Körperschemata passt. Der Umgang der Mitschüler_innen ist keine „Art Mitgefühl“, die die „stillschweigende Folgerung“ begleitet, „sich willkürlich nähern [zu] können“ (Goffman 1975: 27). Weil Kess* auf der Vorderbühne kein eindeutig einzuordnendes Geschlecht präsentiert, wird versucht, über einen ‚Blick auf die Hinterbühne‘, also das den Augen der Anderen im Normalfall Verborgene, eine Eindeutigkeit herzustellen − die es in Kess’* Fall aber nicht gibt. Kess* schildert nicht, wie die Szene sich in der Folge entwickelt, stattdessen führt dieser Akt des othering Kess* vor Augen, dass Kess* anders ist als Jungen und Mädchen und resultiert in Überlegungen zur eigenen Geschlechtlichkeit: „was bin ich denn nun eigentlich“. Geschlecht hat hier die Funktion eines Regulationsprinzips, das der vermachteten Disziplinierung der Körper im Sinne Foucaults zwar vorausgeht; Judith Butler weist Vergeschlechtlichung dem kritisch begegnend als normierenden Regulierungsprozess aus, der sein „eigenes, unverwechselbares regulatorisches und disziplinarisches Regime erfordert und einführt“ (Butler 2009: 73) und damit nicht erst innerhalb, sondern neben, mit und jenseits des disziplinierenden Apparates der Foucault’schen Macht wirkt. Nichtsdestotrotz muss sich Geschlecht als Regulationsapparat in der Wiederholung der assoziierten Normen seiner Wirkmächtigkeit versichern. Empirisch gesprochen: Die Schule ist im pädagogischen Unterrichtsvollzug ebenso vergeschlechtlicht wie auf der Ebene der Raumkonstitution. Diese sowohl indirekte wie auch konfrontative Vergeschlechtlichung der Subjekte nimmt spätestens dann offensichtlich gewaltsame Formen an, wenn Subjekte aufgrund ihrer Erscheinung/ihres Verhaltens zwangsgeoutet, diskriminiert oder − beabsichtigt oder nicht − einem falschen Geschlecht zugeordnet werden. Die Umkleidekabine oder Toilette verlangt eine Einordnung ab, deren binäre Operation möglicherweise keine Option darstellt;

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wird die ‚deviante‘ Person dann von den derart vergeschlechtlichten Subjekten, die den entsprechenden Geschlechts_Raum teilen, nicht als Geschlechtsgenoss_in anerkannt, materialisiert sich die gewaltvolle Regulierung von Geschlecht ganz konkret. Obwohl seit den 1970er Jahren die oben skizzierten Kritiken an der Schule als Disziplinarraum durchaus unter dem Schlagwort „heimlicher Lehrplan“ diskutiert wurden, weisen nicht zuletzt Monika Jäckle et al. (2016) in ihrer machtkritischen, poststrukturalistisch inspirierten Studie zur vergeschlechtlichten Subjektivation im Schulkontext eindrucksvoll nach, dass gerade hinsichtlich der Gewalt der Geschlechts-Regulierungen praktische Umsetzungen auch und gerade queertheoretischer Ansätze gefragt sind. Mögliche Auswege aus dem zweikörpergeschlechtlich strukturierten Interaktionskontext Schule diskutiert neben Tuider u.a. (2012) insbesondere auch die im Hinblick auf die Inter*sensibilität hervorzuhebende Studie von Marcus Felix (2014), die die Relevanz von Aufklärungsprojekten für die Reduktion homo-, bi-, trans* oder inter*phober Vorurteile im Schulalltag herausstellt. Literatur AG Feministisch Sprachhandeln (2014): Was tun? Sprachhandeln − Aber wie? W_ortungen statt Tatenlosigkeit! abzurufen unter http://feministisch-sprachhandeln. org/wp-content/uploads/2015/04/sprachleitfaden_zweite_auflage.pdf (August 2016). Anthuber, Sabine/Anthuber, Christoph (2012): Störungen der Geschlechtsentwicklung aus kindergynäkologischer Sicht. In: Geburtshilfe und Frauenheilkunde. 73 (11), 10841086. Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Butler, Judith (2009): Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Eckert, Christina Annalena (2010): Intervening in Intersexualization: The Clinic and the Colony. Proefschrift, Universiteit Utrecht. [http://ts-si.org/files/DoctoralThesis2010 EckertCA.pdf; abgerufen am 01.08.2016]. Elwyn, Glyn/Edwards, Adrian/Kinnersley, Paul (1999): Shared decision-making in primary care: the neglected second half of the consultation. In: British Journal of General Practice. 49 (443), 477-482. Fausto-Sterling, Anne (1993): The Five Sexes. Why Male and Female are not enough. In: The Sciences. 33 (2), 20-25. Felix, Marcus (2014): Wer hat Angst vorm Regenbogen? Wie schulische Aufklärungsprojekte Vorurteile gegenüber geschlechtlicher und sexueller Vielfalt reduzieren können. Marburg: Tectum.

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Foto: Sven Schönwetter.

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Prolog In seiner architektonischen Skulptur aus dem Jahr 1995 mit dem Titel “Educational Complex“ zeigt Mike Kelley Schule als potentiell traumatischen Ort. Für Kelley ist Schule geradezu prädestiniert, ein Verdrängungsraum für Erfahrungen zu sein, die dem eines psychischen Traumas nahe kommen, oder zumindest mit diesem assoziiert sind. Kelley stellt fest: “The educational complex activates ideas which are related to psychic trauma, [...] a psychological condition in which memories of events had been repressed.“1 Kelley meint hier aber nicht ein ‚Trauma‘ im klinischen Sinne, einen diagnostizierbaren pathologischen Zustand. In einer sich vom Mainstream abgrenzenden Denkbewegung, innerhalb dessen das Trauma zu einem medialen ‚Hypethema‘ geworden ist, sieht er bereits in der Unerinnerbarkeit von Erfahrungen dasjenige, was er mit gewisser Ironie als „some kind of trauma“ bezeichnet.2 „Some kind of trauma“ ist in Kelleys „Educational Complex“ mit der Super-School assoziiert; einer Kombination aller Bildungsinstitutionen, in die Kelley Zeit seines Lebens gegangen ist, und an die er sich zu 80 Prozent nicht erinnert. Eine traumatische Qualität scheint in Kelleys Verständnis an die Stelle einer utopischen zu treten (vgl. ebd.). Der folgende Beitrag will Kelleys Spur verfolgen und fragen, um welchen Topos es sich bei der Schule handelt? In welcher Weise ist das Traumatische in die Schule eingeschrieben? Inwieweit stellt Schule einen prädestinierten Ort des NichtErinnerbaren dar? Meine These ist, dass Räume (so auch der Raum Schule) mit einer besonderen Qualität aufgeladen sind.3 Der Raum Schule konstituiert sich also einerseits durch (s)eine materielle Begrenzung, andererseits stellt er ebenso einen materiell-symbolischen Ort dar. Dieser materiell-symbolische Ort Schule konstituiert sich wiederum – so meine Annahme – entlang eines Vexierspiels von traumatischer Unmöglichkeit und Heterotopie.4

1

Kelley, zit. n. Whiteney Museum of American Art, New York 2013.

2

Kelley zit. nach Miller 2015:14.

3

Vgl. dazu auch Foucault 1999: 148.

4

Wenn ich hier von Schule als traumatisch-utopischem Ort spreche, dann verweise ich indirekt oder auch direkt auf Michel Foucaults Konzept der Heterotopien. Foucault bezeichnet damit gesellschaftliche Gegenräume, real gelebte Utopien, in denen die Kultur in ihrer Normativität zugleich repräsentiert, aber auch bestritten werden kann (Foucault 1999: 149). Schule stellt in meiner an Foucault angelehnten Hinsicht einen lokalisierten Raum oder Ort dar – Foucault verwendet die Begriffe synonym, so auch ich – der bestimmte Zugangsvoraussetzungen hat, Regularien unterworfen ist, ein offener und doch abgeschlossener Ort inmitten aller anderen gängigen kulturellen Räu-

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Anerkennungsdynamiken spielen dabei eine Rolle: Dasjenige, was einen Raum als sozial anerkannten Ort hervorbringt, sind die darin liegenden ortlosen Orte (Foucault 2001: 678).5 Der ortlose Ort ist dasjenige, was an den Grenzen diskursiv produzierter Normalität, entlang eines prozeduralen Regelkomplexes über Ein- und Ausschlüsse generiert wird, (k)eine Erfahrung der Andersheit ermöglicht. Dabei ist es der Diskurs in seiner normativen Ausrichtung selbst, der als ‚Akteur‘ auftritt und Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten auf materieller und räumlicher Ebene erzeugt. 6 Mit anderen Worten: Der sozial anerkannte Ort ist ein Ort, an dem dasjenige, was als normal erachtet wird, dadurch normal ‚wird‘, dass es als dominantes (affektives und somatisches) Wissen im Vordergrund des Wahrnehmungshorizontes der Einzelnen landet, während dasjenige, was unsichtbar ist, zwar ‚da‘ ist, sich aber den Möglichkeiten der Repräsentation entzieht. So bestätigt der ortlose Ort den sozial anerkannten Ort. Die traumatische

me (Foucault 1999: 149ff.). Die normative Dimension lokalisierter Räume habe ich an anderer Stelle als traumatisches Hintergrundrauschen herausgearbeitet (vgl. Wuttig 2016). 5 Foucault bezieht sich auf Maurice Blanchot (2006), wenn er sagt, dass ortlose Orte solche sind, an denen das Subjekt sich nicht repräsentieren kann. Es gibt also soziale oder symbolische Orte an denen das Subjekt genau in dem Moment, wo es ‚ich’ sagt, ausgelöscht wird. Foucault spricht davon, dass das Subjekt an diesen nichtrepräsentierbaren Orten „eine Erfahrung des Außen macht“ (Foucault 2001: 677). In der Erfahrung des Außen zeigt sich, so Foucault, „eine möglicherweise unaufhebbare [...] Unvereinbarkeit zwischen dem Erscheinen des Seins, des Sprechens und der Identität des Selbstbewusstseins“ (Foucault 2001: 673). Der ortlose Ort ist ein solcher, der sich der sozialen Norm entzieht, und daher eben auf die soziale Norm verweist – diese hervorbringt. Diese ortlosen Orte konstituieren sich uno actu aller anderen sozial anerkannten Orte; sie bilden also gleichsam das irrationale, die nicht-intelligible unsichtbare Hintergrundfolie für die Sichtbarkeit anerkannter sozialer Räume. Dabei ist der ortlose Ort zugleich das Nicht-Repräsentierbare; er ist Bedingung der Möglichkeit der Existenz aller Orte, des Sichtbaren/Repräsentierbaren. 6 Am Beispiel des Sexualitätsdispositivs legt Foucault dar, wie miteinander verschränkte Wissensproduktionen im 19. Jahrhundert über Sexualität diskursiv als Wahrheiten etabliert werden. Dies geschieht, indem ein bestimmtes Wissen in den Vordergrund gerückt wird, als vernünftig erachtet wird, während anderes Wissen als irrational deklariert wird (Foucault 1977). In diesem Sinne ist die scheinbare Repräsentation der Welt durch Sprache bereits eine Konstruktion, die den Gegenstand, den sie vermeintlich nur beschreibt, innerhalb eines spezifischen Macht-Wissens-Komplexes hervorbringt (Groß 2008: 42).

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Dynamik besteht in der diskursiven Erzeugung von Unvereinbarkeiten der Erfahrung. Diese Erfahrungen von Unvereinbarkeit wiederum sind vergleichbar einer Wunde, eines Traumas, welches das sich nicht-repräsentierende Subjekt erhält/erfährt, ein jedes mal wenn es versucht ‚ich‘ zu sagen.7 Est in vico ist das Subjekt nur relativ auf den Raum hin zu begreifen, wie die weiteren Ausführungen zeigen werden. Topos und Subjekt sind koextensiv. Das bedeutet: die (Un)Möglichkeit der Selbst-Repräsentation schlägt sich verräumlichend nieder, während die mit Bedeutung aufgeladenen Räume subjektivieren. Dieses RaumSubjekt-Verhältnis ist ein Machtverhältnis, welches seine Beständigkeit durch Erinnerungs- und Gedächtnisbildungen erhält, die eine Wunde überhaupt erst zu einem Trauma werden lassen. Entsprechend stellt Kelleys Skulptur „Educational Complex“ keine Repräsentation eines individuellen psychologischen Traumas dar, sondern eine Kombination aus einem ‚psychologischem Syndrom‘, einem politischen Statement und Institutionskritik (vgl. Miller 2015: 19). Kelley fordert dazu auf, das zu sehen, was nicht da ist, in dem die identifizierbaren Teile lediglich den Rahmen für die klaffende Abwesenheit stellen (vgl. ebd.). Wieder an Foucault angeschlossen, könnte man sagen, dass die dunklen Stellen in der Skulptur die ortlosen Orte als (un)erinnerbare traumatische Zonen darstellen – insofern hier nicht ein individuell-biografisches Trauma gemeint ist (das hätte Kelley zurückgewiesen) (vgl. ebd.: 18ff.), sondern Trauma in seiner politischen Dimension verstanden wird: als Effekt von Hierarchisierung, Individualisierung, „dislocation“ (ebd.). „Educational Complex“ ist, präziser gesprochen, aber ein Ort, der ortlose Orte beherbergt, also Ort als auch Nicht-Ort (Nicht-)Ort. Der weiße, sichtbare Teil des Gebäudes soll im Weiteren als traumatische Matrix, als Matrix der Normativität, gegenüber allem anderen, was ‚da‘ ist, aber nicht (ohne weiteres) im Diskurs repräsentiert wird und damit sozial existieren kann, besprochen werden. Konkret stehen in meinen weiteren Betrachtungen die weißen Stellen für eine heteronormative und rassistische Matrix, die Schule als Schulregime (Deleuze 1993: 261) kennzeichnet. Dieses Regime operiert über Blickverstellungen, die in Verkennungen (engl.: misrecognition, Butler 2010) münden: Das Unsagbare, das Unverkörper- und Unverraumbare, diesem wird der Blick verstellt, durch die hellen Stellen, die auf dem Rücken einer Geschichte weißer hegemonialer Männlichkeit8 schwimmend, sich eine mit Leichtigkeit ent-

7

Diesen Gedanken entlehne ich Roland Barthes (2015: 46ff.).

8

Männlichkeit stellt genau wie Weiblichkeit eine soziale Kategorie dar, die durch Einübungspraktiken an den Körpern der Individuen hervorgebracht wird. Ebenso wie Weiblichkeit ist Männlichkeit demgemäß als soziale Kategorie zu verstehen, die in den Körper eingeschrieben wird und Wahrnehmungsschemata der Individuen durch-

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äußerbare Präsenz und Repräsentierbarkeit nicht einmal erobern müssen. Alle anderen – also alle – laufen Gefahr, verkannt zu werden. Sensibilität für diese Existenz traumatischer ortloser Orte, die sich ‚mitten unter uns‘ befinden, zu erzeugen, ist Sinn dieses Artikels. Einleitung Schule und Klassenzimmer gelten auch für Foucault als Machträume par excellence (vgl. Grabau/Rieger-Ladich 2014: 64). (Schul-)Räume sind nicht ‚unschuldig‘, sie gestalten und strukturieren die Denk-, Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen aller beteiligten Akteur*innen dergestalt, dass Seinsweisen hier buchstäblich aufgezwungen werden (vgl. ebd.). Durch ihre panoptische Kraft – alle sind jederzeit sichtbar und werden einem Willen zur Kontrolle unterworfen, erzeugt Schule als „pädagogische Maschine“ (Foucault 1994: 223) eine spezifische Ökonomie der Macht. Diese besteht darin, dass Körper, Sprechweisen, Affekte entlang einer präreflexiven, normativen (heterosexistischen, rassialisierenden und klassistischen) Wahrnehmungsmatrix unterworfen werden – diese Unterwerfung aber keine reine Repression darstellt, sondern ebenfalls eine Werdung – eine Subjektwerdung (assujettissement) (vgl. Reckwitz 2008: 82). Mit Subjektwerdung oder Individualisierung meine ich – im Sinne von Michel Foucault (1999) – die Art und Weise, wie durch Prozesse der gesellschaftlichen Regulierung aus einem Individuum ein Subjekt gemacht wird; es durch Zuweisungen an symbolische und materielle (Nicht-)Orte einer Subjektivität unterworfen wird (Foucault 1999: 166 ff.). Trauma verstehe ich wiederum – in direktem Zusammenhang mit Prozessen der Individualisierung und Subjektivierung – als unterworfen sein und sozial anerkanntermaßen zu ‚sein‘ (im Sinne einer Ontologie intelligibler Existenz)9. Trauma ist weder in Bezug auf die Phä-

buchstabiert. Hegemonial ist Männlichkeit insofern, als weiße, verletzungsunempfindliche, gesunde, heterosexuelle, rationale Männlichkeit eine Norm darstellt, an der alle anderen Individuen, ob bewusst oder nicht bezüglich des Verhaltens, des Auftretens, des Habitus, des Begehrens gemessen werden. Diese Norm ist im Grunde für alle – zumindest zeitweise – im biographischen Kontext unerreichbar, muss notwendig unerreichbar bleiben (Connell 2006: 92ff.). 9

Ich beziehe mich hier auf Judith Butler (1991; 1995). Mit dem Begriff intelligibel möchte Butler sagen, dass dasjenige, was zu einer bestimmten Zeit denkbar und verstehbar ist, Denk- und Handlungsschemata erzeugt, die für die meisten Mitglieder einer Gesellschaft als vernünftig gelten und affektiv als Vernunft verinnerlicht werden. Intelligibel (lat.: Intellibibilis von intellegere, einsehen/merken) bezeichnet in der pla-

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nomenologie des Leidens, noch in semantischem Sinne zu trennen von den Rationalitäten, die eine gesellschaftliche Existenz möglich machen. Trauma bildet daher immer auch eine Chiffre für die möglichen Effekte von Individualisierung entlang einer gewaltvollen Subjektivationspraxis, die ihre Gewalttätigkeit über eine sich selbst verbergende Normativität implementiert; die sich in Prozessen der Anrufung als ‚Andere‘ (othering) genauso entlädt, wie in der Repression und Nicht-Beachtung oder gar Verachtung von Eigensinn (wie auch immer dieser Eigensinn zu fassen ist.10 Trauma bezieht sich also auch auf die Gewaltsamkeit von notwendigen Subjektivierungen in kontingenten Verhältnissen, enden diese in einem handwerklichen11 Massaker oder nicht. Vor dem Hintergrund postkolonialer und queertheoretischer Traumastudien gehe ich davon aus, dass auch die nicht-handwerklichen Übergriffe, die symbolischen Ausschlüsse, die kleinen und großen Verunmöglichungen, die Ausgrenzungen, die Verkennungen der Existenz, eine traumatische Umgebung für die Einzelnen bedeuten. Dies umschreibe ich auch als traumatische Dimension (vgl. Wuttig 2016: 254ff.). Alltägliche Ausschlüsse und Diskriminierungen erzeugen ähnliche Symptome wie eine handwerkliche Gewalt erzeugen: Sie machen sprachlos, lassen verstummen und lähmen (Wuttig 2016: 267ff.). Verletzbarkeiten sind nicht jenseits einer normativen Matrix, die das Subjekt mit seinem Verletzungsempfinden in die Existenz ruft, denk- und analysierbar. Daraus folgt: Identitätszwänge stellen eine traumatische Dimension, indem sie Orte möglicher und unmöglicher Existenz produzieren. Identitätszwänge haben eine materiell-somatische Seite. Adressierungen – verletzende Sprechakte – einmal in den Raum geworfen - treffen auf lebendige Körper (Wuttig 2016: 271ff.). Der Körper ist also als ein Topos lebendiger Intensität zu verstehen. Via des Körpers empfindet das sich beständig in der Konstituierung befindende Individuum Schmerz und Leid. Mehr noch: Die Konstituierung geschieht nicht an Schmerz und Leid vorbei, sie geschieht durch diese.12

tonisch-aristotelischen Tradition dasjenige, was nur durch den Geist (die Vernunft) zu denken und erkennbar ist; das selbst nicht-sinnliche Wesen und Sein des sinnlich Wahrnehmbaren (Sensiblen). 10 Siehe Wuttig (2016). Diese These, die vor dem Hintergrund konventioneller Traumaforschung neu oder gar fremd erscheinen mag, habe ich in Wuttig (2016a) detailreich hergeleitet. Eine erneute Herleitung würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. 11 Für den treffenden Begriff ‚handwerklich‘ als Beschreibung einer materiellen Zurichtung von Körpern durch Gewalt danke ich Anja Gregor. 12 An anderer Stelle habe ich mit Bezug auf Nietzsches Konzept der Mnemotechnik sowie mit Bezug auf neurowissenschaftliches Wissen gezeigt, dass Individualisierung in

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Der empfindsame Körper (Leib) bildet hier gleichsam eine eigensinnige verletzbare aber auch potentiell widerspenstige Dimension.13 Körpervorgänge, die sich der sozialen Durchdringung entziehen oder mit dieser in Resonanz gehen, sind mögliche Kontrapunkte zu gesellschaftlich-hegemonialer Rationalität, die, um im Bild von Kelley zu bleiben, ‚Scheinwerfer oder manchmal auch nur Taschenlampen‘ darstellen, die aus den ‚dunklen‘ Stellen heraus den hellen Monolith anleuchten und somit direkt auf ihn verweisen; sie bilden ‚die Fotografen, die den Fotografen fotografieren‘, als Erzeuger einer dominanten Wirklichkeit. Auf diese Weise wird nicht „das Unsichtbare sichtbar gemacht“, sondern es soll gezeigt werden, „wie unsichtbar die Unsichtbarkeit des Sichtbaren ist“ (Foucault 2001: 678). Denn: In der Unsichtbarkeit der Unsichtbarkeit des Sichtbaren – darin liegt die für die Einzelnen traumatische Dynamik. Schule kann also sowohl als Macht- und Herrschaftsraum in seiner potentiell traumatischen Dynamik samt der in das Gender- und Migrationsregime Schule eingelassenen Normalisierungen und Individualisierungen begriffen werden, wie auch in ihrem heterotopischen Potential, der Möglichkeit zur emanzipatorischen Überschreitung gängiger kultureller Räume, und ihren Mechanismen von einund Ausschluss. Sprachliche, materielle und der räumliche Aspekte von Individualisierung sollen zunächst getrennt besprochen werden, um sie in einem nächsten Schritt wieder zusammenzuführen. Auf diese Weise kann das Subjekt als ein semiotisch-materielles Raumsubjekt herausgestellt werden. Der Beitrag gliedert sich wie folgt: Unter Punkt 1 wird mit Bezug auf die Soma Studies (Wuttig 2016)14 geklärt, wie Modi der Einverleibung von sozialen Normen zu fassen sind. Punkt 2 arbeitet mit Verweis auf Judith Butler ge-

der Moderne einem traumatischen und gewaltvollen Identitätszwang unterliegt, der ein Leiden an Unmerkbarkeiten beinhaltet (vgl. Wuttig 2016). 13 Körper können für Momente – Augenblicksökonomien – vor und nach der Zurichtung – einen relativ autonomen Ort bilden, der sich den gewaltsamen Zuschreibungen entzieht; z.B. in der Krankheit, dem Zerfall, den Zuckungen, den Absonderungen (Wuttig 2016). 14 Die Soma Studies sind ein Denksystem, in dem es darum geht, in der Theorietradition des New Materialisms, den Körper als eigensinnig gegeben und zugleich durch soziale Prozesse werdend zu verstehen. Körper sind als Materialitäten stets ‚Zwischenergebnisse‘ von Embodiment, der Einverleibung von Sozialität. Als potentiell eigensinnige Gebilde können sie sich sowohl einbinden lassen in Macht- und Herrschaftsverhältnisse, als auch sich ihnen entziehen. Soma Studies beziehen sich auch auf Lebenswissenschaften als Epistem – wenn auch kritisch –, um zu verstehen, wie Einverleibungen von sozialen Praxen als Praxen der Differenz überhaupt stattfinden können.

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schlechtliche Subjektivierung als potentiell traumatischen Prozess heraus. (Butler 1997, 2009, 2010). Punkt 3 wird Monika Jäckles Konzept der Schule als diskursives Genderregime (Jäckle 2011 Jäckle u.a. 2016) thematisieren, um zu zeigen, wie Schule und Geschlecht zueinander in Bezug stehen. Zum anderen wird die Theorie des Othering of Islam (Creutz-Kämppi 2008) im europäischen Kontext und in das Konzept des anti-muslimischen Rassismus eingeführt. Unter Punkt 4 soll die Überschneidung einer geschlechtlichen/heteronormativen Subjektivierung mit einer anti-muslimisch-rassistischen Anrufung im Fokus stehen. Hierfür wird ein Interviewauszug aus der 2012 durchgeführten Studie von LesMigras mit dem Titel „Nicht so greifbar, und doch real“ zu Mehrfachdiskriminierungen herangezogen.15 Anhand dieses Interviewauszuges, welchen ich vor dem Hintergrund der genannten Theorien sowie Sybille Bauriedls (Bauriedl u.a. 2000) Thesen zur Verraumung von Körpern lese, soll exemplarisch deutlich werden, inwieweit sich Individualisierung in der Schule zwischen sprachlichen Handlungen16, Materialität und Räumlichkeit aufspannt. Nach einer Bündelung der Thesen wird abschließend (Punkt 5) unter Zuhilfenahme von Foucaults Konzept der Heterotopien ein kurzer Ausblick darauf gegeben, unter welchen zuvor getroffenen Annahmen, Schule eine Heterotopie darstellen kann. Modus der Einverleibung Soma Studies gehen davon aus, dass Subjektivation als permanente Ich-Werdung sich entlang eines Prozesses der Einverleibungen von gesellschaftlichen Verhältnissen vollzieht, als leibliche Hineinnahme eines strukturellen und räumlichen Verhältnisses, das man sich als Verletzungs- und Gedächtnispraxis vorstellen darf. Genau genommen aber ist ‚Einschreibung‘ nur eine grammatikalische Formel, da man bereits zu Beginn der biologischen Existenz von einer Interverwobenheit von Subjekt und Raum ausgehen muss. In dieser Mensch-Raum-Zone werden nun Atmosphären generiert, die wiederum leiblich als Propriozeptionen (Sinneseindrücke) gespeichert werden. Dies ist umso mehr der Fall, da Atmosphären, anders als bspw. Textbotschaften, nicht im deklarativen, linearen Gedächtnis sondern im impliziten Gedächtnis, im Körpergedächtnis gespeichert werden (Petzold u.a. 2000). Dadurch wird der Raum, in dem bspw. ein sexisti-

15 LesMigras ist der Antidiskriminierungsbereich der Lesbenberatungsstelle Berlin e.V. Die Studie wurde in Kooperation mit der Alice Salomon Fachhochschule durchgeführt. 16 Mit Butler (1998) gehe ich davon aus, dass Sprache ebenso wie Taten Wirklichkeit hervorbringen (Wuttig 2016: 271ff.).

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sches und/oder rassistisches Sprachregime praktiziert wird, und in dem eine sexistische und/oder rassistische Atmosphäre erzeugt wird, von den Einzelnen, die diesen Raum implizit abspeichern, in die Zukunft mitgenommen. Mit dem Bild Kelleys gesprochen: Das weiße Gebäude als der sichtbare Komplex erzeugt Zonen (dunkle Stellen), als Atmosphären im Leib der Menschen und um sie herum, die schmerzhaft sein können, gerade weil sie unerinnerbar sind. Diese Unerinnerbarkeit hängt damit zusammen, dass eine Sprachmatrix und/oder Atmosphäre zur Zeit, in der sie die Wahrnehmung der Einzelnen strukturiert und von den Einzelnen erlebt wird, als dermaßen normal-gewaltvoll17 erlebt wird, dass sie weder im dialogischen Ausdruck (noch mitunter vor sich selbst) als unbehaglich identifiziert werden kann. Das Unbehagen als Leiden an einer sexistischen und/oder rassistischen Matrix existiert dennoch als Beklommenheit, als unmögliches Unwohlsein fort. Es bildet unter Umständen ein Residuum im impliziten, nicht-sprachlichen Gedächtnis. Der Sprechort des Skandalisierens einer normalgewaltvollen Atmosphäre ist dann blockiert, weil es kein sozial anerkanntes Sprechen darüber gibt. Das ‚darüber‘ ist tabuumwoben, das ‚darüber‘ zu sprechen macht jeden, der es doch wagt zum prekären Subjekt, dessen Anerkennung nun auf dem Spiel steht: er_/sie läuft Gefahr, ausgeschlossen, für verrückt erklärt zu werden. Das Nicht-Sprechen-Können über die Gewalt einerseits, über das was man ‚ist‘ und nicht sein darf, erzeugt unter Umständen ‚Abspaltungsprozesse‘, die mit einem Trauma vergleichbar sind (Wuttig 2016: 260ff.). Die Normativität der Institutionen, so kann man vermuten, ‚bleibt nicht in den Kleidern stecken‘. Vielmehr können normative Praxen und ihre (ungewollten) Effekte selbst so gewaltvoll sein, wie ein traumatisches Ereignis. Subjektivierung Geschlecht als Trauma Wird in den aktuellen und dominierenden pädagogischen und psychologischen Diskursen nach wie vor (implizit) von dem vom erikson’schen Duktus beeinflussten teleologischen (d.h. in diesem Fall für die Gesundheit des Menschen notwendigen) Erwerb einer, wenn auch nicht widerspruchfreien, so doch eindeu-

17 Der scheinbar oxymoronische Neologismus „normal-gewaltvoll“ soll darauf verweisen, dass Verhältnisse, die aus der Perspektive einer Mehrheitsgesellschaft, als angenehm empfunden werden, aus einer inferioren Subjektposition heraus durchaus als gewaltvoll wahrgenommen werden können. Mit Mehrheitsgesellschaft ist hier nicht eine quantitative Größe gemeint, sondern eine dominante Subjektposition, etwa: europäischer Herkunft zu sein, christlich zu sein, weiß zu sein, gesund, männlich, heterosexuell usw.

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tig als ‚männlich‘ oder ‚weiblich‘ lesbaren Geschlechtsidentität ausgegangen, die durch Traumatisierungen beschädigbar ist18, so muss vielmehr vor dem Hintergrund der poststrukturalistischen Wissenschaften von einer diskursiven Konstruktion einer Geschlechtsidentität ausgegangen werden, die selbst ein traumatisches Residuum bilden kann (Wuttig 2016). Eine eindeutige und kohärente Geschlechtsidentität zu erwerben, so arbeitet prominent Judith Butler (1991, 1997) heraus, deren These als maßgeblich für den aktuellen Stand der poststrukturalistisch informierten Genderforschung genommen werden kann, erscheint als diskursiv erzeugte Fiktion, als gewaltvolle Zuschreibungspraxis, die implizit von einer heterosexuellen Norm ausgeht und diese immer wieder bestätigt sehen will. Innerhalb einer zwangsheterosexuellen Matrix muss man das eine Geschlecht werden, um das andere begehren zu können (Butler 1991, 1995, 2010). Eine nie zu erlangende eindeutige Geschlechtsidentität erfolgt auf Kosten aller anderen noch möglichen Seinsweisen, die nach den jeweiligen gesellschaftlichen Maßstäben nicht als zu dem einen Geschlecht passend erachtet werden. Butler erachtet den binärgeschlechtlichen Identitätstelos sogar für potentiell traumatisch. Sie hält fest: „Die normative Kraft der Performativität arbeitet [...] mit dem Ausschluss. Und im Falle von Körpern suchen jene Ausschlüsse die Signifikation als deren verwerfliche Grenzen heim oder als das, was strikt verworfen ist: das Traumatische.“ (Butler 1995: 260)

Mit Performativität ist hier die alltägliche Darstellung und damit Erzeugung von Geschlecht, ob verbal oder non-verbal, gemeint. Das Subjekt bewohnt durch die performative Macht der Geschlechternom immer bereits schon einen traumatischen Ort noch bevor sich ein ‚punktuelles Trauma‘ ereignet haben mag. Die Naturalisierung von Zweigeschlechtlichkeit durch den Diskurs binärer inkommensurabler Zweigeschlechtlichkeit verstellt den Blick darauf, dass ein eindeutiges Geschlecht zu verkörpern unmöglich ist. Vielmehr ist ‚das eindeutige Geschlecht‘ eine unerreichbare Norm. Diese kann ein derartiges Unbehagen verursachen, welches die Qualität eines insidious trauma (s.o.) einnimmt – ein traumatisches Hintergrundrauschen im biografischen Kontinuum.

18 Eine ausführliche Belegung dieser These habe ich in Wuttig (2016) geliefert; sie kann hier aus Platzgründen nicht wiederholt werden.

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Geschlecht und race in der Schule: Diskursives Genderregime, Othering of Islam und antimuslimischer Rassismus Die sozialen Kategorien Gender und race verlieren nur scheinbar an Bedeutung. Schule muss vielmehr als ein diskursives Genderregime (Jäckle 2015) sowie als ein Migrationsregime (Yildiz 2014) bezeichnet werden, innerhalb desselben nach wie vor sowohl fixe Geschlechteridentitätsanforderungen als auch rassialisierende und ethnisierende Zuschreibungen samt der epistemischen Gewalten, die an nationalstaatliche oder kontinentale Grenzen konzeptionell und ideell gebunden sind, weiter wirksam sind und Andersheit und Benachteiligung hervorbringen. Leben und Lernen in der Schule ist somit eingelassen in sich diskursiv (re)produzierende Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die sich in aktuellen sexistischen, rassialisierenden und ethnisierenden Zuschreibungen und deren Implikation für Selbstverhältnisse zeigen. Das bedeutet: Schule muss selbst als machtvolles Feld in den Blick geraten. Gemäß Monika Jäckle und der von ihr und dem Autor_innenteam durchgeführten Studie Doing Gender Discourse werden aus Individuen in der Schule regelrecht Geschlechtssubjekte gemacht. Jäckle (2015) analysiert Schule als Dispositiv, innerhalb dessen Schüler_innen durch Praktiken der Anrufung und als Adressat_innen eines institutionellen Diskurses der Geschlechternormen zu ‚Mädchen‘ und ‚Jungen‘ mit dichotomen Interessen sozial produziert und uno actu dieser Produktion in Konfliktfelder der Unvereinbarkeiten geworfen werden.19 Jäckle weißt Schule – vor dem Hintergrund des Foucault’schen Gedanken zu dominanten Sprechweisen und Diskursen und deren Machteffekten, sowie vor dem Hintergrund der Butler’schen Theorie der heterosexuellen Matrix – als Dispositiv der Macht aus, innerhalb desselben Sagbarkeitsfelder entlang eines Macht-Wissens-Komplexes erzeugt werden: „Was wird in der Schule gesagt, was wird nicht gesagt, was ist sagbar und was ist im Geschlechterdiskurs nicht sagbar.“ (Jäckle 2015: 215). Jäckle konstatiert, dass Wissenselemente (über Geschlecht) nicht nur volitional und kognitiv erworben, sondern über Modi der Anerkennung und Sanktionen von angemessenem Verhalten „in Fleisch und Blut übergehen.“ (Jäckle : ebd.). Ähnliches gilt für die Erzeugung von subjects of race bzw. Subjekten der Religion im schulischen Kontext.20 Besonders seit dem 11. September 2001, der

19 Jäckle betont, dass nach wie vor gilt: Als Mädchen* büße ich unter Umständen meine ‚weibliche‘ Sexualität und Identität ein, wenn ich ein bestimmtes Kompetenzlevel erreiche, genau wie für Jungen* die Anpassung und Unterordnung – Folgsamkeit – als unmännlich erlebt wird (vgl. Jäckle 2011: 33). 20 Siehe dazu den Artikel von Bergold-Caldwell; Wuttig, Scholle i.d.B.

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Attacke auf das World Trade Center, wird (ungewollt) ‚Islamfeindlichkeit‘ medial und diskursiv erzeugt, die, so auch die finnische Soziologin Karin CreutzKämppi (2008), ‚den Islam‘ mit Gewaltbereitschaft und Rückschrittlichkeit gleichsetzt, und ihn dazu gegen ein westliches demokratisches System setzt, das das Gegenteil darstellen soll – gewaltfrei, zivilisiert und demokratisch (ebd.). Insbesondere Menschen, die als muslimisch identifiziert werden oder sich selbst als muslimisch identifizieren, sind einer Machtstrategie, des sogenannten Othering, ausgesetzt. Othering Othering bezeichnet eine systematische, diskursiv-strategische Zuschreibung von Eigenschaften an den anderen, die die Andersartigkeit im Gegensatz zur Gemeinsamkeit betonen. (vgl. Creutz-Kämppi 2008: 297) Der andere wird dabei in stereotypen Bildern (Simulacren) gesehen, hinter denen der Mensch förmlich verschwindet (vgl. Mbembe 2014: 79). Othering gegenüber Menschen islamischer Zugehörigkeit (tatsächlich empfundener oder zugeschriebener) findet dabei prominent über drei wiederkehrende Diskursfiguren statt (Creutz-Kämppi 2008: 299): den Diskurs der Gewalttätigkeit muslimischer Menschen (Barbarei), den Diskurs der nötigen Unterstützung zur Säkularisierung (Fanatismus) und den des unvermeidlichen Aufpralls der Kulturen (clash of civilisation). Allen drei Figuren ist gemein, dass ein totaler Gegensatz (Polarisierung) zwischen dem Eigenem und dem Anderen eröffnet wird, wobei das Eigene als die überlegenere, moralisch gerechtere, friedfertigere Position dargestellt wird. Der Diskurs der Polarisierung der Welt – in gerechte, säkulare, friedfertige einerseits und das religiös, fanatische, gefährliche andererseits – bleibt uns nicht äußerlich. Judith Butler (2009) argumentiert, dass sich die erzeugten Raster in unseren Wahrnehmungsapparat einschreiben und unsere Gefühle strukturieren. Die ,Veranderung‘ des Islam führt zunehmend zu anti-muslimisch-rassistischen Wahrnehmungsformen in westlichen Gesellschaften. Unter anti-muslimischem Rassismus ist gemäß der Neuen Deutschen Medienmacher (NDM) eine Art „Diskriminierung von Menschen, die aufgrund ihrer tatsächlichen oder auch bloß zugeschriebenen Religionszugehörigkeit als Muslime wahrgenommen werden [zu verstehen]. [...] Die Bezeichnung antimuslimischer Rassismus verweist auf die Vorstellung von Muslimen als homogene Gruppe, der bestimmte (zumeist negative) Eigenschaften zugewiesen werden und die als nicht zugehörig eingeordnet werden.“ (NdM, zitiert nach Polat 2016)

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Im Sinne einer intersektionalen Betrachtung21 der Effekte der Überschneidung von sexistischen und rassistischen Anrufungen sind hier Frauen* und Männer* muslimischer Identifikation in einer besonderen Weise betroffen. Bei Frauen* äußerst sich anti-muslimischer Rassismus vor allem über das den Frauen* zugeschriebene Unterdrückt-seins. Die ‚westliche Kultur‘ wird als ‚freie Kultur‘ dargestellt, während muslimische Mädchen und Frauen*, verknüpft mit dem Bild der ‚kopftuchtragenden Frau‘ als rückschrittlich und unemanzipiert konstruiert werden. Antimuslimischer Rassismus und ,Veranderung‘ des Islam operieren dabei, genau wie Heterosexismus, ohne Rassisten und Heterosexisten – als präreflexive Wahrnehmungsmatrix. Innerhalb dieser Matrix werden Facetten innerhalb einer Gruppe ausgeblendet, wodurch ein scheinbar einheitliches Bild erzeugt wird. Die eigene Gruppe (die der Mehrheitsgesellschaft) kann und wird vor dem Hintergrund dieses Diskurses aufgewertet und ein Machtverhältnis wird etabliert (Polat 2016). Im Folgenden soll die Überscheidung einer heteronormativen Matrix mit einer anti-muslimisch-rassistischen Matrix auf der Ebene der Erzeugung von Wahrnehmungsschemata in der Schule verdeutlicht werden. Schule als Ort sprachlicher, materieller und räumlicher Subjektivierung Die Situation ist Folgende: Carlyn, deren Mutter Deutschland-stämmig und deren Vater Türkei-stämmig ist, verliebt sich in der 9. Klasse in eine_n Mitschüler_in. Sie erzählt dies ihrer besten Freundin, die sie wiederum der Klasse gegenüber ‚outet‘. Daraufhin wird Carlyn, wie sie berichtet, von den Mitschüler_innen ausgegrenzt. Carlyn beschreibt, wie sie sich mehr und mehr in ihren eigenen Kummer zurückzieht und von den anderen isoliert. Die Lehrerin bekommt Carlyns Rückzug mit und deutet diesen (fälschlicherweise) als ein Problem einer ‚unterdrückten Muslima‘ in einer ‚türkischen Familie‘ (bspw. schenkt sie ihr ein Buch, wie sich türkische Mädchen emanzipieren können usw.). Die Lehrerin kommt nicht auf die Idee, dass Carlyn unter anderem wegen ihres, im Sinne der Anerkennung unartikulierbaren, lesbischen Begehrens unglücklich ist (LesMigras 2012: 141ff.). Carlyn erinnert sich an diese Schulerfahrung und stellt dabei die Beziehung zu ihrem Vater in den Mittelpunkt. Aus der Retrospektive, als 25-jährige, teilt sie der/dem Interviewer_in folgendes mit:

21 Vgl. dazu Lutz u.a. (2010).

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Carlyn: „also doch ich weiß warum ich ihm das nicht gesagt hab [...] nämlich weil ich selber so viele Vorurteile hatte dass äh [...] dass ich gedacht hab äh [...] der kann das überhaupt niemals akzeptieren und für den ist das ganz schrecklich und äh [...] der kommt ja aus der Türkei und da ist man ja so werteverbunden und traditionell obwohl ich selber weiß dass das nicht so ist bei ihm [...] also ich ich kenn ihn ja [...] ich weiß ja auch wie ich aufgewachsen bin und dass das keine Rolle gespielt hat [...] [...] Er ist alles [...] er entspricht nur nicht diesem typischen Bild äh [...] was [...] was andere Leute mir auch entgegengebracht haben wie so ein Mann der [...] einen türkischen Migrationshintergrund hat zu sein hat [...]Also son bisschen [...] hm [...] Patriarch und [...] irgendwie traditionell und muslimisch und sind alle so Sachen die(....)ich eigentlich noch nie mit ihm verbunden hab von denen ich aber Angst hatte dass die dann irgendwie durchbrechen würden [...]“ (LesMigras 2012: 148)

Carlyn beschreibt in diesem Interviewausschnitt ihre Angst, ihrem Vater ihre nicht-heterosexuelle Liebe anzuvertrauen. Sie beschreibt zuvor, wie sehr sie selbst immer wieder mit Vorurteilen gegenüber Muslim_innen konfrontiert wurde und wird (LeMigras 2012: 141ff.), die sie verinnerlicht, und die derart wirken, dass sie die Beziehung zu ihrem Vater beeinflussen. Ihr Vater, so schreibt sie, war aber entgegen ihren Erwartungen letztlich die wichtigste Bezugsperson, die sie in ihrem nicht-heterosexuellem Begehren ernstnahm und verstand. Im Anschluss an die Interpretation des Gesagten, von der Autor_innengruppe LesMigras aber eher auf die sprachlich-räumlich-materiellen Aspekte von Subjektivierung abzielend (in der Studie ging es um das Sichtbarmachen von Mehrfachdiskriminierungen und deren Dynamiken), kann zunächst festgehalten werden: Die Lehrer_in hat nicht ‚böswillig‘ etwas falsch gedeutet, sondern hat sich lediglich präreflexiv eines herrschenden Diskurses bedient; sie hat durch diesen gedacht und gehandelt. Gemäß Foucault strukturieren Rationalitäten und dominante Diskurse die Wahrnehmung der Individuen, die von diesen zwar als ‚eigen‘ wahrgenommen wird, aber durch Dispositive der Macht erzeugt und gelenkt wird. Wahrnehmungen jenseits gesellschaftlicher Hegemonien erfordern einen gezielten philosophischen Mut zum ‚in die Irre gehen‘, zum Denken des Abwegigen, zum Denken dessen, was nicht gedacht werden darf, was auf den ersten Blick unsinnig erscheint, was aus dem Diskurs ausgeschlossen ist, sich an seinen Rändern bewegt (Foucault 1986: 15). Vor dem Hintergrund normativer Diskursfiguren und Rationalitäten, die gesellschaftlichen Akteur_innen im Sinne eines Dispositivs als Deutungsfolien bereitstehen (und natürlich sind die Lehrer_innen davon auch nicht ausgenommen), hat die Lehrer_in die Situation, in der Carlyn sich befand, verkannt.

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Es kann konstatiert werden, dass sich drei dominante Diskursfiguren ineinander verschränken und die Handlungslogik vorstrukturieren: Ein westlicher Freiheitsimperativ der Geschlechter (vor allem der heterosexuellen ‚gleichberechtigten‘ Liebe)22, der Unterdrückung von Muslim_innen durch ‚patriarchale‘ Strukturen und ,Veranderung‘ (othering) des Islam im europäischen Kontext (s.o.) sowie ein heteronormativer Diskurs der Zweigeschlechtlichkeit, der gleichgeschlechtliche Lebensweisen verunsichtbart (s.o.). Diese drei Diskursfiguren bilden ein Dispositiv des Wissens (ein Netz aus verschiedenen Diskursen, die zusammengenommen Macht erzeugen, darüber, dass sie die Wahrnehmungsschemata der Einzelnen generieren). Allein vor dem Hintergrund dieses Dispositiv des Wissens konnte die Lehrer_in überhaupt Carlyns Kummer als ein ‚Problem muslimisch-patriarchaler Unterdrückung‘ deuten. Heterosexualität ist zudem die dominante Deutungsfolie, hinter der alle noch möglichen anderen Phänomene zurückfallen. Das System der Zweigeschlechtlichkeit verstellt effektiv den Blick auf dasjenige, was Menschen (Kinder/Jugendliche) sein können und leben wollen, weswegen sie eventuell Kummer haben, glücklich sind, sich zurückziehen, in der Leistung abfallen usw. Auf Kelleys Bild zurückkommend: Carlyns Begehren wurde damit zu einer unsichtbaren Stelle im Educational Complex oder im Gender- und Migrationsregime Schule. Sprachliche Dimension „Wie wird aus dem Menschen ein Subjekt gemacht?“ (Foucault 1999: 161), fragt Michel Foucault und verweist damit auf den Modus der Anrufung innerhalb der diskursiven Gitter des Sag- und Unsagbaren, in denen sich ein Subjekt als Subjekt erzeugt. Die Identifikation jenseits von Sagbarem bildet einen prekären Ort, einen gleichsam verwirrenden Ort. Dasjenige, was ich gemäß meiner Erfahrung sein könnte, findet keinen Widerhall in der Umgebung, keine Beheimatung (hier: als Mädchen* eine Freundin* zu begehren); aber dasjenige, was man sein soll, die zugeschriebene Erfahrung, wird zurecht verweigert (hier: ‚unterdrückte Muslima‘). So gibt es niemals einen Ort der Ankunft, des Behagens. Das Unmögliche wird zur gefühlten Wirklichkeit, das Mögliche wird im Modus der Entfrem-

22 Sara Farris (2013) betont in ihrem Konzept des femonationalism, dass Nationalismus und Eurozentrismus heute vor allem in Abgrenzung zu den Ländern des Südens erzeugt werden, indem die Diskursfigur der ‚westlichen freien Frau‘ gegenüber der ‚unterdrückten‘ Muslima gezielt eingesetzt wird. Dies geht soweit, dass Kriege im Namen der Befreiung von Frauen in Ländern des Nahen Ostens oder anderswo geführt werden.

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dung angenommen: „Eine möglicherweise unaufhebbare [...] Unvereinbarkeit zwischen dem Erscheinen des Seins, des Sprechens und der Identität des Selbstbewusstseins“ stellt sich ein (Foucault 1999: 673) – das ist die traumatische Dynamik. Sie ‚fällt nicht vom Himmel‘. Sie wird als Effekt der heteronormativen wie aber auch der anti-muslimisch rassistischen Matrix erzeugt. Materialität Der materielle Aspekt zeigt sich darin, dass Menschen Verhältnisse verkörpern. Das bedeutet, dass Kummer sichtbar ist, durch den körperlich materiellen Rückzug, den die Lehrerin bei Carlyn wahrnimmt: einmal möglicherweise als Rückzug in sich selbst (nicht in Kontakt gehen, nicht sprechen, sich qua Aufmerksamkeit in sich zurückziehen), aber auch eventuell räumlich (nicht zur Schule gehen oder sich in die hintersten Winkel des in den meisten Fällen ohnehin überall einsichtbaren Schulraumes verkriechen). Materialität zeigt sich aber auch in den biographisch-leiblichen Prozessen; darin, dass Carlyn sich erinnert und Erinnerung kein allein kognitiver Prozess ist. Als 25-jährige beschreibt sie die Situation und, wie aus dem Interview und den sprachlichen Stockungen hervorgeht (äh’s und Pausen), ist Carlyn emotional nicht unbeteiligt.23 Die Stimme transportiert als materielle Dimension ein Gefühl, eine (spürbare) Atmosphäre des NichtGesehen-Werdens; sie legt Zeugnis davon ab, wie sehr gesellschaftlich erzeugt Vorurteile die Beziehung zu ihrem Vater verändern. Die Erinnerung an diese Erfahrung des Unbehagens bildet ein Scharnier zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Diese Erinnerung ist leiblich-materiell, weil es der Körper ist, der ‚mitgenommen wird‘ in der Zeit, und der – so zumindest die EmbodimentForschung (Fausto-Sterling 2000; Koch 2011; Wuttig 2016a) – in der Lage ist, Atmosphären und Eindrücke zu speichern und soziale Verhältnisse indirekt abzubilden. Dies ist besonders der Fall, wenn Erlebnisse sich zu leidvollen Erfahrungen verdichten und ob der mangelnden diskursiven Raster in eine Verlustspur des Sprechens eintauchen. Diese kleinen und großen biographischen Einbrüche verweisen auf eine traumatische Dimension, die nicht im Individuum anzusiedeln ist, als naturalistische Ausgangsposition der Vulnerabilität, sondern sich aus einer Vulnerabilität ergibt, die sozial orchestriert ist. Diese Vulnerabilität ergibt sich nicht zuletzt aus der menschenmöglichen Fähigkeit, sich körperlich zu erinnern. Da Erinnerung auch ein politischer Prozess ist, innerhalb desselben Machtverhältnisse erinnert werden und somit subjektivieren, spreche ich von Gedächt-

23 Für eine systematische Interpretation von Stockungen im Sprechen als traumatische Überforderungen siehe Anja Gregor (2015).

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nistechnik, bzw. davon, dass Identitätsanforderungen – wenn auch gebrochen – materiell über Erinnerungstechniken wirksam sind (Wuttig 2016a: 274). Raum Der räumliche Aspekt ergibt sich daraus, dass menschliche Körper sich in einem konstitutiv-dynamischen Wechselverhältnis zu den Räumen befinden, in denen sie sich aufhalten/bewegen. Die Geografin Sybille Bauriedl kommt zu dem Schluss, dass nicht nur Räume von den Einzelnen verkörpert werden, sondern auch Körper Räume ,verraumen‘. Demgemäß spricht sie von „[v]erkörperten Räumen und ‚verräumten‘ Körpern“ (Bauriedl u.a. 2000: 130). Andersherum: So wie gesellschaftliche Verhältnisse ein materielles Abbild gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse sind (Architektur/Anordnung), sind Körper materialisierte Effekte gesellschaftlicher Diskurse und Machtformationen. Der Raum, in dem ich mich bewege, bedeutet mir etwas und daher wer ich in diesem Raum sein kann und auch was aus dem Raum als nicht-anerkannte (sanktionierte) Verhaltensweise ausgeschlossen ist. So wie die möglich gewordenen Körper Räume der Freiheit erzeugen können, schreiben sich die Raumbildungen wiederum in die Körper ein und bilden Körpergedächtnisse aus; als Erinnerungen an traumatische Erlebnisse (Gerüche, Geräusche, Sensorium, Anordnung, Ich-Gefühl im Raum) leben sie besonders intensiv in den Körpern fort – Erinnerungen im Horizont des insidious trauma an die Institution Schule bspw. transportieren den vergangenen Raum auf der Ebene des subjektiven Erlebens in die Gegenwart. Der Raum wirkt als traumatische Dynamik und machtvolles Instrumentarium der Subjektivation über die Erinnerung, im Falle einer leidvollen und gewaltvollen Erfahrung, zu der eine Marginalisierungerfahrung sicherlich zählen kann, es aber nicht muss, in die Gegenwart fort. Konkret: Die Gedächtnispraxis erzeugt Subjekt-Leib-Raum-Gebilde als dessen Scharnier hier die Verletzung fungiert. Der symbolisch aufgeladene Erinnerungs-Raum ist zugleich äußerlich und innerlich – als innerlicher wird er auf einer Zeitschiene transportiert, auch wenn der äußere Raum/Ort nicht mehr existiert, etwa weil diese Schule bereits abgerissen wurde. Zusammenfassung und Ausblick Kelleys Educational Complex beschreibt aus meiner Sicht einen potentiell traumatischen Ort, an dem Menschen ihrer sozialen und symbolischen Existenz beraubt sind; dadurch, dass sie als etwas angerufen werden, was sie in ihrem eigenen Empfinden nicht sind, oder dadurch, dass sie als das, was sie sein könnten, nicht anerkannt werden. Diese Verhältnisse von Nicht-Anerkennung oder Ver-

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kennung verdichten sich in einer Institution wie sie die Schule darstellt. Schule kann als Topos traumatischer Subjektbildung aufgrund der normativen Schemata, (Raster des Sag- und Unsagbaren) die hier wirksam sind, gelesen werden. Heterosexismus und Rassismus überschneiden sich darin nicht nur, sondern bilden spezifische Effekte des Verkennens aus. Als heterosexistische Matrix sowie als rassistische Matrix wirken Normalisierungen auf einer diskursiv-materiellen Ebene: konkrete Körper erinnern sich an Atmosphären, Atmosphären des Sexismus, der Heteronormativität, des Othering of Islam, Diese gedächtnistechnologische Erzeugung der Subjekte bezeichne ich als traumatische Dimension. Die Einverleibung von gesellschaftlichen Verhältnissen wird zum Konkretum: in den unwillkürlichen Körpereigensinnigkeiten, den emotionalen Betroffenheiten, den affektiven Grenzgängen, den Stimmverlusten, Körperausdehnungen oder dem Zusammenziehen von Körpern im Raum, den somatischen Befindlichkeiten, die wiederum auch an vergangene Erfahrungen gebunden sind, und somit Subjektivierung und Entsubjektivierung als einen translokalen und zeitüberschreitenden Raum verstehbar machen. Schule stellt aber genauso gut einen möglichen heterotopischen Ort der Kritik dar. Ein Raum, in dem durch reflektorische Prozesse im Sinne einer lernenden Institution dissidente Logiken abgesetzt werden (vgl. Grabau/Rieger-Ladich 2014: 75; Böhnisch/ Schröer 2013: 130). Der Begriff der Heterotopien (Foucault 1999) adressiert lokalisierte Räume, in denen und durch die Utopien als gelebte Wirklichkeiten und Praxisformen generiert werden können, Räume, die sich zu den gängigen kulturellen oder gesellschaftlichen Räumen quer verhalten (Foucault 1999: 149). Eigentlich sind Heterotopien aber im Besonderen Räume, die für „Menschen gedacht sind, die sich in Hinblick auf den Durchschnitt oder die geforderte Norm abweichend verhalten“ (Foucault 2013: 12). Um den Status eines traumatischen Ortes zu überwinden, muss Schule sich der Erzeugung der Unsichtbarkeit der Unsichtbarkeit des Sichtbaren bewusst werden. Sie muss ein Raum werden, in dem durch reflektorische Prozesse im Sinne einer lernenden Institution dissidente Logiken abgesetzt werden (vgl. Grabau/Rieger-Ladich 2014: 75; Böhnisch/ Schröer 2013: 130). Über eine diskursive Vergegenwärtigung von Mehrfachdiskriminierungen, und deren mitunter bizarre Überschneidungseffekte der Verkennung, würde nicht nur der aktuelle Schulraum als multipler Identifikationsraum geschaffen, sondern darüber hinaus auch die (Körper-)Erinnerungen an diese Räume verändert. Damit können Subjektivierungen in ihrer Translokalität und Transchronizität, in ihrer Dimension der traumatischen Anhäufungen von Erfahrungen sichtbar und einer ‚nachhaltigen‘ Veränderung zugänglich gemacht werden.

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Literatur Barthes, Roland (2015): Fragmente einer Sprache der Liebe. Berlin: Suhrkamp. Bauriedl, Sybille/Fleischmann, Katharina/Strüver, Anke/Wucherpfennig, Claudia (2000): Verkörperte Räume – «verräumte» Körper. Zu einem feministisch-poststrukturalistischen Verständnis der Wechselwirkungen von Körper und Raum. In: Geographica Helvetica. 55 (2), 130-137. Bergold-Caldwell/Wuttig, Bettina/Scholle, Jasmin (2017, i.E.): Always placed as the other. Rassialisierende Anrufungen als traumatische Dimension im Kontext Schule. In: Jäckle, Monika; Wuttig, Bettina; Fuchs, Christian (Hrsg.): Trauma-Pädagogik-Schule. Ein Handbuch. Blanchot, Maurice (2006): Jener, der mich nicht begleitete. Basel: Urs Engeler. Böhnisch, Lothar; Schröer, Wolfgang (2013): Agency und die Entgrenzung des Sozialen – Bewältigungslagen als sozialpädagogisches Zugangskonzept. In: Oelkers, Nina; Richter, Maria (Hrsg): Aktuelle Themen und Theoriediskurse in der Sozialen Arbeit. Frankfurt am Main. Peter Lang, 117-133. Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Butler, Judith (1997): Körper von Gewicht. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Butler, Judith (1998): Hass spricht. Zur Politik des Performativen. Berlin: Berlin. Butler, Judith (2009): Krieg und Affekt. Berlin: Diaphanes. Butler, Judith (2010): Die Macht der Geschlechternormen. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Coole, Diana/Frost, Samantha (2010): New Materialisms. Ontology, Agency, and Politics. Durham: Duke Univ. Press. Connell, Robert W. (2006): Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. 3. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag. Creutz-Kämppi, Karin (2008): The Othering of Islam in a European Context. Polarizing Discourses in Swedish-Language Dailies in Finland, Nordicom Review, 29 (2008) 2. 295-308. Deleuze, Gilles (1993): Unterhandlungen. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Farris, Sara (2013): Femonationalism: The politics and economics of gender and migration. (Vortrag anlässlich der Tagung „Geschlecht in gesellschaftlichen Transformationsprozessen“ der DGFE, Sektion Frauen- und Geschlechterforschung vom 2.4.10.2013 in Wuppertal). Vortragsmitschrift. Foucault, Michel (1977): Sexualität und Wahrheit I. Der Wille zum Wissen. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Foucault, Michel (1986): Der Gebrauch der Lüste. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

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366 | B ETTINA W UTTIG Polat, Elif (2016, i.E.): Jugendliche zwischen antimuslimischem Rassismus und Islamismus – was kann schulische Prävention leisten?“ In: Handreichung: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Petzold, Hilarion G./Wolf, Hans Ulrich/Landgrebe, Birgit/Josi, Zorica/Steffan, Angela (2000): „Integrative Traumatherapie“ –− Modelle und Konzepte für die Behandlung von Patienten mit „posttraumatischer Belastungsstörung“. In: Bessel, Kolk van der/McFarlane, Alexander/Weissaeth, Lars (Hg.): Traumatic Stress. Grundlagen und Behandlungsansätze. Theorie, Praxis und Forschungen zu posttraumatischem Stress sowie Traumatherapie. Paderborn: Junfermann, 445-580. Reckwitz, Andreas (2008): Subjekt/Identität. Die Produktion und Subversion des Individu- ums. In: Moebius, Stefan, Reckwitz, Andeas (Hrsg.): Poststrukturalistische Sozialwissenschaften. Frankfurt am Main. Suhrkamp, 75-93. Ricken, Norbert/Balzer, Nicole (2012): Judith Butler. Pädagogische Lektüren. Wiesbaden: VS Springer. Sterling, Anne (2000): Sexing the Body. Gender Politics and the Construction of Sexuality. New York: Basic Books. Wuttig, Bettina (2016): Das traumatisierte Subjekt. Geschlecht – Körper – Soziale Praxis. Eine gendertheoretische Begründung der Soma Studies. Bielefeld: transcript. Wuttig, Bettina (2016a): Das Subjekt, die feministische Praxis der Freiheit und die Entzogenheit der somatischen Dimension. Eine neu-materialistische, post-cartesianische Betrachtung. In: Birkle, Carmen/Grubner, Barbara/ Henninger, Annette (Hg.): Feminismus und Freiheit. Geschlechterkritische Neuaneignungen eines umkämpften Begriffs. Sulzbach: Helmer. Yildiz, Erol (2014): Nach der Migration. Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft. Bielefeld: transcript.

Trauma trifft nicht Einzelne Eine machtkritische Perspektive auf Trauma – vom Körper her gedacht gegen einen individualisierenden Machbarkeitsgeist C ORINNA P USCH Einleitung Eine Widerstandskraft, die Menschen nach schlimmsten Erlebnissen und Schicksalsschlägen „immun gegen Angriffe von Außen“ – nicht nur „wie etwa Gummi“ – „wieder in ihren Ursprungszustand zurückkehren“ (Kuss 2016), sondern sie gar „gestärkt nach einer solchen Krise zurück[kommen]“ (SWR Landesschau Rheinland-Pfalz 2016) lässt? Das klingt zu gut um wahr zu sein? Nicht, wenn man die zahllosen Publikationen zum Thema „Resilienz“ der letzten Jahre liest, die sich genau diesem Thema widmen. Und nicht, wenn Sie die sieben Übungen auf business-wissen.de1 befolgen, wie zum Beispiel „Hinderliche Glaubenssätze umformulieren“ und „Sozialkonto füllen“ (Rößler 2015). Auch wenn es zweifelsohne unterschiedlich fundierte und seriöse Konzepte gibt, diese vermeintliche Wunderkraft zu stärken, sie alle setzen bei der Schulung von individuellen Fähigkeiten an, um Menschen den Umgang mit von außen induzierten Krisensituationen zu erleichtern. Und suggerieren mehr oder weniger explizit die Bewältigbarkeit jedes Erlebnisses – die/der Einzelne muss nur genügend an sich arbeiten – selbständig oder mit Unterstützung von Expert_innen.

1

Ratgeberseite mit populärpsychologischen Beiträgen.

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Kann es sich die relativ junge Disziplin der Traumapädagogik2 leisten, dieses Potential zu vergeben? Geht es hier darum, ,traumatisierte‘ Kinder, zu trainieren, in Fähigkeiten wie „Veränderungen von dysfunktionalen Einstellungen und Überzeugungen“ (Rießinger 2011: 11) und „Möglichkeiten das Geschehene in die eigenen Lebensgeschichte[n] einzuordnen“ (ebd.), die sie so bald wie möglich selbständig an sich anwenden können – zum Beispiel im Rahmen eines Lernzielvertrages3 – um in ein ,normales‘ Leben zurückzufinden? Und was ist dieses ,normale‘ Leben? In einer Regelschule als Schüler_in unauffällig zu bleiben? Sich reibungslos in eine Gleichaltrigengruppe mit ihren Normen und Regeln einfügen zu können? Die ,eigene‘ Geschlechterrolle ,annehmen‘ und leben zu können? Eine ,stabile‘ Identität zu erlangen? Nach Ende des durch geschicktes Selbst- und Kosten-Nutzen-Management in der Regelstudienzeit erreichten Hochschulabschlusses durch einen lückenlosen Lebenslauf zum ,wertvollen‘ Mitglied der Gesellschaft zu werden? Oder durch die RushHour des Lebens zu einem ,erfüllten‘ Leben zu finden – mit Job, Wohneigentum, Partner_in, Kindern – und das ohne die ,work-life-balance‘, den BMI oder das ,Bewegungskonto‘ aus den Augen zu verlieren? Diese zugegebenermaßen überspitzte Skizze des Zeitgeistes stellt zwei zentrale Charakteristika heraus, welche – so meine These – eine traumasensible Haltung konterkarieren: Machtvergessenheit und Übersehen von Vulnerabilität und Begrenztheit. Dass Denken und Reden über Trauma auch anders geht – machtbewusst und damit aus gesellschaftlicher Perspektive und gleichzeitig vom Individuum und seiner Verletzlichkeit her – zeige ich anhand der von Bettina Wuttig begründeten wissenschaftlichen Richtung der „Soma Studies“. Wuttig versteht das Subjekt – von der einen Seite – als poststrukturalistisch konstitutiv in Machtverhältnisse verwoben und von ihnen durchwirkt, sowie gleichzeitig – von der anderen Seite – Körper, Leib, „Soma“ sowohl als ontologisch vorgängige und unüberwindbar „liminale Größe“ (Wuttig 2016: 35) und entsprechend als konstitutiv verletzlich, angewiesen und begrenzt, als auch als emanzipativ, als nie vollständig zu vereinnahmendes, widerständiges und in diesem Sinne als kreatives Gegenüber voller wertvoller Impulse.

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Bundesweit bündelt die BAG Traumapädagogik seit 2008 Bemühungen, traumapädagogische Kenntnisse in pädagogischen Handlungsfeldern zu verbreiten. 2011 wurden Standards für traumapädagogische Konzepte vorgelegt (BAG-TP 2011).

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Diese dient als vertragsähnliche Vereinbarung zwischen Lehrkraft und Schüler_in, um Lernziele und zu erledigenden Lernaufgaben festzulegen.

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Gängige Traumabegriffe kritisiert Wuttig als machtvoll mit Gesellschaftspolitik verwoben und kreiert den Begriff „traumatische Dimension“, um eine Skandalisierbarkeit von Alltagsgewalt entlang zumeist übersehener Machtverhältnisse zu ermöglichen. Fundiert ist diese Verknüpfung in einer innovativen Verbindung poststrukturalistischer und insbesondere nietzscheanischer Subjekttheorie mit neurowissenschaftlichen Trauma- und Gedächtnistheorien. Schließlich soll über die praktische Bedeutung dieser wissenschaftlich jungen Perspektive für die Schaffung einer traumasensiblen Atmosphäre, im Sinne eines ,sicheren Ortes‘ (Biberacher 2013) im pädagogischen Handlungsfeld Schule nachgedacht werden. Individualisierende Akteursperspektive und Machbarkeitsgeist Erziehungswissenschaftliches Denken heute ist geprägt durch eine individualisierende Akteursperspektive auf das Subjekt. Die relative Autonomie von Kindern und ihre Gestaltungsmacht wird zugunsten ihrer konstitutiven Abhängigkeit stark betont. Angesichts der vormodernen, ebenso machtvollen, Konstruktion des Kindes als „erziehungsbedürftige[s], schwache[s] und unreife[s]“ (Andresen/Koch/König 2015: 9) Wesen, welches mehr als Objekt ohne eigene Handlungsmacht denn als mitgestaltendes Subjekt gesehen wurde, ist diese (Gegen-)Bewegung mit ihren Potentialen verständlich. Doch was im Kontext der damaligen Zeit als widerständiger Gegenstandpunkt in seinem Chancenreichtum sichtbar wird, das muss heute – in einem völlig veränderten Umfeld – ebenso auf seine Gefahren hin untersucht werden. Damals garantierten in stärkerem Maße offensichtlich repressive gesellschaftliche und familiäre Strukturen das Funktionieren des Individuums im Sinne der gesellschaftlichen Interessen. Die insbesondere seit den 1960er und 1970er Jahren erfolgte Herauslösung aus „traditionellen Bindungen und Gewohnheiten“ (Schön 2002: 113) hingegen, eine Pluralisierung von Lebensformen und Konventionen, gestiegene Bildungsbeteiligung sowie, auf der anderen Seite, die neoliberale, höhere Bildungs- und Flexibilitätsansprüche stellende Arbeitswelt bedingen eine völlig andere Form der Regierung von Individuen, für die insbesondere die Wissenschaft der Psychologie eine entscheidende Rolle spielt (Schön 2002: 113ff.). Rose (1998) – dem Gouvernementalitätskonzept Foucalts folgend – beschreibt anschaulich, wie moderne Regierungsformen und ihre Programme4 darauf angewiesen sind, dieses nun in verstärktem Maße freigesetzte Individuum – mit seinem „Innenleben“, seinen Be-

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Im Sinne jeglicher gesellschaftlicher Machtausübung – innerhalb eines Staates, einer Institution, einer sozialen Gruppe oder auch eines Individuums gegen sich selbst.

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ziehungen, seinen Grenzen, seinen Motivationen, Entscheidungsprozessen, usw. – als seine „Psyche“ intelligibel, d.h. denkbar, besprechbar und am Ende beeinflussbar zu machen (Rose 1998: 101ff.). In einem gewissen Sinn hat die Psychologie als Gesamtdisziplin mit ihren Methoden Individualität erst produziert, indem sie genau dies geleistet hat: „Die Schwelle der beschreibbaren Individualität herab[zusetzen]“ (Foucault 1976: 247) und damit „das Individuum als beschreibbare[n] und analysierbare[n] Gegenstand“ (Foucault 1976: 245) zu konstituieren. „Der Fall ist nicht mehr […] ein Ganzes von Umständen, das eine Tat qualifiziert […] sondern der Fall ist das Individuum [...]“ (Foucault 1976: 246). Damit entsteht ein neuer „Typus von Macht über die Körper“ (ebd.), eine neue „Methode der Beherrschung“ (Foucault 1976: 247). In diesem Kontext des „government of individualization“ (Foucault 1982: 212) werden nun auch die Risiken einer überproportionalen Berücksichtigung der Perspektive auf Menschen und insbesondere Kinder als individuelle, eigenständige und vermeintlich unabhängige Akteure sichtbar: Denn genau hier setzt moderne Regierung an. Ihren Mechanismen folgend werden eine gelungene Entwicklung und Selbstverwirklichung, d.h. die angenommene Voraussetzung für ein glückliches Leben, als Ergebnis selbstbestimmt gefällter Entscheidungen eines autonomen Individuums gesehen. Dies bedeutet, dass das Individuum umfassend selbstverantwortlich gemacht wird für sein individuelles Schicksal. (Schön 2002: 113) Selbst sein Scheitern an gelockerten und als überwindbar dargestellten gesellschaftlichen Hürden, wenn nur der Wille groß genug sei, wird ihm persönlich zugeschrieben. Für Masschelein (2002) nennt dies ein Immunitätsdispositiv, d.h. die Annahme, dass das Individuum „dazu fähig ist, zu sich selbst und zu den Anderen eine objektivierende, distanzierte Haltung einzunehmen“, dass es „sein Leben selbst gestalten kann, ein mündiges, von undurchschauten Abhängigkeiten emanzipiertes, sich selbstbestimmendes, selbsttätiges Wesen“ (ebd.) ist. Nur so kann es freigesetzt von seinen ihn bedingenden gesellschaftlichen Strukturen als relevant gedacht werden. Damit eng verbunden ist die Annahme einer Allmachbarkeit und ein „blinde[r] Entwicklungsoptimismus, als sei jeder seines Glückes Schmied“ (Stamm/Halberkann 2015: 67), wie sie auch im Konzept der Resilienzförderung zum Ausdruck kommen: „die Machbarkeit von Lebensläufen und Biographien“ (Gröning 2011: 119), wenn die oder der Einzelne sich nur genügend motiviert, reflektiert, monitort. „Was ehemals unmittelbarer Fremdzwang oder internalisierte Autorität leistete, muß jetzt durch Selbstzwang erreicht werden“ (Helsper 1990: 186) – möglich gemacht durch psychologische Erkenntnismethoden und unterstützt durch Ratgeberliteratur, Coaches und Therapeut_innen. Das Individuum wird hineinsubjektiviert in die Rolle eines „Unternehmer[s] seiner Selbst“ (Bröckling 2000: 136) – die Ökonomisierung der Lebenswelten ist eine umfas-

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sende, bis hin in die intimsten Sphären des Selbst, so auch des kindlichen Aufwachsens. Jäckle (2015) zeigt dies für die Schul-Sphäre eindrücklich anhand der aktuellen Kompetenzorientierung des Unterrichts: „[U]m in einer hochkomplexen, globalisierten Informationsgesellschaft lebenstüchtig zu sein“ (124), würden aus Schüler_innen „Kompetenzmaschinen“ (Foucault 2004: 319), für die „Selbstmanagement […] zur anthropologischen Größe“ (Jäckle 2015: 125) stilisiert werde. Grundlegend ist ein „Machbarkeits-Zeitgeist“ (ebd.), der es dem Individuum auferlegt, „nach marktwirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten des SelbstOptimierens und Selbst-Ausbeutens zu funktionieren“ (ebd.), will es die Anerkennung und Teilhabe in einer Gesellschaft erlangen, die als „differenzierte und globalisierte Informationsgesellschaft […] Interesse an der Ausschöpfung aller Begabungspotenziale ihrer Mitglieder“ (Wiater 2009: 113) als „,Standortfaktoren‘ im internationalen Wettbewerb“ (ebd.) hat, wie auch Wiater in seinem Grundlagenwerk für Lehramtsstudierende „Theorie der Schule“ festhält. Masschelein (2002) zeigt die entsprechende Entwicklung anhand des Verständnisses von Lernen und Lehrbeziehung. Zeitgenössische Didaktik sei durch psychologische Lernkonzeptionen bestimmt und verstünde folglich Lernen als „selbständig zu vollziehende[n] Akt“ (Masschelein 2002: 192) der „Wissenskonstruktion“ (Masschelein 2002: 192). Der Schule und den Lehrenden bleibt lediglich die Aufgabe „Voraussetzungen [zu] schaffen, Gelegenheiten bereit[zu]stellen und Anregungen [zu] geben“ (Wiater 2013: 124) – die letztliche Verantwortung verbleibt beim Individuum. Als maßgeblich für den Erfolg gilt die reflexive Vergegenwärtigung und Steuerung des Lernprozesses durch die Lernenden (Masschelein 2002: 192). Entsprechend verändert sich die Vorstellung von Lehrbeziehungen als nunmehr Interaktion zwischen zwei „unabhängigen und autonomen Partnern“ (ebd.), die methodisch in einem Lernvertrag konkret gemacht werden kann (ebd.). Übersehen von Vulnerabilität Übersehen werden grundlegende Aspekte des Menschseins, die Masschelein symbolisch zusammenfassend als „Kindheit“ bezeichnet: „Eine unaufhebbare Abhängigkeit, Verbundenheit und Verletzbarkeit, d.h. [...] eine unaufhebbare Unmündigkeit“, ein ,Nicht-(wählen)-Können‘, „geschaffen‘ zu sein“, „die Erfahrung des Fremden-im-Eigenen“ (Masschelein 2002: 201) – von Jäckle charakterisiert als „sozial vermittelte intersubjektive Zusammenhänge geprägt durch Offenheit, Situativität, Unvorhersehbarkeit und Unverfügbarkeit“ (Jäckle 2015: 127). Ein Risiko, das Andresen u.a. (2015) für die gesamte akteurszentrierte gegenwärtige Kindheitsforschung sehen (Andresen u. a. 2015: 9).

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Grundlegend für die verkürzende Sicht dieser aktuellen Strömung ist ein weitgehend monadisches Subjektverständnis. Westliches Denken ist grundsätzlich geprägt von diesem Primat des Individuums, welches Beziehungen als sekundär und dem Subjekt mit seiner Identität nachgängig setzt. Das Subjekt bildet eine geschlossene „zentrale Entität“ (Künkler 2011: 408). Die Kluft zwischen ihm und seiner Umwelt wird als letztlich unüberwindbar angenommen. Über ein als cartesianisch bezeichnetes Weltbild5 eng verbunden mit dieser Subjektsicht ist eine dualistische Trennung von Körper und Geist (ebd.). Der Mensch wird aus der Trennung von seiner Umwelt heraus als einseitig mit seinem Geist und seinem vermeintlich autarken Bewusstsein identifiziert konzeptioniert und diese Geist-Zentriertheit wiederum führt zum Übersehen von Abhängigkeit und entstehungsbedingter und unüberwindbarer Verbundenheit sowie den damit verbundenen Verletzbarkeiten – grundsätzlich körpernahe Erlebensweisen von Mensch-Sein. Es ist ein subjekttheoretischer Paradigmenwechsel der letzten Jahrzehnte, der in unterschiedlicher Radikalität die starre Trennung zwischen Subjekt und Umwelt auflöst. Neben dem Strang der Soma Studies seien hier für die Disziplinen der Pädagogik, die intersubjektiven Lernkonzeptionen Künklers (2011) genannt, sowie, für die Psychologie, die Säuglingsforschung (zum Beispiel Stern 1992) und die darauf aufbauenden psychoanalytischen Theorien zur Selbstentwicklung (beispielsweise Fonagy & Target 2006), welche wiederum eine der wichtigsten Grundlagen der relationalen Wende in der Psychoanalyse (zum Beispiel Benjamin 2002) bilden. Während hier – auf einer individuellen Ebene auf einzelne bedeutsame andere Subjekte begrenzt – die Konstitutivität von Beziehungen für das bewusste Subjekt bzw. Selbst für seine Entstehung, Veränderung sowie sein schieres Fort-Bestehen deutlich wird, gründen sich die Soma Studies auf poststrukturalistische Machttheorien nach welchen das „Subjekt nicht sozialen Macht- und Kräfteverhältnissen vorgängig ist, sondern durch diese sich konstituiert“ (Wuttig 2016: 23). Wuttig folgt hier primär den Subjekttheorien Foucaults und Butlers. Zentral ist eine Dezentriertheit des Subjekts, in der seine ursprüngliche und beständige Konstituiertheit durch Andere zum Ausdruck kommt: Ein autonomes Subjekt – wie im cartesianischen5 „Ich denke also bin ich.“ oder im husserlianischen „Ich nehme wahr, also bin ich.“ – gibt es nicht. Vielmehr gilt

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So ausschließlich zumindest in gängigen Descartes-Lesarten. Für eine differenziertere Auseinandersetzung siehe Wuttig 2016: 91ff.

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ein „es denkt“ bzw. „es spricht“6 und zwar lediglich durch das Ich hindurch (Boeder 2006: 56). Die Geschichte des Individuums kann nur durch bereits erzählte Geschichten erzählt werden, um diese sicht- und denkbar und zu einem Teil des Diskurses werden zu lassen. Dies sind zugleich die Voraussetzungen für die gesellschaftliche Existenz des Subjekts: ein ‚In-die-Welt-gerufen/genannt-Werden‘ („angerufen werden“ nach Butler 2006: 44ff.), ein ‚Gesprochen-Werden‘ und damit denk- und sprechbar gemacht werden – durch Andere. (Wuttig 2016: 49). Wobei das Gesprochene einem gesellschaftlichen Diskurs entsprechen muss, der den Sachverhalt erst sprechbar, „intelligibel“ (Butler 1991: 38) macht. Damit ist also das, was Mead mit dem „generalisierten Anderen“ (Mead 1934: 156) meint, jederzeit im Individuum bereits enthalten; das Subjekt besteht damit nie aus sich heraus, seine Existenz, sein Bewusstsein, sein Handeln sind kein Eigenständiges. Es folgt bis in seine Selbstwahrnehmung hinein der es konstituierenden durchwirkenden Struktur, dem gesellschaftlichen Diskurs, in den es voraussetzungsvoll hineingesprochen, ja ‚hineingeboren‘ wurde. In diesem Vorgang entsteht die Identität des zwangsweise kohärenten, immer-sich-selbst-gleichen Subjekts, indem „das Individuum in Kategorien eingeteilt wird, verbunden mit der Produktion von Wahrheiten, die an diese Identität geknüpft werden“ (Wuttig 2016: 64) und durch die auch das Subjekt ‚wahr‘ wird. Diese Reduktion der Vielheit des Individuums auf eine gesellschaftlich eingebundene stabile, sprechbare Identität „ist eine Form der Grausamkeit, die das Subjekt gegen sich selbst anwendet, um sein zu können“ (Wuttig 2016: 107) und wird als grundsätzlich machtvoll und gewaltsam angenommen. Widerstand ist nicht möglich ohne den symbolischen Tod, die Nicht-Intelligibilität zu riskieren. An Foucault anschließend fasst Wuttig diese Abhängigkeit: „Der Seele, dem Körper haftet nichts Unpolitisches an, das nach der Befreiung von Unterwerfungspraktiken, die immer auch Konstituierungspraktiken sind, übrig bliebe.“ (Wuttig 2016: 98) Dieser an sich bereits individualisierende Vorgang wird in der Moderne verstärkt von einer immer mehr im gesellschaftlichen Mainstream ankommenden psychologisierenden Art und Weise der Denk- und Sprechbarmachung menschlichen Bewusstseins und Verhaltens. Dieses „government of individualization“ (Foucault 1982: 212) macht das Individuum bis in sein Innerstes als Einzelnes fassbar, beschreibbar, messbar, beeinflussbar (Masschelein 2002: 190). Für seine gesellschaftliche Erkennbarkeit, d.h. Existenz zahlt der einzelne Mensch folglich einen hohen Preis:

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Denken und Sprechen fallen poststrukturalistisch gedacht in eins, da Denken immer bereits in einem – oft sprachlichen – Wechselverhältnis von Individuum und Gesellschaft entsteht.

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jenen „der Regierbarkeit, der Verwertbarkeit […] durch und im Kontext von Ökonomien“ (Wuttig 2016: 66). In diesem Kontext des existenz-bedingenden und -gefährdenden Ringens um gesellschaftliche Anerkennung wirken akteurszentrierte Sichtweisen auf das Handeln von Kindern und Jugendlichen bisweilen in einem absurden Ausmaß machtvergessen – zum Beispiel Wiaters schulpädagogische Perspektive auf Gruppenmitgliedschaften: „Es handelt sich also um eine persönliche Reaktion des Einzelnen gegenüber der angetragenen Mitgliedschaftsentwürfen, die aus Aneignungen, Distanzierungen, mitgestaltender Teilnahme und eigenen Initiativen bestehen.“ (Wiater 2009: 124) Was hier als vermeintlich freiwillige und gestaltbare Lebensentscheidung des Einzelnen erscheint, kann unter poststrukturalistischer Perspektive als ein Überlebenskampf des Individuums um Zugehörigkeit, der dadurch zugesprochenen Identität und der dadurch möglichen Sichtbarkeit und Anerkennung in gesellschaftlichen Diskursen gesehen werden. Gelingt dies nicht, erfährt das Individuum die durchschlagende Benennungs- und Zuordnungskraft auf eine besonders schmerzhafte Weise: Ausgrenzung, Zuordnung von gesellschaftlich minderbewerteten Identitätsmerkmalen oder Erfahrungen des ‚Unsichtbar-Bleibens‘, des ‚Nicht-Angesprochen-Werdens‘ und ‚KeinenPlatz-Findens‘. Unter Berücksichtigung der Dimensionen Körper/Soma werden diese einprägsamen Schmerzen sicht-, fühl- und beschreibbar (siehe 2.4 und 2.5). Gefahren einer individualisierenden Akteursperspektive in der (Trauma-)Pädagogik Zusammenfassend bestehen die Gefahren einer individualisierenden Akteursperspektive in pädagogischen Handlungsfeldern in einer Überbetonung individueller Faktoren in der Bewältigung und Prävention von belastenden Situationen genauso wie in Entwicklungen (wie dem Lernen), während Einflüsse gesellschaftlicher Bedingungen, alltägliche Gewalt gesellschaftlicher Strukturen sowie Vulnerabilität, Abhängigkeit und Begrenztheit des Einzelnen leicht übersehen werden. Dies hat gesellschaftspolitische Auswirkungen: Gesellschaftlichen Akteur_innen – wie Politiker_innen, Institutionen, bis hin zu pädagogischen Einrichtungen und Fachkräften – wird ein Maß an Verantwortung abgenommen, die dem Individuum in einer vermeintlich mehr auf Augenhöhe befindlichen Beziehung zugeschoben wird. Folglich kann die Reflexion der Rolle pädagogischer Tätigkeit in gesellschaftlichen Machtstrukturen zwangsläufig nicht umfassend

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erfolgen7. Erfüllt eine Einrichtung beispielsweise lediglich den Zweck, durch individualisierende Arbeit am Einzelnen soziale Brennpunkte in Schach zu halten und Elend weniger sichtbar werden zu lassen, nicht aber nachhaltig zu verbessern (wozu unter Umständen auch die Arbeit am Umfeld oder politische Schritte notwendig wären), so perpetuiert sie lediglich die bestehenden gesellschaftlichen Ungleich- und Machtverhältnisse. Nicht zuletzt können Einrichtungen und Fachkräfte gesellschaftliche Formen der Regierung und Machtausübung über Einzelne fortschreiben, indem sie sich Subjektivierungsvorgängen, der machtvollen Herstellung von Identitäten und der Kategorisierung von Individuen anschließen, die gesellschaftliche Anerkennung mit sich bringen. Damit werden sie Teil einer Zwangskohärenz herstellenden Regierunspraktik mit großem Verletzungspotential, die nicht zuletzt gesellschaftliche Ungleichheit reproduziert und Machtausübung erleichtert. Eigenverantwortung und Unabhängigkeit des Individuums werden über die Maßen fokussiert und vermittelt, gut getarnt in hilfreichen Formen des modernen Selbstmanagement, die effektiv auf ein Leben in einer umfassend ökonomisierten Welt vorbereiten, jedoch Lebendigkeit, Eigenwillen und Widerständigkeit zugunsten von Regierbarkeit der/des Einzelnen zurückdrängen. Dass Schule für Kinder und Jugendliche als in der Regel bedeutsamste Lebenswelt außerhalb der Familie ein entscheidender Schauplatz der gesellschaftlichen Einordnung und Selbstbildung ist, haben Jäckle, Eck, Schnell und Schneider (2016) insbesondere in Bezug auf die soziale Kategorie ‚Geschlecht‘ herausgearbeitet: „Die Schule ist ein Ort, an dem junge Menschen sichtbar werden und auch unsichtbar werden, an dem ihnen Identitäten ‚zu‘-‚gesprochen‘ werden oder ihnen entsagt werden, an dem ihnen ermöglicht wird, sich zu erkennen oder sich anders er-kenntlich machen zu müssen, an dem sie letztlich als jemand anerkannt werden oder verworfen werden, an dem sie ‚als jemand‘ sein können oder auch ‚niemand‘ sind.“ (Jäckle u.a. 2016: 13)

Traumapädagogische Konzepte können in dieselben Fallen tappen, die sich durch eine machtvergessene Überbetonung der Akteursperspektive ergeben: Gängige Traumabegriffe, wie zum Beispiel jene des ICD-10, ziehen eine vermeintlich klare Grenze zwischen nicht-traumatischen und traumatischen Er-

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Die Rolle Sozialer Arbeit wird häufig durch ein sogenanntes „Triple Mandat“ verbildlicht: Die soziale Einrichtung sowie die Fachkraft stehen in einem Kräfte-Dreieck zwischen den Klient_innen und ihren Interessen, der eigenen Fachlichkeit sowie den Interessen der Gesellschaft, vertreten unter anderem explizit durch staatliche Vorgaben aber auch implizit durch Erwartungen, Rollenbilder und Normen der Gesellschaft.

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lebnissen. Letztgenannte erscheinen als „Situation außergewöhnlichen Ausmaßes, die bei fast jedem tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“ (ICD-10 2016: F43.1) und umfassen „Naturereignisse, von Menschen verursachte Katastrophen, Kampfhandlungen, schwere Unfälle, Zeuge eines gewaltsamen Todes zu sein, Folterung, Terrorismus, Vergewaltigung und sonstige Verbrechen“ (ebd.). Diese Grenzziehung hat eine potentiell naturalisierende Wirkung. Es kann der Eindruck entstehen, dass Menschen ‚von Natur aus‘ von genau diesen Erlebnissen traumatisiert werden, weil durch sie die Verarbeitungskapazität eines Menschen überschritten wird und von anderen unterhalb dieser kontingenten DiagnostikSchwelle nicht. Diese Schwelle wird ist aber nicht qua Natur vorgegeben, sondern folgt gesellschaftlichen Politiken. In der ICD-10-Diagnostik wird eine „klassenspezifische männlich-weiße, nicht-behinderte Perspektive“ (Wuttig 2016: 151, Herv. i. O.) auf Trauma sichtbar, die automatisch andere, potentiell ebenso verletzende, Ereignisse ausschließt, welche vermehrt andere Menschengruppen treffen. Sie lässt die Lebenserfahrung von Menschengruppen außen vor, für die die oben genannten Ereignisse keine ‚Situation außergewöhnlichen Ausmaßes‘ sind: „Schwarze Menschen, people of colour, queers, queers of colour, Frauen, Staatenlose, die allermeisten Menschen die in den Ländern des Südens leben oder in den von Armut bedrohten ‚Ghettos‘ der westlichen Welt“ (Wuttig 2016: 251, Herv. i. O.). So wird alltägliche Gewalt, welche gewohnten Machtstrukturen folgt, unsichtbar. Die durch sie verursachten Verletzungen verbleiben im vergessenen Niemandsland unterhalb der vermeintlich objektiven Schwelle zwischen Trauma und Nicht-Trauma, ohne die Chance auf Sichtbarmachung. Im Rahmen einer individualisierenden Perspektive können jegliche „man-made desasters“ (Wuttig 2016: 252, Herv. i. O.) als alternativlose Naturgewalten erscheinen, welche ein Individuum ‚einfach so, schicksalshaft‘ trifft. Wuttig hingegen arbeitet heraus, dass das Geschehen immer eingebettet ist in gesellschaftliche Bedingungsstrukturen, „dass sich ein Verfolgungs- und Schocktrauma oder ein Internierungstrauma nicht wirklich von den Marginalisierungsprozessen trennen lassen, von Prozessen des othering, die in einer Gesellschaft hegemoniale Praxis sind. Die symbolische und soziale Anrufung ermöglicht erst, als dieser oder jener ‚erkannt‘ und angegriffen zu werden“ (Wuttig 2016: 27). Im Übersehen dieser Zusammenhänge sieht Wuttig eine Fortsetzung der Gewaltverhältnisse (vgl. Wuttig 2016: 28). Traumadefinitionen, die mit einer vermeintlich klaren Grenzziehung arbeiten, haben zudem eine entlastende Funktion: ‚wirkliches‘ Leid würde in unserer Gesellschaft ja anerkannt – wenn es kein Trauma ‚ist‘, könne es so schlimm ja nicht gewesen sein. Ein Infragestellen bestehender Umstände, das zudem auf große Widerstände stoßen würde, erscheint als nicht notwendig.

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Durch die beschriebenen Mechanismen werden sowohl bestimmte verletzende Ereignisse als auch die sie verursachenden oder begünstigenden Umstände unkritisierbar und unpolitisierbar. Welcher Traumabegriff angewendet wird, folgt also gesellschaftlichen Politiken und wirkt auf diese zurück. So komme ich mit Wuttig zu dem Schluss: „Die Annahme, es handelte sich bei Traumatisierungen um arbiträre, singuläre, individuelle und individualisierbare Ereignisse, ist demnach nicht nur ein Irrglaube, sondern auch eine Herrschaftsstrategie.“ (Wuttig 2016: 255) Sich als Pädagog_in oder Wissenschaftler_in als gesellschaftliche_r und politische_r Akteur_in zu verstehen, heißt folglich, zu reflektieren, welche Art der gesellschaftlichen Rückwirkung der verwendete Traumabegriff mit sich bringt. In der traumapädagogischen Praxis entstehen durch eine individualisierende Akteursperspektive ähnliche Probleme. So betonen Konzepte zur Stärkung von Resilienz beispielhaft einseitig individuelle Faktoren in der Prävention und Bearbeitung von Traumata und stärken den Machbarkeitsgeist: Wenn die/der Einzelne nur genügend gewappnet gewesen wäre, genügend Aufarbeitung leisten würde […] etc. Eine „Frage der sozialen, strukturellen oder symbolischen Gewalt [wird] zu einer Thematik individueller, neoliberaler Selbstsorgepflicht“ (Wuttig 2016: 249). Verantwortung wird zu Lasten des Individuums verschoben, wohingegen die Aufgabe, weniger gewaltvolle gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu schaffen übersehbar wird. ‚Blaming-the-victim-Tendenzen‘ werden verstärkt. Besteht kein Bewusstsein über Mechanismen machtvoller Identitätszuschreibungen, kann es passieren, dass ‚Traumatisierte‘ in eine Rolle als gesellschaftliche ‚Andere‘ hineinsubjektiviert werden, die sie in einer Art ‚persönlichkeitsdurchwirkenden self-fulfilling-prophecy‘ ausfüllen – was ihnen letztlich die Flexibilisierung ihrer Erlebensmuster sowie eine positive Entwicklung erschwert und neues Verletzungs- und Benachteiligungspotential birgt. Die damit verbundene normalisierende Gesundheitsvorstellung übt weiteren Druck auf das Individuum aus und ein Leiden an Vergesellschaftung wiederholt sich, während es in besonders schutzlosen Momenten des bereits Verwundet-Seins angreift. Ein Übersehen von Vulnerabilität und Beziehungs-Angewiesenheit – gepaart mit neoliberalen, individualisierenden und überfordernden Leistungserwartungen in einem Klima gesellschaftlicher Selektion – kann grundsätzlich nicht zu einem ‚sicheren Ort‘ führen, wie er als zentrales Element einer traumapädagogischen Praxis gesehen wird (z.B. Biberacher 2013). Es bestehen Risiken der Traumatisierung, Re-Traumatisierung und Vergabe von Entwicklungschancen.

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Soma-Studies – eine machtbewusste Perspektive auf Trauma – vom Körper her gedacht Wertvolle Perspektiven für eine machtbewusste Traumapädagogik ergeben sich insbesondere aus der Fundierung der Soma Studies Wuttigs in einem neumaterialistischen Körperverständnis. Sie nimmt Körper bzw. Materialität als gegeben und sozialer Einwirkung vorgängig, gleichzeitig aber als beständig „durch soziale Prozesse werden[d]“ (Coole/Frost 2010: 3ff, zitiert nach Wuttig 2016: 22) an. Diese Konzeption kontrastiert sowohl mit einer Trennung von Körper und Seele und dem damit einhergehenden Primat des Geistes als auch mit gängigen poststrukturalistischen Vorstellungen von Materialität. Im Gegensatz zu Butlers Verständnis eines einzig durch diskursive Konstruktion erst materialisierten Körpers und Foucaults Vorstellung eines zwar „in gewisser Weise den kulturellen Einschreibungen vorgängig[en]“ (Wuttig 2016: 126, Herv. i. O.) aber gleich einer passiven Fläche Einschreibungen erleidenden Körpers ohne Eigenleben, greift Wuttig auf ein nietzscheanisches Materialitätsverständnis zurück. Nietzsche rechnet dem Körper eigene Kräfte zu, welche ‚natürlich‘, gegeben, nicht ontologisch vorgängig aber koextensiv, d.h. in Wechselwirkung sowohl vor- als auch nachgängig zu Sozialität sind (Wuttig 2016: 30) und dementsprechend für die menschliche bewusste Erfahrung ungewohnte Charakteristika besitzen: Die nervlichen Impulse, die bedeutend die ontologische Materialität des Menschen ausmachen, sind vielfältige, uneinheitliche, chaotische, noch ohne Sinnzuschreibung völlig offene Regungen – „Vielheit, Energien, Kräfte, Intensitäten, als Quantitäten und nicht als Charakteristika sichtbar“ (Wuttig 2016: 134) – „Ströme mit hundert Quellen und Zuflüssen“ (Nietzsche 1954: 456). Dieses bewegliche Kräftefeld ist es, welches aufgrund seiner Empfindsamkeit, ja seiner Verletzlichkeit, die Offenheit zur Annahme sozialer Einwirkung und Formung des Menschen für Nietzsche ausmacht: So bilden „das Fleisch, die Nerven wie die Kräfte und Energien des Körpers eine Art anthropologische Voraussetzung für das Annehmen von Macht und sozialen Ordnungen überhaupt“ (Wuttig 2016: 153). Inkorporierte soziale Bedeutungen sind entsprechend habitualisierte Interpretationsvorgänge, Sinnzuschreibungen zu Elementen dieses materialen Feldes offener, lebendig sprudelnder Impulse. Habitualisierungen sind prozesshaft und werden durch unwillkürliche Erinnerungsdynamiken katalysiert. Nietzsche (1988) bezeichnet dies als „Mnemotechnik“. In Wuttigs Verständnis ist damit ein gewaltsames und schmerzhaftes Aufeinandertreffen der verletzlichen somatischen Dimension mit Macht und sozialen Ordnungen gemeint (Wuttig 2016: 153). Sie stellt fest: „Subjektivierung ist für ihn [Nietzsche, Anm., C.P.] nichts Anderes als eine machtvolle inskriptorische Vereinheitlichung physischer chaotischer In-

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tensitäten zu einer immer provisorischen und prekären leiblichen Einheit“ (ebd.) und passiert nach Kalb 2000 bei „vermeintlich zwanglose[n] intersubjektive[n] Veranstaltungen“ (Kalb 2000: 115). Schmerzhaft deswegen, weil „[d]as sich im Werden befindende (immer unfertige) Subjekt […] sich der Norm unter Zwang anähneln“ (Wuttig 2016: 167) soll, um ein Individuum mit beständigen Charakteristika, mit (Selbst-)Identität zu sein. Wie auch Foucault und Butler versteht Nietzsche diese Aufgabe als ein nie endgültig zu erreichendes Ziel, dem das Subjekt nur durch beständige Erinnerung an die es vereinheitlichenden Sinngebungen möglichst nahe kommen kann. Der Vorgang der Vereinheitlichung von Vielheit wird durch seinen Zwangscharakter und die existenzielle Abhängigkeit des Individuums von der gesellschaftlichen Anerkennung als schmerzhaft angenommen, genauso wie Nietzsche feststellt, dass Schmerz oder vielmehr schmerzhafte Ereignisse den Lernvorgang besonders effektiv machen (Nietzsche 1988: 50). Die Habitualisierung führt zu „angewöhnte[n] rasche[n] Verbindungen von Gefühlen und Gedanken, welche zuletzt, wenn sie blitzschnell hintereinander erfolgen, nicht einmal mehr als Komplexe, sondern als Einheiten empfunden werden“ (Nietzsche 2016: 20, Herv. i. O.). Der auf diese Weise nicht mehr bewusstseinsfähige Verbindungs-Mechanismus subjektiviert – er erschafft eine als natürlich wahrgenommene Fassung des identitären Subjekts und im Zuge dessen sozialer Ordnung. Gleichzeitig hat er einen kontingenten Inhalt, d.h. ein bestimmter Nervenreiz „müsste nicht immer in das gleiche Bild […] und die gleichen Gedanken übersetzt werden. Erst durch die mnemotechnische – eine traumatisierende Macht […] rigidisieren sich die Bedeutungen, und damit erhält der ontische Durchgangspunkt Leib seine sozial situierte Rigidität“ (Wuttig 2016: 240). Um eine interdisziplinäre Fundierung der poststrukturalistischen und nietzscheanischen Theorie gewaltsamer und schmerzhafter Subjektivierung zu erreichen, spannt Wuttig den Bogen über die These der schwedischen Medizinerin und Philosophin Anne Kirkengen zu den sogenannten perzeptiven Synonymen, in die neurowissenschaftlichen Traumastudien Levines. Kirkengen (2001) berichtet – im Falle von Traumatisierungen – über ein ähnliches Phänomen wie Nietzsche: Erleben aus gewaltsamen Situationen lebt in Form von fixen Wahrnehmungsschemata im impliziten Gedächtnis weiter, offensichtlich greifbar in sogenannten „flashbacks“, aber auch ähnlich wie bei Nietzsche als nicht bewusstseinsfähige blitzschnelle Verknüpfungen. Dieses wiederholte Abspulen des gleichen Films, ausgelöst durch bestimmte Sinneswahrnehmungen, verunmöglicht neue Erfahrungen, die Interpretation der Wahrnehmung ist auf eine bestimmte Sinngebung fixiert (Kirkengen 2001: 125 ff.), alle anderen potentiellen Bedeutungen bleiben undenk- und unfühlbar. Die so entstehenden perzeptiven Synonyme bilden die

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Brücke zu Levines traumatischen Kopplungsdynamiken. Grundsätzlich nimmt dieser die menschliche Wahrnehmung als in fünf Wahrnehmungskanäle aufgeteilt an: Empfindung, Bild/Vorstellung, Verhalten, Gefühl und Bedeutung (Levine 2006: B3.3ff.; 2011: 178ff., zitiert nach Wuttig 2016: 241). Als ‚gesunder‘ Zustand wird von Levine ein Zustand des „freeflow“ zwischen den einzelnen Wahrnehmungselementen angenommen, flexible, sich im Fluss befindende Verknüpfungen (Wuttig 2016: 244), wohingegen durch heftige Erregung (so in traumatischen Situationen) die Verbindung zwischen den einzelnen Elementen, insbesondere jeweils mit der Bedeutungsgebung, fixiert oder zumindest verengt werden (Wuttig 2016: 243). Durch diese Rigidisierung wird die assoziative Koppelung zwischen den Elementen „übermäßig verbunden“ (Levine 2006: B3.17, zitiert nach Wuttig 2016: 245). Diesen Konzepten – der nietzscheanischen Mnemotechnik, der perzeptiven Synonyme Kirkengens sowie der Kopplungsdynamiken Levines – ist gemein, dass eine Art „Originaltext“ (IwawakiRiebel 2004: 82), bestehend aus körperlichen Reizen und Sinneswahrnehmungen, eine kognitiv sinnhafte Bedeutung, fest zugeordnet wird, die in der Regel sprachförmig oder zumindest sprachlich denkbar ist, wo Vielfalt und Flexibilität möglich wäre. Auf diese Weise erhält der „menschliche[...] Möglichkeitsraum des Seins […] durch die kontingenten sozialen Bedingungen innerhalb dessen das Subjekt situiert ist, eine kontingente Begrenzung“ (Wuttig 2016: 243f., Herv. i. O.). Diese Verbindung macht Wuttig eine grundsätzliche Überarbeitung des Traumabegriffs möglich. Während sie den Begriff posttraumatische Belastungsstörung weiterhin „für die schlimmsten Leiden“ (Wuttig 2016: 27) (unter Berücksichtigung ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit) reserviert sehen will, führt sie – für genau diese Mechanismen der Zuweisungsgewalt – den Begriff „traumatische Dimension“ ein. Trauma bildet damit bei Wuttig „ein Denkscharnier zur Betrachtung der Verletzung, die darin besteht, dass aus dem Mensch ein Subjekt gemacht wird […] zur Besprechung von durch Anrufungen [siehe „angerufen werden“ nach Butler (...)] ausgelösten Individualisierungsschmerz(-en)“ (Wuttig 2016: 26). Hieraus ergibt sich eine „Umschrift des Traumabegriffs, von einem Krankheitsbegriff in eine Figur zur Kennzeichnung und Problematisierung sozialer Zumutungen und Herrschaftsverhältnisse“ (Wuttig 2016: 27). Wuttig zeigt auf diese Weise, dass Trauma nie Individuen als Einzelne, als abgeschlossene Organismen unabhängig von ihren intersubjektiven und gesellschaftlichen Bezügen trifft, genauso wenig, wie das Zustandekommen einer traumatischen Situation auf das Werk eines/einer Einzelnen reduziert werden kann. Dies auf mehreren Ebenen: Das Individuum wird in seiner existenziellen Abhängigkeit vom sozialen ‚Konstituiert-Werden‘ zum Subjekt und durch die körperliche Dimension als verletzliches „Rohmaterial“ für diesen bildhaueri-

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schen Prozess, auch als Ganzes, als ‚intersubjektiv‘8 und von Machtverhältnissen existenziell abhängig und verletzlich deutlich. Diese ‚intersubjektive‘ Form der Subjektivierung mit der ‚Angriffsfläche‘ Soma ist in mehrfacher Hinsicht Einfallstor von Gewalt traumatischer Dimension: Erstens findet der Vorgang selbst auf gewaltsame Weise statt und bildet eine als Alltagsgewalt zumeist übersehene traumatische Dimension. Zweitens bildet genau diese gesellschaftliche Einordnung von Subjekten in privilegiertere oder weniger privilegierte Identitäts- und Gruppenzugehörigkeiten (Frau/Mann, Schwarz/weiß, In-/Ausländer_in, Kind/Erwachsene_r, dick/dünn, homo-/heterosexuell, Klassenclown, gute_r/schlechte_r Schüler_in, Schlampe, Akademiker_in, Hartz IV-Schmarotzer_in, etc.) die gesellschaftliche Begünstigungs-/oder Präventionslage für Traumata. Jedes Trauma oder zumindest seine Bewältigung, findet auf Grundlage dieser Kategorien-Einordnung statt. An vielfachen Stellen kann das Schicksal eines Menschen – die Wahrscheinlichkeit Opfer von Gewalt traumatischer Dimension zu werden genauso wie die Bewältigung einer solchen Erfahrung – durch solche Einschreibung von Zugehörigkeiten zu gesellschaftlichen Kategorien beeinflusst sein – durch ihre Präsenz in unser aller Denken aber auch in Form der körperlich tief verinnerlichten ‚Identität‘. Mit Wuttig lässt sich zeigen, dass jedes Trauma von diesen gesellschaftlichen Einkategorisierungen abhängig ist, da der Mensch von diesem gesellschaftlichen Geflecht nicht zu trennen ist: „Prozesse [...] des othering, die in einer Gesellschaft hegemoniale Praxis sind […], bilden das Hintergrundgeräusch, den Hof, in dem der Impact oder mehrere erst stattfinden.“ (Wuttig 2016: 27, Herv. i. O.). Als pädagogische Fachkraft diese Dimensionen der gesellschaftlichen Bedingungsfaktoren von Gewalt und die eigene Verstricktheit darin zu reflektieren, ist eine zentrale Aufgabe sowohl zur Prävention von Gewalt traumatischer Dimension als auch im gewaltsensiblen und fördernden Umgang sowohl mit den Kindern, die schlimmste Leiden erfahren und die Ausprägungen einer posttraumatischen Belastungsstörung zeigen, als auch mit jenen, die zwar nicht die entsprechenden Symptome zeigen, aber dennoch Gewalt traumatischer Dimension mit unterschiedlich heftiger Wirkung erfahren haben. Nach Wuttig kann man davon ausgehen, dass dies auf alle Kinder in unterschiedlichem Maße zutrifft. Somit geht es um einen reflektierten Umgang mit und eine Positionierung in den gesellschaftlichen Macht- und Gewaltverhältnissen, die in pädagogische Situationen hineinwirken.

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Im Sinne von Subjekt-konstitutiven Wechselwirkungen zwischen Subjekt und Umwelt/Gesellschaft.

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Nutzen der Soma Studies für die pädagogische Praxis Die Fundierung in einer somatischen Dimension bringt dabei Chancen auch für die pädagogische Arbeit mit sich: Durch das Verständnis, wie gewaltsame Inkorporationen von Gesellschaftsordnung am Körper wirken, werden diese Vorgänge greifbar und skandalisierbar. Durch die Bezeichnung „traumatische Dimension“ kann Gewalt als unerträglich Anerkennung finden. Der Körper als konkreter Ort der Verletzlichkeit mit seinen sozialwissenschaftlich als auch neurowissenschaftlich beschreibbaren Reaktionen auf Verletzung ist ein konkret greifbares Mahnmal für diese Gewalt. Gleichzeitig kann der Körper nach Wuttig Hilfsmittel jener Pädagogik werden, die sich einem gewaltfreien und heilenden Umgang mit Gewalt traumatischer Dimension verschrieben hat – heilend im Sinne von hilfreich bei der Zurückeroberung von Entwicklungsmöglichkeiten. Denn Körper bildet in einem neu-materialistischen und nietzscheanischen Körperverständnis nicht nur den Angriffspunkt subjektivierender Gewalt, sondern auch ein Gegenüber, welches nie völlig in eine Form zu pressen, zu vereinnahmen ist und dessen chaotisches, energiehaftes Eigenleben gleichzeitig als Ressource der Widerständigkeit gegen die ihn formende Gewalt verfügbar bleibt. Dies in zweierlei Hinsicht: erstens für eine selbstreflexive Körperwahrnehmungspraxis zum Erkennen oder vielmehr Erspüren von Macht- und Gewaltverhältnissen (Wuttig 2016: 362) und zweitens für eine Wieder-Zugänglichmachung von anderen, ursprünglich gewaltsam verdeckten Sinndeutungen körperlicher Impulse und damit eines neuen Selbstverständnisses und neuer Entwicklungsperspektiven.9 Um den Nutzen körperzentrierter Wahrnehmung für die Schaffung eines möglichst gewaltarmen Raumes, auch im Sinne eines ‚sicheren Ortes‘ (Biberacher 2013), wie er von der Traumapädogik gefordert wird, exemplarisch greifbar zu machen, hier ein kurzes Fallbeispiel aus meiner eigenen pädagogischen Praxis, in dem ich Körperwahrnehmung sehr nutzbringend einsetzen konnte. Im folgenden Beispiel kam es, meiner Wahrnehmung nach, nicht zu einem Trauma oder Gewalt traumatischer Dimension (wobei dies abschließend von Außen nicht beurteilt werden kann), noch arbeitete ich mit Kindern, die an einer PTBS litten;

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Konkrete Methoden, die Widerständigkeit gegen gewaltsam aufgeprägte und Leiden verursachende Identitätsformen und deren körperlich erfahrene Flexibilisierung ermöglichen, finden sich in der Therapieform „Somatic Experiencing, SE“ (Levine) sowie in Übungen des Neuen Tanzes (Wuttig 2016) als auch den Arbeiten von Maurer und Täuber (2010) zu körperbezogener Wahrnehmung und deren Nutzbarmachung in pädagogischen und therapeutischen Settings.

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es geht um eine Situation in der das Potenzial für Gewalt traumatischer Dimension oder (im Falle einer entsprechenden Vorgeschichte des betroffenen Kindes) einer Retraumatisierung bestand und gerade durch ein Übersehen entsprechende Wirkung hätte zeigen können. Im Rahmen meiner Tätigkeit bei einer Beratungsstelle war es meine Aufgabe, Selbstbehauptungskurse für Mädchen an einer Grundschule durchzuführen. In einem der Kurse fiel mir immer wieder meine außergewöhnliche Verfasstheit auf: ein unruhiges, (herunter-)drückendes, leicht mit Schmerz assoziiertes Brennen und Kribbeln in der mittleren Bauchregion, welches mich angespannt, nervös und unsicher machte. Es war ein Erleben, das trotz seiner durchgängigen Intensität, nur selten und kurzzeitig „aufploppend“ seinen Weg in meine bewusste Aufmerksamkeit fand. Schließlich fiel mir auf, dass ich genau dieses Gefühl bereits aus früheren Referentinnentätigkeiten an Schulen kannte, ohne dass es mir konkret bewusst geworden wäre. Ich hatte genau dieses Körpergefühl als untrennbar und selbstverständlich mit dem Raum „Schule“ verbunden abgespeichert, so dass es mir an Orten die ich als „Schule“ einordnete, nicht bewusst auffiel. Hier gab es offensichtlich eine rigide Verknüpfung von Körperwahrnehmung und Sinndeutung. Durch eine bewusste offene Hinwendung zu dem Körpergefühl unter Zurückstellen einer sofortigen Sinndeutung hingegen, konnte ich ganz neue Aspekte dieses Gefühls erforschen: Ängstlichkeit, Beklemmung, die mich an Situationen des Ausgeschlossen-Seins in meiner eigenen Schulzeit erinnerten. Als mir diese Verbindung klar wurde, erinnerte ich mich auch, wann das Körpergefühl erstmals während der Kursstunden aufgetreten war: In der Mädchengruppe hatte sich eine Konstellation herausgebildet, bei der ein Mädchen immer wieder Probleme hatte, Partnerinnen für gemeinsame Übungen zu finden. Auch bei anderen Gelegenheiten kam implizit zum Ausdruck, dass die anderen mit diesem Mädchen nicht viel zu tun haben wollten. Ich hatte diese Vorgänge zwar bemerkt, aber auf eine halb-bewusste Art und Weise, die nicht zu einem semantisch-bewussten darüber Nachdenken geführt hatte. Es war auch hier, als wäre etwas überkoppelt gewesen: Situationen von Ausgegrenzt-Sein, der Raum Schule und das entsprechende Körpergefühl dazu bildeten eine (Körper-)Wahrnehmungs-Sinn-Einheit, die durch die reflexhafte Schnelligkeit der Verbindung keinen Raum ließen für alternative Verknüpfungen, nach Levine insbesondere mit den Elementen der Sinn-Deutung und des Verhaltens. Sie hatten sich bei mir in der eigenen Schulzeit auf traumatische Weise in sozialen Einordnungs-Situationen gebildet und konnten erst durch Reflexion unter Einbeziehen des Körpergefühls wieder flexibilisiert(er) werden. Schließlich machte ich Ausgrenzung und Gruppendynamik in den nächsten Kursstunden zum Thema und durch angeleitete Perspektivübernahmen und einem Rollenspiel wurden die Mädchen sensibler für die verletzende Kraft des so-

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zialen Ausschlusses und achteten ab diesem Zeitpunkt von sich aus darauf, dass niemand bei einer Übung alleine blieb. Diese Entwicklung entspannte auch mein Körpergefühl, das ich seitdem – neben anderen Beobachtungen – als Beitrag zur Erkennung und Herstellung einer sicheren Atmosphäre in pädagogischen Situationen nutze. In diesem Beispiel konnte durch selbstreflexive Körperwahrnehmung verhindert werden, dass ich als pädagogische Fachkraft aufgrund meiner eigenen Subjektivierungs-Erfahrungen blind bleibe für potentiell traumatisches Geschehen ähnlicher Natur.10 Diese autoethnografische Schilderung sollte einen kurzen Einblick geben, wie das Wissen der Soma Studies über die Verletzbarkeit der somatischen Dimension und ihre soziale Einbindung in Verbindung mit Körperwahrnehmungsmethoden zu einer traumasensiblen pädagogischen Praxis beitragen können. Fazit und Ausblick Die Fundierung poststrukturalistischer Subjekttheorie in körperlichen Prozessen mittels Nietzsches Materialismus und neurowissenschaftlicher Traumaforschung durch Wuttig (2015) macht die körperliche Dimension nutzbar zur Sichtbarmachung von gesellschafts- und individuumsdurchwirkender sowie gesellschaftlich ausgeübter Gewalt, genauso wie von menschlicher Form- und Verletzbarkeit. Dass dies gerade für pädagogisches Arbeiten mit dem Fokus auf Traumatisierung wichtig ist, liegt an der gesellschaftlichen Verflochtenheit von Trauma. Gleichzeitig macht das Materialitätsverständnis Wuttigs eine Widerständigkeit gegen machtvolle Einschreibungen möglich, indem der Körper als Mahnmal für menschliche Verletzlichkeit stehen kann. Die Trope Trauma sowie das Herausarbeiten traumatischer Dimensionen in alltäglichem Handeln kann genutzt werden, um genau diese Einschreibungs-Gewalt zu skandalisieren. Neue Perspektiven und wachsende Bewusstheit insbesondere in Bezug auf pädagogisches Handeln jenseits von machtvollen, potentiell leidvollen Subjekti-

10 Reproduktion von Gesellschaftsordnung könnte ähnlichen Mechanismen folgen: „Blinde Flecke“ im Sinne von rigiden (Über)Kopplungen von Wahrnehmung und Sinndeutung, die bereits die vorhergehende Generation aufgrund eigener traumatischer Erfahrungen erworben haben, können auf vielfältige Weise weitergegeben werden. Zum Beispiel indem bei Kindern das leidvolle Potential von Geschehnissen nicht erkannt wird und entsprechend durch die Bezugsperson nicht interveniert wird. Zu einer vertieften Betrachtung der Mechanismen transgenerationaler Weitergabe von Traumata siehe der Beitrag von Eck in diesem Band.

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vierungen werden möglich, wenn ein direkter Zugang zur Körperwahrnehmung unabhängig von bereits fixierten Bedeutungszuschreibungen gefunden werden kann. Möglicherweise kann mit Hilfe dieses im wahrsten Sinne bewusstseinserweiternden Fokus der Weg zu weniger gewaltsamen Alltagspraxen und auch weniger leidvollen individuellen Verfasstheiten gefunden werden – einem originären Ziel pädagogischen Arbeitens. Literatur Andresen, Sabine/Koch, Claus/König, Jutta (Hg.) (2015): Vulnerable Kinder. Interdisziplinäre Annäherungen. Wiesbaden: Springer VS. Andresen, Sabine/Koch, Claus/König, Julia (2015): Kinder in vulnerablen Konstellationen. Zur Einleitung. In: Dies., Vulnerable Kinder, 7-22. Benjamin, Jessica (2002): Der Schatten des Anderen. Intersubjektivität, Gender, Psychoanalyse. Frankfurt/Main: Stroemfeld. Biberacher, Marlene (2013): Traumapädagogik. In: Beckrath-Wilking, Ulrike/Biberacher, Marlene/Dittmar, Volker/Wolf-Schmid, Regina (Hg.): Traumafachberatung, Traumatherapie & Traumapädagogik. Paderborn: Junferman Verlag, 283-308. Boeder, Heribert (2006): Die Installation der Submoderne. Zur Tektonik der heutigen Philosophie. Würzburg: Königshausen & Neumann. Bröckling, Ulrich (2000): Totale Mobilmachung. Menschenführung im Qualitäts- und Selbstmanagement. In: Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 131-167. Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Butler, Judith (2006): Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Coole, Diana/Frost, Samantha (2010): New Materialisms, Ontology, Agency, and Politics. Durham: Duke Univ. Press. Fonagy, Peter/Target, Mary (2006): Psychoanalyse und die Psychopathologie der Entwicklung. Stuttgart: Klett-Cotta. Foucault, Michel (1976): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Foucault, Michel (1982): The Subject and Power. In: Dreyfus, Hubert & Rabinow, Paul: Michel Foucault: Beyond Structuralism and Hermeneutics. Chicago: The Univ. of Chicago Press, 208-226. Foucault, Michel (2004) : Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

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Traumatische Visionen Das Neurosen-Paradigma und der Traum von einem anderen Sehen in der Kunst um 1900 M ARTIN U RMANN Trauma in ästhetisch-philosophischer Perspektive – Einleitende Bemerkungen „Wagner est une névrose. Nichts ist vielleicht heute besser bekannt, Nichts jedenfalls besser studirt als der Proteus-Charakter der Degenerescenz, der hier sich als Kunst und Künstler verpuppt. Unsre Aerzte und Physiologen haben in Wagner ihren interessantesten Fall […]; weil Nichts moderner ist als diese Gesammterkrankung, diese Spätheit und Überreiztheit der nervösen Maschinerie, ist Wagner der moderne Künstler par excellence, der Cagliostro der Modernität.“ NIETZSCHE 1988A: 22F., HERV. I. O.

Mit Friedrich Nietzsches ironischer Gleichsetzung von Neurose und künstlerischer Modernität im symptomatischen „Fall“ Wagner befinden wir uns bereits mitten in dem Thema, um das es hier gehen soll: die ästhetische Erkundung des Traumas über die Neurosendarstellungen in der Kunst um 1900. Tatsächlich herrscht in der dekadent-symbolistischen Literatur und Malerei des Fin-de-siècle ein veritables „Neurosen-Paradigma“1, eine eklatante Tendenz, neurotische

1

Siehe hierzu die einschlägigen Ausführungen in meiner Studie: Dekadenz. Oberfläche und Tiefe in der Kunst um 1900 (Urmann 2016: 541ff.). Vgl. allgemein Worbs (1988)

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Symptome zu zeichnen, die mit leitmotivischem Charakter versehen und ebenso hochsymbolisch wie analytisch gewendet werden. Ganz anders als im dominanten naturwissenschaftlich-psychologischen Diskurs ihrer Zeit gilt die Neurose Nietzsche und den Künstlern der Jahrhundertwende weniger als Krankheitserscheinung denn als symptomatisches Phänomen für die Struktur der menschlichen Psyche selbst, ja als eine existentielle Problematik menschlicher Individualität an sich. Es ist gerade der Zwang zur Identität, so ihre radikale Diagnose, die bis heute nichts von ihrer Brisanz eingebüßt hat, in dem die Pathogenese des Subjekts gründet. Im Folgenden soll eine ästhetisch-philosophische Perspektive auf das Thema Trauma gerichtet werden. Sie bietet die Chance, am Leitfaden der Fin-de-siècleKunst und deren fundamentaler existentieller und psychologischer Auslotung des Phänomens das Trauma als paradigmatisch für die Verfasstheit personaler Identität zu werten. Diese lässt sich nach der Überzeugung der Fin-de-siècleKünstler – und ihres Zeitgenossen Freuds – just im Fall der irritierten Psyche besonders aufschlussreich ergründen. Was philosophisch damit zugleich aufgeworfen wird, ist die Frage nach einer Theorie der Wahrnehmung, nach der Logik des Sinnlichen, welche allen Identitätskonstruktionen (und -dekonstruktionen) zugrunde liegt. Insofern werden wir mit innerer Notwendigkeit in das Feld des Ästhetischen geführt als der genuinen Stätte zur Beobachtung von Wahrnehmungsvollzügen, an deren Grunde sich unweigerlich ein ausgeschlossenes, ja verdrängtes Anderes meldet.2 Die elementaren praktischen Konsequenzen für den Umgang mit Traumata, auch in pädagogischer Hinsicht, die hieraus resultieren, sollen abschließend zumindest angedeutet werden. Die Perspektivierung des Themas Trauma über den – historischen – Blickwinkel der Neurose bedeutet dabei keine sachliche oder theoretische Verschiebung. Die beiden Phänomene stehen vielmehr in einem unmittelbaren Zusammenhang, mindestens für die Psychoanalyse. Das Trauma gilt im psychoanalytischen Kontext als „Ereignis im Leben des Subjekts, das definiert wird durch seine Intensität, die Unfähigkeit des Subjekts, adäquat darauf zu antworten, die Erschütterung und die dauerhaften pathogenen Wirkungen, die es in der psychischen Organisation hervorruft.“ Affektökonomisch ist es gekennzeichnet durch ein „Anfluten von Reizen, die im Vergleich mit der Toleranz des Subjekts und seiner Fähigkeit, diese Reize psychisch zu bemeistern und zu bearbeiten, exzes-

sowie für die neurotische Motivik speziell im künstlerischen Diskurs der WagnerRezeption: Koppen (1973). 2

Zu diesem Problemzusammenhang siehe grundlegend Merleau-Ponty (1964).

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siv sind.“ (Laplanche/Pontalis 1973: 513)3 Freud selbst spricht diesbezüglich von einem „Erlebnis, welches dem Seelenleben innerhalb kurzer Zeit einen so starken Reizzuwachs bringt, daß die Erledigung oder Aufarbeitung desselben in normal-gewohnter Weise mißglückt, woraus dauernde Störungen im Energiebetrieb resultieren müssen.“ (Freud 1998: 284)4 Traumatische Erlebnisse aus der Vergangenheit des Individuums, so ist festzuhalten, bilden die Ursprünge der Neurose.5 Sie rufen eine Schock-Erfahrung hervor, die das psychische System von innen her nachhaltig irritiert und weder abgebaut noch in die Persönlichkeit integriert werden kann. Vielmehr bleibt die gemachte Erfahrung als Fremdkörper virulent.6 Unabhängig davon, dass der Neurosenbegriff als diagnostische Kategorie in der zeitgenössischen Psychoanalyse und Psychotherapie aufgegeben beziehungsweise in andere Symptombeschreibungen ausdifferenziert worden ist, weist die Untersuchung der Neurosendarstellung in der Kunst um 1900 eine Fülle von Aspekten auf, die, wie es zu zeigen gilt, auch für die gegenwärtige Traumaforschung von unmittelbarem Belang sind.

3

Bereits vor dem Entstehen der Psychoanalyse war in der Psychiatrie der Begriff der „traumatischen Neurose“ gebräuchlich. Zudem verwendete Charcot den Ausdruck „traumatische Hysterie“ für rein somatisch nicht zu erklärende hysterische Lähmungen. Vgl. Laplanche/Pontalis (1973: 520f.).

4

Auch wenn Freud nach den Studien über Hysterie die ätiologische Bedeutung des Traumas für die Neurose relativierte, zeugen seine Überlegungen zum „Reizschutz“ in Jenseits des Lustprinzips (Freud 1955: 26ff.) jedoch wieder vom zentralen Status traumatischer Erlebnisse für die psychoanalytische Konzeption der gestörten Affektökonomie.

5

Beziehungsweise des Syndroms, das die freudsche Psychoanalyse seit ihrer Konstitution in den Studien über Hysterie unter dem Gesamtbegriff ,Neurose‘ aufzuarbeiten beginnt.

6

Siehe auch die einschlägigen Ausführungen von Eni S. Becker (2005: 482ff.) zur „Posttraumatischen Belastungsstörung“ im Handbuch der Klinischen Psychologie und Psychotherapie sowie den Artikel „Trauma“ von E. Bauer (2001: 343) im Lexikon der Psychologie. Der Aspekt der Nicht-Integrierbarkeit trägt dabei der griechischen Etymologie des Wortes Rechnung, das ursprünglich eine Verletzung mit Gewebedurchtrennung bezeichnet.

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(Post-)Romantische Trauma-Szenarien oder: Vom Nutzen und Nachteil der Neurose für das Leben Auf die Künstler des späten 19. Jahrhunderts übte die Neurose beziehungsweise das, was die zeitgenössische Psychologie und Psychiatrie unter diesem Begriff zu fassen suchte7, eine ambivalente Faszination aus. In Nietzsches Der Fall Wagner finden sich, wovon bereits das Eingangszitat einen beredten Eindruck gibt, die zentralen Topoi des Neurosen- beziehungsweise Degenerszenzdiskurses seiner Zeit (Koppen 1973: 317ff.). In subversiver Ironie greift Nietzsche diese auf, um sie wie die Autoren, die sich in der Nachfolge Baudelaires emphatisch zum Stigma der „décadence“ bekannten8, von innen her umzuwerten. Wogegen sich Nietzsche und europäische Literaten wie Huysmans und Mallarmé, Hofmannsthal, Schnitzler und Thomas Mann sowie Oscar Wilde wandten, war der neurophysiologische Determinismus der Naturwissenschaften und deren wachsende lebensweltliche Normierungsmacht. Zum Ziel solcher Deutungsmuster waren im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr die Künste geworden, insbesondere die Verkörperung ihrer sinnlichen Eigenlogik in der Person des Künstlers selbst. Mit „Degeneration“, „Wahnsinn“ und schließlich gar „Entartung“ fielen die einschlägigen Diagnosen durchaus drastisch aus.9

7

Zur medizinisch-psychologischen Entwicklungsgeschichte des Begriffs bis in die

8

Der berühmte Schlüsseltext Baudelaires (1976: 319-337) für die ebenso unerhörte wie

1890er Jahre siehe Ellenberger (2005: 204ff, 344ff, 511ff.). folgenreiche Aufwertung des Verfalls zum eigentlichen Maßstab des Schönen sind die Notes nouvelles sur Edgar Poe (1857). 9

Dieser Diskurs begann im engeren Sinne 1859 mit einer Abhandlung des französischen Mediziners Jacques-Joseph Moreau (1804-1884), der den folgenschweren Konnex zwischen Hochbegabung und organischen respektive neuronalen Krankheiten etablierte, wozu er sich auf die Ergebnisse der neu entstandenen Vererbungslehre seiner Zeit stützte. Diese hatte mit dem Degenerationskonzept des französischen Psychiaters Bénédict Augustin Morel (1809-1873) eine biologisch-medizinische Erklärung dafür entwickelt, wie sich körperliche und geistige Defekte von Generation zu Generation hereditär steigern konnten, welche mit dem Darwinismus schließlich eine noch höhere Plausibilität gewann. Seine entscheidende Verbreitung erfuhr Moreaus Theorem ab den 1870er Jahren durch die in ganz Europa Aufsehen erregende Schrift des italienischen Psychiaters Cesare Lombroso (1835-1909) Genio e follia (1864), in welcher es auf der Basis neuer Methoden und umfangreichen dokumentarischen Materials auf den Künstler appliziert wurde. Diesen beschrieb Lombroso mit Wirkungen bis zu Dilthey und Croce als abartig intelligente, dem Verbrecher nicht unähnliche,

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Dem traten die ,dekadenten‘ Literaten entgegen, indem sie die vom wissenschaftlichen Standpunkt aus als abnorm bis degeneriert diagnostizierten sensitiven Eigenschaften des Künstlers in ihren Werken als die gesteigerten – wenn auch riskanten – Chancen einer im Denken und Fühlen außergewöhnlich differenziert entwickelten Individualität auswiesen. So präsentiert etwa Huysmans in seinem schon zeitgenössisch als ,Bibel‘ der Décadence rezipierten Roman À rebours (1884, dt.: Gegen den Strich) einleitend eine (satirisch zugespitzte) Genealogie des Protagonisten des Esseintes als scheinbar unvermeidliche Krankengeschichte seines adligen Familienhauses10, um neben die physische Insuffizienz der Hauptfigur – „tourmenté par la névrose“ (Huysmans 1977: 278) – sodann deren intellektuelle und kreative Vermögen zu stellen und alle deterministischen physiologischen Deduktionen zu kappen. Damit wird nicht zuletzt auch die schematische Dichotomie zwischen Körper und Geist, die das idealistische und das materialistische Denken in je eine Richtung aufzulösen trachten, in ein spannungsvolles, in keiner Synthese aufhebbares Wechselverhältnis überführt. Dessen ästhetische Evokation hat Huysmans (1985: 31) auf die bewusst paradoxe Formel des „naturalisme spiritualiste“ gebracht. Sein paradigmatisches Werk À rebours bezeichnete Huysmans selbst als „roman de la maladie des nerfs“11. Auch hatte er die zeitgenössische psychiatrische Fachliteratur über die Neurose intensiv studiert12, um das Voranschreiten der Krankheit, an der er den Protagonisten leiden lässt, auf der naturalistischen

psychopathische Erscheinung, deren Abnormität sich in verschiedenen psychischen und physischen Symptomen manifestieren würde (Schädelform, Hirngewicht, Epilepsie, Sterilität, etc.). Der Ausdruck „Entartung“ geht schließlich auf das gleichnamige Werk des Mediziners Max Nordau (1849-1923) aus dem Jahre 1892 zurück, in dem sich nicht nur mit dem Titel die ideologische Diskursformation des 20. Jahrhunderts ankündigt. Abgesehen davon war auch im allgemeinen wissenschaftlichen psychologischen Diskurs der harte somatische Determinismus tonangebend, in Frankreich insbesondere durch Claude Bernard. Auch die grundlegenden neurologischen Arbeiten zur Hysterie von Charcot seit den 1870er Jahren blieben von diesem Ansatz geprägt. Vgl. dazu Ellenberger (2005: 347-392) sowie Klee (2001: 40ff.). 10 Siehe hierzu die ironische „notice“ des Romans, welche die Stimmung des Werks setzt. Huysmans (1977: 77ff.). 11 So in einem Brief an Théodore Hannon von Ende März 1883, wiederabgedruckt in Grojnowski (1996: 155). 12 So insbesondere den Traité des névroses (1863) von Alexandre Axenfeld und Eugène Bouchuts Du nervosisme aigu et chronique et des maladies nerveuses (1877). Siehe dazu Grojnowski (1996: 41-43).

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Ebene des Romans geradezu klinisch exakt beschreiben zu können. Die Neurose wählten Huysmans und auch die anderen Literaten der Décadence bewusst als Einfallstor, um den herrschenden medizinisch-psychologischen Diskurs mit seinen vermeintlich klar definierbaren Oppositionen gesund/krank, normal/gestört, innen/außen zu dekonstruieren. Diesem Krankheitsbild eignete nach den etablierten wissenschaftlichen Positionen ein nicht exakt bestimmbarer, seltsam hybrider Status: Zwar hielt man das Syndrom vor Freud noch für rein physiologisch verursacht, ordnete ihm jedoch in Ermangelung klarer Diagnosen nicht nur diverse körperliche, sondern gerade auch psychisch-mentale Symptome zu, wie etwa ausgeprägte Angstzustände, hysterische Störungen, Halluzinationen und Depressionen.13 Für die Autoren der Décadence stellte die Neurose eine psychophysische Gesamterscheinung dar, deren Ergründung gleichsam aus sich selbst heraus nach einer post-positivistischen Methode rief und die sie auf ästhetischem Weg, unabhängig von Freud14, einer komplexen psychologischen Tiefeninterpretation öffneten. Seinen künstlerischen Schluss- und Höhepunkt findet dieses Unterfangen mit Hofmannsthals Tragödie Elektra (1903), in der auch die philosophische Reflexion auf das Identitätsparadox am Grunde der Neurosenproblematik ihre größte Spannkraft erreicht hat. Mit dieser ästhetischen Vision steht Hofmannsthal in einer modernistischen Entwicklungslinie, die deutlich vor die von Baudelaire inaugurierte Décadence zurückreicht. An ihrem Anfang findet sich die deutsche Frühromantik mit ihrem so ausgeprägten Bewusstsein für die Kontingenz der Grenze zwischen Vernunft und Wahnsinn. Schon ein kurzer Blick auf die Gelenkstellen der Entwicklung verdeutlicht das volle historische und philosophische Ausmaß des Neurosenparadigmas in der Literatur des 19. Jahrhunderts.

13 Aus dem von der Melancholie bis ins Psychotische gespannten Begriffshorizont ergibt sich auch die weitreichende Bedeutung der Metaphorik des Nervösen in der europäischen Fin-de-siècle-Kunst seit Baudelaire. Vgl. dazu Worbs (1988: 47ff.) und Klee (2001: 59ff.). Zum medizinischen Status der Neurose siehe auch Ellenberger (2005: 143ff.). 14 Dies gilt insbesondere auch für die Wiener Fin-de-siècle-Autoren, die die freudsche Psychoanalyse von ihrem Entstehen in den 1890er Jahren an rezipierten und ihre Entwicklung, wie speziell Schnitzler, aus nächster Nähe verfolgten. Vgl. dazu detailliert Worbs (1988: 192ff.). Zum epistemischen Verhältnis von postnaturalistischer Literatur und Psychoanalyse im späten 19. Jahrhundert und der Eigenständigkeit der sich in der Kunst seit der Romantik ausformenden Tiefenpsychologie siehe auch meinen Aufsatz: „Gestimmtes Wissen“ (Urmann 2008).

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Lange vor dem klinisch-psychologischen Befund machte Ludwig Tieck die Neurose als unheilbare Tragik der Existenz des Individuums und ihrer konvulsivischen Struktur zum Fluchtpunkt einer „Ästhetik des Schreckens“ (Bohrer 1978: 394ff.)..In seinen Märchen-Novellen Der blonde Eckbert (1797) und Der Runenberg (1804) werden die zentralen Symbole der Frühromantik radikal psychologisch gewendet und als pathogene Traum- und Erinnerungsbilder ins Dämonische entstellt. Wie manisch gebannt starren Tiecks tragische Helden in die Klüfte der eigenen Innerlichkeit und gehen dabei, überwältigt von der untrennbaren Verquickung ihrer Angstvisionen mit der Wirklichkeit, sehenden Auges zugrunde. Was sich hinter dem „poetischen Wahnsinn“ (Tieck 1985: 113) der tieckschen Märchen aus dem Phantasus ankündigt, die das Scheitern des Individuums im krampfhaften Ringen um sein Selbst vorführen, ist die unerhörte Einsicht in die pathogene Struktur der Subjektivität, die permanent von der SelbstZerstreuung bedroht ist. Dies macht die wahnhafte Störung des Ich schon für Tieck zum ästhetischen Faszinosum, wird in ihr doch das Individuum als angstvoll entgrenzte Psyche mit dem unsagbar Anderen konfrontiert. Dass Hofmannsthal das, was er schon in jungen Jahren als „neurasthenische Poesie“, als „Poesie der Angst“ bezeichnete15, nicht nur an Edgar Allan Poe, sondern gerade auch an Tieck studierte, bei dem ihm das Verhältnis von Angst und existentieller Einsamkeit des Individuums in besonderer Weise erhellt schien, ist in diesem Kontext mehr als nur ein philologisches Detail.16 Eine neue Dimension in der physischen Konkretion des poetischen Wahns und der pathologischen Aufladung einer dem Untergang geweihten Übersensitivität ist dann just mit Poe, insbesondere in der Novelle The Fall of the House of Usher (1839), erreicht. Die absonderliche Krankheit Rodericks und die „Katalepsie“ seiner Schwester Madeline sind hier ebenso sehr metaphysisches Zeichen wie klinisches Symptom für die Dekadenz des Hauses Usher (Poe 1965: 273ff.). Poes Vision einer letalen Hypersensitivität war von größtem Einfluss auf die Poetik des frühen Mallarmé, mit dessen lyrischem Drama Hérodiade (1865/1869) die ,nervöse‘ Ästhetik nach Baudelaire in ihre für das Fin-de-siècle finale Konstellation einmündet. 17 Wie schon Mario Praz bemerkte, ist die Hauptfigur des

15 So Hofmannsthal (1980: 344) in einer Aufzeichnung vom 19.4.1892. 16 Siehe mit ausdrücklichem Bezug auf den Blonden Eckbert die Notiz vom 8.10.1906 (Hofmannsthal 1980: 476). 17 Dass Mallarmé in diesem Tableau ob seiner poetologischen Radikalität zugleich auch eine Sonderstellung einnimmt, insofern seine Hérodiade-Figur der Tendenz nach bereits mit einer Stimme nach den Leiden der Endlichkeit spricht, darf im gegebenen Kontext vernachlässigt werden.

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hochabstrakten Stückes unverkennbar mit den Merkmalen der Neurose beziehungsweise der Hysterie belegt (Praz 1994: 265ff.). Besonders einschlägig sind in dieser Hinsicht neben der manischen Ich-Fixierung der narzisstischen Protagonistin und ihrer gestörten Sexualität die Andeutung der sie heimsuchenden Erinnerungen (Mallarmé 1998: 17f.) und die bipolare Zyklik, in die ihr Sein eingespannt ist: in die Starre absoluter Weltentsagung einerseits und die in den beschwörenden Monologen aufbrechende Überwältigung durch das Nichts andererseits. Die Neurose, so bleibt an dieser Stelle festzuhalten, war für die romantisch inspirierten Fin-de-siècle-Literaten ein besonderes Faszinosum. Zum einen wandten sie sich ihr zu, um gegen den allgemeinen Effizienz- und Mobilisierungswillen eines fortschrittsgläubigen Zeitalters die Dekadenz, insbesondere den von innen her erkrankten Körper, als Garant des Sich-Entziehenden (kultur)kritisch in Stellung zu bringen. Ebenso führten sie die Neurose gegen die Normierungsansprüche der auf ,Biomacht‘ geeichten Naturwissenschaft ins Feld, um die Grenzen der neurophysiologischen Episteme angesichts eines offenbar deutlich komplexeren psychosomatischen Gesamtphänomens aufzuzeigen. Hierbei konnte es bis zur satirisch übersteigerten Identifikation mit der symbolträchtigsten und gleichsam vergeistigtsten aller Krankheiten kommen, etwa wenn die Neurose, wie mitunter in Huysmans’ À rebours, ironisch als Bedingung avancierter künstlerisch-intellektueller Fähigkeiten gepriesen wird. Zum anderen jedoch fühlten sich die Autoren über die funktionalen und kritischen Erwägungen hinaus von dem genuinen Phänomen selbst angezogen, ohne es in seinen Härten und schmerzhaften Konsequenzen in irgendeiner Form zu idealisieren. Voll eingedenk dieser galt die fundamental gebrochene Sensitivität der Neurose ihnen als die gewissermaßen Leib gewordene Manifestierung der Differenz. Die von der Neurose evozierten Seins- und Wahrnehmungsverschiebungen waren für sie der Garant von Alterität und die Möglichkeit einer – riskanten – Entgrenzung, die gesteigerte Einblicke in die elementare Paradoxie allen individuierten Seins birgt. Wenn bei Autoren wie Huysmans, Mallarmé und Hofmannsthal das Dasein insofern als ein leidvolles, als seelisch und körperlich erfahrene „Krankheit zum Tode“18 beschrieben wird, dann bedeutet dies nicht eine mangelnde Ablösung vom Krankheitsbegriff des medizinischphysiologischen Diskurses. Vielmehr ist es Ausdruck einer wesentlich tiefer reichenden „tragische[n] Weltbetrachtung“ (Nietzsche 1988b: 111), die mit bloßem Pessimismus gleichzusetzen man sich hüten sollte.

18 So bekanntlich Goethe über den Typus des melancholischen Romantikers in Die Leiden des jungen Werther (1998: 48).

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In den Texten der Décadence-Autoren ist mithin eine experimentelle Tiefenpsychologie am Werk. Hofmannsthal hat seine tragischen Figuren einmal als „Taucher“ bezeichnet, „die wir in die Abgründe des Lebens hinablassen“, damit sie „uns die Kreise der Hölle aufschließen“ (1980: 443). In diesen Tiefen zerschellt die individuelle Form, aber im Moment ihrer Auflösung erhellt sie für einen kurzen Augenblick das sie umgebende Dunkel. Mit der markantesten dieser hofmannsthalschen Figuren wollen wir uns nun befassen. Hofmannsthals Elektra – Neurasthenische Poesie oder: Am traumatischen Grund der Identität19 „Ob ich nicht höre? ob ich die Musik nicht höre? sie kommt doch aus mir heraus.“ HOFMANNSTHAL 1979A: 233

Schon den Zeitgenossen ist nicht entgangen, dass Hofmannsthals „Tragödie in einem Aufzug frei nach Sophokles“ von ihrer Grundkonzeption her ein prononciert modernes tiefenpsychologisches Anliegen verfolgte und insbesondere in der Zeichnung der Elektra und ihrer unbändigen Klageintensität massive Anklänge an neurotische beziehungsweise hysterische Symptome besaß (Worbs 1988: 269ff.). Dies trifft auch auf der dokumentarischen Ebene zu, insofern Hofmannsthal bei der Ausarbeitung der neurotischen Züge seiner Hauptfigur unter anderem die Studien über Hysterie (1895) von Breuer und Freud, vor allem die Fallgeschichte der „Anna O.“, gelesen hatte. Die Konvergenzen in der Symptombeschreibung sind, wie von der Forschung mehrfach hervorgehoben, in der Tat deutlich auszumachen: die Spaltung der Persönlichkeit, das Leiden an überpräsenten Erinnerungen, die Wiederkehr des traumatischen Ereignisses – des Mordes an Elektras Vater Agamemnon – in überwältigenden Bildern und beklemmenden Bewusstseinszuständen bis hin schließlich zur fast therapeutischen Aufdeckung des Verdrängten im großen Dialog zwischen Klytämnestra und der Zynikerin Elektra. Elektras Vaterliebe ist zudem unmissverständlich eine sexuelle Dimension eingeschrieben.20

19 Die folgenden Überlegungen sind an meinen Aufsatz: „Die Transformation des Tragischen“ angelehnt (Urmann 2010). 20 Zu diesen Zusammenhängen siehe Worbs (1988: 280ff.) sowie mit Verweis auf weitere einschlägige Forschungsarbeiten Nehring (1991: 134f.). Bei den erwähnten Konvergenzen zwischen der psychoanalytischen Neurosentheorie und dem poetologischen Neurosen-Paradigma handelt es sich, so ist wieder zu betonen, nicht um ein Abhän-

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Über den psychoanalytischen Zugriff hinaus ist das Phänomen der Neurose für Hofmannsthal deshalb so bedeutsam, wird es ihm gar zu einer paradigmatischen Konstellation des Dichterischen21, weil es einen verkörperten Seinsmodus darstellt, in dem die Innen/Außen-Trennung am Rande ihres Kollabierens beobachtbar wird. Näher als irgendein dramatisches Kunstwerk zuvor kommt Elektra jenem unsagbaren Augenblick, in dem sich der „Resonanzgrund“ der Psyche als der den Leib als ganzen tragende energetische Tonos22 in einer gewaltsamen Inversion nach außen wendet und sich in seiner zerstörerischen Präsenz zeigt. Im ästhetischen Sog dieses Grundes und dem Versuch, seiner gewaltigen zentrifugalen Energie sprachliche und gestische Artikulationsformen abzuringen, findet sich das offene Zentrum von Elektra lokalisiert. Über dieses Werk sagt Hofmannsthal, es wird dort „das Individuum in der empirischen Weise aufgelöst, indem eben der Inhalt seines Lebens es von innen her zersprengt, wie das sich zu Eis umbildende Wasser einen irdenen Krug. Elektra ist nicht mehr Elektra, weil sie eben ganz und gar Elektra zu sein sich weihte.“ (1980: 461) Eben dies führt uns zum Kern des tragischen Konflikts von Elektra: der Einsicht, dass das Paradigma der Identität mit seinen epistemologischen, kulturellen und existentiellen Implikationen gegen das Leben selbst gerichtet ist und, einmal hypostasiert, unweigerlich in Paralyse und Zerstörung münden muss – während es doch zugleich auch der Ursprung aller kulturellen Entwicklung und Selbstbestimmung ist. An diesem fundamentalen Weltverhältnis zu rühren, gar es teilweise zu lösen, erweist sich bei all seiner Kontingenz als ebenso schmerzlicher wie gefährlicher Prozess. Der elementare Gegensatz zwischen der Erkenntnis: „Wer leben will, der muß über sich selber hinwegkommen, muß sich verwan-

gigkeitsverhältnis. Für seine Ästhetik des Traumas schöpfte der Dichter Hofmannsthal auch aus ganz eigenen Quellen – abgesehen davon, dass seine Deutung der Neurose den psychoanalytischen Ansatz übersteigt. Allerdings sind die im Fall von Elektra besonders auffälligen Parallelen zwischen Dichtung und Psychoanalyse ein weiterer Beleg dafür, dass die Kartographie der Seele im 19. Jahrhundert in einer Wechselbewegung von Kunst und Wissenschaft entworfen wurde, welche zudem in Wien besonders greifbar wird. Wie „Novellen“ seien seine „Krankengeschichten [...] zu lesen“, meinte Freud in Bezug auf die Studien über Hysterie (Breuer/Freud 2007: 180). 21 Dass wir es bei der so sprach- und bühnengewaltigen Erscheinung der Elektra mit einer, wie Mathias Mayer (1991: 233) formuliert, „Gestalt gewordenen Theorie der Dichtung“ zu tun haben, deren Vision freilich dem Licht des Tages bis an die Grenzen zur Umnachtung abgekehrt ist, steht außer Frage. 22 Vom „fond de résonance“ spricht in seiner medientheoretischen Grundlegung einer Theorie der Artikulation: Jean Clam (2006: 348ff.).

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deln: er muß vergessen“ und dem Wissen, dass „ans Beharren, ans Nichtvergessen, an die Treue alle menschliche Würde geknüpft“ ist, lässt sich nicht aufheben.23 Das ist die Tragödie von Elektra. Mit diesem Werk führt Hofmannsthal uns an den Rand des Resonanzgrundes der Psyche, aus dem alle Formen personaler Identität hervorgehen, der selbst jedoch der Sagbarkeit entzogen ist. Allein im ästhetischen Modus kann er momenthaft evoziert werden. Die Ausweglosigkeit der Situation Elektras rührt von ihrem absoluten Willen her, sich mit ihrem ursprünglichen Persönlichkeitsentwurf zu identifizieren – oder besser: von ihrer manischen Getriebenheit, dieselbe, die Tochter des Agamemnon bleiben zu müssen. Um jeden Preis will sie sich selbst und der Aufgabe, von der sie sich in so übermächtiger Weise angezogen fühlt, treu bleiben. Treue und Identität sind jedoch das Ergebnis eines stringent durchgehaltenen Vorsatzes und genau dazu ist Elektra durchaus fähig – wenn auch nur im streng umgrenzten Bereich ihrer traumatischen Fixierung auf die Ermordung des Vaters in der Vergangenheit und des unbedingt zu leistenden Schlachtopfers an Klytämnestra. Genau diese paradoxe polare Doppelstruktur, die das ganze Stück inhaltlich wie stilistisch von Grund auf durchzieht, gilt es zu begreifen, die Mischung aus ekstatischem Taumel einerseits und wahrlich inhuman zynischem Kalkül andererseits. Mit Hannah Arendt (2001: 955) kann man, um einen Leitbegriff aus Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft auf diesen Kontext zu übertragen, sagen, wir sehen Elektra angesichts der Überdeterminierung durch Identität in das „eiserne Band“ der Neurose eingespannt, durch das sie − von außen betrachtet − koordiniert, in Wahrheit aber besinnungslos, weil ohne Handlungsalternativen vorangetrieben wird.24 Auf eben diese konträre Konstellation, die auch für die bipolare Wahrnehmungsstruktur von Traumapatienten so typisch ist25, ist Hofmannsthals Stück gebaut, vom Rhythmus der Sprache bis hin zu Elektras markanter Gestik und Bewegungsdynamik, die nervös zwischen den Polen von Taumel und Statik, Kontrolle und Zerstreuung, Paralyse und Ekstase pendelt (Brandstetter 1995: 279ff.). Durch ihre identitäre Überdeterminierung wird Elektra in jeder Hinsicht an die äußersten Grenzen gedrängt: In ihrer Einsamkeit steht sie am Rande nicht nur der sie umgebenden Gesellschaft, sondern aller intersubjektiv geteilten For-

23 So Hofmannsthal in der zentralen Wendung des sogenannten Ariadne-Briefs an Richard Strauss (1979b: 297). 24 Das „eiserne Band“ des Terrors, von dem Arendt im genuin politischen Zusammenhang spricht, lässt sich als Gedankenfigur in den gegebenen Kontext freilich nur auf der formalen Ebene transferieren. 25 Als solche wurde sie schon von Breuer und Freud (2007: 44ff.) beschrieben.

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men von Welt. In ihrer Unfähigkeit, jenseits ihrer Vater- und Vergangenheitsfixierung sinnhaft zu kommunizieren, steht sie am Rande der Sprachgemeinschaft. In ihrer existentiellen Verlassenheit, die mit einem stabilen Weltbezug zugleich ihre Psyche und körperliche Integrität aufbricht, steht sie schließlich buchstäblich zwischen Leben und Tod. Elektras Verlust von Welt als Folge ihrer extremen Traumatisierung durch den Tod des Vaters ist ein wahrlich umfassender. Die neurotischen Züge in der Persönlichkeitsstruktur Elektras treten vor allem in ihrer Wahrnehmung der Zeit zutage (Mayer 1991: 238ff.). Hofmannsthals Tragödie konzentriert sich ganz auf Elektras obsessives Streben nach Reinigung durch den als Opferritual stilisierten Mord an Klytämnestra in der Zukunft und auf ihre fortschreitende Überwältigung durch die eigene Vergangenheit. Dies gipfelt in den immer wieder hervorbrechenden abgründigen Blut- und Tötungsphantasien, die Hofmannsthals Tragödie zu einem diskontinuierlichen Tableau von Szenarien des Schreckens machen, welche, richtungweisend für die avantgardistische Moderne, nicht mehr narrativ strukturiert und ganz in die Sphäre einer entgrenzten Imagination verlegt sind. Zugleich scheint hinter Elektras Symptomatik die neurotische Wahrnehmungsdisposition durch: der Zusammenbruch der für gewöhnlich klar geschiedenen Sphären von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Nicht nur wird Elektras Sicht der Gegenwart fast vollständig vom Gestern aufgesogen, auch die Zukunft wird immer stärker von den verheerenden zurückliegenden Geschehnissen und der nicht enden wollenden Erinnerung an diese präfiguriert. Gerade weil sie nicht dem Vergessen anheimgegeben werden können, schwillt das Rauschen des psychischen Resonanzgrundes in Elektra so bedrohlich weit in Richtung ihrer bewussten Persönlichkeitssphäre an, dass das in der Störung auffällig gewordene Fließen der Zeit überpräsent ist, regelrecht in ihr heiß läuft. Auch die vor ihr liegenden Ereignisse interpretiert sie unweigerlich im Lichte des erlittenen Verlusts des Vaters und des hierin gründenden Rachegedankens. So kommt ihr die elementare Fähigkeit abhanden, neue Erfahrungen zu machen, die sie zu einer Re-Interpretation des Vergangenheitsraums führen und ihre traumatische Fixierung lösen hätten können. Der Augenblick als das produktive, spannungsreiche Moment, in dem Vergangenheit und Zukunft paradoxal konvergieren, um etwas Neues zu stiften, wird im traumatischen Fall der Elektra unter der Last der Vergangenheit begraben. Dem Zwang der Identität entspricht somit auf der zeitlichen Ebene die Unfähigkeit zu vergessen. In Hofmannsthals Tragödie sind es gerade nicht die externen Ereignisse, die Tatsachen selbst, an denen Elektra leidet, sondern ihre psychischen Resonanzen, ihre imaginäre Dimension. Für diese neurotische Erinnerungsstruktur gilt im reinsten Sinne: „It is not that the patient does not know what those events were, does not know the facts […]. On the contrary, he knows

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them all too well.“ (White 1985: 86f.). Der freie Fluss der erinnerten Zeit abseits der Normierungen der Identität ist in Elektra elementar gestört. So enthüllt sich das Kernproblem der Neurotikerin Elektra als ein Problem der sinnlichen Wahrnehmung, das heißt einer durch das Trauma verformten Wahrnehmungsdisposition. Nur solche Impressionen sollen die Schwelle zum Bewusstsein passieren, die mit dem rigorosen Identitätskalkül der Protagonistin konform gehen. Dies setzt voraus, dass Elektra den äußeren SchockEinwirkungen, so ihre traumatisch verzerrte Perspektive, mit der größtmöglichen kognitiven Berechnung zu begegnen und gleichsam einen Schutzschirm gegen deren überdimensionale energetische Potentiale aufzubauen weiß. Von ihnen will und darf sich Elektra nicht noch einmal überraschen lassen. Vielmehr soll den Sensationen abseits ihrer unberechenbaren, genuin sinnlichen Dynamik ein exakter Platz im Bewusstsein beziehungsweise dem bewussten Gedächtnis zugewiesen werden, der den zerstreuenden Kräften der „mémoire involontaire“ entzogen ist.26 Gerade dies jedoch treibt das Rauschen des ausgeschlossenen Anderen in Elektra in solch neurotische Höhen. Auch wenn wir es dabei zweifelsohne mit einem Extremfall von traumatischer Belastung zu tun haben, darf man in der ex negativo extrapolierten Wahrnehmungstheorie von Hofmannsthals Elektra eine fundamentale Kritik an der Identitätsfixierung der modernen Konstitution des Subjekts und seiner deformierten Sinnlichkeit erkennen.

26 Auf die Figur der „unbewussten Erinnerung“ bei Marcel Proust und ihre identitätsflüchtige Dynamik verweist auch Walter Benjamin (1974: 105ff.), an dessen psychoenergetisches Modell zur Deutung der Wahrnehmungsstruktur in der Lyrik Baudelaires die vorstehenden Überlegungen angelehnt sind.

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Epilog: Salomé oder: Der traumatisierte Blick

Gustave Moreau, L’Apparition, 1876, Aquarell. Paris, Musée du Louvre.

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Gustave Moreau, Salomé, 1876, Öl auf Leinwand. Los Angeles, The Armand Hammer Collection.

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Auf dem Höhepunkt ihres psychischen Desintegrationsprozesses ist Elektra der neuralgischen Nahtstelle, an der Welt und Ich sich scheiden, so nahe gekommen, dass ihr jedes Ereignis zugleich Innen und Außen wird. Was sich ihr im Moment ihres Zusammenbruchs zeigt, ist die buchstäblich unerträgliche Präsenz des Resonanzgrunds der Psyche. Dem Dichter Hofmannsthal wird diese Konstellation zu einem poetologischen Paradigma für die Evokation des Unsagbaren, des reinen Rauschens am Grunde der Sprache, dem alle artikulierten Formen entsteigen, das selbst aber jedweder Formgebung entzogen ist. Diese paradoxe Figur ist durch alle Medien hindurch das zentrale Movens der Fin-de-siècle-Künste, auch der Malerei. Schon Manet hatte mit dem Kollabieren der Zentralperspektive in seinen Bildern den optischen Raum inauguriert, in dem die Tiefe des Bildes nicht mehr geometrisch gestaffelt und stabil abgestützt ist (Foucault 2004). Dann wird das Paradox eines Sehens möglich, das momenthaft die konturierte Form und zugleich die Entgrenzung ihrer in der Opazität des Bildgrundes wahrzunehmen vermag.27 Mit Gustave Moreau macht sich die Fin-de-siècle-Malerei daran, diesen Raum mit der ihr eigenen Radikalität auszuloten und wählt dafür just das Motiv des traumatisierten Blicks der Salome.28 Moreaus Darstellung der Salome in den Gemälden Salomé und L’Apparition (beide aus dem Jahr 1876), von Huysmans in À rebours hymnisch gelobt (Huysmans 1977: 141ff.) und bald eine der Ikonen der europäischen Fin-de-siècleKunst (Praz 1994: 253ff.), zeichnet diese Gestalt unverkennbar mit den schrecklich schönen Zügen des eisernen Bands der Neurose. In beiden – unterschiedlich akzentuierten – Bildern erscheint der bis in die äußerste Faser versteifte Körper der hieratischen Figur in einem unsagbaren Trancezustand zwischen Verinnerlichung und Ekstase, Schweigen und Tanzen, Stillstand und Bewegung (Mathieu 1994: 123ff.). Dem Gegenstand der Salome-Variationen, dem Tanz als Ausdruck der neurotisch irritierten Sensibilität, korrespondiert dabei − in verblüffendem Einklang von Inhalt und Form − die irritierte Ausrichtung des Blicks: Durch die entgrenzende Kraft der Farbe und die verwirrende Fülle der nicht mehr klar zuordenbaren Ornamente (Gordon 1985) entsteht eine paradoxe optische Textur, in der die Differenz zwischen Oberfläche und Tiefe zum Einsturz gelangt. Der für gewöhnlich abgeschattete Bildgrund, der konstitutiv hinter den Figuren und unterhalb der Wahrnehmungsschwelle liegt, tritt momenthaft in seinem energetischen Walten hervor, meldet sich dem Betrachter in der aufleuchtenden Materialität der Farb-Fläche (Urmann 2016: 630ff.).

27 Zu dieser fundamentalen optischen Figur und ihren philosophischen Implikationen siehe vor allem Boehm (1978). 28 Siehe dazu ausführlich im Kontext der Fin-de-siècle-Künste Urmann (2016: 611ff.).

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Wenn wir jedoch Figur und Grund – momenthaft – gleichzeitig zu gewahren scheinen, sehen wir, als ob wir mit den Augen des Neurotikers sähen: Im Kollabieren der Trennung von Oberfläche und Tiefe erlebt dieser das Aufstrahlen des Grundes in seiner ganzen unsäglichen Überwältigungskraft. Im Auge der Erscheinungen, die er zu bannen trachtet – die ihn bannen, wie mit ästhetischen Mitteln insbesondere L’Apparition demonstriert, meint er, den Grund selbst auf sich zukommen zu sehen. Analog dazu findet sich der Betrachter, lässt er sich auf die fundamentale Wahrnehmungsirritation dieser suggestiven Malerei ein, selbst in das quasi-neurotische Delirium versetzt, dass alles ihm zur aufblitzenden Oberfläche wird. Wie von einem überwältigenden energetischen Kontinuum fühlt er sich umfangen, von allen Seiten zugleich angegangen. Dann aber wird deutlich, dass die Neurose für Moreau vor allem die schreckenerregend schöne Chiffre eines anderen Sehens ist. Als Garant von Entgrenzung und Alterität zeigt sich dem neurotischen als dem Inbegriff des irritierten Blicks die unsägliche Präsenz des Grundes. Der Preis dieser Einsicht, daran lässt auch Moreau keinen Zweifel, ist indes fatal hoch. Vor ihm bewahrt der besondere ,Schutzschirm‘ der künstlerischen Form, der zugleich abnorme Einblicke gewährt: Wir sehen, als ob wir mit den Augen des Neurotikers sähen. Die Fin-de-siècle-Kunst, so lässt sich abschließend festhalten, schöpft zentrale philosophische Einsichten aus ihrer ästhetischen Analyse der Neurose. In den literarischen und pikturalen Repräsentationen ihrer legt sie mit größter Vehemenz mehrere Schlüsselaspekte frei, die für die gegenwärtige Traumaforschung sowie die therapeutische und auch die pädagogische Praxis zentral sind. Allem voran stehen die Kontingenz der Opposition pathologisch/normal und die Einsicht in das irreduzibel Andere am Grunde der Identität. Die Grenzziehung zwischen dem, was für gewöhnlich als ‚Normalentwicklung‘ erscheint, und der Devianz vom Regelfall ist mithin keine konstante Gegebenheit, sondern immer schon mannigfach vermittelt und interessengeleitet. In all solchen Diagnosen, die den Körpern eingeschrieben und naturalisiert werden sollen, sind kulturelle Deutungsmuster und Projektionen am Werk. Sie zu hinterfragen und selbst als Symptome von sozialen Machtdispositiven zu begreifen, erscheint als elementare Voraussetzung jedweder Annäherung an das Phänomen Trauma. Darüber hinaus mündet die Einsicht in die fließenden Grenzen zwischen Norm und Devianz in die Skepsis gegenüber einem Primat der Heilung, welches das Andere der Identität, ihre Widersprüche, Brüche und Störungen schlicht aufzulösen und ins Eigene zu integrieren trachtet. An diesem Anderen muss eine besondere pädagogische Arbeit ansetzen. Eine Arbeit, die weiß, dass Es nicht oder nur sehr begrenzt sagbar ist – und dennoch zur Sprache gebracht werden muss, im weitesten

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kommunikativen Sinn des Mediums, damit es der strukturellen Gewalt des Schweigens entrissen und aufgearbeitet werden kann. Literatur Arendt, Hannah (2001): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 8. Aufl. München/Zürich: Piper. Baudelaire, Charles (1976): Notes nouvelles sur Edgar Poe. In: Pichois, Claude (Hg.): Œuvres complètes. Band 2. Paris: Bibliothèque de la Pléiade, 319-337. Bauer, E. (2001): Art. „Trauma“. In: Wenninger, Gerd (Hg.): Lexikon der Psychologie. Band 4. Heidelberg/Berlin: Spektrum, 343. Becker,

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Vergangenes Hören wider einer gegenwärtigen Lärmerei M ONIKA J ÄCKLE „Alle Versuche, dem Grauen der Gegenwart durch die Sehnsucht nach einer unbelasteten Vergangenheit oder durch die antizipierte Tröstung einer besseren Zukunft zu entfliehen, sind zum Scheitern verurteilt.“ ARENDT 1951

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“A Child’s Job” “Everyone at Lety had to work, even us children. Every morning we were taken to the forest to pick up dry wood. We had to stack this wood next to the dead bodies so they could be burned. Behind the camp a deep trench was dug so when Gypsoes escaped they would fall in. If a prisoner was found in the trench he was shot. Then we had to bring wood to burn his body too. We also had to bring wood to burn the naked bodies of the women the guards used, and those who died of typhus, and those the guards drowned in the rain barrel and in the lake. When children got sick the doctor gave them an injection over the heart, and we had to burn their bodies too. I remember when I had To bring kindling To burn the body Of my baby brother. I gave him my bread, but it wasn’t enough.” (Polansky 1998: 22-24)

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Der traumatische Riss geht durch die Sprache, ereignet sich an den Grenzen zur Antwortlosigkeit und wütet im Grauen der Auslöschung. Das Nichtartikulierbare des Traumas in die Symbolisierung zu bringen, scheint als Versuch auf, „da es […] gerade die wortlose Vokalisierung des Leidens ist, die hier die Grenzen einer sprachlichen Übersetzung markiert” (Butler 2005: 159). Diese bloßen Versuche werden im Folgenden durch Stimmen von Kindern artikuliert, die Krieg und Verfolgung1 überlebt haben und den/die Leser_in auf das Hören zurückwerfen. Das Hinhören, das vokale Sichtbarwerden des Unsagbaren, demaskiert die Beziehung zum ‚Mir‘, indem die eigene innere, autonom verfasste Stimme als relationale Stimme hin zum Anderen entblößt wird. Das Hören ist imstande, sich im Anderen auf sich selbst zurückzuwerfen, sich dem Widerhall der relationalen Angewiesenheit und Verletzbarkeit auszusetzen.2 Einfühlung (mehr im Sinne nach Buber als nach Levinas) als relationale Bewegung zum Du bezieht sich auf konkrete Menschen mit individuellen Erfahrungen, Fähigkeiten und Vorlieben, einer eigenen Geschichte und mit eigenen persönlichen Beziehungen, mit einem Namen, einer Hoffnung und einer Verletzlichkeit. Ein kategoriales Wir verschluckt den Einzelnen. Die Entschwindung eines Lebens in eine Gruppe ist das eine, die Etikettierung und Stigmatisierung als monströs und verachtenswert das Andere (Emcke 2016: 48f.). So ist die homogenisierende Adressierung durch die Anrede als Andere/r, als Fremde/r, als Frau, als Moslem/Muslimin, als Jude/Jüdin, als Homosexueller, als Intersexueller, als Transsexuelle/r, als Geflüchtete/r, als Schwarze/r etc. mit ihren essentialistischen Zuschreibungen als gefährlich, unehrlich, feindlich, entartet, unnatürlich, gewalttätig, pervers, unrein die performative Praxis der Entsagung von Anerkennung durch Ab- und Ausgrenzung. Diese Projektionsjagd zerbirst gleichsam die Bedingung der Einfühlung, indem sie all die Phantasmen diskursiv bestätigt, worauf sich die Aggressionen richten. In solchen viel zitierten Aussagesystemen fixieren sich Konnotationsketten, die iterativ ins Leben rufen, wer nicht im Leben sein darf, wer nicht anerkannt, nicht gesehen, nicht würdig, nicht hier oder gar nicht da sein darf. Sich in die Perspektive des Anderen einzufühlen bedeutet, den Einzelnen zu sehen,

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Dieser Beitrag beschränkt sich auf die beiden Weltkriege, da er an den Beitrag von Eck i.d.B. anknüpft und auf die aktuelle Entwicklung in Europa Bezug nimmt. Die eurozentristische Sicht des Textes und seine Begrenzung aus postkolonialer Perspektive wird durch die Beiträge von Becker i.d.B. und Eißner i.d.B. geweitet

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Das wissenschaftliche Schreiben über Leid überdehnt das Grauen hin in eine Analytik sezierender ,Härte‘, die sich dann zeigt, wenn ein anderes Sprechen über Leid durch die betroffenen Kinder selbst mit diesem kontrastiert wird.

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sie*/ihn* aus der Gruppenkonfluenz zu lösen und seine/ihre Verletzbarkeit anzuerkennen. Gegenwart und Vergangenheit werden im Folgenden nicht in eine wechselseitige Strukturlogik vermittelt: Vielmehr wird die Historizität in ihren reflexiven Schnittstellen zum subjektiven Erleben in den Blick genommen.3 Im hörenden Kontakt wird die Historizität der erinnernden individuellen Vergangenheiten in ihren historischen Figuren in das Spannungsgefüge aktuellen Geschreis gebracht: Das soziale Spannungsgefüge entlädt sich derzeit emotionalisierend und entzieht sich oftmals einer reflexiven Auseinandersetzung.4 Das Ausgeliefertsein geschichtsbezogener Affekte kann nur unterbrochen werden, wenn Zitationssysteme der Vergangenheitsprojektionen reflexiv durschaut und zu einer affektiv-leiblichen Erkenntnis werden. Nicht nur reflexiv, sondern auch konkret perspektivisch, da einfühlend. Denn: „Die Normen, die einschließen und ausschließen, brauchen nur sehr alt zu sein, damit sie im toten Winkel der sozialen Wahrnehmung verschwinden.” (Emcke 2016: 115) Rassialisierende, sexualisierende und faschistoide Techniken und Praktiken des Ein- und Ausschließens - als historisch vermittelte Zitationssysteme - ticken entsprechend einer Gewaltenlogik nach geschichtlichen Folien, die Zugehörigkeiten vergeben oder vereiteln und darin kulminieren, Leben zu unterteilen in zu bewahrendes und zu vernichtendes. Die normativen Strategien, die mit Unsichtbarkeit arbeiten und die soziale Wahrnehmung zurichten, bewegen sich auf dem Drahtseil zwischen Stigmatisierung, Diffamierung und sozialer Tötung bis hin zu körperliche Gewalt, Zerstörung und körperlicher Auslöschung. Trauma als politische, historische, soziale, leibliche, somatische und psychische Kategorie verwebt Erfahrung und Struktur und zeigt in aller Deutlichkeit die Relationalität eines sogenannten – durch die Moderne psychisch eingekerkerten – ,Ichs‘ und einer Welt im Außerhalb. Die Verstörung und Orientierungslosigkeit verunmöglicht dabei die Gleichzeitigkeit des ‘Sich selbst Bewohnens und in der Welt heimisch Werdens’5, insbesondere dann, wenn alltägliche, perfide, detailreiche Gesten, Einstellungen und Handlungen der Missachtung unter dem Deckmantel der Sorge und der Angst6 die Antwort sind, wenn also Ausgrenzung und Hass die sozialen Räume durchziehen und Zuschauen und Klatschen ihre ideologische Sprache ist.

3

Damit wird keine historische Perspektive aufgemacht, sondern eine erziehungswissenschaftliche, die die Historizität unter dem Aspekt der Bedingungen des Menschlichen in den Blick nimmt.

4

So hallt die fanatische Lärmerei mitsamt ihres totalitären Gebrülls durch die politische

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Vgl. Jäckle Relationale Grenzgänge des Traumatischen i.d.B.

6

Vgl. Emcke (2016).

Arena einer AFD, eines Front National, einer FPÖ einer Partij van de Vrijheid etc.

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Gesichtet Emmanuelle Lévinas ethische Forderung gründet in der ausnahmslosen Hinwendung zum Anderen, eine einstehende Erfahrung für die Verwundbarkeit des Anderen im Antlitz des Anderen (Levinas 1961: 147ff.). Das Antlitz als das, was zu uns spricht und uns auffordert, nicht zu töten (ebd.). Sich den Kinderstimmen auszusetzen, meint, was Judith Butler gerade in Bezug auf Levinas formuliert, „wach zu sein für das, was an einem anderen Leben gefährdet ist, oder vielmehr wach zu sein für die Gefährdetheit des Lebens an sich.” (Butler 2005: 160). Sie betont weiter „dass uns Lévinas auch mitgeteilt hat, daß das Gesicht – welches das Gesicht des Anderen ist und somit die vom Anderen gestellte ethische Forderung – die Vokalisierung der Qual ist, die noch nicht Sprache oder nicht mehr Sprache ist, das, von dem wir geweckt werden für die Gefährdetheit des Lebens des Anderen, das, was die Versuchung zu morden und zugleich das Verbot dagegen hervorruft.” (ebd.: 165) Regina, heute 84 Jahre, hat als Kind die Strukturen und den Kreislauf des Hasses erlebt, überlebt und gleichsam die rettende und transitive Wirkung des Antlitzes des Anderen erfahren: „Die Hunde haben gebellt, dann wussten wir, dass die Partisanen kommen; sie haben uns alles genommen was ihnen gefallen hat. [...] Die Angst, die Angst. [...] Wir haben gezittert, am größten war die Angst vor den Partisanen. Das ging fast eineinhalb Jahre bis wir vertrieben wurden. [...] Den Michl haben sie als Lebender zerstückelt. [...] Sie sind im ersten Jahr immer nachts gekommen, die waren grauslig. [...] Die Nacht war immer mit Zittern. Man ist immer mit Angst schlafen gegangen. Wir Kinder sind dann zu viert geschlafen, zwei bei den Füßen, zwei vorne, da sind wir zusammengerückt und der Großvater war für uns alles. Sie haben alles genommen, Pferde, Fleisch, Kleider. Man durfte nichts sagen, sonst hätten die dich umgebracht, sie haben Essen verlangt, dann musstest servieren, sie waren so grauslig, das kann sich keiner vorstellen. [...] Wennst nein gesagt hättest, hätten sie dich erschossen. Das war das Schrecklichste, als die Partisanen gekommen sind, sie sind überall hingekommen. Das war für uns immer ein Schock, wir haben nur gezittert. Nur Angst, Angst. Einmal musste mein Bruder Stephan (11) und die Stiefmutter für die Partisanen fahren, also mit den Pferden fahren, da haben sie viel von uns mitgnommen. Und sie sind nicht heimkommen, wir haben nicht gewusst, wo sie sind, hatten solche Sorgen. Am Tag ging es, aber nachts als es finster war, es war im Herbst, haben wir Kinder geschrien und geweint, weil wir nicht gwusst haben, was mit ihnen los ist … ich weiß nicht mehr genau, nach wievielen Tagen, vielleicht 10 Tage. [...] In der Nacht, wir Kinder haben beim Großvater im Zimmer geschlafen, sagt er zu uns Kinder, also zur Lisi (14) zu mir (10) und der Marie (8), Kinder stehts auf, die Mama, also die Stiefmama, ist da! [...] Die Lisi hat ihnen ein Essen schnell gemacht. Ich bin dann mit dem

414 | M ONIKA J ÄCKLE Großvater in den Stall gegangen und auch die Marie, aber die war ja klein, die hat ja nicht so viel gekonnt, und der Großvater war fast blind. Wir haben dann schnell die Pferde gefüttert, weil es waren tragende Pferde. [...] Es war im Herbst, es war kalt und hat viel geregnet, und sie mussten durchn Fluss. [...] Auf einmal kleschts im Stall, also die Pferde, mit denen die Stiefmutter gefahren ist, es waren tragende Pferde, also die Rubi, sie ist dann hin worden, ich weiß nicht, wie man dazu sagt, das kleine ist noch auf die Welt gekommen und gelaufen und dann auch hin worden. [...] In der Früh kommen die Partisanen und die Stiefmutter und der Stephan hätten wieder fahren müssen und die Siefmutter sagt, sie kann nicht, sie sollen in den Stall gehen und sollen das anschauen, die Rubi liegt tot im Stall. Und mit den anderen zwein, den jungen Pferden, kann der Stephan nicht fahren, da sie ihm davon gehen. Sie hat gsagt „Geht’s in Stall, schauts euch an, aber nicht ein Menschen zwingen, wanns nicht geht“. [...] [Stimme wird laut und schnell] Sie wollten die Stiefmutter erschießen, sie haben das Gewehr angelegt und wir Kinder haben nur gschrien wie die Depperten. [...] Der Großvater springt vom Bett auf, stellt sich vor ihrer hin und sagt „Ubi me, no mama!“, also “Erschießt‘s mich und nicht die Mama!“ [mit erregter Stimme], in dem Moment klopft einer am Fenster, schaut zur Stiefmutter, schaut sie an und dann zu seinem Kollegen und schreit laut „Šta radiš“, „Was machst du da?“ dann hat ers nicht da´schossen. Das bleibt uns ewig, das kriegst im Leben nie los, das seh ich noch immer vor mir, das war schiach, das kannst dir gar nicht vorstellen, wir Kinder.“7

Regime der Sichtbarkeit Die Gegenwart der Geschichtlichkeit zeigt sich in den Spuren der Verletzbarkeit: darin, wie die jeweilige historische Ordnung der Menschlichkeit gefährdetes Leben erzeugt. Als Hintergrund ermöglicht die jeweils historische Ordnung ein Leben oder macht aus einem Leben gleichsam ein Überleben. Die dispositive Vulnerabilitätsmatrix generiert einen Bedeutungshorizont, der Räume in anerkennende und missachtende unterteilt. Die sich daraus bildenden Figuren des Handelns, Deutens und Bewertens sind vor eben diesem Hintergrund lesbar und hörbar. Genau darin zeigt sich die Gefährdung: Nomi hat als Kind Ravensbrück und Bergen-Belsen überlebt. Das weitere Überleben nach dem Krieg kreist um das Aushalten und Zurechtkommen ihres Erlebens von Andersartigkeit in einer für sie neuen Kultur: „Die Lehrer waren vielleicht aufmerksam gegenüber den Kindern, gleichzeitig aber taktlos hinsichtlich ihrer Kriegserlebnisse. Nomi schildert, wie sie als Drittklässlerin gebeten wurde, während der „Spaßstunde“ in der Schule von ihren Kriegserlebnissen zu erzählen.“ (Kaplan 2010: 195, Herv. i. O.)

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Interview mit Regina am 7.3.2016.

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Nomi schildert diesbezüglich ihre Schulerfahrung in Schweden: „Samstags hatten wir etwas, das man Spaßstunde nannte, die Spaßstunde der Klasse. Während dieser Stunden hatte ich die Möglichkeit, von meiner Situation und dem, woran ich mich erinnerte, zu erzählen. Und für sie war es schließlich eine Geschichte. Ich war so jung damals, also redete ich einfach immer weiter über meine Erlebnisse. Es fällt mir jetzt viel schwerer, darüber zu reden, je älter ich werde.“ (Naomi in einem Interview 1997 in Lund zit.n. Kaplan 2010: 195, Herv. i. O.)

Affekte haben keinen individualistischen Ort, sondern entstehen stets vor einem Hintergrund, sodass es darum geht, „die Bedingungen der Empfindungsfähigkeit zu hinterfragen, indem Deutungsmuster für ein Verständnis des Krieges jenseits der und gegen die dominanten Interpretationen angeboten werden, die nicht nur Wirkungen auf die Affekte erzeugen, sondern selbst die Form von Affekten annehmen und als Affekte wirksam werden.“ (Butler 2010: 56) Ein Leben, das weniger sichtbar ist, das kein Widerhall erfährt, dessen Tod nicht betrauerbar ist (Butler 2010), dessen Gefährdung also darin besteht, im Außerhalb der Anerkennung des Menschlichen zu stehen. Zerstörung, Trauer, Tod, Gewalt und Krieg begrenzen und begründen sich nicht nur im Ausdruck gewaltsamer Herrschaft, sondern sind in eine machtvolle Ordnung der Menschlichkeit eingelassen, die bestimmt, wie und ob ein spezifischer Jemand wahrgenommen wird. Die Raster der Wahrnehmung legen die Spuren für machtvolles und gewaltvolles Wahr-Sprechen und lassen das Individuum im Wir entschwinden, zitieren Sedimente ins Leben, die das Abwägige bloßstellen, das Andere als minder identifizieren, um es zu bekämpfen, zu demütigen, zu zerstören, zu foltern und zu töten. Die Frage, wessen Leben gerettet, verstanden, betrauert, anerkannt, schützenswert und wertvoll ist, ist eine Frage, die in erster Instanz zunächst auf die Wahrnehmung trifft, die der Art und Weise folgt, wie Leben diskursiviert und dargestellt wird. Die Mechanismen kultureller Darstellung folgen einer selektiven Logik, die Leben sichtbar oder unsichtbar macht. Die Raster der Wahrnehmung entscheiden über Leben und Tod. Sie sind imstande Gefühle zu formieren, Kritik gleichzuschalten und Leben als unwert zu kategorisieren. „Der Hass braucht vorgeprägte Muster, in die er sich ausschüttet.“ (Emcke 2016: 16) Emilia hat als Kind jüdischer Eltern die Strukturen und den Kreislauf des Hasses erlebt, die Effekte des normativ-gewaltvollen Rahmens haben sich in ihren Leib eingefleischt, ihre Sinne enteignet und ihr gefährdetes Leben als nicht betrauerbar markiert (Butler 2010: 20ff.): Um zu überleben, musste sie zum herrschenden Wir gehören, also eine Andere sein, um den Anerkennungsstatus zu bekom-

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men, um am Leben bleiben zu können. „Emilia erzählt, wie sie jeden Morgen aufwachte und sich einredete, sie sei ein blondes ukrainisches Mädchen. Sie ging mit polnischen Kindern zur Schule und wurde katholisch gefirmt, um nicht von anderen Kindern aus der Nachbarschaft abzuweichen.“ (Kaplan 2010: 58) „I: Sie wollten gerade erzählen, wie es war, wenn sie jeden Morgen aufwachten. E: Ja ich habe begriffen, dass ich sehr jüdisch aussehe, und das Einzige, was ich tun konnte, war, nicht jüdisch zu sein. Also habe ich mich entschieden. Ich bin eine blonde Ukrainerin. [Sie schließt die Augen, lehnt den Kopf zurück und legt ihre Hand in den Nacken.] Wenn ich die geringsten Anzeichen von Beunruhigung zeige, ist es vorbei! Man muss glücklich und entspannt sein, und ich versuchte, das die ganze Zeit zu sein. Mir nicht das Geringste anmerken zu lassen, auch wenn ich „Jude“ hörte! Ich konnte ihnen zulächeln. [Sie dreht den Kopf zur Seite, schließt die Augen, zuckt mit den Schultern.] Ich tat das jeden Tag, aber es war eine … Qual. Die ganze Zeit spürte ich die Blicke der Leute, und ich wusste, ich musste unsichtbar sein. Aber das war unmöglich, also war ich sehr sichtbar. I: Sie sagen es war eine Qual? E: Ja, es war eine Qual, jede Sekunde vorzugeben Ukrainerin zu sein, und gleichzeitig vor allem Todesangst zu haben. Das war das Schlimmste. Ich glaubte damals, dass sie die Juden auf der ganzen Welt töten werden. So wusste ich, dass ich sterben muss, und so dachte ich über all die Möglichkeiten nach, wie man sterben kann. Ich betete zu Gott …. Ich beschloss, dass es das Beste wäre, in den Kopf geschossen zu bekommen. Also betete ich zu Gott, dass mir in den Kopf geschossen würde.“ (Emilia in einem Interview 1997 in Stochkolm, zit. n. Kaplan 2010: 300f., Herv. i. O.)

Wie Affekte reguliert werden, hängt maßgebend vom jeweiligen dispositiven Hintergrund ab, von den diskursiven Machtverhältnissen und ihren dominierenden Bewertungs- und Deutungsrastern, die wiederum rassistische, sexistische und faschistische Wirkungen erzeugen können. Über alltägliche Gesten der Exklusion gegenüber allem, was anders scheint, entlädt sich ein immer lauter werdendes faschistisches Gebrüll, das imstande ist über die einseitige strategische Mobilisierung der Affekte Zorn und Hass zu generieren, indem gleichsam das Mit-Fühlen diffamiert wird und die Sinne selektiert werden: „Das stillschweigende Deutungsschema der Unterteilung in wertvolle und wertlose Leben prägt grundlegend die Sinne und scheidet die Schreie, die wir hören, von denen, die wir nicht hören, die Bilder, die wir sehen, von denen, die wir nicht sehen können, und das Gleiche gilt für Berührungen und sogar für Gerüche. Der Krieg prägt die Sinne; er bringt sie dazu selektiv wahrzunehmen, er tötet den Affekt gegenüber anderen. Deshalb unterminiert der Krieg die Demokratie der Sinne; er begrenzt unsere Gefühle, er bringt uns dazu,

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Entsetzen und Wut angesichts der einen Form von Gewalt und selbstgerechte Kälte angesichts der anderen Form zu empfinden. Um das Gefährdetsein eines anderen Lebens wahrzunehmen, müssen die Sinne operativ sein, das heißt, man muss sich gegen jene Kräfte zu Wehr setzen, die versuchen, unsere Affekte aus- und abgrenzend zu regulieren.” (Butler 2010: 56)

Enteignete Sinne Strategien der Emotionalisierung verdecken ein Differenzieren, ein analytisches Zerkauen, ein affektives Zerkleinern und reflexives Durcharbeiten, unterwandern ein Gewahrwerden der eigenen Gefühle und Bedürfnisse und boykottieren eine Orientiertheit in der eigenen Situation. „Gehasst wird ungenau. Präzise lässt sich nicht gut hassen. Mit der Präzision käme die Zartheit, das genaue Hinsehen oder Hinhören mit der Präzision käme jene Differenzierung, die die einzelne Person mit all ihren vielfältigen, widersprüchlichen Eigenschaften und Neigungen als menschliches Wesen erkennt. Sind die Konturen aber erst mal abgeschliffen, sind Individuen als Individuen erst einmal unkenntlich gemacht, bleiben nur noch unscharfe Kollektive als Adressaten des Hasses übrig, wird nach Belieben diffamiert und entwertet, gebrüllt und getobt.“ (Emcke 2016: 12)

Präzision heißt auch die eigenen Gefühle zu differenzieren, sich ihrer Historizität zu öffnen und sie zum Gegenstand des eigenen Zweifelns, der eigenen Skepsis und der eigenen Empörung zu machen. Reine Kriege zu führen, heißt heute in medialer Sicht, das Leid der Betroffenen möglichst ausschnitthaft und sequenzlos entsprechend der ,richtigen‘ Perspektive zu zeigen. Die ,richtige‘ Perspektive ist die, die die Eingangskanäle der Empfindungsfähigkeit mit den Normen abstimmt, die definieren, welchem Leben Mitgefühl zukommen darf und soll und welchem nicht. „Den Rahmen zu sehen, der uns gewissermaßen zum Sehen blendet, ist keine leichte Aufgabe.“ (Butler 2009: 67) Wenn Leid unsichtbar bleibt, nicht gesehen, nicht anerkannt wird, nährt es nicht nur eine mögliche Hinwendung zu Hass und Zorn, sondern auch die Etablierung einer Angst und Ohnmacht, die gegenwärtig bestehen bleibt und in die Zukunft herrscht: Die Luftangriffe des zweiten Weltkrieges markieren die Kriegsführung von Oben. Marie, 83 Jahre, damals 9 Jahre, war mit ihren zwei Schwestern, Regina (11) und Elisabeth (15) und den zwei Nachbarsjungen (Andreas 9, Jakob 11 Jahre) mit dem fast blinden Großvater auf der zweijährigen Flucht von Kroatien nach Österreich, nachdem sie von dort vertrieben wurden.

418 | M ONIKA J ÄCKLE „Es war keine Schule mehr. [...] Man hat eh jeden Tag Angst gehabt und musste sich verstecken und schützen. [...] Die Tiefflieger haben geschossen, alle mussten laufen, wir sind weggelaufen und haben uns sichergestellt bei den Sträuchern und Stauden; dort haben wir uns versteckt. [...] Wir haben gezittert, uns ruhig gestellt, es war furchtbar, wir hatten Angst. [...] Nur versteckt und versteckt. Es ging bimbimbimbim. Das war immer ein Schock, immer gelaufen und versteckt. [...] Wir haben gezittert wie die Laubfrösche. Mein Vater hatte uns damals gewarnt, dass wir uns nicht frei hinstellen sollen, sondern uns schützen sollen an der Mauer, ja weg vom Fenster. [...] Es wurden viele Menschen erschossen. Ein anderer Großvater blieb im Haus, seine Enkelkinder wurden erschossen. Es war Voralarm, Alarm und dann Entwarnung. [...] Die Bomben sind explodiert. Die Erde hat gebebt. Im Bunker waren wir am Boden zusammengesessen und haben uns gekuschelt, uns festgehalten. Es war sehr still. Jeder war nervös. Viele Kinder haben geweint. Nur Angst gehabt und gezittert. Ich war ein Angstkind. [...] Es hat dann alles gebrannt. Wir mussten über die Gluten. [...] Wenn ich heute noch daran denke, wird’s mir ganz anders.“8

Der Blick von Oben und die vermittelte Sicht von Außen unterbricht den sinnlichen Kontakt zum Leiden des Anderen und beugt ein Ausgesetztsein vor; das Wimmern, das Schreien der Kinder nicht zu hören, die Glut der Zerstörung nicht zu riechen, die Enge der gefährdeten Existenz leiblich nicht zu spüren, zerrissene Körper nicht zu sehen, all das ist Teil moderner Kriegsführung, einer über den Bildschirm sauber vermittelten medialen Berichterstattung angeleitet durch die Raster des Krieges (Butler 2010). Die Differenz des Mit-Erlebens und des fotografischen Vermittelns ist die Kluft des Traumas, das Unsagbare menschlichen Leids.9 Wegner thematisiert dies in seinen Berichten über die Verbrechen der Türken an die Armenier von 1919.

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Interview mit Maria am 6.3.2016.

9

Eine vertiefte Auseinandersetzung über den „eingebetteten Journalismus“ liefert Susan Sontag (2003) in „Das Leiden anderer betrachten“.

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„Ohne Nahrung und Schutz eines Zeltes hatte man diese elenden Waisenkinder am Ausgang des Lagers zusammengetrieben. Mitleidige Armenier gruben ihnen ein grosses Loch in die Erde, in de(m) sie des Nachts unter einer darüber gebreiteten Decke vor der Kälte Schutz suchten. Unter allen Bildern furchtbaren Elends war der Anblick dieser der Verzweiflung anheim gegebenen Kinder gewiss das Erschütternste. Sie zitterten am ganzen Körper, fröstelnd und von ihren Tränen geschüttelt. Als sie die Linse des photographischen Apparates auf sich gerichtet sahen, blickten sie wohl einen Augenblick neugierig auf, um gleich darauf desto lauter in ihrem Jammern fortzufahren. Denn was diese Bilder Ihnen zeigen, ist ja nur ein entfernter Abglanz der Wirklichkeit. Jedes Bild verschönt im Grunde, Sie sehen wohl die Gestalten und Gesichter, aber nicht die gelbe verhungerte Farbe ihrer Haut, die feuchten verschleimten Augen, hören nicht das laute Klagen der Frauen, das Röcheln der Sterbenden, fühlen nicht die Glut der Sonne, die eisige Kälte der Nacht, den furchbaren Geruch der Aases und der Verwesung, die über ihren Köpfen hinstreift.“ (Wegner 1915: 70ff.)

Literatur Arend, Hannah (1951): Vorwort zu The Burden of Our Time. Butler, Judith (2005): Gefährdetes leben. Politische Essays. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Butler, Judith (2009): Krieg und Affekt. Zürich-Berlin: diaphanes. Butler, Judith (2010): Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt, New York: Campus Verlag. Emcke, Carolin (2016): Gegen des Hass. Frankfurt/Main: S. Fischer. Kaplan, Suzanne (2010): Wenn Kinder Völkermord überleben. Über extreme Traumatisierung und Affektregulierung. Gießen: Psychosozial-Verlag. Lévinas, Emmanuel (1961): Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. 4. Aufl. (2014). Freiburg/München: Alber Verlag. Polansky, Paul (1998): Living Through It Twice. Poems of the Romany Holocaust (19401997). Prague: G plus G. Wegner, Armin T. (2011): Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste. Ein Lichtbildvortrag. (Original 1919). Meier, Andreas (Hg.). Göttingen: Wallstein Verlag.

Handlungsdimensionen in der Schule

Vom Überleben zur Lebensgestaltung Sicher sein und wachsen M ARIA J OHANNA F ATH Maria Johanna Fath ist Leiterin des Traumahilfenetzwerkes Augsburg Schwaben, Diplomtheologin, Psychotherapeutin, Supervisorin und Dozentin für Traumapädagogik in Augsburg. Frau Fath, Sie haben selbst einige Jahre unterrichtet und Erfahrungen gesammelt. Lehrer sehen sich im Unterricht häufig mit Kindern konfrontiert, die sich kaum auf das Unterrichtsgeschehen einlassen können. Unter dem Eindruck bekannter Details aus deren Lebensgeschichte vermuten sie, dass es sich bei einigen Schülern um reaktive Verhaltensmuster handeln könnte, die mit den Diagnosestellungen ADHS oder Autismus-Spektrum-Störung nicht wirklich zu erfassen sind. Die Diagnosestellungen ADHS/ADS und Autismus-Spektrum-Störung sind bekannt und im Bewusstsein der Gesellschaft verankert. Wegen partieller Überschneidungen in der Symptomatik erhalten traumatisierte Kinder manchmal eine dieser Diagnose. Sie wird ihnen jedoch nicht gerecht und sie bekommen nicht genau die Unterstützung, die sie brauchen. Kinder brauchen für ihre Entwicklung dass sie sich entfalten können, wachsen, lernen, sich entwickeln, Neues schaffen, an der Weiterentwicklung der Welt teilhaben einerseits und andererseits zugleich sich verbunden fühlen in einer Gemeinschaft, zu jemandem gehören – dies sind die zwei fundamentalen Grundbedürfnisse eines jeden Menschen, die im Wechselspiel miteinander dafür sorgen, dass Leben gelingen kann. Erkenntnisse aus der systemischen Arbeit mit Menschen und die Hirnforschung legen nahe, dass sich jede individuelle Lebensgeschichte im Spannungsfeld von Verbundenheit und Wachstum, dem Streben nach Zugehörigkeit und der Aneignung von Neuem entwickelt. Im Idealfall sorgt eine gute Balance von entsprechenden Erfahrungen für einen fortschreitenden, ja sich potenzierenden Prozess

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des Vertraut-werdens mit und des Erlebens von Kontext in der individuellen Lebenswelt. Bei traumatisierten Kindern ist diese Kohärenz brüchig. Ihr Empfinden von Sicherheit ist zutiefst erschüttert. Das Streben nach Geborgenheit hindert sie daran, sich unbefangen Neuem in der Gegenwart zu öffnen. Nicht alle Kinder können auf der Erfahrung der Geborgenheit aufbauen … Kinder lernen am besten in einer emotional stabilen und wohlwollenden Atmosphäre. Leider trifft das nicht immer zu. Das Zuhause mancher Kinder ist geprägt von Gewalt, Abwertung und Vernachlässigung. Die Bezugspersonen, in der Regel Eltern, eigentlich die Garanten für Sicherheit und Geborgenheit, stecken manchmal selbst voller Probleme oder sind von Krankheit belastet. Die Lebensbedingungen solcher Kinder sind gestört. Es fehlt ihnen die sichere Basis, das Gefühl, zu jemandem zu gehören, sich verbunden zu fühlen mit der Gewissheit: „Ich bin wichtig!“ Es fehlt ihnen die Erfahrung, nicht alles alleine schaffen zu müssen, sondern darauf vertrauen zu können, dass in der Not jemand hilft und daraus die Gewissheit erwächst: „Ich kann mir Hilfe holen“. Für den erwachsenen Begleiter heißt das: „Ich zeige dir wie Leben geht“. Lernen, Begreifen der eigenen Welt, Wachstum auf emotionaler und geistiger Ebene und die Entfaltung als eigenständiges und selbstwirksames Wesen finden bei defizitärer Unterstützung im unmittelbaren sozialen Kontext nur in begrenztem Maße statt. Beide Grundbedürfnisse, sich sicher und geborgen fühlen und wachsen wollen, sind bei Kindern offensichtlich und existentiell. In Abhängigkeit von jeweils eher förderlichen oder belastenden Erfahrungen entwickeln sich Grundmuster, die die Gestaltung sozialer Begegnung und den individuellen Zugang zum Leben an sich maßgeblich prägen. Das familiäre Umfeld in der frühen Kindheit hat für die Entwicklung des Kindes hohe Bedeutung. Welche Einflussfaktoren werden dann beim Eintritt in den Kontext Schule wirksam? Kinder aus einem sicheren und Geborgenheit vermittelnden Zuhause haben vergleichsweise gute Lernvoraussetzungen. Im günstigsten Fall treffen sie mit der Einschulung auf ein Muster, das ihnen eine ähnlich sichere und zugleich auf die Welt neugierig machende Atmosphäre bietet. Doch auch der Kontext Schule birgt in sich Gefahren, die ein gut ausbalanciertes Sicherheits- und Wachstumsstreben des Kindes gefährden. Geht man davon aus, dass schon jede individuelle Über- bzw. Unterforderung diese Balance stören kann, so wird deutlich, wieviel pädagogische Sensibilität einer Lehrkraft in einem Klassenverband von 20 und

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mehr Kindern abverlangt wird. Um wie viel höher ist jedoch das Risiko für die Entfaltung des Kindes, wenn es in seinem Zuhause bereits unsicheres oder gestörtes Bindungsverhalten – so die Begrifflichkeit bei dem renommierten Bindungsforscher Karl-Heinz Brisch – erfährt und sich dann auch noch in der Schule abgelehnt fühlt bzw. keinen Respekt erfährt. Und es liegt auf der Hand: dieses Risiko vervielfacht sich, wenn das Ziel, eine bestimmte Leistung erreichen zu wollen oder vermeintlich erreichen zu müssen, über das Wohl des Kindes in seiner Ganzheit gestellt wird. Aber die Lösung des Problems ist nicht nur eine Frage der Kompetenz der Lehrkraft? Manche Kinder sind aufgrund massiver Missachtung ihrer Grundbedürfnisse im häuslichen Umfeld traumatisiert. Ihr personales Wachstum ist trotz aller hilfreichen Bemühungen in der Schule blockiert. Sie zeigen keine kindliche Neugier auf Neues, sind oft misstrauisch und wirken verträumt, traurig und abwesend. In ihrer Verletztheit meiden sie den Kontakt oder versuchen verzweifelt, sich an jemand zu klammern. Alle Energie fließt in die Befriedigung des Grundbedürfnisses nach Sicherheit und Geborgenheit, wobei genau das, so „wissen“ sie aus Erfahrung, zugleich die Gefahren des Scheiterns und der Ablehnung in sich birgt. – Ein schier unlösbares Dilemma, mit dem sich eine Lehrkraft in der Schule konfrontiert sehen mag. Bleibt nur, den Raum für Erfahrungen zu schaffen, die sich zu einem neuen und Sicherheit vermittelnden Referenzsystem ausbilden. – Und das braucht Zeit, Geduld und viel Einfühlungsvermögen. Was verleiht Kindern ihre innere Stärke? Wie kann Schule ein sicherer Ort sein? Kinder und Jugendliche mit seelischen Verletzungen brauchen in verstärktem Maße Erfahrungen, die ihnen das Gefühl geben, sicher zu sein. Sie brauchen Menschen, die an sie glauben. Können sie auf solche Erfahrungen aus dem primären Bezugssystem nicht zurückgreifen, so ist die Schule eines der nächsten Bezugssysteme, in dem sie diese Erfahrungen machen können. Sichere Bindung, die sich als tragfähig erweisen soll, muss über einen Zeitraum von mehreren Monaten, vielleicht Jahren, aufgebaut werden. Kinder, die Bestätigung erfahren und bei ihrem Handeln ermutigt und bekräftigt werden und spüren, dass jemand an sie glaubt, entwickeln für sich selbst zunehmend eine innere Haltung, die auf Autonomie und Freiheit baut. Dies ist für jedes Kind ein wertvolles pädagogisches Ziel und für traumatisierte Kinder wird die Schule damit für einige Stunden am Tag zumindest ein sicherer Ort.

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Auch traumatisierte Kinder haben bei allem Belastenden in der Regel einen persönlichen Schatz von Erinnerungen an schöne Erfahrungen. Dieser Schatz lässt sich als Ressource zum Aufbau und zur Festigung eines positiven und kohärenten Selbstbildes nutzen. Und oft ist es auch die Gruppe, der Klassenverband, der bei Kindern das Erleben von Autonomie und Zugehörigkeit gleichzeitig stärkt. In der Gruppe erleben sich die Kinder im Verbund und merken, dass sie wichtig sind; sie erfahren, dass es gut tut, die Aufmerksamkeit im Miteinander auf eine gemeinsame Aufgabe zu richten. Zugleich werden in der Gruppe wesentliche soziale Kompetenzen gefördert. Im Eins-zu-Eins-Kontakt dagegen erlebt sich das Kind vor allem als autonome Einzelperson. Beides ist wichtig und als gleichbedeutend zu betrachten. Die Entfaltung der Kinder setzt ein bestimmtes Maß an Sicherheit voraus. Welche strukturellen Maßnahmen kann eine Schule dafür ergreifen? Jegliche Formen sinnvoller Strukturierung sind auf allen schulischorganisatorischen Ebenen Bausteine der äußeren Sicherheit. Die klare Strukturierung von Zeit, wie sie sich im Rhythmus von Stundenwechsel und Pausen zeigt, ist beispielsweise ein Sicherheit gebendes, stabilisierendes Element. Manche frühtraumatisierten Kinder erleben Schule als erste Form einer Sicherheit bietenden äußeren Struktur. Zur klaren Struktur gehört auch ein hohes Maß an Berechenbarkeit und Voraussagbarkeit von zu erwartenden Kontexten. Dazu gehören zweifellos wiederkehrende Rituale. Dies freilich ist im Schulalltag nicht immer durchgängig möglich; so etwa, wenn eine Lehrkraft erkrankt und andere Personen den Unterricht übernehmen müssen. Neben der äußeren Sicherheit spielt auch die innere Sicherheit, insbesondere im Erleben von traumatisierten Kindern und Jugendlichen, eine wesentliche Rolle. Gemeint sind damit, die Erfahrung, willkommen zu sein und eine Kultur des Angenommen-Seins. Kleine Zeichen und Gesten, aufrichtig gemeint, schaffen eine Atmosphäre von Achtung, Respekt und Wertschätzung. Eine junge Frau, die mit einer schwer depressiven Mutter und einem gewalttätigen Vater aufgewachsen ist, erzählte als Erwachsene in der Therapie auf die Frage, was ihr in der schwierigsten Zeit der Kindheit am meisten geholfen habe, eine Erinnerung aus dem Kontext der Schulzeit: „Ich habe einige Jahre von den wertschätzenden Blicken meines Lehrers gelebt“.

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In anderen Fällen macht sich eine brüchige Verarbeitung von Erfahrungen bemerkbar, wenn die Selbststeuerung der Kinder von Gewalt bedroht ist. Inwiefern kann sich eine Schule von Gewalt abgrenzend positionieren? Gewaltfreiheit ist eine Haltung, die sich in unterschiedlichen Verhaltensmustern zeigt. Die Schule als gewaltfreie Zone zu etablieren, ist eine komplexe Aufgabe mit einem hohen Anspruch. Aspekte der äußeren und der inneren Sicherheit spielen dabei für den guten Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen eine herausragende Rolle. Ein wichtiger Aspekt der äußeren Sicherheit ist die Regelung, dass in der Schule kein Raum ist für Täter, die zur Traumatisierung anwesender Kinder und Jugendlichen beigetragen haben. Eine klare Positionierung hinsichtlich dieser Regel schafft ein hohes Maß an Entlastung bei den Betroffenen und ist Voraussetzung für ein Klima des Vertrauens. Ein gewaltfreies Umfeld muss von den Erwachsenen geschaffen werden. Dazu braucht es eine Haltung zu Gewalt, die von der Schulleitung initiiert und vorgelebt und von einem ganzen Kollegium getragen wird. Eine gewaltfreie Schulstruktur hat demokratische Züge. Das heißt, im Kollegium der Lehrerschaft werden auf allen und zwischen allen Ebenen der Hierarchie Achtung und Respekt gelebt. Es gibt eine konstruktive Fehlerkultur und dazu gehören auch klare und allen bekannte Regeln zum Umgang mit Vorfällen von Gewalt. Der Führungsstil der Schulleitung ist geprägt von Unterstützung; sie bringt die Kompetenzen der Lehrkräfte zur Geltung; sie setzt auf vertrauensvolle Zusammenarbeit und agiert weder mit Drohgebärden und Machtgehabe noch bleibt sie in starren Regeln und Vorgaben verhaftet. In der gewaltfreien Schule gibt es einen Verhaltenskodex, an dessen Erstellung und Fortschreibung die Schüler insgesamt oder zumindest Schülervertreter mitarbeiten. Ein solcher Verhaltenscodex ist ein Regelwerk, das Haltung und Konsequenzen zum Umgang mit verbaler, körperlicher und psychischer Gewalt beschreibt. Um die Bedeutung und die Wirkung des Verhaltenscodex zu steigern, sollten auch die Eltern der Schüler darüber informiert werden. Verhaltensregeln, die im Schulgebäude sichtbar aushängen, werden beiläufig und doch häufig wahrgenommen. Dies trägt zu deren fortschreitender Verinnerlichung bei. Schule und Lehrer haben in der Regel nur bedingten Einfluss auf ein von Gewalt geprägtes häusliches Umfeld von traumatisierten Kindern. Glücklicherweise können Kinder jedoch sehr genau unterscheiden, in welchen Räumen welche Regeln gelten. Eine klare Haltung zur Ablehnung von Gewalt zeigt sich auch in der Kennzeichnung von ausdrücklich als gewaltfrei definierten Räumen. So kann ein Lehrer bei herabsetzenden oder beleidigenden Äußerungen etwa sagen: „Hier in meinem Klassenzimmer und in den Räumen der Schule möchte ich dies nicht hören!“

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Manche Kinder scheinen mit besonders belastenden Situationen besser zurecht zu kommen als andere. Wie lässt sich das erklären? Individuelles menschliches Leben entwickelt sich von Anfang an entlang der Erfahrungen, die diesem Menschen widerfahren sind. Je früher eine Erfahrung gemacht wurde und je häufiger Erfahrungen in irgendeiner Weise gleichsinnig sind, desto stärker und grundsätzlicher bilden sich entsprechende Verarbeitungsund Reaktionsmuster aus. Sie tragen dazu bei, dass neue Erfahrungen in funktionierende Deutungszusammenhänge integriert werden können. Daraus entstehen im Gehirn stabile synaptische Verbindungen, die schon bei kleinen Anlässen ein ganzes Netzwerk von Gefühlen und Körperreaktionen aktivieren. Weiß sich ein Kind gut aufgehoben, das heißt, fühlt es sich sicher gebunden, so wird der Impuls von außen dazu führen, die Neugier auf das Kennenlernen von dem, was neu ist, zu aktivieren, mit dem Ziel dieses Neue dem eigenen Erfahrungsschatz hinzuzufügen. Fühlt sich das Kind jedoch ausgeliefert und gefährdet, das heißt, fühlt es sich unsicher gebunden oder ist sein Bindungsverhalten gar gestört, so löst der Impuls von außen bei ihm eine Stressreaktion aus, die einzig und allein dem Ziel dient, das eigene Selbst zu schützen. Alle Energie und die Intention jeglichen Verhaltens sind darauf ausgerichtet, die Angst vor vermeintlich existentieller Bedrohung abzuwenden. Das zeigt sich häufig im Versuch zu fliehen oder vermeiden oder im Kampf mit dem gegenüber. Das Kind „schaltet“ unbewusst in einen in sich konsistenten, hinsichtlich der Wahrnehmung jedoch deutlich verengten Zustand, den man als Überlebensmodus bezeichnen kann. Die Verbindung einer neuen Erkenntnis mit bereits Bekanntem wird in diesem Zustand regelrecht blockiert. Können Sie die Dynamik von übermäßigem traumatischen Stress einem Beispiel aus Ihrer persönlichen supervisorischen Erfahrung im Kontext Schule spezifizieren? Ein Kind, nennen wir es Marlon, ist ein liebenswürdiger Schüler. Marlon sagt von sich selbst, „dass er gerne Blödsinn macht“. Gleichwohl ist er ein aufgeweckter und freundlicher Schüler, der sehr motiviert und an vielen Themen interessiert in der Schule mitarbeitet. Er hat eine schnelle Auffassungsgabe und arbeitet im Schriftlichen sehr genau. Und doch zeigt der vierzehnjährige Schüler immer wieder auffälliges Verhalten. Er stört häufig durch unangemessene Zwischenbemerkungen, kann positive Rückmeldungen nicht annehmen und wertet sich selbst ab. In Konflikten zieht er sich zurück, äußert gelegentlich suizidale Gedanken und spielt dann auch wieder den Klassenclown. Angefangene Aufga-

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ben bringt er häufig nicht zu Ende und seine Körperhaltung spiegelt Überforderung und geringe Frustrationstoleranz wider. Seine Äußerungen sind dominiert von realitätsfremden Inhalten. Ein solches, auf den ersten Blick eher inkonsistentes Verhalten lässt manche Lehrkraft schier verzweifeln. Dazu muss man wissen: Marlons Eltern kamen fünf Jahre vor seiner Geburt aus einem Kriegsgebiet nach Deutschland. Auch wenn Marlon nicht unmittelbar von Kriegserlebnissen betroffen war und die Flucht nicht miterlebt hat, ist von einer sekundären Traumatisierung durch die Familie höchst wahrscheinlich auszugehen. Die Mutter ist neben der Verarbeitung ihrer eigenen Situation mit dem lebhaften Kind überlastet und der Vater arbeitsbedingt viel unterwegs. Schon in seiner Kindheit war Marlon in sozialen Situationen überfordert. Es scheint, als versuche er, für ihn beängstigende Situationen durch verbale Aggression und alberne Verhaltensweisen zu bewältigen – daher wohl auch sein Impuls, den Clown zu spielen. „Atypischer Autismus“, so die Diagnose nach einer psychiatrischen Vorstellung, verschafft Marlon zwar professionellere Hilfe, scheint den Kern seines auffälligen Verhaltens allerdings nur bedingt zu treffen. Denn Marlon zeigt sich in Einzelsituationen oft reflektiert und steht gut im Kontakt mit seinem Gegenüber. Er nimmt Stimmungen im Unterricht wahr und zeigt ein hohes Maß an Empathiefähigkeit. Und hier gilt es zu differenzieren: Während bei Kindern, die dauerhaft traumatisierenden Erfahrungen ausgesetzt sind, das problematische Verhalten durchgängig zu beobachten ist, tritt es bei Kindern, die in vergleichsweise geringerem Ausmaß traumatisiert sind oder deren traumatische Erfahrung in der Vergangenheit liegt, stets dann auf, wenn ein bestimmter oder mehrere bestimmte Auslösereize, so genannte Trigger, wirksam werden. Zeigt sich ein Kind im Schulunterricht also weit überdurchschnittlich abwesend und verträumt, so sollte die Lehrkraft in Erwägung ziehen, dass die Ursache fehlender Leistungsbereitschaft in einem aktivierten Grundmuster als Folge traumatischer Erfahrungen liegen könnte. Ein solches Kind hat keine Chance, dem Unterricht zu folgen, da es mit dem eigenen Überleben beschäftigt ist, einem Bedürfnis, das alle anderen Bedürfnisse im wahrsten Sinne des Wortes in den Schatten stellt. Schule sucht vieles zu vermitteln, was aus der Sicht dieses Kindes mit seinem Streben besser überleben zu können, nichts zu tun hat. Kinder im Überlebensmodus blenden aus, was nicht der Befriedigung ihres existenziellen Bedürfnisses dient. Was versteht man unter Trigger? Der Zustand der Traumatisierung betrifft alle Dimensionen des menschlichen Erlebens. Er zeigt sich in spezifischen kognitiven Verarbeitungsmustern und auf al-

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len Kanälen des sensorischen Erlebens, häufig auch in besonderen Formen von hoher emotionaler Betroffenheit und in physischen Reaktionen, die nur aus dem Kontext der ursprünglichen Traumatisierung verstehbar sind. Die Verarbeitung eines Traumas wird einem Kind/ einem Jugendlichen folglich nur gelingen können, wenn dabei kein Erlebensbereich ausgeschlossen bleibt. Schule ist ein Ort, an dem kognitive, emotionale und physische Erfahrungen in fast allen Facetten vorkommen. Dementsprechend bietet sich im schulischen Alltag auch eine Vielzahl von Triggermöglichkeiten; gemeint sind Auslöser in der aktuellen Wahrnehmung, die unverarbeitete Traumaerfahrungen in das gegenwärtige Bewusstsein befördern. Trigger haben keine spezifische Bedeutung an sich, sondern erhalten diese für den traumatisierten Menschen in seinem subjektiven Erleben durch die Verbindung mit einem konkreten Aspekt aus der früheren traumatisierenden Erfahrung. Es lässt sich daher nicht vorhersagen, was sich wann für wen als Trigger manifestiert. Es mag das Rot des Bucheinbandes sein, das das Bild der blutigen Nase der vom Vater geschlagenen Mutter vor Augen führt, die Stimme des Lehrers, die an den Tonfall von Vater oder Mutter erinnert oder die Verwendung einer Substanz im Chemiesaal, deren Geruchsnote die Verbindung zu einer früheren bedrohlichen Situation heraufbeschwört. Wie kann eine Lehrkraft die Bedeutung von Stress in ihr pädagogisches Verstehen und Handeln hineinnehmen? Die Forschungserkenntnisse von Karl-Heinz Brisch sind für das Verständnis hilfreich. Knapp zusammengefasst sagt er: Sicher gebundene Kinder haben schon als Säuglinge gelernt, wie sie Stresssituationen gut bewältigen können. Ihre Eltern haben sie dabei unterstützt, Erfahrungen zu machen, wie sie sich selbst beruhigen bzw. sich selbst in einen guten Zustand bringen und sich trösten können. Die Stresskurve, das heißt die Kurve der situationsbedingten Intensität des Erregungs- und Anspannungsniveaus in einem definierten Zeitabschnitt, verläuft bei ihnen flacher als bei nicht sicher gebundenen oder bindungsgestörten Kindern. Von den Bezugspersonen wird nicht erwartet, jegliche Stresssituation vom Kind fernzuhalten – was ihnen im Übrigen auch kaum gelänge –, sondern in der Stress auslösenden Situation da zu sein und im Kontakt mit dem Kind dessen aktiviertes Bindungssystem soweit zu „bedienen“, dass die Erregung auf einem noch erträglichen und selbst kontrollierbaren Niveau bleibt. Die Erregung spielt sich, wie Brisch es nennt, innerhalb des ‚window of tolerance‘ ab. Nur so kann das Kind die Erfahrung machen, dass Stresssituationen nicht existentiell bedrohlich sein müssen. Es lernt, Auslöser für Stress zu erkennen, die dabei ablaufen-

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den emotionalen Prozesse bewusst wahrzunehmen und auf diese Weise sich zunehmend selbst in die Lage zu versetzen, Stress zu regulieren. Bei andauernd traumatisierten Kindern wird die Stresstoleranzgrenze überschritten, es kommt zu einer nicht kontrollierbaren Übererregung und wegen der fehlenden Entspannungsphasen schließlich zu einem Zustand der Erschöpfung. Situationen, die Stress auslösen, werden dann generell als Überforderung erlebt. Eine differenzierte Wahrnehmung hinsichtlich der damit verbundenen Bedrohung ist nicht mehr möglich. Kinder, denen die Erfahrung fehlt, ihr Stressempfinden so zu regulieren, dass es sich innerhalb des window of tolerance bewegt, geraten bei bereits geringfügigem Stress außer sich. Sie sind nicht in der Lage, angemessen zu reagieren und dem aktuellen Konflikt oder der belastenden Situation konstruktiv zu begegnen. Nehmen wir ein konkretes Beispiel: Im Klassenverband einer Schule, insbesondere einer Regelschule mit vergleichsweise vielen Kindern in einer Klasse, kommt es vor, dass Kinder auffällig werden, weil ein Trigger die Erinnerung an eine Traumatisierung ausgelöst hat. Werden sie nun wegen ihres Verhaltens aus dem Klassenzimmer verwiesen und dabei nicht begleitet, so bleiben sie mit dem aktuell sehr hohen Erregungsniveau sich selbst überlassen. Der Ausschluss aus der Klassengemeinschaft ist für sie in diesem Moment die schlimmste Strafe, da genau das, was ihnen geholfen hätte, den Stress zu regulieren, nämlich Bindung herzustellen, in diesem Moment verhindert wird. Kinder, die diese Erfahrung machen, kommen oft still wieder zurück – nicht, weil sie „zur Einsicht gekommen“ sind, sondern weil sie nach dem unerträglichen Zustand des Ausgeschlossen-seins wieder dazu gehören wollen. Traumatisierte Kinder müssen in solchen Situationen begleitet werden. Dazu bedarf es einer weiteren Fachkraft, zum Beispiel einer Erzieherin oder eines Heilpädagogen, die bzw. der dem Kind im Einzelkontakt erklärt, was es so sehr in Stress versetzt hat. Eine Form der Veranschaulichung wäre etwa, das Kind mit Hilfe eines dehnbaren Gummibandes darstellen zu lassen, wie sehr es unter Stress steht. Eine gute Lehrkraft ist in der Lage, zu unterscheiden, ob ein Kind in dem oben beschriebenen inneren Ausnahmezustand ist oder ob es lediglich kurzzeitig überfordert ist und deshalb den Unterricht stört. Im letzteren Fall genügt es oft, dem Kind kurz Ruhe oder eine Auszeit zu gönnen, damit es sich danach wieder einfügen kann. Dass es weitere Ursachen für störendes Verhalten im Unterricht, wie beispielsweise durch einen aktuellen Anlass induziertes Imponiergehabe oder Konzentrationsschwierigkeiten aufgrund von Schlafdefizit, geben kann, ist natürlich im Sinne einer differenzierten Betrachtung immer zu berücksichtigen.

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Wie sieht traumasensibilisiertes pädagogisches Handeln in Krisensituationen konkret aus? Traumapädagogische Haltung und traumapädagogisches Arbeiten lassen sich konzeptionell entwickeln und im schulischen Alltag geplant und systematisch verwirklichen. Zu einem traumapädagogischen Konzept gehört jedoch auch, dass es normal ist, dass Krisen auftreten, in denen unmittelbares Handeln der anwesenden Person oder Personen gefordert ist. Noch so sensible traumapädagogische Haltung und Vorgehensweisen können akute Krisen nicht immer verhindern. In Krisen gilt es, Gewalt zu beenden, auch weitere zu vermeiden und zugleich die im krisenhaften Verhalten „codierte“ Botschaft des Kindes bzw. des Jugendlichen ernst zu nehmen. Dazu ein Beispiel: Ein Schüler gerät auf dem Schulhof außer sich und beschimpft eine Lehrerin; er greift sie körperlich an und tritt mit Füßen nach ihr. In einer solchen Situation muss schnell weiteres Pausenaufsicht-Personal einschreiten und den Angreifer von der Lehrerkraft trennen. Die im gewaltsamen Verhalten verborgene Botschaft gilt es zu enträtseln. Sie könnte etwa heißen: „Helft mir, ich kann meine Wut nicht kontrollieren. Ich kann mich, wenn ich unter Stress komme, nicht regulieren. Ich habe eine Affektund Impulskontrollstörung.“ Kinder und Jugendliche mit solchen Verhaltensmustern haben ein enges Stresstoleranzfenster, innerhalb dessen sie sich bewegen. Sie haben in der üblicherweise in der Kindheit stattfindenden Reifungsphase des Stresssystems keine adäquaten Regulierungsroutinen ausgebildet. Manche bedauern ihr Verhalten gleich nach dem Vorfall, manche aber auch nicht. Letztere haben aufgrund ihrer Erfahrungen unter Umständen kein Rechts- oder auch Unrechtsempfinden entwickelt. Ihr Verhalten lässt sich mit den Kriterien des konstruktiven Zusammenlebens nicht vereinbaren. Wenn Kinder mit Schuld, Entbehrung oder Abwertung und daraus folgender Selbstabwertung schon früh sehr belastet waren, kann sich kein wertesicheres Gefühl entwickeln. Innerpsychische Kohärenz und Stabilisierung stellt sich dann ersatzweise dadurch ein, dass Muster abgerufen werden, die etwa suggerieren, „dass man das eben darf“, „dass man sich nehmen darf, was einem gehört“. Parallel dazu entwickelt sich oft ein sogenannter „Täteranteil“, der die Selbstabwertung mit der Stärke und Macht, die das Kind bzw. der Jugendliche von anderen, subjektiv beeindruckenden Erwachsenen als Vorbild übernimmt, zu kompensieren versucht. Dies können Eltern, aber auch Personen bzw. sogar imaginäre Figuren aus der ganzen Vielfalt des Medienbereichs sein. Hat man dies verstanden, ist auch in einer traumainduzierten Krise planvolles und professionelles Handeln möglich. Beispielhaft sei dazu angeführt:

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• Das Wissen darum, dass das aktuelle aggressive Verhalten eigentlich nicht mir

gilt, sondern in einen anderen Kontext gehört, hilft dabei, die eigene persönliche Betroffenheit als Lehrkraft gut zu kontrollieren und die nötige innere Distanz herzustellen. • Alle vertrauten Formen der Deeskalation wie etwa ruhiges Atmen, Sprechen mit ruhiger und fester Stimme in normaler und modulationselastischer Stimmlage, Verwendung einer klaren Sprache, Vermeidung schneller oder abrupter Bewegungen, Suchen des Blickkontaktes sind grundsätzlich hilfreich. • Das Aussprechen von Konsequenzen für das Verhalten wird auf einen Zeitpunkt verschoben, an dem der Zustand der Übererregung deutlich abgeklungen ist. Die Konsequenzen müssen in einem verstehbaren Zusammenhang mit dem Verhalten stehen. Was kann eine Lehrkraft tun, um präventiv ein Klima für die gute Entfaltung eines Kindes herzustellen? Bestimmte Aktivitäten wirken dem Abdriften in den Überlebensmodus entgegen, insbesondere solche, die ein subjektives Gefühl der Sicherheit schaffen, angenehme Emotionen hervorrufen und das bewusste Erleben im Hier und Jetzt verankern. Sie unterstützen die Fähigkeit des Kindes, sich dem gegenwärtigen Geschehen zu öffnen bzw. sich von der latenten Angst vor vermeintlich existenzieller Bedrohung zu befreien. Dabei ist die personale Lehrer-Schüler-Beziehung von enormer Wichtigkeit. Die personale Beziehung ist die sichere Grundlage, auf der sich Prozesse des Lernens und der Lebensentfaltung aufbauen lassen. Ein Aspekt dieses Beziehungsverhaltens lässt sich beispielhaft neben anderen Aspekten so beschreiben: Das Kind ansehen, ohne es gleich zu bewerten, ihm damit im übertragenen Sinne „Ansehen“ geben und ihm unbedingte Wertschätzung entgegenbringen; Kontakt suchen, ohne diesen Kontakt gegen den Willen des Kindes erzwingen zu wollen; dies gilt insbesondere für die Aufnahme von Blickkontakt. Ist dieser Kontakt einmal hergestellt, gilt es, die Verbindung durch Alltagserfahrungen zu festigen. Das wiederum passiert etwa dann, wenn man gemeinsam an einer Aufgabe arbeitet, gemeinsam Ideen entwickelt, gemeinsam spielt und auf diese Weise dem Kind die Gewissheit vermittelt, Teil eines Ganzen zu sein und sich bedeutsam und wertvoll zu fühlen. Auch wertende Fremd- und Selbstzuschreibungen spielen eine bedeutsame Rolle. Wichtig ist dabei, in wieweit die Botschaften aus dem Umfeld als stimmig und ohne innere Widersprüchlichkeiten erlebt werden. Beispiele für konstruktive Signale zur Stärkung der Persönlichkeit im Umfeld der Schule sind

432 | M ARIA JOHANNA F ATH • die Würdigung und Anerkennung der Lebensleistung des Kindes; dies umso













mehr, je gravierender die negativen Einflüsse im Umfeld des Kindes waren, denen es standgehalten hat die Förderung eines positiven Selbstbildes, indem der Zugang zu neuen Erfahrungen eröffnet wird, die die eigene bisher verfügbare Erfahrungswelt bereichern und erweitern können die Veränderung negativer, oft im primären Erziehungssystem übernommener Skripts mit Selbstabwertungen wie „Ich bin nichts und kann nichts“. Daraus sollte werden ein „Ich achte Dich, so wie du bist; Ich glaube an dich.“ Oder „Du kannst das…!“ die Relativierung generalisierter Selbstzuschreibungen, im Sinne der so genannten Teilearbeit: „Nimm wahr, ein Teil von Dir sagt das, ein anderer Teil sieht das vielleicht ganz anders…“ oder „Ich kenne von Dir auch den freundlichen Teil und jetzt zeigt sich gerade der Wüterich.“ die Würdigung von Erfolgen. Für Jugendliche ist es in der Phase der Identitätsfindung als erwachsene Person besonders wichtig, Erfolge zu feiern; dazu gehört etwa eine Schulabschlussfeier. Eine aufwändig gestaltete Feier in der Öffentlichkeit wird großen Anteil an Aufbau und Stärkung des Selbstwertgefühls haben und als Meilenstein einer positiven Entwicklung abgespeichert werden. die Ermunterung, sich Hilfe zu holen. Trotz ihrer zunehmenden Mündigkeit müssen Jugendliche oft ermuntert werden, um Hilfe zu bitten. Als traumatisierte Kinder und Jugendliche im Überlebensmodus haben sie gelernt, dass sie auf sich alleine gestellt sind. die Bildung von Netzwerken unter allen am Entwicklungsprozess des Kindes Beteiligten: Lehrer, Eltern, Erziehungskräfte tauschen sich unter weitest gehender Einbindung des Kindes hinsichtlich der für dessen Entwicklung relevanten Informationen zeitnah aus und schaffen Transparenz; Schülerinnen/Schüler nehmen bei Eltern-/ Lehrergesprächen teil; die Beteiligung des Kindes bzw. des Jugendlichen wird unter Berücksichtigung von Alter und Entwicklungsstand so intensiv wie möglich und zunehmend umgesetzt.

Lesen, Schreiben, Rechnen – Wie verträgt sich die Vermittlung dieser zentralen Kulturtechniken mit dem Ziel der Stabilisierung eines seelisch verletzten Kindes? Die Vermittlung von Kulturtechniken und die Stabilisierung eines seelisch verletzten Kindes finden auf zwei unterschiedlichen Ebenen statt, die in keiner Weise im Widerspruch zueinanderstehen müssen. Entscheidend ist, dass Lernprozesse angstfrei gestaltet werden und möglichst viel mit dem Neugierde-Potenzial

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eines Kindes in Berührung kommen. Persönlichkeitsstabilisierung und -entfaltung im umfänglichen Sinne bedürfen aber der Ergänzung durch die große Bandbreite musischer und kreativer Angebote. Der Trend in der Schule, die musischen Fächer zugunsten der klassischen „Haupt“-Fächer mehr und mehr zu reduzieren, erschwert es den Kindern, insbesondere wenn sie traumatisiert, seelisch verletzt und im Inneren zutiefst verunsichert sind, sich Neuem zu öffnen und ihre Potenziale zu entfalten. Kinder empfinden Freude an allen musischen Aktivitäten. Dies liegt an der hohen positiven emotionalen Aufladung, die diese Aktivitäten vermitteln. Im Besondern gehören dazu, • Bewegung, etwa bei Aktivitäten wie Schulsport, Tanz, Bewegungsspielen oder

auch Exkursionen • Musik, etwa in Form von Singen, Erleben von Rhythmus – Trommeln oder

Spielen von anderen Musikinstrumenten • Malen, Zeichnen, und damit verbunden die Stärkung der Vorstellungskraft;

nicht selten entstehen dabei positive innere Bilder, die nach außen Gestalt bekommen und auf diese Weise innerlich Halt geben können. Auch ästhetisches Empfinden als strukturierendes Element kann in einer Schule die Lernatmosphäre positiv beeinflussen. Häufig unterschätzt wird die Bedeutung einer ansprechenden Gestaltung eines Schulhauses einschließlich der Klassenräume. Dazu gehört eine hohe Sensibilität für die Vermeidung von Beschädigungen bzw. deren sofortige Beseitigung, sollten sie dennoch vorkommen. Die Ausstattung mit ansprechenden Materialen und aufeinander abgestimmten Farben sowie die Einrichtung der Räume jenseits purer Funktionalität haben positive Effekte auf das ganzheitliche Erleben. Ästhetische Gestaltung und Ordnung verleihen den Räumen Struktur; sie schaffen Orientierung, indem sie Unterschiedliches sichtbar voneinander abgrenzen und durch die Setzung harmonischer Akzente beruhigen. Neben der methodischen und inhaltlichen Gestaltung des Unterrichtsgeschehens kommt jedoch der dialogisch-pädagogischen Dimension der Lehrerpersönlichkeit besondere Bedeutung zu. Was steckt dahinter? Traumatisierte Kinder haben eine hochsensible Wahrnehmung für die Qualität einer Beziehung. Was für sie in einem anderen Kontext überlebenswichtig ist, nämlich ständig wachsam zu sein, um unaufrichtige und schädigende Beziehungen schnell identifizieren zu können, ist für sie auch der Maßstab für die Qualität der Beziehung zu einer Lehrkraft in der Schule.

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Umso mehr ist die Lehrkraft bei der Arbeit mit traumatisierten Kindern als authentische und kompetente Persönlichkeit gefordert. Dimensionen pädagogisch-professionellen Handelns, welche für das Gelingen der Begegnung mit traumatisierten Kindern besonders wichtig sind, zeigen sich vor allem in bestimmten Grundhaltungen, die auf entsprechendem fachlichen Wissen aufbauen. Sie lassen sich folgendermaßen skizzieren: • Die Lehrkraft handelt souverän. Sie ist mit all ihren Persönlichkeitsanteilen









vertraut, kennt die eigenen Stärken und Schwächen und nimmt diese mit Gelassenheit und zugleich selbstbewusst an. Sie strebt nach Autonomie und orientiert sich an einem Wertesystem, das stimmig ist, und reflektiert diesbezüglich aufkommende Widersprüchlichkeiten. Die Lehrkraft hat ein gutes Gespür für die situationsgerechte Gestaltung von Nähe und Distanz. Sie ist in der Lage, ihrer Rolle stets treu, das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit zu vermitteln und zugleich das Streben der Kinder nach Autonomie und Freiheit zu unterstützen. Lernprozesse werden von ihr angestoßen, aber nicht dominiert. In der Begegnung mit den Kindern zeigt sie sich stets achtsam, wertschätzend und unterstützend. Die Lehrkraft glaubt an die Fähigkeit der Kinder, sich aus sich heraus weiter zu entwickeln und Lernprozesse selbstständig zu initiieren. Ihre Haltung den Kindern gegenüber ist – um es mit den Worten des Hirnforschers Gerald Hüther zu sagen – einladend, ermutigend und inspirierend. Aufgrund ihres authentischen Auftretens ist die Lehrkraft für die Kinder berechenbar. Sie vermittelt Struktur und schafft Verbindlichkeit. Sie hält sich an vereinbarte und ausgehandelte Regeln und setzt deutliche Grenzen dort, wo jegliche Art von Gewalt, sei sie symbolisch, verdeckt oder offen, droht oder ausgeübt wird. Bei deutlichen Regelverletzungen und Grenzüberschreitungen in der Beziehung zu anderen zieht sie klare Grenzen, etwa mit den Worten: „Ich möchte nicht, dass Du mit mir so umgehst. Deshalb fordere ich Dich auf, Dich an die Regel zu halten!“. Die Lehrkraft verfügt über ein traumapädagogisches Fachwissen. Sie weiß um die möglichen inneren Nöte eines traumatisierten Kindes und kann sein Verhalten adäquat einschätzen. Sie ist sich dessen bewusst, dass eine bestimmte Verhaltensweise, für das Kind einen guten Grund hat, weiß also auch, Traumafolgestörungen von anderen Herausforderungen zu unterscheiden. Aufgabe der Lehrkraft ist es oft, solche Verhaltensweisen zu „enträtseln“. Sie kennt grundlegende Techniken der psychischen Stabilisierung, etwa im Sinne der Reorientierung sowie der Kontrolle von Trauma-induzierten Erlebens- und Verhaltensweisen, etwa in Form so genannter Flashbacks.

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• Die Lehrkraft vermittelt Zuversicht. Ihre Haltung ist fürsorglich und zugleich

fordernd. Sie ist nicht überbehütend, etwa mit dem Ausdruck, „Du armes Kind, was hast Du Schlimmes erlebt“, sondern mit der Botschaft „ich glaube an Dich, du kannst das, Du kannst mehr, Du bist wertvoll…“ oder: „ich möchte, dass Du das versuchst…“ • Die Lehrkraft hat einen Blick und ein gutes Gespür für die Klasse als System. Im schulischen Alltag kann es sich daher anbieten, dass die Lehrkraft zu Beginn eines Schultages oder am Anfang einer Unterrichtsstunde mit den Kindern, von denen die meisten Störungen zu erwarten sind, Kontakt aufnimmt, gewissermaßen, um ihnen zu signalisieren: „Ich sehe Dich…“ • Die Lehrkraft nimmt zur Erhaltung der eigenen psychischen Stabilität und Gesundheit die Begleitung Außenstehender in Anspruch. Sie öffnet sich in geeigneten Formen der Supervision und/ oder der kollegialen Beratung. Auf diese Weise beugt sie auch der Gefahr einer Sekundärtraumatisierung vor. Gemeint ist damit, dass Personen, die mit traumatisierten Menschen arbeiten oder sie begleiten, in der Gefahr stehen, sekundär dieselben Symptome zu entwickeln wie Personen, die direkt von einem Trauma betroffen sind. • Die Lehrkraft kennt das regionale Netzwerk zur Unterstützung bei traumaspezifischen Fragen und nutzt es als eine wichtige Ressource. In jede Lehrerausbildung gehört die Vermittlung fundierten traumapädagogischen Grundwissens. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse sind Grundlage dafür, das konkrete Erleben mit traumatisierten Kindern zu verstehen. Ergänzend dazu ist es wichtig, in der kollegialen Fallberatung oder in einem von außen begleiteten supervisorischen Prozess die Sensibilität für den Umgang mit traumatisierten Kindern zu schärfen. Die dabei gewonnene Sicherheit ist der Schlüssel für einen achtsamen Zugang zur inneren Welt des Kindes. Idealerweise entwickelt sich daraus die stärkste mögliche Unterstützung für junge Menschen mit Traumatisierung: die menschliche Begegnung; und um der Intensität dieser Art der Beziehung gerecht zu werden, könnte man auch sagen, die Liebe, in der die Rollen der Beteiligten klar bleiben und die entsprechenden Umgangsregeln beachtet werden. Diese Beziehung ist immer das Angebot einer Person und damit persönlich, aber nie privat. Sie bewirkt nicht zuletzt wegen ihrer Ganzheitlichkeit und der mit ihr einhergehenden Geduld nachhaltige Veränderung.

Zur Topographie der Vulnerabilität Eine schultheoretische Betrachtung M ONIKA J ÄCKLE Traumatische Lebenserfahrungen erfassen die gesamte personale Leiblichkeit/somatische Persönlichkeit und gehen daher oftmals mit Leistungsbeeinträchtigungen und Lernunfähigkeit einher. Um zentrale Bedingungen schulischen Lernens (einschließlich Lernbereitschaft und Lernfähigkeit) angemessen einfangen zu können, sind Lernprozesse in der Schule systematisch auf allen theoretischen Ebenen zu berücksichtigen und stets in ein Netz pädagogischer, entwicklungspsychologischer, soziologischer und machtkritischer Kontexte zu stellen. Ebenso bedarf es insbesondere für vulnerable Kinder und Jugendliche Lernen als relationale, dialogische und somatische Erfahrung zu fassen, was ein kognitivistisch verengtes Lernverständnis für die Schule weitet. Es gehört zur Aufgabe der Schule als zentrale Bildungsinstitution ihnen einen bildenden Resonanzraum anzubieten, Lernen über eine dialogische Beziehung zu ermöglichen. Als Ort gemeinsamen Lernens und alltäglicher Beziehung ist die Schule ein Lern- und Lebensraum, der individuelle und soziale Bildungsprozesse anregt, dabei die Entfaltung und Erprobung eigener Fähigkeiten und Fertigkeiten ermöglicht; ein Erprobungsort, der Könnenserfahrungen unterstützt, zum individuellen Gestalten aufruft, Eigenständigkeiten fördert und sinnhafte Orientierung gibt; eine Begegnungsstätte, die Beziehungen zu Gleichaltrigen ermöglicht und zum sozialen Aushandeln befähigt; ein Ort geistiger, leiblicher, emotionaler und sozialer Auseinandersetzung zum Ziele der Mündigkeit. Die Schule ist aber auch eine Institution, die Lebenschancen vereitelt, Selbstwertkrisen auslöst, Eigensinn normiert, ‚Bildungs‘Standards setzt, Ängste schürt, durch Zwänge reglementiert, Körper diszipliniert und dabei verletzende Ausschlüsse praktiziert. Die Bedeutsamkeit dieses alltagstheoretisch skizzierten schulischen Hintergrundes in Gestalt schulischer Ambivalenzen wird dann virulent, wenn die Frage nach den Bedingungen gestellt wird und wenn es auf den ‚Hintergrund‘ ankommt, also auf den pädagogischen, organisatorischen wie auch dialogischen

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Kontext, der stützend und stärkend oder auch schwächend und entwertend sein kann. Drewes und Schedlich sprechen diesbezüglich treffend von Schule als „Chance und Risiko für traumatisierte Kinder und Jugendliche“ (2013: 277). Die bereits von einschlägigen Philosophen und Pädagogen wie Ivan Illich, Paulo Freire und Hartmut von Hentig formulierten Einwände werden von den Rändern (bzw. von der Perspektive derer, die am Rande stehen) her gedacht und beziehen sich heute darauf, dass Schule junge Menschen nicht erreicht, wenn sie diese ausschließlich als Kompetenz-Subjekte sieht, indem Schüler_innen durch die Schleuse eines didaktisch aufbereiteten Materialkonsums in gleichzeitiger Standardisierung von individuellen Lernprozessen geführt werden, bei dem letztlich nur die Unterrichtsqualität in Form des Outcomes interessiert. Schule kann ein möglicher Ort sein, an dem biografisch schwer belastete Kinder und Jugendliche Erfahrungen von Stärkung, von sozialer Akzeptanz, von Sinnstiftung und Ich-Erfahrung machen können. Damit kann Schule „[...] als Fluchtpunkt, als Nische, als Insel der Ordnung und der Struktur in einem sonst eher chaotischen Alltag, als Ort der persönlichen Zuwendung, der Einbindung in Freundschaftsbeziehungen und der Bestätigung eigener Werthaftigkeit erlebt werden [...]“ (Göppel 1999: 178). Welche Bedingungen die Schule Kindern und Jugendlichen mit vulnerablen Lebenserfahrungen zur Verfügung stellen kann, damit die alltägliche BildungsPraxis zu einem zentralen stärkenden Baustein im Feld subjektiver Entwicklung werden kann, wird im Folgenden systematisch entlang einer schultheoretischen Rahmung (Wiater 2009) vorgenommen, die ebenso unterrichtstheoretische Aspekte wie auch Theorien und Formen pädagogischen Handelns berücksichtigt: So wird Schule unter einem „mehrebenen-analytischen Ansatz“ (eb.: 7) betrachtet, der die jeweilige Relevanz im Umgang mit Leid auf der Makroebene (Funktionen und Aufgaben von Schule), auf der Mesoebene (Schulkultur) und auf der Mikroebene (Schule als Erfahrungsraum) für ein schulpädagogisches Handeln aufzeigt. Trauma im Begriff der Verwundung für Erziehungs- und Bildungsprozesse sichtbar zu machen, bedeutet, die Figur des ‚Leides‘ als ,anthropologische‘ Verfasstheit menschlicher Verletzbarkeit zu begreifen, den gesellschaftlichen Kontext der Sozialität von Leid zu berücksichtigen und damit die Bedingungen von Gefährdung verstärkt in den Blick zu nehmen, die Ausdrucksformen im Verhalten zu erkennen und die somatischdialogische Dimension des Erlebens zu berücksichtigen.

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Vulnerabilität als Dimension der Institution Schule Funktionen von Schule oder: Wie positioniert sich Schule im Spannungsfeld aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen? Die Schule ist als Lebens- und Erfahrungsraum Ort der Bildung, an dem junge Menschen in einem gemeinschaftlich-demokratischen Rahmen personale Bildungserfahrungen machen, die sie mit Wissen, Können und Wertehaltungen ausstatten, um am sozialen, kulturellen und beruflichen Leben in der Gesellschaft teilhaben und mitwirken zu können. Dieser funktional aufgeladene Satz, der die verschiedenen schulischen Funktionen (Personalisationsfunktion, Sozialisationsfunktion, Qualifikationsfunktion, Enkulturationsfunktion; vgl. Wiater 2009: 110ff.) anspricht, mündet letztlich in der Frage: Wozu ist die Schule da? Oder: Wie ist Schule für biografisch belastete Kinder und Jugendliche da? Schule soll stärken, Halt geben und über Bildungsprozesse zur Beantwortung der Fragen anstoßen: „Wer bin ich?“ „Wozu sind wir da?“ „Was können wir tun?“ Oder wie Hartmut von Hentig pointiert zur Sprache bringt: „Die Menschen stärken, die Sachen klären.“ (Hentig 1985) Schule ist daher weder integrierende Kompensationsstätte noch einseitige Lehranstalt. Sie ist Schauplatz, an dem unterschiedliche Anforderungen, spannungsreiche Erwartungen und Interessen von Politik, Wirtschaft, Kultur, Religion zusammentreffen. Hier muss sich Schule und Unterricht im Zuge ihrer pädagogischen Legitimation damit auseinandersetzen, ob und wie sie auf institutionelle Zwänge, auf gesellschaftliche Kräfteverhältnisse und ihre Praktiken der Beschleunigung, Entwertung, Optimierung, Funktionalisierung und Entfremdung antworten möchten. Das Handlungsfeld Schule ist heute im Zuge bildungspolitischer, schulorganisatorischer und didaktischer Entwicklungen Knotenpunkt einer neoliberalen Menschenführung.1 Daher ist es von großer Bedeutung, die gesellschaftlichen Machtverhältnisse und Interessenslogiken zu artikulieren, da sie die schulpädagogische BildungsPraxis für vulnerable Kinder und Jugendliche maßgebend durchdringen und mitbedingen. So sind die drei aktuell herrschenden Diskurse in den Blick zu nehmen, durch deren alltägliche institutionelle Praktiken Schule junge Menschen als produktive Kompetenz-Darsteller (,Kompetenzdiskurs‘), als inkludierte Exklusive (,Inklusionsdiskurs‘), als Gehirne, die lernen (‚Neurodidaktikdiskurs‘) adressiert. Der verbindende Zusammenhang dieser diskursiven Figuren für ein pädagogisch-didaktisches Handeln zeigt sich in einem systemischen ‚Offenhalten‘ der Wunde, in einem Aufrechterhalten von Unsicherheit durch herrschende Diskurse und ihre Effekte einer Funktionalisierung

1

Vgl. Jäckle (2015).

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von Bildung. So steht die Forderung von Bohnsack, Schule solle sich an der „personalen Stabilität“ (Bohnsack 2009: 387) orientieren, diametral gegenüber der Forderung nach einer effektiv verwertbaren standardisierbaren „pädagogischen Währung“ (Radtke 2013: o. S.). Denn: „Wenn Regulierungen überborden, erstickt das Recht der Jugend auf eine offene Zukunft, das ein Recht auf Zweifel, wirkliches Verstehen, auf umwegreiche Annäherung, auf Langsamkeit und die Durchdringung individueller Betroffenheiten und Schwierigkeiten ist.“ (Gruschka u.a 2005: o. S.) Diese drei dominanten Diskursfiguren stellen nicht nur alltägliche ,Identitäts‘zuweisungen dar, die verletzend, da gewaltvoll sein können, sondern können unter Umständen als Topographien des Vulnerablen bzw. Traumatischen fungieren. Zudem modellieren sie in ihrer Verschränkung das schulische Handlungsfeld, welches insbesondere für Kinder und Jugendliche mit disparaten, ambivalenten, brüchigen und leidvollen Lebensbiografien die Kette hochvulnerablen Erlebens aufrechterhalten kann. Dabei wird Schule als Institution aber auch als Handlungseinheit und als erlebter Erfahrungsort zu einem entscheidenden Dreh- und Angelpunkt für ein erweitertes Verständnis von Trauma als dispositive Matrix der Vulnerabilität, d.h. als machtvolle Subjektivierung und als Existenzweise in einem Netz von Praktiken, Wissenskonzepten, Diskursen und Institutionen. 1) Trauma im Verständnis eines fluktuierenden Gegenwärtigkeitsschleiers, als eine „traumatische Dimension“ (Wuttig 2016: 279) bzw. als „Hintergrundgeräusch“ (Cvetkovich 2003; zit. n. Wuttig 2016: 258) hegemonialer Diskursverschränkungen meint, dass sich Trauma durch die Allgegenwärtigkeit von sinnbehafteten und verkörperten ‚Identitätssetzungen‘ stabilisiert, die zu unterwerfenden, verletzenden Adressierungen führen. Mit anderen Worten: Die uns sinnhaft umgebende Welt mit ihren als ‚wahr‘ gesetzten diskursiven Ordnungen („Schüler_innen, die Wutausbrüche bekommen, müssen diszipliniert werden“ oder „Ich traue Jonas das nicht zu, da er ja Schlimmes erlebt hat.“ „Ich halte mich als Lehrerin zurück, schließlich bin ich keine Traumaexpertin bin.“) strukturieren und beeinflussen nicht nur unser Handeln als Lehrer_innen, sondern machen Trauma zu einem machtvollen sozialen Phänomen menschlicher Vulnerabilität. 2) Trauma im Verständnis als sequentieller Prozess (Keilson 1979) öffnet den Blick auf das Danach eines Ereignisses, d.h. auf die Kette der nachfolgenden Erfahrungen in einem Kontext, die entscheidend und maßgebend sind, ob und wie ein einbrechendes Erlebnis verarbeitet werden kann. Ist Schule Teil einer folgenden Vulnerabilitätskette, indem sie stigmatisiert, ausgrenzt und Kinder vulnerabel behandelt oder ist sie imstande, verletzende Erfahrungen in Bildungsprozesse mitzuverwandeln?

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Aufgaben der Schule oder: Welchen Handlungsauftrag haben Lehrer_innen im Umgang mit hochvulnerablen Kindern und Jugendlichen? Aus den oben skizzierten Funktionen der Schule leiten sich Aufgaben2 ab, die Lehrer_innen in und durch ihr pädagogisch-didaktisches Handeln umsetzen und die nun im Folgenden unter einer Spezifik der Verletzlichkeit betrachtet werden mit der Frage: Welche pädagogisch-didaktisch-professionellen Unterstützungsleistungen (in schultheoretischer Hinsicht) brauchen vulnerable Kinder und Jugendliche, um im Unterricht da-sein zu können und am Schulleben Teil haben zu können und um nicht institutionell noch weiter von der Schule ‚vulnerabilisiert‘ zu werden? Erziehender Unterricht Könnenserfahrungen in Schule und Unterricht sind wichtige Ressourcen für die eigene Lebensbewältigung und basaler Teil schulischen Lernens im erziehenden Unterricht. Während im Unterricht über die Begegnung mit Inhalten, über die Orientierung an Regeln und Ritualen sowie über das personale Engagement des Lehrers erzogen werden (Wiater 2009: 71ff.) kann, ist die Lehrerpersönlichkeit dabei der wichtigste Erziehungsfaktor, um „vertrauensvolle Bindungen aufzubauen und gleichzeitig kritische Autonomie hervorzurufen“ sowie Schüler_innen behutsam bei ihren inneren Wachstumsprozessen zu begleiten (Dauber 2001: 8f.). Ein Erziehungsverständnis vulnerabilitätssensiblen Handelns in Schule und Unterricht wird in der Metapher des Bergführers/der Bergführerin (Treml 2000: 176ff.) (und nicht in der Metapher des Gärtners oder Bildhauers) deutlich, welche sich indirekt auf Theodor Litts Dialektik von Führen und Wachsen bezieht (Wiater 2007: 329): Diese Metapher meint, dass junge Menschen sich einen Bergführer/eine Bergführerin auswählen, der/die ihnen eine begleitende Orientierung in Raum und Zeit gibt, die bei akut aktivierten Überlebensstrategien auch ‚führend‘ (und gleichsam machtsensitiv) sein kann, um beispielsweise zu beruhigen, ins Hier und Jetzt zu kommen oder in Bewegung zu bringen (Weiß 2014: 128) oder Grenzen aufzuzeigen. Darin zeigt sich die Notwendigkeit verletzungssensiblen Handlungswissens im Unterrichtsalltag: Kinder und Jugendliche ins Hier und Jetzt zu bringen, Sicherheit zu vermitteln, damit sie wieder Fuß fassen können, das pädagogische Verhältnis zu aktivieren und zuletzt ggf. ,aktuelle Wetterverhältnisse‘ zu klären. Dies gründet u.a. auf Ortskundigkeit und Orientiertheit, auf wetterbeständiger Ausrüstung und stärkenden Reserven sowie auf Achtsamkeit, Kontaktfreudigkeit und Belastbarkeit. Darin zeigen sich traumas-

2

Vgl. hierzu Quack und Fremmer i.d.B.

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pezifische Haltungen und Kompetenzen seitens der Lehrkraft, durch die Entscheidungen getroffen werden können, ob, wann, wie und in welche Richtung vulnerabilitätssensible Interventionen angesagt sind (Treml 2000: 176ff.). Diese vollziehen sich fernab von „Erfolgsgarantien“ und „kontinuierlichen Qualitätssteigerungen bei der Persönlichkeit“ (Wiater 2007: 329) und basieren vielmehr auf einer bestätigenden und präsenten Zugewandtheit und Anerkennung durch die Lehrkraft. Bildendes Lernen Der Bildungsbegriff wird im Folgenden für ein traumarelevantes Verstehen von Bildungsprozessen zweifach aufgespannt: als ein ,sich mit Anderen und den Dingen der Welt in Beziehung Setzen‘ und als eine personale Stärkung. Bildung kann einerseits aus einer aktuell bildungstheoretischen Sicht mit Momenten der Krise, der Differenz, der Fremdheit und der Grenzerfahrungen gedacht werden. So kann eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen einem kulturwissenschaftlich verwendeten Trauma- und Bildungsbegriff festgestellt werden, insofern existenzielle Grenzerfahrungen als Krisenerfahrungen nicht in biografisch sinnhafte diskursive Ordnungen eingebaut werden können. Hierbei wird Trauma wie auch Bildung als Differenzerfahrung, genauer gesagt als (sinnlich-somatischer wie auch sozialer) Einbruch ,identitärer‘ Kohärenz und Kontinuität konzipiert. Bildende Erfahrungen in der Schule sind in den differenten Erfahrungsräumen zu verorten, indem traumatisierte Kinder und Jugendliche in den Kreislauf der Sozialität und Verbindungen eintreten können und Orte des Sprechens finden können, um so in die gemeinsam geteilte Lebenswelt (wieder) einzutreten und einen Platz zu bekommen – durch materiale Bildungsangebote der kulturellen Lebenswelt (sei es ästhetisch-musisch über Bach oder körperlich-leiblich über Fußball) ebenso wie über die dialogische Dimension bildender Resonanz. Bildung kann andererseits als Wachstumsprozess in der Auseinandersetzung mit Welt beschrieben werden, der sinnhafte Erfahrung mit Dingen ebenso braucht wie einen sinnvollen Dialog mit Menschen, um eigenSINNige Kräfte zu entwickeln: Dadurch wird deutlich, dass es nicht nur darauf ankommt, welches Wissen und Können man hat, sondern darauf, wer man ist und wer man werden kann. „Bildung ist wie Erziehung ein ständiger Prozess von Ergreifen und SichErgreifen-lassen, in der Bindung an einzelne Menschen und dem Kampf um die eigene Autonomie; in der Verankerung in den Traditionen und der Neuschaffung der sozialen und kulturellen Welt.“ (Dauber 2001: 5) Hierzu braucht es Lehrer_innen, die nicht in hippen Rollen als Lerncoaches oder Lernmanager aufgehen, sondern in der Lage sind, Kinder und Jugendliche in ihrem So-Sein zu bestätigen, sie als präsentes Gegenüber in konfliktträchtigen wie auch in ausgelas-

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senen Situationen zu begleiten, die sich ihnen in ihren persönlich bedeutsamen Bildungserfahrungen reflexiv zuwenden und Sinnbildungsprozesse als kritisches und stabiles Gegenüber anstoßen. „Und wenn Bildung etwas mit Sinn, mit Sinnverstehen und Sinnstiftung zu tun hat, dann müssen Orte des Sinnerlebens ermöglicht werden.“ (Höltershinken 2013: 19) Dies wird in besonderer Weise für junge Menschen mit leidvollen Erfahrungen bedeutsam. Denn: „Ein Mensch ohne Erleben von Sinnhaftigkeit wird das Leben in allen Bereichen nur als Last empfinden und jede weitere sich stellende Aufgabe als zusätzliche Qual.“ (Bengel u.a.: 2001: 30). Traumatisierte Kinder und Jugendliche befinden sich oftmals in einem unterbrochenen Suchprozess nach Sinn. Schule und Unterricht kann hier eine Brücke bauen, einen „potential space“ (Winnicott 1971: 121ff.) des ,Zwischen‘ ermöglichen, indem sie Kindern und Jugendliche einen bildenden Resonanzraum anbietet, um sich selbst, Andere und die Welt zu verstehen und daraus gestaltend einwirken und teilhaben zu können: So braucht es Unterrichtsarrangements, die zunächst durch pädagogische Praktiken an den Lernbedingungen ansetzen und in einem weiteren Schritt Bildungsvorgänge in den verschiedensten Dimensionen menschlichen Lernens eröffnen. In Anlehnung an Weber (1999: 52-92) bieten folgende Merkmale bildenden Lernens Möglichkeiten im Unterricht, über eine sichere soziale Bezogenheit sowie über Inhalte am Leben verstehend und gestaltend mitzuwirken: • Freiheitlich und befreiendes Lernen: aktiv, selbsttätig und selbstwirksam in









die Welt ,eingreifen‘ und über Spiel und Ernsthaftigkeit ein Stück Eigenmächtigkeit zurückerlangen, bedeutet, über sich selbst etwas erfahren, was Freude bereitet, wo Bedürfnisse und Fähigkeiten liegen Kognitives und reflexives Lernen: die Möglichkeit sich selbst und andere (im Sinne der Perspektivierung und Mentalisierung) immer besser reflektierend zu verstehen Identitätsstiftendes Lernen: über Identifikation mit anderen und Fremden ein Wissen, Verständnis und Gefühl über sich selbst über Resonanzen und Rückmeldungen aus der schulischen Lebenswelt zu erlangen, die die eigene Sicht und das eigene Erleben entscheidend beeinflussen Soziales und kooperatives Lernen: Kontaktfähigkeit und Zugehörigkeit, Empathie und soziale Perspektivenübernahmen als Grundpfeiler sozialkooperativen Lernens Wert- und sinnorientiertes Lernen: gibt „Halt (Haltung) und die Möglichkeit, nicht in der Situation hier und jetzt aufzugehen (Überzeugung)“ (Schröder 1999: 120). So konstatiert Schröder: „Sinnfindung und die damit vermittelte

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Bildung gibt daher Verläßlichkeit in der Gesinnung und Kalkulierbarkeit im situativen Handeln.“ (ebd.) • Ganzheitliches Lernen: ästhetisches Erleben und seine bildende Wirkung des Staunens als Gegenpol des Entsetzens, sich vom Schönen erfassen und berühren lassen Schule als Kultur des Dialogischen, des Gestaltenden und des Wertbehafteten Schule als gestaltete Handlungseinheit ist ein Feld voller Praktiken der Gestaltung, der Wertorientierung (Wiater 2009: 143) und des Dialoges und darin gerade für die jungen Menschen eine Chance, deren Zugang zur eigenen Wirksamkeit gekappt wurde, deren Sinn und kulturelle Symbolisierung zerstört wurde und deren Verbindung zu anderen Menschen eingefroren ist. Schulkultur verbirgt ein bildsames Potential für schwer belastete Kinder und Jugendliche, wenn eine Kultur der Sicherheit, der Anerkennung und Verletzbarkeit, der Kooperation sowie der Partizipation nicht nur Eingang in das Schulprofil im Sinne einer gemeinsamen Erziehungsphilosophie gefunden hat, sondern sich als gelebtes Selbstverständnis der Einzelschule in ein Handlungsnetzwerk von Schulleitung, von Lehrkräften, von Schulsozialpädagog_innen und von Eltern ausdrückt. Kultur der Anerkennung und Verletzbarkeit Verwundbarkeit ist eingelassen in die Verfasstheit menschlicher Existenz. Erfahrungen, Körperlichkeit, Seinsweisen sind durchlässig für soziale, institutionelle und diskursive Durchkreuzungen und damit stets auf ein Gegenüber angewiesen und dadurch gefährdet. Die intersubjektive Angewiesenheit des Einzelnen auf den Anderen ist somit Ausdruck menschlich verfasster Verletzbarkeit. Schulische Praktiken der Anerkennung erachten die sozialen Prozesse von Bedrohung, Zerstörung und Verluste3 als Bildungsanlässe und machen diese nicht unsichtbar. Eine Kultur der Anerkennung realisiert sich in anerkennenden dialogischen Beziehungen, jedoch reichen gute pädagogische Beziehungen nicht aus, gute Bildungsprozesse zu erzielen (Prengel 2013: 123). Kultur der Sicherheit und des Vertrauens Eine Kultur der Sicherheit im Schulalltag bedeutet, dass sich in und durch soziosymbolische Handlungen, in Ritualen und affektiven Resonanzformen der somatisch-leiblichen Interaktion, eine Wachsamkeit der Enge in eine Präsenz hin zu

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Vgl. Becker i.d.B.

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einem Gegenstand oder einer Person einstellen kann. Eine Kultur des Vertrauens lässt sich im Vergleich zu einer Kultur der Sicherheit nicht ohne Weiteres herstellen und ist ohne dialogische Beziehungsfähigkeit, die Sprechdialoge ebenso miteinschließt wie leiblich-somatisch-affektive Handlungsdialoge, nicht zu denken. Lehrkräfte, die äußere Sicherheit vermitteln können und ein dialogisches Vertrauensverhältnis imstande sind aufzubauen und zu gestalten, rücken die Pädagogische Atmosphäre (Bollnow 1968), die „gemeinsam übergreifende Gestimmtheit und Abgestimmtheit des einen auf den anderen“ (ebd.: 12) in den Mittelpunkt: „Vertrauen als Grundverfassung, die atmosphärische Bedingung aller Erziehung“ (ebd.: 49). Auch das Verhältnis von Körper, Raum und Sicherheit in der Schule ist von zentraler pädagogischer Bedeutung, wenn sich über eine äußere räumliche Sicherheit ein ‚leibliches-in-Sicherheit-Sein‘ einstellen soll. 4 Kultur der Kooperation Über pädagogische Netzwerke kann Schule eine zentrale Schaltstelle werden, um einerseits an professionelle Fachkräfte weiterzuleiten und andererseits in multiprofessionellen Teams intervenierend und fördernd tätig zu werden. • Elternarbeit: In der Elternarbeit geht es darum frühzeitig ein Arbeitsbündnis

aufzubauen und Eltern in die schulische Erziehungsarbeit miteinzubeziehen sowie ihnen ggf. Hilfsangebote durch die Vermittlung von Fachkräften insbesondere durch eine Kooperation mit der Jugendhilfe zukommen zu lassen. Elternarbeit in der Schule kann helfen, Aufklärung zu leisten und Eltern im Fin-

4

Während eine Öffnung und Transparenz von Räumen die aktuellen Trends der Schularchitektur (und der darin eingelassenen gesellschaftlichen Trends) darstellen, spiegeln sie zugleich das panoptische Prinzip (Foucault 1994: 241) allgegenwärtiger Überwachung und Kontrolle durch fremde Blicke. Um sich sicher fühlen zu können, braucht es Räume und Räumlichkeiten, die Geborgenheit, Orientierung und Rückzug ermöglichen, also Ecken, Nischen, Höhlen, Verwinklungen, die auch Heimlichkeiten, Persönlichem und damit Verletzlichem im wahrsten Sinne des Wortes Raum und Schutz geben. Körper können sich nicht verorten in Räumen, die offen und durchlässig sind, d.h. sie können sich in kein stabiles sicheres Verhältnis zur materialen Umwelt setzen. Der Verlust von Raum geht einher mit dem Verlust von Sicherheit (vgl. Lederer 2002: 108f.). Daher kann es insbesondere unterstützend wirken, wenn die Raumstruktur mit den entsprechenden Verhaltensweisen semantisch geklärt ist und Schulen Räume zur Verfügung stellen, wie beispielsweise ein Raum der Stille, Spielund Sportzonen, Rückzugs- und Lernräume etc.

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den von Handlungsressourcen zu unterstützen und zu ermutigen (vgl. Sacher 2008). Schulsozialarbeit: „Die Schulsozialarbeit muss [...] die Rolle eines Begleiters bei der Erarbeitung von Regeln und pädagogischen Reaktionen auf störende Verhaltensweisen einnehmen und die Lehrkräfte stärken, sich mit diesen Verhaltensweisen auseinanderzusetzen. [...] Die Schulsozialarbeit kann sich für Zeiten heftiger Eskalationen durchaus anbieten, im Sinne eines Schutzraumes dem Kind eine Auszeit zu ermöglichen, sollte aber immer wieder auf eine Rückführung in die Klasse und die Präsenz der Lehrkraft als Person drängen.“ (Drewes/Schedlich 2013: 280). So sind Schulsozialpädagog_innen als Brückenbauer von Schule und Jugendhilfe wie auch Lehrer_innen mit ihren stark unterschiedlichen beruflichen Aufträgen und Orientierungen gefordert, ein kooperatives Rüstzeug zu entwickeln, um die jeweilige Fremdheit kreativ für gemeinsames Handeln zu nutzen. Schule und Jugendhilfe: Hier sei auf die Bedeutung einer gemeinsamen Förderplanung von Schule und Jugendhilfe zu verwiesen, welche auch formalorganisatorische, soziale, didaktische, pädagogische sowie systemische Bereiche abdeckt, die über eine Bedingungsanalyse des Schülers/der Schülerin in eine dialektische Förderplanung mündet. Sonderpädagog_innen: Im Zuge der inklusiven Beschulung muss sonderpädagogische Fachkompetenz – über den sonderpädagogischen Dienst (MSD) – zum festen Bestandteil aller allgemeinen Schulen werden. Durch die Einbeziehung von Fachpersonen aus der Sonderpädagogik kann ein sonderpädagogischer Förderbedarf einschließlich einer Förderplanung generiert werden. Schulpsycholog_innen und Beratungslehrkräfte: Den Schulpsycholog_innen der jeweiligen Einzelschule kommt vor allem im traumadiagnostischen Sinne eine besondere Rolle zu: Ihr Aufgabenfeld erstreckt sich gemeinsam mit Beratungslehrkräften vom vulnerabilitätssensiblen Fallverstehen über eine pädagogisch beraterische Aufklärung und Stärkung sowie über stabilisierende Interventionsmaßnahmen in Beratungsprozessen hin zum Erstellen spezifischer Förderpläne für schulisches Lernen in Kooperation mit Sonderpädagog_innen. Schulische Krisenintervention: Potentiell traumatische Ereignisse in der Schule wie Suizid, schwere Unfälle, Tod eines/r Schüler_in oder eines/r Lehrer_in, Mobbing, Amok oder körperliche wie sexualisierte Gewaltereignisse erfordern ein aktives und transparentes Krisenmanagement (vgl. Drewes/Seifried 2012). Dieses basiert auf phasenspezifischen Unterstützungsangeboten, die von der jeweiligen Einzelschule zu leisten sind. Neben der schulinternen Bewältigung durch eigene Kriseninterventionsteams spannt sich das kooperative Netz zwischen zuständigen Kriseninterventionsteams der staatlichen Schulberatungs-

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stelle, den Einrichtungen der Psychosozialen Notfallversorgung und den örtlichen Einsatzleitungen von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdiensten auf. Kultur der Partizipation und Solidarität Gerade für Kinder und Jugendliche mit leidvollen Erfahrungen stellt das kulturelle Netz mit seinen bedeutungstragenden Elementen von Ritualen, Symbolen, Mythen und Habitus eine Sinnordnung dar, die nicht nur orientierend wirkt, sondern einlädt, gemeinsam mit anderen am kulturellen Netz mitzuspinnen. In eine Spur kultureller Bedeutungen ,einzutreten‘ heißt immer auch, subjektiv bedeutsame Sinnbezüge herzustellen und diesen mittels signifikanter Symbole, Handlungen oder Gesten Ausdruck zu verleihen. Ins Leben ,hineinfinden‘ heißt damit, schulische Alltagspraktiken als Teil eines kulturellen Lebens und kultureller Werte erfahrbar werden zu lassen, ‘lesbar‘, sozial teilbar und gestaltbar zu machen - als selbsttätiges Ringen um Bedeutung, welches stets in körperliche wie emotionale Handlungen eingelassen ist. Dabei geht es nicht darum, die ‚gefühlten‘ Leerstellen und schwarzen Löcher mit gesellschaftlichen Wissensvorräten zu füllen, sondern sich in eine innere, sozial verkörperte Sinn-ver-handlung einzuüben, die zu Beginn geprägt sein muss von einer festen Angebotsstruktur. Damit kann Schule als sinnkonstituierender Ort junge Menschen als eigene ‚Sinnbastler‘ und Teil einer kulturellen Praxis adressieren und ihnen dadurch eine selbstermächtigende Mitwirkung und Partizipation ermöglichen. Realisiert wird dies durch ein lebendiges und lebensnahes Schulleben durch Aktionen und Aktivitäten wie Theateraufführungen, Projekte, Ausstellungen, Schülerzeitung, Feste, Arbeitsgemeinschaften, Freizeitangebote, Schulpartnerschaften, Schulfahrten, Besuche von außerschulischen Lernorten wie Museen, Exkursionen, Praktika et. (Wiater 2009: 153f.). Soziale Teilhabe steht unter vulnerabilitätssensibler Perspektive hierbei im Mittelpunkt von Bildungsprozessen. Auch das Schulklima als Teil der Schulkultur stellt mit seinen allgemeinen Faktoren wie „Offenheit und das authentische Bemühen um ein Vertrauensverhältnis zu den Schülern und Eltern, Vorbildlichkeit, Fürsorglichkeit und Rücksichtnahme den Schülern gegenüber, großes eigenes Interesse an der Schule, am Unterrichten und am Schüler, ein engagiertes Arbeitsverhalten sowie Teamgeist“ (ebd.: 146) eine tragende Säule für ein Verständnis von Schule als Raum für Bildung und deren „Anlässe für Einsicht und Freude“ (Hentig 2009: 72) dar.

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Exkurs: Schulische Schutz- und Risikofaktoren Neben der bereits erwähnten Schulkultur von Sicherheit, Anekennung, Kooperation und Partizipation kann Schule als Schutzfaktor wirken, wenn Rahmenbedingungen geschaffen werden, in welchen dialogische Resonanzbeziehungen Platz haben und wenn Schule als „institutioneller Container“ - entlang der Kriterien Struktur, Sicherheit und Kontinuität fungieren und zum Schutzfaktor kindlicher Entwicklung werden kann (Opp/Wenzel 2012: 87). So scheint es lohnenswert, sich Konzepten der Schulentwicklung zuzuwenden, welche um Aspekte der Organisation, der pädagogisch-didaktischen Konzeption und des Personals kreisen: Schulische Schutzfaktoren Auf der Ebene der Organisationsentwicklung: • Leitbildentwicklung: Klare Konzeption pädagogischer Leitideen, effiziente Führung, gestaltete Schulumwelt (Fend 2000: 60) • strukturiertes Krisenmanagement (vgl. Drewes/Seifried 2012) • Schulleben (positive Freundschaftsbeziehungen und Peer-Kontakte) • Schulklima (Wärme, Respekt und Anerkennung) • offene Kommunikation im Lehrerkollegium • Teamarbeit und Verankerung von Reflexions- und Feedbackprozessen (Beispiel kollegiale Fallbesprechung) • Kooperation mit Eltern und außerschulischen Institutionen • mehr Autonomie für Schulleitung und größerer pädagogischer Freiraum für Lehrkräfte ohne gleichzeitigen Zwang zur Rechenschaft Auf der Ebene der Personalentwicklung: • professionelles Lehrerhandeln einschließlich einer reflexiven Haltung im Hinblick auf die pädagogische Kategorie der ‚Sorge‘ (Jäckle i.d.B.) einschließlich der Verletzbarkeit und Anerkennung (Prengel 2013) • hohe Erziehungswirksamkeit im Sinne einer relationalen und somatischen Präsenz und pädagogischen Kontaktfähigkeit • Supervision, Intervision, pädagogische Selbstreflexivität und Selbstfürsorge • Maßnahmen zur Förderung professionellen Handelns von Lehrkräften und der Schulleitung im Hinblick auf „unstete Formen der Erziehung“ (Bollnow 1959) • diagnostisches Fallverstehen von v.a. Schulpsycholog_innen und Beratungslehrer_innen

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Auf der Ebene der Unterrichtsentwicklung: • Berücksichtigung v.a. der personalen Bildung (Hentig 2009) • Berücksichtigung inklusiver Unterrichtskonzepte • Teamteaching • transparente Regeln und feste Rituale • Kultur von Lern-Umwegen und einer respektvollen Fehlerkorrektur, Beobachtung von Lernfortschritten • offene vertrauensvolle und ermutigende Lernatmosphäre • Formen offenen Unterrichts mit strukturierter Selbsttätigkeit und kontinuierlich sich aufbauenden Wahlmöglichkeiten bei Lernpartner, Lernzeit, Lernort sowie Methode, Lerninhalt und Lernmaterialien • ganzheitlich-erfahrungsorientiertes Lernen im sozialen Mit- und Voneinander • kleine Schulklassen • förderliche Beziehung zwischen Schule, Familie, sozialem Kontext Schulische Risikofaktoren • „die geheime Neigung zum Menschen-Machen!“ (Hentig 2009: 28) • Schröder (1999: 188-191) formuliert institutionelle „Hemmungsfaktoren“, die die Realisierung des Erziehungsauftrages in der Schule erschweren: • Überorganisation • Verwissenschaftlichung des Unterrichts • Überbetonung des Leistungsprinzips • Vernotung der Schüler • Mit Wiater (2013: 36f.) sind auf folgende Aspekte hingewiesen, die die Erziehung hemmen: • Schule als Zwangsinstitution (z.B. Normierungs- und Ablehnungspraktiken) • Schule als Selektionsinstanz • die Wissenschaftsorientierung der Schule In Bezug auf „Macht-Ohnmacht-Spiralen“ nicht beschulbarer Jugendlicher verweisen von Freyberg und Wolff (2006: 169-176) auf folgende Defizite seitens der Schule: • keine professionelle Orientierung am Jugendlichen und seiner Geschichte • keine professionelle Koordination der fördernden und helfenden Interventionen • keine Arbeitsbündnisse mit den Jugendlichen und ihren Eltern

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• kein Fallverstehen, keine geregelten Verfahren interdisziplinärer Fallbera-

tung Zudem kann auf der strukturellen Ebene inbesondere im Hinblick auf die Schulorganisation eine ganztagskonzipierte Schule zentrale Gelingensbedingungen aufweisen, wenn ein stabiler Kontinuitätsraum hinsichtlich Personal, Zeitlichkeit, Räumlichkeiten und Kooperation gegeben ist.

Schule als Lern- und Lebensort auch für die „unsteten Formen der Erziehung“ 5 Die Mikrowelt der Einzelschule und ihre Eigendynamik in sozialen Beziehungen steht im Zentrum pädagogisch-didaktischen Handelns. Das etablierte AngebotsNutzungs-Modell von Helmke (2009) richtet seinen Fokus auf das Verhältnis der im Unterricht wirksamen Faktoren und setzt an der gängigen Optimierung der Unterrichtsqualität, d.h. des Outputs in Gestalt von Kompetenzen an. Dieses eingangs skizzierte ‚Bildungs‘verständnis findet hier seinen Ausdruck, indem nicht der/die einzelne Schüler_in existent erscheint, sondern sein/ihr Lernpotential bzw. die verwertbare Humanressource (siehe Abbildung 1). Hierin deutet sich aus bildungstheoretischer wie auch aus pädagogischer Sicht eine Grundproblematik an, die alle jungen Menschen (be-)trifft und vor allem diejenigen, die durch ein solches strukturell verankertes Nicht-gesehen werden im ‚Außerhalb‘ des Lern-Unmöglichen verbleiben und dadurch zu institutionell erzeugten ‚Bildungsverlierern‘ werden. So muss sich eine solche Lesart von Schule und Unterricht den Vorwurf gefallen lassen, als produktiver Teil der Abwärtsspirale zu fungieren, nimmt man die Perspektive der sequentiellen Traumatisierung (Keilson 1979) ernst. Es bedarf daher nicht nur einer Berücksichtigung der Heterogenität der Schülerschaft, sondern ebenso eine Offenlegung normalisierender Strategien seitens herrschender Wissenschaftspraxis und Bildungspolitik.6 Denn:

5

Vgl. Bollnow (1959).

6

„Eine Suppe wird billiger in der Produktion, wenn ich statt der ursprünglich gehaltvollen Zutaten nur Wasser mit billigen künstlichen Aromen verwende. Wenn dann noch der Tütensuppenhersteller die Hoheit über die Qualitätsmaßstäbe erhält und alle Köche weltweit testen darf, wird zwangsläufig jeder zum Verlierer, der noch aufwendig oder gar nahrhaft kocht! Die Folgen sind dann nicht nur ein Verlust der Vielfalt regionaler Gerichte und die Verkümmerung des Geschmacksinns, sondern ist in letzter

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„Von Unterrichtsqualität kann erst dann gesprochen werden, wenn solche LehrLernsituationen gestaltet werden, an denen alle teilhaben und zu denen alle beitragen können.“ (Heimlich 2013: 271) Abbildung 1: Angebots-Nutzungs-Modell

(Helmke 2009: 73)

Unterricht ist als komplexes Interaktionsgeschehen offen, situativ, einmalig und unvorhersehbar und damit unverfügbar. Die Übersummativität intersubjektiver Zusammenhänge hat zur Folge, dass Erziehung, Bildung und Lernen weder völlig steuerbar noch herstellbar und machbar sind (Höltershinken 2013) und dass Lehrkräfte hierzu eine Portion von „Ungewissheitstoleranz“ (Dauber 2012) be-

Konsequenz auch Mangelernährung, wenn nicht gar existenzieller Hunger! Den wird man aber nicht mehr als vorhanden anerkennen, denn: Der Tütensuppenhersteller, der nun ja selbst die „Qualität“ des Essens anhand vermeintlich objektiver Kriterien vermisst, argumentiert jetzt schlicht, unabhängige empirische Untersuchungen hätten ergeben, dass das aktuelle Essen die Geschmacksknospen genauso stimuliere wie das frühere, es also dieselbe Qualität wie eh und je besäße, nun jedoch viel billiger – das nennen die dann effizienter – sei.“ (Burchhardt 2014: 2)

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nötigen, sofern sie sich nicht dem technokratischen ,Menschenmachen‘ unterwerfen möchten, wie er seine Verbreitung in der empirischen Bildungsforschung ebenso zeigt wie in medizinisch-psychologischen Kontexten der Trauma‚pädagogik‘. Weiter gehören zum Lernen wie auch zum Leben Phasen des Stillstandes, des Scheiterns, des Steckenbleibens und des Zweifelns und es braucht Lehrer_innen, die die Dynamik der unterrichtlichen Interaktionsprozesse reflexiv ein- und auffangen können und an die Dialektik des Lehrens und Lernens ankoppeln können. Vor diesem Hintergrund rückt das folgende Modell die in der Schule arbeitenden, lernenden und lebenden Menschen, die Schülerpersönlichkeiten wie auch die Lehrerpersönlichkeiten und das verbindende dialogische Prinzip der Bezogenheit in den Mittelpunkt, von wo aus sich pädagogischdidaktisches Handeln netzförmig um die Aspekte (trauma-)pädagogischer Praktiken, der Klassenführung und der Gestaltung von Lernumgebungen aufspannt. So geht dieses Modell nicht nur von heuristischen Unterrichtsfaktoren aus, sondern von betroffenen Personen und stärkt den „Input“ in Gestalt von Bildungsanlässen (Hentig 2009: 99ff.). Das nun folgende Modell (s. S. 454) nimmt die Bedürfnisse der Schüler_innen ernst, spielt diese jedoch nicht gegen die ,Sache‘ oder den Bildungsinhalt aus. Hierin wird deutlich, dass dieses Verständnis von Unterricht hier und heute (unter Bezugnahme auf die aktuellen, strukturellen Bedingungen von Schule) weder eine Therapeutisierung noch eine reduktionistische Didaktisierung oder eine ideologische Individualisierung (im soziologischen Sinne) anstrebt, sondern ein flexibles pädagogisch-didaktisches Handeln innerhalb eines polaren Kontinuums.7 Es ist die Aufgabe der Lehrkraft zwischen den hier analytisch differenzierten Polen zu changieren und situationsangemessen in den jeweiligen didaktischen Bausteinen zu handeln. Lehrerprofessionalität zeigt sich diesbezüglich in einem theoriegeleiteten, reflexiven, situativ-angemessenen Handeln auf dem PolaritätsKontinuum, das sich von einem oftmals (ideologisch verkürzten) Entweder -

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Dieses polare Kontinuum erstreckt sich von instruktivem Lernen/konstruktivem Lernen, Initiativen/Resonanzen, handlungsorientiertem Unterricht/lehrgangsorientiertem Unterricht, didaktischer Individualisierung/Differenzierung, Identifikation mit der eigenen Lebenswelt/Identifikation mit einer ,Kopie’ bzw. Sache, persönlich bedeutsamem Lernen/kulturell bedeutsamem Lernen, Selbstwahrnehmung des eigenen Lernund Arbeitsverhaltens/Fremdwahrnehmung des eigenen Lern- und Arbeitsverhaltens, Anstrengung/Spaß, Pflichten/Eigeninteressen, Lernphasen/Leistungsphasen, einseitig dirigierenden Beziehungsformen (Grenzen)/demokratischen Beziehungsformen (Freiheit), in Konflikte eingreifen/Konflikte klären.

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Oder ebenso distanziert wie von einem wertfreien, didaktisch-pädagogischen Relativismus. Vulnerabilität und Lernen Lernen im Verständnis eines strukturellen Umlernens, welches „nicht nur das eigene Wissen, sondern die eigene Person zur Disposition“ (Meyer-Drawe 2008: 206) stellt, unterscheidet sich vom kumulativen Dazu-Lernen (dem Modifizieren eines vorhandenen Erfahrungshorizontes), insofern ein neuer Erfahrungshorizont, also ein Denk- und Handlungshorizont eröffnet wird (vgl. Meyer-Drawe 2008).8 Lernen verfügt über eine existenzielle Dimension, da Lernen mit einer Verlustspur einhergehen kann, da etwas Neues kommt und die alte Erfahrungsposition verlassen werden muss, um dem Ungewohnten mit einer noch nicht vorhandenen Handlungsfähigkeit zu begegnen (ebd.: 15). Damit ist Lernen eine fragile Auseinandersetzung, indem Gewohntes überschritten wird, „wenn das Fremde in das Vertraute einbricht“ (ebd.: 14) Dies bedeutet letztlich Unsicherheit auszuhalten. Denn: Verändern sich individuelle Strukturen des Denkens und Handelns, dann geht dies mit einer gewissen emotionalen Verunsicherung einher, die wiederum Fähigkeiten zu Affektregulierung und zur Stresstoleranz braucht. „Die Fähigkeit zu lernen setzt die Fähigkeit voraus, Ungewissheit zu ertragen […]“ (Streeck-Fischer 2000: 142) Wird Lernen vermieden bzw. ist ein Sich-Einlassen nicht möglich, dann kann dies als Strategie gelesen werden, wie vergangene biografische Hilflosigkeits- und Ohnmachtserfahrungen in Schach gehalten werden, damit sie nicht erneut in die Gegenwart einbrechen. Denn: „Ob die Verunsicherung und Irritation im Kind eher Neugierde und Anstrengungsbereitschaft weckt oder aber zu Angst und Vermeidungsverhalten führt, hängt offenbar in hohem Maße von seiner Fähigkeit zu Affektregulierung und diese wieder von frühen Beziehungserfahrungen ab.“ (Katzenbach 2004: 92). Mit Inhalten oder Personen in Resonanz zu gehen, sich berühren zu lassen, kann „zu einem unkalkulierbaren Risiko“ (ebd.) werden. So stellt auch Ding (i.d.B.) heraus, dass problemorientiertes Lernen über kognitive Dissonanz, die Ungewissheitstoleranz bei traumatisierten Kindern und Jugendlichen übersteigt. Solange Lernen auf unkontrollierbaren, irritierenden Situationen baut, – welche frühere Ohnmachtserlebnisse reaktiviert –, ist ein Vermeiden eines solchen „strukturellen

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Lernen heißt Neues entdecken, etwas Neues systematisch vernetzen und auch sich irritieren lassen, d.h. vorhandenes und vertrautes Wissen und Können revidieren und erweitern, sich von Inhalten und Gegenständen ‚auf den Kopf stellen lassen‘, also in Bewegung bringen lassen (reorganisierendes Lernen bzw. strukturelles Lernen), um daraus für sich sinnhafte, neue Schemata zu bilden.

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Lernens“, welches sich auf kognitives Re-organisierenen stützt (ebd.: 92), als traumabedingte Lösungsstrategie bezüglich der verletzten Lernfähigkeit zu verstehen. Damit ist nicht die Frage im Vordergrund, wie Kinder und Jugendliche mit leidvollen Erfahrungen anders lernen, sondern wie sie ins Lernen kommen und welche didaktischen Bedingungen sie brauchen, um vor dem Hintergrund ihrer ganz persönlichen Lebensgeschichte, ihrer Fähigkeiten und Selbst- und Weltentwürfen lernen zu können, d.h. um fähig zu sein, sich auf Lernprozesse einzulassen und diese aufrechtzuhalten. Denn ein sensorischer Erfahrungsstillstand kann auch zu einem kognitiven Stillstand führen (Streeck-Fischer 2000: 138). Damit steht die ,Passung‘ des schulischen Lernangebotes mit der Lernfähigkeit, der Lernausgangslage und der Lebenswirklichkeit der Schüler_innen im Mittelpunkt didaktischer Überlegungen: Zu identifizieren auf welcher Ebene das Lernen ins Stocken gerät oder schlichtweg unmöglich ist, ist, wie Katzenbach (2004) formuliert, für Lehrkräfte die zentrale Handlungsdimension didaktischen Förderns. Lernschwierigkeiten und Lernstörungen können sich auf folgenden Ebenen zeigen: 1) auf der Ebene „fehlender Passung“ zwischen Lernangeboten und Lernvoraussetzungen (didaktisch-methodisches Lernarrangement passt nicht zu den subjektiven Lernvoraussetzung des Kindes); 2) auf der Ebene der „fehlenden Sinnhaftigkeit“ der Lerngegenstände (so fehlt der subjektive bedeutsame Bildungsgehalt von Inhalten aus der Lebenswelt des Schülers/der Schülerin; vgl. Klafkis didaktische Analyse), 3) auf der Ebene der „subjektiven Funktion“ (Lernen als unbewusste Lösung eines inneren wie äußeren Konfliktes); 4) auf der Ebene der „Reinszenierung“ bzw. der Vermeidung, Überwältigung oder Dissoziation durch traumatische Lebensereignisse (die durch traumatische Erfahrungen einhergehende Lernunfähigkeit, sich auf Neues, Fremdes einzulassen) (Katzenbach 2004: 85f.). Alle Kinder brauchen eine Berücksichtigung der ersten beiden Ebenen, insbesondere traumatisierte Kinder und Jugendlichen werden erst durch die Hinwendung der Ebene drei und vier in ihren Lernweisen und -möglichkeiten verstehbar. Darin unterscheiden sich Kinder mit schwierigen Lebenserfahrungen nicht von anderen Kindern – der Unterschied besteht vielmehr in der Hinzunahme der Ebenen, also ob Lernen riskant erlebt wird oder nicht. Für vulnerable Kinder kann es zunächst hilfreich sein, ein zielorientiertes und strukturiertes Lernangebot zu machen auf der Basis instruktiver Vorgaben, das sich nun aber nicht in einer Vermittlung von intelligentem Wissen erschöpft, sondern eine Aneignung von Handlungswissen über konstruktive Arbeitsphasen unter besonderer Berücksichtigung von sozialen, affektiven und psychomotorischen Zielen ebenso miteinschließt. Dennoch muss trotz aller Hinwendung zum/r Schüler_in differenziert werden, dass eine Umsetzung zentraler Methoden

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und Formen der neuen Lehr-Lernkultur wie selbstorganisiertes Lernen, offenes Werkstattlernen oder Formen freier Arbeit traumatisierte Schüler_innen schnell überfordern kann. Die äußere Freiheit kann schnell zu „viel“ sein und auf einer somatischen Ebene Angst auslösen. Hier sei angemerkt, dass grundsätzlich in Bezug auf alle Kinder davon auszugehen ist: Je stärker der Unterricht durch die Lehrkraft oder das Material reguliert wird und die Schüler_innen dies gewohnt sind, desto schwieriger erweist sich der Umgang mit Freiheit. Unterrichtliches Handeln und Vulnerabilität Verletzungssensibles und anerkennungsorientiertes pädagogisches Handeln heißt nun nicht, Kinder in einen pädagogischen Schonraum zu packen oder ihnen ein schulisches ‚Sicherheitstraining‘ zukommen zu lassen, sondern in Achtung vor der individuellen (Über-)Lebensleistung des Einzelnen folgende Grundmomente und Dimensionen pädagogisch-didaktischen Handelns - präsent und reflexiv - im Blick zu haben. Abbildung 2: Grundmomente und Dimensionen pädagogisch-didaktischen Handelns

(Jäckle 2016: 156)

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GRUNDMOMENTE: Schülerpersönlichkeit, Lehrerpersönlichkeit, dialogische Beziehung, somatische Resonanz In Bezug auf die Schüler_innen gilt es die je individuelle Lernausgangslage in den Blick zu nehmen: die individuelle Lebensgeschichte, den kultureller Hintergrund, das soziales Milieu, die kognitiven, sozialen wie auch emotionalen Entwicklungsvoraussetzungen. Die Gestaltung von Unterricht für lebensgeschichtlich verwundete junge Menschen orientiert sich im Sinne von Care9 1.) an dem Bedürfnis nach Kompetenz und Wirksamkeit, 2.) an dem Bedürfnis nach Autonomie, sich also als entscheidungsmächtig zu erleben, 3.) an dem Bedürfnis nach Eingebundensein und Zugehörigkeit (vgl. Deci/Ryan 1993). Eine Lehrerhaltung und ein Lehrerethos im Umgang mit vulnerablen Kindern und Jugendlichen zielt auf die Minimierung der Erzeugung institutioneller Vulnerabilität und auf die Stärkung leiblicher Personalität. Während die Lehrerhaltung wieder Eingang in den erziehungswissenschaftlichen Diskurs bekommt (vgl. Schwer/Solzbacher 2014) und bisher in dem Begriff der Lehrerprofessionalisierung als Praxis des Lehrerhandelns und seiner reflexiven Begründung geführt wird, formiert sich ein professioneller Lehrerethos, der sich entlang der Dimensionen von „Gerechtigkeit, Verantwortung, Fürsorge, Wahrhaftigkeit und Engagement“ (Oser und Zutavern 1990; zit. n. Schwer/Solzbacher/Behrensen 2014: 52) in einer schülerbejahenden Einstellung zeigt, wobei hier die pädagogische (Für)Sorge im Zentrum steht. Verletzbarkeit und Anerkennung sind darin die konstitutiven Figuren von Beziehungsverhältnissen und reflexiv in die eigene pädagogische professionelle Haltung überzuführen. Haltung als relativ stabile Konfiguration von leiblich-emotional aufgeladenen Überzeugungen basiert unter Beachtung der Konstante menschlicher Verletzbarkeit auf einer Matrix der Handlung, Intentionalität und Reflexivität (ebd.: 54f.), die für vulnerabilitätssensibles Handeln auf Zugewandtheit, echtem Interesse und Wachheit basiert. Die dialogische Beziehung ist gerade nach einbrechenden Erfahrungen der Ort der Begegnung, der Menschen stärken kann, da „mir etwas in mein Leben hineinspricht“ (Buber 1923: 152) und mir damit über eine Anrede (ebd.: 154) Lebendigkeit innewird. Lernen ist ein relationales Beziehungsgeschehen und basiert auf Resonanzverhältnissen zu Anderen und zur Welt. So ist eine aktiv, resonanzfähige, beständige Beziehung, welche transparent wie auch anerkennend gestaltet wird, die Basis jeglicher Lernarbeit. Als Lehrkraft sein inneres Bild vom Schüler/von der Schülerin verstören lassen, brüchig werden lassen zugunsten eines ethnografischen Blickes der dialogischen Haltung, erfordert ein immer wieder neues ‚sich-Einklinken‘ und ‚sich-Hinwenden‘ in der situativen Begeg-

9

Vgl. hierzu der Text Sorge (Jäckle i.d.B.).

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nung mit einem Anderen und mit einer Sache sowie eine Wachheit für eine emotional-leibliche Kommunikation. Pädagogische Präsenz meint Da-sein in der Bezogenheit und ist immer auch „unmittelbare und aktive Körperpräsenz“ (Maurer/Täuber 2010: 313), welche als somatische Resonanz bzw. als somatische Dimension (Wuttig 2016) Teil eines jeden pädagogischen Bezugs ist. Demnach ist pädagogisches Sehen und Zeigen im Umgang mit verletzten jungen Menschen neben der Planung und Gestaltung von Lernumgebungen immer auch ein Sehen und ein Wahrnehmen geteilter Atmosphäre sowie eine Reflexivität der leiblichen Kommunikation.10 So ist es über eine machtsensible somatische Dimension (ebd.) möglich, die Aspekte in schulischen Situationen einzufangen, die über eine empathische Ebene hinausgehen und auf sogenannte ,Körperdialoge‘ verweisen. Denn auf einer somatischen Ebene meint Trauma, in den vergangenen Erlebensmodi zu stecken, so dass keine ,Öffnung‘ in der Enge der Gegenwart und damit Bewegung für neue Lernerfahrungen möglich ist. Eine ‚Ankurbelung‘ der Gegenwart, welche mit achtsamer Präsenz am Somatischen ansetzt, ermöglicht einen Weg in die Gegenwart zu bahnen, da neue Erfahrungen und damit Lernen nur im Hier und Jetzt möglich sind. DIMENSIONEN pädagogisch-didaktischen Handelns11 Die Gestaltung von Lernumgebungen (das Changieren von instruktiven und konstruktiven Gestaltungsprozessen, das Berücksichtigen einschlägiger Unterrichtsprinzipien, die exemplarische Auswahl von Bildungsinhalten, die pädagogische Leistungsbewertung), Klassenführung im engeren Sinne (Präventions- und Interventiosnmaßnahmen im Umgang mit Störungen, Umgang mit Regeln und Ritualen) und ausgewiesene vulnerabilitätssensible pädagogische und didaktische Praktiken relationaler Lernarbeit (Stärkung und Selbstermächtigung auf allen personalen, sozialen und kulturellen Ebenen v.a. im Umgang mit leiblicher Engung und Weitung) werden immer wieder aufs Neue ausgelotet. So werden den unsteten Formen der Erziehung (Bollnow 1959), d.h. die unplanbaren und unverfügbaren existenziellen Widerfahrnisse des Lebens, die auch einen Bildungsanlass bereitstellen können, im Unterricht Raum gegeben, insofern ihnen mit steten pädagogischen Handlungen begegnet wird.

10 Vgl. der Beitrag Sorge (Jäckle i.d.B). 11 Auf diese wird aus Platzgründen im Folgenden nur verwiesen; zur Ausführung vgl. Jäckle (2016: 157ff.).

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Fazit Schüler_innen mit traumatischen Lebenserfahrungen in der Schule sichtbar und verstehbar werden zu lassen, heißt, junge Menschen nicht in eine gesellschaftslose Zone fernab normativer und normalisierender Prozesse zu ,setzen‘, sondern die einschneidenden Erfahrungen junger Menschen auf einen schulischgesellschaftlichen Hintergrund (Makroebene) zu betten, der maßgebend dazu beiträgt, ob traumabedingte Destruktionsprozesse weiter geschürt oder hilfreich unterbrochen werden können (vgl. Keilson 1979). Zudem kann die jeweilige Einzelschule (Mesoebene) zentrale Gelingensbedingungen aufweisen, wenn ein stabiler ,Kontinuitätsraum‘ hinsichtlich Personal, Zeitlichkeit, Räumlichkeiten und Kooperation gegeben ist. Schule ist keine psychotherapeutische Einrichtung, sondern ein Erfahrungsort, der Bildungsprozesse ermöglicht und junge Menschen mit einer Ungewissheitskompetenz (Dauber 2012) für das Leben stärken kann (Mikroebene). Literatur BAG: Das Positionspapier der BAG Traumapädagogik (2013). In: Lang, Birgit/Schirmer, Claudia/Lang, Thomas/de Hair, Ingeborg Andrea/Wahle, Thomas/Bausum, Jacob/Weiß, Wilma/Schmid, Marc (Hg.): Traumapädagogische Standards in der stationären Kinder- und Jugendhilfe. Eine Praxis- und Orientierungshilfe der BAG Traumapädagogik. Weinheim und Basel: Beltz Juventa, 84-103. Bengel, Jürgen/Strittmatter, Regine/Willmann, Hildegard (2001): Was erhält Menschen gesund?: Antonovsky Modell der Salutogenese – Diskussionsstand und Stellenwert, eine Expertise. Köln: BZgA. Bohnsack, Fritz (2009): Stabilität als Ziel schulischer Erziehung. In: Helsper, Werner/Hillbrandt, Christian/Schwarz, Thomas (Hg.): Schule und Bildung im Wandel. Anthologie historischer und aktueller Perspektiven. Wiesbaden: VS-Verlag, 387-395. Bollnow, Otto Friedrich (1959): Existenzphilosophie und Pädagogik. 6. Aufl. (1984). Stuttgart: Kohlhammer. Bollnow, Otto Friedrich (1968): Die Pädagogische Atmosphäre. Essen: Verlag Die Blaue Eule. Buber, Martin (1923): Ich und Du. 11. Aufl. (2009). Stuttgart: Reclam. Burchhardt, Matthias (2014): Der Schlussverkauf öffentlicher Bildung soll beginnen, Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V. [http://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/derschlussverkauf-oeffentlicher-bildung-soll-beginnen.html; abgerufen am 22.10.2016].

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Psychosoziale Diagnostik in der TraumaPädagogik Plädoyer für ein qualifiziertes ‚Diagnostisches Fallverstehen‘ S ILKE B IRGITTA G AHLEITNER Diagnose, ursprünglich aus dem Griechischen, bedeutet ‚Auseinanderkennen‘ der Merkmale eines Gegenstandes, einer Person oder eines Systems. Ob wir das bewusst vorhaben oder nicht, ob wir zur Diagnostik als Vorgangsweise im psychosozialen Feld stehen oder nicht, im professionellen Alltag nehmen wir ständig Einschätzungen über ‚Gegenstandsbereiche von Personen‘ vor. Ob Kinder oder Jugendliche ‚so und so sind‘, bei uns ‚das und das auslösen‘ – ständig formulieren wir dabei diagnostische Einschätzungen. Bedauerlicherweise klafft im Diagnostikbereich ein besonders tiefer, als historisch zu begreifender Graben zwischen den in der Traumapädagogik beteiligten Berufsgruppen. Qualifizierte Diagnostik in der Traumapädagiogik wird jedoch nur interdisziplinär unter Einbezug medizinischer, psychologischer und sozialpädagogischer Wissensbestände möglich. Psychosoziale Fachkräfte in der Traumapädagogik müssen dabei nicht für jeden Schritt im diagnostischen Vorgehen Expert_innen sein, sie müssen jedoch den diagnostischen Prozess überblicken, die einzelnen Schritte beurteilen und das Geschehen qualifiziert koordinieren können. Wie jedoch kann eine für die Praxis brauchbare traumakompetente diagnostische Abklärung erfolgen? Wie kann sie lebens-, subjekt- und situationsnah bleiben, also für die Praxis unmittelbar brauchbar? Heiner (2010) hat für diese mehrdimensionale Anforderung an biopsychosoziale Diagnostikprozesse die Begrifflichkeit „Diagnostisches Fallverstehen“ geprägt. Mit dem Ziel, eine diagnostische Grundausstattung für Fachkräfte der Sozialen Arbeit bereit zu stellen, bemühte sich Heiner (2013) in ihrem programmatischen Artikel „Wege zu einer integrativen Grundlagendiagnostik in der Sozialen Arbeit“ in diesem Sinne um eine umfassende Konzeption fundierter Prinzipien des „diagnostischen Fallverstehens“. Im Folgenden soll auf der Basis einiger einführender Überlegungen zu

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traumapädagogischen Diagnostikkonzeptionen entlang dieser Überlegungen ein Modell vorgestellt werden, das sich gut eignet, die diagnostischen Kompetenzen und Aufgaben aller in Schul- und Jugendhilfekontexten arbeitenden Perspektiven und Berufsgruppen einzubeziehen. Bindungs- und traumasensibel verstehen Im Traumabereich lebt eine qualifizierte Diagnostik von fundierter Fachkenntnis des spezifischen Feldes. Dazu sind insbesondere Kenntnisse über die Traumadynamik erforderlich. Frühe und anhaltende Traumata im sozialen Nahraum, mit denen wir es im Bereich der Traumapädagogik mehrheitlich zu tun haben, verursachen bei Kindern Phänomene psychischer Fragmentierung und Desintegration und erschüttern das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit in der Welt grundlegend (Gahleitner 2011, 2012). Das hat mit der Dynamik einer traumatischen Erfahrung zu tun, die als „vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten” (Fischer/ Riedesser 1998: 79) durch ein erschütterndes Ereignis entsteht und mit Kontrollverlust, Entsetzen und (Todes-)Angst einhergeht. Die Komplexität der Traumatisierung ist abhängig von der Art, den Umständen und der Dauer des Ereignisses sowie vom Entwicklungsstand, in dem sich das Opfer zu diesem Zeitpunkt gerade befindet. Aus frühen Traumata können so komplexe Entwicklungsstörungen auf der physischen, psychischen und sozialen Ebene für den gesamten weiteren Lebensverlauf entstehen (Felitti 2002). Zu den Umständen zählt auch, ob es vor, während oder nach der Traumatisierung schützende Faktoren gegeben hat. Der wichtigste umgebende Schutzfaktor sind stabile Bindungsverhältnisse. Genau darüber jedoch verfügen traumabetroffene Kinder oftmals nicht. Bereits früh in desolate Verhältnisse eingebundene Kinder und Jugendliche sind daher existenziell auf soziale Ressourcen angewiesen, die als positive Gegenhorizonte – wenigstens im Nachhinein – für eine stabile psychosoziale Geborgenheit bürgen (Keupp 1997). Der unumstritten wichtigste Heilungsfaktor sind daher sogenannte „schützende Inselerfahrungen“ (Gahleitner 2005, 2011). Professionell bereitgestellte Bindungen bewirken ein Gefühl von Aufgehobensein und schaffen die Basis für authentische Nachsozialisation. Die Nichtverfügbarkeit stabiler Bindungspersonen hingegen erhöht nach Bowlby (2006) nicht nur das Traumarisiko, sie erschwert auch zusätzlich viele Bewältigungschancen im weiteren Leben. Ein destruktiver Teufelskreis entsteht. Man spricht bei solchen Kindern von einem chaotisch-desorganisierten Bindungsstil (Brisch 1999; Schleiffer/Gahleitner 2010), der sich bis in die Hilfeprozesse fortsetzen kann und auch im Schulalltag zu vielen Problemen beiträgt.

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Ein fachlich qualifiziertes Angebot kann also nur gelingen, wenn alle Fachkräfte über bindungstheoretische Grundlagen sowie Aspekte traumatischer Erfahrungen, Belastungen und Bewältigungsmöglichkeiten informiert sind (Gahleitner 2011: Kapitel 3-4) und diese bereits fachkundig in den diagnostischen Prozess mit einbeziehen. Zugrunde liegt diesem Konzept das Verständnis der Sozialen Arbeit, dass Problemlagen und Störungen immer eine biografisch-verstehende Dimension enthalten und damit über psychosoziale Arbeitskonzepte im Alltag verstehbar und veränderbar sind. Ohne eine verstehende Diagnostik gibt es daher keine adäquate Intervention. Aber auch für eine verstehende Diagnostik bedarf es eines hohen Ausmaßes diagnostischer Kompetenz. Welche Diagnostik wann? Qualifizierte Diagnostik im Traumabereich lebt – so wurde soeben deutlich – von einer fundierten Fachkenntnis. Die jüngere Vergangenheit in der Fachdiskussion um soziale Diagnostik hatte sich jeodch – eher unproduktiv – in erster Linie auf zwei entgegengesetzte Pole fokussiert, auf sog. rekonstruktive und klassifikatorische Ansätze: „Die Vertreter des klassifikatorischen Ansatzes plädieren für eine möglichst zuverlässige Informationsverarbeitung mittels standardisierter Erhebungs- und Auswertungsinstrumente, die eindeutige Zuweisungen von Phänomenen zu sprachlichen Klassifikationen erlauben. Die Vertreterinnen und Vertreter des rekonstruktiven Ansatzes betonen die Notwendigkeit einer flexiblen, situationsund interaktionsabhängigen Informationssammlung in (alltagsnahen) Gesprächen. Zentral ist für sie die Meinungsbildung im Dialog mit den Klientinnen und Klienten, um vor diesem subjektiven Hintergrund die aktuellen, oft biografisch verankerten Einstellungen und Verhaltensmuster verstehen zu können. Hinter beiden Ansätzen stehen sowohl erkenntnistheoretisch als auch handlungstheoretisch unterschiedliche Überzeugungen“ (Heiner 2013: 18 f.)1 Nicht zuletzt hat eine Reihe schwerer Kinderschutzfälle jedoch zu Reflexionen auf beiden Seiten geführt, die darin resultierten, dass die „Notwendigkeit eines ‚systematischen‘ Vorgehens in Abgrenzung zum kreativen Ausprobieren auch von langjährigen und dezidierten Gegnern der klassifikatorischen Diagnostik seit einiger Zeit stärker betont wird“ (Heiner 2013: 19)2. Der Ambivalenz von Komplexitätsgewinnung und Komplexitätsreduktion wird aktuell daher versucht, prozessual entlang der Grundkonzeption „diagnosti-

1

Vgl. auch Heiner (2011).

2

Vgl. u.a. bereits Merchel (2005).

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schen Fallverstehens“ (Heiner 2010; Heiner/Schrapper 2004) gerecht zu werden. Diese Integrationsbewegungen sind sehr zu begrüßen. Denn im Hilfeprozess mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen fallen – auch im Schulkontext – sehr verschiedene Arbeitsschritte an, die jeweils auch verschiedene diagnostische Vorgehensweisen und eine Kenntnis über den Gesamtkontext erfordern (Gahleitner/Pauls 2013; Heiner 2013). Es ist ein Unterschied, ob einem diagnostischen Prozess die Aufgabe der Zuweisung, der Orientierung, der Risikoabklärung oder der Intervenstionsgestaltung zugrunde liegt. Greift man dafür die von Heiner (2010, 2011, 2013) eingeführte Systematik – Orientierungsdiagnostik, Risikodiagnostik, Zuweisungsdiagnostik und Gestaltungsdiagnostik – auf, fällt zu Beginn eines Diagnostikprozesses in der Regel die Aufgabe an, sich zu orientieren, eventuelle Risikokonstellationen zu erfassen und erste Zuweisungsvorschläge zu formulieren. Für diese Aufgaben werden schwerpunktmäßig klassifikationsorientierte Abklärungsinstrumente benötigt. Klassifikatorische Diagnostik gibt Einteilungen vor, um Phänomene jeweils – reduktiv – einer oder mehreren Klassifikationen zuordnen zu können und damit eine Suchrichtung für wichtige Hilfeentscheidungen und Vorgehensweisen zu erhalten. Ohne Ordnungsschemata, ohne ein gewisses Maß an Komplexitätsreduktion, können wir uns grundsätzlich in mehrschichtigen Zusammenhängen nicht zurechtfinden. Das sicher bekannteste medizinische und psychodiagnostische Klassifikationssystem ist die ICD-10 (International Classification of Diseases, 10. Überarbeitung; DIMDI 2012), welche die Grundlage für viele Hilfeentscheidungen darstellt und damit entscheidende Relevanz für Prozesse der dortigen Zuweisungsdiagnostik besitzt, die auch für den Schul- und Jugendhilfekontext Relevanz besitzen. In der Entstehung der Subsumtionslogiken und -praktiken solcher Klassifikationssysteme spielen jedoch auch Normalitätskonstruktionen, Ethnozentrismen, Macht- und Lobbyinteressen eine Rolle – ein Umstand, der gerade bei der stark medizinisch geprägten ICD berechtigterweise im sozialpädagogischen Raum Kritik hervorruft. Dennoch oder gerade deshalb ist es unabdingbar, sich auch in diesen Systemen zurechtzufinden, um Hilfeprozesse angemessen und kritisch mitgestalten zu können und partizipative Aspekte möglich zu machen. Als Beispiel sei nur § 35a des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG; BMJ 1990) genannt, in dem die Kooperation zwischen den gesundheitsorientierten und sozialwissenschaftlich orientierten Disziplinen ausdrücklich Konzeptgrundlage ist. Auch der Schulkontext sollte hier eingebunden sein (Gahleitner/Homfeldt 2012; Homfeldt/Gahleitner 2013). Inzwischen wurden zudem auch Klassifikationssys-

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teme für den stärkeren Einbezug sozialer Dimensionen entwickelt. Diese werden jedoch immer noch selten verwendet.3 Eine im Interventionsprozess brauchbare biopsychosoziale Diagnostik benötigt jedoch eine Reihe weiterer Informationen und Verstehensgrundlagen zur konkreten Gestaltung des Hilfeprozesses. Gestaltungsdiagnostik (Heiner 2010, 2011, 2013; Heiner/Schrapper 2004) ist eine sehr lebens-, subjekt- und situationsnahe Diagnostik, die neben klassifikatorischen Diagnostikinstrumenten dialogisch orientiert grundlegende fallverstehende Aspekte der Biografie und Lebenswelt zusammenträgt und auch Aspekte wie Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse mit in die Überlegungen einbezieht (Heiner 2013: 30)4. Von zentraler Bedeutung ist dabei insbesondere für den Kinder- und Jugendbereich „die Kompetenz, eine ‚diagnostische Situation‘ in Form einer gelingenden Verständigung so zu gestalten, dass lebensweltliche Selbstdeutungen der AdressatInnen systematisch berücksichtigt werden“ (Schulze 2006: 10). Gerade im stark von Multiproblemlagen gekennzeichneten Bereich, in dem die Wahrnehmungsund Bewältigungsmuster durch die Geschichte der vorangegangenen Erfahrungen und Traumata wie durch ein Prisma „aktiv wirkender Biografie“ (Röper/Noam 1999: 241) geprägt sind, ist dieses fallverstehende Vorgehen auch für eine angemessene biografische Kontextualisierung notwendig. Die Relevanz von Selbstdeutungen und biografischem Kontext bleibt jedoch im medizinisch und psychodiagnostisch geprägten Gesundheitswesen oftmals unberücksichtigt. Im Folgenden wird dieses für psychosoziale Berufsgruppen zentrale Geschehen in der Traumapädagogik eingehend geschildert. Konkretes gestaltungsdiagnostisches Vorgehen in der Praxis Wie soeben deutlich geworden ist, kann nur ein mehrdimensionales, biopsychosoziales, interdisziplinäres Vorgehen ein bindungs- und traumasensibles Verständnis ermöglichen. Eine praxisnahe, biopsychosoziale Diagnostik muss daher – wie bereits angesprochen – medizinische, psychologische und sozialpädagogische Wissensbestände nutzen (Pauls 2004/2011). Vorgeschlagen wird im Folgenden ein langjährig in der Praxis bewährtes Modell5, welches sich gut eignet,

3

Vgl. dazu ausführlich Gahleitner/Pauls (2013). Für weitere Instrumente für den Kinder- und Jugendbereich sei außerdem auf die weiter unten folgenden Informationen zur Gestaltungsdiagnostik verwiesen.

4

Vgl. auch Schrapper/Thiesmeier (2004).

5

Dieses Modell entstand in einem mehrjährigen Prozess in Zusammenarbeit mit weiteren KollegInnen aus dem Kreis der Klinischen Sozialarbeit. Der Artikel beruht daher

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die diagnostischen Kompetenzen aller in Schul- und Jugendhilfekontexten arbeitenden Perspektiven einzubeziehen. Das Modell erlaubt, die Aspekte aus der Biografie und Lebenswelt der Kinder- und Jugendlichen gemeinsam und sinnverstehend zusammenzutragen (siehe Abb. 1).6

in Auszügen auf bereits erschienenen Publikationen, in denen das Verfahren z. T. ausführlicher und an verschiedenen Fallbeispielen exemplifiziert wurde (insbesondere Gahleitner u.a. 2009; Gahleitner 2011; Gahleitner/Pauls 2013). Außerdem knüpft der Artikel an Überlegungen aus den beiden letzten Jahrzehnten an, in denen Verfahren der Sozialdiagnostik zahlreich entwickelt und für die Praxis zur Verfügung gestellt wurden (vgl. zu dieser Entwicklung z. B. Harnach 2007; Heiner 2004, 2010; Gahleitner 2005, 2011; Krumenacker 2004; Mollenhauer/Uhlendorf 1992; Müller 2004; Pantu%ek/Röh 2009; Pauls 2011; Schrapper 2004; vgl. zur Übersicht über die Entwicklungen z. B. Mühlum 2010; Gahleitner u.a. 2013a; Gahleitner u.a. 2013b; Gahleitner u.a. 2014). 6

Vgl. ausführlich zum diagnostischen Vorgehen bei Kindern und Jugendlichen für den traumapädagogischen Kontext an einem Fallbeispiel Gahleitner (2011: Kapitel 6); siehe außerdem Gahleitner u.a. (2014).

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Abbildung 1: Psychosoziale Diagnostik: Ein Modell

Voraussetzung für die meisten Hilfen schwer traumatisierter Kinder und Jugendicher – auch im Schulkontext – ist die klassische psychopathologischpsychiatrische Diagnostik, die soeben in ihren Qualitäten und Defiziten im Rahmen der Zuweisungsdiagnostik vorgestellt wurde. Klassischerweise wird diese Art von Diagnostik an die psychiatrischen Kolleg_innen delegiert. Es ist jedoch – ich betone es nochmals – unabdingbar für jede interdisziplinäre Zusammenarbeit und jedwede Berufsgruppe innerhalb der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, sich in den Systemen zurechtzufinden sowie diese Diagnostik nachzuvollziehen, anzuwenden und/oder kritisch zu hinterfragen und die ‚Pathologie‘ als Überlebensstrategie zu bewerten. Nur so kann die kategoriale Diagnostik sinn-

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voll in den weiteren Hilfeprozess einbezogen werden und fristet nicht ein unkommentiertes und ungenutztes Dasein in einer verstaubten Epikrise. Im Kinderund Jugendbereich verfügt das ICD-10 außerdem in der Version des sogenannten „Multiaxialen Diagnosesystems“, kurz MAS, über verschiedene Unterachsen (Remschmidt 2006), die eine Miterhebung biografisch-sozialer Aspekte ermöglichen. Zu diesem Zweck gibt es zudem in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Kinder- und Jugendhilfe bereits eine Reihe weiterer kategorialer Instrumente wie z.B. die Sozialpädagogischen Diagnosetabellen des Bayerischen Landesjugendamtes (Bayerisches Landesjugendamt 2009) oder das Multiaxiale Diagnosesystem Jugendhilfe (MAD-J) (Jacob/Wahlen 2006). Um die – für die Arbeit mit Kindern- und Jugendlichen – unausweichliche Bedeutung entwicklungs- und biografieorientierter Prozesse einzufangen, ist jedoch insbesondere der weiter unten erläuterte biografisch-kontextualisierende und subjektorientierte Zugang hilfreich. Hier bieten sich fallverstehende Modelle aus der Biografieforschung und angrenzenden Bereichen an. Auf diese Weise lassen sich auch bindungs- und beziehungssensible Instrumente wie das sog. Adult-Attachment-Interview (AAI) (Main/Goldwyn 1996)7 sowie psychodynamisch ausgerichtete Instrumente wie die trotz kategorialer Ausrichtung beziehungssensible Operationalisierende Psychodynamische Diagnostik (OPD) (Bürgin u.a. 2007) integrieren. Auch eine Reihe traumadiagnostischer Instrumente wie das ETI-KJ (Tagay u.a. 2007) oder die IES (Horowitz u.a. 1979; deutsche Version: Hütter u.a.1997) lassen sich auf diese Weise sinnvoll integrieren. Biografieperspektive Ein Trauma entfaltet seine Wirkung jedoch letztlich im Spannungsfeld von subjektiven und Umfeldfaktoren. Das Kind erlebt die objektiven Umfeldfaktoren auf seinem subjektiven Hintergrund, der durch entwicklungsbedingte Verletzlichkeiten sowie individuelle Vorerfahrungen geprägt ist (s. o.). Das traumatische Erlebnis wiederum wird durch entwicklungsbedingte Prozesse ständig aktualisiert und modifiziert. Biografie und Entwicklung der Kinder und Jugendlichen bieten daher einen wichtigen Referenzrahmen für die Diagnostik ihrer traumatischen Erfahrungen. Um diese – für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen – unausweichliche Bedeutung entwicklungs- und biografieorientierter Prozesse einzufangen, benötigt man einen biografisch kontextualisierten und subjektorientierten Zugang. Hier bieten sich fallverstehende Modelle aus der

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Vgl. aktuell Buchheim/Strauß (2002: 29-35).

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Biografieforschung und angrenzenden Bereichen der Sozialen Arbeit an. Die hierzu entwickelten Erhebungsverfahren sind vielfältig. In der Integrativen Therapie und Beratung wird eher abbildungsorientiert mit dem „Lebenspanorama“ gearbeitet (vgl. z.B. Petzold/Orth 1993). Methoden der Biografiearbeit im Kinder- und Jugendbereich setzen offene Anamnese- und Gesprächssituationen fallverstehend ein (Fischer/Goblirsch 2004; Gahleitner 2011). Ein schönes Beispiel für eine behutsame Erhebung biografischer Aspekte bieten traumapädagogische Ansätze der Biografiearbeit mit Kindern entlang von Lebensbüchern (Krautkrämer-Oberhoff 2009). Sie eröffnen eine Chance, sich „Teile der verlorenen Lebensgeschichte zurückzuerobern“ (KrautkrämerOberhoff 2009: 115) und damit Diagnostik zum Selbstverstehen zu nutzen. Das Erzählen hilft nicht nur dem Wiedererinnern, feststeckende vage alte Erfahrungen können sich auch wieder „verflüssigen […] zu fühlbaren und emotionalen Ereignissen. Das Lebensbuch bietet in kindgerechter Weise Anreize über die eigene Person, die Herkunft und das bisherige Gewordensein nachzudenken und dabei Erlebnisse und Erfahrungen zu erinnern, zuzuordnen und in einen Zusammenhang zu bringen“ (ebd.). Mit diesem Vorgehen lässt sich außerdem ein bindungssensibles Instrument, das sog. Adult-Attachment-Interview (AAI) (Main/Goldwyn 1996)8, welches sich neben gesonderten Kinderverfahren auch für die Bindungsdiagnostik bei Kindern ab dem Schulalter eignet, verbinden. Das Interview wird im Volldurchlauf durch 18 Fragen strukturiert, lässt sich jedoch leicht in narrative Erzählsequenzen rund um die Erhebung des soziokontextuellen Atoms integrieren, die wertvolle Informationen über die Ursprungsfamilie und weitere wichtige Umfeldpersonen abbilden. Bei der Auswertung der Erzählsequenzen zu wichtigen Bindungspersonen steht jedoch nicht so sehr der Inhalt im Vordergrund, sondern vielmehr die Art und Weise, wie über die Erfahrungen erzählt wird (Gahleitner 2011). Diagnostik ist auf diese Weise auch immer zugleich schon Intervention, da Diagnostik dem Selbstverstehen dient. Lebensweltperspektive Aufgrund ihrer prägenden Wirkung für die Persönlichkeit verzerren frühe traumatische Erfahrungen die Erwartungen von Kindern und Jugendlichen an die Welt, an zwischenmenschliche Beziehungen und auch an sich selbst. Lebensweltorientierte Diagnostik erfasst diese nicht gelingende, jedoch teilweise trotz allem gelingende ‚Passung‘ zwischen Subjekt und Außenwelt. Dafür sind sozial-

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Vgl. aktuell Buchheim/Strauß (2002: 29-35).

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und lebensweltorientierte diagnostische Instrumente eine zentrale Hilfe. Auf der Grundlage einer bewusst methodisch offen gestalteten professionellen Anamnese- und Diagnosehaltung können in der Lebensweltdiagnostik soziale, psychische und körperliche Phänomene unter Einbeziehung soziologischer Parameter zusammengedacht werden. Neben standardisierten Persönlichkeitstestverfahren lässt sich das Ausmaß der Beeinträchtigung z.B. auf der Ebene der „Person-inder-Situation“ („person-in-environment“; Dorfman 1996: 28 f.) umfassend mit den „fünf Säulen der Identität“ (Petzold 1988: 353) aus dem Konzept der Integrativen Therapie und Beratung erheben (Petzold u.a. 2000). Die fünf Säulen der Identität – Leiblichkeit bzw. Gesundheitszustand, soziales Umfeld, Arbeit/Freizeit/Leistung, „materielles und kulturelles Kapital“ (Bourdieu 1992) und Wertvorstellungen – werden entlang der subjektiven situativen Wahrnehmung der Kinder und Jugendlichen bildlich oder sprachlich dargestellt. Jede der Säulen lässt sich bei Bedarf vertiefen, entweder im weiteren Austausch darüber oder aber durch zusätzliche diagnostische Verfahren. Die Säule der Leiblichkeit kann durch Körperbilder (sog. „Body Charts“; Petzold/Orth 1991) ergänzt werden. Das soziale Umfeld und seine Bedeutung für die Betroffenen können neben dem hinreichend bekannten Genogramm mithilfe des sozialen oder sozio-kontextuellen Atoms (Märtens 1997) diagnostisch erfasst werden. Damit verbildlicht man den Personenkreis, mit dem ein Individuum in einer bestimmten Lebensphase in engem emotionalem Austausch steht oder stand. An dieser Stelle berührt das sozio-kontextuelle Atom erneut das Erwachsenenbindungsinterview, das im Abschnitt der Biografiediagnostik bereits erwähnt wurde. Das soziale Netzwerkinventar lässt sich zu einer „Ecomap“ („ecomap“; Cournoyer 1996: 43)9 ausweiten, die in den sozialen Kontext einer Person zusätzlich die beteiligten Institutionen und das Hilfenetzwerk integriert. Die Nutzung psychosozialer Diagnostik zur Interventionsplanung Die soeben geschilderte Form der Diagnostik bietet die Möglichkeit, eine Fülle an komplexen Zusammenhängen über eine Person und ihr Umfeld zu erfahren. In ihrer Summe muss jede Diagnostik bei all ihrer Komplexität auf eine Strukturierung der gesammelten Informationen hinauslaufen, die die Dimensionen ,Individuum – soziale Umwelt‘ sowie die Dimensionen ‚Defizite – Ressourcen‘

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Für eine ausführliche Beschreibung des Vorgehens siehe Pauls (2011); weitere Verfahren der Lebensweltdiagnostik finden sich in den Herausgeberbänden Pantu%ek/Röh (2009) sowie Heiner (2004).

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möglichst umfassend, aber auch prägnant ausweist. Eine besonders hilfreiche strukturierende Form der Darstellung vorhandener Ressourcen sowie Defizite sind die von Pauls (2004/2011) vorgeschlagenen „Koordinaten psycho-sozialer Diagnostik und Intervention“ (Abb. 2). Abbildung 2: Koordinaten psychosozialer Behandlung (Pauls 2004/2011: 209)

 Das Verfahren forciert eine systematische Problem- und Ressourcenanalyse, die auf unterschiedliche, in den vorherigen Abschnitten dargestellte, diagnostische Informationen aus allen drei erfolgten Schritten zurückgreift. Dadurch wird sie zu mehr als einem weiteren Instrument, nämlich zum strukturierenden und ordnenden Orientierungsmodell für die anstehende Hilfeplanung, indem es sozusagen ein ,diagnostisches Substrat‘ aus den bisher gewonnenen Informationen bereitstellt. Aus diesem Diagramm lässt sich mühelos die Interventionsplanung für Hilfekonferenzen ableiten. Aus den einzelnen Punkten kann eine Reihe von Interventionsimpulsen erarbeitet werden, die jeweils Ressourcen stärken und Defizite abbauen helfen. Aus diesen – zunächst ungeordneten – Interventionsimpulsen können dann in einer Fallbesprechung die Impulse nach Prioritäten sortiert und in ein Dreischritteprogramm zusammengefügt werden, das sich strukturell gut mit dem im nächsten Kapitel vorgestellten Traumabewältigungsmodell vereinbaren lässt. Das Vorgehen erweist sich so als optimale Unterstützung für die Hilfeplanung und erlaubt einen flexiblen Umgang mit verschiedensten diagnostischen Instrumenten.

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Schlussgedanken Nach Pantu&ek (2008) sollte soziale Diagnostik (a) Komplexität abbilden und Strukturierung ermöglichen, (b) (Nicht-)Intervention fachlich begründen, (c) sich an Fragen der Inklusion orientieren, (d) Selbstaneignungsprozesse fördern und (e) den Dialog unterstützen. An diesen Kriterien wird eine alte, in rekonstruktiven Zusammenhängen immer wieder angesprochene Verflechtung deutlich: Diagnostik ist an jeder Stelle des Vorgehens nicht nur Voraussetzung für Intervention, sondern immer zugleich im selben Moment vollzogene Intervention (Schulze 2006). Dialogisch und prozessual orientiert, fördert Soziale Diagnostik damit Selbstaneignungsprozesse, wirkt der (un)sozialen Chancenstruktur, Exklusionsprozessen und psychosozialen Beeinträchtigungen entgegen. Als besonders hilfreich erweisen sich viele dieser Diagnostikmethoden im Traumabereich, wenn man sie in einem Prozess immer wieder einsetzt. Zumeist erschließt sich dann nach mehrmaliger Anwendung eine sehr ressourcenorientierte Perspektive. Vor allem aber kann der diagnostische Prozess an dieser Stelle einer Evaluation unterzogen werden: „Der Versuch“, so Heiner (2013: 31), das diagnostische Vorgehen stets auch wieder „zu falsifizieren, kann zu einer höheren Zuverlässigkeit und Gültigkeit der ursprünglichen Ergebnisse führen. Die Suche nach Belegen gegen die bisherige Sichtweise soll dabei vor allem von den Deutungsmustern (z.B. Wertvorstellungen, Ursachenannahmen, Realisierungschancen) gelenkt werden, die die Klienten bevorzugen und mit denen sie im Gegensatz zur Position der Sozialarbeiterinnen stehen. Alles, was doch für die Sicht der Klienten sprechen könnte, dafür sollen periodisch immer wieder Argumente und Informationen gesucht werden. Diese Qualifizierung der Gegenargumente der Klientinnen ist ein zentrales Anliegen des partizipativen diagnostischen Fallverstehens“, ohne das Klient_innen häufig selbst zu wenig in der Diagnostik vorkommen. Die Zuverlässigkeit und Gültigkeit diagnostischer Urteile lässt sich auch durch kommunikative Validierung, durch Rückmeldung von Kolleg_innen erhöhen (Heiner 2013: 31)10. Routinen, Traditionen und gemeinsam gebildete Kulturen sowie Gruppendruck können allerdings auch bei kollegialen Beratungen zu Verzerrungen der Wahrnehmungen und Beeinträchtigungen der Urteilskraft führen (Heiner 2013: 31; Kindler 2005: 544). In der Bundesarbeitsgemeinschaft Traumpädagogik hat sich im Sinne eines kollegialen Austauschs über Vorgehen und Praktiken der traumapädagogischen Diagnostik eine Arbeitsgruppe gebildet, die sich regelmäßig trifft (www.bag-traumapaedagogik.de/index.php/ag-trauma

10 Vgl. auch Ader (2006).

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sensibles-fallverstehen.html). Betrachtet man die Anforderungen im Überblick, erscheint das Verfahren insgesamt recht aufwendig. Der Gesamtdurchlauf lässt sich jedoch sehr kreativ abwandeln und den jeweiligen Umständen entsprechend abgekürzt gestalten. Auf der anderen Seite können weitere traumaspezifische Messinstrumente zu den verschiedensten Fragestellungen wie Dissoziationsneigung, Suizid- und Krisengefährdung, organisierte Gewalt etc. ergänzt werden. Viel bedeutsamer jedoch ist die Tatsache, dass zahlreiche Einrichtungen – wie z.B. auch Schulsozialarbeit – längst mit vielen dieser Methoden ihren Betreuungsalltag gestalten, jedoch seltener diese Investition in der Hilfeplanung gezielt und strukturiert ,verwerten‘. Statt einer häufig in der Praxis rein ,intuitiven‘ oder routiniert formale Kategorien abfragenden Diagnosestellung kann im optimalen Fall auf diese Weise eine systematische Subjekt und Kontext berücksichtigende ‚psychosoziale Diagnose‘ und Interventionsplanung gewonnen werden – inkl. einer sorgsamen „reflexiven Orientierung bei der Interpretation von Informationen“ (Heiner 2013: 28). Jugendlichen bei ihrem Aufwachsen Orientierung in den gesellschaftlichen Verhältnissen und gute Entwicklungschancen zu bieten, stellt im heutigen Alltag, der von „Desorientierung und Ratlosigkeit“ (Thiersch 1992: 44) gekennzeichnet ist, auch unbelastete Familien vor hohe Anforderungen. Dies gilt natürlich insbesondere für Sozialisationsinstanzen wie Schule, Jugendhilfe etc., die in der Pflicht stehen, auch belastete Kinder zu unterstützen. Qualifizierte Arbeit in diesem Bereich erfordert einerseits eine Kombination aus pädagogischen Anforderungen, Bindungs- und Beziehungsarbeit, Fachwissen zur vorherrschenden Problematik sowie Strukturgebung, andererseits Flexibilität, Teamgeist, Vernetzungskompetenz, Selbstreflexion und Psychohygiene. Dies benötigt disziplinäre sowie methodische Vielfalt, verknüpft mit Systemkompetenz im Angebot der Institutionen, letztlich eine fachkompetente psychosoziale Fallarbeit (Pauls 2004/2011). Kinder und Jugendliche mit komplexen Störungsbildern stellen daher – auch im Schulkontext – hohe Anforderungen an die Qualität der Betreuung, Begleitung und Behandlung, über die Fachkräfte verfügen müssen, um qualitativ gute Angebote unterbreiten zu können und neue Chancen zu mehr Teilhabe zu eröffnen. Dafür bedarf es bei allen dort arbeitenden Berufsgruppen ausreichender Fachkenntnisse – auch der jeweils angrenzenden Arbeitsbereiche – damit für die konkrete Fallarbeit divergente Dimensionen miteinander in Beziehung gesetzt werden können (Pauls 2004/2011).

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Die Sprachlosigkeit der Gruppe Belastungen von Zeug_innen massiven Bullyings und sexualisierter Peergewalt F REDERIC V OBBE Massive Peergewalt und sexualisierte Peergewalt an Schulen Durch Kinder und Jugendliche in Gruppen verübte sexualisierte Gewalt1 sowie massives Bullying2 – in Deutschland oftmals als Mobbing bezeichnet – stellen Gewaltformen dar, die für betroffene Mädchen und Jungen traumatisch sein können. Die Schule ist ein Kontext, in dem solche Übergriffe stattfinden (Scheithauer u.a. 2003; Altroggen u.a. 2011: 19). Bisweilen wird sexualisierte Peergewalt3 von Bullying begleitet oder im Rahmen von Bullying verübt. Zudem gibt es Parallelen zwischen den Ursachen, Motiven und der Dynamik von Bullying und sexualisierter Peergewalt (Basile u.a. 2009: 337ff.; Mosser 2012: 58). Es kann daher zur Verwechslung der Gewaltform kommen. Insofern ist besonders im Rahmen der Aufdeckung und Krisenintervention stets ein differenzierter Blick auf die Bedürfnisse und Belastungen der einzelnen Gruppenmitglieder notwendig. Eine pauschalisierte Methodenwahl, etwa Streitschlichtung

1

Gemeint sind sexuelle Übergriffe, bei denen sowohl Opfer als auch Täter_innen Teil einer sich wiederkehrend treffenden Gruppe sind, bspw. eines Klassenverbandes, einer Nachmittagsbetreuung oder Ähnlichem.

2

Bullying meint gezielte wiederkehrende Schikanen, Demütigungen, also psychische oder physische Gewaltformen, an denen mehrere Schüler_innen als Mittäter_innen oder Zeug_innen über einen längeren Zeitraum beteiligt sind. Den Opfern ist es dabei kaum möglich, sich aus eigener Kraft gegen die Übergriffe zu wehren. (In Anlehnung an Olweus 1993, 9).

3

Peergewalt bezeichnet zusammenfassend Gewaltformen, die von etwa Gleichaltrigen verübt werden.

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oder Verfahren zur Reintegration übergriffiger Schüler_innen, ist ohne vorherige Abklärung des Ausmaßes und der Umstände der Gewalthandlungen ungeeignet. Die Krisenintervention sollte deswegen stets durch eine spezialisierte Fachstelle begleitet werden (Vobbe 2014: 200ff.). Jenseits der notwendigen Differenzierung bei der Krisenintervention ähneln sich die Ansätze zur schulischen Prävention von Bullying und sexualisierter Peergewalt. Vorbeugende Strukturen beinhalten zusammenfassend verbindliche Verfahrensregeln/Leitlinien zum Umgang mit Peergewalt, gewaltspezifische Fortbildungs- und Informationsangebote für das Kollegium, Mütter, Väter sowie Schüler_innen, ein gelebtes Partizipationsmanagement, die Implementierung von Rechten und Regeln für Schüler_innen, interne/externe Beschwerdemöglichkeiten für sämtliche Ebenen der Institution und regelmäßige Veranstaltungen/Angebote zur Förderung eines prosozialen Umgangs im Schulalltag (etwa Scheithauer u.a. 2003: 159ff.; Enders 2012; Arbeitsstab des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs 2016: 51ff.). Die Zahl der Schulen, die über ein entsprechendes Präventionskonzept verfügen, dürfte dank eines gesteigerten Problembewusstseins sowie der unterstützenden Arbeit spezialisierter Fachstellen in den vergangenen Jahren etwas gestiegen sein. Die vermeintliche Mitverantwortung von Zeug_innen an massiver und sexualisierter Peergewalt Umso mehr sind Lehrer_innen, Schulsozialarbeiter_innen, Mütter und Väter verstört, wenn sie dennoch von massivem Bullying oder in Gruppen verübter sexualisierter Peergewalt erfahren. Besonders schwer verständlich ist vielen, dass immer wieder zahlreiche Kinder oder Jugendliche von den Übergriffen wissen, ohne jedoch in die Gewalthandlungen einzugreifen oder bei Erwachsenen Hilfe für die Opfer zu holen. Vereinzelt suggerieren selbst Fachveröffentlichungen, dass in Gruppen verübte Gewalt erst durch das Schweigen von Zeug_innen ermöglicht werde oder letztgenannte durch ihr Passivverhalten eine Mitverantwortung an den Gewalthandlungen trügen (Alasker 2004: 93; Taglieber 2005: 9). Dabei wird den teils als solche bezeichneten Bystandern von Gruppengewalt ein relativ breites Spektrum unterschiedlicher Handlungsmöglichkeiten zugetraut (Pfetsch 2011: 3). Freilich können Zeug_innen der Gewalt durch aktives Eingreifen – insbesondere Hilfe holen – zu einer Aufdeckung und Beendigung der Gewalthandlungen beitragen. Im Sinne ihrer Solidarisierung mit Opfern wird Freund_innen oder sogenannten Verteidiger_innen aus Perspektive der Prävention eine wichtige Rolle beigemessen (Scheithauer u.a. 2003: 34ff.; Teuschel/Heuschen 2013:

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141; Vobbe 2014: 203). Dies bedeutet im Umkehrschluss jedoch nicht, dass das Schweigen ganzer Gruppenteile zwangsläufig einem Mangel an Verantwortungsübernahme oder Empathie mit Opfern gleichgesetzt werden kann. Die folgenden Ausführungen beleuchten daher alternative Erklärungsansätze für das Schweigen von Zeug_innen massiver Peergewalt. Im Anschluss werden pädagogische Handlungsableitungen für die Prävention erwogen, welche Zeug_innen Sprachräume ermöglichen sollen, Peergewalt zu benennen. Ursachen dafür, dass sich Zeug_innen der Gewalt erwachsenen Bezugspersonen nicht anvertrauen Angst Einige Fachbeiträge zum Thema Bullying und sexualisierte Peergewalt berücksichtigen, dass Zeug_innen oftmals Angst haben, selbst Opfer von Übergriffen zu werden, wenn sie sich auf die Seite des/der Betroffenen stellen. Hierin darf einer der Hauptgründe gesehen werden, weshalb sich Schüler_innen bei miterlebter massiver Peergewalt nicht in der Lage fühlen, etwas gegen die Gewalthandlungen zu unternehmen (Jannan 2010: 31; Blum/Beck 2010: 46f.; Vobbe 2014: 202). Erwachsene, die die Verantwortung für eine Beendigung der Gewalthandlungen übernehmen könnten, werden folglich nicht informiert. Dies gilt insbesondere, wenn Zeug_innen sich nicht vorstellen können, oder nicht darauf vertrauen, dass Erwachsene über gangbare Strategien zur Beendigung der Gewalt verfügen. Eine entsprechende Einschätzung der Schüler_innen sagt jedoch nicht zwingend etwas über die realen Kompetenzen erwachsener Bezugspersonen aus, sondern kann eine Folge der Gewaltdynamik sein. Die in der Zeugenschaft erlebte Angst, Ohnmacht und Verzweiflung verstellen den Blick auf Möglichkeiten der Hilfe. Die Angst von Gruppenmitgliedern bezieht sich auch auf den Aufdeckungsprozess selbst. So gibt es einen gewissen Gewöhnungseffekt bezüglich der Gewalthandlungen. Zum Teil wird anhaltende Peergewalt von Zeug_innen als vermeintlich gruppenstabilisierend erlebt (Blum/Beck 2010: 47). Selbst wenn der größere Teil einer Gruppe also nicht mit den Gewalthandlungen einverstanden ist, fürchten einige Schüler_innen die Folgen einer Aufdeckung für das komplexe System gegenseitiger Abhängigkeiten, zu welchem massives Bullying oder sexualisierte Peergewalt führen kann. So sind an den unmittelbaren Gewalthandlungen oftmals mehrere Kinder oder Jugendliche beteiligt, zu denen nicht aktiv Beteiligte wiederum in einer Beziehung stehen. Differenzierte Darstellungen unterschiedlicher Rollen bei in Gruppen verübter Peergewalt erörtern Scheithauer u.a. (2003) und Teuschen/Heuschen (2013). Das Verhältnis nicht aktiv beteilig-

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ter Schüler_innen etwa zu dem Opfer oder sogenannten Bully-Victims – das sind Mädchen oder Jungen, die sowohl Opfer als auch Täter von Gewalthandlungen werden – kann den Aufdeckungsprozess hemmen. Stellvertretende Angst vor Konsequenzen, zum Beispiel einer Bloßstellung der Betreffenden, kann hierbei als eine Ursache gesehen werden. Schweigegebote/Nicht-Verratsgebote Ähnlich wie bei sexuellem Missbrauch durch erwachsene Täter_innen fördern übergriffige Kinder und Jugendliche im Rahmen massiven Bullyings oder sexualisierter Peergewalt Schweigegebote in der Gruppe der Gleichaltrigen. Diese beziehen sich freilich nicht ausschließlich auf ihre unmittelbaren Opfer, sondern ebenso auf direkte und indirekte Zeug_innen der Gewalt. Die von Gruppenteilen empfundene Angst vor der Gewalt wird durch künstlich verstärkte Abhängigkeitsverhältnisse (Zuweisen einer Mitverantwortung, Belohnung, Intrigieren, Drohungen und Druck durch die übergriffigen Schüler_innen) gezielt gesteigert. Auch digitale Medien werden zur Erpressung oder als Trigger eingesetzt (Schumacher 2004: 24; Klees 2008: 3; Vobbe 2014: 203). Jenseits der Ausübung von Gewalt existieren in Jugendgruppen gegenseitige Nicht-Verratsgebote. Diese resultieren meines Erachtens aus dem Widerstreit der natürlichen Autonomiebestrebungen von Jugendlichen und dem jugendlichen Erleben eines Machtungleichgewichts gegenüber Erwachsenen. Nach Ansicht mancher Pädagog_innen ist es Erwachsenen daher prinzipiell nicht möglich, mit jungen Menschen zu kommunizieren, ohne dass letztere ihre Erfahrungen mit der Allgegenwart der Erziehung in die Kommunikation einfließen lassen (Heinzel 2000: 24). Freilich können Erwachsene − abhängig von ihrer individuellen Haltung − Einfluss auf Kommunikationsprozesse mit Jugendlichen nehmen und diese entweder autoritär oder aber partizipativ-transparent gestalten. Nichtsdestotrotz ist davon auszugehen, dass junge Menschen den Alltag in der Peergroup als eine Angelegenheit erleben, die ihnen gegenüber der Erwachsenenwelt eher getrennt erscheint, und dass dieses Getrenntsein mitunter aus dem erziehungsbegründeten Machtungleichgewicht der Generationen folgt. Dementsprechend werden Lehrer_innen, Mütter und Väter sehr viel weniger als Ansprechpartner_innen bei massiver Peergewalt erlebt als etwa Freund_innen (Jannan 2010: 36). Laut einer Studie zum Thema (Cyber-)Mobbing fiel die Beurteilung Erwachsener als Ansprechpartner_innen aus Sicht der Befragten sogar pessimistisch aus (Pfetsch 2011: 3).

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Traumatisierung durch Zeugenschaft Die Zeugenschaft massiver und sexualisierter Gewalt kann sich ähnlich traumatisierend auswirken wie eine unmittelbare Betroffenheit, das heißt Gewalt gegen die eigene Person. Dabei hängt die Schwere und Komplexität des Traumas auch hier vom Zusammenspiel zahlreicher Faktoren − wie Massivität und Häufigkeit der miterlebten Gewalthandlungen, subjektiv empfundene Bedrohung und Hilflosigkeit, Alter/Lebensphase oder resilienzfördernde Ressourcen/Kompetenzen/Capabilities der Betroffenen − ab (Pynoos u.a. 2000: 267; Kolk 2000: 209; Stemmer-Lück 2009: 263f.; Enders 2012: 28). Eine Traumatisierung direkter oder indirekter Zeug_innen massiven Bullyings oder sexualisierter Peergewalt ist wahrscheinlich, da Bullying durch wiederholte, systematische Gewalttaten charakterisiert ist (Stichwort: Häufigkeit). In der Forschung werden die Langzeitfolgen unterschiedlicher an Bullying in Kindheit und Jugend Beteiligter daher seit einiger Zeit berücksichtigt (Kumpulainen u.a. 1999: 1253ff.; Sourander u.a. 2009: 1005ff.). Sexuelle Übergriffe müssen mitunter aufgrund der gewaltsamen Verletzung der Intimgrenze als besonderer Kontrollverlust gewertet werden (Stermoljan/Fegert 2015: 252). Mögliche kurz- und längerfristige Auswirkungen der Konfrontation, d.h. des Miterlebens solcher Gewalt, sind unter anderem Erstarrung (Submission) sowie eine Hemmung des Broca-Sprachzentrums, also Sprachlosigkeit. Aus den Berichten Betroffener und auch der Erfahrung von Praktiker_innen spezialisierter Fachstellen geht seit Langem hervor, dass insbesondere Sprachlosigkeit eine Folge massiver Gewalt in der Kindheit und Jugend ist. Die genannten Praxiserfahrungen werden zunehmend durch die jüngeren Neurowissenschaften untermauert (Kolk 2000: 2010f.; Hüther u.a. 2012: 183; Neuner u.a. 2013: 328ff.). Erstarrte und sprachlose Gewaltzeug_innen sind in ihren Handlungsmöglichkeiten eklatant begrenzt. Mögliche traumabedingte Belastungen und Bedürfnisse dieser Gruppe werden womöglich missachtet, wenn man voraussetzt, dass diese Gruppe uneingeschränkt dazu in der Lage ist, Hilfen zu initiieren oder in die Gewalthandlungen einzugreifen. Vielmehr braucht gerade diese Gruppe selbst Hilfsangebote und im Kontext der schulischen Prävention eine besondere Ansprache. Schuldgefühle/Negative Attribution Insbesondere im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche gehört es zu den Strategien von Täter_innen, ihren Opfern eine Mitverantwortung an den ihnen zugefügten Gewalttaten bis hin zur Täter-OpferUmkehrung einzureden (siehe auch Schweigegebote). Auch beim Bullying suggerieren übergriffige Schüler_innen ihrem Umfeld eine Mitverantwortung. Da-

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bei verstricken sie andere in ihre Gewalttaten. Zum Beispiel fördern sie gezielt einen grenzverletzenden Umgang innerhalb der Klassengemeinschaft. Sie vermitteln, dass es normal ist, sich im Spaß gegenseitig zu beleidigen. Steigern sie die Gewalthandlungen, fällt es Zeug_innen der Gewalt zunehmend schwer, zwischen dem grenzverletzenden Klima, gegen das sie sich nicht frühzeitig abgegrenzt haben, und gezielten Übergriffen zu unterscheiden (Blum/Beck 2010: 53). In diesem Sinne schützen sich übergriffige Schüler_innen gewissermaßen durch das punktuelle Schaffen von Öffentlichkeit. Betroffene erweitern solche Suggestionen oftmals zu subjektiven Erklärungsmodellen des ihnen Widerfahrenen oder des Miterlebten. Diese subjektiven Erklärungsmodelle können mit Schuldgefühlen oder dem Empfinden einer Mitverantwortung für die Gewalt einhergehen. Man spricht dann von einer negativen gewaltspezifischen Attribution. Gemeint sind Sinnkonstruktionen, mit denen Betroffene etwa ihre eigene aktive Beteiligung an der Kausalität von Übergriffen oder der sie einbettenden Dynamik voraussetzen (Tran 2015: 47). Um dies nochmals am Beispiel von Opfern sexualisierter Gewalt zu verdeutlichen, können hierzu die Fehldeutung von nicht steuerbarer Erregung als Lust oder Einverständnis, die Frage nach vermeintlichen Eigenschaften, welche zur Wahl als Opfer geführt haben könnten, oder der Selbstvorwurf mangelnder Gegenwehr zählen (Bange 2007: 49ff.). Psychologisch dient negative Attribution dazu, nicht Begreifliches einzuordnen. Faktisch verzerrt sie den Blick auf die Verantwortlichkeit der Täter_innen für die Gewalttaten. Sie hemmt den Aufdeckungsprozess vor allem aufgrund der mit ihr verbundenen Selbstvorwürfe und Schuldempfindungen (Tran 2015: 58f.). Teils entwickeln auch Zeug_innen massiver Peergewalt Schuldgefühle oder eine gewaltspezifische negative Attribution. Letztere bezieht sich z.B. auf nicht steuerbare Reaktionen während des Übergriffs und deren reziproke Deutung: Ich habe gelacht/einen Kommentar abgegeben/nichts unternommen/nicht weggesehen, also trage ich eine Schuld/eine Mitverantwortung. In einigen Fällen werden Schuldgefühle besonders durch die Verwicklung von Zeug_innen in die Gewalthandlungen verstärkt. Dies gilt insbesondere, wenn Übergriffe als Rituale getarnt werden und Zeug_innen etwa eine Freiwilligkeit der Teilnahme suggeriert wird, oder sie im Rahmen der Rituale selbst Gewalt ausüben (Enders u.a. 2012: 174f.). Ähnliches beobachten wir, wenn Schüler_innen bspw. innerhalb einer BullyingStruktur Gewalt verüben oder dazu applaudieren, um selbst nicht Opfer zu werden (Stichwort: Bully-Victim).

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Interaktion mehrerer Faktoren (ASA-Modell/die „doppelte Mauer des Schweigens“) Sämtliche der obigen Ursachenbeschreibungen setzen implizit voraus, dass die Sprachlosigkeit von Zeug_innen als ein Interaktionsprozess zu verstehen ist. Vereinfacht entwickelt sich beispielweise Angst aus der Wahrnehmung einer Bedrohung heraus. Das Gefühl der Angst verhindert, dass sich Kinder und Jugendliche Erwachsenen anvertrauen. Oder: Nicht-Verratsgebote haben etwas mit der Wirkung gesellschaftlich-generationaler Unterscheidungen zu tun. Die Wahrnehmung Erwachsener als die Anderen beeinflusst/hemmt die offene Interaktion mit diesen Anderen aus Sicht junger Menschen. Insofern besteht das Spezifikum von interaktionellen Erklärungsansätzen zur Nicht-Aufdeckung etwa sexualisierter Gewalt darin, die Kommunikation unterschiedlicher aufdeckungshemmender Faktoren als performative Größe gesondert hervorzuheben. Hierbei können Konzepte unterschieden werden, deren Schwerpunkt vor allem auf der Beleuchtung innerpsychischer Interaktion liegt. Mit derartigen Ansätzen wird das Wechselspiel unterschiedlicher Gefühlszustände und Gedanken Betroffener hervorgehoben. Exemplarisch sei das ASA-Modell genannt, mit welchem die Bedeutung des Zusammenspiels von Attribution, Scham und Angst hinsichtlich einer Verzögerung von Aufdeckungsprozessen nachgewiesen werden kann. Die Indexbildung entsprechender Modelle ist vor allem für psychotherapeutische oder psychiatrische Kontexte wertvoll (Tran 2015: 49ff.). Wie wir im weiteren Verlauf des Textes sehen werden, lassen sich hieraus jedoch auch pädagogische Ableitungen für den Umgang mit Trauma begründen (siehe 4.1). Des Weiteren existieren unterschiedliche Konzepte, die die Bedeutung von intrapsychischer und zwischenmenschlicher Interaktion betonen. Hier hat vor allem Dirk Bange den Begriff der „doppelten Mauer des Schweigens“ (Bange 2007: 94) geprägt. Bange verweist auf die Wechselseitigkeit des Schweigens männlicher Opfer sexualisierter Gewalt und der Wahrnehmungsblockaden Erwachsener gegenüber Jungen und Männern als Opfern, welche verhindern, dass Betroffene angemessene Hilfen erhalten. Wenngleich sich das Konzept der ,doppelten Mauer des Schweigens‘ vor allem auf die Verhinderung einer Aufdeckung sexualisierter Gewalt gegen Jungen bezieht, kann das Prinzip bedingt auf die Auseinandersetzung mit der Zeugenschaft sexualisierter und anderer massiver Peergewalt angewendet werden. So verweisen unterschiedliche Fachbeiträge zum Thema Bullying darauf, dass Erwachsene Gefahr laufen, passiv oder aktiv zu Stützen des GewaltSystems zu werden (Jannan 2010: 31; Blum/Beck 2010: 48). Dies geschieht besonders, wenn sie den Leidensdruck Betroffener unterschätzen, oder gar unbewusst Erklärungsmodelle der Akteur_innen des Bullying für das Zustandekom-

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men der Gewalt übernehmen – zum Beispiel in Form von Schuldzuweisungen an das Opfer: „Der oder die ist wirklich schwierig.“ (Blum/Beck 2010: 48) Ein Signal, welches hiervon an die Gruppe ausgeht, ist jedoch: Es macht keinen Sinn, sich an die entsprechende erwachsene Bezugsperson zu wenden. Schüler_innen erwarten von ihr keine Unterstützung mehr (Jannan 2010: 31). Dasselbe gilt, wenn im Kontext sexualisierter Peergewalt gemeinsame, klärende Gespräche mit Opfer und Täter durchgeführt werden. Oder die Verantwortung für die Auflösung der Gewalt an die Gruppe zurückgegeben wird (Enders 2012: 312f.; Vobbe 2014: 203). Pädagogische Ableitungen: Sprach- und Handlungsräume ermöglichen Die obigen Ausführungen sollen den Blick auf Ursachen der Sprachlosigkeit und Erstarrung von Zeug_innen massiver Peergewalt öffnen. Schüler_innen, die durch ihre Zeugenschaft Mitwisser_innen von Gewalthandlungen werden, schweigen nicht notwendigerweise deswegen, weil sie über mangelnde Zivilcourage verfügen, den Gewalthandlungen zustimmen, oder selbst gewalttätig sind. Lehrkräfte sollten berücksichtigen, dass einige Zeug_innen der Gewalt selbst als Betroffene gesehen werden müssen. Weil es jedoch nicht möglich ist, Gewalthandlungen durch Kinder und Jugendliche in Gruppen komplett zu vermeiden, muss sich schulische Prävention damit befassen, wie sie potentielle Zeug_innen von Peergewalt − gerade vor dem Hintergrund deren möglicher Betroffenheit − erreichen, der Gewaltdynamik alternative Handlungsspielräume entgegensetzen kann. Kinder und Jugendliche, die Gewaltdynamiken und ihre eigene Situation in dieser Dynamik verstehen, sind tendenziell eher befähigt, bereits bei sich anbahnenden Übergriffen (also ersten Grenzverletzungen) achtsam zu werden. Die Einzelinstitution Schule muss ihnen eine Sinnwelt eröffnen, in der gewaltimmanente Attribution entlarvt und durch neue Interpretationsangebote ersetzt wird. Gewalt und Machtmissbrauch sind hierin als Unrecht zu verstehen. Erstarrung, Übersprungshandlungen und Angst können dann als Folge der Gewalt neu eingeordnet werden. Ein so besetzter Raum schafft die symbolischen Voraussetzungen für Handeln und Sprechen können. In diesem Sinne antizipiert präventives Handeln stets, was zur Aufdeckung, Krisenintervention und Aufarbeitung von Peergewalt notwendig ist. Sie orientiert sich an den Anforderungen einer möglichen Krisenintervention und schafft Voraussetzungen, die auf die Bedürfnisse unterschiedlicher Personengruppen eingestellt sind.

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Schulpädagogisches Handeln: Zeug_innen in ihrer persönlichen Situation ansprechen/maladaptive Erfahrungen alternieren Opfer und Zeug_innen von massivem Bullying und sexualisierter Gewalt fällt es leichter, sich anderen Menschen anzuvertrauen, wenn sie sich von diesen in ihrer Situation verstanden fühlen. Methodensammlungen für Pädagog_innen, Präventionsmaterialien oder Präventionsangebote (z.B. Ausstellungen oder Theaterinszenierungen) fachlich anerkannter Anbieter berücksichtigen deswegen die Situation der unmittelbaren Opfer von Peergewalt. Bestenfalls wird diesen vermittelt, dass beispielsweise Bullying oder sexualisierte Gewalt Peergewalt ist, und dass niemand das Recht hat, sich ihnen gegenüber grenzverletzend zu verhalten. Ihnen werden die (Bagatellisierungs-)Strategien von übergriffigen Kindern und Jugendlichen erklärt. Sie lernen, dass die Gewalthandlungen Schuldgefühle, Scham und Ekel auslösen. Opfer entwickeln so ein insgesamt besseres Verständnis ihrer eigenen Situation. Sie verstehen außerdem, dass die übergriffigen Kinder und Jugendlichen die Verantwortung für die Gewalt tragen. Ihnen wird erörtert, dass es anderen auch so ergehen kann und sie nicht allein sind. Ihnen werden Tipps zum Stoppen belastender Erinnerungen bzw. zur Psychohygiene gegeben und konkrete Hilfsmöglichkeiten aufgezeigt (Jannan 2010: 168ff.; Zartbitter Köln e.V. 2012; Petze GmbH 2012; Petze GmbH 2015). Potentielle Zeug_innen von Peergewalt werden dagegen vor allem hinsichtlich einer Solidarisierung mit Opfern angesprochen. Auch hierzu wird die Situation des Opfers erklärt und die Strategien von übergriffigen Kindern und Jugendlichen beschrieben. Meines Erachtens werden hierdurch jedoch insbesondere sogenannte Verteidiger_innen des Opfers angesprochen, das heißt Kinder und Jugendliche, die trotz des Miterlebens auch massiver Übergriffe handlungsfähig bleiben und sich ohnehin bemühen, dem Opfer zur Seite zu stehen (Scheithauer u.a. 2003: 34f.). Eine an weitere mögliche Gewaltzeug_innen gerichtete Ansprache sollte darüber hinausgehen. Kinder und Jugendliche, die Gewalt miterlebt haben, müssen auch vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erstarrung und Ambivalenz adressiert werden. Dazu gehört zunächst das Zugeständnis, dass auch das Miterleben von Übergriffen belastend sein kann, ohnmächtig macht und beschämend ist. Und, dass genau dies zu einer Erstarrung führen kann, die es so schwer macht, in die Gewalthandlungen einzugreifen oder Hilfen zu holen. Hilfreich wäre auch der Hinweis, dass die Konfrontation mit massiver Gewalt manchmal Reaktionen auslöst, die nicht beabsichtigt bzw. geplant sind, wie zum Beispiel Lachen oder sogar Anfeuern oder Applaudieren. Daran anschließen sollte der Hinweis, dass es zwar umso mehr Mut erfordert, Hilfen zu holen, dies für das Opfer aber umso wichtiger ist. Das Aufeinanderfolgen von Verstehen der eigenen Situation, Ver-

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ständnis von und Solidarität mit anderen sowie das Vertrauen zur Verantwortungsübernahme zu erleben und konkrete Handlungstipps zu bekommen, ermöglicht es auch belasteten Zeug_innen schrittweise aus der Erstarrung in die Handlung zurück zu finden. Eine derartige oder ähnlich aufgebaute Ansprache macht, was den Umgang mit Trauma angeht, nicht zuletzt aus pädagogischer Sicht Sinn. Eine Reaktivierung maladaptiver Erfahrungen und Bahnungen, die nach dem Gewalterleben die subjektive Belastung bedingen, verstärkt diese Erfahrungen tendenziell (Hüther u.a 2012: 187). Erfährt ein Kind oder Jugendlicher beispielsweise, dass er/sie ohne Wenn und Aber Hilfe holen muss, weil alles andere ausschließlich verantwortungslos und feige wäre, er/sie aber aus der weiter oben genannten Erstarrung heraus nicht ohne Weiteres dazu in der Lage ist, zu agieren, so wird dies Verunsicherungen, Schuldgefühle, Scham, Angst vor der Verurteilung oder negative Attribution, das heißt auch mögliche posttraumatische Belastungen verstärken. Insbesondere drastische Gewaltdarstellungen oder drastische Darstellungen der Folgen von Gewalt (Bsp.: Alle schauen weg, deswegen begeht das Opfer Suizid) haben daher nicht den gewünschten Wachrüttel-Effekt, sondern steigern die Hilflosigkeit von Zeug_innen. Berücksichtigen wir ferner, dass die innerpsychische Interaktion von Scham und Angst Aufdeckungsprozesse verzögert, so bleibt Hilfe tendenziell länger aus (Tran 2015: 49ff.). Ohne Hilfen verstärken sich die maladaptiven Erfahrungen und Bahnungen jedoch weiter und entwickeln sich zu Schächten. Der spätere Heilungsprozess gestaltet sich dadurch umso aufwendiger (Hüther u.a. 2012: 187). Ein verletzungssensibles schulpädagogisches Handeln bemüht sich stattdessen, maladaptive Muster möglichst frühzeitig durch neue Bewertungsprozesse zu überlagern bzw. zu alternieren. Die Vermittlung von Verstehen, Verständnis, Vertrauen und konkreten Handlungstipps fährt dahingehend eine ,Treppe‘ aus, die bedarfsabhängig und schrittweise emporgestiegen werden kann, zur Neudeutung gemachter Erfahrungen befähigt und das Sprechen über Unaussprechliches erlaubt. Pädagogisch-professionelle Haltung von Lehrkräften Erwachsene, die in der oben angesprochenen Weise mit Kindern und Jugendlichen zu kommunizieren fähig und für die Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen sensibel sind, haben den ersten Schritt in Richtung einer gewaltpräventiven Haltung bereits unternommen. Sie qualifizieren sich als Ansprechpersonen. Hierzu ist es nicht notwendig, sich mit Kindern oder Jugendlichen auf eine Stufe zu stellen, etwa indem sich Lehrkräften als Dauerjugendliche, Kum-

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pels oder große Geschwister ihrer Schutzbefohlenen gebärden. Im Gegenteil: Letzteres dürfte vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Machtungleichgewichts zwischen den Generationen eher als Mangel an Authentizität wahrgenommen werden und die Einschätzung junger Menschen, ob jemand bei Grenzverletzungen zur Verantwortungsübernahme für die Intervention in der Lage ist, negativ beeinflussen. Wie wir bereits oben festgestellt haben, ist auch ein pädagogischer Zeigefinger („Ihr müsst!“ oder drastische Gewaltdarstellungen) wenig zielführend. Er übersteigert die oben genannte Allgegenwart der Erziehungssituation. Opfer und Zeug_innen führt er tiefer in die Erstarrung. Übergriffige Kinder und Jugendliche setzen sich hiergegen tendenziell eher durch Bagatellisierung ihrer Gewalttaten und eine Verstärkung ihrer Schweigegebote zur Wehr. Kinder und Jugendliche wählen im Kontext unterschiedlicher Grenzverletzungen und Übergriffe eher Gleichaltrige als Ansprechpersonen. Erwachsenen stehen sie − nach einer oben bereits rezipierten Studie zum Thema (Cyber)Mobbing − skeptisch gegenüber und schätzen deren Kompetenzen zur Intervention bei Übergriffen tendenziell als begrenzt ein. Dieselbe Studie kommt jedoch zu dem Ergebnis, dass die Einschätzung von Jugendlichen signifikant anders ausfällt, sobald diese bereits die Erfahrung gemacht haben, dass Erwachsene adäquat auf Grenzverletzungen reagieren (Pfetsch 2011: 3). Die Diskrepanz der beiden Sichtweisen legt den Schluss nahe, dass eine gewaltpräventive Haltung, als Muster reflexiver Einstellungen und Handlungsoptionen, insbesondere dann von jungen Menschen wahrgenommen wird, wenn Erwachsene sie performativ äußern. Lehrkräfte, die sich dem Thema Peergewalt wissensbasiert, aktiv aber ebenso besonnen nähern, signalisieren Kindern und Jugendlichen eine grundsätzliche Einsicht in deren Lebenswelt. Die Kompetenz, adäquat zu handeln, behaupten sie, indem: • sie Konflikte unter Peers nicht ignorieren und jungen Menschen nicht zurück-

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melden, dass diese mit ihren Problemen allein gelassen werden, sondern stattdessen an einer Lösung mitwirken, sie sich Wissen über konkrete Hilfsmöglichkeiten und Grundprinzipien der Intervention aneignen, sie dieses Wissen gegenüber Kindern und Jugendlichen kommunizieren, sie sich bereits bei anfänglichen Grenzverletzungen konsequent, jedoch ohne moralische Verbissenheit um die Einhaltung grenzachtender Gruppennormen bemühen, sie im Rahmen von Intervision und Supervision ihre eigenen Einstellungen zum Thema Gewalt regelmäßig reflektieren, sie sich Techniken zur eigenen Psychohygiene aneignen,

490 | FREDERIC VOBBE • sie sich bei der Vermutung oder ersten Anzeichen für Übergriffe mit den Op-

fern und Zeug_innen solidarisieren, • sie unter Berücksichtigung der individuellen Situation von Opfern und

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Zeug_innen auf den Schutz vor weiteren Übergriffen und auf eine Trennung von Betroffenen und übergriffigen Kindern und Jugendlichen hinwirken, sie Hilfen für Opfer und Betroffene initiieren, sie Übergriffe klar benennen und sich gegen diese positionieren, sie berücksichtigen, dass die Handlungsmotive übergriffiger Kinder und Jugendlicher aus unterschiedlichen Belastungen und Bedürfnissen resultieren können, sie bereit sind, Hilfen für übergriffige Kinder und Jugendliche zu initiieren, und diesen somit eine Aufarbeitung eigener Belastungen und eine Verhaltensänderung zu ermöglichen.

Strukturen auf der Ebene der Einzelschule Das Schaffen gewaltfreier Räume, die Förderung von Selbstwahrnehmung (z.B. Empfindungen), Selbstverstehen, Selbstkontrolle und Selbstwirksamkeit sind wesentliche Aufgaben des pädagogischen Umgangs mit Traumata (Weiss 2008: 328; Handtke 2012: 199). Eine Wahrnehmung dieser Aufgaben ist im Rahmen schulischer Prävention denkbar. Sie äußert sich explizit in der gewaltthemenspezifischen Ansprache unterschiedlicher Personengruppen (u.a. Zeug_innen) und implizit in einer gewaltpräventiven Haltung von Lehrkräften. Lehrer_innen haben in erster Linie einen Bildungs- und Erziehungsauftrag und keinen therapeutischen Auftrag. Daher liegt es in der Verantwortung der Institution ein pädagogisch fundiertes, gewaltpräventives Konzept, in den schulischen Strukturen zu verankern, welches mögliche Traumabelastungen von Schüler_innen berücksichtigt und die pädagogische Zuständigkeit der einzelnen Lehrkräfte im Umgang hiermit ergänzt. Zu einem solchen Konzept gehört auf der Ebene der Schulentwicklung vor allem das schon mehrfach angedeutete Partizipationsmanagement. Es sichert Schüler_innen Selbstwirksamkeit auch jenseits bereits gemachter Gewalterfahrungen proaktiv zu. Als Ausdruck einer wertorientierten, gestalterischen Schulkultur (Wiater 2009: 143) widerspricht es gewalttätiger Fremdbestimmung. Zu einem Partizipationsmanagement gehört eine unterschiedlichen Ebenen der Schule angemessene Thematisierung (institutioneller) Gewalt. Unabdingbar ist im Rahmen einer solchen Schulkultur auch, dass Lehrer_innen Ressourcen zur Weiterbildung und zur Auseinandersetzung mit Gewaltdynamiken bereitgestellt werden. Es darf nicht der Eigeninitiative der pädagogischen Mitarbeiter_innen überlassen sein, sich Kompetenzen zum Umgang

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mit Gewalt durch Schüler_innen anzueignen. Andernfalls beschränkt sich gewaltpräventive Arbeit auf einzelne Klassenzimmer. Präventive schulisch-institutionelle Strukturen bauen folglich bereits in der Implementierungsphase auf die Zusammenarbeit mit spezialisierten Fachstellen. Die Kooperation sichert das fachspezifische Fundament der gewaltpräventiven Pädagogik. Mit einer entsprechenden Kooperation wird idealiter festgelegt, wo die Grenzen der Prävention sowie pädagogischer Interventionen verlaufen und stattdessen eine Krisenintervention und therapeutische Aufarbeitung notwendig ist. Die Kooperation mit spezialisierten Fachstellen schützt Lehrer_innen davor, aus der Not heraus ihre Kompetenzen zu überschreiten. Dies bedeutet nicht, dass Lehrer_innen im Rahmen der Krisenintervention oder Aufarbeitung bei massiver Peergewalt gänzlich ausgeklammert werden. Angeleitet durch spezialisierte Fachkräfte spielen sie eine wichtige Rolle, die sich aus dem zu den Schüler_innen bestehenden Vertrauensverhältnis ergibt. Literatur Alasker, Francoise D. (2004): Quälgeister und ihre Opfer. Mobbing unter Kindern und wie man damit umgeht. Göttingen: Hofgrefe. Altroggen, Marc/Spröber, Nina/Rau, Thea/Fegert, Jörg M. (2011): Sexuelle Gewalt unter Kindern und Jugendlichen. Ulm: Eigenverlag. Arbeitsstab des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (2016): So können Konzepte in Bildungs- und Erziehungseinrichtungen gelingen! [http://www.dji.de/fileadmin/user_upload/dasdji/news/2016/news_20160315_UBSK M_Monitoring_Teilbericht%201%20_DJI.pdf; abgerufen am 12.09.2016]. Basile, Kathleen C./Espelage, Dorothy L./Rivers, Ian/McMahon, Pamela M./Simon, Thomas R. (2009): The theoretical and empirical links between bullying behavior and male sexual violence perpetration. In: Aggression & Violent Behavior. 14 (5), 336347. Bange, Dirk (2007) Sexueller Missbrauch an Jungen. Die Mauer des Schweigens Blum, Heike/Beck, Detlef (2010): No Blame Approach. Köln: Fairaend. Enders, Ursula (2012): Grenzen achten – Schutz vor sexuellem Missbrauch in Institutionen. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Enders, Ursula/Pieper, Eckardt/Vobbe, Frederic (2012): Das ist niemals witzig. Gewaltrituale in Sport- und Jugendverbänden. In: Enders, Grenzen achten, 158-180. Handtke, Lydia (2012): Traumazentrierte Arbeit im Psychosozialen Feld. Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Traumatherapie, -beratung und -pädagogik. In: Trauma & Gewalt. 6 (3), 198-205.

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Trauma und Behinderung Herausforderung für kindliche Lernräume M ARTIN K ÜHN UND J ULIA B IALEK Jeder körperliche Mangel − sei es Blindheit, Gehörlosigkeit oder angeborener Schwachsinn − verändert nicht nur die Beziehung eines Menschen zur natürlichen Umwelt, sondern wirkt sich vor allem auf seine Beziehungen zu anderen Menschen aus. WYGOTSKIJ 1975: 66 Von unten bis ganz oben funktioniert das Schulsystem, als bestände seine Funktion nicht darin, auszubilden, sondern zu eliminieren. Besser: in dem Maß, wie es eliminiert, gelingt es ihm, die Verlierer davon zu überzeugen, dass sie selbst für die Eliminierung verantwortlich sind. BOURDIEU 2001: 21

Vorbemerkung Am Begriff der Behinderung wird in unserem Land eine auffällige Widersprüchlichkeit diskursiver Auseinandersetzungen deutlich, denn es mutet schon etwas seltsam an, dass es gegenwärtig ohne Weiteres immer noch möglich ist, über so konträre Themen wie ‚Pränatale Diagnostik‘ und ,Inklusion‘ gleichzeitig diskutieren zu können. Und obwohl Deutschland 2009 die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert hat, war es zwei Jahre später möglich, den Philosophen Peter Singer, welcher sich seit Jahrzehnten für die aktive Tötung von Säuglingen ausspricht, die mit einer Behinderung geboren wer-

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den (Fietz 2011), öffentlich mit einem Ethikpreis in der Deutschen Nationalbibliothek zu ehren. Dies alles ist in einem Land möglich, in dem es während des Faschismus der 1930er und 1940er Jahre zu einer menschenverachtenden und lebensvernichtenden Umsetzung und Praxis eugenischen Denkens gekommen war, das damals für Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen fatale tödliche Konsequenzen hatte und von großen Teilen der Bevölkerung mitgetragen wurde, wie neueste Forschungsergebnisse gezeigt haben (Feuser 2013; Aly 2014). Ermöglicht wurde dies durch den historischen Prozess der Ökonomisierung des Fremden, Andersartigen und Abweichenden: Das einzelne menschliche Individuum wird gemessen an seiner Verwertbarkeit und entsprechenden gesellschaftlichen Kostenfaktoren − und so wird ganz im Verständnis Foucaults „gesellschaftliche Ungleichheit in Biologie umgewandelt“ (Jantzen 2005: 80), ein Verständnis, das bereits lange vor dem Faschismus in Deutschland in der bürgerlichen Gesellschaft auf breite Zustimmung traf. Und bis heute sind − wie die Erfahrungen aus vielzähligen Beratungsgesprächen zeigen − werdende oder gewordene Eltern von Kindern mit Behinderungen immer noch erheblichen entwertenden, diskriminierenden Bewertungen, Äußerungen und sozialen Prozessen ausgesetzt: „Hätte so ein Kind denn nicht verhindert werden können?“ Es scheint, als hätten die Wurzeln dieses inhumanen Denkens bis heute nicht gebrochen werden können. Sie erscheinen heute nur im veränderten Kleid einer liberalen, freiwilligen Eugenik, die sich auf das individuelle Selbstbestimmungsrecht bezieht (Speck 2006) − im Gegensatz zur menschenverachtenden Zwangsgenetik des letzten Jahrhunderts, die damals eine weite Zustimmung und Verbreitung im bürgerlichen Bevölkerungsspektrum hatte und schließlich im Nationalsozialismus ihre pervertierte Umsetzung fand. Aus behindertenpädagogischer Sicht ergeben sich aus dieser neuen eugenischen und rein biologistischen Betrachtungsweise kritisch zu beurteilende zukünftige Konsequenzen für Menschen mit Behinderungen (ebd.): • Abwertung des Lebens- und Bildungsrechts, • Zunahme behindertenfeindlicher Einstellungen, • neue gesellschaftliche Segregationstendenzen.

Die Befremdung ,Nichtbehinderter‘ angesichts von Menschen mit Behinderungen, aus der sich auch die sogenannte liberale Eugenik speist, vollzieht sich im Ausschluss Letztgenannter von gesellschaftlicher Teilhabe und einer sich daraus ergebenden unreflektierten Zuschreibung von Fremdartigkeit des individuellen Menschen mit Behinderung (Bürli 2011). Dies kann sich nur aus einem als selbstverständlich erscheinenden Umgang mit einem Begriff von Normalität

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heraus entwickeln, der das Fremde, das Anderssein als zu bekämpfendes Gegenkonzept benötigt, um bestehen zu können (Dederich 2007). Es soll an dieser Stelle nicht weiter darauf eingegangen werden, in welchem Ausmaß theoretische Ansätze der Sonder- und Rehabilitationspädagogik der letzten Jahrzehnte selber Anteil an dieser Problematik haben, wenn sie sich bis heute immer noch auf ein zumeist klinisch-defektorientiertes Verständnis von sogenannten ,Normabweichungen‘ in der menschlichen Entwicklung und entsprechenden Verhaltensausprägungen beziehen. Im Folgenden werden zunächst Beispiele für ein konsequent subjektorientiertes Verständnis von Behinderung skizziert, welches notwendig ist, um in professionellen Kontexten vom pädagogischen Behandeln zum pädagogischen Handeln zu kommen. Daran anschließend werden psychotraumatologische Erkenntnisse in einen behindertenpädagogischen Zusammenhang gestellt, der über das traumapädagogische Konzept einer „Pädagogik des Sicheren Ortes“ (Kühn 2006) zu spezifischen Bedingungen von Lernen im schulischen Alltag unter beeinträchtigenden Vorzeichen geführt wird. Behindert werden vs. behindert sein Im wissenschaftlichen Fachdiskurs der letzten vier Jahrzehnte lassen sich besonders zwei bedeutende Theorieansätze verifizieren, die ein individuellpersonenzentriertes Verständnis von Behinderung und deren Auswirkungen auf die menschliche Entwicklung ermöglichen: • die Materialistische Behindertenpädagogik nach Feuser und Jantzen ab den

1970er Jahren, in enger Anlehnung an die Kulturhistorische Schule von Luria, Leontjev und Vygotskij (vgl. u.a. Feuser 2013; Jantzen 2014); • das Konzept der Disability Studies im Sinne einer kritischen Wissenschaft, die sich ab Ende der 1970er Jahre vor allem durch die selbst von Behinderung betroffenen Soziologen Zola (USA) und Oliver (GB) im Umfeld emanzipatorischer Selbsthilfeorganisationen entwickelte und ab 2001 auch im deutschsprachigen Raum zunehmende Bedeutung erlangte (vgl. u.a. Zola 1972; Oliver 1990). Hinzu kamen ab Ende der 1990er Jahre Erkenntnisse aus dem Feld der Psychotraumatologie und Neurologie, die erstmals einen neuen Blick, ein neues Verständnis auch von der Entstehung von Auffälligkeiten in Bezug auf traumabezo-

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gene Reaktionen ermöglichten, welche Menschen mit Lernschwierigkeiten1 bislang abgesprochen und stattdessen ihrer angeblichen Behinderung zugeschrieben wurden. Grundannahmen der Materialistischen Behindertenpädagogik Das Konzept der Materialistischen Behindertenpädagogik ist eng gekoppelt an die Erkenntnisse der Kulturhistorischen Schule, die ab den 1920er Jahren vor allem mit den Namen der sowjetrussischen Forscher Luria, Leontjev und Vygotskij verbunden sind. Bereits damals wurde die sogenannte ,Defektologie‘ (= Behinderung) eines Kindes vor allem durch die Auswirkungen und Probleme im sozial-gesellschaftlichen Austausch beschrieben (Wygotski 1975). Dies wurde später im materialistischen Ansatz von Feuser und Jantzen aufgegriffen und weiterentwickelt, sodass sich ein Verständnis von Behinderung entwickelte, das die besonderen Lebensbedingungen von Menschen mit Lernschwierigkeiten − im Gegensatz zu einem naturalistischen Bezug − als sozial vermittelt und historisch begründet zu verstehen begreift (Jantzen 1990). Nur so lässt sich vermeiden, dass pädagogische Fachkräfte nicht ständig eben das in ihrem Gegenüber hervorrufen, was sie eigentlich bewältigen und überwinden wollen (Jantzen 2012). Ein betroffener Mensch darf in der pädagogischen Arbeit also in diesem Sinne nicht auf seinen Defekt, sein Nichtkönnen oder -wollen reduziert werden (Jantzen 2014). Behinderung ist in diesem Verständnis nicht die Feststellung einer defizitären individuellen Beschädigung, sondern ein soziales Konstrukt (Streibl 2000). Somit nimmt die materialistische Behindertenpädagogik bereits zentrale Ansätze der aktuellen Disabilty Studies mit einem gewissen zeitlichen Vorlauf vorweg. Aspekte der Disability Studies Vertreter_innen der Disability Studies postulieren einen Paradigmenwechsel in der Betrachtungsweise sozialer und gesellschaftlicher Bedeutungszusammenhänge von Behinderung, der sich nicht, wie bisher im wissenschaftlichen Diskurs üblich, an einem Begriff von Normalität ausrichtet, sondern aus einer „dezentrierten“, d.h. einer bervormundenden, entmündigenden dekonstruierenden Position ausgegrenzter Menschen mit Behinderungen Schlussfolgerungen für die soziokulturelle Gestaltung und Entwicklung der Gesamtgesellschaft vollzieht

1

Wir verwenden im Folgenden die Formulierung ,Lernschwierigkeiten‘ statt ,geistiger Behinderung‘, wie dies auch vom Netzwerk People First Deutschland e.V. postuliert wird (vgl. auch http://www.menschzuerst.de, letzter Zugriff 19.02.2017).

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(Waldschmidt/Schneider 2007: 15), um bestehende wirksame Machtstrukturen zu identifizieren, zu analysieren und entsprechende Einflussnahmen bis hin zu Widerstandsformen zu entwickeln (Dannenbeck 2007: 114). Kernthese der Disability Studies, die seit der Jahrtausendwende auch in Deutschland mehr und mehr an Gewicht gewinnen, ist u.a. ein Verständnis von Behinderung aus der Sicht von Betroffenen, das sich primär nicht mehr an einer klinischdefizitorientierten Betrachtungsweise festmachen lässt, sondern sich im Schwerpunkt durch den Grad des Ausschlusses von sozialer und gesellschaftlicher Teilhabe bestimmt; denn der „Mensch ist in seinem Wahrnehmen, Denken und Handeln ohne die Einwirkungen der Kultur (also: Erziehung, Sozialisation und Entkulturation) buchstäblich nicht zu denken“ (Dederich 2007: 37), wie es auch mittlerweile von der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert wurde (WHO 2001/2005). Das Ziel pädagogischen Bestrebens ist daher dementsprechend in der individuell-autonomen Aneignung gesellschaftlicher Teilhabe sowie der Selbstbestimmung zu suchen und zu finden (Kahle 2013). Lebenswirklichkeiten – wenn Gewalt behindert Trotz aller Veränderungen und Entwicklungen der letzten Jahrzehnte in der behindertenpädagogischen Forschung, Lehre und Praxis ist das individuelle Leben mit Behinderung im Alltag statt von Teilhabe und Selbstbestimmung immer noch von zahlreichen, vielschichtigen Gewalterfahrungen geprägt. Nicht selten zeigen die Biografien von Menschen mit Behinderungen, dass Gewalt eine lebenslange Erfahrung von Anfang an ist (Irblich 1999; Jantzen 2000), denn die soziale und gesellschaftliche Missachtung, der sie ausgesetzt sind, äußert sich in Gestalt physischer Demütigungen, Entrechtung, sozialen Ausschlusses und Entwertung der Lebensform. Sie bilden basale und fundamentale Alltagserfahrungen (Katzenbach 2004). So ist es nur zu verständlich, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten ein vielfach erhöhtes Risiko tragen, erneut und wiederholt Opfer von weiteren Stress- und Gewalterfahrungen zu werden (Hennicke 2015a), die u.a. durch fehlende Bewältigungsstrategien gegen Stress und Angst, zahllose, klein erscheinende Mikrotraumata und andauernde Überforderung der individuellen Lern- und Leistungsfähigkeit bedingt sind und entsprechend häufiger zu traumatischen Belastungen führen können. Somit kann die Lernschwierigkeit selbst als ursächlich für die Entstehung von Traumatisierungen verstanden werden (Senckel 2008). Betrachtet man die individuelle Entwicklung unter ,behindernden‘ Faktoren, ist ein betroffenes Kind unzähligen Situationen ausge-

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setzt, die jede für sich alleine bereits ein hohes traumatisches Potenzial in sich tragen: • existenzielle prä- und perinatale Schmerz-, Bedrohungs- oder Gewalterfahrun-

gen; • gravierende Beeinträchtigung der Eltern-Kind-Beziehung und -Bindung bei

• • • • •

Erhalt der Nachricht zur Behinderung des Kindes, später abgelöst oder ergänzt durch überhöhtes elterliches Sorge- und Schutzverhalten, welches die kindliche Autonomieentwicklung erheblich erschwert; zahlreiche invasive medizinische oder therapeutische Behandlungen; grundlegende Erfahrung von Misserfolgen in sozialen Beziehungen, Ausgrenzung und Entwertung; zunehmende Erfahrungen emotionaler, physischer oder sexualisierter Gewalt; unzureichende Kommunikationswege und Permanenz im ,Nichtverstanden Werden‘; fehlende Partizipation und Selbstbestimmung, stattdessen Entmündigung und Bevormundung bis in den alltäglichen Privatbereich hinein (Kühn/Bialek 2014: 229).

Eine soziale Existenz unter behindernden Bedingtheiten muss sich also unter vielschichtig gewaltrelationalen Bedingungen vollziehen, oder anders ausgedrückt: „Wir müssen daher aus medizinischen [und neurowissenschaftlich zwingenden (!)] Gründen von der Annahme Abstand nehmen, dass es organische Beeinträchtigungen gäbe, die zwangsläufig und unmittelbar zu geistiger Behinderung [= Lernschwierigkeit] führen. Die hohen Prävalenzraten spezifischer emotionaler und Verhaltensstörungen sowie ihre Verteilungsmuster bei schwerer geistiger Behinderung [= Lernschwierigkeit] sprechen […] dafür, dass bei allen Schweregraden von Behinderung und auf allen Niveaus von Behinderung Gewalt einen höchst wirksamen Einfluss auf die Entwicklung hat.“ (Jantzen 2002: o. S.)

Konkret gilt es daher für die pädagogische Praxis zu berücksichtigen, dass ein Kind sich umso mehr – wenn auch häufig unverständlich, sozial nicht adäquat oder dysfunktional – auf der Verhaltensebene ausdrücken muss, je weniger es über Kompetenzen auf der verbalisierenden Ebene verfügt, weil das Unverständnis und Nichtverstehen seiner Umwelt, auch in professionellen Kontexten, es dazu zwingt. Kind und Pädagog_in verstricken sich so immer wieder in einen Teufelskreis aus Sanktion und Eskalation. In diesem Zusammenhang von

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,Verhaltensstörungen‘ bei einem Kind mit Lernschwierigkeiten zu sprechen, wäre also in keinster Weise angemessen, denn es handelt sich dabei immer um ein individuell äußerst sinnvolles und entwicklungslogisches Verhalten des Kindes, das es zu entschlüsseln und verstehen gilt (Kühn/Bialek: 2016). Die Entschlüsselung und das Verstehen des individuell hoch sinnhaften kindlichen Verhaltens jeglicher Art bildet die Voraussetzung dafür, dass pädagogische Prozesse erfolgreich geplant und realisiert werden können. Der gewaltgeprägte Alltagshintergrund von Menschen mit Behinderung und eine durch den sozialen Austausch bedingt veränderte Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung führen zu weiteren Beeinträchtigungen bei Kindern mit Lernschwierigkeiten mit ihren je sehr vielfältigen Ursachen. Dazu gehört u.a. eine verringerte Abstraktionsfähigkeit, die eine Verhaltensgeneralisierung in unterschiedlichen, aber ähnlichen Situationen erheblich erschwert und im pädagogischen Alltag viele Wiederholungen notwendig macht. Durch überbehütende Bezugspersonen werden starke Gefühlsäußerungen als Schutz vor einer ,feindlichen Umwelt‘ eventuell unterbunden. Somit ist Passivität, ein vermeintlich ,schwacher‘ Wille, als erlernter Effekt zu verstehen. Kommt erziehungsbedingt hinzu, dass starke negative Gefühle nicht zugelassen oder ,schön geredet‘ werden, kann sich − begleitet durch das individuelle Maß der Beeinträchtigung − nur ein begrenztes, eingeschränktes Gefühlsrepertoire entwickeln. Eine eingeschränkte Körper- und emotionale Wahrnehmung ergibt ein unzureichendes Selbstbewusstsein, welches den Umgang mit anderen Personen im sozialen Umfeld einschränkt. Folgen sind wiederkehrende Erfahrungen von sozialer Ausgrenzung, Ablehnung und Stigmatisierung. Solche ständig wiederkehrenden Erfahrungen von Versagen erklären die Angst vor Veränderung und das Vermeiden von Neuem. Traurigkeit und Scham über das eigene individuelle ,Nichtkönnen‘ führen zur Entwicklung einer schmerzhaften Selbstwahrnehmung, wobei ein Reden über die Trauer und die Scham jedoch häufig nicht stattfindet. Zusätzlich prädestiniert die eingeschränkte Realisierung von Bedrohung und Gewalt Kinder mit Lernschwierigkeiten in erhöhtem Maße dafür, durch Peers und Bezugspersonen manipuliert, hereingelegt und übervorteilt zu werden, so erhöht sich die Gefahr von (Re-)Traumatisierungen in einem nicht unerheblichen Maße (Seubert/McDonagh 2002). Besonders diese beschriebenen Aspekte weisen auf einen Kontext hin, der sich einer alltäglichen fachlichen Diskussion leider viel zu selten stellt: „Mit Menschen zu arbeiten, die wie auch immer geartete Formen von zerstörerischer Gewalt und existenzbedrohendem Grauen erlebt und überlebt haben, heißt immer auch bereit und fähig zu sein, die eigene Handlungspraxis auf potenzielle Macht-, Gewalt- und Unterwerfungsstrukturen hin zu untersuchen.“ (Schul-

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ze/Kühn 2012: 167) Je weniger die pädagogische Fachkraft jedoch ihr Gegenüber als eigenständiges Subjekt mit eigenständigem Selbst- und Weltbild wahrnimmt und individuelles kindliches Verhalten nicht als sinnhaft versteht, desto anfälliger ist sie für Ab- und Ausgrenzungsprozesse, die letztendlich für Stärkung und Erhalt institutioneller Gewaltstrukturen und psychopathologischer Zuschreibungen stehen. Zudem werden Pädagog_innen durch herausfordernde, oftmals unverständliche kindliche Verhaltensweisen mit eigenen Erfahrungen von Entmutigung, Hilflosigkeit oder gar Angst konfrontiert, die nicht selten dazu führen, dass die Wahrnehmung eigener Ratlosigkeit und Handlungsunfähigkeit zu vermehrtem Druck auf das Kind führen, das unerwünschte Verhalten unbedingt zu unterlassen. Eine solche unreflektierte Beziehungsarbeit zwischen Pädagog_in und Kind muss daher zwangsläufig darin enden, dass die Heranwachsenden sich durch Anpassung und Unterwerfung der Zuwendung der Pädagog_innen versichern müssen, um nicht ausgeschlossen zu werden. Gelingt dies nicht, ist der Preis die soziale Ausgrenzung (Jantzen 1999) oder sogar die Psychiatrisierung des Kindes mit Lernschwierigkeiten. Aus Sicht des traumatisierten Kindes wird dies als erneute Gewalterfahrung und Verletzung der eigenen Integrität wahrgenommen, wodurch Pädagog_innen unfreiwillig zum Teil des ,Täter_innensystems‘ werden. Hilfe wird in diesem Zusammenhang also nicht mehr als Hilfe erlebt, sondern muss, um erneute Ohnmacht zu vermeiden, widerständig abgewehrt und bekämpft werden − nur so lässt sich die individuelle Restautonomie sichern. „Von den Adressatinnen aus denkend geht es [daher] darum, verengte oder gar strukturell gewalttätige institutionelle Bedingungen aufzubrechen und die Zielorientierung professionellen Handelns in Richtung einer Perspektivenvielfalt zu öffnen.“ (Jantzen 1999: 167) Pädagogik des Sicheren Ortes – dem Unaussprechlichen begegnen Zur Lebensrealität von Menschen mit Lernschwierigkeiten gehört die Erfahrung, in den eigenen Ausdrucks- und Gestaltungsversuchen zugunsten einer Anpassung an Förder- und Bildungsziele übergangen zu werden. Damit werden auch in professionellen Systemen wohlgemeinter Hilfe und Unterstützung Erfahrungen von Gewalt erlebt. „So entsteht eine Situation, in der Eltern, Heilpädagogen und Ärzte das Kind keineswegs als Subjekt mit Wünschen verstehen, sondern es als Pflegeobjekt den verschiedenen Wiederherstellungssystemen unterziehen und ihm so jede sprachliche Ausdrucksmöglichkeit als Person rauben.“ (Mannoni 1964/1972: 11) Ausgangspunkt pädagogischen Handelns muss deshalb immer ein Verständnis des Selbst- und Weltbildes des Gegenübers darstellen, um im

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Sinne dieser individuellen Lebensentwürfe gemeinsam handeln zu können (Kühn/Bialek: 2016). Wie sollen Förderangebote glaubhaft vermittelt und von einem Gegenüber angenommen werden, wenn sich das Kind nicht als behindert versteht? Es gilt daher, einen sicheren Raum für eine traumabearbeitende Entwicklungsmöglichkeit im Sinne einer „Pädagogik des Sicheren Ortes“ (Kühn 2006) zu gestalten, wie es an anderer Stelle schon ausführlich beschrieben wurde (Kühn 2009, 2011a): „Ein Trauma – auch eines, das durch absichtliche oder unbeabsichtigte Vernachlässigung verursacht wurde – führt zu einer Überlastung der Stress-Reaktionssysteme, die durch Kontrollverlust gekennzeichnet ist. Deshalb muss die Behandlung traumatisierter Kinder [und der pädagogische Umgang mit ihnen] mit der Herstellung einer sicheren Atmosphäre beginnen. Das geschieht am einfachsten und wirksamsten in Verbindung mit einer vorhersagbaren, respektvollen Beziehung.“ (Perry/Szalavitz 2008: 197)

Es stellt sich also die Frage, wie der geforderte Respekt und die Vorhersagbarkeit gestaltet werden können, ohne dass sich Pädagog_innen erneut in eine überhöhte Machtposition versetzen und dadurch die pädagogische Absicht selber konterkarieren; denn wird „die vom Opfer erfahrene Gewalt durch Dialog und Anerkennung außer Kraft gesetzt, so zeigen sich auch bei schwerer Behinderung erstaunliche Kompetenzen und Entwicklungen" (Jantzen 2002: o. S.). Institutionelle und pädagogische Macht- bzw. Gewaltstrukturen stellen somit ein großes Problem in der Realisierung traumabearbeitender pädagogischer Angebote dar. Es gilt zukünftig daher als unabdingbar für die Umsetzung einer traumasensiblen pädagogischen Praxis, dass ein unzureichend qualifiziertes Personal in diesem pädagogischen Feld nicht länger akzeptiert werden kann, denn dazu sind die traumapädagogischen Aufträge viel zu anspruchsvoll und komplex, wie sich im Laufe der Entwicklung der letzten zwei Jahrzehnte gezeigt hat. Gab es in den Anfangszeiten der Traumapädagogik noch eine deutliche Anlehnung an traumatherapeutische Phasenmodelle (Herman 1992/1998; Kühn 2006), so haben sich fachliche Konzepte in den letzten Jahren zunehmend davon emanzipiert und einen eigenständigen Beitrag in der psychosozialen Versorgung traumatisierter Menschen entwickelt, wie Abbildung 1 deutlich macht.

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Abbildung 1: Die traumapädagogischen Aufträge

Quelle: Kühn 2015

Vor jeglicher pädagogischen Intervention kommt das Verstehen, oder anders ausgedrückt: Vor der Erziehung kommt die Beziehung (Gaus/Drieschner 2011: 8). Jedes kindliche Verhalten ist als individuell hoch sinnhaft zu begreifen, auch das herausfordernde, scheinbar dysfunktionale, denn es ist das Ergebnis des individuellen historischen Austauschprozesses des Kindes mit seiner Umwelt und somit entwicklungslogisch (Kühn/ Bialek: 2016). In der pädagogischen Begegnung gelingt ein entwicklungsförderlicher Beziehungsaufbau nur, wenn es zwischen den Beteiligten zu einem gegenseitigen Prozess des Verstehens kommt, wie es bereits vor vielen Jahrzehnten von Buber im „Dialogischen Prinzip“ beschrieben wurde (Buber 2001). Dazu bedarf es der Anerkennung des individuellen Gegenübers durch die Pädagog_innen „als übergreifende Kategorie (der Pädagogik, des Zusammenlebens, der Begegnung), die: einerseits den anderen als Menschen innerhalb der Menschheit erkennt und anerkennt, unterstützt, ihm dialogisch, in Kommunikation und Kooperation begegnet und andererseits, den bereits ausgegrenzten, benachteiligten oder geächteten Menschen (wieder) in den Zustand der Würde und Ehre versetzt und ihm die Bedingung der Möglichkeit von Entwicklung schafft [...]. Anerkennung gilt daher als eine Prämisse, die die Reflexion der individuellen Bedingungen zur Entwicklung eines Menschen und die gesellschaftlichen Umstände einschließt“ (Ziemen 2003: o.S.; vgl. auch Jantzen 1998: 187).

Kernauftrag der professionellen Helfer_innen und Pädagog_innen in der Arbeit mit traumatisierten Kindern mit Lernschwierigkeiten sind konsequente und jederzeit verfügbare Stabilisierungshandlungen. Besonders bei chronisch traumati-

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sierten Mädchen und Jungen besteht eine permanente Gefährdung dahingehend, dass ihre Notfallreaktionen (Kampf- und Fluchtreaktion, Erstarren, Dissoziation) bereits durch kleinste neue alltägliche Anforderungen, Situationen oder Abweichungen von der gewohnten Routine aktiviert werden können (Hüther u.a. 2012). Dies erfordert eine hohe Aufmerksamkeit vonseiten der Fachkräfte, um sowohl kleinere als auch größere Räume der Verunsicherung zu identifizieren und fachgemäß darauf reagieren zu können, denn „Strategien zur Beruhigung und Herstellung von Sicherheit gehören [...] zum Grundinventar in der Arbeit mit traumatisierten Menschen“ (Kühn 2015: 43). Können Beruhigung und Sicherheit nicht hergestellt werden, entsteht auch kein dialogischer Raum zwischen den Kindern und den Pädagog_innen, d.h., „die Aneignung kultureller und sozialer Güter“ (Ziemen 2002: o.S.) in sozialen Austauschprozessen findet nicht mehr oder nur noch unzureichend statt. Es lässt sich daher festhalten, dass für eine entwicklungsfördernde pädagogische Arbeit mit traumatisierten Kindern mit Lernschwierigkeiten Fachkräfte vorhanden sein müssen, die • über ausreichendes psychotraumatologisches Wissen verfügen, • eine hohe selbstreflexive Kompetenz in Bezug auf Übertragung und Gegen-

übertragung zeigen, • kindliches Verhalten als hoch sinnhaft verstehen • und somit in der Lage sind, Teilhabe anzubahnen und zu erweitern, um eine individuelle Perspektivplanung zu ermöglichen. Lernen – ein Prozess der Anpassung oder der Erfahrung? „Die Pädagogik löst das Problem jedoch nicht damit, Bildungsinhalte vorzuenthalten, zu parzellieren oder extrem zu reduzieren. Die Aufgabe der Schule besteht nicht darin, sich dem Defekt anzupassen, sondern ihn zu überwinden.“ (Vygotskij 1931/2001: 133; vgl. Ziemen 2002)

Die Realität der deutschen Bildungslandschaft stellt sich allerdings selbst bis heute anders dar: „Schule wird heute vor allem durch Scham und Beschämung blockiert. Gelingendes Lehren und Lernen erfordern eine Kultur der Anerkennung und die Aufarbeitung der eigenen Scham-Geschichte. […] Diese Scham ist mehr als nur Angst vor Strafe, nämlich die Angst, aus der Gesellschaft ausgestoßen zu werden (sozialer Tod), vor totaler Verlassenheit, psychischer Vernichtung.“ (Marks 2005: 6) Eine Kultur der Anerkennung ist dabei sowohl eine Frage auf struktureller Ebene als auch eine Frage der persönlichen ,Face-to-FaceBegegnung‘. Stellen Bildungseinrichtungen damit vielleicht selbst ein potenziell

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hoch traumatisierendes Feld dar? Diese Frage haben die einzelnen Einrichtungen individuell für sich zu klären, denn traumatisierte Menschen zeigen vielfältige Probleme, die ein zielgerichtetes Lernen in Unterrichtssituationen erheblich erschweren und damit ein Risiko für weitere retraumatisierende Erfahrungen bilden: • Konzentrations- und Aufmerksamkeitsprobleme, • Angst und Entsetzen durch anscheinend harmlose, aber reizauslösende Situati-

onen, • dadurch ausgelöste weitere Erregungszustände, • erhebliche Unfähigkeit mit Ungewissheit in neuen Situationen umzugehen, • beeinträchtigtes Erinnerungsvermögen und weitreichende Vermeidungssymp-

tome, die zu gravierendem Energieverlust in Bezug auf kognitive Lernleistungen führen (Vaysgluz 2007). So kann sich bei Kindern mit Lernschwierigkeiten − mehr als bei anderen Adressat_innen − prozessual „erlernte Hilflosigkeit“ (Seligman 1975/1979) entwickeln oder anders formuliert: „Dummheit als Symptom“ (Katzenbach 2002), denn ,Sich-dumm-Stellen‘ kann einen Schutz für das traumatisierte Kind bieten, so absurd es für manche professionelle Ohren auch klingen mag. Es geht also darum, gemeinsam mit traumatisch belasteten Menschen die individuelle Alltagswelt auch in der Schule so zu gestalten, dass ein größtmögliches, sowohl inneres als auch äußeres Gefühl von Sicherheit entstehen kann. Im pädagogischen Kontext entspricht dies einer Haltung, die sich im Dialog auf die in unterschiedlichster Art ausgedrückten Bedürfnisse eines Menschen einlässt und entsprechend handelt. Was im Einzelfall für einen Menschen das Gefühl von subjektiv erlebter Sicherheit herstellt, kann sehr unterschiedlich sein und entspricht einer ,pädagogischen Spurensuche‘ durch die Fachkräfte. Erst durch das immer wieder erfahrene Gefühl, in der Beruhigung des eigenen Stress-Reaktionssystems unterstützt zu werden, kann sich beim traumatisierten Mädchen oder Jungen mit Lernschwierigkeiten Vertrauen zu einem anderen Menschen wieder entwickeln und das Gehirn erneut in einen Zustand gelangen, in dem es offen wird für neue Lernerfahrungen.2 Für die Gestaltung schulischen Lernens bedeutet dies zum einen, dass der Aspekt von Sicherheit vorrangig vor jeglichen Lerninhalten beachtet werden muss, da bei traumatisch belasteten Menschen aus hirnphysiologischer Sicht in einem unsicheren Umfeld Notfallprogramme aktiv sind, die kogni-

2

Wir beziehen uns hier auf neurowissenschaftliche Erkenntnisse, wie sie beispielsweise von Hüther u.a. (2012) ausführlich beschrieben wurden.

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tives Lernen stark erschweren oder sogar verhindern. Diese Zusammenhänge gilt es auch Kindern und Jugendlichen altersgemäß zu erklären, um destruktive Selbstbilder zu korrigieren und ihre Handlungsfähigkeit wiederherzustellen (Krüger 2011). Zum anderen bedeutet dies, dass schulische Inhalte so gestaltet werden müssen, dass sie von allen Schüler_innen bewältigt werden können. Das wiederkehrende Erleben von Misserfolgen führt erstens zu weiterem Stress, der vermieden werden muss, und zweitens knüpft es an traumatische Erfahrungen von Handlungsunfähigkeit an. Erst auf der Basis des Erlebens, etwas bewältigen, handeln zu können und darin erfolgreich zu sein, können sich neue, aufbauende Lernerfahrungen realisieren. Dieser Bereich, in dem ein Mensch, wo auch immer er in seiner Entwicklung steht, kompetent und handlungsfähig ist, muss deshalb als Basis schulischen Weiterlernens unbedingt gefunden werden. Ein bis heute hilfreiches Konzept zur Identifizierung von Lernentwicklungsräumen ist die „Zone der nächsten Entwicklung“ nach L.S. Vygotskij, das bereits in den 1930er Jahren entwickelt und beschrieben wurde (Vygotskij 1978: 86). Zukunftsorientiert bezieht sich die „Zone der nächsten Entwicklung“ (ZNE) demnach nicht auf den aktuellen Entwicklungsstand des Kindes, der in der Vergangenheit erreicht wurde, sondern auf die zukünftig nächstmöglichen Schritte; sie „bezeichnet [somit] die Distanz zwischen (1) dem momentanen Entwicklungsstand einer Person, der über eigenständiges Problemlösen bestimmt wird, und (2) dem Stand der potenziellen Entwicklung, der über das Problemlösen mithilfe Erwachsener oder in Kollaboration mit (fortgeschritteneren) Gleichaltrigen erreicht werden kann [...]. Die ZNE kann somit als ein Maß für das Lernpotenzial eines Individuums relativ zu seinem momentanen Entwicklungsstand verstanden werden. Ausgehend von dem Konzept […] soll sich die Instruktion [...] mehr an dem Stand der möglichen Entwicklung als an dem Stand der aktuellen Entwicklung orientieren“ (Rapp 2015: o.S.; vgl. Vygotskij: 1978).

Die ZNE beschreibt somit bereits damals ein Prinzip, das heute traumapädagogisch wieder aufgegriffen wird: Lernen und Entwicklung von traumatisierten Kindern mit Lernschwierigkeiten findet in sozialen Austauschprozessen in Unterstützungsnetzwerken statt und sichert so den notwendigen Dialog zwischen Kind und Pädagog_in, um soziale und gesellschaftliche Teilhabe des Kindes mit Lernschwierigkeiten wieder herzustellen und eine individuelle positive Perspektiventwicklung zu ermöglichen (vgl. Abbbildung 3). Im Rahmen eines solchen „Geschützten Dialogs“ (Kühn 2011b: 154f.) und mit dem Wissen um eine traumabedingt eingeschränkt stattgefundene Gehirnentwicklung bei chronischen, frühkindlichen Traumatisierungen macht das Kind mit Lernschwierigkeiten die Erfahrung, dass die Anforderungen im schulischen Rahmen bewältigbar sind, al-

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so „Lern-Sprünge statt Lern-Behinderungen“ (Jürgensen 2015: 13) möglich werden, da das menschliche Gehirn lebenslang entwicklungsfähig und zur Veränderung fähig ist. Schule ist mehr als Unterricht Die größte Herausforderung für den Schulalltag wird wohl im fachlich angemessenen Umgang mit dem traumabezogenen Symptomverhalten des Kindes liegen. Zu berücksichtigen ist dabei, dass sich Symptomverhalten nicht unterdrücken lässt, da es für das Mädchen oder den Jungen eine entwicklungslogische Sinnhaftigkeit hat und somit früher existenzsichernd war. Herausforderndes Verhalten, das traumatisch bedingt ist, muss also als Überlebensleistung des Kindes verstanden werden. Traumabezogene Verhaltensweisen entziehen sich der bewussten Steuerung und Kontrolle des Kindes, da sie aus der unbewussten Dynamik traumatischer Verarbeitungsweisen entstehen (Fischer/Riedesser 2003: 371). Um Prozesse der Verhaltenssteuerung auf der regulativen Ebene verändern zu können, ist es aber notwendig, das, was verändert werden soll, zunächst wahrzunehmen. Da die physische und emotionale Wahrnehmung (z.B. Körperselbstbild, Schmerz- und Temperaturempfinden oder Selbst- und Fremdwahrnehmung von Gefühlen) eines traumatisierten Mädchens oder Jungen erheblich beeinträchtigt ist, bedarf es einer sensiblen Herangehensweise durch die Pädagog_innen, um Wahrnehmung auf der einen Seite (wieder) zu fördern, dabei aber die Grenzen traumabezogenen Selbstschutzes nicht zu überschreiten. Wird in pädagogischen Prozessen zu schnell auf der Ebene der Verhaltensregulation gearbeitet (Verhaltensverstärkung, Appelle an Vernunft oder Disziplin, usw.), bevor eine diesbezügliche Wahrnehmungsfähigkeit aufseiten des Kindes besteht, laufen diese Versuche ins Leere und es werden erneute Erfahrungen des Scheiterns hergestellt. Es ist deshalb in jedem auf Selbstregulation angelegten Kontext unbedingt zu prüfen, ob einem jungen Menschen die für die geforderten Leistungen notwendigen Wahrnehmungsfähigkeiten so weit zur Verfügung stehen, dass er auf dieser Ebene agieren und die Erwartungen erfüllen kann. Häufig werden als Problem definierte Verhaltensweisen oder als Ziel definierte Fähigkeiten ausschließlich auf der regulativen Ebene angegangen und damit lediglich Bedingungen hergestellt, gegen die ein traumatisierter Mensch sich wehren muss, weil sie für ihn nicht umsetzbar oder erreichbar sind. Resultierende Verhaltens- und Ausdrucksweisen werden dann oft im Sinne einer neuen oder verstärkten Symptomatik verstanden, obwohl sie eigentlich Ausdruck nicht passender pädagogischer Prozesse sind. Für traumatisierte Kinder und Jugendliche ist es überlebenswichtig, jede Minute des Alltags einschätzbar und unter Kontrolle

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zu haben. Dazu greifen sie auf ihnen vertraute Verhaltensweisen zurück, weil diese Sicherheit vermitteln, wie z.B.: • Nico ist nur zeitlich begrenzt in der Lage, dem Unterricht zu folgen. Immer

wieder beginnt er nach einem gewissen Zeitraum den Klassenkasper zu spielen. Anstatt sich neuen Anforderungen im Unterricht zu stellen, erzeugt er eine Atmosphäre im Klassenraum, auf welche die Lehrkraft für ihn einschätzbar und ,vertraut‘ reagieren wird, nämlich mit Disziplinierung oder Sanktionierung. So behält er die Kontrolle über die Situation. • Jennifer fällt unter Druck oder bei kleinsten Veränderungen im Alltag durch extrem unverschämtes Verhalten Erwachsenen gegenüber auf. Auch Fachkräfte reagieren auf sie daraufhin wütend oder aggressiv und verhalten sich bald so, wie Jennifer Erwachsene aus dem familiären Umfeld kennt. Dies schafft für sie vermeintliche Sicherheit durch vertraute Situationen. Besonders im Schulalltag macht die Überprüfung der Realisierbarkeit von Zielplanungen für das kindliche Individuum so immer wieder deutlich, dass fast ausschließlich regulative Prozesse durch die Lehrer_innen gefordert werden und scheitern müssen, weil die notwendigen Voraussetzungen in der Wahrnehmung des Kindes noch nicht vorhanden sind. Selbstregulation ist also demnach durch das Kind erst möglich, wenn eine ausreichende Basis an Selbstwahrnehmung vorhanden ist. Es soll an dieser Stelle noch einmal nachdrücklich betont werden, dass Erfolg oder Scheitern von Bildungsprozessen nicht allein von den kindlichen Defiziten oder von der Handlungsunfähigkeit der Lehrkräfte abhängt, denn die Antwort liegt in einer multisystemischen Sichtweise und dazu bedarf es entsprechender traumasensibler Konzepte für Bildungseinrichtungen, die traumatisierte Kinder mit oder ohne Lernschwierigkeiten beschulen (Möhrlein/Hoffart 2014), um Räume der Selbstwirksamkeit zu gestalten. Dies dient dem Schutz und der Unterstützung der Lehrkräfte, denn Traumapädagogik bedeutet immer auch interdisziplinäre Teamarbeit statt Einzelkämpfertum. So individuell, wie sich die Auswirkungen traumatischer Lebenserfahrungen auf die Entwicklung von Kindern zeigen, so individuell ist auch die Gestaltung von stabilisierenden Entwicklungsräumen − auch oder gerade in der Schule. Zum jetzigen Zeitpunkt bedeutet traumapädagogisches Handeln im schulischen Kontext noch Pionierarbeit; der Inklusionsdiskurs sowie die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen in Bezug auf junge Menschen mit Fluchterfahrungen machen die Aktualität des Themas „Trauma“ jedoch auch für schulische Einrichtungen deutlich. Im Sinne der betroffenen Mädchen und Jungen gilt es daher gemeinsam zu lernen, über

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T RAUMA UND B EHINDERUNG | 511

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Postkoloniale Ambivalenzen Trauma und Schule in Entwicklungs- und Schwellenländern B IRGIT E ISSNER Dieser Beitrag beschäftigt sich mit den Herausforderungen, die bei der Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen aus nicht-westlichen Kulturen damit verbunden sind, für sie geeignete Unterstützungsleistungen zu finden. Dabei richtet sich der Beitrag vor allem an Lehrkräfte und Pädagogen_innen1, die vorhaben im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) an Schulen zu unterrichten. Wie zu zeigen sein wird, spielen Ambivalenzen postkolonialer Verhältnisse hierbei eine wichtige Rolle. Auch für (Sozial-)Pädagogen_innen, die beispielsweise planen, mit Geflüchteten in Deutschland zu arbeiten, sind die aus der Entwicklungshilfe gewonnenen Einsichten bezüglich der Traumaarbeit mit Geflüchteten nützlich. Die Situationen ähneln sich insofern, als in beiden Fällen westliche Vorstellungen von seelischem Leiden dominieren und Hilfsangebote, deren Gestaltung auf diesen Vorstellungen basieren, bei Menschen, die nicht im Westen sozialisiert wurden, oftmals nicht die erhofften positiven Wirkungen zeigen. Viele Erkenntnisse, die in dieser Hinsicht aus der EZ gezogen werden können, sind daher auf die Arbeit mit Geflüchteten, die aus Ländern nicht europäischer kultureller Prägung stammen (z.B. aus Nigeria, Eritrea, Syrien, Afghanistan), übertragbar. Inhaltlich ist dieser Beitrag wie folgt gegliedert: Der Artikel beginnt mit der Skizzierung der rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Schule in Entwicklungs- und Schwellenländern, um die Belastungen, die für Kinder und Jugendliche mit dem Schulbesuch in diesen Ländern verbunden sind, zu veranschaulichen. Der regionale Fokus liegt dabei auf Indien, Papua

1

Es wird, wenn möglich, die Gendergapschreibweise verwendet. Ist dies nicht möglich, beinhaltet die gewählte kürzere Form Frauen und Männer bzw. Mädchen und Jungen.

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Neuguinea und Fidschi2, also Ländern, die jeweils als Entwicklungs- bzw. Schwellenland eingeordnet werden können,3. Die Begriffe ‚Entwicklungsland‘ bzw. ‚Schwellenland‘ sind allerdings per se ungenau. Es gibt eine Vielzahl von möglichen Kriterien, anhand derer sie voneinander abgegrenzt werden können. Als zentrale Elemente sollen hier für ‚Entwicklungsland‘ die wirtschaftliche Abhängigkeit von Entwicklungshilfegeldern gelten, während für ‚Schwellenland‘ ausschlaggebend ist, dass derartige Staaten zwar bereits in Teilen eine funktionierende Wirtschaft haben, aber − je nach Region und Schichtzugehörigkeit − eklatante Einkommensunterschiede bestehen.4 Entwicklungshilfeprojekte gibt es daher auch in Schwellenländern wie dem in diesem Artikel aufgeführten Indien. Die in diesem Artikel unter den Begriffen ‚Entwicklungsland‘ und ‚Schwellenland‘ aufgeführten Nationen sind darüber hinaus dadurch geprägt, dass sie über längere Zeit unter der Kolonialherrschaft westlicher Nationen standen. Hauptaugenmerk liegt auf denjenigen Menschen, die in ländlichen, abgeschiedenen Regionen leben, und deren Einkommen unterhalb der Armutsgrenze liegt. Eine kritische Analyse der Erfahrungen, die Entwicklungshilfeorganisationen (EO) hinsichtlich von Trauma-Hilfsprogrammen in den letzten Jahrzehnten gewonnen haben, schließt an die Skizzierung der Rahmenbedingungen von Schule

2

Auf andere Entwicklungs- und Schwellenländer wird punktuell Bezug genommen.

3

Zum Teil wird auf sozio-kulturelle Gegebenheiten Bezug genommen, die in allen drei Ländern vorhanden sind (so z.B. die Geschichte der Kolonialisierung und die Problematiken für die Bevölkerung in den ländlichen, abgelegenen Gebieten der jeweiligen Länder). Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass es keine Unterschiede zwischen den genannten Nationen und deren Kulturen gibt. Zudem existieren auch innerhalb der jeweils beschriebenen Länder oftmals erhebliche kulturelle und soziale Unterschiede.

4

Gerade in Indien sind die Einkommensunterschiede für unser deutsches Verständnis unvorstellbar hoch: Es existiert eine extrem reiche Oberschicht mit über 43 MultiMilliardären (http://www.forbes.com/india-billionaires/list/#tab:overall; abgerufen am 02.01.2016). 58 % der Bevölkerung Indiens hingegen müssen mit weniger als 2,85 € am Tag überleben. 2,85 € pro Tag und Person stellt die ‚normale‘ Armutsgrenze dar; als ‚extreme Armut‘ gilt ein Einkommen von weniger als 1,74 € pro Tag und Person (http://databank.worldbank.org/data/reports.aspx?source=poverty-and-equity-database; abgerufen am 03.06.2016). Und auch im Vergleich mit dem Kontinent, den wir Deutsche für den Inbegriff von Armut und Not halten, nämlich Afrika, schneidet Indien erschreckend ab: In nur „acht der 35 Bundesstaaten [Indiens] leben heute mehr Arme als in allen Ländern südlich der Sahara“ (Buchsteiner 2011: 5).

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in Entwicklungs- und Schwellenländern sowie an die Schlüsse, die daraus gezogen werden können, an. Hinsichtlich der Frage, welche Unterstützungsleistungen Lehrkräfte und Pädagogen_innen seelisch belasteten Kindern und Jugendlichen im Kontext der EZ und in der Geflüchtetenarbeit anbieten können, wird gezeigt, dass eine one-sizefits-all Lösung weder sinnvoll ist, noch existiert. Handlungs- und Denkimpulse für den Aufbau von geeigneten Unterstützungsleistungen werden aufgezeigt. Der Beitrag endet mit einer Reflexion von Schule und Trauma im Kontext kolonialisierungskritischer Überlegungen zu Globalisierung. Die Rolle von Schulbildung in Entwicklungs- und Schwellenländern Wer sich als Lehrer_in oder (Sozial-)Pädagog_in für die Tätigkeit an einer Schule in Entwicklungs- und Schwellenländern interessiert, wird mit Sicherheit in armen, möglicherweise auch in politisch (noch) nicht stabilen Ländern arbeiten.5 6 Die Arbeit von Entwicklungshilfeorganisationen in diesen Ländern ist

5

Die Arbeit in Entwicklungs- und Schwellenländern ist dabei zu unterscheiden von dem Einsatz in Krisen- oder Kriegsgebieten. Während Hilfsorganisationen in Entwicklungs- und Schwellenländern Projekte anbieten, die die Gesellschaften darin unterstützen sollen, soziale und wirtschaftliche Probleme dauerhaft zu überwinden, ist der Einsatz in Kriegs- und Krisengebieten von humanitärer (Not-)Hilfe geprägt. Die politischen Umstände dort sind meist höchst instabil. Schulbetrieb ist unter solchen Bedingungen kaum durchführbar, obschon Schulbildung auf der Wunschliste der Kinder und Jugendlichen sowohl in Kriegs- und Krisengebieten, als auch in Entwicklungs- und Schwellenländern regelmäßig ganz oben steht − gleich nach der Befriedigung materieller Bedürfnisse und dem Wunsch nach Sicherheit (McDonald 2002: 27). Dambisa Moyo stellt ihrem Buch ”Dead Aid“ folgenden Hilferuf der beiden auf ihrer Flucht aus Guinea tödlich verunglückten Teenager Yaguine Koita und Fode Tounkara voran: ”To the Excellencies and officials of Europe: We suffer enormously in Africa. Help us. We have problems in Africa. We lack rights as children. We have war and illness, we lack food ... We want to study, and we ask you to help us study so we can be like you, in Africa“ (Moyo 2009: Introduction).

6

Projekte der EZ finden hingegen überwiegend in armen, aber politisch relativ stabilen Ländern statt. Dass diese Länder politisch relativ stabil sind, bedeutet allerdings nicht, dass sie im Hinblick auf demokratische Grundelemente verlässlich funktionieren würden. Die Gründe dafür sind vielfältig und haben sowohl historische, als auch aktuelle politische sowie traditionelle Entwicklungen zur Ursache.

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darauf angelegt, langfristig bessere Lebensbedingungen für die Menschen zu schaffen. Die „Personalisations-, Enkulturations- und Qualifikationsfunktion“ von Schule (Wiater 2009:110ff.) bildet die hochkomplexe Schnittmenge zwischen dem Sozialen und dem Wirtschaftlichen, da einerseits soziale Kompetenzen erlernt werden und Wertevermittlung stattfindet, andererseits Menschen dazu befähigt werden sollen, ihr eigenes Einkommen erwirtschaften zu können. Somit wird Schulbildung nicht nur auf individueller bzw. Familienebene als ein zentrales Grundelement auf dem Weg zu wirtschaftlicher Selbstständigkeit der Menschen verstanden, sondern auch als essentieller Baustein auf dem Weg zur wirtschaftlichen Unabhängigkeit der Entwicklungs- bzw. Schwellennationen insgesamt begriffen. Ob sich diese Erwartungen an Schulbildung erfüllen können, soll nun anhand eines kurzen Aufrisses der rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in den Schwerpunktländern Papua Neuguinea, Fidschi und Indien untersucht werden. Schule in Entwicklungs- und Schwellenländern: Zwischen Chance und neo-kolonialer Realität. Während in praktisch allen Industrienationen Bildung ein im Grundgesetz verankertes Recht darstellt, das gleichzeitig mit einer gesetzlichen Pflicht zum Schulbesuch einhergeht, stellt sich die Situation in den meisten Entwicklungsund Schwellenländern anders dar. Zwar haben auch die meisten dieser Staaten die UN Charta der Menschenrechte unterzeichnet7 und sich somit dazu verpflichtet, ihren Bürger_innen mindestens die Grundbildung kostenfrei zu ermöglichen8,, jedoch stellt Schule aufgrund der indirekten Schulgebühren (Schuluniform, Schulmaterialien und den Transport zur Schule) oftmals einen kaum finanzierbaren Luxus für Familien dar. Sogar wenn Schulen vor Ort oder in der Nähe vorhanden sind, werden Mädchen in Entwicklungs- und Schwellenländern oftmals nicht zur Schule geschickt, da ihr Beitrag zum finanziellen und sozialen Funktionieren des Familienalltags unentbehrlich ist (z.B. Feldarbeit, Haushaltspflichten wie Kochen, Waschen und Hüten jüngerer Geschwister obliegen häufig den Mädchen). Jungen hingegen stehen insbesondere dann, wenn sie Erstgeborene sind, sehr früh schon unter dem Druck, durch bezahlte Arbeit Einkommen für die Familie zu erwirtschaften − nicht zuletzt, um ihren Geschwistern den Schulbesuch zu ermöglichen.

7 8

Ausnahmen sind bspw. die Cook-Inseln, West-Sahara und Palästina. Artikel 26, Satz 1 der UN Charta, z.B. unter: http://www.un.org/depts/german/men schenrechte/ aemr.pdf; abgerufen am 07.06.2015.

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In Indien besteht Schulpflicht seit 20099. Bildung stellt den „dritthöchste[n] Ausgabeposten in durchschnittlichen [...] Haushalten“ (Buchsteiner 2011: 5) dar. Bei einer Armutsrate von 58 % – was einem Tageseinkommen von unter 2,85 € entspricht – ist der Schulbesuch für viele Inder damit schlicht nicht bezahlbar. Trotz verschiedener Programme zur Förderung von Armen, wie z.B. dem Programm ”Right to Education“10, sind kaum Verbesserungen zu verzeichnen. Buchsteiner fasst desillusioniert zusammen: „Die staatlichen Armutsbekämpfungsprogramme füllten vor allem die Taschen korrupter Beamter“ (2011: 6). Indien weist in der Tat nicht nur die höchste Analphabetenrate weltweit auf; als Folge der ausgeprägten Benachteiligung von Mädchen können gerade einmal über 50 Prozent aller Frauen in Indien lesen und schreiben.11. Bei Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren scheint sich die Situation vordergründig verbessert zu haben: Die Grundschulabschlussrate liegt in Indien mit 95 Prozent zwar sehr hoch – trotzdem können aber nur 74 Prozent der weiblichen und 88 Prozent der männlichen Jugendlichen lesen und schreiben.12 Kinder und Jugendliche in Entwicklungs- und Schwellenländern müssen also oft beides gleichzeitig leisten: Zur finanziellen Existenzsicherung der Familie beitragen und die Schule besuchen. Zudem lastet die Erwartung auf ihnen, aufgrund des Schulbesuches eine wirtschaftlich bessere Zukunft für sich und ihre Familien zu erschaffen. Klar ist, dass unter diesen Umständen Schule sowohl eine ungeheure Verantwortung, als auch eine enorme Belastung für die Kinder und Jugendlichen darstellt. Erschwerend kommt hinzu, dass es in Entwicklungs- und Schwellenländern zu wenige Schulen in abgelegenen oder schwer zugänglichen

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Vgl. hierzu den am 21. Juli 2009 erschienenen Artikel von Dean Nelson: http://www. telegraph.co.uk/news/worldnews/asia/india/5879160/India-makes-education-compul sory-and-free-under-landmark-law.html; abgerufen am 03.06.2016.

10 Siehe http://www.archive.india.gov.in/citizen/education.php?id=38; abgerufen am 03.06.2016. 11 In Papua Neuguinea lag die Erwachsenenalphabetisierungsrate 2010 hingegen bei 60.6%

[http://www.indexmundi.com/facts/indicators/SE.ADT.LITR.ZS/compare#

country=pg; abgerufen am 30.06.2016], während sie in Fidschi 2003 (aktuellere Daten liegen nicht vor) 93,7% betrug [https://www.cia.gov/library/publications/resources/ the-world-factbook/geos/fj.html; abgerufen am 30.06.2016] 12 http://www.unesco.org/uil/litbase/?menu=9&programme=82; abgerufen am 03.07. 2015.

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Regionen gibt. Dort lebt aber auch heute noch der bei weitem größte Anteil der Bevölkerung der Entwicklungs- und Schwellenländer.13 Die Kinder und Jugendlichen müssen dann entweder zu Verwandten in die nächstgrößere Stadt ziehen oder in sogenannten boarding schools leben. Das ,Herausgerissen-Werden‘ aus einem ländlichen, klar strukturierten und einfach überschaubaren Lebensalltag impliziert gravierende Belastungen für diese Kinder und Jugendlichen und das Leben in Städten überfordert viele von ihnen massiv, sodass sie die Schule vorzeitig abbrechen. Wie schwierig es für Kinder und Jugendliche in abgelegenen Gegenden sogar dann sein kann, regelmäßig und dauerhaft in den Genuss des Grundrechtes auf Bildung zu kommen, wenn es Schulen in diesen Gegenden gibt, soll das nachfolgende Beispiel von Fidschi verdeutlichen.14 2008 kündigte die Regierung mehreren Lehrer_innen und belegte sie mit Geldbußen, weil diese zwei Wochen nach Ende der Ferien den Schulunterricht auf einer der Hauptinsel vorgelagerten Insel noch nicht angetreten hatten.15 Ursache dafür, warum die Lehrer nicht arbeiteten, bestand darin, dass die Fährverbindung zu der betreffenden Insel eingestellt worden war. Fährunternehmen in Fidschi werden mit Geldern der Entwicklungshilfe subventioniert. Diese Gelder waren allerdings aufgrund eines Anstiegs der Ölpreise vorzeitig aufgebraucht, weshalb der Fährbetrieb nahezu komplett eingestellt worden war. Die Lehrer_innen, die öffentlich auf diesen Missstand aufmerksam machen wollten, erweckten damit den Zorn der Regierung, die sie dann aufgrund der Behauptung, die Lehrer_innen würden „schwänzen“, wie oben beschrieben bestrafte.16 Leidtragende waren und sind dabei gerade auch die Schüler_innen, da ihnen aufgrund der Häufigkeit solcher und ähnlicher Vorfälle nur unregelmäßig Schulbildung zu Teil wird.

13 2005 jedoch lebten in den Entwicklungs- und Schwellennationen 3 Mrd. Menschen auf dem Land http://www.bpb.de/internationales/weltweit/megastaedte/64739/ laendliche-bevoelkerung; abgerufen am 03.06.2016 . 14 Dort besteht trotz Unterzeichnung der UN Charta „keine landesweite allgemeine Schulpflicht, jedoch nehmen 98 Prozent aller Sechs- bis Vierzehnjährigen am Unterricht teil. Gleichzeitig verzeichnen die Fidschi-Inseln [...] eine hohe Quote von Schulabbrechern. [...] Besonders betroffen sind davon Schüler [...] in ländlichen Gebieten“ www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Fidschi/Kultur UndBildungspolitik _node.html; abgerufen am 03.06.2016. 15 Fidschi besteht aus über 800 Inseln und Kleininseln. 16 Bsp. http://pidp.eastwestcenter.org/pireport/2006/January/01-25-10.htm

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In praktisch allen Entwicklungs- und Schwellenländern mangelt es zudem an Lehrkräften, die bereit sind, in abgelegenen Regionen zu arbeiten. Obwohl Lehrer_innen gesellschaftlich ein hohes Prestige genießen und ihr Gehalt oft über dem Durchschnittseinkommen ihrer Landsleute liegt, schrecken sie die harten, teils gefährlichen, Lebensbedingungen und die soziale Isoliertheit ab. Viele quittieren nach kurzer Zeit an einer Dorfschule den Dienst. Darüber hinaus empfinden etliche von ihnen Ablehnung oder gar Geringschätzung gegenüber der indigenen und armen Bevölkerung des eigenen Landes. So ziehen es die meisten Lehrer_innen vor, in den Städten und dort tunlichst nicht an Schulen mit Kindern aus armen Familien zu arbeiten. Eine Inderin fasst frustriert zusammen: „Niemand ist da, um sie zu unterrichten. Niemand will sie freiwillig unterrichten.“17 Eine weitere Belastung für Schüler_innen in Entwicklungs- und Schwellenländern liegt in fehlkonstruierten Lehrplänen und einer an die kulturellen Gegebenheiten nicht angepassten Didaktik. Dies trifft in besonderem Maß auf Papua Neuguinea18 zu. In ihrer Studie zur Schulbildung in Papua Neuguinea kommen Waldrip und Taylor (1999) zu dem Schluss, dass die Institution Schule die Kinder und Jugendlichen nicht annähernd mit dem Wissen und den Fähigkeiten ausstatte, die diese benötigen würden, um später bezahlte Arbeit zu finden.19 Darüber hinaus stellen sie fest, dass der Schulbesuch die Kinder und Jugendlichen ihrer eigenen Kultur entfremde und zum Verlust notwendiger kultureller Kompetenzen beitrage. Das soziale und kulturelle Gefüge der Dörfer, aus denen die Kinder stammen, werde – wenngleich unbeabsichtigt – aufgrund der westlichen Schulbildung unterminiert. In Fällen wie diesen beschleunige der Schulbesuch den Verfall traditioneller Ordnungen, Werte, und Kompetenzen, ohne den Menschen dabei auch nur annähernd einen Gegenwert zu bieten, der den ihnen zugefügten Schaden ausgleichen würde:

17 Übers. d. Verf. Sprecherin der aus einem Podcast übernommenen Aussage unbekannt. Im Original: „No one is there to teach them. No one wants to volunteer to teach them“ (Hoffmann 2013). 18 Der Schulbesuch dort ist für Kinder zwischen 6 und 14 Jahren kostenlos und Pflicht; siehe http://hrd.apec.org/index.php/Education_in_Papua_New_Guinea; abgerufen am 03.06.2016. 19 Waldrip/Taylor (1999).

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„Die Dorfältesten und Eltern fühlten sich verraten von einem Schulbildungssystem, das schon in der Vergangenheit ihre kulturellen Bedürfnisse ignoriert hatte und dies auch in der Gegenwart noch macht; das in einem solchen Ausmaß, dass viele junge Menschen nach ihrem Realschulabschluss als sozial dysfunktionale Mitglieder ihrer Gemeinschaft zurückkehren.“ (Waltrop/Tayler 1999: 299; Übers. d. Verf.)

Wie die Autoren darlegen, liegt die Ursache dieser Schieflage in den von westlichen Bildungsexperten konstruierten Lehrplänen, welche die Lebenswelten und Denklogik der Menschen in Papua Neuguinea nicht ausreichend berücksichtigen. Weitere Belastungen, die nur kursorisch genannt werden sollen, liegen zum Beispiel darin, dass der Schulunterricht in einer der offiziellen Landessprachen abgehalten wird, die jedoch Schülern aus ländlichen und abgeschiedenen Regionen, in denen nur lokale Sprachen gesprochen werden, bestenfalls rudimentär vertraut ist. Oft genug unterrichten überdies unqualifizierte Personen die Schüler. In einigen Ländern erfüllen Schulen oft in keiner Hinsicht die formalen Kriterien, da Bestechung für die Vergabe der Lizenzen sorgte.20 Auch scheint der Schulalltag für Kinder und Jugendliche zunehmend häufiger von mehr oder minder unverhohlener Willkür und Machtausübung seitens der Unterrichtenden gekennzeichnet zu sein. Eine Schülerin aus Papua Neuguinea teilte mir mit: „Ja, manche Lehrer verprügeln Schüler oder sagen widerliche Worte zu Schülern. Ja, Lehrer fordern manchmal von Schülern Geld oder andere Dinge, wie z.B., dass diese den Lehrer Mittagessen, Tabak oder Betelnuss kaufen […]. Dafür bekommen sie bessere Noten.“21 Seit einigen Jahren mehren sich zudem vor allem aus afrikanischen Nationen Berichte darüber, dass Lehrer_innen den enormen Leistungsdruck ausnutzen, der auf Schülerinnen lastet, um von ihnen sexuelle Hand-

20 In Gesprächen mit einer Schulleiterin in Papua Neuguinea erfuhr die Autorin, dass die Zulassung der betreffenden Schule nur durch Kontakte zu Politikern und Bestechung von zuständigen Beamten möglich geworden war. An dieser Schule sicherte sich überdies ein Lehrer seine Stelle durch die Erpressung der Schulleitung. 21 Im Original: „Yes, some teachers beat up students or say nasty words to students. Yes, teachers sometimes ask students for money or other things like, buying teachers lunch, smoke or betelnut if he or she smokes/chew. In return for better grades“. (Schriftlich geführtes Interview der Verfasserin mit der Informantin, die anonym bleiben soll; 30.08.2015).

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lungen zu erpressen oder zu erzwingen.22 In Indien ist die Anwendung körperlicher Strafen in Schulen weit verbreitet: 65% der Schüler_innen erfahren körperliche Züchtigung.23 Dies wird von Seiten indischer Kinderrechtsexperten verurteilt: „Seit Beginn des Schuljahres '())*+ haben sich neue Fälle entsetzlicher Grausamkeit an Kindern in Schulen ereignet“24. In Anbetracht solcher Härten erstaunt es, dass Schulbesuch regelmäßig an vorderer Stelle genannt wird, wenn Kinder und Jugendliche in Entwicklungs- und Schwellenländern nach ihren größten Wünschen gefragt werden.25. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Schulbesuch in Entwicklungs- und Schwellenändern aufgrund einer Vielzahl an Umständen oft mit großen Belastungen für die Schüler_innen verbunden ist. Diese dürfen nicht geringgeschätzt werden. So kommen Fernando u.a. (2010) in ihrer Studie zu dem Ergebnis, dass entgegen der weitverbreiteten Annahme, dass (Bürger-)Krieg oder Naturkatastrophen die Hauptauslöser von traumatischem Stress seien, diese „weder die einzigen noch die primären Quellen von traumatischem Stress bei Kindern bildeten, sondern dass tägliche Stressoren wie Armut, das Miterleben von Elternkonflikten, Kindesmisshandlung und sexueller Missbrauch eine ebenso bedeutende wenn nicht gewichtigere Rolle spielen“ (Mundt u.a. 2011: 303).

Im folgenden Abschnitt werden zwei Positionen zu Thema ‚Trauma‘ und der Posttraumatischen Belastungsstörung vorgestellt. Diese beziehen sich auf die universalistische Perspektive und die Position der transkulturellen Psychiatrie.

22 Siehe

http://www.hrw.org/news/2001/03/26/south-africa-sexual-violence-rampant-

schools;

http://forums.onlinenigeria.com/yaf_postst138_teacher-rapes-15-year-old-

student -for-failing-exams.aspx; http://allafrica.com/stories/201501301216.html; beide aufgerufen am 03.06.2016. 23 National Commission for the Protection of Child Rights (2008: 3). 24 National Commission for the Protection of Child Rights (2008: 6, Übers. d. Verf.). 25 McDonald (2002: 27) führt in Endnote 6 an, dass ehemalige Kindersoldaten in Sierra Leone, befragt nach ihren vordringlichsten Wünschen, Ausbildung, Arbeitsmöglichkeiten, und wirtschaftliche Sicherheit für sich und ihre Familien nannten. In der Studie von Aarts (2010: 43) werden „Unterkunft, Essen, Trinkwasser, Hygiene, primärmedizinische Versorgung, Bildung und Sicherheit“ als „vordringlichste [...] Bedürfnisse“ aufgeführt.

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Trauma und Posttraumatische Belastungsstörung im Kontext der Entwicklungszusammenarbeit Traditionell existieren im Themenbereich ,Psychotrauma‘ und ‚Kultur‘ zwei Positionen: Während die transkulturelle Psychiatrie den Standpunkt vertritt, dass es weder eine kulturübergreifende, universale Erfahrung von, noch eine universale Reaktion auf ‚Trauma‘ gebe, sondern je nach Kultur unterschiedliche Symptome und Realitäten existieren, behauptet die universalistische Position das Gegenteil26: „Schilderungen von Überlebenden sind immer Schilderungen des universalen Trauma-Archetypus“.27 Die unmittelbar auf ein erschütterndes Ereignis tatsächlich identisch stattfindenden physiologischen Reaktionen scheinen die universalistische Position zu belegen: In diesen Momenten spielt „die Beschaffenheit des Stressors oder sein kultureller Hintergrund“ (Eisenbruch 1991: 673, Übers. d. Verf.) keine Rolle. Die Folgen von Psychotraumata waren erstmals ausführlich nach dem 1. Weltkrieg von westlichen Medizinern dokumentiert und diskutiert worden, und sie wurden einige Jahrzehnte später unter dem Begriff ‚Posttraumatische Belastungsstörung‘ zusammengefasst.28 Aufgrund der weithin verbreiteten (Fehl-)Annahme29, westlich-medizinische Erkenntnisse seien universal gültig, wurde die PTBS in das internationale Klassifikationssystem ICD-10 übernommen, und so trat die Diagnose "PTBS" als weltweit reales, und zu erwartendes Störungsbild mitsamt der im Westen gängigen Vorstellungen und Methoden zur

26 In der stellenweise vorzufindenden Verworrenheit dieser Debatte mag auch eine Rolle spielen, dass die Begriffe „Trauma“ und „Posttraumatische Belastungsstörung“ nicht immer klar voneinander getrennt werden und der Begriff „Trauma“ häufig mit dem Begriff „PTBS“ gleichgesetzt wird. 27 Wilson (zit. nach Fassin/Rechtmann 2009: 239f, Übers. d. Verf.). 28 1980 wurde die PTBS erstmals im DSM III als psychiatrische Erkrankung aufgeführt. 29 Es gibt tatsächlich keine Krankheit und/oder Erkrankung, deren Symptome kulturungebunden sind, d.h., es gibt weder eine universal gültige Definition von ‚Krankheit‘, noch existieren universal identische Symptome von Krankheiten und Erkrankungen. „All human events [...] have cultural AND natural AND cognitive AND psychodynamic aspects“ (Hahn 1985: 167). Jedoch gibt es erhebliche Varianzen in der Ausprägung vom Faktor ‚Kultur‘: Infektionskrankheiten bspw. führen weltweit zu nahezu identischen Symptomen; seelisches Leiden ist jedoch, sowohl hinsichtlich dessen, was als Auslöser dafür empfunden wird, als auch, was die Symptomatik angeht, höchst kulturgebunden.

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Heilung derselben in Erscheinung. Die universalistische Position setzte sich größtenteils durch. In der Folge haben Projekte zur Behandlung der PTBS in der Entwicklungshilfe in den letzten 20 Jahren einen regelrechten Boom erlebt und die im Westen üblichen psychotherapeutischen Methoden zur Behandlung der PTBS − wie z.B. Gesprächstherapien − wurden in nicht-westlichen Kontexten zum Einsatz gebracht. Watters konstatiert kritisch, dass die PTBS innerhalb der letzten Jahre in der EZ zur „Standarddiagnose, zur lingua franca seelischen Leidens“ (Watters 2010: 2, Übers. d. Verf., Herv. i. O.) geworden ist. Auch die WHO kritisierte 2002 die unter vielen Hilfsorganisationen verbreitete, reflexartige Diagnosestellung „PTBS“: „Ein Problem, das die WHO beschäftigte, waren Programme, die ausschließlich auf die PTBS fokussierten, [und] von der die WHO glaubt, dass sie fälschlicherweise für die weitverbreitetste seelische Erkrankung nach einem Unglück gehalten wird. Sie warnte andere Hilfsorganisationen davor, keine wertvolle Zeit mit dem Aufbau von PTBSfokussierten Angeboten zu verschwenden.“ (Ashraf 2005, Übers. d. Verf.)30

Diese Warnung resultierte auch aus der Analyse der Erfahrungen, die EO hinsichtlich der auf Gesprächstherapien basierenden Hilfsangebote gemacht haben. Es hatte sich beispielsweise herausgestellt, dass diese Angebote oft abgelehnt oder aufgrund anderer, mit den Hilfsangeboten in Zusammenhang stehenden Leistungen, angenommen wurden 31 Außerdem zeigte sich, dass sich durch Gesprächstherapien nicht oft genug eine Verbesserung des Leidens bei den Betroffenen einstellte (Plester 2007: 3 bzw. 13f.). Sogar im Falle einer Verbesserung des seelischen Wohlbefindens blieb oft unklar, ob diese durch die Hilfsprogramme bewirkt wurde, oder ob ihr nicht andere Ursachen zu Grunde liegen. Das eigentliche Ziel, die Verbesserung der seelischen und emotionalen Befind-

30 Bereits 2002 veröffentlichte die WHO ein Buch, in dem traditionelle Behandlungsmethoden unterschiedlicher Kulturen vorgestellt werden, um auf die je kulturell vorhandenen Heilungsressourcen aufmerksam zu machen. Es trägt den Titel ,WHO Traditional Medicine Strategy 2002-2005“ (WHO 2002) und ist online verfügbar: http://www.wpro.who.int/health_technology/book_who_traditional_medicine_strateg y_2002_2005.pdf [abgerufen am 03.06.2016]. 31 McDonald (2002: 27); vgl. auch Mundt u.a. (2011: 304): „Als Anreiz für die Teilnahme [...] diente eine kostenlose Mahlzeit. Weiterer impliziter Anreiz war der Kontakt zu Weißen, die mit ihren NGOs wichtigster Wirtschaftsfaktor und Arbeitgeber der Region sind.“

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lichkeit der Betroffenen, wurde insgesamt zu selten erreicht, um von einem Erfolg psychotherapeutischer Hilfsangebote sprechen zu können: „die Interventionen, die am häufigsten angewendet werden, um traumatischen Stress zu reduzieren [...] liefern wenig Beleg für ihre Effektivität “ (Ommeren u.a. 2005: 71, Übers. d. Verf.). Diese Erfahrung zwang viele EO dazu, ihre Grundannahme, dass Traumata universell in gleicher Weise zu behandeln seien, in Frage zu stellen und einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Insbesondere solche Organisationen, die den Ansatz vertreten, „Trauma“ nicht als seelische Erkrankung von Individuen zu deuten, sondern als normale Reaktion auf krankmachende sozio-politische Umstände zu verstehen, sehen sich daher in ihrer Arbeitsweise bestätigt. Ihr Ansatz wird als „psychosozial“ beschrieben. Die Organisationen führen Projekte durch, die den Opfern nicht alleine anhand von Gesprächstherapien Unterstützung anbieten, sondern kombinieren e“ diese Angebote „in einer Mischung aus Therapie und politischer Kampagne“ (Mundt u.a. 2011: 302) mit rechtlichen und sozialen Unterstützungsleistungen. Insbesondere der Prozess der Globalisierung wird dafür verantwortlich gemacht, dass „die subjektiven Realitäten vieler Menschen und Gesellschaften durch zahlreiche traumatische Erfahrungen geprägt sind“ (medico international 2005a: 192). Die Gemeinschaft wird als zentrales Element seelischer Heilung und Gesundheit anerkannt. Usche Merk (2005: 23) hält diesbezüglich fest: „Nur im Kontext ist die Kategorie ‚Trauma‘ begreifbar. Heilung ist häufig weniger ein individueller als ein sozialer, ökonomischer und kultureller Prozess des praktischen Wiederaufbaus.“ Auch kulturelle Gegebenheiten werden in gewissem Maß berücksichtigt32. Eyber (2002: 30, zit. nach Löchelt 2010: 36) kritisiert allerdings, dass manche Therapiesitzungen als kulturangemessen („culturally appropriate“) angepriesen werden, obwohl sie lediglich mit einem Gebet oder einem Lied eröffnen. Schließlich ist festzuhalten, dass beim psychosozialen Ansatz die Gefahr besteht, dass aufgrund seiner mangelnden inhaltlich-konzeptuellen Schärfe und des Mangels an klaren Handlungsanleitungen doch wieder die Methoden der Psychotherapie angewendet werden (ebd.). Um die Risiken zu verdeutlichen, die der Grundannahme innewohnen, die Posttraumatische Belastungsstörung sei ein universales Krankheitsphänomen in Reaktion auf ein belastendes Ereignis, ist es hilfreich, sich dem Trauma-Konzept und den daran anknüpfenden Behandlungsmethoden nochmals aus der Perspektive der transkulturellen Psychiatrie bzw. der Medizinethnologie zu nähern. Diese betont, dass die westliche Nosologie nur eine von weltweit vielen ist. Es gibt eine Vielzahl von Kulturen, die je eigene Krankheitslehren entwickelt haben, um

32 Vgl. beispielsweise Löchelt (2010: Kapitel 4).

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körperliche und seelische Leidenssymptome zu beschreiben, die Menschen nach besonders belastenden Ereignissen entwickeln. Aufgrund der Ähnlichkeit, die einige dieser Krankheitsbilder mit dem Erscheinungsbild der PTBS zeigen, werden diese Krankheiten von Mitarbeitern westlicher Hilfsorganisationen oft als PTBS diagnostiziert. Eine solche Fehldiagnose wird mit dem Begriff -category fallacy“.33 erfasst. Die an diese Fehldiagnose anschließenden Behandlungsmethoden der Psychologie sind somit oft ungeeignet. Dies deshalb, da ihnen das westlich-aufgeklärte Weltbild zugrunde liegt. Geister und übernatürliche Kräfte gibt es darin beispielsweise nicht. Ein solcher Glaube ist aber in vielen Kulturen verbreitet und sollte dort daher nach Ansicht vieler Fachleute zur Grundlage der Behandlungen gemacht werden.34. Gerade das Kernelement der Psychotherapie, d.h. das Verbalisieren traumatischer Erfahrungen, erweist sich in vielen nicht-westlichen Gesellschaften als kontraproduktiv, da es in deren Verständnis beispielsweise die Seele der Erkrankten erneut in Aufruhr versetzt und somit noch kranker macht. Von Peter beschrieb dies am Beispiel von susto, einer Erkrankung, die in vielen Ländern Süd- und Mittelamerikas verbreitet ist (von Peter 2008; 2009). Im schlimmsten Fall führt die offene Benennung der traumatisierenden Ereignisse zur Destabilisierung ganzer Gemeinschaften, wie Argenti-Pillen (2003) in ihrer in Sri Lanka durchgeführten Studie nachweist. Nachdem die Bewohnerinnen einer dorfähnlichen Slum-Gemeinschaft in Sri Lanka dazu aufgefordert worden waren, nicht mehr in Euphemismen und verharmlosenden Begriffen über die Ereignisse des Bürgerkrieges zu sprechen, zerbrach der fragile soziale Frieden, der bis dahin bestanden hatte. Die verschleiernde und uneindeutige Art, über erlebte Gräuel zu sprechen (Folter wurde z.B. als ”child’s mischief“ umschrieben, was soviel wie „kindlicher Unfug“ bedeutet), war von den westlich geschulten Mitarbeiter_innen einer Hilfsorganisation als Zeichen der Verdrängung der erlittenen Traumata fehlgedeutet worden.

33 Arthur Kleinman prägte diesen Begriff 1977. 34 Vgl. Taylor (2005: 137). Auch Kleinman (2011) vertritt diese Meinung: „We’ve failed to recognize religious bases of moral commitment on the world. We are enlightened, thus blind to religion“ (persönlicher Mitschrieb der von Kleinman am 22.06.2011 in Heidelberg gehaltenen Vorlesung Applying a Critical Sociology of Knowledge to ” Global Health and Transcultural Mental Health“). Ein Videomitschnitt der Lesung findet sich online unter http://www.asia-europe.uni-heidelberg.de/en/newsevents/ films/talks/2011-science-technology-and-transcultural-studies/applying-a-critical-socio logy-of-knowledge-to-global-health-and-transcultural-mental-health.html; abgerufen am 03.06.2016.

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Der auf universalistischen Prämissen beruhende, „klassisch“ psychotherapeutische Ansatz erweist sich daher in vielen nicht-westlichen Kontexten als durchaus problematisch.35 Der psychosoziale Ansatz hingegen scheint nicht zuletzt aufgrund seines Bestrebens, die Folgen der „Zerstörung sozialer Netzwerke und kultureller Ressourcen, familiäre[r] und soziale[r] Konflikte und Gewalt“ (Mundt u.a. 2011: 306) durch gezielte soziale Unterstützungsangebote aufzuheben, eher dazu geeignet, auch in nicht-westlichen Kulturen positive Resultate zu erzielen. Dennoch wohnt auch ihm das Risiko inne, kulturelle Arten des Umgangs mit seelischen Belastungen nicht adäquat zu berücksichtigen und letztlich doch wieder auf die Methoden der klassischen Psychotherapie zurückzufallen. Auch birgt die dem psychosozialen Ansatz innewohnende politische Dimension das Risiko, die Patienten − je nach Verständnis der Mitarbeiter_innen einer Organisation − zur Verwirklichung der Ideale einer wie auch immer gearteten ‚gerechteren‘ Welt zu instrumentalisieren. Für Lehrer_innen und (Sozial-)Pädagog_innen, die Kindern und Jugendlichen aus nicht-westlichen Kontexten Unterstützungsleistungen anbieten wollen, stellt sich somit die Frage, ob es denn überhaupt sinnvoll ist, auf psychotherapeutische und psychosoziale Maßnahmen zurückzugreifen. Mögliche Unterstützungsleistungen für belastete Kinder und Jugendliche aus nicht-westlichen Kulturen Generell gilt als anerkannt, dass „durch traumatische Erfahrungen“ die „emotionale und kognitive Entwicklung von Kindern schwer beeinträchtigt [wird]“ (Löchelt 2010: 24).36 Diese Tatsache stellt für Lehrkräfte und (Sozial-)Pädagog_innen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, in jedem Fall eine Herausforderung dar – sei dies nun in westlich geprägten, oder aber in anderen kulturellen Kontexten. Andererseits bietet der Schulalltag sehr gute Handlungsmöglichkeiten zum Aufbau von Unterstützungsleistungen für belastete Kinder und Jugendliche, da durch die über einen langen Zeitraum stattfindende regelmäßige Beschäftigung mit den Schüler_innen ein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden kann, das in sich schon einer seelischen Heilung zuträglich sein kann: „zahlreiche Studien 'belegen+, dass soziale Bindungen und sichere Umgebungen die primären Kriterien für einen psychischen Heilungsprozess von Kindern darstellen“ (Löchelt 2010 : 29).

35 Vgl. hierzu Löchelt (2010); von Peter (2008; 2009) sowie Mundt u.a. (2011). 36 Löchelt nimmt hierbei Bezug auf Kizilhan (2000).

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Grundlegend ist es für Mitarbeiter_innen von Hilfsorganisationen wichtig, die konkreten Bedarfe der Zielgruppe zu kennen, statt von Vorannahmen geleitete Angebote zu machen. Das Zuhören und Fragen ist daher für Pädagog_innen zentral, um die emotionalen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen aus nichtwestlichen Kulturen kennen- und verstehen zu lernen. Um sich mit deren kulturellen Vorstellungen von Krankheitsauslösern und Krankheitssymptomen vertraut zu machen, erscheint die Methode der Illness Narratives nach Kleinman (1988) geeignet. Hierbei bittet man die Kinder und Jugendlichen darum, zwei Geschichten zu erzählen. Sie sollen dabei in ihrer ersten Erzählung an eine Person denken, die sie kennen und der Leid widerfahren ist, der es inzwischen aber wieder gut geht. Nachdem diese Erzählung beendet ist, bittet man die Schüler_innen darum, nun von einer Person zu berichten, der es nach einem traumatischen Erlebnis nicht gut geht. Es werden also zweierlei Krisenverläufe aufgezeigt. So gewinnen die Lehrkräfte und (Sozial-)Pädagog_innen ein Verständnis von den lokalen Stressoren, Nosologien und traditionellen Heilungsvorstellungen. Ebenfalls wichtig ist, dass die Lehrkräfte und (Sozial-)Pädagog_innen auf diese Weise sowohl soziale Netzwerke, soziale Strukturen und die lokalen Definitionen von „Familie“ kennenlernen, als auch die kulturellen Vorstellungen von gutem oder schlechten Funktionieren derselben. Nicht zuletzt erfahren sie so die aus der Perspektive der Schüler_innen vorhandenen Möglichkeiten und Grenzen von Heilungsprozessen. Diese Herangehensweise bietet die Vorteile, weder soziokulturell suggestiv zu sein, noch das Risiko einer eurozentrischen Fehldiagnose einzugehen. Die Kinder und Jugendlichen können mit Unterstützung der Pädagog_innen dafür sorgen, dass die Voraussetzungen zu ihrer seelischen und/oder körperlichen Heilung geschaffen werden. Ob diese in der Ausführung religiöser Zeremonien, in Gesprächen, oder in einer Veränderung ihrer familiären Situation liegen – wichtig ist, dass ihre Bedürfnisse gehört und ernst genommen werden. Auch bei dieser Herangehensweise muss allerdings bedacht werden, dass die lokalen Behandlungsweisen von seelischem Leid allein aufgrund der Tatsache, dass sie aus der Kultur selbst stammen, nicht zwangsläufig optimal sind oder gar automatisch „zu besseren Ergebnissen führen“ als westliche Unterstützungsleistungen. Whyte (1997: 81, zit. nach Fainzang/Haxaire 2011: 80) weist darauf hin, dass insbesondere Rituale hinsichtlich ihrer Eigenschaft, Probleme zu lösen, überschätzt werden. Eine kritisch-reflexive Haltung von Pädagog_innen sowohl gegenüber westlichen Behandlungsmethoden, als auch gegenüber traditionellen Heilungsmechanismen ist also immer geboten.

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Schlussbetrachtung: Kulturimperialismus durch den Westen? Die in diesem Beitrag dargestellten postkolonialen Ambivalenzen im Umgang mit Disziplinierung, Gewalt und Trauma im Kontext von Schulbildung in Entwicklungs- und Schwellenländern stellen trotz ihrer kritischen Betrachtung keine Aufforderung dazu dar, „die Armen in der ‚Dritten Welt‘ vor dem Westen zu schützen“ (Mundt u.a. 2011: 5). Im Gegenteil: Sie sollen die Leser_innen dazu ermutigen, sich aktiv, selbstreflexiv und verantwortungsbewusst an dem nie endenden Prozess des kulturellen Kontakts zu beteiligen. Seit jeher werden zwischen Kulturen nicht nur Güter, kulturelle Praktiken und Techniken ausgetauscht, sondern es reisen selbstverständlich auch Ideen und Konzepte von einer Kultur zur nächsten. Das Vorenthalten westlicher Unterstützungsleistungen scheint nicht zuletzt deshalb unangebracht: Kulturen befinden sich immer im Austausch mit anderen Kulturen und somit auch immer in Veränderungsprozessen. Veränderungen, Überformungen und Neuinterpretationen der Ideen und Konzepte entstehen im Laufe der Zeit. Dies gilt sowohl für den westlichen Diskurs über Trauma bzw. die PTBS, als auch für den über Schulbildung. Beide Diskurse werden in nicht-westlichen Ländern aktiv rezipiert, hinterfragt, herausgefordert und weiterentwickelt. Die meisten Kinder und Jugendlichen in Entwicklungs- und Schwellenländern wünschen sich eine gute Schulbildung, da sie als Wegbereiter für eine bessere Zukunft angesehen wird. Wie wir weiter oben anhand des Länderbeispiels Papua-Neuguinea gesehen haben, erfüllt sich diese Hoffnung jedoch oft nicht. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Lehrpläne für viele Entwicklungs- und Schwellenländer von westlichen Bildungsexperten erstellt werden, die − wenn überhaupt − kaum über Kenntnisse der jeweiligen lokalen Denkmuster bzw. das lokale Verständnis der Welt verfügen. Wenngleich (oder vielleicht gerade weil?) nicht beabsichtigt, ist daher der durch die EZ finanzierte Transport westlicher Curricula in nicht-westliche Länder ein typisches Beispiel für den NeoKolonialismus.37 Im Kontext der Globalisierung ist die Dominanz des Westens hinsichtlich der Produktion und Verbreitung von Wissen unbestritten. Wenigstens in der gegenwärtigen Phase der Globalisierung scheint Kultur „sich hauptsächlich in einer

37 Dieser wird als direkte Fortsetzung des Kolonialismus definiert, wobei ökonomische und monetäre Mittel an die Stelle von militärischer und politischer Kontrolle treten (Nkrumah 1965: Introduction). Zwar verfügen die jeweiligen Staaten demnach formal über Souveränität, tatsächlich aber werden die Wirtschaft und daher auch die Politik von den ehemaligen Imperialmächten gesteuert (ebd).

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Richtung zu bewegen“ (Nguyen u.a. 2009: 111)38: „from the ‚West‘ to the ‚Rest‘“ (ebd.). Raewyn Connell visualisierte diesen Trend unlängst in einem Vortrag, den sie im Audimax der Universität Frankfurt am Main hielt. Anhand einer Landkarte zeigte sie auf, wie sehr sich die wissenschaftliche Wissensproduktion auf die Länder USA, Großbritannien, Australien, Deutschland und Frankreich konzentriert.39 Die Inklusion nicht-westlichen Wissens vor dem Hintergrund westlich hegemonialer Wissensproduktion wird dadurch erschwert. Gerade in Entwicklungs- und Schwellenländern besteht zudem häufig ein ausgeprägter Glaube an die Überlegenheit westlichen Wissens und es werden auch dort, wo einheimische Bildungsexperten die Curricula erstellen, „westliche Erziehungspraktiken und Theorien“ (Nguyen u.a. 2009: 112, Übers. d. Verf.) zur Anwendung gebracht − primär aufgrund des „empfundene. Druck/ zu modernisieren und zu reformieren um hohe internationale Standards zu erreichen“ (ebd.: 109, Übers. d. Verf.). Nguyen u.a. sprechen hierbei von der „fortgesetzten Hegemonie westlicher Erziehungsmethoden und Theorien“ (ebd.: 112, Übers. d. Verf.). Eine dahingehende Verallgemeinerung, dass diese Beschreibung auf alle Entwicklungs- und Schwellenländer uneingeschränkt zutreffe, ist aber zu bezweifeln. Dies wird z.B. deutlich an Indien, das auf eine Jahrtausende alte Kultur des institutionalisierten Lernens zurückblickt.40 In Abwesenheit der geschichtlichen Bedingungen, die in Europa zu einer Kultur des Überwachens und Strafens führten, ist die Züchtigung von Schüler_innen in Indien „als zweckdienliche Form der Bestrafung und Disziplinierung von Kindern“41 weitverbreitet (siehe Kapitel 1.1 dieses Beitrags). Die National Commission for the Protection of Child Rights (NCPCR) in Indien konstatiert hierzu, dass die Anwendung „körperlicher Bestrafung kein neues Phänomen in der indischen Gesellschaft“ (2008: 4) sei und fordert, dass körperliche Züchtigung im privaten wie schulischen Kontext unter Strafe gestellt werde. Das Ideal der gewaltfreien Erziehung wird von den Befürworter_innen körperlicher Züchtigungsmaßnahmen jedoch als Oktroyierung fremder Werte kritisiert: „Körperliche Züchtigung ist Teil meiner Kultur und deren Tradition der Kindererziehung. Versuche, sie zu verbieten, sind diskriminierend“. Auch wenn diese Auffassung sicherlich nicht die Haltung aller In-

38 Übers. d. Verf. Im Original: „the direction of cultural flow is largely uni-directional – from the ‚West‘ to ‚the Rest‘“. 39 Vgl. hierzu auch Connell (2007). 40 Bereits in der vedischen Periode existierten große schulähnliche Lernzentren; vgl. hierzu Scharfes Studie „Education in Ancient India“ (2002). 41 National Commission for the Protection of Child Rights (2008: 4, Übers. d. Verf.).

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der_innen widerspiegelt, so ist sie doch derart verbreitet, dass sie der NCPCR als exemplarischer Beleg für den typischen Einwand gegen gewaltfreie Erziehung dient. Diese wird hier als Fortsetzung kulturimperialistischer Praktiken stigmatisiert. Westliche pädagogische Fachkräfte, die im nicht-westlich geprägten Ausland arbeiten, sollten durchaus darauf gefasst sein, gelegentlich mit derlei Äußerungen und Haltungen konfrontiert zu werden. Das Selbstbewusstsein Indiens speist sich nicht nur aus der Geschichte des Landes. Aufgrund der wirtschaftlichen Dynamik der letzten 15 Jahre ist das Bewusstsein um die größte Ressource, die Indien zu bieten hat, gewachsen: Menschen. Der Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Leistung und der Qualität von Schulbildung wird klar erkannt. In öffentlichen Debatten wird die Regierung Indiens dazu aufgefordert, das vorhandene ‚Humankapital‘ auszunutzen: „Sie muss die Herausforderung, öffentliche Schulen zu verbessern, annehmen. Sonst wird Indien weiterhin einen Großteil seines verborgenen kognitiven Kapitals verschwenden. “ (Rajput 2013)42 Diese Aussage könnte als ein Beispiel für Hegemonie gedeutet werden, da durch die Expansion des Kapitalismus auch der Diskurs des ‚Humankapitals‘ in die Welt getragen wurde.43 Ob sich dies im konkreten Einzelfall Indiens bestätigt, oder ob eine unabhängig von westlichen Diskursen historisch gewachsene Haltung Indiens bezüglich wirtschaftlicher Leistung und Schulbildung bei der oben genannten Forderung die entscheidende Rolle spielt, muss an dieser Stelle offen bleiben und bietet Möglichkeiten für weiterführende Untersuchungen. Hinsichtlich des Trauma-Konzeptes zeigte sich, dass in der EZ regionale Nosologien und Krankheitsverständnisse nicht zur Grundlage von Behandlungen gemacht werden, da von einer Überlegenheit der westlichen Nosologie ausgegangen wird. Die − seit ihrer Aufnahme in das ICD-10 − rasante universale Verbreitung der Diagnose „PTBS“ legt Zeugnis hierfür ab. Sie wird gerade durch die Arbeit von denjenigen EO gefördert, die den „klassischen“ psychotherapeutischen Ansatz verwenden. Dies führt, wie oben geschildert, zu unbewusst eurozentrisch geprägten Annahmen über die Bedürfnisse einer Zielgruppe. Vertreter des psychotherapeutischen Ansatzes laufen insofern Gefahr, durch ihre Tätigkeit unbeabsichtigt Neo-Kolonialismus und Kulturimperialismus zu perpetuieren. Diese Gefahr scheint beim psychosozialen Ansatz nicht gegeben, da Trauma als Reaktion auf krankmachende (welt-)politische Verhältnisse betrachtet wird.

42 National Commission for the Protection of Child Rights (2008: 10, Übers. d. Verf.). 43 Gegen eine solche Deutung spricht − bezogen auf das Beispiel Indien − die weiter oben erwähnte, Jahrtausende alte, hoch differenzierte Kultur, in der Lernen und Bildung schon immer einen hohen Stellenwert eingenommen haben.

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Die Forderung nach Politisierung statt Pathologisierung von Trauma spiegelt dennoch westliche Idealvorstellungen von einer „gerechten“ Welt wider. Indem Trauma als Folge globaler (meist neo-kolonialer) Machtungleichverhältnisse verstanden wird, wird den Erkrankten eine bestimmte Interpretation ihres Leidens nahegelegt, die sie vorher nur selten, oder gar nicht, auf sich anwandten. Damit bestätigen sie die Auffassung von Fassin und Rechtman, wonach die eigentliche „Wahrheit des Traumas nicht in der Psyche, dem Geist, oder dem Gehirn, sondern in der moralischen Ökonomie gegenwärtiger Gesellschaften“ (2009: 276, Übers. d. Verf.) liegt. ‚Trauma‘ ist somit weitaus mehr als nur ein medizinisches Konzept: Es ist ein moralisches Werkzeug, mit dessen Hilfe die Ungerechtigkeiten dieser Welt überwunden werden sollen. In der gegenwärtigen Phase der Globalisierung ist es aufgrund der vielerorts bestehenden neo-kolonialen Ungleichverteilung von Macht verführerisch, sich zu einem Verständnis hinreißen zu lassen, wonach die Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern gleichsam zu Opfern der ehemaligen Kolonialmächte stilisiert werden. Ein solches Bild spräche ihnen aber nicht nur Handlungsmacht ab und würde sie damit genau auf den Status degradieren, den viele Kolonialherren ihnen gerne dauerhaft verliehen hätten. Es würde auch die tatsächlichen machtpolitischen Veränderungen, die sich an vielen verschiedenen Orten weltweit abzeichnen, ignorieren, sowie die vielfältigen (Weiter)Entwicklungen der Ideen und Konzepte, die überall auf dieser Welt ständig entstehen, verkennen. Es erscheint daher unabdingbar, ein differenzierendes Bild von der Rezeption eurozentrischer Konzepte in nicht-westlichen Kulturen zu zeichnen. Gleiches gilt für die Arbeit mit Geflüchteten in Deutschland: eine differenzierende Herangehensweise ist notwendig. Sie per se als ohnmächtige Opfer zu betrachten, wäre nicht nur degradierend, sondern auch naiv. Denn gerade diejenigen Jugendlichen, die den Weg nach Deutschland geschafft haben, sind häufig besonders starke und ausgeprägte Persönlichkeiten, die überhaupt erst aufgrund ihrer Wesensbeschaffenheit die Flucht angetreten und überlebt haben. Wie bei ehemaligen Kindersoldaten erscheint es auch bei diesen Jugendlichen wenig hilfreich, prinzipiell eine PTBS zu unterstellen und entsprechende Hilfsangebote zu unterbreiten. Wie McDonald anhand der Ex-Kindersoldaten in Sierra Leone zeigte, ignorierten letztgenannte die Angebote westlicher Hilfsorganisationen zur Überwindung ihrer (vermuteten oder tatsächlich vorhandenen) PTBS und forderten stattdessen Ausbildungsmöglichkeiten und ähnlich konkrete Unterstützungsmaßnahmen. McDonald betont daher, dass den Betroffenen am besten mit konkreten Maßnahmen geholfen sei, die sie in die Lage versetzen, ihr Leben fortan ohne den Einsatz von Gewalt zu führen. Das häufigste Problem für ehe-

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malige Kindersoldaten ist dabei, dass ihre alten Fähigkeiten und Werte, die ihnen im Krieg ihr Überleben garantiert haben, in einer befriedeten Gesellschaft plötzlich wertlos und bedeutungslos sind. Ähnlich werden auch viele jugendliche Geflüchtete fühlen. Gerade dann, wenn die bisherigen Fähigkeiten und Werte in einer neuen Heimat nichts mehr gelten, oder dort sogar inakzeptabel sind, gleichzeitig aber noch nicht genügend kulturelle und soziale Kompetenzen zum eigenständigen Leben in der neuen Heimat vorhanden sind, ist das Risiko hoch, dass sie auf vertraute Verhaltensweisen des Stress- oder Frustabbaus zurückgreifen werden − egal, wie verwerflich diese auch sein mögen. Gleichzeitig ist das Risiko seelischer Belastungserscheinungen wie Depressionen bei jugendlichen Geflüchteten hoch. Die oben beschriebene Methode der Illness Narratives kann hierbei einen Beitrag zur Bewältigung leisten. Die Mitarbeit von Deutschen mit Migrationshintergrund ist dabei, wie insgesamt in der Geflüchtetenarbeit, von unschätzbarem Wert, da sie aus denselben, oder auch aus kulturell ähnlich geprägten Ländern wie die Geflüchteten stammen und deren Werte, Sprache und Kultur genauso gut wie die deutsche Kultur kennen. Literatur Aarts, Petra G. H. (2010): Challenges of sustainable mental health care and psychosocial support in low- and middle income countries. Diemen: War Trauma Foundation. Argenti-Pillen, Alex (2003). Masking Terror: How Women Contain Violence in Southern Sri Lanka. Philadelphia: Univ. of Pennsylvania Press. Ashraf, Haroon (2005): Tsunami wreaks mental health havoc. In: Bulletin of the World Health Organization. [http://www.who.int/bulletin/volumes/83/6/ infocus0605/en/ index1.html; abgerufen am 03.06.2016]. Buchsteiner, Jochen (2011): Das neue Selbstbewusstsein. In: GATE-Germany (Hg.): Länderprofile. Informationen für das Internationale Bildungsmarketing. Indien. Frankfurt: Frankfurter Societäts-Medien GmbH, 9-10. Connell, Raewyn (2007): Southern Theory. The global dynamics of knowledge in social science. Crows Nest: Allen & Unwin. Eisenbruch, Maurice (1991): From Post-Traumatic Stress Disorder to Cultural Bereavement. In: Social Science and Medicine. 33 (6), 673-80. Fainzang, Sylvie/Haxaire, Claudie (2011): Of Bodies and Symptoms. Anthropological Perspectives of their Social and Medical Treatment. Tarragona: URV. Fassin, Didier /Rechtman, Richard (2009): The Empire of Trauma. An Enquiry into the Condition of Victimhood. Princeton: Princeton Univ. Press

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Leiblichkeit, Kindheit, Trauma B ARBARA W OLF Schule als atmosphärische Sozialisationsinstanz Schule stellt für Kinder in Deutschland einen bedeutsamen Ort sozialer Lebenswelt dar, in der sie viele Stunden des Tages verbringen. Als gesellschaftliche Institution mit spezifischen zeitlichen, räumlichen, sachlichen und personellen Verfahren sorgt sie für Qualifikation, Selektion, Allokation und Kontrolle kindlicher Lebensläufe (Schweizer 2007: 98). Das Leistungsprinzip soll dabei feudale Statusvererbung ersetzen und prinzipiell jedem die gleichen Bildungschancen zugestehen. Dennoch spielt, den Ergebnissen der PISA-Studie zufolge, gerade in der Bundesrepublik Deutschland soziale Herkunft eine bedeutsame Rolle. Diese Sozialisationsbedingungen wurden bisher meist durch sozialstrukturell messbare Faktoren bestimmt, wie etwa Einkommen, Bildungsabschluss und Wohnverhältnisse der Eltern oder Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit und Geschwisterkonstellation (BMFSFJ 2005: 53). Doch das Aufwachsen in einem geräumigen Einfamilienhaus bei begüterten Eltern sagt noch nichts darüber aus, wie ein Kind seinen Alltag, seine Lebenswelt und sein In-der-Welt-Sein erlebt (Heidegger 1963: 53). Erfahren Kinder in ihrer primären Sozialisation Zuwendung, Bestätigung, Anerkennung oder eher Gleichgültigkeit, Kritik oder Ablehnung? Besteht im Elternhaus eher eine optimistische, entspannte und offene Atmosphäre oder gestaltet sich die Grundstimmung als hektisch, angespannt, depressiv? Spiegelt sich das bei der Gestaltung der Räume ebenfalls wider, etwa durch Dunkelheit und Enge oder offene, helle Weite und Gemütlichkeit? All diese Erfahrungen werden im Sinne Peter Bergers und Thomas Luckmanns internalisiert und im dialektisch wirkenden Sozialisationsprozess entsprechend externalisiert (Berger/Luckmann 1980: 140). Solche atmosphärischen Sozialisationsbedingungen setzen sich in pädagogischen Institutionen wie Kindergarten und Schule fort. Auch hier wirken Räume,

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Personen und Atmosphären auf die Kinder, die sich in einem Lebenszeitraum von 9 bis 13 Jahren tagsüber dort aufhalten. Dabei gestaltet sich die soziale Beziehung zwischen Lehrer_innen und Schüler_innen weniger „partikularpersonenorientiert“ als „sachlich und funktionsspezifisch“ (Schweizer 2007: 98). Hier wirken strukturelle Aspekte wie Klassengröße, Rückzugsräume, Tagesablauf, etc. als messbare Faktoren auf die Befindlichkeit von Schüler_innen ein. Doch gerade auch die spürbaren Einflussgrößen, wie Stimmung, Lärmpegel, Leistungsdruck, Konkurrenz, Geborgenheit oder Akzeptanz, die eher subjektiv und affektiv vom einzelnen Kind erfahren werden, bilden bedeutsame Komponenten der Sozialisation, die sich auf die Persönlichkeitsentwicklung auswirken können. Solche atmosphärischen Aspekte der Sozialisation, die in ihrer Summe als Einflussfaktoren auf Kinder wirken, werden als „Atmosphären des Aufwachsens“ (Wolf 2015: 3) bezeichnet. Doch nicht immer treffen Kinder auf angenehme Räume und verständnisvolle Erwachsene, die ihre Kompetenz ebenso würdigen wie ihre Vulnerabilität. Somit besteht gerade in Auseinandersetzung mit dem Sozialisationsfeld Schule - auf den drei Ebenen der persönlichen Interaktion, der psychischen und sozialen Handlungsebene und der normativen Ansprüche der übergeordneten sozialen Struktur (Bronfenbrenner 1976: 203) - die Gefahr für Schüler_innen, entwicklungshemmende Ängste oder manifeste Traumata zu entwickeln. Trauma soll in diesem Aufsatz gerade nicht als hirnphysiologische Fehlschaltung (Garbe 2015: 78) oder als dysfunktionaler psychologischer Prozess beschrieben werden (Weinberg 2011: 28), sondern als eine leiblich fundierte Erfahrung, die sich an bestimmten Körperregionen spürbar manifestiert und Einfluss auf die gesamte eigenleibliche Wahrnehmung hat. Es geht primär darum, leibliche Erfahrungen und Haltungen nicht zu pathologisieren (Becker 2014: 173), sondern als subjektiven Ausdruck zu verstehen, der von der temporären Ohnmacht allmählich wieder in Selbstermächtigung des eigenen Leibes überführt werden kann. Atmosphären des Aufwachsens Dabei sind Atmosphären phänomenologisch zu verstehen als etwas, das sich spürbar im Erleben zeigt, ohne exakt in einer physikalischen Konsistenz umrissen oder abgegrenzt werden zu können. Sie gehören zum Phänomenbereich der Qualia, die sich als spezifische „Sinnesqualitäten“, wie Schall, Farben, Gerüche, Lichtverhältnisse aber auch als „Fühlen von Gefühlen“ im Erleben zeigen (Schmitz 2010: 83). Lehrer_innen beschreiben etwa eine Unterrichtsstunde als chaotisch, eine Konferenz als angespannt oder einen Ausflug als inspirierend. Diese Stimmungen sind durchaus wahrnehmbar aber nicht unbedingt messbar,

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da sie eben (inter)subjektiv erfahren werden. In der Phänomenologie gibt es unterschiedliche Definitionen, welche den Atmosphärenbegriff zu fassen versuchen. So spricht etwa Gernot Böhme von gestimmten Räumen, die „unbestimmt in die Weite ergossen sind“ und „vom Menschen in seiner leiblichen Präsenz erfahren werden“ (Böhme 2013: 25). Ein Raum selbst kann also eine bestimmte Stimmung vorgeben, die entsprechend der individuellen Verfasstheit auf ein Subjekt wirkt. Farbe, Lichtverhältnisse, Geräusche, Materialien aber auch die Geräumigkeit wirken auf die Anwesenden. Dabei geht das Konzept des „gestimmten Raumes“ auf Elisabeth Ströker zurück, die seine Bedeutung nicht auf seine Vermessbarkeit reduziert sehen möchte, sondern ihn als „Qualität, Ausdrucksfülle“ und Medium der „Lebenswirklichkeit“ charakterisiert (Ströker 1977: 22). Hermann Schmitz bezeichnet Atmosphären als etwas, das als „Hintergrund unseres leiblichen Befindens jeweils unwillkürlich mitgegeben ist“ (Schmitz 2007: 292). Damit sind nicht die zählbaren Fakten, wie etwa die oft zitierten Bücher im Wohnzimmerregal der Eltern gemeint, sondern vielmehr die Stimmung eines Raumes, die sowohl durch materielle als auch persönliche Aspekte der Anwesenden entsteht. So beschreibt Böhme, wie Personen eine Atmosphäre beeinflussen durch „ihr Verhalten, ihr Reden, Gestikulieren, durch die Aufmachung, durch ihre pure leibliche Anwesenheit, durch ihre Stimme und vieles mehr“ (Böhme 2013: 38). Damit kommt in der pädagogischen Situation den Lehrkräften eine besondere Bedeutung zu in Bezug auf die Gestaltung des Raumes und die persönliche Haltung zu den Kindern. Atmosphären finden jedoch auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen Beachtung, wie etwa in der Organisationsforschung. Philip Kotler führte den Atmosphärenbegriff in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts in die Marketingliteratur ein (Kotler 1973: 50). Atmosphäre wird hier beschrieben als eine „spezifische Zusammenstellung der Umwelt, die über die Sinne wahrgenommen wird und beim Wahrnehmenden bestimmte Gefühle evoziert“ (Julmi 2015: 68). Mehrabian und Russel schreiben den physischen Stimuli einer Umgebung direkten Einfluss auf die emotionale Verfasstheit einer Person und ihr Verhalten zu (Mehrabian/Russel 1974: 8)1. Auch in der Pädagogik werden atmosphärische Aspekte der LehrLernsituation aufgegriffen. Otto Friedrich Bollnow betont unter anderem die Fähigkeiten, Geduld zu üben mit den Lernenden, in ihrem individuellen Lerntempo vorzugehen, Hoffnung zu hegen, dass der Lernprozess trotz Scheiterns letztlich gelingen wird und Heiterkeit zu entwickeln gegenüber der gesamten Lernsituation, die eher als spannendes Experiment, denn als allzu ernste Angelegenheit be-

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Vgl. hierzu ebenso Julmi (2015: 70).

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trachtet werden sollte (vergl. Bollnow 1964: 62). Jakob Muth verwendet den Begriff des „pädagogischen Taktes“ und umschreibt diesen wie folgt: „Jenes Feingefühl, das den Taktvollen auszeichnet, ist ein Gefühl für das Du, für den Mitmenschen, für die Eigenart und das Eigenrecht des anderen Menschen, ist ein Respekt vor der letzten Unnahbarkeit des anderen“ (Muth 1962: 20). Der Taktvolle hält sich „um des anderen Willen zurück“ (ebd.). Atmosphären wirken zunächst in vereinzelten Situationen auf Menschen: eine freudige Begrüßung durch die Lehrerin, ein missmutiger Sitznachbar, das Hintergrundgemurmel. Doch auf lange Sicht werden sie in der Gesamtwirkung zu „Lebensgefühlen“ (Scheler 1954: 350) oder „Atmosphären des Aufwachsens“ (Wolf 2015: 3), da sie als prägende Hintergrunderfahrung auf die Gestimmtheit und die Einfärbung der Wahrnehmung des Individuums einwirken. Ein Kind, das den Tag in einem Klassenraum verbringen kann, den es als einladend, anregend und sicher empfindet und in dem es auf Menschen trifft, die ihm Freundlichkeit, Wertschätzung und Annahme entgegenbringen, wird Schule anders erleben als ein Kind, das sich durch die anderen ausgeschlossen, bevormundet oder ignoriert fühlt und den Raum als bedrückend, einengend oder chaotisch erlebt. Als bedeutsam für die Institution Schule ist zu konstatieren, dass hier keineswegs nur individuell empfundene Atmosphären vorkommen, sondern durch die gemeinsam erlebte Situation auch kollektive Atmosphären entstehen. Nach Schmitz beruhen diese auf dem Phänomen der Einleibung, einer besonderen „Konzentration auf ein Gegenüber“ (Schmitz 2007: 151). Hier werden die Anwesenden durch Bewegungen und Gefühle, die im Raum wahrnehmbar und spürbar sind, etwa wenn begeisterte Fußballfans eine Laola-Welle bilden oder wenn ein Lehrer durch sein Auftreten die lustlose Schulklasse mitreißt, sozusagen angesteckt. Diese Ansteckung erfolgt durch Bewegungssuggestionen und Gestaltverläufe, die leiblich auf das Subjekt wirken und sich wechselseitig übertragen. „Bewegungssuggestionen sind Vorzeichnungen von Bewegung an ruhenden oder bewegten Gestalten oder an Bewegungen, immer über das Ausmaß der eventuell ausgeführten Bewegungen hinaus“ (Schmitz 2014: 67). Durch Einleibung mit dem Gegenüber wird dann das am anderen wahrgenommene Gefühl, wie etwa Begeisterung, Panik oder Langeweile zum eigenen. Kollektive Atmosphären in einer Klasse entstehen durch Bewegungen, Haltungen und Stimmungen von Schüler_innen und Lehrer_innen. Auch die Gestaltverläufe der Raumausstattung, etwa das Düstere, Leuchtende, Muffige oder die Leere eines Raumes, wirken in ähnlicher Weise auf die Kinder.

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Einfluss von Atmosphären auf das leibliche Befinden Für den schulischen Kontext ist nun bedeutsam, wie Atmosphären durch Lehrer_innen pädagogisch zu beeinflussen sind. Denn sie können einerseits unwillkürlich entstehen, andererseits sind sie jedoch durchaus gestaltbar. Ein Architekt kann durch die Verwendung bestimmter Materialien wie Ton, Holz, Beton oder Marmor ebenso spezifische Stimmungen hervorrufen wie durch unterschiedliche Lichtverhältnisse, Formen, Proportionen und Oberflächen (Hasse 2015: 217ff.). In der Pädagogik gibt es unterschiedliche Konzepte, die sich auch mit der Raumgestaltung beschäftigt haben. Bei Maria Montessori und in der ReggioPädagogik wurde der Raum als dritter Erzieher begriffen. Er sollte durch seinen auffordernden Charakter Kinder zum Experimentieren und Lernen aktivieren. Dazu gestalteten die Pädagog_innen eine vorbereitete Umgebung, die mit den typischen Materialien der jeweiligen Pädagogik ausgestaltet wurde (Krieg 2002: 135; Montessori 2009: 44). Stets wurde jedoch die Gestaltung der Lernatmosphäre aus der Sicht der Pädagog_innen betrachtet. Bei einer Pilotstudie der Kindheitsforschung wurde erstmals auch die Perspektive der Kinder berücksichtigt (Wolf 2016). Dabei wurde deutlich, wie sehr für Kinder die Gestaltbarkeit von und Bewegungsmöglichkeit in Räumen im Vordergrund steht. Ebenso bilden zugewandte Pädagog_innen, die wohlwollend über Unzulänglichkeiten hinwegsehen und Zeit haben, wesentliche Elemente konstruktiver Atmosphären. Dagegen wirken zu enge, starr gestaltete Räume ohne Bewegungsmöglichkeit als bedrückend und komprimierte, getaktete Tagesabläufe als einengend und bedrohlich. Atmosphären werden vor allem leiblich erfahren. Sie beeinflussen subjektive Erlebnisgehalte von mentalen Zuständen. Um den Niederschlag von Atmosphären auf Situationen im Schulalltag beschreiben zu können, muss daher die Weise ihrer Entfaltung und Rezeption erst beschrieben werden. Atmosphären wirken auf den Leib des Subjektes. Den Leib bezeichnet Hermann Schmitz als alles, „was er von sich, als zu sich selber gehörig, in der Gegend – nicht immer in den Grenzen – seines Körpers spüren kann, ohne sich der fünf Sinne Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken und des aus ihren Erfahrungen […] gewonnenen perzeptiven Körperschemas (der habituellen Vorstellung des eigenen Körpers) zu bedienen“ (Schmitz 2014: 16). Wer sich in einem abgedunkelten Raum befindet, spürt dennoch, ob er ängstlich, hungrig, müde oder angespannt ist. Der Leib bildet eine integrale Instanz des Subjektes, das durch den Körper wirken kann, ohne ganz in ihm aufzugehen. Ähnlich wie Maurice Merleau-Ponty, der den Leib als ersten Kulturgegenstand begreift (Merleau-Ponty 1966: 400) betrachtet Thomas Fuchs den Leib als

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den zentralen Träger von Interaktionsprozessen mit der Umwelt. „Mein Leib ist also nicht der Körper, den ich sehe, berühre oder empfinde, sondern er ist viel mehr mein Vermögen zu sehen, zu berühren und zu empfinden“ (Fuchs 2013: 99). Dieses „Vermögen“, welches sich sowohl aus der Integration von körperlich-leiblichen Dispositionen speist, als auch aus der Bezogenheit zur Umwelt, stellt die angeborene oder erworbene Bereitschaft des Organismus dar, Aktion aktiv zu realisieren (Fuchs 2013: 127). Der Leib spielt in diesem Prozess die Rolle eines Mediums des sich Befindens zur Welt, das auch durch Atmosphären und Stimmungen geprägt und beeinflusst wird. Die dabei gemachten Erfahrungen werden, wie beispielsweise beim Gitarrespielen, in Gedächtnisstrukturen inkorporiert, woraus wiederum Interaktionsschemata, Gewohnheiten und letztlich leibliche Dispositionen entstehen. Leibliches Spüren vollzieht sich in dem Spannungsfeld von Engung und Weitung, was bedeutet „zwischen Enge und Weite in der Mitte zu stehen und weder von dieser noch von jener ganz loszukommen […]“ (Schmitz 2007: 122). Engung empfindet man bei affektiver Betroffenheit, sei es aus Angst, Schreck, Freude, Überraschung oder auch in starker Konzentration. Die Gliedmaßen sind angespannt und dicht beim Körper, das Genick eingezogen, die Haut zieht sich zusammen bis hin zur Gänsehaut. Schüler_innen erleben Engung, wenn sie beim Spicken erwischt werden, eine Antwort nicht wissen oder wenn sie eine unerwartet gute Zensur erhalten. Weitung wird meist als befreiend und entspannt erlebt, die Glieder sind locker und der Blick ist in die Ferne gerichtet. In der Schule erleben Kinder Weitung, wenn sie nach einer anstrengenden Stunde in die Pause gehen können aber auch, wenn sie in einem Experiment auf eine neue Erkenntnis stoßen und die Anspannung abfällt. Engung und Weitung sind als leiblich erfahrbarer Zustände der Existenz zu bezeichnen, zwischen deren extremer Ausprägung sich das subjektive Erleben abspielt. Atmosphären können in Form von Wetter, als leibliche Regungen und als Gefühle auftreten (Schmitz 2014: 33). Die drückende Schwüle eines Sommertages wird von den meisten Menschen als lähmend und ermüdend wahrgenommen, also als Engung. Leibliche Regungen sind etwa die Mattigkeit bei einer Grippe, die von Engung gekennzeichnet ist oder das Schweben des Frischverliebten, welches als Weitung erlebt wird. Gefühle bezeichnet Hermann Schmitz als „ortlos ergossene Atmosphären […], die einen Leib, den sie einbetten, in der Weise […] des affektiven Betroffenseins heimsuchen“ (Schmitz 1969: 343). Gefühle werden in der Neuen Phänomenologie somit nicht als eine private Angelegenheit der individuellen Innenwelt betrachtet, sondern als etwas, das über die Person kommt. Eine Atmosphäre wird zwar am eigenen Leib gespürt, aber nicht als Zustand des eigenen Leibes, sondern als etwas, das ihn ergreift. Dabei unter-

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scheidet Schmitz bei den Atmosphären des Gefühls noch zwischen solchen, die bloß wahrgenommen werden und solchen, die einen leiblich spürbar ergreifen (Schmitz 2011: 91). Gerät man in den Sog eines Gefühls als Atmosphäre, spürt man dies an der leiblichen Engung bzw. Weitung. Solange man unbeteiligt bleibt, gleitet die Traurigkeit einer Mitschülerin oder die Ausgelassenheit einer Sportstunde an einem ab, sie lässt einen kalt. Die Bedeutung von räumlichen Atmosphären erörtert Schmitz am Beispiel des Wohnens. Für ihn ist wohnen „die Kunst, Atmosphären, die Gefühle sind, so einzufangen und auszubilden, dass der Mensch sich mit seinem leiblichen Befinden harmonisch auf sie einstimmen kann“ (Schmitz 2014: 27/28). Dazu gehört die Umfriedung des Raumes durch Mauern oder Raumteiler, um den Wohnraum überschaubar zu machen und sich darauf einstimmen zu können. Dies zeigt, warum Kinder sich gerne kleine Ecken, Häuschen und Höhlen bauen, um darin ihr leibliches Befinden zu zelebrieren. Die Umformung der Gefühle in räumliche Entsprechungen geschieht durch Bewegungssuggestionen und Gestaltverläufe. Wie oben beschrieben zeichnen Gegenstände oder Personen durch ihre Gestalt eigene Bewegungen vor und verleihen Gebärden den „Gebärdensinn“ (Schmitz 2014: 67). Eine Betonmauer vermittelt Starre und Stabilität, ein Regal suggeriert Einblicke und Durchblicke, ein Vorhang eine gewisse Beweglichkeit und Variabilität. Somit bergen räumliche Elemente Anmutungen von Bewegung, die dem eigenen Empfinden mehr oder weniger entsprechen. Diese „Brückenqualitäten“ (Schmitz 2014: 28) räumlicher Elemente, etwa eines Türbogens oder eines Kaktus, die am eigenen Leib gespürt und als Gestalt wahrgenommen werden, bilden somit Atmosphären von Behaglichkeit oder Kälte, Gemütlichkeit oder Fremdheit. Diese Qualitäten treffen nicht nur auf das private Wohnen zu, sondern auch auf Aufenthaltsorte, an denen sich Menschen regelmäßig und längerfristig aufhalten, wie etwa der Klassenraum in der Schule. Daher ist es sehr wesentlich, dass Schüler_innen an der Gestaltung der Räume beteiligt werden, um ihr leibliches Befinden im Raum zumindest ansatzweise wiederzufinden. Weiterhin sollte der Raum im wahrsten Sinne des Wortes auch Lernraum sein, also nicht nur Mittel zum Zweck, wie es etwa Tische und Stühle beim Bearbeiten von Arbeitsblättern sind. Der Raum selbst kann unterschiedliche Arbeitsformen, Zugänge zu Lerngegenständen und unterschiedliche Modi der Kommunikation ermöglichen. Kinder brauchen mehrdimensionale Zugänge zum Lerngegenstand, die über Arbeitsblätter hinausgehen und eine Annäherung aus verschiedenen Perspektiven zulassen. Ein Kind im Forschungsprojekt beschreibt,

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„ich muss mich viel bewegen, weil ich erst alles anschauen muss, damit ich verstehe“ (Wolf 2016)2. Die Atmosphäre in Lernräumen wie der Schule wird weiterhin bestimmt durch die dort anwesenden Personen. Gerade das Zusammenspiel von Engung und Weitung nimmt hier eine prominente Stellung ein. Ein Gespräch ist keineswegs nur bestimmt vom gesprochenen Wort, sondern vor allem auch durch die leibliche Kommunikation. Klaudia Schultheis weist darauf hin, dass Kinder leiblich kommunizieren und Gesichtsausdrücke und Haltungen in ihrer Bedeutung verstehen, lange bevor sie dies sprachlich zum Ausdruck bringen können. „Ein bedrohlicher Gesichtsausdruck, eine angespannte und aufrechte Haltung, aber auch lockere Gelassenheit sind als Gestaltverläufe für das Kind wahrnehmbar. Sie werden als leibliche Engung oder richtunggebende Weitung spürbar und mit Bedeutungen verknüpft, z.B. mit Angst, Beklemmung oder Wohlbefinden“ (Schultheis 2008: 102). Immer wenn sich zwei Menschen in hoher Konzentration aufeinander beziehen, spricht man in der Neuen Phänomenologie von Einleibung. Dabei unterscheidet Schmitz zwischen antagonistischer und solidarischer Einleibung (Schmitz 2011: 40). Im Klassenraum spielen beide eine Rolle, jedoch dürfte aufgrund der Konkurrenzsituation die antagonistische Einleibung, welche die Vorherrschaft in der Kommunikation aushandelt, stärker ausgeprägt sein. In einem Gespräch fluktuiert die Dominanzrolle zwischen den Interaktionspartnern hin und her, um sich einzubringen, sich durchzusetzen oder sich zurückzunehmen. Die Dominanz wird dadurch bestimmt, wer sich gerade stärker in Engung befindet. Richtet eine Lehrperson das Wort an Schüler_innen, muss sie zunächst die Stimme erheben, sich auf den/die Gesprächspartner_in konzentrieren, ihm/ihr den Blick zuwenden, usw. Dies erfordert Engung. Das Schulkind hingegen ist nun in der Situation, sich in Weitung dem Anliegen zu öffnen, in Kontakt zu treten oder die Lehrkraft zu ignorieren. Für das Gelingen des Gesprächs ist somit zunächst der/die Zuhörende verantwortlich, der/die „solange dominiert […] als er [bzw. sie] für den Erfolg des Landeversuchs [der/die] Maßgebende“ ist (Schmitz 2011: 41). Somit oszilliert der Engepol in kleinen Intervallen der Dominanz wie ein Ball zwischen den Akteuren hin und her. Leiblich spielt sich dies vor allem im Blick ab. Winzige Signale der Zustimmung, weniger zum Redeinhalt, als zur Person des aktuell akzeptierten Gesprächspartners, bilden den Faden, der das Gespräch am Laufen hält. In diesen subtilen Abläufen entwickeln sich nun auch Atmosphären des Unterrichts. Die wechselseitige Konzentration auf das Gegenüber drückt sich in

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Experteninterviews mit Kindern, Zitat MH/J6M 2016.

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vielfältigen Blicken, Symbolen, Gesten und Haltungen aus, die in der gemeinsamen Situation von Schüler_innen und Lehrer_in verhandelt werden. Hier schwingt Anerkennung, Abwertung, Bewunderung, Ignoranz usw. mit. Eine Stimme verändert die Wirkung von Worten, wenn sie helle und durchdringende, also epikritische Qualitäten oder dunkle und gedämpfte, eher protopathische Aspekte in der Botschaft mittransportiert (Schmitz 2007: 143). Die vielen anwesenden Personen transportieren Stimmungen, die auf die Gesamtatmosphäre einwirken. „Dabei kann es vorkommen, dass […] der Eintritt eines Menschen die Atmosphäre in einem Raum wie zu Eis erstarren lässt oder warm, locker und herzlich macht, aber auch in anderer Weise prägt“ (Schmitz 2007: 149). Meine These lautet nun, dass die dauerhafte Einwirkung bestimmter Atmosphären auf eine Person Einfluss auf die leibliche Disposition nimmt (Wolf 2015: 21). Letztgenannte ist zu verstehen als eine grundlegende leiblich-affektive Konstitution einer Person, die auch als Grundstimmung zu bezeichnen ist, die aber dennoch durch prägende Erfahrungen noch verändert werden kann (Gugutzer 2002: 96). Schmitz bezeichnet die leibliche Disposition als den individuellen Stil leiblicher Resonanz auf Eindrücke und Perzeptionen von außen (Schmitz 1990: 296). Ein Kind entwickelt somit entsprechend seines leiblichen Befindens eine je eigene Art und Weise, wie es mit den Anregungen und Zumutungen seiner Lebenswelt fertig wird. Die leibliche Disposition setzt sich aus drei Komponenten zusammen, dem vitalen Antrieb, der Reizempfänglichkeit und der Zuwendbarkeit (Schmitz 1990: 315). Der vitale Antrieb bezeichnet die expansive und kontraktive Lebendigkeit der leiblichen Ökonomie (Schmitz 2007: 128). Es ist die Geschmeidigkeit zwischen Engung und Weitung hin und her schwingen zu können und das subjektive leibliche Befinden in Balance zu halten. Die Zuwendbarkeit stellt die Fähigkeit dar, sich den Dingen, Personen und aktuellen Erfordernissen gegenüber zu öffnen, sie wahrzunehmen und sich darauf einzulassen bzw. anzupassen. Dies ist eine wesentliche Grundlage jedes Lernprozesses. Die Reizempfänglichkeit kann als Sensibilität dafür beschrieben werden, wie differenziert Reize aus der Umwelt wahrgenommen oder auch ausgeblendet werden (Schmitz 2007: 128). Kinder können durch eine Vielzahl an Reizen überfordert sein, unter einem Mangel an geeigneten Reizen leiden oder über eine feine Abstimmung bezüglich der Rezeption von Reizen verfügen. Damit Atmosphären nun eine kollektive Wirkung entfalten können, überschreitet der vitale Antrieb das subjektive Empfinden und wird als gemeinsamer vitaler Antrieb erlebt, etwa eine gemeinsame Begeisterung für ein Thema. Dies erfolgt durch Einleibung (Schmitz 2014: 56). Der gemeinsame vitale Antrieb von Personen bildet die Grundlage für solidarische Einleibung. Hier richten sich die Anwesenden auf etwas Drittes aus,

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wie etwa gemeinsames Singen, Musizieren, Rudern oder Sägen. Dabei entwickeln sie einen gemeinsamen Rhythmus, der „als leibnahe Bewegungssuggestion zur Anstiftung von solidarischer Einleibung“ geeignet ist, die spürende Übereinkunft in Bewegung, Haltung, Stimmgebung usw. zu entwickeln (Schmitz 2011: 48). Ein gemeinsames Bewegungsspiel wie die „Löwenjagd“ oder „Laurenzia“ kann Kinder in solidarische Einleibung versetzen, in der sie Freude am gemeinsamen Tun empfinden, ohne sich darin großartig abstimmen zu müssen. Solche Momente solidarischer Einleibung können die Atmosphäre einer Lerngruppe im Positiven, etwa bei der Entwicklung eines Wir-Gefühls, beeinflussen. Leibliche Kommunikation in Gestalt von antagonistischer und solidarischer Einleibung bringt somit kollektive Atmosphären hervor, die auf Schüler_innen und Lehrer_innen wirken und in einem Klassenzimmer leicht zu beobachten sind. Es ist jedoch davon auszugehen, dass solche kollektiven Atmosphären nicht nur das aktuelle Befinden von Schüler_innen beeinträchtigen, sondern langfristig die persönliche Situation als Ausdruck von Identität prägen. Somit wird die leibliche Disposition im Klassenzimmer durch Atmosphären des Aufwachsens beeinflusst (Wolf 2015: 3). Traumatisierende Atmosphären im Schulalltag Da Schule jedoch nicht nur durch solidarische Einleibung und das Mitschwingen im Wir-Gefühl geprägt ist, sondern auch durch antagonistische Einleibung in der alltäglichen Konkurrenzsituation, sollen nun auch für die Entwicklung der Kinder nachteilige Atmosphären Beachtung finden. Soziologisch betrachtet ist die gemeinsame Situation zwischen Lehrperson und Kind im Klassenzimmer von der pädagogischen Absicht, einem asymmetrischen Verhältnis zwischen Lehrer_in und Schüler_in (Wissensvorsprung), einer gesteuerten Kommunikation und einer Interaktion unter Anwesenden geprägt. Das Zensurengeben gilt – mit Ausnahme der ersten Grundschuljahre - als konstitutiv für Lehrerhandeln und zwingt die Lehrkraft „sich mit dem einzelnen Schüler zu befassen und ihn zu vergleichen“ (Luhmann 2002: 64). Sie hat dabei zu bewerten, was gut und schlecht ist, was meist noch durch Techniken von Lob und Tadel unterstützt wird. Dieses Bewertungssystem ist durch streng ritualisierte Verfahren gesichert, schwache Leistungen werden im „Systemgedächtnis“ kategorial unter „schlechter Schüler“ gespeichert und führen in letzter Konsequenz zu der Entscheidung: ,Versetzung – Nichtversetzung´ (Luhmann 2002: 66). Obwohl es durchaus unterschiedliche Entwicklungsschübe bei Kindern gibt, die einige Monate oder gar Jahre auseinanderliegen können, versucht man in Jahrgangsklassen die gleiche Leistungsfähigkeit zu erreichen. Das Schulsystem verwandelt unter Umständen

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individuelle Leistungsdifferenzen in Leistungsdefizite und trägt damit zur Entstehung sozialer Ungleichheit bei, anstatt sie abzubauen (Grundmann 2009: 76). In der konkreten Unterrichtssituation kann sich das auf phänomenologischer Ebene wie folgt gestalten. Da das schulische Lernen vorwiegend auf kognitive Prozesse ausgerichtet ist, steht das ruhige Sitzen und die Auseinandersetzung mit zweidimensionalen Arbeitsblättern im Vordergrund. Dies verhindert eine ganzheitliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Die intrinsische Motivation als Lust, sich mit einer Sache in Einleibung beobachtend, berührend, hantierend oder handelnd auseinanderzusetzen, steht nicht im Vordergrund, sondern die abstrakten Inhalte des Lehrplans, die zu bearbeiten sind (Wolf 2016: 191). So ist das Kind mit seiner Affektivität und seiner leiblichen Gerichtetheit nicht immer in dem Maße auf den Lernstoff konzentriert und am Thema interessiert, wie es der Fall wäre, wenn es sich tätig auseinandersetzen dürfte und dieses selbst gewählt hätte. Die extrinsische Motivation, eine gute Note zu erhalten kann ein Anreiz sein, sich anzustrengen. Doch ist diese Art der Motivation auf Dauer ermüdend, da sich der Lerngegenstand dem eigenen leiblichen Zugang und dem eigenen Sinnhorizont entzieht. So nimmt die Begeisterung, etwas Neues zu lernen, im Laufe der Schulzeit ab. Leider besucht bereits ein Viertel der Grundschülerinnen aufgrund der Angst vor Noten nicht gerne die Schule (Ulich 1991: 379). Der ständige Vergleich, wer bessere oder schlechtere Zensuren hat als man selbst, bildet eine konstitutive Erfahrung des Schullebens. Gute Noten steigern die Anerkennung bei Lehrer_innen, Eltern und Mitschüler_innen. So erleben sich Schüler_innen mit guten Zensuren als kompetent und selbstwirksam, was eher in Weitung gespürt wird. Schwächere Schüler_innen dagegen fühlen sich zunehmend unfähig, leistungsschwach und unterlegen. Dies äußert sich zunächst in Engung. Worte der Kritik durch die Lehrkraft wirken wie eine schwere Last, die niederdrückt. Man ist wie gelähmt und fühlt sich momentan unfähig, sich weiter anzustrengen. Von manchen Kindern werden schwache Leistungen als persönliches Versagen empfunden, welches den Selbstwert schwächt (Wolf 2016: 193). Dies geschieht deshalb, da Bildungsabschlüsse und Zensuren in westlichen Gesellschaften einen erheblichen statusverleihenden Stellenwert besitzen. Curricula sind politisch und ökonomisch selektiert, um nicht etwa Allgemeines sondern spezifisches Handlungswissen zu vermitteln, das über Chancen oder Benachteiligungen beim sozialen Aufstieg entscheidet (Grundmann 2009: 71). Viele Eigenschaften und Fähigkeiten, die ein Mensch für ein erwachsenes Leben entwickeln muss, finden dagegen keine Beachtung. Ein Kind, das ideenreich ist, besonderes Einfühlungsvermögen besitzt oder über handwerkliches Ge-

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schick verfügt, wird unter Umständen davon in der Schule kaum profitieren. Doch gerade solche Kompetenzen können die Atmosphäre im Klassenraum konstruktiv beeinflussen. Wenn es nicht nur darum geht, wer die meisten Wortbeiträge einbringt, sondern auch darum, wie sich jedes Kind mit seinen Besonderheiten einbringt, kann eine kollektive Atmosphäre entstehen, die nicht durch einen beständigen Wettkampf in antagonistischer Einleibung, sondern durch echtes Zuhören, Verstehen und Wachsen gekennzeichnet ist. Auch die Anerkennung durch die Eltern hat eine große Bedeutung. Sie drücken in weitenden Gesten Lob und Anerkennung aus, in denen sich die eigene Bedeutung spiegelt. Mitfreude führt zu Weitung und einem ,Getragensein´ in der Anerkennung der Anderen. Bei Misserfolg dominieren engende Haltungen, die als Abwertung, Enttäuschung und Resignation zum Ausdruck kommen. Sie sind häufig begleitet von drohenden Worten, erniedrigenden Gesten oder auch betretenem Schweigen. Mit diesen Gesten verbundene Bewegungssuggestionen wirken unmittelbar auf Schüler_innen und lassen diese förmlich zusammenschrumpfen. Kollektive Atmosphären der Schule sind jedoch nicht nur durch das LehrerSchüler-Verhältnis geprägt, sondern auch durch die Peergruppe. Diese kann Schutz vor den „Zumutungen der Schule“ bieten, Zugehörigkeit und Geltung vermitteln, aber sie kann auch Ort „des Mobbings, der Demütigungen und der Ausstoßungserfahrungen sein“ (Grundmann2009: 180). Bei der Gewaltform des Mobbings wird eine unterlegene Person systematisch meist von mehreren Personen über einen längeren Zeitraum hin schikaniert, angegriffen oder diskriminiert, um sie letztlich aus der Gruppe zu isolieren (Belkacem 2012: 16). Mobbing lebt von leiblichen Signalen, die das Opfer in Engung versetzen. Scheinbar harmloses Grinsen, Ignorieren, Augen verdrehen oder hinterrücks Zeichen geben, verunsichert das betroffene Kind und vermittelt gleichzeitig ein stillschweigendes Einverständnis darüber, dass es eigenartig, anders und unerwünscht ist. Diese leiblich vermittelten Signale erfahren Betroffene als irritierend, peinlich, unangenehm und bedrohlich. Indem die Blicke der Angreifer das Opfer gleichzeitig umzingeln und ausgrenzen, fühlt es sich heftig betroffen, gefesselt und drangsaliert von diesem Spiel (Wolf 2016: 197). Das Opfer empfindet Ohnmacht und den Verdacht, etwas sei nicht in Ordnung mit der eigenen Person, da ja eine Mehrheit es spüren lässt, wie abartig und seltsam es sei. Mobbing wird in kollektiven Atmosphären erzeugt und durch das eigenleibliche Spüren verstärkt, das durch Engung geprägt ist und zu einem ,Ausgeschlossen-Sein‘ von der gemeinsamen Situation führt. In antagonistischer Einleibung wird ausgelotet, wer überlegen ist und häufig wird dabei noch so getan, als handele es sich um einen Spaß. Doch entscheidend beim Mobbing ist,

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was das Opfer leiblich spürt, wie sehr es Unterlegenheit, Scham und Isolation empfindet oder nicht (Jannan 2010: 15). „Das pochende Herz, die Enge in der Brust, die Hitze im Gesicht, das Zittern der Hände, das flaue Gefühl im Magen nimmt zunächst nur der Betroffene wahr“ (Wolf 2016: 197). Diese Atmosphäre von Angst und Erniedrigung führt zu Einsamkeit und Ausschluss anstatt zu Zugehörigkeit und ,Angenommen-Sein‘. Da das Kind in der Identitätsentwicklung auf die Anerkennung der Peers angewiesen ist, kann Mobbing als Atmosphäre lähmend auf die leibliche Disposition des Kindes wirken. Sein vitaler Antrieb wird gehemmt, die Zuwendbarkeit eingeschränkt und es kann nicht mehr locker mit den Reizen und Anforderungen des Unterrichts und der Umwelt mitschwingen. Schüler_innen können durch negative Erlebnisse in der Schule, sei es durch den Leistungsdruck der Erwachsenen oder den Gruppendruck der Peers schwere Angstzustände erleiden, bis hin zu echten traumatischen Erfahrungen. Der Übergang zum Trauma liegt dort, wo die leidvolle Erfahrung jenseits des „normalen Spektrums“ liegt (Boss 2008: 60). Psychische Traumata treten dann auf, wenn das Individuum „in seinen elementaren Lebensbedürfnissen bedroht und verletzt, in seiner menschlichen Würde und Freiheit missachtet wird“ (Fischer/Riedesser 2003: 18). Ein Trauma kann leiblich als extreme affektive Betroffenheit beschrieben werden, die den vitalen Antrieb so lähmt, dass die Schwingungsfähigkeit zwischen Engung und Weitung eingeschränkt wird. Die „Varianz im Erleben“ und die „Reaktionsmöglichkeiten“ werden massiv reduziert (Langewitz 2010: 157). Schmitz bezeichnet solche erfahrbaren Phänomene als „primitive Gegenwart“, Zustände, in denen für das Subjekt keine klaren Sachverhalte (Tatbestände), Programme (Regeln, Strukturen) und Probleme (Sorgen und Hoffnungen) mehr identifizierbar sind (Schmitz 2007: 153). Alles löst sich auf in einem intensiven Betroffensein von Angst, Schreck oder Schmerz. Nach dem Sturz von einer Treppe ist ein/e Schüler_in zunächst nicht in der Lage, die Vergangenheit der Situation oder die gerade noch gehegte Absicht für die Zukunft zu übersehen, da er/sie sich so im Jetzt dieses Schreckens befindet, dass alle Konstrukte zur Strukturierung des Daseins zunächst versagen. In primitiver Gegenwart ist das Kind in einer massiven leiblichen Enge befangen und erfährt unmissverständlich, dass es hier jetzt selbst gerade dieses Betroffensein erfährt. Bei einer traumatischen Erfahrung löst sich der momentane Schock jedoch nicht wieder auf, sondern die massive Engung befällt bestimmte Regionen des Leibes – sogenannte Leibesinseln – (Schmitz 1998: 151) und verfestigt sich dort in unterschiedlicher Weise. Von einem PTBS Betroffene beschreiben, wie sie Körperteile als Fremdkörper empfinden, wie sie für Momente rechts hinter sich stehen oder akute innere Hitzegefühle empfinden (Langewitz 2010: 154). Traumatisier-

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te Schüler_innen empfinden in angstbesetzten Situationen, etwa, wenn sie alleine an die Tafel müssen oder wenn sie demonstrativ ignoriert werden, unterschiedliche leibliche Regungen, beispielsweise ein Bohren der Blicke in ihrem Rücken, ein heißes Kribbeln, das sich von den Händen in die Unterarme erstreckt oder sie spüren sich einen halben Meter tiefer im Boden. Traumatisierte Patienten empfinden den eigenen Arm nicht mehr als zum eigenen Leib gehörend (ebd.). Um traumatisierte Kinder in der Schule zu unterstützen ist es zunächst erforderlich, ihre Wahrnehmungen ernst zu nehmen. Oft trauen sie sich nicht, leibliche Empfindungen zu äußern, da sie womöglich für „verrückt“ gehalten werden. Doch Wolf Langewitz betont geradezu, dass die Kompetenz, „eigenes leibliches Befinden“ in „sprachlichen Bildern“ auszudrücken, konstitutiv ist für eine allmähliche Bewältigung der leiblich verfestigten Erstarrungen (2010: 159). Daher bilden sensitive Gespräche mit von Angstzuständen betroffenen Kindern auf der Basis leiblicher Kommunikation eine wesentliche Grundlage, um erste Fäden über den Abgrund zu spinnen, aus denen dann allmählich Brücken werden können. Wie dies geschehen kann, soll im Folgenden thematisiert werden. Pädagogische Intervention Kinder, die wegen Misserfolg oder persönlicher Abneigung geächtet, ignoriert oder ausgeschlossen werden, geraten in massive Zustände der Engung, und fallen auf das Niveau der primitiven Gegenwart zurück. Dies drückt sich im Zustand personaler Regression aus (Schmitz 2007: 156). In personaler Regression befindet sich eine Person aufgrund affektiven Betroffenseins, etwa in Schock, Angst oder Überraschung, und ist fortan nicht in der Lage, bereits entwickelte Denk- oder Handlungsschemata situationsgerecht anzuwenden (Wolf 2016: 219). Schüler_innen trauen sich nicht mehr, sich zu melden oder eine Aufgabe an der Tafel zu lösen, weil sie von Herzklopfen oder von den Blicken der Anderen geplagt werden. Daher ist es Aufgabe der Pädagog_innen, Kinder wieder in personale Emanzipation zu führen, damit sie aus der affektiven Betroffenheit im Hier und Jetzt heraustreten und bereits erlernte Konzepte, Strukturen und Orientierungen wieder anwenden können (Schmitz 1990: 126). Personale Emanzipation ermöglicht die Balance zwischen Engung und Weitung zu finden und angemessene Reaktionen auf die Anforderungen der Umwelt zu entwickeln (Wolf 2016: 219). Obwohl die Behandlung eines Traumas sich vielschichtiger darstellt, als die einer eingeschüchterten Person, ist die Aufgabe des Pädagogen oder Therapeuten im Grunde die Gleiche: Aus der personalen Regression hinaus zu führen in den Zustand personaler Emanzipation (Wolf 2012: 305). Dies ge-

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schieht – nach Wolf (2010: 26) – in mehreren Schritten, die dem Kind leiblich vermittelt werden können: Ich werde mit der Engung nicht allein gelassen. Die Engung ist schmerzhaft aber nicht vernichtend. Die Engung geht vorbei. Auch andere Menschen sind von solchen Regungen betroffen und überwinden sie. • Die Überwindung von Engung wird mit der Zeit einfacher. • Ich selbst bin nicht die Engung, sondern es ist ein Empfinden, das auf mich einströmt, von dem ich mich aber distanzieren und befreien kann.

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Diese sechs Schritte erfordern eine intensive und sensitive Einleibung zwischen Erwachsenem und Kind. Im ersten Schritt spricht die Lehrperson mit dem Kind, berührt es taktvoll und gibt zu verstehen: Keine Angst, ich bin für dich da. Meist können rituelle Bewegungen wie z.B. über Kopf oder Rücken streichen, aber auch die Hand halten die körperliche Starre und Isolation etwas auflockern. Der Schmerz ist noch da, aber im Trost annehmbar. Der Erwachsene schwingt zunächst in der Angst und Trauer mit, etwa durch Bemerkungen wie: „Das ist ja auch schlimm, das tut wirklich weh“, etc. Dann jedoch wirken weitende Gesten wie Ruhe und Gelöstheit des Tröstenden allmählich auf das Kind; in der Freundlichkeit und Akzeptanz löst sich die Engung, die Muskulatur lockert sich, die Anspannung wird weniger. Die Stimmung des Erwachsenen überträgt sich als Gestaltverlauf auf das Kind. Zunächst handelt es sich um eine antagonistische Einleibung, weil der/die Pädagog_in der Unruhe und Erregung des Kindes etwas oppositionell entgegensetzt, nämlich Ruhe und Gelassenheit. Indem das Kind zunehmend die Engung loslassen kann, schwingt es mit den beruhigenden Bewegungen der Bezugsperson mit und gelangt in solidarische Einleibung (vgl. Wolf 2016: 46). Es übernimmt die Bewegungssuggestion, lässt sich leiblich darauf ein und gerät tendenziell in Weitung. Wenn das Kind dann wieder in der Lage ist, die Umwelt wahrzunehmen, erkennt es, dass andere von ähnlichen Ereignissen bedrückt sind. Dadurch kann es seine rein subjektive Perspektive auf das Problem erweitern. Ebenso wird es bei regelmäßiger Begleitung im Oszillationsprozess von personaler Regression in personale Emanzipation lernen, dass die Überwindung der Engung einfacher wird, bis es eines Tages in die Lage versetzt wird, nicht mehr jede affektive Betroffenheit voll in sich einzulassen, sondern sie eher wahrnehmend zu registrieren und sich in personaler Emanzipation damit auseinanderzusetzen (Wolf 2010: 6). Das Schwingungsverhältnis zwischen Engung und Weitung wird flexibel und

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somit auch die Fähigkeit, geschmeidig mit subjektiver Betroffenheit umzugehen. Da in der Schule bestimmte Atmosphären als bedrohlich erlebt werden, sollten Pädagog_innen darauf achten, die Konkurrenzsituation nicht überhand nehmen zu lassen. Neben Erziehungszielen wie Selbständigkeit, Autarkie und Kompetenz sollten auch Unterstützung, Solidarität und gegenseitige Verbundenheit angestrebt werden (Wolf 2016: 212). Um das Wir-Gefühl über solidarische Einleibung zu stärken, können gemeinsame Rituale eingeführt und gepflegt werden. Rituale sind geprägt durch eine spezifische Symbolik und Ästhetik, die für alle spürbar und erfahrbar ist und in der jeder um den Ablauf und die eigene Rolle weiß (Petersen 2011: 48). Sie geben den Beteiligten Tagesstruktur, Handlungssicherheit und Orientierung in der Gruppe. Dabei sprechen sie die affektive Ebene an, gehen sozusagen „unter die Haut“ (Petersen 2011: 49), und werden durch Mitschwingen in gemeinsamen Situationen erzeugt. Dies kann ein Morgenkreis mit einer gewissen Begrüßungsformel sein, ein bestimmter Schlachtruf beim Sport oder ein Abschiedslied am Nachmittag. Lehrer_innen nutzen hier eine zentrale Funktion von Routinen, die Anthony Giddens wie folgt beschreibt: „Routinen sind konstitutiv sowohl für die kontinuierliche Reproduktion der Persönlichkeitsstrukturen der Akteure in ihrem Alltagshandeln, wie auch für die sozialen Institutionen; Institutionen sind solche nämlich nur kraft ihrer fortwährenden Reproduktion“ (Giddens 1988: 112). Rituale generieren über solidarische Einleibung eine typische Atmosphäre der Schule, die Sicherheit und Geborgenheit vermitteln und zur Identifikation beitragen kann. Bedeutung gestalteter Atmosphären in der Schule Vor allem ist das sensitive Gespür für die Atmosphäre in der Schulklasse bedeutsam. Hartmut Rosa hat für den Bereich menschlicher Beziehungen den Begriff der Resonanz geprägt. Er definiert diese Resonanz als „einen Modus des Inder-Welt-Seins“, wobei die Beteiligten sich in einem schwingungsfähigen Resonanzraum „wechselseitig so berühren, dass sie aufeinander antwortend“ miteinander interagieren (Rosa 2016: 285). Lehrer_innen und Schüler_innen dürfen dabei in eine Sozialbeziehung treten, in der durch ein wechselseitiges geistiges Berühren und Berührt werden neue Perspektiven auf die Welt möglich werden. So können Momente entstehen, in denen etwas in Gang kommt, in denen man sich mitreißen lässt und die eigene Veränderung durch die Lernerfahrung in der Beziehung spürbar wird (Rosa/Endres 2016: 30). Auch wenn Rosas Resonanzpädagogik keine Soziologie des Leibes zugrunde liegt, nähert sich sein relationaler Resonanzbegriff stark der qualitativen Beschreibung von intersubjektiv erleb-

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ten Atmosphären an. Das Bemühen, soziale Prozesse nicht nur anhand von abstrakt-rational messbaren Kriterien zu diskutieren, sondern auch aufgrund von vorsprachlich-erfahrbaren Einflussgrößen zu beschreiben, verdient künftig Beachtung, um wissenschaftliche „Erklärungskonstrukte“ immer wieder in „wirklichkeitsangemessener Weise“ an lebensweltliche Erfahrung zurückzubinden (Hasse 2015: 121). Auch wenn atmosphärischen Einflüsse schwer operationalisierbar und daher einem positivistischen Wissenschaftsverständnis kaum zugänglich sind, heißt es deshalb nicht, dass sie keine Bedeutung für die Sozialisation von Kindern haben. Bereits Max Horkheimer und Theodor W. Adorno erkannten, dass andere erkenntnistheoretische Zugänge die Chance bieten „das Vorfindliche als solches zu begreifen, den Gegebenheiten nicht bloß ihre abstrakten raumzeitlichen Beziehungen abzumerken, bei denen man sie dann packen kann, sondern sie im Gegenteil als die Oberfläche, als vermittelte Begriffsmomente denken, die sich erst in der Entfaltung ihres gesellschaftlichen, historischen, menschlichen Sinnes erfüllen“ (Horkheimer/Adorno 2003: 33).

Auch in der Neuen Phänomenologie wird das vom Subjekt spürbare und erfahrbare Phänomen als Gegenstand der Erkenntnis ernst genommen. Sie bietet eine Sprache an, um „den Zustand des bloß Fühlen- aber nicht Sagenkönnens zu überwinden“ (Großheim 2008: 31). Daher verdienen Atmosphären in der Schule, die sich auf räumlicher wie persönlicher Ebene entfalten können, eine gesteigerte Beachtung, da sie ein weites Potenzial der Gestaltbarkeit mit sich bringen und die Sozialisationsbedingungen von Kindern konstruktiv beeinflussen können. Literatur Becker, David (2014): Die Erfindung des Traumas. Verflochtene Geschichten. Gießen: Psychosozial-Verlag. Belkacem, Imène (2012): Cyber-Mobbing. Der virtuelle Raum als Schauplatz für Mobbing unter Kindern und Jugendlichen. Problemlagen und Handlungsmöglichkeiten. Hamburg: Diplomica. Berger, Peter L./Luckmann Thomas (1980): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt/Main: Fischer. Bollnow, Otto F. (1964): Die pädagogische Atmosphäre. Heidelberg: Quelle & Meyer. Böhme, Gernot (2013): Architektur und Atmosphäre. München: Fink. Boss, Pauline (2008): Verlust, Trauma und Resilienz – Die therapeutische Arbeit mit dem „uneindeutigen Verlust“. Stuttgart: Klett-Cotta. Bronfenbrenner, Urie (1976): Ökologische Sozialisationsforschung. Stuttgart: Klett-Cotta.

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Leroy (7 Years Old) − “It Is Almost Like He Is Two Children”1 Working with a Dissociative Child in a School Setting N A ’ AMA Y EHUDA Approaching Mrs. Tibo’s first-grade special-education class is akin to closing in on a thundering waterfall − the sounds assault you long before you see the sights. The racket today is louder than usual, however. Alarmed, I cover the distance to the classroom with wide steps, and taking a deep breath to make sure I am fully present, I open the classroom’s door. Huddled in a corner at the end of the room, a boy is holding a chair, seat to chest, four legs aimed at the teacher. He is yelling: “I gonna’ beat you up, I gonna’ beat you up!” It is Leroy, one of three children on my caseload from this class. Ms. Linda, the teacher’s assistant, attempts to restore order by incrementally raising the volume of her own voice. Mrs. Tibo, en route for the chair with her own voice reaching foghorn proportions, threatens to call Leroy’s grandmother. This only seems to have the effect of increasing the zealous thrusts of the chair in her direction. Seven-year-old Leroy is of average height and medium build, with long eyelashes framing haunting dark eyes, shiny brown skin, and a body that is pure muscle. I have been seeing him for the last three weeks, ever since I was assigned as a speech-language-pathology consultant to this Harlem elementary public school. The agency I work with fills up holes in staffing that the Department of Education is not able to fill. This means that almost every year I get assigned to a different school.

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This chapter was adapted to the current manuscript and is a shorter version of the original and more detailed chapter of the same title (Yehuda 2015), which can be found in both editions of the book: Dissociation in Traumatized Children and Adolescents: Theory and clinical interventions, edited by Wieland in 2011 and 2015.

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According to his Individual Education Program (IEP), Leroy has speech and language delays and is mandated for twice weekly 30-minute sessions in a group of two. I have been seeing him with C.K., another child from this class, partially because they know each other but mostly because this combination proved to be the least combustible. Leroy’s file reports reduced expressive and receptive vocabulary, dismal attention span, difficulty following directions, and overall insufficient academic performance. His language-learning problems surpass the environmental delay often present in inner-city children. He shows distinct difficulty in identifying emotions in pictures or stories, and his replies tend to be unusual, even unsettling. When I showed him a picture of a boy with a broken bike and asked how he thought the boy was feeling, he said, “Happy.” When I asked why or inquired what he thought the boy would do next, he just stared uncomprehending. Looking at a girl’s birthday party picture he said, “She mad”, but was unable to say anything more about what he meant or why a smiling girl with presents galore would seem to him to be angry. Internal sensations, also, are a foreign language to Leroy. He could not name or even seem to recognize hunger, pain, fatigue, or thirst. Although he rattles off names of rap stars and lyrics − foul language and all − he struggles with identifying things such as the steering wheel on a car or the wings on an airplane. He lacks adjectives such as dirty, full, empty, heavy, or short. His descriptions and judgments are limited to “good” and “bad”: a full cup is “good” and an empty one is “bad”; a clean shirt is “good” and a dirty shirt is “bad”. Leroy’s communication is not only delayed but seems to follow a different vector than that of “standard” delays. Although there is relatively little research about it to date, children with emotional issues (especially those with maltreatment/trauma histories) tend to show language delays that do not follow the presentation of “usual” language disorders. They often have difficulty with emotive and state language, sequence, cause-effect, and narrative; and may show increased difficulty with personal narrative compared with general narrative. Their language profile can be inconsistent, and their abilities may fluctuate from session to session; sometimes even within the same session. They can appear very literal, have short attention spans and, as a group, are more likely to be in Special Education than their peers (Cohen 2001; Putnam 1993, 1997; Yehuda, 2004, 2005).

Even though trauma history is not clearly defined in Leroy’s file, he has indicators for difficulties with emotional regulation, as well as some posttraumatic and

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dissociative tendencies. Observing Leroy in the classroom and speaking with his teachers makes it evident that he is an aggressive and explosive child who attacks other students with malicious force at the slightest (and sometimes no apparent) provocation. Sailing through the air with the agility of a trapeze acrobat, he would punch a class member, or toss a table and its contents to the side, and then routinely and fumingly deny the very action and attack again, enraged by the accusation. Leroy stares a lot, becoming unresponsive to his name. He also runs away from class, hits his teachers, and swears like a sailor. He refuses to participate in most activities. Leroy is labeled as having oppositional defiant disorder (ODD), attention deficit/hyperactivity disorder (ADHD), language learning disorder, and a few other titles thrown in for good measure. His denials of misbehavior are considered to be outright lies and proof of his ODD. Children do lie to stay out of trouble. However, denials of misbehavior can also be indicative of dissociation. Events (and actions) that take place when a child is in a dissociated state often are not encoded in memory that is accessible to the other states of the child and, therefore, may not be available to the child later for retrieval. The child in one dissociated state might not remember what he is accused of doing, and did indeed do, when in another dissociated state. Similarly, the child might also have difficulty remembering consequences from one event to the next, appearing to not “learn a lesson” and to be disrespectful of boundaries (Lanius et al. 2013; ISSTD Child and Adolescent Committee 2008; Silberg 1998, 2013). Because teachers, doctors, and psychologists often do not recognize dissociative features in children, it is not unusual for dissociative children to have multiple misdiagnoses. This is particularly true when trauma is not reported. Professionals need to look beyond reported diagnoses to the child’s behaviors and responses to understand what the child is experiencing, especially when the behaviors seem inconsistent or intermittent.

To control Leroy, Mrs. Tibo and Ms. Linda have reportedly “tried everything” − raised their voices, used a point system, punished, directed, confronted, and sometimes restrained. But discipline appears to roll right off of Leroy with no lesson learned. Leroy has good days (rarely) and bad days (often). His bad days frequently follow an initial outburst, after which he continues to explode with or without reason. Most students give Leroy a wide berth. Others tend to provoke him. He

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is an ongoing challenge to have in the classroom, and his teachers are grateful to have him taken out of the classroom for services. Leroy’s reputation is well-earned. In the first weeks of our work together, he did not listen, refused to work, and repeatedly attempted beating up C.K., his speech-group partner. He pushed, touched, grabbed, provoked, and denied; his sheer physical strength made him hard to handle (and me black and blue). But Leroy shows more than just aggression. He can be quite paradoxically sweet and lovable, practically puppy-eyed in the moments he is not awash with fury. He is eager to please, easy to hurt, and overly critical of himself. For all his rage, the boy is endearing, a heartbreaking elephant in the china-store of relating. I want to take him home and make it all better. These paradoxes in Leroy’s behavior and demeanor are not like the relatively slow-cycling changes sometimes seen in children who might have bipolar disorder. Rather, Leroy can shift literally from one moment to the next and back, moving from fury to bewilderment to affection to desperate need. Such rapid shifts are often the hallmark of a child moving from one dissociative state to another (Silberg 2013; Waters 2005).

Now in the classroom, I walk toward Leroy. I keep my breathing even and hope to somehow transmit to him some of the compassion I am feeling for him. I visualize brushing off his agitation with gentle feather-strokes. I visualize his excess energy rippling softly and calmingly around and away from his body. I visualize him calming down. This “energy work” is not part of speech-language pathologists’ traditional expertise, and I realize that it can seem a bit “out there” for some clinicians. And yet, I have found that using intentional compassion in visualizations can be extremely helpful as a calming method, if only for helping me to remain calmer during children’s (and adults’) distress. Children are, as a rule, acutely aware of the emotions of those around them. They rely on the adults in their lives and are therefore attuned − for good or bad − to the adults’ state of mind. A distressed adult can be scary to a child because the child perceives that the adult may not be able to protect, comfort, or help the child; this adds to the child’s distress. An angry adult can be terrifying, especially if the child had experience with angry adults who took their fury out on the child, or were otherwise out of control. A calm adult who can contain his or her own emotions has the

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best chance at calming a child because the child can sense that the adult would take care of the child and help the child regulate distress. “Hey Leroy”, I say softly, stepping closer, “I came to take you for Speech.” He stills, stiffens. “Do you remember the project we started last week?” I continue speaking, keeping my voice calm, my sentences simple, my speech slow, and my eyes on the boy (and the chair). “We began making a paper-bag puppet. You chose to do the Lion King. You did an excellent job and colored it very nicely with markers. We were going to put some stickers on it today. Then we were going to glue a popsicle stick on it so you could hold the puppet and move it like in a puppet show.” Mrs. Tibo looks at me, part incredulous that I think Leroy (notorious for ongoing outbursts) would calm down enough to come with me, part disbelieving that he would even hear my soft voice in the staggering noise. Nevertheless, she seems relieved that he at least stopped thrashing the chair in her direction. I give her a quick nod of reassurance that I will be okay. When children (and adults) are in distress, keeping communication direct and simplified can help them understand what we are saying and increases the likelihood that they can manage to respond to us. When a child is frightened or out of control, the areas of the child’s brain in charge of processing language are suppressed by heightened activity in brain areas responsible for survival − for fight or flight (Lawson 2013; Levine/Kline 2007; Perry/Szalavitz 2006). Distress is not the time for complex explanations or inquiry − those are best left for when the child is calmer and can actually process such information. It is also not the time to ask complex questions such as “Why did you do that?” or “What could you have done differently?” Simple narration to the child of what is going on now is most calming. If it is necessary to get information from a child in distress, simple questions, such as “yes/no” inquiries to ensure safety or basic “who, where, and what”, are preferential to more in-depth explorations. The most important goal is to help an agitated child get into a calmer state by, for example, reassuring that the child is safe, narrating to the child where he or she is and what you see, and being concise about what is expected of the child at the moment. In this case, bringing up the Lion King puppet was also meant to remind Leroy of a time when he was calm and feeling safe, as a way to help him regain more calm in the present.

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Leroy glares and does not move from his corner, but judging by the reduced zeal of his chair-jabbing, appears a tad less agitated. “We’re going to be fine”, I say, looking directly at him. “Right, Leroy? Nothing bad is going to happen. Everything’s okay. You are safe. I won’t hurt you, and you won’t hurt me, right?” He stares, nods. His shoulders relax a little, even as he maintains hold of the chair. Mrs. Tibo shrugs and turns to tend to the other children. By now, I am close enough to touch the chair. I reach slowly for one of its legs with my left hand so we are both holding the chair in what can easily become a tug-of-war. Leroy stiffens, but I do not move any closer or pull on the chair. We just stand together a moment, until his tension softens. There is no resistance when I gently take the chair from him and move it out of reach. Sliding my body a little lower to a crouch so I am not towering over him, I continue to talk about what we are going to do, keeping my tone casual but never taking my eyes off of him − he is as quick as lightening and I rather like my body unharmed. Leroy stares and blinks alternately. He looks dazed, as if unsure where he is. Often, when children have been out of control (and/or been triggered and become dissociated), they go through a reorientation of sorts as they begin to calm down and in a sense resume awareness of the here and now (become “grounded”). They might look around, blink, take a deeper breath, shudder, and even seem puzzled about what just happened or where they are. As the child’s body relaxes and the chemical cascade of stress hormones and other neurotransmitters is calmed and metabolized, the child may be able to “find his or her own way back” to a more settled place. Some children, however, may need more assistance to get grounded (Levine/Kline 2007; Perry/Szalavitz 2006). For the most part, it is important to give a child time to become reoriented and not rush the child. This serves two purposes: It lets the child know that I can tolerate the space filled with his or her overwhelming feelings, and it helps the child learn he or she can come back to a more stable state and does not need others to control him or her. As children develop the ability to modulate their feelings, they often learn to reorient faster and do so more easily.

I offer Leroy my hand and he takes it. The boy’s hand in mine, we walk toward the center of the room and a sea of spilled crayons for which he is probably responsible. “Oh”, I note in a neutral voice, “look at all these crayons on the floor. How about we pick them up before we go to Speech?”

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Children do need to face the consequences of their actions. However, when a child is raging, they cannot process information anyway − the child’s brain is busy with survival aggression. Leroy will need to learn to modulate his rage, yes, but at the moment the goal is to help him learn that he (and others) can survive his rage, rather than to test his ability to accept it. Additionally, and given Leroy’s tendency for amnesia for things he does while in a rage, he might not remember it was he who made the mess. He would need to be talked to about it, but not right now.

In the end, Mrs. Tibo has little cause for dissatisfaction because Leroy helps pick up the remaining crayons without being told to. “Thank you, Leroy”, I say once we are done, “this didn’t take very long, did it? Do you want to say ‘Bye’ to Mrs. Tibo?” He looks at her then back at me and mutters: “Bye Mrs. Tibo.” His voice sounds confused. I kneel beside him in the empty hallway and he leans into me. I drape one arm gently around his shoulders. “I’m sorry that you’re having a rough morning, Leroy. I’m happy you decided to come to Speech with me.” Quite bewildered, he remains leaning against me for a moment. “What’s your name?” he asks shyly for the umpteenth time. Using touch with children is something I do with awareness and care. It is crucial to assess a child’s comfort or discomfort level with physical proximity and touch. I often wait to have the child initiate contact with me (unless it is an emergency where I need to keep a child safe from himself or others). Most children let me know about their body boundaries by how much distance they keep from me and how they touch me (e.g., my arm, my bracelet, my hair). Children communicate their comfort with proximity by how closely they move toward a person, or lean to better see something another person holds. They communicate the dilemmas in their bodies when they sometimes simultaneously lean into and away from me. It has been my experience that most children allow touch once they feel they have the right to refuse it, stop it, and move away from it. That said, when dealing with children who might have been maltreated, it is important to remain aware that not all of them find touch comforting. Some children can find any touch triggering and retraumatizing. Touch can feel scary and intrusive. I am doubly careful with children who have (or are suspected to have had) trauma history, be it medical trauma or interpersonal trauma, as well as with children who have sensory hypersensitivity (e.g., autism). For these children, even casual touch can easily be overwhelm-

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ing. Caution does not mean avoidance. In fact, when used with respect and awareness, touch can often be comforting and soothing; and it can help ground a child who is otherwise “lost”. Not all professionals are comfortable with using touch and, generally speaking, if one is not comfortable with touching a child or being touched by one in a clinical setting, then they probably should not include touch in exchanges. Ambivalence about physical contact is always communicated; and all children − especially maltreated children − are acutely tuned in to such ambivalences. Leroy was all too familiar with being touched − he was very often restrained, held by the hand, tugged back − and would respond by fighting back and getting angry. He used touch in a similar way − to push, grab, choke, and tug. Giving Leroy an experience of gentle touch appeared as important as enlarging his vocabulary. The first time he saw a classmate lean into me, Leroy knitted his brows together in concentration, stared for a moment, then presented himself at my other side and leaned as well. It seemed he was testing to see how I would respond. From that day on, he would often lean into me, side to side, cuddling into a one-armed hug. I remind Leroy of my name. It is something I have had to do many times before. He nods shyly in half-recognition and walks with me. Part-way down the stairs leading to the first floor’s auditorium, where my office is in a stage’s old dressing room, Leroy shudders. The growth in presence is almost palpable, as his awareness appears to fill his body and reoccupy his mind. It is a startling transformation. Confusion gone, Leroy becomes a ball of kinetic energy. Letting go of my hand, he bounces ahead. He is animated and bubbly. “Come on Miss Y!” he yells, and swings the door open so it hits the table with a bang. By the time I take a step into the small room, he is already at the table, swinging the halffinished Lion King puppet I had set out. “It mine?!” he inquires, no real question in his voice.“Yes it is!” I reassure. “See up here? You wrote your name on it last time.” He smiles. Delving into the activity, Leroy decorates his puppet while we review the adjectives we learned last time as part of the description of his choices for colors and glued-on accessories. Verbalizing is hard for Leroy, but his challenges go deeper than art-project vocabulary. Leroy has difficulty describing things he did as early as the day before, cannot list what he had for breakfast, and sometimes cannot remember the names of his classmates or his teacher. He keeps asking for mine.

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I have worked with children who had word-retrieval issues − akin to perpetually having words evasively at the tip of the tongue − but Leroy’s behavior is not characteristic of this problem. His loss for words is mostly for personal things and is transient − one day there, one day not. This might be an indicator of dissociation, where in one state he has access to this information, but in another state he does not. He does not understand sequence, how one thing leads to the next; he cannot predict the ending of a story or the consequences of actions (either his or others’). Series of pictures are to him separate, fragmented happenings even when depicting everyday events such as someone getting dressed, a boy pouring a glass of milk, or the steps of making a puppet. He is completely lost when it comes to taking turns, and he is blind to social cues. He does not know how to play and uses toys as pounding objects, not imaginary props. Joyanna Silberg, in her book The Dissociative Child (1998), noted that such stereotypic play behavior is common in maltreated children. Leroy’s specific history is not clear, but his presentation certainly raises questions.

Once his puppet is finished and set to dry on the windowsill above the hissing radiator, I take out a couple of toys and simulate a “Simon Says” game. Leroy struggles. He cannot hold in his working memory even simple directions such as “turn around”, “close your eyes”, or “touch the table”. He needs numerous repetitions. Nonetheless, he delights in the activity and laughs at the sillier directions I intersperse. With little warning, his attention sputters. He has difficulty coming up with things for me to do, and cannot even echo some of the things I asked him to do a moment prior. What Leroy’s teachers view as “unwillingness” to work seems more like fluctuations in ability. His denial and shifting abilities (frustrating though they are) do not feel like manipulations to get away from doing work − Leroy behaves this way even with activities he tremendously enjoys. It looks as if he truly forgets skills he could do before. This is indicative of more complex issues or dissociation. Children’s behavior often changes with circumstances. In Leroy, these changes are more extreme than one expects. More importantly, he seems unable at times to retrieve skills he had moments prior. The extreme and abrupt shifts in mood, abilities, and behavior are so common in Leroy and so visible, that the teachers often state “oh, there he goes” when they see him getting upset or

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“losing interest”. Such shifting raises red flags to possible dissociation. Even though, at this time, it is not clear what could be at the base of these behaviors, it is important to keep note (Silberg 1998, 2013; Waters 2005). I do not try to process the shifts in behavior with Leroy. I do not ask what they mean, what he remembers of them, and so forth. This would be the work of a therapist, if he had one (not to mention that his poor language skills would present an obstacle for verbal processing at this point). I respond to Leroy as a whole child by commenting and accepting all his behaviors as part of him. I fill in the gaps when he seems lost but still require him to be accountable for whatever happened, aware or not. Regardless of the reasons for his difficulties, I cannot blame Leroy’s teachers for being exasperated − he is very difficult to manage, and his evershifting demeanor threatens to leave his caregivers with permanent hangingjaw disease, not to mention badly bruised shins. He is alternately as wide-eyed as a toddler, or as ruthless and profane as a wrestling pro. And yet, what some call “attitude” can just as easily be called “something broken, but where?” Children spend most of their waking hours in school. For eight hours a day, they are in a potentially safe and reparative environment. With millions of children suffering from the impact of trauma, one would expect the educational system to be geared to identify and support them, but this is not so − or, at least, not yet (Yehuda 2004). Many teachers can cite the symptoms of ADHD, but few, if any, can do the same with posttraumatic presentations. A child’s inability to remember, fluctuations in ability, staring into space, and unprovoked aggression − even when abuse history is known − are often labeled as attention deficit or conduct disorder, rather than possible posttraumatic or dissociative symptoms (Cohen 2001; Cole et al. 2005; Putnam 1993, 1997; Waters 2005). A deafening sound jars me, sending Leroy flying out of his chair and the crayons, like projectiles, to the floor. I place a soothing hand on Leroy’s shoulder − he would not be able to hear me over the noise even if I shouted. The boy is shaking. “I’m sorry, Leroy”, I say as soon as the din stops, “this bell is awful. It startled me, too. It’s Ms. Y, Leroy. Everything’s okay. It was just the loud bell. I’m sorry it scared you. Let’s get the crayons back into the boxes, okay?” Leroy’s eyes stare back wide and glazed. He trembles. His eyes slowly come back into focus. After a deep shuddering breath, he smiles shyly, uncertain, confused. I repeat what had happened − the bell, the sudden noise, me startle, the scare, him safe. He is in my office, the noise over, him safe. Leroy nods. He is still shaken, but

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his eyes are not blank anymore, and his breathing slows. Together, we make short work of cleaning up, and by the time we need to leave, Leroy is calm. I often repeat a narration of something that happened in the room − especially if a child was startled. It is important to ascertain that the child is able to understand what I was saying, and not to leave them confused. I do not know if Leroy comprehended anything I said the first time around. It would not surprise me if his reorienting and calming had been more to my tone of voice and comfort, than to the words themselves. Still, it is important to put the event in context; hence, the repetition when the child is less activated (ISSTD Child and Adolescent Committee 2009).

Two days before the holiday vacation starts, my excavations into Leroy’s history are finally fruitful (even if sketchy). He lives with his paternal grandmother, who has custody of him, custody which his mother contests. Visitations with the mother (according to a teacher who lives close-by) are spent with the mom badmouthing the grandmother. The grandmother, in turn, bad-mouths the mother and often within earshot of the child, and both use the boy as a conversation pawn. His father is in jail, serving a long sentence for crimes unknown. Why the mother lost custody is unknown, too. Leroy reportedly spends afternoons until dark outside − rain or shine − with minimal supervision. His teachers confirm that repeated requests to the grandmother to assist him, or at least supervise his homework, go unheard. The Grandmother claims that Leroy is a bad kid and that she has her hands full keeping his ass straight (read: “whooping him”) without doing the teachers’ work for them. It seems to me even more now that Leroy’s psychological needs ought to be evaluated and addressed. Any evaluation, if to be paid by the Board of Education, needs approval of school staff before parents or guardians can be contacted. I head down to the School-Based Support Team office. The school’s psychologist stares at me a little cross-eyed when I describe Leroy’s behavior and mention “history” and “possible trauma reactions.” He tartly suggests that it would be better if I stuck to teaching language rather than meddling in areas I have little understanding of. This is a reaction I am familiar with from those who consider my psychological inquiries as encroaching on “their turf”. I bite my tongue, reminding myself that I am not above prideful reactions, swallow my indignation, and breathe deeply.

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The vacuum in the educational system regarding understanding and recognizing (let alone treating) the traumatic aftermath in children is not limited to this psychologist. Most school psychologists (and speech-language pathologists and other education staff.) are not trained to recognize or attend to trauma reactions in children. My goal is to help change that, and thankfully I am not alone. The problem is increasingly recognized by leaders in the child-trauma field, who encourage education and collaboration between professions to better children’s lives (Cohen 2001; Cole et al. 2005; Silberg 1998, 2013; Waters 2005).

I am discouraged but decide to find out more about Leroy and his possible dissociative behavior. Conferencing with parents and teachers is within my scope of practice. Also, if dissociation affects language and communication, it is certainly important that I know all I can about it. I can work to help Leroy remain more grounded, and more able to process and express information. Improving communication in children who are experiencing emotional overwhelm, or who are protecting against such overwhelm by dissociating, is important. Being able to verbalize an event can prevent it from becoming dissociated from awareness (Herman 1997; Pearce/Pezzot-Pearce 1997). The ability to communicate internally is crucial for a child who shifts between internal parts. Having better communication skills can help a child express his or her needs, fear, and anger, and thereby spend less time in a hyperaroused, terrified, raging, and confused state. Verbal and nonverbal communication also enables the child to stay connected to another person, and thus be more grounded and easier to be soothed (Baron 1992; Bowlby 1997; Boysson-Bardies 1999; Osofsky 2004, 2011). Language puts experiences in context, and having access to that context can diminish the negative impact of an event. Having communication does not resolve the causes of dissociation, per se; however, improving communication skills is essential, as an uncomprehending state essentially robs the child of the ability to process new information, so the child cannot take advantage of learning opportunities (Levine/Kline 2007; Putnam 1997; Silberg 2013). If a child cannot verbalize self-states or emotions, or has limited understanding of sequence and consequence, the child will struggle to describe his or her reality and experiences; the child might not understand why he or she is being punished and might not know how to reach out.

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There is yet no training protocol (in my field, or the mental-health field) for teaching language and communication to children who show trauma and dissociative symptoms. In general, it is helpful to go back to basics, not to assume the child understands what is often taken for granted regarding interaction and communication. Children learn through early interactions with caregivers. They associate the sensations they get from their bodies with their caregivers’ narration and actions (e.g., “What’s wrong? Let’s see why you are crying … oh, your diaper is wet … that doesn’t feel good, no wonder you’re upset … let’s get you more comfortable … there … all nice and dry … doesn’t that feel better?”). Babies learn to recognize body states quite early through feedback of their caregivers. By the time toddlers put words together, they can often name basic body-states and emotions such as hungry, mad, sad, and happy (Baron 1992; Bowlby 1997; Denham 1998; Schiefelbusch 1986). Understanding information coming from one’s own body and recognizing everyday routines help a child make sense of his or her world and experiences. However, children who are not taught these connections − due to caregivers who are absent, absentminded, neglectful, confusing, scary, or hurtful − may not learn to recognize self-states, or may label them incorrectly (Heineman 1998; Osofsky 2004, 2011; Putnam 1997; Silberg 1998, 2013). It is important to teach these basic schema and associations to children such as Leroy − to model sequence in daily routines, actually to go through the steps, to teach cause and effect of everyday happenings − What will happen if too many blocks are piled up? Why did the tower collapse? It is important to offer scaffolding for narrative by verbalizing everyday context and events, and to model description, prediction, humor, and play. In essence, help the child establish a communicative repertoire. As part of learning more about Leroy, I ask his teachers to complete the Child Dissociative Checklist (CDC) (Putnam 1997). It is a screening tool developed by Frank Putnam, a leading researcher and clinician in the trauma and dissociation field. The twenty-item checklist is meant to be completed by adults familiar with the child and involves marking the presence or absence of certain behaviors and their frequency. Mrs. Tibo and Ms. Linda qualify as familiar with Leroy and are happy to complete it, exclaiming as they do, “Yeah, he does that” and “Wow, that’s so totally Leroy!”

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The CDC (Putnam 1997) is helpful not only for getting information from caregivers, but also as a way to raise their awareness to behaviors they might not have given much thought to before. Most teachers are pleased to be asked to provide input about a child and their observations of the child’s behavior. Dissociation is usually prompted by trauma, abuse, or neglect. Leroy’s file says nothing about direct past or present trauma, though the neighborhood he lives in raises the likelihood that he had been exposed to some (Silva 2004). It is possible he was never personally abused or neglected but has witnessed violence − a trauma that is seldom included in the history given to school files (which are often incomplete even of references to direct trauma a child survived). Witnessing trauma without having support and soothing to manage it may necessitate dissociative protection. It is also important to recall that what might overwhelm one child may not overwhelm another (Herman 1997). A significant score on the CDC could prompt an evaluation by a mental-health professional in the trauma field who can then help figure out why the child employs dissociation and how to resolve the trauma. I am not surprised when Leroy’s results put him well within the range for dissociation − he scores at 19 (the cut-off for likely dissociative symptoms being 12 or above). Going through the list, random behaviors come into meaningful focus: Leroy has frequent trances and daydreaming, he is unusually forgetful and confused, has poor sense of time, and has marked variation in skills and knowledge. He has difficulty learning from experience or appreciating consequences, and denies behavior even in the face of evidence. He has intense outbursts of rage during which he shows unusual strength. He talks to himself and has rapid personality changes. He regresses from age-level behaviors and shows unusual sexual precociousness. Leroy’s behavior has all the indicators of a highly dissociative child. Whenever we are exposed to an event that is overwhelming, over which we have little control, and that we perceive as threatening to harm us − the “recipe” for a traumatic scenario − dissociation is a likely coping response. It provides a way to cope with overpowering fear and helplessness by distancing those feelings from awareness, essentially making the traumatic event feel not real or less real, as if it is not happening to us or, at least, is not so painful (Herman 1997; Putnam 1997; Nijenhuis 2004; Kolk 1987). It is really an amazing coping skill that helps people get through otherwise unbearable experiences.

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“Children can and do react posttraumatically to things such as a parent’s chronic anxiety or depression, to witnessing violence on the street, to being homeless, to harsh discipline, even to their parent’s own traumatic stress − especially if their parents are chronically scared or scary. Children have so little control over their world and are so completely dependent on the adults in their life, that an overwhelmed parent who explodes is terrifying; and an overwhelmed parent who is unavailable to support them leaves the child in a frightening place without access to being soothed. Children can also react posttraumatically to witnessing domestic violence and to painful or scary medical procedures (Herman 1997; ISSTD Child and Adolescent Committee 2008; Levine/Kline 2007; Silva 2004). Managing trauma is even harder for a child when it is directly caused by the caregiver because it leaves the child with no one to go to for comfort. Whether it is intentional, such as in physical or sexual abuse, or unintentional, as with neglect due to a parent’s mental illness or addictions, the child can’t rely on the adult to soothe them because the adults are the ones hurting them! Teachers are often empathic for students’ plight but need concrete solutions for keeping things manageable in the classroom. Just knowing about dissociation or why the child is “misbehaving” is not enough. Teachers need to have tools: to minimize a child’s need to dissociate in the classroom by determining what the child needs in order to feel safe in the classroom; to recognize when the child is dissociating; and to know how to respond helpfully so the child becomes grounded back into the classroom and can do the work. Children spend most waking hours in school. Meeting with teachers is essential to working with the child and establishing a supportive environment. (For more information about recognizing and managing dissociative children in the classroom, check the frequently asked questions [FAQs] for teachers on the website of the International Society for the Study of Trauma and Dissociation [ISSTD 2008]: www.isst-d.org/default.asp?contentID=100.)

I share with the teachers how helping a dissociative child in the classroom and managing dissociative episodes can help the episodes be shorter and milder. “One thing that isn’t helpful,” I say, “is to confront a child about a behavior when he is dissociating. For example, if a child is reactive to a loud sound and ‘freezes’; raising our voice in an attempt to ‘get through to him’ can scare the child further, thus increasing the child’s use of dissociation. Similarly, roughly restraining or grabbing the child (unless in an emergency, if we must protect him

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or others), often leads to exacerbation of the dissociative state (aggression or withdrawal).” Also, even though it can be really frustrating to have a child denying something he just did, labeling the child (rather than the behavior) as ‘bad,’ ‘liar,’ etc., can feed into how awful the child already feels about himself. For a child with a history of, say, emotional abuse, such comments by the teacher may become a trigger for reliving earlier distress. It is important to remember that a child who dissociates might have amnesia for (i.e., not remember) what the teacher is referring to and truly feels unjustly accused. Given how triggers can cause or increase dissociative responses, it is usually helpful to know what triggers a specific child. Some triggers will be closely related to the child’s trauma (for example, seeing a baseball bat for a child who witnessed a beating with one). Other triggers might be vaguer (for example, time of day when something bad happened, a tone of voice that reminds the child of someone or something). When I see Leroy’s teachers again the following week, they tell me that they have made a list of some things they recognize can trigger Leroy: children touching him (apparently more so when they touch his shoulder, head, or back), loud noises, changes in routine, hearing another child cry, making a mistake. They do not see how they can prevent other children from occasionally touching him, or from crying, or an outside noise. Borrowing from techniques often used with children with autism spectrum disorder or cognitive disabilities, we make picture cards to represent different school activities, and place Velcro bits on their backs. I recommend that at the beginning of each day, they go over the day’s planned events and have Leroy stick the activities on a felt board in the order of their schedule. They may try reviewing every transition a short while before it takes place, so that he will have time to process it before the actual demand to shift activities. For special events − a class trip or a show at the school’s auditorium − they can go over the changes with him the day before as well as in the morning, so he is better prepared. It could help to ask him to repeat the schedule after them, pointing to the cards as he does. This will help Leroy verbalize the sequence and allow another layer of processing to take place. In all of us, dissociative-type responses stem from fear, rage, shame, helplessness, loss, confusion, and other difficult emotions (Herman 1997; Nijenhuis 2004). We rely on our understanding of how things work and what we can expect to happen next, to help us feel less out of control. By preparing a child for

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events that could evoke difficult feelings, the child can be less startled by those events, and feel less helpless and scared. Helping prepare the child also lets the child feel that his or her feelings are understood and responded to. A child who feels taken care of feels less afraid, is less on-guard, and therefore will have less need to call on dissociative defenses. Teachers are often familiar with interventions such as Leroy’s pictureschedule, and are comfortable using them because they fit within their skills and knowledge. It is an intervention that can easily be generalized to the rest of the class without singling out one child, another aspect that teachers often find important. Calm is the antithesis of overwhelm. When soothed, the autonomic nervous system reaction dials down, and the child is less likely to dissociate. Internalizing an association of soothing (e.g., a fussy baby calms at the sound of his mother’s voice even before she picks him up) helps the child avoid dissociation; and if dissociated already, this can help anchor the child into the present, and reduce the duration and severity of the dissociative response (Bowlby 1997; Cozolino 2006; Levine/Kline 2007; Silberg 2013). Over the next few weeks, the teachers report that Leroy is having fewer explosive episodes. They talk to all the children about body boundaries and respecting how some children do not like being touched or leaned against. That helps, too. Leroy enjoys lining up the activity cards each morning, and some days he is able to do so by himself from memory − a major achievement for him. When prompted by a teacher, he usually quite agreeably refers to the board to see what is coming next.

One of the most helpful things for Leroy is probably that the teachers feel less helpless to help him, which allows them to be more compassionate toward him and results in him feeling more lovable. Children are acutely aware of the adults around them, and Leroy, for all his fury and aggression, craves approval and affection just like any child, and quite possibly more. His gains in positive behavior are likely not only due to the new routines and increased predictability, but also due to the improved attachment in his relationship with the teachers (Kagan 2004; Pearce/Pezzot-Pearce 1997; Terr 1990; Wallin 2007). By making the classroom experience calmer, not only did Leroy become calmer, but the teachers, too, are less on edge and therefore less scared/scary.

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A Teacher’s Toolkit Leroy’s intense “tantrum” (the school’s official view of the event) brings to the forefront the teachers’ need for more concrete ways to help ground him when he is overwhelmed. One of the things I found helpful with Leroy is to tell him—in a calm voice − to take a deep breath, then take one with him. While not a magic pill, taking a deep breath can help calm the neurological system (Levine/Kline 2007) and can help Leroy curtail some of his explosions. Reminding him to breathe is occasionally enough to help reorient Leroy to the present, so he can actually listen to what I am saying. I show the teachers what I mean by modeling deep breathing, and we practice a few times. However, they are uncomfortable with the role-playing, and I am not optimistic that they will use “this breathing thing” with Leroy. If they are uncomfortable with the technique, it is not likely that Leroy will perceive it as comforting, either. Nonetheless, I ask them to consider it a backup intervention. Another tip I model to the teachers is to hold my hand palm down in front of my body (not too close to his face so as not to spook him) and move it gently downward a few inches in a “calm down” motion. Leroy often follows the motion of my hand, and takes a deep breath even if he does not seem to be hearing what I am saying or asking him to do. The teachers are considerably more comfortable with this cue than with the breathing − they use several hand signals in the classroom on a daily basis already. Giving a child a toy, or allowing a child to leave his or her desk for an area of the classroom in which the child feels safer, is often seen by teachers as coddling and even rewarding bad behavior, as they are often reluctant to single out one child − even more so when that child is prone to misbehaving. It is an understandable concern but, for children who are already disruptive to the class, these adaptations are worth a try. A child leaving his desk or handling a toy might miss some instruction and possibly disrupt the class momentarily, but if it helps the child remain less agitated, the child will likely listen better, as well as save the class the bigger distraction of a child in rage. Reducing the number of dissociative episodes can improve overall classroom management, and can build better connection between the teachers and child, and the child and peers. When a child is in distress, teachers can utilize a six-step “toolkit” (ISSTD Child and Adolescent Committee 2009):

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• Grounding: Helps a child reorient to the present. As soon as the teacher notic-











es the child beginning to dissociate, the teacher can approach gently and let the child know where the child is and who the child is − not assume the child knows. Reassuring: Lets the child know he or she is safe. Even if nothing outwardly scary is taking place, the triggered child might not know he or she is safe. Telling the child that no one is being hurt, that the child is safe in the moment, not being hurt, and is okay can help, as can reminding the child to breathe. Checking in: Once the child seems more present, it can help to ask if the child is okay. Does the child know where he or she is and who the teacher is? The child might be reassured by an object associated with comfort (e.g., Leroy’s firefighter figurine). A drink of water or a damp cloth for the child to wipe his or her face with can help sometimes as well. Narrating/describing/putting in context: Rather than asking the child what happened, it is best just to tell the child. The child may not remember, or may have a hard time putting it into words. If something happened in the school or classroom, it helps to describe it simply and without blame. Deferring blame/investigation/consequence until the child is calm: It is important to refrain from using interrogative questions such as, “Why did you do that?” or “What got into you?” The child may not know. The child may not remember. Once the child is calm, it can help to reiterate what took place. (The child might not have been able to process it earlier.) If misbehavior took place, calm explanation of cause and effect is important (e.g., “You pushed Cynthia, and when someone pushes in our class they get time-out, so please go sit in the time-out chair now.”). It is best not to enter into an argument with the child if he or she disagrees, and to refrain from making general statements about the child’s character (e.g., “Stop lying. You always do that.”). Calm explanation that, even if the child does not remember doing something, or did not mean to do it, there is still a consequence to deal with, can help. It is important to be kind but firm. Providing safety for all: The safety of everyone in the classroom is paramount, teachers included. If the child tends to be violent, a backup plan for assistance is important (in Leroy’s case, they were to call me on the days I was at the school, or my colleague on other days).

There is a reason a child utilizes dissociative barriers, and it could be unsafe to dismantle these when the child has nothing to put in their place. What I found I can do, however, is draw on the knowledge I have about communicative development. I can provide the child with a model for healthy communication and a

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healthy child-adult relationship by listening and reflecting back what I see. I can help by wording physical states, naming emotions, and staying honest about my own feelings. I can assist the child in understanding the world better by clarifying cause-effect and the difference between consequence, responsibility, and blame. I can teach the child a vocabulary and give the child linguistic structures with which to tell stories so that the child can narrate his experience better, traumatic or not. Increased verbal skills are not only important for external narrative, but are also crucial for internal narrative − how we explain our reality to ourselves. A child who is better able to put events in context (internally, as well as externally) has better tools with which to prevent overwhelm and reduce the likelihood of needing to dissociate from the event (Herman 1997; Osofsky 2011; Pearce/Pezzot-Pearce 1997; Perry/Szalavitz 2006; Silberg 2013).

I can offer reparative communicative experiences and increase experiences in areas where there are comprehension and relational delays. Even if these skills do not directly address dissociation, they can help the child learn to communicate better and thus feel less overwhelmed. As stress decreases, coping skills other than dissociation can be more easily learned, internalized, and used. The more school personnel can be “on the child’s side”, the safer the school will feel to an overwhelmed child. Leroy used to hate gym − he would always get in trouble for grabbing or pushing or yelling. Last year, he was actually barred from gym because he disrupted the class for other children. Mr. Kay did not know what to make of the boy last year, but he is eager to understand Leroy better now and is very open to the notion that trauma reactions govern many of Leroy’s responses. He is willing to try to do things differently and is generally viewing the child now through a lens of compassion, rather than exasperation. Awareness of a child’s plight often results in increased compassion toward the child and, subsequently, in gentler interactions, improved communication and attachment, and, therefore, an increased sense of safety (Cole et al. 2005; Levine/Kline 2007; Silberg 1998, 2013; Wallin 2007).

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Afterword By September, I am in another school and so do not see Leroy again. I worry about him. Is he okay? Is he getting help? Do the teachers he has now help him stay grounded? Can he hold on to a memory of kindness and comfort? Was the little I was able to give him enough to make a lasting difference? Does he remember − someplace, even if devoid of my name or face − that he matters, that I care? What I tried to do to help Leroy is far from sufficient. One day, all teachers will be trained to detect possible trauma, all speech-language pathologists will be versed in the language of dissociation, and all school psychologists will know to refer children for expert evaluation and help. One day, schools will be a place for children to be truly safe and S.O.S. calls in the form of negative behavior from children such as Leroy will grant them aid, not “bad egg” titles. In the meanwhile, I guess we need to trust that even the little things we do matter, and that each interaction of respectful gentleness and healthy relational modeling makes a difference. We need to trust that being present with a child and giving the child words matter. And that the Leroys of today will grow up even a tad better off for our intervention, and know a sense of being valued and heard. Anmerkung der Herausgeber_innen Dies ist die gekürzte Version eines Artikels, welcher in folgendem Buch erschienen ist: Wieland, Sandra (Hg.) (2015): Dissociation in Traumatized Children and Adolescents. New York: Routledge. Die deutsche Fassung der Originalversion ist verfügar in: Wieland, Sandra (Hg.) (2014): Dissoziation bei traumatisierten Kindern und Jugendlichen: Grundlagen, klinische Fälle und Strategien. Stuttgart: Klett-Cotta. Literature Baron, Naomi S. (1992): Growing Up With Language. How Children Learn to Talk. Reading, MA: Addison-Wesley. Bowlby, John (1997): Attachment and Loss. Vol. 1. London: Random House. Boysson-Bardies, Bénédicte de (1999): How Language Comes to Children. From Birth to Two Years. Boston: Massachusetts Institute of Technology. Cohen, Nancy J. (2001): Language Impairment and Psychopathology in Infants, Children, and Adolescents. Thousand Oaks, CA: Sage. Cole, Susan F./O’Brien, Jessica G./Gadd, Geron/Ristuccia, Joel/Wallace, Luray/Gregory, Michael (2005): Helping Traumatized Children Learn: Supportive School Environ-

576 | NA ’ AMA Y EHUDA ments for Children Traumatized by Family Violence. Boston: Massachusetts Advocates for Children. Cozolino, Louis (2006): The Neuroscience of Human Relationships: Attachment and the Developing Brain. New York: Norton. Denham, Susanne A. (1998): Emotional Development in Young Children. New York: Guilford Press. Heineman, Toni V. (1998): The Abused Child: Psychodynamic Understanding and Treatment. New York: Guilford Press. Herman, Judith L. (1997): Trauma and Recovery: The Aftermath of Violence − From Domestic Abuse to Political Terror. New York: Basic Books. ISSTD Child and Adolescent Committee (2008): Frequently Asked Questions for Parents. International Society for the Study of Trauma and Dissociation. [www.isst-d.org/ default.asp?contentID=100; retrieved October 21, 2016]. ISSTD Child and Adolescent Committee (2009): Frequently Asked Questions for Teachers. International Society for the Study of Trauma and Dissociation. [www.isstd.org/default.asp?contentID=101; retrieved October 21, 2016]. Kagan, Richard (2004): Rebuilding Attachments With Traumatized Children. Healing From Losses, Violence, Abuse, and Neglect. New York: Hayworth Press. Kolk, Bessel van der (1987): Psychological Trauma. Washington, DC: American Psychiatric Press. Lanius, Ruth A./Bluhm, Robyn/Frewen, Paul A. (2013): Childhood Trauma, Brain Connectivity, and the Self. In: Ford, Julian D./Courtois, Christine A. (Eds.): Treating Traumatic Stress Disorders in Children and Adolescents. Scientific Foundations and Therapeutic Models. New York: Guilford Press. Lawson, David M. (2013): Family Violence, Explanations and Evidence-Based Practice. Virginia: American Counseling Association. Levine, Peter A., & Kline, Maggie (2007): Trauma Through a Child’s Eyes: Awakening the Ordinary Miracle of Healing. Berkeley, CA: North Atlantic Books. Nijenhuis, Ellen R.S. (2004): Somatoform Dissociation. Phenomena, Measurement, and Theoretical Issues. New York: Norton. Osofsky, Joy D. (Ed.) (2004): Young Children and Trauma: Intervention and Treatment. New York: Guilford Press. Osofsky, Joy D. (Ed.) (2011): Clinical Work with Traumatized Young Children. New York: Guilford Press. Pearce, John W./Pezzot-Pearce, Terry D. (1997): Psychotherapy of Abused and Neglected Children. New York: Guilford Press. Perry, Bruce D./Szalavitz, Maia (2006): The Boy Who Was Raised as a Dog and Other Stories From a Child Psychiatrist’s Notebook. What Traumatized Children Can Teach Us About Loss, Love, and Healing. New York: Basic Books.

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Sequentielle Traumatisierung bei (Zwangs-)Migration Belastungen und die bewältigende Kraft pädagogischer Interaktion D AVID Z IMMERMANN UND F RANZISKA U LLRICH Zwangsmigration, Trauma und Pädagogik – erste Annäherungen „S ist, es ist meistens die Sachen, dass man, dass es Vergangenheit ist. Und das kann auch solche Sachen sein, das man schlecht erlebt hat und darüber nicht reden will. Und das waren bei mir auch manche Stellen so. Eine Seite war für mich gut, dass die Lehrer oder so, dass die sich daran interessieren. Aber andere Seite war so, ich konnte den das nicht alles erklären, weil ich wollte ja nicht darüber reden. Fiel mir nicht leicht. Ja, das auch und s ist, s liegt auch daran, was ich z.B. erlebt habe, haben die anderen davon gar keine Ahnung.“ (Farid, 17 Jahre)

Farid, im Alter von zwölf Jahren allein nach Deutschland gekommen, will das Vergangene gern vergessen. Und doch weiß er selbst, dass dies niemals möglich sein wird. Im Gegenteil: Die Erinnerungen und die damit verbundenen Emotionen verfolgen ihn und erschweren die Gegenwartsorientierung und die Zukunftsplanung massiv. Dabei ist es von hoher Bedeutung, dass auch die aktuelle Lebenssituation für Farid durch vielfältige Unsicherheiten geprägt ist. Über das Schicksal seiner Familie in Afghanistan hat er kaum Informationen, zudem löst das anstehende Asylverfahren massive Ängste aus. In der Schule erlebt er sich selbst als vielfach abgelenkt und hat Schwierigkeiten, dem Unterrichtsgeschehen zu folgen. Ein lebensgeschichtliches Interesse der Lehrer_innen nimmt er demnach ambivalent auf. Einerseits sei es gut, wenn die pädagogischen Bezugspersonen nach seiner Situation fragten. Andererseits macht genau dies ihm Angst und fördert die Konfrontation mit Erinnerungen und aktuellen Belastungen, die

S EQUENTIELLE T RAUMATISIERUNG

BEI

(ZWANGS-)M IGRATION

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Farid aus seiner Gedankenwelt verbannen möchte (Zimmermann 2012a: 125139). Zwangsmigrierte Kinder und Jugendliche benötigen besondere Unterstützung auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden. Einige von ihnen kommen wie Farid allein als minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, andere reisen mit ihren Familien ein und übernehmen meist sehr früh Verantwortung, auch für ihre Eltern. Die somit durchaus heterogene Gruppe gerät dann in den Fokus gesellschaftlicher Diskurse sowie pädagogischer Forschung, wenn eine mediale Öffentlichkeit für das Thema gegeben ist. In Deutschland lässt sich die intensivere Beschäftigung mit der Lage der Betroffenen in Form von Sammelbänden und Kongressen relativ deutlich mit der Ankunft von Flüchtlingen aus dem damaligen Jugoslawien terminieren (Büttner u.a. 2004; Stiftung für Kinder 1995). Unter dem Eindruck der medial hoch präsenten, demnach auch für erhebliches Leid sensibilisierenden Flucht unbegleiteter wie begleiteter junger Menschen über die so genannte Balkanroute, die gleichsam für die Kommunen im deutschsprachigen Gebiet ganz neue Herausforderungen mit sich bringt, entsteht derzeit ein durchaus vielfältiger wissenschaftlicher und pädagogisch-praktischer Diskurs. Dies zeigt sich – kurzfristig – an einer unüberschaubaren Anzahl an Fortbildungsveranstaltungen und Unterstützungsprojekten. Dazu einige Beispiele: Lehrkräfte in niedersächsischen Sprachlernklassen bilden sich traumapädagogisch fort. Die Bezirksregierung Düsseldorf startet ein Projekt zur Sprach- und Sozialförderung in Erstaufnahmeeinrichtungen. Studierende der Universität Hannover begleiten Kinder mit Zwangsmigrationshintergrund einmal wöchentlich für den Zeitraum eines Jahres. Gerade die auf Ehrenamtlichkeit angelegten Projekte mögen fachlich unterschiedlich fundiert sein, insbesondere werden Macht-Ohnmacht-Zyklen in den Betreuungssettings vielfach nicht durchbrochen, teils sogar verstärkt. Zunächst aber gilt es, das vielfältige Engagement in diesem Bereich anzuerkennen. Demgegenüber verbleiben Kinder und Heranwachsende, die keine klassischen „Kriegskinder“ (Schmitt 2004: 47) sind, vielfach in einer marginalisierten Position. Aktuell erfahren etwa Roma aus Südosteuropa Reaktionen, die von Desinteresse bis zu offener Feindseligkeit reichen, obwohl ihre Migration verschiedene Kennzeichen von Zwang trägt. Hierzu ein Beispiel aus einer Lehrerfortbildung einer Gesamtschule: Während hinsichtlich der jungen Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan eine große Sensibilität deutlich wurde, mithin ein Verständnis der traumapädagogischen Leitidee des Guten Grunds für Erleben und Verhalten nahezu durchgängig vorausgesetzt werden konnte, herrschten gegenüber den Geschwistern einer rumänisch stämmigen Familie mit Roma-Hintergrund massive Vorurteile. Diese kumulierten im Satz: „Jetzt müssen wir unsere Handys besser im Lehrer-

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zimmer einschließen.“ Jene den pädagogischen Alltag über diesen Fall hinaus prägende Haltung geht einher mit politischen und medialen Diskursen, die verschiedene Gruppen von Flüchtlingen gegeneinander auszuspielen scheinen (Stender 2015). „Rassistische Ausgrenzung aber reicht für deutsche Behörden als Fluchtgrund nicht aus, wirklich ‚schutzbedürftig‘ ist nur, […] wer aus einem Kriegsgebiet kommt“ (Stender 2015: 106). Zeitgleich zum öffentlichen Diskurs liegen bereits gegenwärtig neue Veröffentlichungen in Form von Monografien, Sammelbänden und Themenheften vor, deren Anzahl absehbar weiter deutlich steigen wird (z.B. Hargasser 2014; Weeber/Gögercin 2014; Feldmann 2012; Kirchhoff u.a. 2015; Weiß 2016). Zur weiteren inhaltlichen Stärkung der pädagogischen Arbeit, insbesondere auf der Beziehungsebene, bedürfen die traumatischen Erfahrungen zwangsmigrierter Kinder und Jugendlicher einer pädagogisch gehaltvollen Konzeptualisierung mit dem Ziel, diese in schulisch und außerschulisch sinnvolle Handlungskonzeptionen zu überführen (Wipperfürth 2014). Denn diese Kinder stellen auch für erfahrene Pädagog_innen eine Herausforderung dar. Traumaspezifische Erlebens- und Verhaltensmuster ergänzen sich im Kontext von Migration oft mit einem mutuellen Fremdheitsempfinden. Dieses Empfinden beschreiben viele der betroffenen Jugendlichen sinngemäß mit folgendem Satz: „Was ich erlebt habe, kann sowieso niemand verstehen.“ (Zimmermann 2012a: 210). Die Interaktion der Belastungssequenzen „,Wie ihr wahrscheinlich wisst, kommt Marc aus Vietnam. Er hat seine Eltern verloren und ist von Doblers an Kindes statt angenommen worden.‘ Marc fand dieses ‚an Kindes statt‘ ganz grässlich. Irgendwie falsch und gemein. Doch er sagte nichts, hielt den Kopf gesenkt, schämte sich. Der Lehrer sagte weiter: ‚Seid nett zu ihm‘. […] In der Pause kam niemand zu ihm, er stand allein. Er war nahe daran zu weinen. Aber er verbiss es. […] Aber nachts träumte er noch immer, dass ihn eine Horde weißhäutiger Kinder verfolgt, ihn jagt, hetzt und dass er am Ende sich hinwirft, darauf wartet, von ihnen gequält und verspottet zu werden, der gelbe Junge. Er war nicht sicher, ob diese Träume je aufhören wollten.“ (Härtling 1998)

Ähnlich wie Farid hat auch Marc eine unvergleichliche Migrationsgeschichte. Trotz der Einzigartigkeit des individuellen Erlebens lassen sich anhand dieses kurzen Auszugs aus der Geschichte „Der gelbe Junge“, in der Peter Härtling einerseits biografische Belastungen des Jungen aufgreift, jedoch die aktuellen Diskriminierungs- und Stereotypisierungserfahrungen zentral setzt, einige typische Erlebnisse zwangsmigrierter Kinder und Jugendlicher aufzeigen:

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Marc verliert während des Krieges im Herkunftsland seine Eltern. Gerade weil er sich (nach Aussage der Geschichte) kaum an die Ursprungsfamilie erinnern kann, ist dieser nicht-symbolisierte Verlust für ihn vermutlich dauerhaft prägend. Die hier nicht wiedergegebene bedingungslose Annahme des Jungen durch die Adoptivfamilie hat gleichwohl ein deutlich traumabewältigendes Potential. Aber auch die (Schul-)Pädagogik nimmt maßgeblich Einfluss auf die Entwicklung des traumatischen Prozesses. Eine Stereotypisierung durch die Lehrkraft wie im obigen Beispiel muss die Identitätsbildung und den traumatischen Prozess nachhaltig negativ beeinflussen (Kraushofer 2004). Gleichwohl besitzen Schule und Unterricht eine hohe Wirkkraft zur Traumabewältigung. Dies bedingt aber eine entsprechende Sensibilisierung und Haltung bei den Fachkräften (Zimmermann 2009, 2015b). In den individuellen Symptomatiken verdichten sich die Erfahrungen im Herkunfts- wie im Aufnahmeland zu einem traumatischen Geschehen, aus dem es subjektiv vielfach kein Entrinnen gibt (Becker 2014). So spiegeln Marcs Alpträume sowohl Kriegs- als auch aktuelle Ausgrenzungs- und Gewalterfahrungen. Die psychische Belastung der zwangsmigrierten Kinder und Jugendlichen lässt sich demnach fast nie aufgrund der Schwere einer Einzelerfahrung bemessen. Stattdessen können die seelischen Beeinträchtigungen nur vor dem Hintergrund der verschiedenen, die Zwangsmigration manifestierenden Erlebnisse nachvollzogen werden. Der theoretische Rahmen: Sequentielle Traumatisierung Diese individuell verschiedene und bezüglich der strukturellen Merkmale doch weitgehend gemeinsame Erfahrungswelt der Betroffenen lässt sich theoretisch am besten mit der Konzeption der ,Sequentiellen Traumatisierung‘ erfassen (Keilson 1979). Die ursprünglich auf das Erleben junger Überlebender des Holocausts bezogene Konzeption ist unzweifelhaft in einem spezifischen und unvergleichlichen historischen Kontext verwurzelt. So zeigte sich, dass die unmittelbare Verfolgung der Kinder und Jugendlichen zwar eine zentrale traumabedingende Erfahrungswelt darstellte. Jedoch bildeten sowohl die Phase vor der akuten Verfolgung, in der viele Familien erzwungenermaßen auseinanderbrachen, als auch die Phase nach der Verfolgung zentrale traumarelevante Erfahrungsräume. Letztere war für die jungen Überlebenden des Holocausts nicht zuletzt durch die Anerkennung des Verlusts vieler, manchmal aller leiblichen Angehörigen, sowie durch hoch belastende Vormundschaftsprozesse gekennzeichnet.

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Über den ursprünglichen Kontext hinaus, kann die Konzeption – eine gründliche Analyse der Bedingungsfelder vorausgesetzt – auch auf andere gesellschaftliche Zusammenhänge übertragen werden (Becker 2014). Denn die Konzeption ist kontextübergreifend durch zwei miteinander verbundene Grundannahmen gekennzeichnet: • Trauma beschreibt immer einen „Prozess, in dem die Beschreibung einer sich

verändernden [äußeren] traumatischen Situation der Rahmen ist“ (Becker 2014: 176), vor dessen Hintergrund sich individuelle Belastungsverläufe nachzeichnen lassen. Das heißt, sowohl unmittelbare Beziehungserfahrungen als auch der größere soziale Kontext werden in die Analyse traumatischer Prozesse einbezogen. • Jene schweren Belastungen, die (meist) auch singulär traumatischen Gehalt aufweisen, interagieren innerpsychisch, teils auch sozial miteinander (Zimmermann 2012a: 41-47). Die Erfahrungswelt und das Erleben zwangsmigrierter Jugendlicher lassen sich demnach folgendermaßen umreißen (Becker 2014: 190ff.; Zimmermann 2012a, 2015a): Sequenz eins: vor der Zwangsmigration. Das Erleben von Krieg und organisierter Gewalt erzeugt Gefühle extremer Hilflosigkeit und Ohnmacht. Für zahlreiche Betroffene ist diese Lebensphase auch mit der Bewusstwerdung der Trennung von den primären Bezugspersonen und der Trauer um den verlorenen Halt der Familie verbunden. Diese Verluste haben, so zeigen mehrere (klassische) Studien, oft sogar ein höheres traumatisches Potential als die Kriegs- und Verfolgungserfahrungen (Freud 1980). Bei vielen betroffenen Jugendlichen entwickelt sich ein die gesamte Zwangsmigration prägendes Gefühl der tiefen Ambivalenz gegenüber der Familie. Einer engen Verbundenheit stehen dabei verleugnete Gefühle des Hasses und des Ausgestoßenseins aus der Ursprungsgemeinschaft gegenüber (Akthar 2007: 109). Ibrahim, ein zwölfjähriger Junge syrisch-kurdischer Herkunft, erlebte im Heimatland bürgerkriegsähnliche Zustände; das Haus seines Großvaters wurde mehrfach beschossen. Im Kontext der Flucht kommt es zu einer endgültigen Trennung von seinem geliebten Opa. (Zimmermann 2012a: 140-158).

Sequenz zwei: auf der Flucht. Sie ist durch Erfahrungen überwältigender Angst geprägt, nicht selten zudem durch Lebensgefahr. Viele Flüchtlinge erleben exis-

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tentielle Abhängigkeiten von Fluchthelfern oder Polizeikräften, denen sie sich unterwerfen müssen. Die Kinder und Jugendlichen verlieren regelhaft jede Kontrolle über das Geschehen, traumatische Erlebensmuster wie Ohnmacht und Hilflosigkeit sind die Folge. Ibrahim ist mit seiner Familie zu Fuß auf dem Weg von Tschechien nach Deutschland. Er erinnert sich, dass er als damals dreijähriger Junge Schnee und Wurzeln gegessen habe. Seine Mutter bleibt zurück; er hat Angst, sie für immer zu verlieren. „Da hab ich erstmal wieder geweint, meinte so, nein, komm mit, ich hab sie so geschoben und alles, auf einmal ist sie dann doch mitgekommen.“ (Zimmermann 2012a: 142)

Sequenz drei: die Anfangszeit am Ankunftsort. Überwältigende Überforderung durch die vielen zu klärenden Probleme gilt als häufiges Merkmal dieser ersten Zeit. Während Familien einem Wohnheim mit extrem eingeschränkter Privatsphäre zugeordnet werden, müssen die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge sich einem angstauslösenden, teils demütigenden ,Clearing-Verfahren‘ unterziehen. Darin wird ihr Alter geschätzt. Bei anerkannter Minderjährigkeit können sie in der Regel in eine Einrichtung der Jugendhilfe umziehen. Ibrahim erinnert sich vor allem an die unhygienischen Zustände in der Erstaufnahmeeinrichtung sowie an die Angst, seinen Vater zu verlieren, der zunächst an anderer Stelle untergebracht wurde.

Sequenz vier: Chronifizierung der Vorläufigkeit. Zentrales Kennzeichen dieser Sequenz ist die ,Nicht-Veränderung‘. Für viele der Jugendlichen ist sie mit großen Zukunftsunsicherheiten verbunden, da sie als Asylsuchende oder geduldete Flüchtlinge nach Beendigung der Schulzeit keinerlei Berufsperspektive in Deutschland haben. In dieser Sequenz gewinnt die Schule eine herausgehobene Bedeutung für die Identitätsentwicklung. Gelungene Entwicklungsverläufe verweisen wiederholt auf die Bedeutung einzelner schulischer Beziehungspersonen (Delen/Nafilo 2006: 101-109). „Na weil ich nicht dumm bleiben will, ich will hier was schaffen“ (Zimmermann 2012a: 151). Ibrahim misst der Schule eine hohe Bedeutung zu, trotz seiner mannigfaltigen psycho-sozialen Schwierigkeiten. Seinen derzeitigen Lehrer in einer Schule mit dem Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung erlebt er im Gegensatz zu seinen früheren schulischen Beziehungspersonen als haltend. Dies zeige sich daran, so Ibrahim, dass der Lehrer seine Fragen auch einhundert Mal beantworte. Ein solches Aushalten auch schwie-

584 | DAVID Z IMMERMANN UND F RANZISKA ULLRICH riger Verhaltensweisen kann als Kernmerkmal einer sicheren schulischen Umgebung verstanden werden (Crain 2005).

Sequenz fünf: bedrohliche Rückkehr. Familien in laufenden Asylverfahren oder im Status der Duldung sind wiederkehrenden Abschiebedrohungen ausgesetzt. Diese lösen stets aufs Neue psychische Krisen aus und wirken insofern chronifizierend für den traumatischen Prozess. Die familiäre Interaktion ist in diesen Situationen vielfach durch ,Parentifizierung‘ geprägt, das heißt, die Kinder übernehmen unbewusst die Verantwortung für die psychische Stabilisierung der Eltern (Bräutigam 2000). „Ja, wir hatten auch erstmal Duldung und so alles, dass wir abgeschoben, da hatte ich manchmal auch keinen Bock mehr, ich meinte so: Warum, wenn wir abgeschoben werden, warum soll ich hier noch weiter lernen und so alles?“ (unveröffentlichter Interviewauszug). Die fast regelhafte Angst vor Abschiebung ist demnach auch eine pädagogische Herausforderung. Während einige junge Flüchtlinge wie Ibrahim die schulischen Anforderungen als sinnlos erleben, übersteigern andere deren Bedeutung. Subjektiv werden ihre schulischen Erfolge dann zum Gradmesser über den Verbleib der Familie in Deutschland. Eine solche Last ist von den Heranwachsenden jedoch kaum zu tragen.

Sequenz sechs: aus Flüchtlingen werden Migranten. Erstmals haben die zwangsmigrierten Menschen aufgrund der Arbeits- und Wohnsituation nun die Möglichkeit, ihr Leben weitgehend selbst zu gestalten. Die Entwicklung des traumatischen Prozesses ist in dieser Sequenz in besonderer Weise von der Möglichkeit abhängig, die persönliche Lebens- und Leidensgeschichte in einen zwischenmenschlichen Diskurs einzubringen. Schnelle Forderungen nach weitgehender Assimilation sind dabei kontraproduktiv und verstärken das ohnehin prägende Gefühl des Ausgeschlossenseins. Ibrahim schließt sich einer aggressiv-hassenden Jugendgang an und überfällt Gleichaltrige. Ihr Bedingungsfeld hat diese ausagierte Gewalt in früheren und aktuellen traumatischen Erfahrungen. Einen Raum für notwendige Trauerarbeit bietet weder das auf Spaltung ausgelegte Familiensystem, noch die auf Verhaltensmodifikation und Leistung orientierte Schule. Deutlich zeigt sich deshalb die Aggressivität als umgewandelte Trauer. Er sagt: „Bei mir hat's Weinen schon aufgehört irgendwie.“ (Zimmermann 2012a: 140)

Im Gegensatz zur klinischen PTBS-Klassifikation sind historisch-biografisches Geschehen und aktuelle Belastung bei sequentiell traumatischen Prozessen stets gemeinsam zu denken. Viele Jugendliche erleben die langfristig unsichere Auf-

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enthaltssituation oder die Residenzpflicht für geduldete Flüchtlinge als nachhaltig demütigend, ihr subjektiver Fokus liegt demnach oft auf der aktuellen Lebensrealität. Gleichwohl lassen sich deren Folgen für die Individuen nicht verstehen, wenn die teils schwer traumatisierenden Vorerfahrungen nicht einbezogen werden. Individuelle, traumabezogene Prozesse lassen sich also nur vor dem Hintergrund jener innerpsychischen Interaktion von Extremerleben nachvollziehen. Die hier vorgestellte Konzeption unterscheidet sich somit auch von der Theorie kumulativer Traumatisierung (Khan 1977: 50-70). Denn in letztgenannter haben die einzelnen, im unmittelbaren Beziehungsgeschehen liegenden Erfahrungen kein traumatisches Potential. Erst durch die Permanenz der Erfahrung gewinnt die Interaktionsstörung ihre Wirkmächtigkeit. Die Erfahrungswelt fast aller zwangsmigrierter Heranwachsender ist jedoch auch durch singulär überwältigende Erfahrungen geprägt, die zudem unterschiedlichen sozialen Kontexten entstammen. Darin begründet sich demnach die große pädagogische Herausforderung, die diese Jugendlichen für die Fachkräfte darstellen. Gleichzeitig aber zeigt die Konzeption auf, wie bedeutsam eine haltende Pädagogik für die individuellen traumatischen Prozesse ist. Lehrer_innen spüren deshalb nicht nur die Auswirkungen traumatischen Erlebens, sie sind auch Co-Gestalter_innen der Sequenzen drei bis sechs (Zimmermann 2012b: 313f.). Gleichwohl fragen Fachkräfte in den pädagogischen Fortbildungen berechtigterweise: Wie lässt sich ein Sicherer Ort in Schule und Jugendhilfe herstellen, wenn die äußere Lebenssituation, etwa durch massiv gestörte Privatsphäre in Erstaufnahmeeinrichtungen oder das Fehlen einer zumindest mittelfristigen Bleibeperspektive, derart unsicher ist? Hierauf lassen sich tatsächlich kaum einfache Antworten finden. Denn zunächst gilt es anzuerkennen, dass der traumatische Prozess, in dem diese Jugendlichen sich befinden, nicht nur innerpsychisch nicht abgeschlossen sein kann, sondern die äußere Lebenssituation ganz real als potentiell traumatische Sequenz verstanden werden sollte. Traumapädagogische Stabilisierung findet deshalb im aktuellen Kontext meist in einem sehr großen Spannungsfeld statt. Wahrnehmung zwangsmigrierter Kinder und Jugendlicher durch die Lehrkräfte: Ergebnisse eines Forschungsprojekts Das Forschungsprojekt „Traumatisierte Kinder und Jugendliche in der Schule“1 zielt auf bislang nicht vorhandene Erkenntnisse zur Prävalenz verschiedener

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Forschungsleitung: David Zimmermann; Mitarbeit: Franziska Ullrich, Ulla Johanna Schwarz sowie studentische Mitarbeit im Rahmen von Masterarbeiten.

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Formen von Traumatisierung im Schulalltag. Darüber hinaus wird erhoben, welche Auswirkungen sich aus den variablen traumatischen Erfahrungen für die kognitive und emotionale Entwicklung der Betroffenen sowie für die pädagogischen Beziehungen ergeben. Eine Schwerpunktgruppe dieser Untersuchungen bilden Lernende in Sprachlernklassen, unter ihnen viele zwangsmigrierte Kinder und Jugendliche. Im Gegensatz zu vorliegenden Erhebungsinstrumenten, wie dem ETI-KJ oder dem CTQ (Maerker/Bromberger 2005), die primär mit Selbsteinschätzungen und Reflexionen der Kinder und Jugendlichen arbeiten, fokussiert die vorliegende Untersuchung auf die schulischen Fachkräfte und deren Wahrnehmung traumatisierter Lernender. Denn schwer traumatisierte Kinder haben häufig kaum Zugang zu ihrer Erlebenswelt und können so nur sehr eingeschränkt im Rahmen der Traumaforschung befragt werden. Im Fall der Sprachlernklassen kommen migrationsspezifische Aspekte hinzu, etwa nicht ausreichende Sprachkenntnisse sowie spezifische Hemmnisse wie Schamgefühle aufgrund der eigenen Lebenssituation (Akthar 2007). Zudem können durch die mündliche oder schriftliche Befragung traumatische Erinnerungen reaktiviert werden, die im Rahmen der Forschung nicht adäquat bearbeitet werden können (Zimmermann 2014). Die unmittelbaren Bezugspersonen der Kinder und Jugendlichen, demnach Lehrkräfte, Sozialarbeiter_innen und Schulleitungen, verfügen aufgrund ihrer engen Zusammenarbeit mit den Betroffenen über mannigfaltige Informationen zu möglicher traumatischer Erfahrung und zum Verhalten der Schüler_innen (Fischer u.a. 2011). Diese Vorüberlegungen berücksichtigend, ist zur Beantwortung der Fragestellung ein mehrschrittiges, quantitativ-qualitatives Design zwingend erforderlich. Das auf dieser Grundlage entwickelte Forschungsprojekt ist in drei Phasen unterteilt. Die erste Phase bildet eine quantitative Ersterhebung mit Hilfe eines selbstentwickelten Fragebogens. Hierdurch sollen Prävalenz, vorherrschende Formen und Auswirkungen von Traumatisierung überblicksartig erschlossen werden. Daraufhin folgen in einer zweiten Phase qualitative Erhebungen mittels Interviews und Beobachtungen, die mit tiefenhermeneutischen Methoden ausgewertet werden. Die letzte Erhebungsphase bilden traumapädagogische Fortbildungen für die beteiligten Lehrkräfte sowie die quantitative Messung der Effekte jener Qualifizierungen für die subjektiven Handlungsmöglichkeiten der Fachkräfte im Umgang mit Traumatisierungen. An dieser Stelle werden primär einige Ergebnisse der quantitativen Erhebung vorgestellt, im Anschluss werden weitere aktuelle Ergebnisse der qualitativen Untersuchungen skizziert.

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Ergebnisse für die Gesamtstichprobe Mit Hilfe eines selbstentwickelten Fragebogens, der sich aus insgesamt 27 geschlossenen und sechs offenen Fragen zusammensetzt, wurden 92 Fachkräfte an elf Schulen in Hannover und Umgebung zu ihrer Wahrnehmung von traumatisierten Kindern und Jugendlichen im schulischen Kontext befragt (Ullrich/Zimmermann 2014). Die Stichprobe umfasst vor allem Lehrer_innen (81,5 %), die in Vollzeit (59,8 %) und seit mehr als zehn Jahren im Schuldienst tätig (57,6 %) sind. Es nahmen Fachkräfte aus Grundschulen (33,7 %), Förderschulen (18,5 %), Hauptschulen (8,7 %), Berufsschulen (6,5 %) sowie eine hier besonders interessierende Gruppe von Lehrkräften aus Sprachlernklassen (27,2 %) teil. Die Auseinandersetzung mit dem Thema ,Trauma‘ im schulischen Bereich ist laut den Ergebnissen von erhöhter Relevanz. Aufgrund der Häufigkeit, in der sich Lehrkräfte mit Traumatisierungen konfrontiert sahen (90,2 %) oder aktuell sehen (91,3 %), kommt es zu Herausforderungen, die auch in der schulischen und gesellschaftlichen Inklusionsdebatte zwingend mitzudenken sind. Kinder mit Gewalt-, Vernachlässigungs- und Trennungserfahrungen stehen dabei besonders im Fokus der Lehrkräfte. Massive Gewalterfahrungen werden zu 61,9 % zeitweise (meist ein bis zwei Schüler_innen pro Klasse) bis regelhaft (mehrere Schüler_innen pro Klasse) von den Lehrkräften festgestellt. Fast die Hälfte der Befragten (47,8 %) erlebt regelhaft emotional und körperlich stark vernachlässigte Kinder und Jugendliche. Von 87 % der Lehrkräfte werden mindestens ein bis zwei Mädchen und Jungen mit traumatischen Trennungserfahrungen je Klassengruppe wahrgenommen. Mehr als ein Drittel (37,0 %) bestätigt dies für mehr als zwei Schüler_innen pro Klasse. Die Mehrheit der Lehrkräfte nimmt bei ihren Schüler_innen eine deutliche, generalisierte Beeinträchtigung in den Bereichen der emotional-sozialen Entwicklung (53,3 %) sowie der Lernmöglichkeiten (48,9 %) als Auswirkung traumatischer Erfahrungen wahr. Auch die soziale Position der betroffenen Schüler_innen in der Klasse erleben viele Fachkräfte nachhaltig verändert (43,5 %). Insgesamt etwas geringer schätzen letztgenannte den Einfluss auf die soziale Entwicklung der Klassengemeinschaft ein. Jedoch geben fast die Hälfte (47,8 %) der Befragten an, dass einzelne Entwicklungsbereiche der gesamten Gruppe durch die Kinder mit traumatischen Erfahrungen beeinflusst werden. Bedingt durch traumaassoziierte Verhaltensweisen fühlt sich eine große Mehrheit der Lehrkräfte in ihrer Unterrichts- (79,4 %) sowie Erziehungstätigkeit (72,9 %) stark bzw. in einzelnen Unterrichtsfeldern gestört. Über ein Viertel der Antworten weisen dabei auf eine starke Störung durch die traumatischen Symptomatiken der Kinder und Jugendlichen im Schulalltag hin.

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Aus den Antworten auf die offenen Fragen lassen sich einige Schwerpunkte konkretisieren. Viele Lehrkräfte können in der Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen bereits auf außerschulische Hilfesysteme und die Unterstützung des Teams zurückgreifen. Hingegen benötigen sie ihren eigenen Angaben zufolge vor allem mehr Zeit zur Professionalisierung ihrer diesbezüglichen Tätigkeit. Die Lehrkräfte sehen ihren Weiterbildungsbedarf in spezifischen, traumabezogenen Handlungskompetenzen sowie in diagnostischen Kenntnissen. Die Antworten der in Sprachlernklassen tätigen Lehrkräfte im Vergleich zur übrigen Stichprobe Die in Sprachlernklassen unterrichtenden Lehrkräfte sollen im Vergleich zur restlichen Teilstichprobe genauer betrachtet werden. Hierbei stehen vor allem die Auffälligkeiten und Differenzen im Fokus der Betrachtungen. Von den insgesamt 25 befragten Personen (23 Lehrer_innen, ein Sozialarbeiter und ein Schulleiter, die zur Gruppe der Sprachlernklassenlehrkräfte gehören) arbeiten 76 % in den Klassenstufen 7 bis 10, zu 72 % mit einer Schüleranzahl von 10 bis 20. Die Sprachlernklassenlehrkräfte sind leicht überdurchschnittlich häufig sowohl retrospektiv (92 %/89,5 %)2 als auch aktuell (92,0 %/91,1 %)* mit traumatisierten Kindern konfrontiert; besonders auffällig ist es, dass sich keine dieser Lehrkräfte nie in der Auseinandersetzung mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen erlebt. Jene Tatsache belegt eine tendenziell höhere psycho-soziale Belastung der Lehrkräfte in den Sprachlernklassen, obwohl die Anzahl der Lernenden in den Gruppen insgesamt geringer ist. Aufgrund der häufig hohen Anzahl an jungen Flüchtlingen in der Klassengemeinschaft sind sie oft mit Kindern und Jugendlichen mit individuell zwar unterschiedlichen, aber zumeist durch schwere Traumatisierungserfahrungen geprägten Biografien konfrontiert. In diesem Zusammenhang erstaunt der im Vergleich hohe Wert, mit dem Lehrkräfte der Sprachlernklassen nie beruflich mit Trauma-Diagnosen in Berührung gekommen sind (40,0 %/25,4 %)*. Mit 96,0 % (im Vergleich zu 80,6 % der übrigen Teilstichprobe) beantworten sie die Frage nach der Kenntnis von diagnostischen Verfahren zur Feststellung von Traumatisierung bei Kindern und Jugendlichen mit „nein“. Die subjektive Bedeutung von Diagnosemöglichkeiten für die Arbeit wird jedoch höher als von den anderen Lehrkräften eingeschätzt (76,0 %/71,6 %* für „Wichtig“ und „Sehr wichtig“). Auch Fortbildungen zum Umgang mit traumatisierten Kindern wird von den Sprachlernklassenlernkräften

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Werte für (Gruppe der Lehrkräfte der Sprachlernklassen/Teilstichprobe ohne Lehrkräfte der Sprachlernklassen).

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eine etwas stärkere Priorität eingeräumt. Dagegen zeigt sich, dass die Lehrkräfte der Sprachlernklassen dafür einen deutlich kürzeren Zeitrahmen von bis zu einem Tag (52,0 %) wünschen. Dieses Ergebnis kann dahingehend interpretiert werden, dass die Lehrkräfte ohnehin zeitlich sehr ausgelastet sind. Für eine stärkere Belastung der Einzelnen sprechen auch die überraschend dominant ausfallenden Werte, nach denen 52,0 % (im Vergleich zu 38 % der sonstigen Stichprobe) noch nie mit anderen Professionellen traumabezogen kooperiert haben. Die in Sprachlernklassen Unterrichtenden nehmen die im Fragebogen vorgegebenen potentiell traumatischen Erfahrungen in absoluten Zahlen etwas seltener bei ihren Lernenden wahr als die übrigen Lehrkräfte. Dies mag partiell auf die häufig geringere Klassenstärke und eine damit verbundene andere Wahl der Kategorien (z.B. zeitweise statt regelhaft) zurückzuführen sein. Auch mögen die vorgegebenen Kategorien die spezifische Erfahrungswelt der zwangsmigrierten Jugendlichen nicht ausreichend abbilden. Einzig bei dem traumatischen Verlust einer nahestehenden Person ergeben sich deutlich höhere Werte als für die übrige Stichprobe (zeitweise: 48,0 %/34,3 %*, regelhaft: 16,0 %/3,0 %*). Fast alle Lehrkräfte (mindestens 96,0 %) sehen die Auswirkungen traumatischer Erfahrungen auf die emotional-soziale Entwicklung und die Lernmöglichkeiten in „Beeinträchtigungen einzelner Entwicklungsbereiche“ bzw. in einer „deutlichen, generalisierten Beeinträchtigung“. Bezogen auf die Unterrichts- und Erziehungstätigkeit lässt sich für diese Gruppe insgesamt ein etwas geringeres Störungsempfinden feststellen. Bei den Antworten auf die offenen Fragen zeigen sich generell ähnliche Schwerpunktsetzungen wie bei der übrigen Stichprobe. Lehrkräfte der Sprachlernklassen können subjektiv noch häufiger auf außerschulische Hilfesysteme (60,0 %/38,8 %)* und eine Unterstützung durch das schulische Team (48,0%/31,3 %)* zurückgreifen. Allerdings fallen auch die Werte für „keine (vorhandenen) Maßnahmen, Kooperationen oder Qualifizierungen“ (16,0 %/11,9 %)* im Vergleich etwas höher aus. Es zeigen sich demnach einige gegenläufige Tendenzen, teils auch Widersprüche. Besonders augenfällig ist dies hinsichtlich oben beschriebener geringer Kooperationserfahrung bei gleichzeitig empfundener Unterstützung auch durch außerschulische Fachkräfte. Es lässt sich vermuten, dass die fehlende Kooperation eher die unmittelbare pädagogische Tätigkeit mit den Kindern und Jugendlichen betrifft, die außerschulische Unterstützung stärker die eigene Professionalität. Abschließend lassen sich diese Unklarheiten mithilfe des genutzten Fragebogens jedoch nicht entschlüsseln. Höhere zeitliche Ressourcen (44,0 %/26,9 %)*, bessere räumliche Bedingungen (40,0 %/20,9 %)* sowie Unterstützung durch spezielle Fachkräfte (36,0 %/16,4 %)* werden von den Befragten als vorrangige Bedarfe herausgestellt. Die

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Lehrer_innen in Sprachlernklassen sehen ihren eigenen Fortbildungsbedarf vor allem in theoretischen und methodischen Grundlagen (44,0 %/26,9 %)*. Zusätzlich benennen die Befragten erneut in größerer Zahl die Notwendigkeit externer Unterstützung im Arbeitsalltag (32,0 %/25,4 %)*. Methodenkritisch ist anzumerken, dass einige Fragen bzw. Antwortkategorien nicht an die Spezifika der Sprachlernklassen und deren Klientel angepasst waren. Dies gilt insbesondere für die zugrunde liegenden traumatischen Erfahrungen. Zwar ist davon auszugehen, dass Gewalt- und auch familiäre Vernachlässigungserfahrungen Teil eines traumatischen Geschehens sein können. Diese Erfahrungen werden im Vergleich zu den Verlusterfahrungen, den Überlebensängsten oder auch der aktuellen Aufenthaltssituation der Betroffenen aber scheinbar weniger wahrgenommen. Skizzierung der Ergebnisse der weiteren Forschungsschritte Die Ergebnisse des zweiten Forschungsschrittes können im Rahmen eines Handbuchbeitrags kaum in der angemessenen Form dargestellt werden. Jedoch sollen hier kurze Einblicke in einige Interpretationen gegeben werden: Die tiefenhermeneutisch fundierte Analyse von zwei qualitativen Interviews mit Lehrkräften in Sprachlernklassen verweist erneut auf die hohe emotionale, traumaassoziierte Beteiligung der Kinder und Jugendlichen wie auch der Fachkräfte in der pädagogischen Interaktion. Traumaassoziierte Affekte wie Wut und Hilflosigkeit prägen dabei auch die innere Welt der Fachkräfte, ein deutlicher Hinweis auf ein wirkmächtiges Übertragungs-Gegenübertragungsgeschehen. Gleichwohl zeigen die Interaktionsgeschichten auf, dass zwangsmigrierte Kinder und Jugendliche vielfach auf hoch engagierte Fachkräfte treffen, die für ein weitgehend haltendes Beziehungsgeschehen sorgen. Die Rahmenbedingungen sind jedoch für alle Beteiligten durch vielerlei schulische und politische Unsicherheiten geprägt (Wipperfürth 2014, Zimmermann 2015a). Auch die Ergebnisse des dritten Forschungsschrittes sollen hier nur skizziert werden. Quantitative Messungen mit Hilfe einer längsschnittlichen Fragebogenuntersuchung – orientiert an den Selbstwirksamkeitsskalen von Schwarzer und Jerusalem (2002) – wie auch qualitativ-tiefenhermeutische Analysen – auf Basis von insgesamt 27 Beobachtungsprotokollen nach dem Tavistock-Prinzip (Lazar 2000) – ermöglichten es, die Wirkung von in vier Modulen angelegten Fortbildungen zu erheben (Zimmermann 2016). So zeigt sich in den quantitativen Daten eine signifikante Zunahme an subjektiv empfundener Empathie- und Beziehungsfähigkeit gegenüber schwer belasteten jungen Flüchtlingen; gleichwohl bleibt das Maß der wahrgenommenen eigenen Belastung nahezu gleich. Die qualitativ-tiefenhermeneutischen Analysen wurden primär fallorientiert vorgenom-

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men, was eine Darstellung in Kurzform unmöglich macht. Die Ergebnisse korrespondieren jedoch insofern mit den quantitativen Daten, als dass hohe eigene Belastungen, nicht zuletzt ausgelöst durch „strukturelle Verantwortungslosigkeit“ (Freyberg/Wolff 2005: 266), einen Zuwachs an Empathie und gelungener Beziehungsgestaltung massiv gefährden. Schlussüberlegungen Im Hinblick auf die schulische Situation traumatisierter Kinder und Jugendlicher mit Zwangsmigrationshintergrund ergibt sich nunmehr ein vielschichtiges Bild: Unter quantitativen Gesichtspunkten sollte diese Gruppe, trotz der noch begrenzten Aussagekraft der vorgestellten Studie, als besonders vulnerabel beschrieben werden. Auch wenn die Eruierung der spezifischen Bedingungsfelder der Traumatisierung aufgrund der Anlage der Studie hier insgesamt zu keinen aussagekräftigen Ergebnissen kommt, werden in den Antworten der Lehrkräfte die multiplen Verlusterfahrungen der Kinder und Jugendlichen erneut als besonders wirkmächtig hinsichtlich traumatischer Erlebensmuster beschrieben. Eine gemeinsame, von den Lehrkräften häufig genannte Bedingung traumatischer Erfahrung findet sich auch in diskriminierenden gesetzlichen Regelungen (Schukalla 2014). Hinsichtlich der Qualifizierung der Fachkräfte zeigt sich ein widersprüchliches Bild: Die große Bereitschaft der von uns angefragten Lehrkräfte zur Teilnahme an der Studie, wie auch der fortgesetzte Wunsch nach Fortbildung, belegen eindrucksvoll deren überdurchschnittliches pädagogisches Engagement. Jedoch fehlen den Fachkräften vielfach sowohl organisationsbezogene Ressourcen (Zeit, Räume) als auch institutionelle Unterstützung wie Supervision. Aufgrund des hohen Anspruchs an die Qualität der Arbeit im beschriebenen Bedingungsfeld sind jene Rahmenbedingungen jedoch unverzichtbar (Herz/Zimmermann 2015). Denn zur angemessenen Förderung der traumatisierten Kinder und Jugendlichen mit Zwangsmigrationshintergrund brauchen die Fachkräfte einerseits eine hohe Sensibilität für die traumatischen Erfahrungen. Hiervon ist im Falle fast aller Sprachlernlehrkräfte auszugehen. Darüber hinaus benötigen sie aber Kenntnisse zur Erschließung des individuellen Zusammenhangs von traumatischer Erfahrung, Erleben und Verhalten der jeweiligen Schülerin oder des betreffenden Schülers. Insbesondere die Erlebensebene (demnach die Rekonstruktion zentraler Affekte, Wünsche und Ängste) ermöglicht die Entwicklung adäquater pädagogischer Handlungsstrategien, die sich so aus der Verhaltensanalyse allein niemals ableiten ließen. Nicht zuletzt zeigt sich erneut, dass gerade die engagierten Fachkräfte einen hohen eigenen Unterstützungs- und Reflexionsbedarf aufweisen. Werden für Lehrer_innen keine solchen, den ,Sicheren

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Ort‘ definierenden, Rahmenbedingungen bereitgestellt, kann gut begründet von oben genannter „Struktureller Verantwortungslosigkeit“ (Freyberg/Wolff 2005: 266) gesprochen werden. Die hier vorgestellte und an anderer Stelle ausführlicher entwickelte Konzeption der ,Sequentiellen Traumatisierung‘ bei adoleszenter Zwangsmigration legt eine hohe Wirkkraft pädagogischen Handelns für den Fortgang der traumatischen Prozesse nahe (Zimmermann 2009, 2012a). Hierzu nur einige wenige Hinweise aus zwei Sequenzen: In Sequenz drei (Anfangszeit am Ankunftsort) bilden die pädagogischen Fachkräfte vielfach die einzigen der aufnehmenden Gesellschaft entstammenden Bezugspersonen für die Kinder und Jugendlichen. Die Bereitstellung eines ,Sicheren Ortes‘ bedingt gerade in dieser Sequenz die Anerkennung von ,Disempowerment‘ und somit die Möglichkeit, passiv sein zu dürfen. Anderenfalls entsteht statt eines haltenden Beziehungsangebotes ein zusätzlich überforderndes, das zur Vertiefung des traumatischen Prozesses beiträgt. In Sequenz vier (Chronifizierung der Vorläufigkeit) bildet die Schule vielfach das innerlich und äußerlich strukturierende Element für zwangsmigrierte Kinder und Jugendliche. Die zentrale pädagogische Herausforderung liegt dabei in einem notwendigen Interesse an der individuellen Lebensgeschichte seitens der Lehrkräfte, verknüpft mit adäquaten Förderangeboten, ohne jedoch die Kinder invasiv mit ihrer traumatischen Erlebenswelt zu konfrontieren. Zentral ist darüber hinaus das Aushalten und Reflektieren der massiven eigenen emotionalen Beteiligung seitens der Fachkräfte. Durch Reflexion wird ,Containment‘ hoch belastender Affekte ermöglicht, mit dem Ziel, die vormals überflutenden Emotionen den betroffenen Kindern und Jugendlichen als aushaltbar zurückzuspiegeln. Anders als bei der klinischen Diagnose ‚Posttraumatische Belastungsstörung‘ handelt es sich demnach nicht um eben jene posttraumatische Symptomatik, mit der Schule nunmehr „zu kämpfen“ hätte. Stattdessen gilt es, die sozialen Rahmenbedingungen im engeren und weiteren Sinne, sowie die schulischen Beziehungen als Teil eines traumatischen Prozesses zu begreifen. Die Wünsche der Lehrkräfte nach ausreichender Zeit, Räumen sowie fachlicher Expertise sind genau in diesem Sinne zu verstehen (Ullrich/Zimmermann 2014). Es besteht ganz offensichtlich eine große Bereitschaft, die schweren Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen in die pädagogische Arbeit zu integrieren. Das heißt, die Lehrkräfte können und wollen den traumaassoziierten Bedürfnissen und Wünschen der Schüler_innen adäquat begegnen. Gleichwohl wird das aktuelle Setting als vielfach unzureichend empfunden. Gelingt es nunmehr – wie im Fallbeispiel „Ibrahim“ – trotz multipler Vorbelastung eine haltende Beziehung zu etablieren, hat die Schule zweifelsohne mindestens stabilisierende, teils auch traumaverarbeitende Funktion. Gelingt dies nicht, findet etwa eine ausschließliche Fixierung

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auf Leistung und Assimilation statt oder werden rassistische Stereotypen zur Grundlage einer (Nicht-)Beziehungsgestaltung, kann Schule jedoch als weiteres Bedingungsfeld für die traumatischen Sequenzen drei bis sechs verstanden werden. Literatur Akthar, Salman (2007): Immigration und Identität. Gießen: Psychosozial-Verlag. Becker, David (2014): Die Erfindung des Traumas. Verflochtene Geschichten. Gießen: Psychosozial-Verlag. Bräutigam, Barbara (2000): Der ungelöste Schmerz. Perspektiven und Schwierigkeiten in der therapeutischen Arbeit mit Kindern politisch verfolgter Menschen. Gießen: Psychosozial-Verlag. Büttner, Christian/Mehl, Regine/Schlaffer, Peter/Nauck, Mechthild (Hg.) (2004): Kinder aus Kriegs- und Krisengebieten. Lebensumstände und Bewältigungsstrategien. Frankfurt/Main: Campus. Crain, Fitzgerald (2005): Fürsorglichkeit und Konfrontation. Psychoanalytisches Lehrbuch zur Arbeit mit sozial auffälligen Kindern und Jugendlichen. Gießen: PsychosozialVerlag. Delen, Ibrahim/Nafilo, Joao (2006): „Wir verzichten auf sämtliche Leistungen. Das war der Deal, um studieren zu dürfen“. In: Pro Asyl (Hg.): Vom Fliehen und Ankommen. Flüchtlinge erzählen. Karlsruhe: Loeper, 101-109. Feldmann, Robert E. (Hg.) (2012): Themenheft Migration und Trauma. In: Trauma & Gewalt. 6 (4), 273-341. Fischer, Jörg/Buchholz, Thomas/Merten, Roland (2011): Kinderschutz als gemeinsame Herausforderung für Jugendhilfe und Schule – eine Einführung. In: Dies. (Hg.): Kinderschutz in gemeinsamer Verantwortung von Jugendhilfe und Schule. Wiesbaden: VS Verlag, 9-15. Freud, Anna (1980): Kriegskinder. Berichte aus den Kriegskinderheimen „Hampstead Nurseries“ 1941 und 1942. München: Kindler. Freyberg, Thomas von/Wolff, Angelika (2005): Perfektes Verweigern. Der Fall Cassimo. In: Dies. (Hg.): Störer und Gestörte. Band 1: Konfliktgeschichten nicht beschulbarer Jugendlicher. Frankfurt/Main: Brandes & Apsel, 223-268. Hargasser, Brigitte (2014): Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Sequentielle Traumatisierungsprozesse und die Aufgaben der Jugendhilfe. Frankfurt/Main: Brandes & Apsel. Härtling, Peter (1998): Geschichten für Kinder. Weinheim: Beltz. Herz, Birgit/Zimmermann, David (2015): Beziehung statt Erziehung? Psychoanalytische Perspektiven auf pädagogische Herausforderungen in der Praxis mit emotional-sozial

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Trauma, Resilienz und Widerstand ‚Traumatisiert‘ oder ‚resilient‘: die Gefahr des Schubladen-Denkens M ARTIN K ÜHN Ich setzte den Fuß in die Luft und sie trug. HILDE DOMIN Im Herbst denkt der Wind nicht an den Schmerz der Bäume. Ich will der Sturm sein. UNBEKANNT

Ich durfte in den letzten 30 Jahren in meiner Tätigkeit in der Kinder- und Jugendhilfe viel von unzähligen Kindern und Jugendlichen lernen, manchmal scheint mir im Rückblick, sogar mehr als aus Studium, Weiterbildung und Fachliteratur. Es waren die persönlichen Begegnungen, in denen mich tief beeindruckt hat, wie Mädchen und Jungen auf so unterschiedlich individuelle Art und Weise auch auf widrigste Lebensumstände und -erfahrungen reagiert haben, um leider viel zu oft um ihren Platz in der Welt kämpfen zu müssen. Diese Mädchen und Jungen, die ich kennenlernen durfte, haben mich auf Spuren gebracht, die immer wieder auch zur kritischen Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Fachthemen, wie z.B. der Bindungstheorie, der Resilienzforschung, ja selbst der Psychotraumatologie geführt haben. In der Beobachtung und im persönlichen Austausch mit ihnen habe ich mit der Zeit erkannt, dass immer die Einzigartigkeit dieser Begegnungen im Vordergrund stand und dass wissenschaftliche Konzeptionen dabei nichts anderes als theoretische ,Gehhilfen‘ für uns Professionelle sind. Aus lebensweltlicher Sichtweise bergen Fachkonzepte nämlich allzu vorschnell die Gefahr der Kategorisierung, d.h. die Adressat_innen der pädagogischen Angebote und Maßnahmen werden den konzeptionellen ,Schubladen‘ zugeordnet, anstatt das wissenschaftliche Konzept als ,Modellvorstellung‘ in der

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pädagogischen Begegnung zwischen Kind und Pädagog_in zu begreifen und damit auch entmündigende und entmachtende Gewaltstrukturen an Kindern und Jugendlichen in professionellen Kontexten zu entlarven und zu bekämpfen. Ob ein Kind z.B. ,sicher oder unsicher‘ gebunden, ,resilient oder nicht-resilient‘, ,traumatisiert oder unbelastet‘ ist, darf so deshalb nicht zu einer stigmatisierenden Zuschreibung an die kindliche Persönlichkeit werden, sondern kann nicht mehr als eine orientierende Hilfestellung für die Kommunikation zwischen pädagogischen Fachkräften zur Gestaltung interaktioneller Dialoge sein, wie der Dialog zwischen Kind und Erwachsenem möglichst gelingend und sicher gestaltet werden kann. Traumatisierung: Kann Traumapädagogik bei der Bewältigung helfen? „Was nicht tötet, härtet ab!“ – diese allgemein bekannte Redewendung wurde nicht selten als grundlegendes Prinzip in autoritären Erziehungskonzepten der „Schwarzen Pädagogik“ (Rutschky 1977) verstanden und diente der Bagatellisierung von kleineren, aber auch größeren, bis hin zu lebensbedrohlichen Gewalterfahrungen des Kindes durch Bezugspersonen. Aus psychotraumatologischer Sicht ergibt sich für diese Sprachwendung allerdings noch eine andere Bedeutungskomponente: Eine existenziell bedrohliche, traumatische Lebenserfahrung verändert die Welt des betroffenen Mädchen oder Jungen ,von jetzt auf gleich‘ grundlegend und trotzdem hat das Kind es überlebt. Die Erfahrung, „Ich habe überlebt!“, muss jedoch noch lange nicht bedeuten „Ich habe es auch hinter mir gelassen!“. In jedem Fall verändert es die Wahrnehmung des individuellen Selbst, die persönliche Sicht auf die Welt, sowie eigene Wertvorstellungen und Zukunftsperspektiven (Kühn 2011a). Ob überwältigende Lebenserfahrungen ein Mädchen oder einen Jungen also ,hart‘ (oder weich), ,anders‘ (oder angepasst), ,auffällig‘ (oder unauffällig) machen, ist daher von der individuell sinnvollen Überlebensleistung im Austausch mit einer eventuell sogar gewalttätigen Umwelt abhängig. Selbst im Vorstadium einer erfolgreich eigenständigen oder auch pädagogisch-therapeutisch substituierten Verarbeitung traumatischer Lebenserfahrungen ist die menschliche Psyche darum bemüht, die Auswirkungen einer Extremsituation zu bewältigen. Auch wenn die neurokognitiven Ebenen, bedingt durch den traumatisch unterbrochenen Handlungsansatz, nicht oder nur teilweise zugänglich sind, gibt es im menschlichen Verhalten eine anhaltende Tendenz zur Wiederholung, um die traumabedingt unterbrochene Handlung wiederaufzunehmen. Dazu wird vom betroffenen Individuum nach einem subjektiv entlastenden Bewältigungskonzept, dem ,traumakompensatorischem

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Schema‘, gestrebt, das die traumatische Erfahrung erklären, bewältigen und zukünftig vor ihr schützen soll (Fischer/Riedesser 1999: 375): • Ätiologischer Ansatz – „Wie ist das Trauma entstanden?“ • Heilungsansatz – „Wie kann das Trauma überwunden werden?“ • Präventiver Ansatz – „Was muss geschehen, um Retraumatisierung zu verhin-

dern?“ Im Gegensatz zu anderen stabilisierenden und traumaprotektiven Faktoren sowie Verständniskonzepten, wie z.B. der Resilienz oder dem Posttraumatischen Wachstum, die im Folgenden noch vorgestellt werden sollen, ist das traumakompensatorische Schema dem Kind bewusst nicht zugänglich und erst recht nicht kognitiv steuerbar. Es ist daher als evolutionär bedingte, natürliche Reaktion auf existenziell bedrohliche Erfahrungen zu verstehen, welche durch die neuronalen Notfallprogramme (Kampf − Flucht − Erstarren) in den unteren Hirnarealen determiniert wird und somit aus pädagogischer Betrachtung deutlich dem klinischen Begriff einer psychischen Störung widerspricht: „Neben der Anerkennung posttraumatischer Belastungsreaktionen (im Gegensatz zu Belastungsstörungen) besteht die Gefahr, Kinder und Jugendliche auf die Gewalterfahrung, in der Folge auf einen Opferstatus, auf beobachtbare‘ oder zu prognostizierende Störungen‘ zu reduzieren. Mit der Störungszuschreibung durch ExpertInnen gegenüber Kindern geht oft die Enteignung von deren subjektiver Erfahrung, Deutung und Handlungsweise einher, die ich als [...] den objektivierenden und kategorisierenden ,klinischen Blick‘ als Macht durch ExpertInnenwissen kritisiere. [...] Oftmals werden Stärken, Ressourcen und auch Widerstandsformen, mit denen sich Kinder und Jugendliche schützen, von den Professionellen nicht wahrgenommen, trivialisiert oder aber nicht geschätzt und nicht gestärkt. [...] Eine solche störungsorientierte Fokussierung birgt Gefahren, wie (a) die Einstellung der TäterInnen zu übernehmen, (b) die AdressatInnen in ihrer Opferrolle zu bestärken oder sie erneut zum Opfer zu machen und (c) Kinder auf ihre Gewalterfahrung zu reduzieren.“ (Schulze 2014: 9)

Zudem wird das Verstehen der Sinnhaftigkeit kindlichen Verhaltens dadurch verunmöglicht und die Wahrnehmung betroffener Mädchen und Jungen hinterfragt bzw. ignoriert. Mit welchem Verständnis begegnen pädagogische Fachkräfte also traumatisierten Kindern und Jugendlichen in der Praxis? Die anhaltende Festschreibung auf ein wie auch immer begründetes ,Opfer-Sein‘ stellt die Autonomie, Selbstreferenzialität und damit auch Handlungsfähigkeit des betroffenen jungen Menschen grundlegend in Frage. Ein traumatisiertes Kind war Opfer in

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der gewalttätigen Erfahrung, muss dann aber als überlebendes Individuum begriffen werden, denn es hat die existenziellen Bedrohungen überstanden. Ursache dafür waren unter anderem Handlungskompetenzen, die mit einer Rollenzuschreibung als Opfer nicht zu erklären sind, sondern sich aus dem Überlebenswillen und den dazugehörigen Kräften und Fähigkeiten herleiten lassen. Für die traumapädagogische Arbeit ergibt sich aus einer solchen Betrachtungsweise daher eine zentrale Fragestellung: Muss traumakompensatorisches Verhalten eines Kindes nicht auch als, wenn auch oftmals dysfunktional erscheinendes, Bewältigungsbestreben verstanden und für pädagogische Prozesse nutzbar gemacht werden, statt sich als Fachkraft ständig in den unsäglichen Tiefen von, wie auch immer gut gemeinten, Symptombekämpfungen zu verstricken? Auch wenn traumatische Lebenserfahrungen die bisherige Lebenswirklichkeit von Betroffenen in all ihrer destruktiven Wucht ,von jetzt auf gleich‘ buchstäblich auf den Kopf stellen, zeigt der weitere Weg im Umgang und in der Verarbeitung dieser Erfahrungen nicht immer nur herausforderndes Verhalten, sondern − auch ganz im Gegenteil − besonders eindrucksvolle individuelle Entwicklungsprozesse, die weit in die biographische Zukunft reichen können. Diese Beobachtungen sind seit einigen Jahrzehnten fester Bestandteil wissenschaftlicher Fragestellungen und haben mittlerweile auch reges öffentliches Interesse gefunden. Durch diese Popularisierung entstand jedoch sehr bald der fälschliche Eindruck, es gäbe pädagogisch-psychologische Techniken und Methoden1, heranwachsende Kinder und Jugendliche buchstäblich gegen lebensgeschichtliche Belastungserfahrungen zu immunisieren − Eine solche ,Zauberformel‘ wurde allerdings bisher nicht gefunden. „Resilienz“: psychische Widerstandsfähigkeit als Bewältigungsansatz? Besonders am Begriff der Resilienz wird diese Widersprüchlichkeit im Verständnis für die Praxis deutlich. Resilienz, im Sinne einer psychischen Widerstandsfähigkeit des Kindes gegen biografische Widrigkeitserfahrungen und Belastungen, wie sie oft beschrieben wird, hat in der pädagogischen Praxis vor allem in der Früh- und Vorschulerziehung anscheinend Hochkonjunktur, anderer-

1

Vgl. Übersicht bei Gurris (2003: 542f.).

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seits liegt im wissenschaftlichen Diskurs bis heute keine eindeutige Definition und dadurch kein einheitlicher Gebrauch der Begrifflichkeit vor. „Allgemein anerkannt im deutschsprachigen Raum ist die Begriffsbestimmung von Corinna Wustmann, die sowohl externale als auch internale Kriterien mit einbezieht und Resilienz zusammenfasst als ,die psychische Widerstandsfähigkeit gegenüber biologischen,

psychologischen

und

psychosozialen

Entwicklungsrisiken‘.“

(Fröhlich-

Gildhoff/Rönnau-Böse 2011: 9f.)

Bedingt durch die Popularisierung des Begriffes wurde der Eindruck erweckt, die Resilienz hinge von festen biologistisch-genetischen und sozialen Vorbedingungen des Kindes und besonderen erzieherisch gestalteten Settings ab. Verbunden wird dies in der Regel mit spezifischen Listen von Schutz- und Risikofaktoren des Kindes, auf deren Darstellung aber an dieser Stelle verzichtet wird, da sie allzu leicht als ,Checkliste zum Abhaken‘ fehlinterpretiert werden. Ein indifferentes, popularistisches Verständnis von Resilienz bedient allerdings eher mögliche Hilfe- oder Rettungsfantasien der professionellen Fachkräfte, die endlich eine umsetzbare Technik zur Verfügung zu haben glauben. Scheitert das Mädchen oder der Junge dann aber in der Bewältigung einer belastenden Situation oder Lebensphase, kann solch ein individualisiertes Verständnis von Resilienz nur zur Folge haben, die Nichtbewältigung dem Kind oder Jugendlichen, z.B. in Form einer oppositionellen Haltung, einer Intelligenzminderung oder Behinderung zuzuschreiben (Brenssell 2000), die das erwünschte Entwicklungsergebnis verhindert hat (Hiller 2008): „Wer also personale Ressourcen (biogenetische Dispositionen) als logische Voraussetzungen seiner auf Resilienz zielenden pädagogischen Aktivitäten benötigt, erlangt eben auch allemal gute Gründe, um diejenigen innerlich wie tatsächlich aufzugeben und auszugrenzen, die mit seinen Angeboten und Inszenierungen zur Stärkung von Widerstandsfähigkeit nichts oder zu wenig anzufangen im Stande sind. Solchen Individuen ist dann ganz einfach nicht mehr zu helfen – und sie sind selbst schuld daran, dass dies so ist.“ (Hiller 2008: 267)

Folgt man neueren wissenschaftlichen Beschreibungen, darf Resilienz nicht als vorgegebene Grundkompetenz verstanden werden, sondern kann nur rückwirkend als ,Bewältigungsleistung‘ des Kindes bzgl. schwieriger Lebenssituationen nachweisbar sein (Wustmann 2004). In diesem Sinne ist Resilienz keine von Geburt an gegebene individualistische Kategorie, sondern eine erworbene Kompetenz im sozialen Austausch des kindlichen Subjekts mit seiner Umwelt. Also:

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Resilienz ist nicht, sie wird, d.h., sie kann nicht als Kategorie zur Vorhersagbarkeit von Problemlösungen dienen, sondern erst im Nachhinein als Bewältigungskompetenz identifiziert werden. Das ,unverwundbare Kind‘ oder der ,traumaresistente Erwachsene‘ ist somit eine mythische Wunschvorstellung, die durch ein, wie oben beschrieben, unsachgemäßes Verständnis entsteht (Fischer/Riedesser 1999: 375), aber einer fachlichen Betrachtung so in keinster Weise Stand hält. Des Weiteren kann Resilienz nicht als allgemeine Problembewältigungskompetenz gedeutet werden, da sie sich immer nur auf bestimmte Lebensbereiche bezieht und sich nicht generalisiert zeigt (Stamm/Halberkann 2015). Ein unscharfes Verständnis von Resilienz ist also eher hinderlich, wenn nicht gar schädlich für die fachliche Arbeit, da ignoriert wird, dass die Gestaltung der pädagogischen Begegnung immer ein ergebnisoffener, übersummativer und überdeterminierter Prozess ist, denn „ob und wie lange Kinder und Jugendliche Zutrauen fassen und sich auf Arbeitsbündnisse mit uns einlassen, weil wir für sie verlässlich erreichbar bleiben und uns von ihnen auch dann nicht abwenden, wenn es ganz schwierig wird, ob solche junge Menschen irgendwelche Widerstandskräfte von welcher Qualität und Stabilität auch immer ausbilden oder ob sie schwach und verführbar bleiben, gar rückfällig werden, oder ob sie sich – trotz unserer Bemühungen und Warnungen – auf bisweilen aberwitzige Weise selbst erproben, sich dabei gefährlich aufs Spiel setzen und im Extremfall zugrunde gehen [...], das bleibt unserer Verfügbarkeit entzogen“ (Hiller 2008: 271).

Was im pädagogischen Feld aber immer zur Verfügung steht, ist, mit dem Mädchen oder Jungen dazu in den Austausch lebensgeschichtlicher Erzählungen zu kommen, denn in den Geschichten, auch denen eigener Opfererfahrungen, lassen sich immer individuelle Handlungspotenziale identifizieren, die damals geholfen haben, auch Schrecken, Gewalt und Grausamkeiten zu überstehen und zu überleben. Um diesen Erzählprozess so sicher und geschützt zu gestalten, dass es nicht zu möglichen erneuten Belastungserfahrungen oder sogar Retraumatisierungen kommen kann, bieten sich das Konzept des ,geschützten Dialogs‘ (Kühn 2011b) und die Erkenntnisse der ,Narrativen Praxis‘ (White 2009) als orientierende Hilfestellungen in der Praxis an. Die Narrative Praxis fokussiert durch prozessbegleitende Fragestellungen, welchen Sinn ein Mensch seinen Erfahrungen zuschreibt. Narrative Praktiken unterstützen dadurch Veränderungen in den persönlichen Bewertungen von Problemen, die sich direkt auf das individuelle Leben und auf zwischenmenschliche Bezüge auswirken, durch die Erschließung neuer persönlicher Handlungsfähigkeiten („unterdrückte Geschichten“; ebd.) in

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der Entwicklung neuer bedeutungsvoller und stimmiger Geschichten von sich selbst (White 2009; Sax 2014). „Das (Wieder)erschließen dieser unterdrückten Geschichten bietet ein alternatives Identitäts-Territorium, auf das die Kinder beim Sprechen über ihre Erfahrungen des Traumas zurückgreifen können. [...] Wenn die Kinder jedoch dabei ein Identitäts-Territorium zur Verfügung haben, das ihnen [...] Sicherheit gibt [...], kommt es ausnahmslos dazu, dass sie ihren Traumatisierungen und deren Folgen kraftvoll Ausdruck geben. Auf diese Weise bilden diese Ausdrucksformen einen Gegenpol zu dem Gefühl der Scham, der Hoffnungslosigkeit, Trostlosigkeit und Nutzlosigkeit, die im Rahmen einer Re-Traumatisierung immer wieder unveränderlich stark auftreten.“ (White 2009: 9)

Traumatisch belastete Mädchen und Jungen beziehen sich in ihren Erzählungen in der Regel immer auf die traumabezogene Problemgeschichte und auch die ihnen nahestehenden pädagogischen Fachkräfte bleiben im Austausch zumeist auf dieser Ebene stehen. In der Narrativen Praxis wird aber gezielt nach den Geschichten hinter der Problemgeschichte geforscht, denn „[e]ine dieser vielen erlebten Geschichten ist die eigene Handlungsgeschichte. [...] Das Kind ist nicht als passiver Empfänger von Trauma zu sehen“ (Schulze 2014: 15), da jeder traumatisierte Mensch etwas „tut“ und das Trauma auf seine Weise „beantwortet“ (Yuen 2011: 3; vgl. Schulze 2014: 15). In der Herausarbeitung solcher handlungsermächtigenden persönlichen Geschichten des Mädchen oder Jungen entstehen so ganz besondere individuelle Bedeutungen von Resilienz, die somit also nie statisch, sondern lebenslang entwicklungs- und veränderungsfähig sind, denn „Resilienz wird am Fall rekonstruiert, dialogisch in einem gemeinsamen Suchprozess ,ausgegraben‘ und in einem biografischen Verstehens- und Aneignungsprozess für die Gegenwart und Zukunft entwickelt“ (Schulze 2007: 218). „Posttraumatisches Wachstum“: Traumabewältigung als Reifungsprozess? Mitte der 1990er Jahre wurde ein neuer Begriff in der Fachöffentlichkeit bekannt, der sich ebenfalls mit positiven Entwicklungen nach krisenhaften Lebenssituationen, ja sogar spezifisch traumatischen, befasste: Der Begriff des Posttraumatischen Wachstums (Tedeschi/Calhoun 1995), der seitdem auch in der Forschung auf ein steigendes Interesse trifft. Das Posttraumatische Wachstum wird, gestützt durch vielzählige Berichte von Betroffenen, als subjektiv positive psychische Entwicklung in Bezug auf die Bewältigung existenzieller Lebenserfahrungen definiert: „Der Begriff posttraumatisches Wachstum betont, dass Be-

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troffene sich nicht nur von dem Trauma erholen, sondern es als Gelegenheit für weitere persönliche Entwicklung nutzen. Sie berichten über einen Zuwachs an innerer Reife, über neu definierten Lebenssinn und positive Veränderungen ihrer eigenen Person.“ (Zöllner u.a. 2006: 37) Dies kann in fünf bisher beschriebenen Lebensbereichen entstehen, die aber nicht alle gleichzeitig betroffen sein müssen; vielmehr kann sich das ,Wachstum' auch nur in Teilbereichen zeigen (Maercker/Langner 2001): • vertieftes Bewusstsein der eigenen Existenz, des eigenen Lebens („Kleine

Dinge werden wichtig!“); • persönliche Beziehungen bekommen Bedeutung („Wissen, wer die eigentli-

chen Freunde sind!“); • Bewusstheit eigener Stärken und Kompetenz, bei gleichzeitigem Bewusstsein

der eigenen Verletzbarkeit; • Entdecken neuer Lebenswege; • Entwicklung eines religiös-spirituellen Bewusstseins.

Dahinter steht die Erkenntnis „Aus einem Verlust entsteht ein Gewinn“ (Zöllner u.a. 2006: 38) oder, wie es im allgemeinen Sprachgebrauch häufig formuliert wird, „Wer weiß, wofür das gut war?!“. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass eine pauschale Betrachtung von Reifung schnell zu einer Relativierung und Bagatellisierung der Gewalterfahrung führen und Betroffene unter neuen Druck und Belastung setzen kann, wenn entsprechende Veränderungsprozesse ausbleiben. Beides birgt die Gefahr der Reviktimisierung traumatisierter Menschen. So sollte es dabei also keineswegs zu der Fehleinschätzung führen, dass solch ein Reifungsprozess für die Betroffenen immer unbedingt mit einer Abnahme von weiteren emotional-negativen Erfahrungen einhergeht. „Als eine postulierte Folge der Auseinandersetzung mit traumatischen Ereignissen ist PTG [= Posttraumatic Growth = Posttraumatisches Wachstum] eine bedeutsame subjektive Veränderung in der kognitiven und emotionalen Struktur einer Person [...]. PTG ist […] keinesfalls gleichzusetzen mit einer Zunahme an Wohlbefinden oder einer Abnahme des Stresserlebens. Wachstum und Stress können für manche Menschen sehr wohl nebeneinander bestehen. PTG wird daher als ein Nebenprodukt von verstärkten Bewältigungsanstrengungen betrachtet.“ (Juen u.a. 2009: 11)

Nicht jede anscheinend positive Entwicklung nach einer traumatischen Erfahrung steht jedoch für solch einen oben beschriebenen posttraumatischen Reifungsprozess. Auch posttraumatische Belastungsreaktionen weisen immer wie-

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der eine für das betroffene Kind sinnhafte Funktionalität auf, z.B. Schutzfunktionen bereits in der Anfangsphase der Entstehung. Sie stellen somit einen „minimal kontrollierten Ausdrucksraum“ im Rahmen des individuellen traumakompensatorischen Schemas dar (Fischer/Riedesser 1999: 369), der einen, wenn auch oftmals unzureichenden, Bewältigungsversuch des Kindes oder Jugendlichen darstellt, die traumabedingte Destruktivität zu überwinden. „Diese und ähnliche Ergebnisse“, so Juen und Kollegen (2009: 12), „verweisen darauf, dass ein Leiden an Symptomen nach traumatischen Ereignissen verstärkt bestimmte Bewältigungsstrategien in Gang setzt, die dazu dienen sollen, das Ereignis zu bewältigen und die eigenen Emotionen zu regulieren“. Es darf an dieser Stelle jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass der Posttraumatische Wachstumsgedanke, ebenso wie die Resilienz, keine zielgerichtete Konzeption darstellt, die sich durch die Berücksichtigung der richtigen spezifischen Kategorien einleiten oder herstellen ließe. Stattdessen gilt es zu berücksichtigen, dass innerhalb dieses Konzeptes eine Doppeldeutigkeit − von Maercker und Zöllner (2004) auch als Janus-Köpfigkeit des Posttraumatischen Wachstums beschrieben − festzustellen ist: • einerseits eine konstruktive Seite im Sinne einer positiven, reifenden Selbst-

und Weiterentwicklung • und andererseits eine illusorische Seite von Selbsttäuschung, verbunden mit

,Nicht-wahr-haben-Wollen‘ zur Selbstberuhigung. In der fachlichen pädagogischen Analyse individueller Entwicklungsprozesse nach traumatischen Erfahrungen ist also eine differenzierte Betrachtungsweise notwendig, denn „inwieweit die unterstellte illusorische Seite von posttraumatischem Wachstum eine kurzfristig erfolgreiche Bewältigungsstrategie ohne Folgen für die psychische Langzeitanpassung darstellt oder einen behindernden Effekt auf die psychische Verarbeitung der Traumafolgen haben kann, ist von individuellen Faktoren abhängig. Letzteres kann dann auftreten, wenn das ,Sichversichern positiver Traumafolgen‘ mit der Vermeidung der Auseinandersetzung mit negativen, belastenden Traumafolgen verbunden ist. Dann kann die Bewältigungsstrategie des ,Sicherinnerns an positive Folgen‘ (benefit reminding) zur kognitiven Vermeidungsstrategie werden“ (Zöllner u.a. 2006: 41).

Allerdings lässt sich aus den Entwicklungs- und Wachstumsberichten von Betroffenen herauslesen, dass diese beiden Seiten nicht statisch sind, sondern sich in ihrer Deutung auch verschieben können, d.h.: auch das posttraumatische

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Wachstum stellt ein komplexes Modell dar, das nicht zu Simplifizierungen taugt. Es existieren jedoch heute schon einige Erklärungsansätze, die verdeutlichen, wie Reifungsprozesse gestaltet werden können. Die Intensität der bewussten Beschäftigung mit dem Trauma entscheidet über die „Wahrnehmung von persönlichem Gewinn (benefits) [...]. Neben diesem kognitiven Verarbeitungsmodus scheinen bestimmte Persönlichkeitseigenschaften wie Extraversion und Offenheit für neue Erfahrungen [...] posttraumatisches Wachstum zu erleichtern“ (Zöllner u.a. 2006: 40; vgl. auch Tedeschi/Calhoun 1995). Einen weiteren Einfluss auf den Wachstumsprozess stellt das individuelle soziale System dar, das den „Erwerb neuer Denk- und Betrachtungsweisen fördern und eine empathische Akzeptanz der Selbstöffnung gegenüber dem Trauma und reifungsbezogenen Themen ermöglichen“ (Zöllner u.a. 2006: 40) kann. Ist es also doch auch nur ein weiteres individualisierendes Konzept, das den traumatisierten Menschen für die Bewältigungsergebnisse von Belastungserfahrungen alleine verantwortlich macht? Worin liegt der Unterschied zu anderen traumastabilisierenden Konzepten, wie z.B. der Resilienz? Im Gegensatz zu anderen Modellen ist das Posttraumatische Wachstum nicht an bestimmte individuell charakteristische Persönlichkeitseigenschaften gebunden, ob nun existenzielle Lebenskrisen möglichst konstruktiv überwunden werden können oder nicht. Das Posttraumatische Wachstum ist – bedingt durch einen gelungenen sozialen Austausch – verbunden mit positiven handlungsorientierten Erfahrungen im kognitiv-emotionalen Bereich, welche die früheren prätraumatischen psychischen Funktionen vor der traumatischen Ohnmachtserfahrung übersteigen. „Das dadurch hervorgerufene psychische und emotionale Leid setzt einen kognitivemotionalen Verarbeitungsprozess in Gang, der anfänglich durch häufiges, automatisches Ruminieren [= ständiges Grübeln] über das Erlebte und dessen Folgen gekennzeichnet ist. Nach anfänglichen Bewältigungserfolgen in Form von reduziertem emotionalem Distress sowie der Verabschiedung von unerreichbaren Zielen kann sich die automatische Rumination allmählich in ein absichtliches Reflektieren über das Trauma und dessen Bedeutung verwandeln.“ (Zöllner u.a. 2006: 39)

Durch dieses neuere Verständnis von situationsanalytischer, sinnsuchender, kognitiver Verstehensleistung wird dieser Reifungsprozess mittlerweile auch als „kognitive Verarbeitung (engl. cognitive processing)“ (Zöllner u.a. 2006: 40) traumatischer Belastungen beschrieben. Berichte von persönlichen positiven Bewältigungserfahrungen müssen sich also an diesen kognitiven Kriterien messen lassen, denn eine illusionäre ‚Pseudo-Reifung‘ mag auch ein Produkt der ,Tyrannei des positiven Denkens‘ sein, die insbesondere mit dem

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,Wachstumsgedanken‘ in esoterisch angehauchten Kreisen verbreitet ist und auf Betroffene erheblichen Druck ausüben kann“ (ebd.). Wird den Betroffenen nämlich der illusorische Charakter des vermeintlichen Reifungsprozesses bewusst, sehen sie sich eventuell mit erneuten Ohnmachtsgefühlen, Schuld und Versagensgefühlen konfrontiert, die zu erheblichen neuen psychischen Belastungen führen können. Autonomie und Widerstand: erreichbare Ziele der Traumabewältigung? Traumatische Lebenserfahrungen, je früher und je häufiger sie gemacht werden mussten, haben drastische Auswirkungen auf die psychische und physische Autonomieentwicklung eines Kindes. Dennoch lässt sich im pädagogischen Umgang und der Beobachtung betroffener Mädchen und Jungen feststellen, dass die sogenannten posttraumatischen Belastungsreaktionen nicht als ,Störungen‘, sondern als Überlebensleistungen verstanden werden müssen, denn zunächst gilt es zu erkennen, dass diese eine funktionale Bedeutung für das Individuum, z.B. im Sinne von Schutz oder Verteidigung, haben. Somit ergibt sich in der pädagogischen Begegnung immer die vorrangige Prämisse, Sicherheit und Stabilisierung herzustellen und Symptome als sinnvolle Überlebensleistungen zu verstehen, statt sie zu bekämpfen (Fischer/Riedesser 1999: 221). Aus der Sicht biologistischer Erklärungsansätze strebt jeder lebendige Organismus nach Selbsterhaltung (Maturana/Varela 1984/1987). Als eine solche Tendenz lassen sich die überlebensorientierten Notfallreaktionen Kampf − Flucht − Erstarren interpretieren, die, wenn sie auch kognitiv nicht zugänglich sind, einzig das Überleben des Individuums sichern sollen. Weiterverfolgen lässt sich diese Perspektive in der Interpretation der posttraumatischen Symptome und dem Verständnis ihrer Entstehung, denn auch diese entfalten sich nicht aus dem Nichts heraus, sondern sind Ergebnis des Subjekt-Umwelt-Austauschs. „Die zentrale Annahme [...] ist, dass psychische Prozesse einen sozialen Ursprung besitzen und jede psychische Funktion zunächst eine soziale und äußere war, bevor sie verinnerlicht und zur i.e.S. psychischen wird.“ (Brandes 2014: o.S.) Dies bestätigt das selbstreferentielle Konzept, denn „[j]edes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun“ (Maturana/Varela 1984/1987: 31). So wird deutlich, dass die Autonomieentwicklung eines Kindes oder Jugendlichen auch unter erschwertesten Bedingungen eine individuell sinnhafte Bedeutung hat, die im pädagogischen Alltag unbedingt Berücksichtigung finden muss, um nicht zu fehlgeleiteten Hilfemaßnahmen zu führen; denn auch schwerst traumatisierte Menschen haben einen Anteil in sich, der nach Entlastung und Heilung strebt (Schwartz 2008). Werden solche Autono-

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miebestrebungen des Kindes missinterpretiert, falsch verstanden oder sogar aktiv bekämpft, muss das Mädchen oder der Junge Widerstandsverhalten entwickeln, um die eigene Integrität zu schützen. In pädagogischen Arbeitsfeldern führt dies jedoch häufig zu den massivsten Konflikten und immer wieder vorschnell auch zu Ausgrenzungs- und Ausschlussprozessen des betroffenen Kindes oder Jugendlichen. Ein weiterer zu berücksichtigender Aspekt ist, wenn sich die Kinder oder Jugendlichen weiteren pädagogisch-psychologischen Hilfen verschließen, also professionelle Hilfen gar nicht angestrebt oder angenommen werden. Auch dies stellt eine Option dar, die fachlich nicht einfach übergangen werden darf. Einen guten Grund, auf Hilfe zu verzichten, formulierte z.B. der Dichter Rainer Maria Rilke in einem Brief: Er fürchtete, durch eine Therapie mit dem Leiden auch die Kreativität zu verlieren, „ein neues (möglicherweise unproduktives) Leben zu beginnen [...], daß, wenn man mir meine Teufel austriebe, auch meinen Engeln ein kleinen [sic], ein ganz kleiner (sagen wir) Schrecken geschähe, − und − fühlen Sie − gerade darauf darf ich es auf keinen Preis ankommen lassen“ (Rilke 1912: o.S.). Professionelle Hilfe kann nur helfen, wenn Hilfe gewollt und als alternativ sinnvoll erachtet wird, egal wie alt die Adressat_innen sind. Die oben beschriebenen Konzepte können dem Verstehen dienen, wie der Mensch existenziell bedrohliche Schreckenserfahrungen überstehen kann, aber sie dürfen nicht den Eindruck vermitteln, sie seien eine triviale Lösung zur Bewältigung traumatischer Lebenserfahrungen, denn für viele Mädchen und Jungen ist und bleibt der Weg der Traumabewältigung kein leichter. Zudem ist der unklare zeitliche Rahmen mit in Betracht zu ziehen, denn es gibt bisher keine Erkenntnisse, in welchen Zeiträumen sich psychische Widerstandsfähigkeit oder Reifungsprozesse entwickeln. Gerade die Diskussion um die sogenannten spezifischen Schutzfaktoren individualisiert die Folgen der Traumatisierungen, wenn sie nicht in einen größeren Zusammenhang gestellt wird, der auch die verursachenden Gewaltstrukturen mit in die Betrachtung einbezieht. So zeigt sich ein großes Problem in einer unsachlichen inneren und äußeren Bewertung solcher Bewältigungsstrategien, die immer in der Gefahr stehen, erlebtes Grauen und Gewalt zu bagatellisieren, denn traumasensibel muss es immer auch um eine sozialpolitische Auseinandersetzung mit der Entstehung dieser Gewalt gehen. Gewalt und ihre Auswirkungen müssen aus pädagogischer Sicht auch als solche beim Namen genannt und entsprechende professionelle Handlungsstrategien vom zwischenmenschlichen bis in den sozialpolitischen Raum entwickelt werden. In diesem Zusammenhang kommt dem Sozialraum ,Schule‘ eine besondere Bedeutung zu: Zum einen bildet sie für Kinder und Jugendliche schon alleine zeitlich einen nicht unerheblichen Bestandteil des Alltags, zum anderen stellt die Teilhabe an Bildungsprozessen lebenslange Weichen. Besonders traumatisierte Mädchen und

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Jungen stehen jedoch in der Gefahr in Hilfs- und Bildungsangeboten vorschnell zu scheitern, mit allen negativen Konsequenzen für weitere oftmals jahrzehntelange biografische Zukunftsperspektiven. Lehrer_innen sind häufig erste und manchmal einzige außerfamiliäre Bezugspersonen für Kinder und Jugendliche mit traumatischen Belastungen. Umso bedeutsamer sind die Ergebnisse einer Studie der Universität Hannover zur „Wahrnehmung von Traumatisierung bei Kindern und Jugendlichen und ihrer Folgen durch Fachkräfte in Schulen“ (Ullrich/Zimmermann 2014): 90,2 % der Fachkräfte sahen sich im direkten Kontakt mit traumatisierten Kindern, aber 42,4 % hatten dabei keinen Kontakt mit interdisziplinären Kolleg_innen und 84,8 % kannten keine diagnostischen Methoden zur Erkennung von Traumatisierungen. Zahlen, die nachdenklich machen. Abschließend lässt sich sagen, dass ein traumatisiertes Kind in der Bewältigung grauenhafter Lebenserfahrungen nicht alleine stehen kann; es benötigt ein traumasensibles soziales oder fachliches Unterstützernetzwerk ohne vorschnelle Heilsversprechen. Aus pädagogischer Sicht hilft eine verstehende und zugewandte Grundhaltung der Fachkräfte, um die Komplexität dieser Verarbeitungsstrukturen anzuerkennen, denn immer wieder gilt es das kindliche Verhalten in seiner Vielschichtigkeit auch einfach nur auszuhalten. Traumatisierte Kinder werden ihren Weg in der Bewältigung des vergangenen Erlebten gehen, auf sehr einzigartige Art und Weise. Dazu brauchen sie verlässliche Beziehungsangebote auch in schwierigen Phasen. In dem Dokumentarfilm STARK FÜR'S LEBEN fasst es der 17-jährige Hugo aus Lissabon ganz einfach und treffend zusammen: „Sie mag mich. Sie hilft mir die ganze Zeit. Sie spricht immer gut über mich. Für mich ist das helfen!“. Literatur Brandes, Holger (2014): Entwicklung, soziokultureller Ansatz nach Wygotski. [https://portal.hogrefe.com/dorsch/entwicklung-soziokultureller-ansatz-nachwygotski; abgerufen am 18.08.2015]. Fischer, Gottfried/Riedesser, Peter (1999): Lehrbuch der Psychotraumatologie. München: Reinhardt. Fröhlich-Gildhoff, Klaus/Rönnau-Böse, Maike (2011): Resilienz. 2. Aufl. München: Reinhardt. Gurris, Norbert F. (2004): Therapie bei Traumatisierten. In: Sommer, Gert/Fuchs, Albert (Hg.): Handbuch der Konflikt- und Friedenspsychologie. Weinheim u.a.: Beltz, 541553. Hiller, Gotthilf G. (2008): „Resilienz“ − für die pädagogische Arbeit mit Risikojugendlichen und mit jungen Erwachsenen in brisanten Lebenslagen ein fragwürdiges, ja ge-

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fährliches Konzept? In: Opp, Günther/Fingerle, Michael (Hg.): Was Kinder stärkt. Erziehung zwischen Risiko und Resilienz. München, Basel: Reinhardt, 266-278. Juen, Barbara/Öhler, Ulrike/Thormar, Sirry (2009): Posttraumatisches Wachstum bei Einsatzkräften. In: Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft und Psychologische. 7 (1), 9-19. Kühn, Martin (2011a): Trauma als Destruktion des Dialogs mit dem Selbst, der Umwelt und dem Leben an sich. In: Sozial Extra. 35 (11), 12-15. Kühn, Martin (2011b): Wie sicher ist der „Sichere Ort“? – Einrichtungen der stationären Jugendhilfe als sichere Entwicklungsräume für traumatisierte Mädchen und Jungen. In: Zeitschrift für Systemische Therapie und Beratung. 29 (4), 152-158. Maercker, Andreas/Langner, Robert (2001): Persönliche Reifung (Personal Growth) durch Belastungen und Traumata: Validierung zweier deutschsprachiger Fragebogenversionen. In: Diagnostica. 47 (3), 153-162. Maercker, Andreas/Zoellner, Tanja (2004). The Janus face of self-perceived growth: Toward a two-component model of posttraumatic growth. In: Psychological Inquiry. 15 (1), 41-48. Maturana, Humberto R./Varela, Francisco J. (1987): Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Bern, München: Scherz. Rilke, Rainer M. (1912): An Emil Freiherrn von Gebsattel. Brief vom 24. Januar 1912. [http://www.rilke.de/briefe/240112.htm; abgerufen am 14.04.2016]. Rutschky, Kartharina (1977): Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung. Frankfurt: Ullstein. Sax, Peggy (2014): Trauma & narrative practice. [http://www.bekinbera.de/download/ Wiesbaden-2014_Sax-Vortrag.pdf; abgerufen am 14.04.2016]. Schulze, Heidrun (2007): Resilienz: Rückblickend Zukunft entwickeln. In: Miethe, Ingrid/Fischer, Wolfram/Giebeler, Cornelia/Goblirsch, Martina/Riemann, Gerhard (Hg.): Rekonstruktion und Intervention. Interdisziplinäre Beiträge zur rekonstruktiven Sozialarbeitsforschung. Opladen, Farmington Hills: Budrich, 213-226. Schulze, Heidrun (2014): Handeln, erzählen, verstehen. Bedingungen schaffen für das Sprechen und anerkennende Hören von Kindern, die Gewalt erlebt haben. In: Systhema. 28 (1), 8-33. Schwartz, Richard C. (2008): IFS. Das System der inneren Familie. Ein Weg zu mehr Selbstführung. Norderstedt: Books on Demand. Stamm, Margrit/Halberkann, Isabelle (2015): Resilienz – Kritik eines populären Konzepts. In: Andresen, Sabine/Koch, Claus/König, Jutta (Hg.): Vulnerable Kinder. Interdisziplinäre Annäherungen. Wiesbaden: Springer VS, 61-76. Tedeschi, Richard G./Calhoun, Lawrence G. (1995): Trauma and transformation: Growing in the aftermath of suffering. Thousand Oaks: Sage.

610 | M ARTIN KÜHN Ullrich, Franziska/Zimmermann, David (2014): Gewalt und Vernachlässigung – Belastungen, die Unterricht unmöglich machen? Wahrnehmung von Traumatisierung bei Kindern und Jugendlichen und ihrer Folgen durch Fachkräfte in Schulen. In: Zeitschrift für Heilpädagogik. 65 (7), 257-266. White, Michael (2009): Kinder, Trauma und das (Wieder)erschließen von „unterdrückten“ Geschichten. In: Systhema. 23 (1), 7-24. (engl. Orig. 2005). Wustmann, Corina (2004): Resilienz. Widerstandsfähigkeit von Kindern in Tageseinrichtungen fördern. Weinheim: Beltz. Zöllner, Tanja/Calhoun, Lawrence G./Tedeschi; Richard G. (2006): Trauma und persönliches Wachstum. In: Maercker, Andreas/Rosner, Rita (Hg.): Psychotherapie der posttraumatischen Belastungsstörungen: Krankheitsmodelle und Therapiepraxis. Stuttgart: Thieme, 36-45.

Filmverzeichnis STARK FÜR’S LEBEN (2008) (Deutschland, R: Lilly Grote)

Sorge Existenz, Resonanz und Differenz und ihre Implikationen für die Schule M ONIKA J ÄCKLE „The most basic idea of relational caring is to respond to each individual in such a way that we establish and maintain caring relations. […] But the living other is more important than any theory, and my theory must be subordinate to the caring relationship.” NODDINGS 2005: XVIII, HERV. I. O.

Ein traumapädagogisches Handeln, welches sich psychotraumatologisch begründet, kann nicht als pädagogisch ausgewiesen werden. Pädagogisches Handeln unterstützt Bildungsprozesse zur Entwicklung der Persönlichkeit und weniger zur Stabilisierung und heilenden Integration dysfunktionaler psychischer (Gehirn-)Strukturen. „Der pädagogische Anteil äußert sich also nicht in der Anwendung gewisser Ergebnisse auf die Pädagogik, sondern in der Auswahl solcher Phänomene, die von besonderer erzieherischer Bedeutung sind.“ (Bollnow 1965: 55) Relationalität, Verletzbarkeit und Sorge sind solche Kategorien, die insbesondere in den menschlichen Bedingungen der Gefährdung und in Phänomenen des ‚Leides‘ ihre pädagogische Bedeutung erhalten.1 Mit traumaspezifischen pädagogischen Verhaltensweisen, wie sie in Konzepten der Traumapädagogik verstanden werden, ist ein Set ausgewählter Handlungen gemeint, die Kinder und Jugendliche in erster Linie stabilisieren sollen. Mit

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Dieser Text ist die handlungstheoretische Reflexion des Beitrages Relationale Grenzgänge des Traumatischen (i.d.B.) und folgt damit einem schulpädagogischen Verständnis und Anspruch als Handlungswissenschaft.

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dem zugehörigen gängigen Traumabegriff sind zudem Normierungs-, Stigmatisierungs- und geschlossene Identitätspraktiken verwoben, die erzieherische Grundprobleme offenlegen, nämlich wie Generationenverhältnisse nicht nur Macht über die Bedeutungspolitik eines Phänomens besitzen, sondern auch machtvoll Aufwachsende mit Existenzweisen ausstatten, die darüber bestimmen, wer sie sind, wie sie sind und wie sie sein sollen. Eine pädagogische Haltung, die nicht kontrolliert, die keine ‚präventiven‘ Resilienztrainings verpasst, oder mit Sicherheitsrhetoriken Ungewissheiten verfügbar machen möchte, um Leid doch irgendwie in den Griff zu bekommen, findet im Folgenden in der Haltung der Sorge Ausdruck. Haltung realisiert sich erst in Handlungen: Eine Haltung der Sorge, die in konkreten Handlungen entlang der Figuren Existenz, Resonanz und Differenz Ausdruck findet, wird Thema dieses Beitrages sein. Sorge ist relational bedingt und wird im Weiteren im Verständnis von Noddings (2005) als Antwortverhalten verstanden, das die Lernbedürfnisse des Anderen, seine Lebenswelt und seine Biografie beim schulischen Lernen mit im Blick hat. Diese reflexiven Zugangsweisen zum Phänomen des Traumas als Phänomen massiven Leids stellt eine pädagogische Auseinandersetzung dar, die ein Subjekt-Werden durch Intersubjektivität in sozialen Verhältnissen (Thiersch 2014) thematisiert, welches ein Existieren in Resonanzverhältnissen ins Zentrum rückt und welches stets machtvoll, da von gesellschaftlichen Verhältnissen durchdrungen ist. Das Phänomen Trauma ist auf der Ebene der pädagogischen Situation zu verorten. Die pädagogische Situation kann als ein zeigendes (Aus-)Handeln von Herausforderungen, Fragen und Zweifel mit spezifischen Hilfestellungen (Erziehung) verstanden werden und über Erfahrungen mit Anderen, der Sache und der Welt (Bildung) zu SelbstBildungsprozessen führen, die den Einzelnen ermächtigen können (Stärkung) und ihn in ein zugehöriges Miteinander einbinden können (Solidarität). Darin ist Leid weder ausgeschlossen noch stigmatisiert, sondern Teil pädagogischer Lebenswelt und Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Reflexionen. Damit kann sich pädagogisches Denken und Handeln als Performativität des Sichtbaren und des Hörbaren entfalten ohne die Machbarkeitsund Kontrollideologie zu zitieren. Im Anschluss an den Text Relationale Grenzgänge des Traumatischen (i.d.B.) wird die Figur des Wohnens unter der existenzphilosophischen, phänomenologischen und poststrukturalistischen Denkfolie betrachtet und (schul-)pädagogische Fragestellungen zum Phänomen Trauma relevant gemacht. So steht die Figur des Wohnens jeweils für ein ‚Wie‘ im Umgang mit bildenden Einbrüchen im Kontext Schule. Daraus resultiert ein Plädoyer für eine reflexive Haltung der Sorge und Anerkennung im Umgang mit vulnerablen Kindern und Jugendlichen.

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Pädagogische Sorge und Bildung Unter pädagogischer Sorge verstehe ich ein verletzungssensibles Sehen, Denken und Handeln von Erziehungs- und Bildungsprozessen, welches sich auf relationaler Ebene des pädagogischen wie auch didaktischen Bezugs zeigt. Pädagogische Sorge stellt das mögliche Stetigkeitsmoment in den Unstetigkeiten des Lebens (Bollnow 1959) dar. Unter care als Kategorie für Fürsorge und Sorgetragen versteht sich eine reflexive Haltung, die in der Oikeiosis2 grundgelegt ist: die Zuwendung und die Gestaltung von persönlichen Beziehungen in Bildungsprozessen sowie das Ernstnehmen der Vulnerabilität durch die Relationalität und das Eingebundensein durch den Anderen in sozialen Anverwandlungsprozessen von Welt. Noddings betont die pädagogischen Resonanzbeziehungen, bei denen es darum geht, „wirkungsvolle Antworten auf ein breites Spektrum der von Schülern und Schülerinnen artikulierten Bedürfnisse, einschließlich intellektueller Bedürfnisse nach kritischem Denken“ (Noddings 2009: 113) zu geben. Beziehungen haben eine existenzielle Dimension, ereignen sich in Resonanz zu einem Du und sind mit den Dimensionen von Macht und Freiheit durchzogen. Care steht in dieser Linie für eine pädagogische Sensibilität auf den unterschiedlichsten schulischen Ebenen: Fürsorglichkeit eines förderlichen strukturellen Hintergrundes in Gestalt eines bildenden Lernens in Unterricht und Schulleben sowie Fürsorglichkeit in der Klassenführung wie auch in pädagogischen Resonanzbeziehungen. Pädagogische Sorge setzt damit eine Aufmerksamkeitshaltung voraus und realisiert sich als Antwortbeziehung in Schule und Unterricht. Wird die Kategorie der Sorge ernst genommen, dann braucht es eine Welt, der begegnet werden kann, die responsiv berührt, die „etwas sagt“ (Rosa 2016: 323). Denn eine Welt, die Aneignungsverhältnisse setzt, führt zum Verstummen (Rosa/Endres 2016). Resonante Kontaktweisen zur Welt, in der eine Haltung der Sorge Eingang findet, können als Gegenbewegungen zu Entfremdungsachsen gelesen werden, indem affizierende Verbindungslinien aktiv geknüpft und ge-

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„Der Inhalt der Oikeiosis ist die von den Eltern durch Zuneigung auf das Kind übertragene Form des intensiven Lebensimpulses, die dieses in Form von Zuwendung an die Eltern zurückgibt und zugleich in sich spiegelt, um sodann diesen gesteigerten Impuls in die Form von Zueignung der parentalen Fähigkeiten und Eigenschaften umzusetzen und dieses zusammengenommen mit den angeborenen Anlagen in sich als Ausgangspunkt zu nehmen, um sich in allgemeiner Form eigenschöpferische Fähigkeiten und Eigenschaften zuzueignen, ein autonomes Selbstwertgefühl, eine Selbstzugehörigkeit auszubilden und so die in sich zentrierte, allgemeine Form der Menschwerdung heranzubilden.“ (Wolfstetter 1993: 66)

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staltet werden und ein Weltausschnitt gewählt wird, in dem das Subjekt einen Widerhall finden kann (Rosa 2016: 327) und zwar in einer persönlich signifikanten Bildungspraxis: • Persönlich signifikante Bildungspraxis braucht relationale Bezogenheit zu ei-

nem Anderen und zur Sache, die die existenzielle Dimension des Lebens thematisierbar macht (Sorge und Existenz) • Persönlich signifikante Bildungspraxis braucht leiblich-affektive Sinn(es)erfahrungen in einem entschleunigten Zeit-Raum-Kontinuum (Sorge und Resonanz) • Persönlich signifikante Bildungspraxis braucht Räume für Eigensinn und Möglichkeiten, sich an den Rändern des (normativ) Lebbaren aufzuhalten und die Grenzen des Sichtbaren zu weiten, indem ,das Andere‘, das Unstete, auch das, was ängstigt, Platz bekommt (Sorge und Differenz) Pädagogische Antworten im Rahmen der Oikeiosis verlaufen in vier analytischen Wendungsbewegungen, die nun in Anlehnung an Noddings relational als Sorgetätigkeit zu lesen sind, worin sich gleichsam die Zeigefunktion der Erziehung verdeutlicht – im Sinne „wir zeigen einem anderen etwas“ (Prange 2005: 78) – ‚wir zeigen dir etwas mit Sorge‘ (und weniger ‚wir zeigen dir etwas, indem wir uns kümmern‘). So stehen „Aufmerksamkeit und Dialog“ (Noddings 2009: 113) im Zentrum: Zuneigung: Durch erfahrenes Fremderleben des Anderen im Prozess der Bildung (Figur des Wohnens) kann zu einem tieferen Selbsterleben gelangt werden. Kinder mit leidvollen Erfahrungen sind besonders angewiesen auf das Da-Sein und Mit-sein mit sinnlich-leiblich und emotionalen Bezügen in einer Sorgebeziehung. Bollnow sieht in der Geborgenheit und insbesondere im Gefühl des Vertrauens die „erste unerlässliche Voraussetzung für alle gesunde menschliche Entwicklung und damit auch für jede Erziehung“ (Bollnow 1968: 18). Zuwendung: Die „doppelte Optik“ ermöglicht das Changieren der Perspektive des Anderen, d.h. die Wirklichkeit mit den Augen des Anderen zu sehen. Kinder mit leidvollen Erfahrungen sind in ihrem Kontaktverhalten unterbrochen und eine Hinwendung zum Anderen ermöglicht eine Hinwendung zu sich selbst über einen vulnerabilitätssensiblen und anerkennungsorientierten Dialog, welcher von einer Sorgehaltung (care) getragen wird. Zueignung: Das Sich-zu-eigen-Machen ist die ,Verdauung‘ von Welt, die sich Eindrücke aus Resonanzverhältnissen anverwandelt und einverleibt. Dieses generiert Verstehen und ermöglicht aktive Verständigung. Über Erfahrungen bildenden Lernens, was als Kernstück des schulischen Auftrages gilt, ist das

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,sich-zu-Eigen-Machen‘ von Weltausschnitten Ausdruck von Eigenmächtigkeit und Gestaltbarkeit. Hier fungiert care als Hintergrundbedingung, die das Lernen weniger riskant macht. Zugehörigkeit: Am sozialen und kulturellen Netz sinnhaft und gestaltend mitzuspinnen, sich partizipativ zu ermächtigen und sich mit Welt-Bezügen zu verbinden, ermöglicht eigene leidvolle Erfahrungen im Sinne einer eigensinnigen transitorischen Überschreitung einen Platz zuzuweisen. Exkurs: Bedürfnistheoretische Perspektive Aus pädagogischer Sicht wird die Oikeiosis durch das Phänomen der Zeitlichkeit, der Räumlichkeit, sowie der Reflexivität differenziert und zwar im Hinblick darauf, wie diese Faktoren als Wahrnehmungsweisen in Beziehungsprozessen erlebt werden. Traumatisches Erleben bezieht sich auf einen konkreten Menschen, der in einer konkreten Situation eine konkrete Erfahrung macht, sodass jede folgende objektivierbare Variable erst im subjektiven Erleben (mit Anderen) Bedeutung erhält und zwar im relationalen Modus des SelbstWeltverhältnisses: a) im Überraschungs- und Vorhersehbarkeitsgrad; b) in Häufigkeit, Dichte, Dauer und Stärke; c) in Gleichsinnigkeit und Widersprüchlichkeit; d) in der Gesamtatmosphäre, in welche die einbrechenden Erfahrungen gebettet sind; e) in der individuellen Gesamtkonstitution; f) in Lebensalter und lebensgeschichtlich bedingten Voraussetzungen; g) in sozialen Bezügen und Stützsystemen; h) in der eigentätigen und selbstbestimmten, interpretativen und interaktiven Auseinandersetzung (Weber 1996: 300). Das ,Wer‘ der Existenz und das ,Wie‘ der subjektiven Erlebensmodi trifft auf ein ,Was‘ der Erscheinung, auf kindliche Grundbedürfnisse, die ebenso vor dem Hintergrund relationaler Resonanzverhältnisse in eine subjektiv modulierte, gute Gestalt drängen und in Kindheit und Jugend bei Schließung für eine gelungene Oikeiosis stehen. „- physiologische Bedürfnisse – Bedürfnisse nach Essen, Trinken, Ausscheidungen, Schlaf, Wach-Ruhe-Rhythmus, Sexualität etc. - Schutzbedürfnisse – Bedürfnisse nach Schutz vor Gefahren, vor Krankheiten, vor Unbilden des Wetters, vor materiellen Unsicherheiten etc. - Bedürfnisse nach einfühlendem Verständnis und sozialer Bindung − Bedürfnisse nach Empathie für verbale und nichtverbale Äußerungen und nach dialogischer Kommunikation, nach sicherer Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft etc. - Bedürfnisse nach seelischer und körperlicher Wertschätzung – Bedürfnisse nach bedingungsloser Anerkennung als seelisch und körperlich wertvoller Mensch, nach körperli-

616 | M ONIKA J ÄCKLE cher und seelischer Zärtlichkeit, nach Unterstützung der aktiven Liebesfähigkeit, nach Anerkennung als autonomes Wesen etc. - Bedürfnisse nach Anregung, Spiel und Leistung – Bedürfnisse nach Unterstützung des Neugierverhaltens, nach Anregungen und Anforderungen, nach Unterstützung des Umwelt-Beherrschungsverhaltens etc. - Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung und Bewältigung existentieller Lebensängste – Bedürfnisse nach Entwicklung eines Selbstkonzeptes, nach Unterstützung der eigenständigen Durchsetzung von Bedürfnissen und Zielen, nach Bewusstseinsentwicklung, nach Bewältigung von Lebensängsten und Lebenskrisen etc.“ (Schmidtchen1989: 106)

Insbesondere für schulisches Lernen, welches den Oikeiosisprozess der Zueignung und Zugehörigkeit umschließt, sind nach Deci und Ryan (1993) die Bedürfnisse nach Autonomie, nach Kompetenz und nach sozialer Eingebundenheit zu nennen, die im Besonderen auch die Dimension der Bezogenheit, der „relatedness“ (Deci/Ryan 1993: 262) hervorheben und damit aufs Engste mit Anerkennung verbunden sind.3 So lässt sich als Zwischenresümee festhalten, dass die Modi der relationalen, intergenerativen Beziehungserfahrungen mit Anderen und der Welt maßgebend das Selbst formieren − wie es sich selbst sieht, erlebt und deutet, ganz im Sinne der dispositiven Subjektivierungsweisen. Der ,Ort‘ der Verletzbarkeit ist das Resonanzverhältnis als Anerkennungsverhältnis: • Das ,Wer‘ der Verletzbarkeit betrifft den Personenstatus, die Würde des Men-

schen, seiner Existenz. Hier sei mit Butler kritisch vermerkt, dass der Subjektstatus nicht einfach gegeben ist, sondern eine Frage ist, wann ein Mensch anerkennbar ist (Butler 2010). • Das ,Was‘ der Verletzbarkeit umschließt aus bedürfnistheoretischer Perspektive alle Dimensionen des Menschlichen, die letztlich mit einer sozialen oder leiblichen Todesbedrohung einhergehen und betroffen sind. Hier wendet sich ein individualistisches Traumaverständnis hin zu einem relationalem. • Das ,Wie‘ der Verletzbarkeit ist die Art und Weise der verstummenden Entfremdung (Rosa 2016), der Modus des sinnlich-somatischen Einbruchs (Wuttig 2016) unter eine Matrix der Intelligibilität (Butler 2005).

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Der Anerkennung als Bedürfnisse kommt besondere Bedeutung zu: Als Modi der Interaktionserfahrungen werden sensomotorische wie auch symbolische Affekte und Bedürfnisse einverleibt. So geht es vor allem im pädagogischen Bezug darum, dass das Kind erfährt, dass im Oikeiosis eine zugewandte Resonanz in dieser Welt tatsächlich möglich ist. Die Bedeutung des ,Gesehenwerdens‘ und ,Anerkanntwerdens‘ dieser Bedürfnisse ist von basaler Wichtigkeit.

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Die Gefährdungs- wie auch Möglichkeitsbedingungen schulischen Handelns werden im Weiteren – an der Figur des Wohnens anknüpfend – thematisiert. Bildendes Lernen im hier verstandenen Sinne betont vor allem Prozesse der Zueignung und Zugehörigkeit, welche nun im Hinblick auf die schulischen Implikationen von Existenz, Resonanz und Differenz herausgearbeitet werden. Relationale Grenzgänge Unter Rekurs auf die Metapher des ‚sich-selbst-Bewohnens‘ stellt Trauma (Trauma und Existenz) eine Entwurzelung im eigenen Sein dar, ein ‚in-die-WeltGeworfensein‘. Entsprechend der Haus-Metapher entspricht Trauma einer einbrechenden Lebenserfahrung. Bei einbrechenden Erfahrungen wird der leibliche Bewegungsradius unterbrochen. Darüberhinaus geht es um die Überwindung der ontologischen Festigkeit des Hauses, der Essenz eines Ichs. Von einer traumatischen Lebenserfahrung (Trauma und Resonanz) spreche ich dann, wenn die Differenzierung von Hintergrund und Figur, Sein und Welt kollabiert und die Sprengkraft die sinnlich-somatische Gerichtetheit zur Welt zerlegt wird und Orientierung nimmt. Die Intensität, Kraft, Dauer dieser Kollision ist imstande Existenzweisen zu erzeugen, deren Bewegungsradius implodiert und letztlich zur Immobilität des Leibes führt. Trauma als machtvolle diskursive Kategorie (Trauma und Differenz) ist an der Produktion von Vulnerabilität beteiligt, erzeugt ‚Entwürfe‘, Möglichkeiten und Beschränkungen wie man in der Schule leidend sein kann und wie Anerkennung gleichsam entzogen werden kann, wie Subjektivierungsangebote zu einer hochriskanten Gefährdung werden können, die - in sequenzieller Sicht - die Wunde des Traumas offenhalten können. Relationalität und Existenz Eine existenzphilosophische Betrachtungsweise unter Einbeziehung pädagogisch-anthropologischer Fragestellungen macht deutlich, dass das Phänomen Trauma als Ausdruck der Verletzungsoffenheit des Menschen kein besonderer Gegenstand einer spezifischen Subdisziplin ist, die eine ganz besondere Aufgabe zu erfüllen hat. Sie ist vielmehr Teil einer allgemeinpädagogischen Perspektivierung auf die Bedingungen menschlicher Offenheit zu Anderen und zur Welt (Relationalität), welche nicht nur die Bildsamkeit (Herbart) der Stetigkeitspädagogik (Bollnow) begründet, also die Lernfähigkeit und Erziehbarkeit des Menschen, sondern auch die Verletzbarkeit als Angewiesenheit und Ausgeliefertsein an den Anderen (Unstetigkeitspädagogik). Bollnows Interesse für den existenzphilosophischen Zugang zu pädagogischen Fragestellungen geht gleichsam mit einem Interesse seiner „Überwin-

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dung“ existenzialistischer Theorien einher. Er konstatiert „daß diese nicht die volle Wirklichkeit des Lebens wiedergeben, daß in dieser vielmehr noch andere tragende Kräfte vorhanden sind. Und diese anderen, verborgeneren und übersehenen und trotzdem wirksamen Kräfte müssen wir ans Licht zu heben versuchen, um vertrauensvoll dann unser Leben darauf zu gründen.“ (Bollnow 1963a: 22) Implikationen für die Schule Welche existenziellen Herausforderungen kann die Schule als öffentliche Bildungsinstitution für junge Menschen hierzu darstellen? Vor dem Hintergrund des Wohnens und der Bedeutsamkeit des Zurückziehens ins Verborgene ist jungen Menschen mit erschütternden Erfahrungen − so die hier entwickelte These − nicht immer gegeben sich (sowohl zu sich selbst als auch zu anderen) zurückzuziehen. Zurückziehen meint im bollnowschen Sinne Geborgenheit und Frieden in der Privatheit des persönlichen Raumes zu erfahren. Darin liegt bei traumatischen Erfahrungen gerade der Riss. So weist auch Arendt auf die Gefährdung hin, in die Sphäre der Öffentlichkeit ausgesetzt zu werden, exponiert zu werden und sich den Blicken der Anderen preiszugeben. Dies ist für alle Kinder eine Herausforderung, insbesondere für diejenigen, deren Oikeiosis bruchhaft verlief und/oder die darüber hinaus traumatischen Erfahrungen erlebt haben und dadurch mit dem konfrontiert werden, was sie ängstigt: sich zu exponieren und den Blicken der Anderen, der Öffentlichkeit, der digitalisierten Welt auszusetzen. Bildung ganz im Sinne der Oikeiosis braucht zunächst das Verborgene, die Geborgenheit und das Vertrauen des ‚Hauses‘, wodurch Erfahrungen des Übens, Überschreitens, Experimentierens, des Spiels gemacht werden können, sich der Welt anzuverwandeln. Denn erst diese Erfahrungen, die stets mit Ambivalenzen verbunden sind und mit Verletzbarkeiten einhergehen können, befähigen dazu, sich zu zeigen und sich einzumischen − als weitere Ziele der Bildung. Ansonsten kann der Zwang zur Exponiertheit mit massiver Gefährdung einhergehen.4 „Daß der Mensch das Wohnen aber erst lernen müsse, kann nur so verstanden werden, daß er durch seine Anstrengung den im Verlauf einer vielleicht unvermeidbaren, auf jeden Fall aber unheilvollen Entwicklung eingetretenen Zustand des Geworfen-seins in den des Wohnens verwandeln müsse.“ (Bollnow 1963: 276)

4

Dies hat Konsequenzen für die Schule, da sie einerseits öffentlicher Raum ist, andererseits ein Bildungsraum, der − ganz in der Dialektik von Theodor Litt − Nischen des Vertrauens und des Rückzugs ebenso anzubieten hat wie auch Möglichkeiten sich selbst mit Anderen und vor Anderen zu zeigen.

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Darin lassen sich die pädagogischen Herausforderungen skizzieren, wie sie auf der Grundlage der Oikeiosis-Lehre implizit enthalten sind: (familiäre) Geborgenheit und (schulische) Zugehörigkeit als relationales Verhältnis im erlebten (Selbst- und Anderen-)Raum und ihr Kontrast zur umherirrenden Geworfenheit. Schule kann die Festigkeit des Hauses nicht ersetzen. Aufgabe von Schule ist es, im transitorischen Sinne Vertrauen zu fassen und mit der Außenwelt in Verbindung zu gehen, indem Schule vielfältige Ebenen menschlicher und dinglicher Begegnung ermöglicht. In der Schule einen Platz zu finden, durch den sich „bildende Lebenstätigkeiten“ (Hentig 2004: 101) vollziehen können in und durch „Anlässe für Einsicht und Freude“ (ebd.: 72, Herv. i. O.) durch Geschichten, Gespräch, Sprache und Sprechen, Theater, Naturerfahrung, Politik, Arbeit, Feste feiern, Aufbruch. Anlass von Bildung ist jedoch nicht nur die ‚ruhige See‘, sondern es ist das Brüchige, das Krisenhafte, das Differente, das Andere, das sich als ‚Existenz‘ zeigt und in der Existenz (heraus)fordert, irritiert, ins Wanken bringt und letztlich im eigenen Handeln selbst-ver-antwortend und sinnhaft gewendet werden kann. So ist es Aufgabe von Schule als Lebens- und Bildungsstätte sich den Dimensionen des Lebens und Lernens zuzuwenden, die sich nicht nur auf das Gewohnte, Automatische und Selbstverständliche, also auf das „Man“ (Heidegger 1976: 126) beziehen, welches Alltagsfähigkeit und Sicherheit vermittelt und junge Menschen mit Kompetenzen für den Arbeitsmarkt ausstattet, sondern – und dies ist der existenzphilosophische Einschlag − ebenso auch das Dasein des Alltäglichen zu übersteigen versucht: Lebensangst, Tod, Ohnmacht, Schuld sind Teil des gelebten und erlebten Raumes Schule und entziehen sich einer „bildenden Formbarkeit des Menschen“ (Bollnow 1959: 16). Normative Kompetenzraster in Gestalt von Bildungsstandards orientieren sich an der „Stetigkeitspädagogik“ (ebd.: 19), an steten Entwicklungen, einem kontinuierlichen Wachstum der Humanressourcen und einem effizienten Kompetenzfortschritt. Diese prallen auf eine existenzialistische Unverfügbarkeit und Ungewissheit, welche in den „unstetigen Formen des Lebens und der Erziehung“ (ebd.) Ausdruck findet oder, wie Hartmut von Hentig mit seinem Satz „das Leben bildet“ (Hentig 2004: 39ff.) formuliert: Krisen erreichen das Innerste, berühren die Existenz, beunruhigen. Sie erfordern eine Hin-Wendung dessen, was ist, was irritiert, wodurch Lernen herausgefordert wird entlang von Subjektivität, Sinn und Freiheit und sich damit der Planbarkeit entzieht. Die Aufgabe von Erziehung liegt „im Trost und im Beistand“ (Bollnow 1968: 16), die Aufgabe von Bildung liegt im Angebot einer Auseinandersetzung mit Sinn und mit Freiheit in subjektiv bedeutsamen kulturellen Erfahrungszusammenhängen.

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Subjektivität Aus existenzphilosophischer Perspektive geht es hier nun nicht um das Subjekt Schüler_in oder das Subjekt Traumatisierter, sondern um konkrete Personen mit konkretem Erleben, also um die Subjektivität des Menschen einerseits und Individualität des Menschen andererseits. Die ethische Dimension der Sorge zeigt sich an dieser Stelle in der relationalen Sorge zu einem Menschen von Angesicht zu Angesicht („caring for“) und weniger in der Sorge als fürsorglichem Verhalten eines „sich Kümmern um“, welches die fürsorgliche Beziehung nicht betont („caring about“) (Noddings 2009: 107). Diese Form der Sorge richtet sich auf die Subjektivität, welche wiederum auf Erfahrung zielt. Denn: „Existenz ist - die Erfahrung der Freiheit, welche das Menschsein bzw. sein Selbstbild bestimmt, - die Erfahrung der vielfältigen Möglichkeiten, sein Leben zu führen, seinem Leben einen Stil zu geben (,Sich in eine Form zu bringen‘), aber auch – und damit notwendig verbunden – - die Erfahrung der Verlassenheit und des Alleinseins.“ (Reichenbach 2007: 166)

Bollnow plädiert für ein zu-Hause-Sein im eigenen ‚Haus‘ und stellt die Geborgenheit als bedeutsamen pädagogischen Anteil heraus. Hat der Mensch ein solches gelebtes räumliches Verhältnis zu sich und zu Anderen nicht, ist „der Mensch in der Zufälligkeit eines ‚irgendwo‘ verloren“ (Bollnow 1963: 273). So hat die Schule als zweiter Raum (neben dem Elternhaus als ‚erstem Raum‘) auch die Aufgabe, dem Erleben ein Zuhause zu geben, jedoch weniger über die familiäre Geborgenheit, sondern vielmehr über Achsen des Vertrauens, der Zugehörigkeit und der Teilhabe, sodass Schule als Raum der Anerkennung die Geworfenheit ‚auffängt‘. Sinn Die existenzphilosophische Grundausrichtung bezieht sich − wie oben bereits betont − neben all ihrer Düsterkeit auf subjektiv bedeutsame Werte und Sinnbezüge eines Einzelnen und nicht auf Werte und Normen eines (Je)man(d). Das Eintauchen von (subjektiv bedeutsamen) Sinnverhältnissen im alltäglichen Tun ermöglicht, sich selbst ins Leben zu bringen, sich über (bedingt autonome) Handlungen zu positionieren, zu entscheiden und Wirkungen der eigenen (diskursiv bedingten) praktischen Handlungsmächtigkeit zu erzielen. Gerade Kinder und Jugendliche, deren Sinn, deren Hoffnung und deren Vertrauen eingebrochen ist, können sich mit Hilfe eines schulischen, sich langsam annähernden Weltbezugs, subjektiver Beziehungsachsen und eines pädagogischen Verstehens in den

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sozialen Sinn-Kreislauf einklinken und dabei ihre Existenz über personale wie auch inhaltlich-fachliche Bildungsangebote erhellen.5 Eine Psychologisierung von Trauma betont Heilung, Integration und eine (Weg-)Behandlung von Leid. Ein existenzphilosophischer Zugang zu diesem nun pädagogisch verstandenen Phänomen betont das „Annehmen“ des „existentiellen Momentes im menschlichen Leben“, „das Durchstehen“ in Verbundenheit und das „Aufgefangenwerdens im Absturz“ (Bollnow 1959: 37). Dass dies stets auch eine „Gefährdung“ (ebd.) darstellt, steht außer Frage, jedoch fokussiert ein pädagogisch verstandener Zugang eine pädagogische Haltung und Unterstützung auf das Danach und geht mit pädagogischen Praktiken der Stärkung und Anerkennung einher. Hierzu bedarf es in erster Linie Raum für Tun und Erfahrung in Auseinandersetzung mit persönlich bedeutsamen Bildungsinhalten mit Gleichaltrigen. Für das Lernen spielen in diesem Zusammenhang die eigene existenzielle Situation, die soziohistorische Position der Klassengemeinschaft sowie die biografische Situiertheit als ‚existenzielle‘ Ergänzungen für eine didaktisch-pädagogische Bedingungsanalyse eine Rolle.6 Freiheit Die Schule ist als Bildungsort auch Stätte gesellschaftlicher Identitätsmarkierungen: Ich-zentrierte identitäre Architekturmatrizen sowie ihre institutionellnormativ aufgeladenen Arten und Weisen zu denken, zu handeln und wahrzunehmen, finden in interaktiven Zuschreibungen und materialen Identifikationsangeboten ihren Niederschlag. Zuschreibungen erfordern nicht nur Transparenz in der pädagogischen Praxis, sondern ebenso einen reflexiven Zugang im Hinblick auf die eigene biografisch-subjektive Situierung. Wie es Maxine Greene postuliert, ist Freiheit nicht gegeben, sondern liegt in der Art und Weise begründet, zu leben (Reichenbach 2007: 160): in Identifikationen (subjektivierend) aufzugehen oder ,Identitätsangebote‘ auch zu verwerfen. Damit ist Freiheit eine bedingte Praxis reflexiver Annahme oder Verwerfung:7 So geht es schlichtweg darum, jungen Menschen die Möglichkeit zu ge-

5

Vgl. Jaspers (1948: 301ff.) in Reichenbach (2007: 165).

6

Zum bildenden Lernen als sinnhaftem Lernen vgl. Jäckle i.d.B.

7

So betont Reichenbach, dass Sinn nicht eigeninitiativ konstruiert werden kann bzw. dass der Einzelne Sinn nicht selbst bestimmen kann. „Vielmehr bindet uns dazu die eigene Geschichtlichkeit, die Ereignishaftigkeit des Lebens und die nicht-souveräne Verwobenheit in das Zusammenleben mit den Anderen. Ich bin nicht frei zu bestimmen, was Sache ist, aber frei zu wählen, was ich unter den Gegebenheiten (meinen konkreten Möglichkeiten) tun will.“ (Reichenbach 2007: 186)

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ben, „Identifikationen, die dem Menschen Sicherheit, Erwartbarkeit und Kontrolle geben, transzendieren zu können“ (Reichenbach 2007: 160) unter Anbahnung von Fähigkeiten, Ungewissheit auszuhalten. Die Identitätszuweisung als traumatisierte/r Schüler_in bietet eine vorgefundene Identifikationsgrundlage, was mit einem selbst los ist, wer man ist und wie man ist, insbesondere durch die PTBS-Diagnose: Diese vermittelt Orientierung und ermöglicht Selbstverstehen vor einer psychotraumatologischen Folie. Sich aus einem Vorgefundenen zu lösen, das Raster des ‚Identitären‘ zu hinterfragen und zu fragen, was wichtig ist und wie das ‚Eigene‘ und der Eigensinn lebbar sind, d.h. sich seiner Existenz bewusst zu werden (im jasperschen Sinne der Existenzerhellung) und in eine Entscheidungs- und Handlungsmächtigkeit zu gehen, ist Herausforderung einer Pädagogik, die sich einer existenzialistischen Zugangsweise verpflichtet: Der Ort dieser Bewusstwerdung ist die „existenzerhellende Kommunikation“ (Jaspers 1932: 60ff.) und findet bei Bollnow Ausdruck in der „Begegnung“ (Bollnow 1959: 87-101). Die Lebenswelt junger Menschen heute kann sich beispielsweise der globalisierten Kriegsführung nicht entziehen. Die vor allem medial geführte Sicherheitsrhetorik rüstet durch emotionalisierende ‚Identitätsangebote‘ gegen den Terror auch in Deutschland auf. Angst und Freiheit – zwei Begriffe, deren Aktualität nicht offensichtlicher sein kann: „Denn nur unter dem Angriff der Angst wird der Mensch aus seinem Alltagsleben herausgerissen und zu seiner eigentlichen Existenz aufgerufen. Die Angst ist, wie Kierkegaard sagt, der ‚Schwindel der Freiheit‘.“ (Bollnow 1965: 34) Freiheit in der Schule braucht ein Verständnis für Historizität, aktuelle kulturelle Bildungsinhalte der Lebenswelt, eine Haltung der Kritik (Foucault 1992) bzw. eine Offenlegung der Strategien dominierenden Emotionalisierungen durch Popularisierungen. All dies wiederum braucht Raum und Zeit, Anbahnung zu Kritik und Ermöglichung von Solidarität − jenseits der Vermessungspraktiken in Bildungsstandards. So stellt Hentig pointiert fest: „Unsere Frage lautet ja nicht: ,,Wozu soll ein junger Mensch heute ausgebildet werden? “, sondern: ,,Was für eine Bildung wollen wir den jungen Menschen geben?“ (Hentig 2004: 74) und schlägt folgende Kriterien vor, worin sich Bildung zeigen kann: „Abscheu und Abwehr von Unmenschlichkeit; die Wahrnehmung von Glück; die Fähigkeit und den Willen, sich zu verständigen; ein Bewußtsein von der Geschichtlichkeit der eigenen Existenz; Wachheit für letzte Fragen; und – ein doppeltes Kriterium – die Bereitschaft zu Selbstverantwortung und Verantwortung in der res publica“ (ebd.: 73).

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Relationalität und Resonanz „Im Resonanzmodus […] sind Menschen grundsätzlich verletzbar.“ (Rosa 2016: 643) Darin offenbart sich die Antwortbarkeit der dynamischen Bezogenheit (Relationalität). Und: Der Leib wie auch der umgebende Raum sind die grundlegenden Träger für Resonanz. Am Leib und im Raum entfalten sich Resonanzbeziehungen, die mit Atmosphären verschränkt sind. Nur in leiblicher Anwesenheit sind Atmosphären zugänglich, sie sind das, was räumlich-leiblich erfahren wird und was affektiv betrifft und betroffen macht.8 Resonanzphänomene basieren auf der „Verbundenheit mit und der Offenheit gegenüber anderen Menschen (und Dingen)“ (ebd.: 53) und beziehen sich auf einen betroffenen Leib in einem Raum als Weltbegegnung und sind damit stets auch atmosphärisch.9 In Atmosphären der Enge lassen sich nur schwer Resonanzbeziehungen zu Anderen gestalten und Resonanzverhältnisse zur Welt hervorbringen. Traumatische Gestaltbildungen können den Leib in eine Impulsivität der Dynamik, in eine Intensität des affektiven Volumens, in eine hochangespannte Weitung, in eine fixierte Gerichtetheit führen und ihn in ein leibliches ,Bewohnen‘ des ,Eingefrorenseins‘ bringen. Als „Prozess des Aufschaukelns“10 kann Trauma als „Resonanzkatastrophe“ (ebd.: 283) gelesen werden, die imstande ist, die eigene Vitalität zum Kollabieren zu bringen. Die vorigen Ausführungen halten entschiedene Implikationen für phänomenologisch-pädagogisches Sehen und Verstehen bereit und lenken den pädagogischen Blick von den Inhalten hin zu den Formen dynamischer Erfahrung. Dass diese Formen der Erfahrung von einem Erfahrungshorizont eines sozialen Kontextes abhängen, in diesem Falle der Schule mitsamt ihrer aktuellen Entwicklungen, wird im folgenden Thema sein. Implikationen für die Schule Atmosphären des Lernens im Zeit-Raum-Kontinuum: „Wenn mit dem Zeitverhältnis etwas nicht stimmt, ist es mit dem Weltverhältnis vermutlich ebenso.“ (Rosa/Endres 2016: 11) Das Raster der Normativität, das festlegt, was Schüler_innen am Ende einer Jahrgangsstufe können sollen, ist nicht nur eine Frage ihrer Kompetenzentwicklung, sondern auch eine Frage der

8

Vgl. Böhme (2013: 28ff.).

9

„In der Stimmung kommt nicht die ursprüngliche Einheit von Mensch und Welt oder von Subjekt und Objekt zum Vorschein, sondern ihre ursprüngliche, primäre, basale Bezogenheit.“ (Rosa 2016: 637, Herv. i. O.)

10 Aus der Psychotraumatologie ist die massive Kortisolausschüttung ein Beispiel für das Aufschaukeln stresshafter Körperreaktionen.

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Zeitlichkeit.11 „Die Beziehung der Menschen zu dem, was sie zu wissen glauben, wird scheinhaft. Es hat nur mehr wenig mit ihnen selbst zu tun. […] Es geht zu schnell.“ (Rumpf 1981: 172) Bildung braucht sinnhafte, leiblich ergreifende Erfahrungen mit Dingen und einen auf Resonanzbeziehungen basierenden Dialog mit Menschen in einem Zeit-Raum-Kontinuum, das keiner Kosten-NutzenRechnung unterzogen wird.12 Denn: „Sinnvoll erfahrene Lebenszeit und sinnvoll gestalteter Lebensraum kann man weder sparen noch kaufen.“ (Dauber 1998: 36) Als bildende (Gegen)Erfahrungen sind Momente des Affiziertwerdens von einem Gegenstand, einer Sache zu nennen, deren didaktische Herstellung und Verfügbarkeit begrenzt, also wenig planbar ist, sich jedoch dann zeigen kann, wenn Raum und Zeit bereitgestellt werden. In Gegenwartsmomente des Staunens eintauchen zu können, kann als sinnstiftende (Gegen-)Erfahrung (zum Entsetzlichen) gelesen werden und damit stärkend sein. Junge Menschen mit traumatischen Erfahrungen brauchen eine Schule, die gewaltsamen Eindrücken, verwirrenden Atmosphären und ambivalenten Beziehungen Zeit und Raum bietet für subjektiv bedeutsame, leibhafte Sinnbezüge. Die energetische Größe des Traumatischen hebelt die Idee einer lösungsorientierten, zielgerichteten Wirksamkeit pädagogischer Verhaltensmodifikation aus und führt in die Ambivalenz eines ‚Containerns‘ und Annehmens: Pädagogisches Sehen und Zeigen im Umgang mit verletzten Kindern und Jugendlichen ist in erster Linie kein Behandeln oder Machen, sondern mehr ein Sehen und ein Wahrnehmen geteilter Atmosphäre. Die hierfür notwendige Zeitlogik lässt sich nur schwer vermessen und flexibilisieren, zumal kindliche Bedürfnisse und Bedürftigkeiten weder rationalisierbar noch planbar sind. Resonanzachsen gestalten: Die Bedeutung des Lehrerhandelns beschränkt sich nicht darauf, dass der Einzelne zum Arrangeur von Lernanreizstrukturen, zum multimedial versierten Konstrukteur von Lernaufgaben mit kalkulierten Aufgabenformaten (unter besonderer Berücksichtigung des jeweiligen Anforderungsniveaus!) wird. Die Dimension der wechselseitigen Einleibung bzw. der zwischenleiblichen Beziehung transzendiert gerade ein technizistisches Verständnis pädagogischen Handelns und findet Ausdruck in der Gestaltung von Resonanzbeziehungen. Resonanz meint nicht Gleichklang, sondern geht mit einer Differenz einher, worin

11 Die Steigerungslogik der Moderne mit ihrem Imperativum der Beschleunigung ist ausschlaggebender Faktor für entfremdete Weltbeziehungen. 12 Vgl. Jäckle (2015).

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der/die/das Andere sichtbar wird und die Welt sich in Ausschnitten und Atmosphären zeigt: • Resonanz stärkt Motivation durch Selbstwirksamkeitserwartungen (Ro-

sa/Endres 2016: 56-63). • Resonanzfeedbacks basieren auf einer Aufmerksamkeitshaltung, die offen ist

• • • •

für alles, was mitschwingt, die das Atmosphärische des Lernens ernst nimmt (ebd.: 65-74). Resonanz ist mehr als Kompetenz und meint ein offenes, unverfügbares „InBeziehung-Treten mit einer Sache“ (ebd.: 77-85). Resonanzzonen des Vertrauens stärken das Selbstvertrauen (ebd.: 87-91). Ein Resonanzkompass gibt Orientierung und Sinn (ebd.: 93-97). Resonanzverhältnisse geprägt von Humor verflüssigen Weltverhältnisse und lösen Verhärtungen (ebd.: 107-111).

Angetan sein, sich ansprechen lassen, betont bereits Rumpf und verweist darauf, wie das „Einstudieren eines distanzierten Weltverhältnisses“ (Rumpf 1981: 200) die Sinnlichkeit umgeht und auf Entfremdungsbeziehungen basiert13; wenn also eine „instrumentelle Vergegenwärtigung der Erfahrungswelt“ eine „sich identifizierende Vergegenwärtigung“ (ebd.: 199) ersetzt. Vor dem Hintergrund jeder Didaktik braucht es Langsamkeit, Unmittelbarkeit und Gegenwärtigkeit, damit verwundete, schmerzende und erschöpfte Leiber nicht als „Unruheherde“ (ebd.: 201) verzeichnet werden. Abschließend möchte ich unter Rekurs auf Rosa dem heute dominierenden – v.a. in der schulischen Kompetenzkultur sich offenbarenden − „Beherrschen und Verfügen“ ein „Hören und Antworten“ (Rosa 2016: 762) entgegnen. Darin können verletzte Kinder und Jugendliche über Resonanzmomente zurück ins Lernen kommen. Hierzu braucht es Lehrkräfte, die imstande sind, Schüler_innen zuständige und beständige Resonanzbeziehungen anzubieten, sich emotional (be)treffen zu lassen, zum kritisch-reflexiven Denken herauszufordern, „Ungewissheitstoleranz“ (Dauber 2012: 1) in den zwischenleiblichen Prozess zu bringen und sich in Bezug auf Machtverhältnisse zu empören und aufs Spiel zu setzen.

13 „Die Grundqualifikation ist die Präsenz einer wirksamen inneren Zensur und Kontrolle. Zu lernen ist also in jedem Fall, die sinnlich manifest werdenden Medien der Äußerung (Körperbewegungen, animalische Körperfunktionen, Sprache) so in Gewalt zu bekommen, dass sie möglichst wenig von inneren Regungen, Reaktionen ausdrücken, ‚verraten‘.“ (Rumpf 1981: 21)

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Leibliches Lernen von Welt14: Ein Unterricht, der die Wahrnehmung zur Basis und Bedingung des Lernens macht, braucht Raum für eine Gegenwart, die sich nach Schmitz (2014) entfalten kann: Die Erscheinung einer Sache bzw. eines Weltausschnitts kann ergreifen, in die Weitung gehen, worin Weltausschnitte sichtbar werden und Lernen über „personale Emanzipation“ (Schmitz 2014: 41)15, also über Handlungsfähigkeit und Selbstermächtigung, möglich wird. Die Gegenwart kann sich zu einer offenen Weite entfalten, wenn die subjektive Gefühlslage der „primitiven Gegenwart“ (Schmitz 2014: 117) überschritten wird, indem Affekte reguliert werden können und damit Selbstwirksamkeit erreicht wird. „Kinder lernen leiblich“ betitelt Wolf (2016) das Praxisbuch zur leiblichen Kommunikation und hebt die Bedeutung der „primitiven Gegenwart“ (ebd.) bei Traumatisierungen als leibliche Erfahrung hervor. Die „primitive Gegenwart“ (ebd.) kann als Extremform leiblicher Enge beschrieben werden und zeigt sich oftmals im traumatischen Erleben: „Die Wirklichkeit packt einen so unmittelbar, dass man nicht mehr in Distanz zum Hier und Jetzt treten kann und nur noch aus tiefem Schmerz, zitternder Angst […] besteht.“ (Wolf 2016: 40) Diese kann letztlich in den Extrempol der Weite (Dissoziation) kippen und ins Nichts versinken. In beiden Bereichen ist Lernen nicht möglich. Eine Sensibilisierung in der leiblichen Kommunikation dient im Hinblick auf die Bedingungen des Lernens und auf die leibliche Verfasstheit des Schülers/der Schülerin als Quelle pädagogisch-didaktischen Verstehens, insbesondere dann, wenn Worte enden: Kinder und Jugendliche mit traumatischen Erfahrungen kommunizieren über leibliche Handlungsdialoge, Signale, Atmosphären mit entsprechender Betroffenheit sowie über eigene Befindlichkeiten. Gerade das Oszillieren zwischen den Polen der Enge und Weite ist im Trauma oftmals verletzt, sodass eine Besetzung der Extrempole Ausdruck für die leiblich verfasste, unerträgliche Betroffenheit (Enge) oder das Zeit-Raum-Kontinuum durchstoßende ,Nicht-da-sein‘ (Weite) darstellt. Lernen braucht als Einleibung das verbindende Band zwischen Enge und Weite und einen Umgang mit Tendenzen der Engung und Weitung. „Denn erst im Bereich mittlerer Spannung ist [...] [das Kind] in der Lage, Lernerfahrungen konstruktiv zu bewältigen.“ (Wolf 2016: 21) Pädagogisches, traumasensibles Handeln erfordert einen Umgang aus der Engung in die Weitung (beispielsweise beruhigen und Sicherheit vermitteln aufgrund z.B. intrusiver Geräusche − aus einengender Gegenwart befreien) und

14 Vgl. Wolf (2016). 15 Vgl. Wolf (2016: 43ff.).

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aus der Weitung in die Engung (z.B. Orientierung und leibliche Verankerung im Hier und Jetzt aufgrund dissoziativen Verhaltens). Relationalität und Differenz Die Analytik des Traumas als Dispositiv untersucht das Macht-WissenVerhältnis, die Politik des Traumas: wie Gesagtes und Getanes eine handlungswirksame Wirklichkeit hervorbringt und dabei subjektivierende Effekte erzielt, indem identitäre, ‚traumatisierte Existenzweise‘ ins Leben gerufen werden. Trauma aus der Perspektive der Dispositivanalyse macht auf die gesellschaftlichen Herstellungsweisen aufmerksam, die in ihrem Wechselspiel aus einem leidvollen In-der-Welt-Sein eine soziale Regulierungsarchitektur macht, innerhalb derer Leid erst durch das Raster gesellschaftlicher Berechtigung läuft, ‚ver‘messen wird und zu einem ökonomischen Faktor gerinnt, der auf der Bühne des Politischen, hier im nicht-resilienten Inneren, verhandelt wird. Wie oben aufgezeigt sind es die machtvollen Verknüpfungen zwischen den ganz unterschiedlichen Elementen, die das Phänomen Trauma (als soziales Phänomen) ins Leben zeichnen. Darin zeigt sich die Bezogenheit der Elemente, die soziale Wirklichkeit schaffen: Das Konglomerat der dispositiven Aspekte (Wissenschaftsdiskurs, medialer Diskurs, Alltagsdiskurs, diskursive Praktiken, symbolische und materiale Objektivationen sowie Subjektivierungen) erzeugen eine wechselseitige Wirkung, die eine diskursiv-strukturierte Welt wirklich werden lassen, in die Menschen mit besonders leidvollen Erfahrungen eintreten und dadurch Verluste erst erleiden. Implikationen für die Schule „Die Schule ist ein Ort, an dem junge Menschen sichtbar werden und auch unsichtbar sind, an dem ihnen Identitäten „zu“-„gesprochen“ werden oder ihnen entsagt werden, an dem ihnen ermöglicht wird, sich zu erkennen oder sich anders er-kenntlich machen zu müssen, an dem sie letztlich als jemand anerkannt werden oder verworfen werden, an dem sie „als jemand“ sein können oder auch „niemand“ sind. All das ist eingebunden in Kämpfe, deren Macht sich über eine (normalisierende) Bindung an „Identitäten“ offenbart und mit Verletzbarkeiten einhergeht.“ (Jäckle et al. 2016: 13)

Schulische ‚Lebensfähigkeit‘ hängt somit deutlich von den Bedingungen der Anerkennbarkeit ab, die die kontingenten Grenzen des Sag- und Machbaren regulieren und festlegen, wann die Verletzbarkeit einer Erfahrung sichtbar werden darf. Das, was der hegemoniale Traumadiskurs an machtvollem Wissen transportiert, stellt gleichsam das für wahr genommene Wissen über Trauma dar.

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Dies hat zur Folge, dass Kinder und Jugendliche als traumatisiert oder nicht traumatisiert gelten. Dieses diskursive Wissen strukturiert gleichsam wiederum die Wahrnehmungen und die entsprechenden pädagogischen Deutungs- und Handlungsweisen von Lehrkräften. Vor dem Hintergrund des hegemonialen Traumawissens einschließlich der kategorialen Diagnosesysteme ist die Schule in ihrer dispositiven Infrastruktur Teil der strategischen Aufrechterhaltung der binären hierarchischen Ordnung (gesund – krank; funktional – dysfunktional). In alltäglichen Interaktionen, in denen Schüler_innen adressiert und als traumatisiert angerufen werden, machen sie Erfahrungen des Denkens, Handelns und Fühlens einer medizinischen Subjektpositionierung. Schüler_innen, die durch das Raster des Vulnerabilitätskodexes fallen, die nicht nur vom Normalen ins Anormale fallen, sondern ins Unsichtbare, da sie selbst in den medizinischen Diagnosemanuals des Ab-Normen durchrutschen, müssen im ‚Außerhalb der Normen der Anerkennbarkeit‘ leben. Damit wird die Frage virulent: In welchen Anerkennungsverhältnissen bewegen sich Kinder und Jugendliche in der Schule? Die in der Schule durch die Schulpsychologie bereits flächendeckend implementierte Ordnung der Vulnerabilität mitsamt ihren diskursiven Strategien basiert auf Ein- und Ausschlüssen, welche sich in spezifisch manualisierten Interventionen bewegen. Die Legitimation und Handlungsorientierung hierbei ist nun eben keine pädagogische (welche an der individuellen Entwicklung, Lebensgeschichte und am Eigensinn ansetzt), sondern eine, die die kategoriale Testung als oftmals einziger Handlungsgenerator für Wahrheitswissen in die Wirklichkeit bringt bzw. regelrecht in die Wirklichkeit misst. Es geht nicht darum, dass Lehrer_innen Dispositivanalytiker_innen werden sollen, sondern sensibel dafür werden, dass das eigene pädagogische Denken und Handeln Teil eines Machtbeziehungsnetzes ist und dass Vulnerabilität in und durch subjektivierende, pädagogische Angebote mit produziert werden kann. Damit werden die Spuren sozialer Verwundbarkeit betont und nun eben nicht das naturgemäße Faktum menschlicher Vulnerabilität. Eine pädagogische Anerkennungspraxis vor dem Hintergrund einer dispositivperspektivischen Auseinandersetzung kann von drei reflexiven Momenten formuliert werden: Reflexives Sehen: Reflexives Sehen heißt das Unsichtbare, d.h. das was aus der Vulnerabilitätsmatrix herausfällt, sichtbar werden zu lassen. „Normen werden dann am sichtbarsten, wenn Subjekte ‚anecken‘, wenn Verhaltensweisen oder Handlungen auffallen, wenn letztlich Grenzen zu Tage befördert werden, die ausschließen, die das Getane oder Gesagte als nicht-verstehbar markieren [...].“ (Jäckle et al. 2016: 145) Das Gesehenwerden von Anderen im Lichte des Sichtbaren stellt

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nicht nur die Bedingung von Anerkennung16 her, sondern auch die Möglichkeit der Zugehörigkeit bzw. der sozialen Teilhabe. Traumatisierte Kinder und Jugendliche, gelten dann als traumatisiert, wenn sie entsprechende Symptome zeigen. Diese psychotraumatologisch gesetzten Normen ermöglichen damit eine sozial lebbare Existenz des Verletztseins. Unglückliche, leidende Kinder, die das Symptomraster der Traumasymptome nicht erfüllen, bleiben unsichtbar. Kinder und Jugendliche, deren Verhaltensweisen also nicht entsprechend einfangbar sind, bewegen sich entweder in anderen Störungsfeldern oder fallen durch das Raster des Anerkennbaren. Dies zeigt sich besonders deutlich in der Wissensfigur der Komplextraumatisierung, da Kinder mit komplexer Traumatisierung oftmals nun eben nicht die standardisierten Traumasymptome zeigen. Reflexives Verstehen: Reflexives Verstehen stellt die Herausforderung dar, dominierende Sinnzusammenhänge in ihren Wirkungen und Strategien offenzulegen: Kinder und Jugendliche sind nur in ihren sozialen Kontexten und gesellschaftlich-historischen (dispositiven) Verhältnissen zu verstehen. Dies fordert dazu auf, den Einzelnen (Subjekt) nicht von der Institution (Struktur) zu trennen, sondern die Wechselwirkung der Verhältnisse, das subjektive Erleben, die pädagogische Situativität, den schulisch-institutionellen Auftrag und sein Reglement sowie die vorhandenen Wissensformationen miteinander in Beziehung zu setzen. Verständlichkeit von sich selbst braucht stets Verständlichkeit von Welt, der konkreten Lebenswelt (Thiersch 2014) wie auch von den diskursiven Mechanismen, wie gesellschaftliche Leitvorstellungen und Identitätsangebote den Einzelnen hervorbringen. Damit rückt ein reflexives-pädagogisches Verstehen eng an Bildung heran, sofern Bildung als Projekt verstanden wird, nicht „dermaßen regiert zu werden“ (Foucault 1992: 12). So geht es um ein individuelles Fallverstehen, welches stets von machtvollen Ordnungsstrukturen und ihren Normalisierungsstrategien durchdrungen ist, die für pädagogisches Verstehen zu berücksichtigen sind. Reflexives Positionieren: Normen generieren Orientierung, stellen Akzeptabilität her, sind in ihren Wirkungen produktiv und können beschränken, beschneiden, ausschließen und verletzen. Die herrschenden Normen der Vulnerabilität sind imstande Leid kenntlich zu machen wie auch Leid unsichtbar zu machen. Aus pädagogischer Sicht

16 „Die konstitutive Kraft der Anerkennung speist sich aus den Normen und ihrer subjektivierenden Macht: Sie bringt hervor, schränkt gleichzeitig ein und reguliert.“ (Jäckle u.a. 2016: 129).

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liegt hier das Anliegen, pädagogisches Handeln in den schulischen Anerkennungsakten verletzungsoffen und differenzsensibel zu gestalten. Darunter verstehe ich zunächst eine differenzreflexive Haltung: Ein bewusstes Umgehen mit Differenzverhältnissen (Ungleichheitsordnungen wie Gesundheitsordnungen, Geschlechter- und Begehrensordnungen, ethno-kulturelle Zugehörigkeitsordnungen etc.) erfordert eine reflexive Gestaltung von Beziehungen und ein Bewusstsein vom Eingewobensein in die Normativität gesellschaftlicher Wirklichkeit. So ist pädagogisches Handeln stets in ein normatives Bedingungsgeflecht eingelassen, worin unsere Antwortbarkeit erst Sinn macht. Sich in die normativen Spiele der Macht einzumischen, bedeutet so auch beispielsweise eine Infragestellung der einseitigen Dominanz schulpsychologischer Testdiagnostik unter Verweis auf eine pädagogische Beratung17 und Förderung, die Momente des Verstehens, des Bemächtigens, des Verhandelns und des Aufklärens ins Zentrum rückt. Differenzsensitives Handeln in pädagogischen Praktiken bezieht stets auch das Andere, nicht-Artikulierte und nicht-Gelebte in Betracht und reflektiert machtkritisch die eigenen Wirkungen. So sind beispielweise auch Praktiken positiver Diskriminierung zu nennen, die Lehrkräfte bei biografisch belasteten Kindern durch geringere Erwartungen an Kompetenzen vornehmen können und indem sie eine besondere Vorsicht und ein Mehr an unspezifischer Aufmerksamkeit in Gestalt eines Schonraumes vornehmen können. Dies kann das Gefühl von Hilflosigkeit noch weiter verstärken. Solange Kinder und Jugendliche als ‚defizitäre Andere‘ adressiert werden ohne dass die gesellschaftlich-historischen Differenzverhältnisse benannt werden, wird in pädagogischen Institutionen weiter ein pathologisierender Individiualismus betrieben. „Caring is a way of being in relation, not a set of specific behaviors.” 18 Die hier thematisierten schulpädagogischen Handlungsdimensionen sehen pädagogisches Handeln eng verknüpft mit den a) Bedürfnissen vulnerabler Kinder und Jugendlichen – vor allem in Bezug auf ihre Lebenswelt und ihren Lebenslauf mit der b) Kontinuität von Resonanzbeziehungen und mit c) kategorialen Bildungsangeboten. Noddings plädiert bei Letzterem für ein Curriculum, welches care ins Zentrum rückt: “care for self, care for intimate others, care for associates and distant others, for nonhuman life, for the human-made environment of

17 Vgl. Gröning (2006). 18 Noddings (2005: 17).

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objects and instruments, and for ideas” (Noddings 2005: 47). Dabei werden Lebensprobleme als Lernprobleme erachtet, was mit einer Haltung der Sorge einhergeht und in folgenden Handlungsimpulsen einen ersten Ausdruck in der Schule finden kann: „1.

Be clear and unapologetic about our goal. The main aim of education should be to produce competent, caring, loving, and lovable people.

2.

Take care of affiliatice needs. [...]

3.

Relax the impulse to control. [...]

4.

Get rid of program hierarchies. This will take time, but we must begin now to provide excellent programs for all our children. Programs for the non college bound should be just as rich, desirable, and rigorous as those for the college bound.

5.

Give at least part of every day to themes of care. [...]

6.

Teach them that caring in every domain implies competence. When we care, we accept the responsibility to work continuously on our own competence so that the recipient of our care-person, animal, object, or idea – is enhanced. There is nothing mushy about caring. It is the strong, resilient backbone of human life.“ (Noddings 2005: 174f.; Herv. i. O.)

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Quo vadis Traumapädagogik? Inspirationen, Konzepte, Fragen W ILMA W EISS Quo vadis Traumapädagogik? So titelte die BAG Traumapädagogik ihren Fachtag im Juli 2014 in Berlin. Und in der Tat, die sich mittlerweile ausdifferenzierende junge Fachrichtung steht vor vielen Fragen: Pädagogik oder angewandte Psychotraumatologie, Anpassung an die Normen der Gesellschaft oder Selbstbemächtigung, Individualisierung im Sinne einer Verschiebung von Regulierungen in das Individuum oder Kontextualisierung im Sinne der Berücksichtigung der Verhältnisse. Als Martin Kühn und ich vorschlugen, einen Fachverband für Traumapädagogik zu gründen, bewegte uns vor allem die unzureichende fachliche, finanzielle und gesellschaftliche Unterstützung der traumatisierten und zum Teil marginalisierten Mädchen und Jungen. Im Zentrum des Wirkens von Martin Kühn steht die Entwicklung der Partizipation, um die Teilhabebeeinträchtigung lebensgeschichtlich belasteter Kinder und Jugendlicher auszugleichen (Kühn 2009b). Als Behindertenpädagoge bezieht er sich auf die materialistische Behindertenpädagogik, die dazu auffordert, Behinderung als soziales Verhältnis auszumachen und strukturelle Gewalt offen zu legen, zu benennen und wenn möglich abzubauen (Feuser/Jantzen 1984). Für mich war das Er- und Miterleben von Selbstwirksamkeitserfahrungen in den Bewegungen der 70er Jahre in politischen, gewerkschaftlichen Zusammenhängen, in der Lehrlings- und Jugendzentrumsbewegung, der Frauenbewegung und der Bewegung zur Enttabuisierung sexualisierter Gewalt Grundlage für die Entwicklung der Pädagogik der Selbstbemächtigung. Die Menschen, die Teil der Bewegungen waren, erfuhren für sich und für andere eine neue Kraft. Die nach den 68ern möglich gewordenen gesellschaftlichen Bewegungen rückten die Subjekte als Handelnde wieder in den Mittelpunkt. Gesellschaft war veränderbar und in diesem Tun entwickelten die Menschen ihre Persönlichkeit in sozialen Beziehungen. Gefühle von Ohnmacht und ,Nicht-Dazugehören‘ wurden abgelöst durch gemeinsames Denken und Tun in

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solidarischen Zusammenhängen. Die Anerkennung und Enttabuisierung sexualisierter Gewalt in Folge der Frauenbewegung hatte für viele Frauen, Mädchen, Jungen und Männer eine befreiende Wirkung. Beide sind wir von den emanzipatorischen Ansätzen der Pädagogik inspiriert. Inspirationen der reformpädagogischen und emanzipatorischen Pädagogik Die reformpädagogische Bewegung „revolutionierte das Denken über Erziehung insofern, als sie die[se] Blickwendung zur Subjektivität generell vornahm“ (Giesecke 1997: 177) und veränderte damit die Pädagogik. „Mit der Entdeckung des kindlichen und jugendlichen Subjekts einerseits und dem Selbsterziehungsanspruch der Jugend andererseits bekam nun auch die pädagogische Beziehung zwischen Erwachsenen und Jugendlichen, bzw. Kindern eine neue Dimension“ (Giesecke 1997: 179), ein Verhältnis, das zwar Führung durch die Erwachsenen nicht ausschließt, allerdings die Beteiligung der Kinder und Jugendlichen mit eigenen Ideen und eigenem Handeln fördert, sozusagen auch der Ursprung der heutigen Partizipationsdebatte. Formen von Beteiligung und Selbstverwaltung der Kinder und Jugendlichen wurden entwickelt (Korczak 1967; Neill 1969, Kinderfreunde Bewegung, u. v. a. m.). In Chicago gründete der amerikanische Philosoph und Pädagoge John Dewey mit seiner Frau Alice Dewey eine Versuchsschule (laboratory school), in deren Mittelpunkt Lernen aus Erfahrung und die Demokratisierung der Erziehung standen. Der marxistische Philosoph Antonio Gramsci (1891-1937) erweiterte die Wechselseitigkeit des pädagogischen Verhältnisses in Erziehung und Bildung, indem er das „aktive Verhältnis wechselseitiger Beziehungen“ bei dem „jeder Lehrer immer auch Schüler und jeder Schüler Lehrer ist.“ (Gramsci zit. n. Sternfeld 2010: 62) betont. Die Lehrenden dürften nicht als ranghöher gedacht werden, weil sie über Wissen verfügen, das der Lernende noch nicht kennt. Der brasilianische Pädagoge Paolo Freire begriff – wie Gramsci – Lehrende und Lernende als Beteiligte an demselben Lern- und Bildungsprozess. Mit den von ihm in der zweiten Hälfte des 20. Jhdt. in Südamerika initiierten Alphabetisierungskampagnen im Kontext der Pädagogik der Befreiung stärkte er weltweit demokratische Basisprozesse und inspirierte damit die Diskussion einer gesellschaftskritischen und verändernden Pädagogik. Mollenhauer, der maßgeblich die kritische emanzipatorische Pädagogik in den 70er Jahren beeinflusste, sah, sich auf Rousseau beziehend, als zentrale Frage der Pädagogik, wie die junge Generation durch Erziehung darin gestärkt werde, die Gesellschaft zu verbessern (Mollenhauer 1970). Wie kann sie emanzipatorisch wirken und einen Beitrag zu einer freieren demokratischen Erziehung

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leisten? Die Diskussion um das Verhältnis der Beteiligten (Beteiligte am gleichen Lernprozess, Expertenschaft) wurde wiederbelebt. Die kritische pädagogische Theorie steigerte die Sensibilität für die Bedürfnisse der Adressat_innen. Die Praxis der Pädagogik der 70er Jahre war mit geprägt von der Selbst- und Mitbestimmung in der gemeinsamen Aktion von Pädagog_innen und Mädchen und Jungen, z. B. in selbstverwalteten Jugendzentren und in der Lehrlingsbewegung, Partizipation als Dimension der Vermittlung von sozialen, politischen und lebensweltlichen Prozessen. Aus der Praxis für die Praxis – zur Genese der Traumapädagogik Die junge Fachrichtung Traumapädagogik wurde für verschiedene Arbeitsfelder entwickelt, in denen traumatisierte Kinder und Jugendliche begleitet, unterrichtet und unterstützt werden. Sie ist in der Praxis und aus der Praxis heraus unter reflexiver Auseinandersetzung mit pädagogischen Leitgedanken entstanden. Traumapädagogik orientiert sich nach meinem Verständnis an den Grundannahmen und Intentionen einer emanzipatorischen Pädagogik, die sich den Zielen der Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität (Klafki 1991) verpflichtet hat. „Verstehen und Verständigung mit Kindern in den Mittelpunkt der Praxis (der Erziehungshilfen) zu rücken und das Wissen dazu zu gebrauchen, dass das so bleiben kann.“ (Struck 2014: 578) Diesen Leitsatz begreife ich als zentralen pädagogischen Handlungsauftrag. Ihre kreativen Verhaltensweisen, die immer wieder auch als ‚Störungen‘ diffamiert werden, sind als Strategien zu begreifen, die in extremen Lebenssituationen das Überleben ermöglicht haben (Bettelheim 1985; Böhnisch 2008). Mit Respekt vor der Überlebensleistung der Mädchen* unterstützen wir sie in der Entwicklung ihrer Potentiale zur Verantwortungsübernahme für sich und andere und in ihren Möglichkeiten, sich in sozialen und gesellschaftlichen Bezügen verstehend und selbstbemächtigt bewegen zu können (Freire 1967). Neben dem pädagogischen Grundverständnis macht sich die Traumapädagogik Wissenselemente aus der Bindungstheorie, der Psychoanalyse sowie der Psychotraumatologie zu Nutze, indem sie diese in ein reflexives Verhältnis zum pädagogischen Handeln setzt und damit theoriegeleitet in das Erziehungsverhältnis integriert. Spätestens seit der Enttabuisierung sexueller Gewalt Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre beschäftigen sich Pädagog_innen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sowie Pflegeeltern und ihre Beraterinnen mit der Frage, wie sie traumatisierte Kinder und Jugendliche im Alltag professioneller unterstützen

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können. Sie enttabuisierten die sexuelle Gewalt, ermöglichten ein Sprechen mit den Mädchen und Jungen, entwickelten Trainings zur Selbstbehauptung und boten spezialisierte Hilfen für Jungen, die auf der Täterseite reinszenieren (Enders 1995; Bange/Deegener 1996; Weiß 1996). Der Blickwinkel auf alle Formen von Gewalt gegen Kinder erweiterte sich und damit stieg das Interesse an den Auswirkungen verschiedener traumatischer Erfahrungen auf die Entwicklung der Mädchen und Jungen und an den Möglichkeiten einer pädagogischen Begleitung. Pflegeelternverbände boten Hilfe im Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen an (Stiftung zum Wohl des Pflegekindes 1998; Wiemann 2008 u. v. a.). Die Erkenntnisse der Psychotraumatologie boten eine Folie, um pädagogische Konzepte auf ihre Wirksamkeit zur Unterstützung der lebensgeschichtlich belasteten Mädchen und Jungen zu überprüfen. Traumapädagogik ist keine Therapie und Traumaexposition im klassischen therapeutischen Rahmen. Sie wurde notwendig als Unterstützung traumatisierter Mädchen und Jungen im pädagogischen Alltag. 2002 schlug sich diese Entwicklung in Büchern, Konzepten und der Institutionalisierung nieder.1 Die BAG Traumapädagogik Die Gründung eines Fachverbandes für Traumapädagogik zur Zusammenführung der traumapädagogischen Diskurse und der Qualitätssicherung der unterschiedlichen traumapädagogischen Projekte war überfällig. Pädagog_innen und psychosoziale Fachkräfte aus unterschiedlichen Professionen, aus Wissenschaft und Praxis organisier(t)en sich, um gemeinsam biografisch verletzten Mädchen und Jungen stärkende Unterstützung zukommen zu lassen, indem – qua Vernetzung, Kooperation, Weiterbildungsangeboten und Praxisgestaltung – psychosozialen Fachkräften und Pädagog_innen durch die BAG Orientierung und Expertise zur Verfügung gestellt wird. Interdisziplinarität und die Verbindungen von Theorie und Praxis dienen diesem Ziel. Zentrale Momente sind die Berücksichtigung gesellschaftlicher Verhältnisse, im Besonderen die Sensibilität für Differenzverhältnisse und der Einbezug des unmittelbar sozialen Klimas, wodurch sich die Lebensbedingungen verbessern (Wahle 2016).

1

Hierzu: die Eröffnung des Diskussionsforums www.traumapaedagogik.de durch Martin Kühn und Volker Vogt (2002), das Erscheinen meines Buches „Philipp sucht sein Ich. Zum pädagogischen Umgang mit Traumata in den Erziehungshilfen“ (2003), die Forderung von Primaria Katharina Purtscher aus Graz nach traumasensibler Behandlung und Pädagogik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und schlussendlich der Aufruf zur Gründung eines Fachverbandes für Traumapädagogik.

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Nach einem intensiven Diskussionsprozess stellte die BAG im November 2011 Standards für traumapädagogische Konzepte in der Kinder- und Jugendhilfe (www.bag-traumapaedagogik.de) vor. Seit 2010 gibt es ein von der BAG Traumapädagogik und der Deutschen Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT) entwickeltes Curriculum für die Weiterbildung zum/zur TraumapädagogIn und Traumafachberater. Derzeit diskutiert eine Arbeitsgruppe der BAG Traumapädagogik Standards zum traumapädagogischen diagnostischen (Fall-) Verstehen, eine andere beschäftigt sich mit Grundlagen der Traumapädagogik in der Schule. Traumapädagogische Konzepte In den letzten zehn Jahren ist eine Vielzahl traumapädagogischer Konzepte entstanden, die sich in der Schwerpunktsetzung und ihren Bezügen unterscheiden. Unterschiede erklären sich aus den jeweiligen Kontexten, in denen diese entstehen und den beruflichen Hintergründen der Protagonist_innen. Einige Konzepte kommen direkt aus der pädagogischen Praxis und beziehen sich auf pädagogische Theorie und Praxis, andere setzten ihren Schwerpunkt in die Übersetzung von therapeutischem Wissen, Wissenstatbeständen der Psychoanalyse und der Organisationsberatung, in die Unterstützung von traumatisierten Mädchen und Jungen: Pädagogik des sicheren Ortes (Kühn 2007, 2009) Pädagogik der Selbstbemächtigung (Weiß 2009) Die „traumazentrierte Pädagogik“ (Uttendörfer 2008) Emotionsregulation angelehnt an DBT (Schmid 2008) Traumapädagogische Gruppenarbeit (Bausum 2009) Stabilisierung und (Selbst)Fürsorge für Pädagog_innen als institutioneller Auftrag (Lang 2009) • Traumapädagogik in der Schule (Ziegler 2013; Ding 2009) • Milieutherapeutische Konzepte (Gahleitner 2011)

• • • • • •

Gemeinsam ist ihnen die Annahme des guten Grundes (Positionspapier der BAG Traumapädagogik, Grundhaltung 1.). Die Verhaltensweisen der Mädchen und Jungen sind lebensgeschichtlich verstehbar. Ihre Reaktionen sind eine normale Reaktion auf das, was sie erlebt haben, also keine Pathologie. Im praktischen Tun wurden unterschiedliche Positionen zu einem gemeinsamen Konzept weiterentwickelt. Das lässt sich insbesondere in der Entwicklung des sicheren Ortes verfolgen. Ausgangspunkt war die von Luise Reddemann

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vorgeschlagene Imaginationsübung „sicherer Ort“ (2007: 45f.) als eine Methode der Kontrolle über negative Gedanken und deren Auswirkungen auf das vegetative Nervensystem. Das Konzept der „korrigierenden Gruppenatmosphäre“ ergänzt diese innere Sicherheit um die äußere (Weiß 2003: 172). Kühn erweiterte den Begriff um die Partizipation (Kühn 2009) als entwicklungslogisch, fördernd und heilend. 2007/2009 wurde die Ergänzung des geschützten Handlungsraumes um die Pädagog_innen und Einrichtung von Kühn (2009) und Lang (2009) vorgeschlagen. Immer deutlicher wurde die Kritik an dem Begriff: Suggeriert ‚sicherer Ort‘ möglicherweise etwas Unhaltbares, ist er nicht eher ein andauernder Handlungsauftrag? Alle Konzepte betonen die Bedeutung von Bindung, jedoch mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Das Konzept der Bindungsbalance stellt einen mittleren Abstand und die Balance zwischen distanzierter professioneller Reflexion und persönlichem Engagement her (Schmid 2008: 8). Die Bedeutung der exklusiven Beziehung (Weiß 2003) wird durch die Heimerziehungsforschung belegt. „Sie suchen weiterhin nach dem Verlorenen oder erfolglos Gesuchten, nach Erwachsenen, die persönliche Verantwortung gerade für sie übernehmen würden, zu denen sie gehören könnten.“ (Wieland u. a. 1992: 95) Traumatisierten Mädchen und Jungen nutzt Beziehungsvielfalt. „Ausdrücklich geht es bei diesen Überlegungen jedoch um Beziehungsvielfalt, nicht um Beziehungsdyaden alleine.“ (Gahleitner 2011: 29). Auf jeden Fall beinhaltet ein auf Relationalität basierendes Grundverständnis von Pädagogik, die Mädchen und Jungen in der Reflexion ihres Beziehung- und Bindungsverhaltens auch kognitiv und alltäglich zu begleiten (Bowlby 1995: 129ff.; Weiß 2016:112ff.). Unterschiedlich bewertet wird die Bedeutung von Übertragung und Gegenreaktion. So halten manche Traumapädagog_innen die Berücksichtigung der Bedeutung traumatischer Übertragungen für unerlässlich, andere betonen die Gefahr eines inflationären Umgangs mit Übertragung und Gegenreaktion (Kessler 2016). Auch die Bedeutung der Gruppenarbeit wird unterschiedlich gewichtet. Da Traumatisierung immer auch ein Erleben von höchster Verlassenheit bedeutet, ist die Belebung der Gruppenarbeit meines Erachtens als Bestandteil von Traumabearbeitung ein wichtiger Beitrag gegen die Individualisierung von Leid. Gruppen, die sich gemeinsam mit den Folgen traumatischer Erlebnisse auseinandersetzen und die gemeinsam Strategien entwickeln und einüben, wie sie sich wieder ihres Selbst bemächtigen können (Bausum 2009; Medico 2001)

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Die Pädagogik der Selbstbemächtigung Die Notwendigkeit der Selbstbemächtigung begründet sich mit den Ohnmachtserfahrungen der Jungen und Mädchen. Trauma ist ein Ereignis oder eine Ereignisfolge, die die Individuen bis in die Grundfesten erschüttert. Zentral ist das Erleben von Ohnmacht, von Objekt sein. Traumabearbeitung bedeutet die Rückeroberung des Selbst durch das Verstehen des eigenen Gewordenseins, die Akzeptanz der eigenen Verwundbarkeit, die selbstbestimmte Regulation der traumatischen Erinnerungsebenen verbunden mit der Rückeroberung von Möglichkeiten der sozialen Teilhabe und, darüber hinaus, dem Einmischen in gesellschaftliche Prozesse. Sie ist in Auseinandersetzung mit den Lebensgeschichten der Mädchen und Jungen entstanden. Ein Element dieses Konzeptes ist der interdisziplinäre Zugriff auf das psychologisch-medizinische Feld der Psychotraumatologie, welches im Hinblick auf seine Erkenntnisse wertvolle Erklärungsweisen bietet und damit die Grundaufgabe des (geisteswissenschaftlich orientierten) pädagogischen Verstehens produktiv ergänzt. Das Menschenbild gründet in der humanistischen Pädagogik und der humanistischen Psychologie. Als Prämissen humanistischer Pädagogik beschreibt Dauber (2009: 71f.) folgende: • Kindliche Bedürfnisse und Potentiale werden prinzipiell positiv eingeschätzt;

• •



• • • •

insbesondere dem frühen Kindesalter kommt (wie in der Psychoanalyse) eine besondere Bedeutung zu. Daraus folgt das Postulat einer altersgemäßen Erziehung und Förderung in allen Entwicklungsphasen. Lernen ist nicht das ‚Ergebnis‘ von Lehre. ‚Gute‘ Lehre kann bestenfalls Impulscharakter für Lernen haben, sowie lern- und wachstumsfördernde Bedingungen zur eigentätigen Auseinandersetzung schaffen. Im Mittelpunkt pädagogischer Arbeit steht das selbsttätige und selbstverantwortliche schöpferische, kreative und produktive Handeln des Individuums in der Gemeinschaft. Zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden, Lehrern und Jugendlichen werden Beziehungen angestrebt, die von gegenseitigem Respekt getragen sind. Gruppenaktivitäten, Gemeinschaftsleben und demokratische Selbstverwaltung werden besonders gefördert. Pädagogische Aktivitäten sind eingebunden in gesellschafts- und lebensreformerische Ziele und Aufgaben. Besondere Aufmerksamkeit gilt dem Schutz von Minderheiten und der internationalen Verständigung

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Grundlage der Pädagogik der Selbstbemächtigung war und ist das ,VerstehenWollen‘ und der Respekt vor den Bewältigungsanstrengungen der Mädchen und Jungen im Hinblick auf die von ihnen erfahrenen Leidgeschichten. Dieser Respekt drückt sich auch in der Annahme des guten Grundes und der Expertenschaft der Mädchen und Jungen aus. Die Mädchen und Jungen wissen aus ihrem Erleben wie traumatischer Stress funktioniert und haben oft Regulationsmechanismen entwickelt, die nicht unbedingt fremd oder selbstschädigend sind. Wenn wir mit ihnen statt über sie reden, erfahren wir viel über die Dynamik von Traumata und mögliche Bewältigungsstrategien. Die Expertenschaft bezieht sich auf Ansätze der emanzipatorischen Pädagogik, die die Lernenden und Lehrenden als Beteiligte am gleichen Lernprozess sehen, als aktives Verhältnis wechselseitiger Beziehungen (Gramsci 2004; Freire 1967). Das fordert zu einem sorgfältigen Umgang mit der Sprache auf. Welche Begriffe verwenden die Pädagog_innen im Kontakt mit den Mädchen und Jungen? Sprechen wir von ,Psychoedukation‘ oder vom ,Selbstverstehen‘ oder benutzen wir Begriffe, die Distanzierung und damit das Ungleichgewicht 012134516137 Das Konzept der Expertenschaft wird durch die Verantwortungsübernahme des Erwachsenen auch als Korrektiv zu ihrer Erfahrung, sie würden alleine gelassen, ergänzt. Selbstbemächtigung bedeutet eine umfassende Partizipation der Expert_innen als konkreten Handlungsauftrag in pädagogischen Institutionen (Kühn 2009) und im gesellschaftlichen Umfeld. In der Tradition des Konzeptes „Demokratie als Lebensform“ (Dewey 1916) ist Partizipation ein auf die Gemeinschaft bezogener Akt der Selbstbestimmung (zit. n. Bönisch/Schröer 2007: 193), der in der Alltagskultur wirkt und sich hier mit dem politischen verbindet. Traumaarbeit ist stets in gesellschaftliche Verhältnisse eingelassen, so dass es kein Außerhalb des Sozialen geben kann – selbst auch dann nicht, wenn Trauma als mangelnde Bewältigungsfähigkeit des Einzelnen betrachtet wird. Für die Traumaarbeit bedeutet dies, dass sie stets am Verhältnis zwischen Individuum und Umwelt ansetzt und dies transparent machen oder eben auch verschleiern kann, wie es die hegemoniale Figur des medizinischen Diskurses vollzieht. Gerade im Umgang mit minderjährigen Flüchtlingen wird die Bedeutung des sozialen und gesellschaftlichen Hintergrundes einer traumatischen Erfahrung deutlich. Wird durch den gesellschaftlichen Umgang ihre Genesung behindert oder gefördert? In diesem Zusammenhang wird die Bedeutung des Konzeptes der sequentiellen Traumatisierung von Keilson deutlich. Er erweitert mit seiner Forschung den Blick vom dem urspünglichen traumatischen Ereignis oder der Ereignisfolge auf die Phase danach. Dass das Trauma aus unterschiedlichen Bedingungen in der Zeit danach doch nicht verarbeitet werden kann, sei ein wesentlicher Teil der traumatischen Erfahrung, sodass diese Zeitspanne „von vielen als

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die eingreifendste und schmerzlichste ihres Lebens bezeichnet wurde“ (Keilson 2005: 58). Die Kontextualisierung traumatischer Erfahrungen, die Aufhebung der Individualisierung (im Sinne der Zentrierung auf das Individuum) durch Verstehensprozesse und durch Methoden, die z. B. durch Belebung der Gruppenarbeit, durch Inhalte zur Partizipation aufrufen, dienen der Auflösung von Schuld, Scham und Isolation als ein wesentlicher Inhalt des Wechsels aus der Opferrolle in die selbstbemächtigte Teilhabe an sozialen und gesellschaftlichen Prozessen. Selbstbemächtigung bedeutet, dass die Mädchen und Jungen Stück für Stück das Gefühl für sich selbst wiederfinden, sich, ihre Übertragungen, Empfindungen und Gefühle wahrnehmen und regulieren lernen; dass sie gesellschaftliche und soziale Mechanismen verstehen und in guten Beziehungen möglichst selbstbestimmt leben. Für die kritisch emanzipatorische Haltung ist die Begleitung der Mädchen und Jungen in ihrer sozialräumlichen und gesellschaftlichen Bemächtigung, in ihrer Teilhabe an der Gestaltung der Welt, zentral. Abbildung 1: Die Pädagogik der Selbstbemächtigung

Quelle: Wilma Weiss

Verstehensprozesse anregen Das Bereitstellen von Wissen nutzt dem Verstehen und minimiert das Machtgefälle. Die Unterstützung zur Selbstregulation ist „einer dieser Ankerpunkte für die zu respektierende Eigensinnigkeit des Subjekts“ (Struck 2014: 584). Das Wissen um die Dynamiken traumatischer Erfahrungen, wie die veränderte Funk-

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tionsweise des Gehirns mit den daraus resultierenden Symptomen Übererregung, Dissoziation und Erstarrung, die Übertragung traumatischer Erfahrungen und die Wirksamkeit von Bindungsmodellen, hilft ihnen, sich selbst zu verstehen (Weiß 2009, 2014). Dieses Wissen hilft: „Ich hatte gelernt, dass der Versuch, die eigenen geistig-seelischen Reaktionen auf eine Erfahrung zu verstehen, psychologisch äußerst konstruktiv sein kann.“ (Bettelheim 1985: 21) Selbstverstehen umfasst nicht nur die individuelle Seite. Gesellschaftliches Wissen frei nach Bert Brecht „Wär ich nicht arm, wärst Du nicht reich“ oder z. B. über die Ursachen von Migration, erleichtert das Einordnen von Marginalisierung und Traumatisierung auch als gesellschaftlich bedingt (Brenssell 2013). Die Verstehensprozesse erleichtern die Entlastung von Schuld und Scham, heben Isolierung auf und öffnen den Weg zu alternativen, weniger selbst- und fremdschädigenden Verhaltensweisen. Des Weiteren geht es darum, das dreigliedrige Gehirn und seine Funktionsweise als auch die Übertragungen alter schädlicher Erfahrungen, auch der Bindungserfahrungen, zu verstehen (Weiß 2009). Eine mögliche Sicht auf Trauma sind die Neurowissenschaften, die zumindest mit der Erklärung der Vorgänge im Gehirn einen Teil der traumatischen Dynamik verstehbar machen. Das dreigliedrige Gehirn verstehen Die Mädchen und Jungen verstehen das: Bei Gefahr beauftragt die Warnzentrale, die Amygdala, das Reptiliengehirn, Energie bereitzustellen und fragt den Denker, ob auch wirklich Gefahr besteht. Kinder, die immerzu in Gefahr waren – davon kenne ich viele – fragen den Denker nicht mehr. Das Reptiliengehirn hat gelernt, gleich zu reagieren. Es stellt im Körper Energie bereit. Und es kann sein, dass Du dann hochgehst, erstarrst oder wegdriftest. Die 12jährige Lisa2 kennt das: „Ich bin dann wie ferngesteuert“, so die genaue Beschreibung von Lisa, die immer wieder ausrastet. Zur altersgemäßen Erklärung des dreigliedrigen Gehirns eignen sich die Zwiebel, ein Haus, eine Feuerwehrstation, ein Raumschiff und vieles andere mehr. Die Wirkkraft traumatischer Erfahrungen und Bindungserfahrungen verstehen Die Übertragung traumatischer Erfahrungen in aktuelle Beziehungen stört diese Beziehungen (Herman 1993) und behindert die Selbstbemächtigung. Die Dynamik ist ein normaler Vorgang. Traumatisierten Mädchen und Jungen hilft es, wenn wir mit ihnen darüber reden, dass Essen bunkern, schlagen, bevor man selbst geschlagen wird, seinen Körper anbieten, misstrauisch gegenüber der

2

Die Kinder sind reale Kinder, die Namen verändert.

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Hilfe von Erwachsenen sein oder Erwachsene bewachen, weil sie sonst abhauen, normale Reaktionen auf frühere Stresserfahrungen sind. Wir nennen das Übertragungen. Von besonderer Bedeutung für die Selbstbemächtigung ist die Veränderung ihres Bindungsverhaltens. Auch die beginnt mit der Information über die Normalität der Übertragung früherer Bindungserfahrungen. Auf dieser Grundlage kann ich zum Überprüfen auffordern: „Hilft Dir heute niemand wie früher?“, „Sind die Erwachsenen weg, wenn Du sie nicht siehst?!“ Das kognitive Verstehen ist der erste Schritt zur Veränderung. Veränderung, die mein Gegenüber selbstbestimmt vornehmen kann, indem sie mein Fachwissen als Expertin überprüft. Selbstakzeptanz unterstützen Die Entwicklung einer liebevollen fürsorglichen Beziehung zu sich selbst dient der Selbstsorge und der Entwicklung von Empathie. Mit der Frage: „Du tust das, weil...? “ (Weiß 2003) unterstützen Pädagog_innen sie auf der Suche nach dem guten Grund für ihr – manchmal störendes – Verhalten. Das Fragepronomen, ‚weil‘ transportiert im Gegensatz zu ,warum‘ Interesse an dem Mädchen, dem Jungen und an der Sinnhaftigkeit ihres Verhaltens. In Kinderworkshops „Stress lass nach“ erfahren sie, dass es anderen auch so geht. Aus Erfahrungen der Isolation können korrigierende Erfahrungen der Verbindung, sozialer Verbundenheit gemacht werden. Die Selbstakzeptanz der Wunden ermöglicht einen Raum für Mitgefühl für sich selbst und für andere. Weil die Mädchen und Jungen ihre eigenen Lebensleistungen, ihre Überlebensstrategien, ihre Fürsorge für Eltern und Geschwister, die sie unter schwersten Bedingungen ausgeübt haben, selten schätzen, ist die explizite Betonung der Lebensleistung, also eine kognitive externe Neubewertung ihrer Lebensleistung durch Pädagog_innen und ihre eigene Verinnerlichung sowohl Handlungsauftrag als auch Haltung. Selbstregulation begleiten Die Kernkonzepte einer Person von sich selbst resultieren zu einem beträchtlichen Grad aus ihren Fähigkeiten, innerpsychische Zustände zu regulieren. Der Verlust selbstregulatorischer Prozesse führt zu Störungen in der IchWahrnehmung. Zu ungenügender Affektmodulation und Impulskontrolle und zu Unsicherheit in Beziehungen (van der Kolk 2000: 173 ff.).

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Den Körper als Frühwarnsystem begreifen Selbstregulation beginnt mit der Unterscheidung von Empfindungen und Gefühlen. Empfindungen sind körpergewordene Gefühle. Als unser ,Frühwarnsystem‘ sind sie schon da, bevor sich die Gefühle einstellen. Für gestresste und traumatisierte Kinde sind sie zudem einfacher – weil viel weniger gefährlich – wahrnehmbar als Gefühle. Übererregung und Dissoziationen kündigen sich möglicherweise durch Empfindungen des Körpers wie Schwitzen, Kloß im Hals, Druck im Kopf etc. an. Das Erlernen von Aufmerksamkeit für das ,Frühwarnsystem‘ des Körpers hilft den Mädchen und Jungen frühzeitig einen Anstieg des Stresspegels zu bemerken und möglicherweise ein ,Ausrasten‘ (Übererregung), Dissoziieren oder Erstarren durch Versorgung dieser Empfindungen zu vermeiden. Wenn die Mädchen und Jungen lernen, ihre Empfindungen zu versorgen, können sie rechtzeitig ,den Denker‘ aktivieren. Identifizierung von Trigger und Stimuli Der nächste Schritt zur Förderung von Selbstregulation ist die Identifizierung der Stimuli. Fragen wir die Kinder nach den Auslösern und unterstützen wir sie mit den richtigen Fragen, wie z. B.: „Wann steigt dein Stresspegel?“, „Wie hoch ist dann Dein Stressniveau?“ und „Wo in Deinem Körper spürst Du das?“ Die Bewusstheit um Standardsituationen – Situationen, in denen der Stresspegel immer wieder steigt, z. B. Anforderungen in der Schule, Zubettgehen, alleine sein etc. – alleine hilft schon, diese sicherer zu bewältigen. Damit sie ihre eigene Kraft und Klugheit erkennen, steht am Anfang immer die Frage: „Was tust Du denn schon?“ Damit stärken wir ihre Erfahrung von Handlungswirksamkeit und ihre Expertenschaft. Die Mädchen und Jungen haben phantasievolle und wirksame Selbstregulationsmechanismen entwickelt. Eine selbst erstellte Liste hat im Gegensatz zu vorgefertigten Listen eine größere Wirkkraft. Sie spüren, dass sie so ohnmächtig nicht sind. Das Identitätsgefühl ist eng mit dem Körpererleben verbunden. Der Geist wirkt auf den Körper und der Körper auf den Geist. So beeinflusst die Körperhaltung das Erleben von Kraft oder Traurigkeit. Mit dem Wissen um die positiven Auswirkungen, rückt die Körperlichkeit der Traumabewältigung in pädagogischen Kontexten immer mehr in den Mittelpunkt der fachlichen Diskussion. Mit dem Erspüren der Auswirkungen der Körperhaltung und seiner Symbolisierung ist es möglich, seelische Zustände zu verändern. Viele Methoden aus dem Qigong, der Erlebnispädagogik, im Sport, aus dem Yoga, der Edu-Kinestik unterstützen die Balance von Körper und Geist, die Einheit von Intellekt, Emotion und Körper. Selbstbemächtigung bedeutet, körperlichen Erfahrungen von Erstar-

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rung, Ohnmacht, Fragmentierung in fein dosierte körperliche Erlebensweisen von Regulation, Stärke und Freude überzuführen (Weiß 2014). Dabei dient Selbstregulation als Bestandteil der Selbstbemächtigung nicht dem Ziel resiliente ,Stehaufmännchen‘ zu züchten, die unberührbar und unirritierbar werden. Sie ist notwendig, damit sich die Mädchen und Jungen in sozialen Bezügen bewusst bewegen lernen. Selbstbemächtigung bedeutet auch politische Bildung Die Begleitung der Mädchen und Jungen beim Einmischen in gesellschaftliche Prozesse ist Wiederherstellung sozialer Teilhabe. Viele traumatisierte Mädchen und Jungen, die z. B. in Heimen leben, kommen aus gesellschaftlichen Schichten, denen soziale Teilhabe immer mehr verwehrt wird. Um sich nicht minderwertig und ausgeschlossen zu fühlen, ist es notwendig, dass sie diese Prozesse verstehen. Ihrer Selbstbemächtigung dient es, wenn sie sich gemeinsam mit den Menschen, die die Ausgliederung bestimmter Gruppen aus gesellschaftlicher Teilhabe nicht hinnehmen, verbinden. Mit welchen Inhalten kann es gelingen, orientiert an den Bedürfnissen der Mädchen und Jungen, altersentsprechend gegen die Individualisierung von Nichtbewältigung und Ausgrenzung ganzer Gesellschaftsgruppen vorzugehen? Aus der sozialen Arbeit der 70er Jahre kennen wir Traditionen, die die Menschen in der Überzeugung unterstützt, dass soziale und gesellschaftliche Gegebenheiten veränderbar sind und diese auffordert, „kritisch die Weise zu begreifen, in der sie in der Welt existieren" (Freire 1967: 67). Im Rahmen der pädagogischen Arbeit in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe kann dies bedeuten, die Mädchen und Jungen über die Anstrengungen zur Anerkennung des Unrechtes in Heimen oder über Wiedergutmachung im Kontext sexueller Gewalt einzubeziehen. Vielleicht leben im Umfeld Flüchtlinge oder minderjährige Flüchtlinge, die über ihre Situation reden wollen. Eine Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe hat z.B. einen Kinderfriedensmarsch initiiert und Kinder aus dem Umfeld dazu eingeladen. Natürlich beachten wir dabei die Verarbeitungsmöglichkeiten der Mädchen und Jungen – manche wollen nicht oder sind nicht in der Lage, sich mit noch mehr belasteten Inhalten auseinanderzusetzen, anderen Mädchen und Jungen ziehen Kraft aus dem Wissen, was andere überlebt haben und wie sie es überlebt haben. Das gemeinsame Erwehren gegen Demütigung durch soziale Kontakte in Würde und Anerkennung ist sicherlich eine zu bergende Ressource. Selbstbemächtigung bedeutet also auch neue

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Formen der Selbstorganisation, z. B. der careleaver‘3, zu finden und sich in sozialen Bewegungen zu beheimaten. Emanzipation oder Anpassung? Pädagogik und Traumaarbeit sind immer politisch, sie wirken in einem gesellschaftlichen Rahmen und wirken in den gesellschaftlichen Rahmen. Emanzipatorische Traumaarbeit bedeutet auch, immer auf diesen Zusammenhang zu verweisen und bessere Bedingungen für die traumatisierten Menschen zu fordern. Es müsse zum Ethos demokratischer Gesellschaften gehören, traumatisierten Menschen Lebensbedingungen zur (Rück)Gewinnung individueller Autonomie zur Verfügung zu stellen, so Dörr auf dem Fachtag der BAG Traumapädagogik (2011). Nun gerät man derzeit in Gefahr individuelle Autonomie leicht mit Selbstoptimierung und dem neoliberalen Resilienzkonzept zu verwechseln. Individuelle Autonomie als Selbstbestimmung ist mehr denn je nicht ohne emanzipatorische Bestrebungen möglich (Brenssell 2013; Maurer 2016). So bewegen wir uns in einer unauflöslichen Dialektik von Anpassung und Widerstand (Ottomeyer 2011). Traumapädagogik muss sich der Frage stellen, ob sie einen Beitrag zur Anpassung leisten oder sich in der Dialektik von Widerstand und Leben bewegen will. Für die meisten lebensgeschichtlich belasteten Mädchen und Jungen wird es erst einmal darum gehen, ihren Platz in ihrem Umfeld zu finden, indem sie die beschriebenen traumatischen Erinnerungsebenen regulieren lernen und sich ihrer Stärken bewusst werden, indem sie sich selbst bemächtigen und Subjekt ihres Lebens werden (Weiß 2016). Konsequent fortgedacht bedeutet Traumaheilung die Emanzipation des Menschen aus Zwängen, die ihn zum Objekt degradieren. Gerade in der sich rasant verändernden Gesellschaft in Richtung Kolonialisierung des Menschen, der Veränderung der Subjektstellung der Menschen, braucht es die Bewusstheit darum und ein Wissen, in welcher Weise ich mich gemeinsam mit anderen dem erwehren kann. Die Denkfigur von Peter Brückner, „der Zusammenhang von Widerstand und Leben“ (Brückner 1983: 209), auf den sich auch Ottomeyer (s.o.) bezieht, ist ein hilfreiches Konstrukt. Ich darf mich auch freuen, stolz auf meine Erfolge sein, Beziehungen genießen können. Und der ge-

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,Careleaver‘ sind junge Erwachsene, die einen Teil ihres Lebens in stationären Erziehungshilfen verbracht haben und von dort aus den Weg in ein eigenständiges Leben beginnen. In unterschiedlichen Zusammenschlüssen suchen sie Formen der gemeinsamen Unterstützung (www2.careleaver.de).

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sellschaftskritische Blick hilft mir, Veränderungen, z. B. sozialphilosophischer Grundlagen oder der Armutsrisiken, zu verstehen und mich erwehren zu können. Und hier verbinden sich reformpädagogische und emanzipatorische Gedanken mit den Grundannahmen der Traumapädagogik, indem sie ein ,agency starkes Subjekt‘ ins Zentrum stellen. Dieses äußert sich in der Partizipation, der sozialen Teilhabe und Expertenschaft der Kinder und Jugendlichen, wodurch das Trauma zu einer korrigierenden, die Subjektstellung verändernden Erfahrungen werden kann. Pädagogik oder Traumaarbeit? Eine der Fragen, der sich die Traumapädagogik stellen muss, ist die Zuordnung. Verstehen wir Traumapädagogik primär als Pädagogik oder primär als Traumaarbeit, also die „konsequente Anwendung der Psychotraumatologie“ (Schmid 2013: 56, eig. Herv.)? Gibt es ein sowohl als auch? Möglicherweise liegt manchen Ansätzen, z. B. den kognitiv verhaltenstherapeutischen, eine mechanisch-handwerkliche Auffassung von Erziehung als Machbarkeit und ein Menschenbild zu Grunde, nach dem Kinder ein formbares Material darstellen, das es nach psychotraumatologischem Anleitungswissen zu behandeln gilt. Geht es um Verstehen der Mädchen und Jungen oder um die Anwendungen von evidenzbasierten Manualen (Reddemann 2015)? Oder geht es nicht eher auch darum, Fragen wie der des Stellenwerts von Regeln, dem Umgang mit Gewalt und der Partizipation und Expertenschaft als pädagogischen Beitrag zur Traumaheilung, zur Selbstbemächtigung zu erörtern? Inwieweit wird sich der unterschiedliche Zugang in der gerade stattfindenden Debatte um das traumapädagogische diagnostische (Fall)verstehen niederschlagen? Es wird zumindest notwendig sein, sich gegen die in der klinischen Diagnostik übliche Begrifflichkeit der Pathologisierung zu erwehren. Dient diagnostisches traumapädagogisches Fallverstehen der Sammlung von möglichst vielen Informationen oder soll es dem Selbstverstehen und der Selbstbemächtigung der Beteiligten dienen (Mollenhauer/Uhlendorf 1992; Struck 2014: 581ff.)? Selbstbemächtigung in der Schule Schule ist einer der Orte – wenn nicht sogar der wichtigste – an dem soziale Teilhabe erarbeitet oder vernichtet werden kann. Die gegenwärtigen Rahmenbedingungen des Systems Schule, wie sie sich aktuell in der Standardisierung von Bildungsprozessen zeigen, sind häufig nicht geeignet, die extremen Nachteile lebensgeschichtlich belasteter Mädchen und

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Jungen auszugleichen. Hinzu kommt, dass die Lehrer_innen mit ihrer schwierigen Aufgabe oft alleine gelassen sind. So sind sie ohne weitere Kenntnisse häufig den Auswirkungen traumatischer Erfahrungen hilflos ausgeliefert. All das behindert die Partizipation der Betroffenen am und im System Schule und stellt Lehrer_innen vor extreme Herausforderungen. Lebensgeschichtlich belastete Mädchen und Jungen reagieren in der Schule auf Leistungsanforderungen oder Selbstwertbedrohungen oft mit körperlichem Stress, der eine Teilhabe behindert. Die Unterstützung der Körperwahrnehmung und körperlichen Selbstregulation dient der Stressabfuhr. In Schulklassen, in denen Lehrer_innen regelhaft oder auch zur Stressabfuhr körperliche Übungen, wie z. B. Qigong Übungen, anleiten, sinkt der Stresspegel und steigt die Leistungsfähigkeit (Kaltwasser 2013). In einer Unterrichtseinheit könnten die Mädchen und Jungen in der Schule etwas über Traumafolgen, wie Erstarren und Dissoziieren, erfahren. Mit Wahrnehmungsübungen können sie körperliche Anzeichen dieser Symptome erspüren und regulieren lernen. Die Mädchen und Jungen lernen die Fernbedienung auszuschalten und werden wieder Subjekt ihres Selbst (Ding 2009). Die Vermittlung von Wissen über traumatisierende Lebensumstände dient der Entlastung der betroffenen Mädchen und Jungen von Schuld, Scham und Isolation und der Bildung der nicht Betroffenen. Aufgrund schulischer Projekte im Kontext der Hilfe gegen sexualisierte Gewalt, besteht ein Erfahrungsschatz in präventiver Arbeit, desgleichen im Umgang mit Gewalt. Die oft durch Initiativen von außen durchgeführten Projekte sollten durch die Integration in die Lehrpläne abgesichert werden. Auch bei der Installation der Kriseninterventionspläne bietet sich die Möglichkeit, gemeinsam mit den Schüler_innen im Sinne einer umfassenden Partizipation traumabezogenes Wissen zu vermitteln und Selbstregulationsmöglichkeiten zu üben.

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Abbildung 2: Traumapädagogik in der Schule

(Ziegler 2013)

Die Übersicht von Ziegler (2013) illustriert exemplarische Bausteine einer traumapädagogisch orientierten Sozialarbeit an Schulen. Als sicheren Ort gestaltete Ziegler mit Schüler_innen Räume in einer ehemaligen Hausmeisterwohnung, eine Wohlfühloase für die Mädchen und Jungen. Die Erklärung des dreigliedrigen Gehirns ermöglichte Selbstverstehen und Selbstregulation als Teil der Selbstbemächtigung. Die Expertenschaft der traumapädagogischen Haltung setzte Ziegler mit Aneignungsgelegenheiten und Möglichkeiten der Verantwortungsübernahme um. SOS-Berater in der Schule sollten helfen, schulischen und anderen Stress und damit auch Scham zu reduzieren. Erfahrungen von Isolation korrigierten Gruppenerfahrungen. Ausblick Die Traumapädagogik ist ein hoffnungsvoller Ansatz, der zum einen dem individuellen Leid der lebensgeschichtlich belasteten Mädchen und Jungen etwas entgegensetzen, zum anderen der gesellschaftlichen Vereinzelung und Entsolidarisierung entgegenwirken will. Traumapädagogische Konzepte bieten eine Vielfalt an Inhalten und Methoden. Wie aus der Darstellung der Unterschiede und Ge-

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meinsamkeiten deutlich wird, ist Traumapädagogik keine Therapeutisierung der Pädagogik. Sollte Traumapädagogik nicht Teil der Allgemeinen Pädagogik werden, weil traumatisierte Kinder selbstverständlicher Teil der Mädchen und Jungen sind und keine Kinder und Jugendliche, die mithilfe einer besonderen Disziplin Wohltaten empfangen dürfen? Kann es gelingen Traumapädagogik mit den unterschiedlichen Disziplinen der Pädagogik zu verbinden und die Psychotraumatologie als wichtige Bezugswissenschaft für die (Trauma)Pädagogik zu begreifen, ohne dass sie die pädagogische Diskursivität ersetzt? Zentral erscheint mit vor allem auch die Frage: Unterstützt Traumapädagogik Anpassung oder bewegt sie sich in der Dialektik von Anpassung und Widerstand auf der emanzipatorischen Seite? Die Bedeutung emanzipatorischer Konzepte in der Pädagogik als Korrektiv zu Erfahrungen von Ohnmacht ist deutlich. Das Selbstverständnis der Traumapädagogik – das gilt im Besonderen für die Pädagogik der Selbstbemächtigung – stiftet zum Verändern, zum solidarischen Einmischen an, ohne dabei die individuelle Komponente von Leid und der Traumabewältigung zu vernachlässigen. Die Pädagog_innen und psychosozialen Fachkräfte werden sich gesellschaftlich positionieren müssen. Sie befinden sich in einem prekären Spannungsfeld zwischen professionellen Ansprüchen und gesellschaftlichen Gegebenheiten und es „braucht Menschen, die zum Bindeglied werden zwischen denen, denen es zunehmend schlechter geht, die psychischer Ungesundheit ausgesetzt werden und den sozialen Begebenheiten, die in dieser Gesellschaft existieren“ (Gahleitner/Pauls 2013: 65). Die strukturelle Vernachlässigung von Empathie gegenüber Menschen in Not, braucht eine Korrektur. Wenn wir um diese Korrektur ringen, verteidigen wir nicht nur die Würde der Menschen in Not, wir verteidigen auch unsere Würde (Reddemann 2015). Literatur Bange, Dirk/Deegener, Günther (1996): Sexueller Missbrauch an Kindern. Hintergründe, Ausmaß, Folgen. Weinheim: Beltz, Psychologie Verlags Union. BAG Traumapädagogik (2011): Standards für traumapädagogische Konzepte in der stationären Kinder- und Jugendhilfe. Ein Positionspapier der BAG Traumapädagogik. [http://www.sgbviii.de/S133.pdf; abgerufen am 15.03.2016]. Bausum, Jakob/Besser, Lutz-Ulrich/Kühn, Martin/Weiß, Wilma (Hg.) (2009): Traumapädagogik. Grundlagen, Arbeitsfelder und Methoden für die pädagogische Praxis. Weinheim: Juventa. Bausum, Jakob (2009): Ressourcen der Gruppe zur Selbstbemächtigung. „Ich bin ich und ich brauche Euch.“ In: Bausum/Besser/Kühn/Weiß, Traumapädagogik, 179-187.

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Schule als Lern- und Lebensraum für Jugendliche mit biographischen Verletzungen Über die Aufgaben und Herausforderungen von Lehrkräften E LENA Q UACK UND M ARITA F REMMER Vorbemerkungen Chris1 ist 15 Jahre alt. Er trägt gerne schwarze Kleidung und lächelt selten. Seit seiner frühesten Kindheit hat er über Jahre hinweg massive Gewalt durch seinen damals drogenabhängigen Vater erfahren. Jahrelang erlebte er regelmäßig mit, wie sein Vater auch seine Mutter bedrohte und misshandelte, bis diese schließlich die Familie verließ. Erst einige Monate später konnte sie ihren Sohn zu sich nachholen. Bei seiner Aufnahme an unsere Schule hat Chris bereits in verschiedenen Wohngruppen, einer intensivpädagogischen Projektstelle und einer geschlossenen Einrichtung gelebt. Nun wohnt er wieder zu Hause bei seiner Mutter. Er fiel in verschiedenen Kontexten durch aggressive, gewaltbereite Verhaltensweisen, regelmäßigen Substanzkonsum, gefahrensuchendes und selbstverletzendes Verhalten, depressive Tendenzen mit Suizidandrohungen und Delinquenz auf. Jugendliche wie Chris begegnen uns im Kontext Schule insbesondere an Förderschulen für emotionale und soziale Entwicklung, im Rahmen der Inklusionsdebatte zunehmend auch an Regelschulen und an temporären Lernorten. Diese Jugendlichen lebten oder leben in hochbelastenden Zusammenhängen und tragen existentielle biografische Verletzungen in sich. Sie stellen Schulen und Lehrkräfte mit ihrem Verhalten vor hohe Herausforderungen, führen an Grenzen und lösen häufig Hilflosigkeit sowie in der Folge dessen auch Abwehr aus. Pathologisierungen, Hilfeabbrüche und Ausschlüsse aus gesellschaftlichen Kontexten sind die Folge (Möhrlein/Hoffart 2016: 95; Kühn 2016: 22; Rätz 2015: 45).

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Alle Namen wurden aus Datenschutzgründen anonymisiert.

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Baumann prägte in diesem Zusammenhang den Begriff der „Systemsprenger“ (Baumann 2016). Doch unsere Gesellschaft hat der Institution Schule mit ihren Funktionen die Aufgabe zugewiesen, allen Kindern und Jugendlichen eine größtmögliche Teilhabe an schulischen Erziehungs- und Bildungsprozessen zu ermöglichen (Wiater 2016: 145ff.). Lehrer_innen sind somit unter Berücksichtigung der Individualität und Achtung der Personalität im Umgang mit lebensgeschichtlich verletzten Schüler_innen in ihrer „pädagogischen Leidenschaft“ (Thiersch/Böhnisch 2014: 107) gefordert. Dimensionen pädagogischen Denkens Pädagogisches Verstehen „Der Kreis ist ein heiliges Symbol des Lebens. […] Einzelne Teile des Kreises sind alle miteinander verbunden; und was einem geschieht oder was der eine tut, geschieht allen im Kreis.“ (Sneve 1987)

Verbunden im System Schule sind die Menschen, die hier in unterschiedlichen Zusammenhängen leben und arbeiten. Schüler_innen, Eltern, Lehrer_innen, Schulleiter_innen, Schulsozialarbeiter_innen und Schulsekretär_innen begegnen sich täglich in verschiedenen Situationen, die durch einen äußeren Rahmen gestaltet und begrenzt werden. Sie kommen zusammen – jeder mit seiner eigenen Geschichte, einem eigenen inneren Auftrag, eigenen Fähigkeiten, in einer eigenen Rolle, mit eigenen Interessen und einer eigenen Erfahrungs- und Gefühlswelt – um gemeinsam den Bildungsauftrag der Gesellschaft zu erfüllen. Die verschiedenen unserer Arbeit zugrundeliegenden theoretischen Konzepte, mit deren Hilfe wir Verhalten zu verstehen versuchen, möchten wir in wenigen Kernaussagen vor allem im Hinblick auf ihre Bedeutung für den Umgang mit Jugendlichen, die in ihrer Lebensgeschichte Verletzungen erfahren haben, darstellen. In der humanistischen Pädagogik wird der Mensch als handelndes und Begegnung suchendes Subjekt betrachtet („Prinzip der Personenorientierung und des Kontaktes“ [Dauber 1997: 126]). Der ganzheitliche Mensch mit seinen emotionalen, körperlichen, seelischen, sozialen und mentalen Aspekten steht im Vordergrund („Prinzip der Ganzheitlichkeit und Kongruenz“ [ebd.]). Er wird als selbstverantwortlich Lernender angesehen, der sich in persönlichen Wachstumsprozessen befindet und aus seiner eigenen Mitte und Befindlichkeit sowie aus seinen bereits entwickelten Möglichkeiten heraus an Wachstumsangeboten teil-

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nimmt (Rogers 1984). Die Lebenswelt des Menschen und seine individuellen Kontexte erfahren besondere Bedeutung („Prinzip des Hier- und Jetzt und der Kontextbezogenheit“ [Dauber 1997: 188]). „Die Fähigkeit, sich bewusst zu machen, ob unsere Handlungen und Reaktionen der aktuellen Situation angemessen sind oder nur alte Rollenkonserven […] wiederholen, ist Grundlage schöpferischer Gestaltung. (Prinzip der Bewusstheit und Integration)“ (ebd.). Diesem Menschenbild entsprechend besteht die Rolle von Pädagog_innen vor allem in der Bereitstellung adäquater Lernsituationen, in denen aktives und persönlich bedeutsames Lernen stattfinden kann. Pädagog_innen fungieren als Lernhelfer_innen, begleiten Lernprozesse und unterstützen sie im positiven Verlauf sowie in problematischen Situationen. Sie erleben dabei in den Lernprozessen anderer immer auch eigenes Wachstum und erlangen neue Erkenntnisse. Eigene Erfahrungen der Pädagogen werden professionell in den Lernprozess eingebracht (Buddrus u.a. 1995: 47). Der Beziehungsgestaltung durch Kongruenz, Akzeptanz und Empathie kommt eine besondere Bedeutung zu (Pallasch 1995: 165; Rogers 1984). Die Geistesströmung des Konstruktivismus lehrt uns eine Sicht der Wirklichkeit, in der wir leben und handeln, als einer nur scheinbar objektiven Realität. Tatsächlich konstruieren wir alle höchst subjektiv unsere je eigene Wirklichkeit. Wir können keine Aussage über Welt und Wirklichkeit treffen, die nicht an unsere persönliche und subjektive Wahrnehmung gebunden ist. Auf der Grundlage dieses Denkens stehen immer Verstehensprozesse mit der Frage im Vordergrund, wie ein Kind/Jugendlicher seine Wirklichkeit konstruiert (Reich 2006: 74ff.; Siebert 2005: 29ff.; Foerster/Poerksen 2001; Palmowski 2000: 44). Erkenntnisse neurobiologischer Forschungen lehren uns, dass unsere Gehirnstrukturen spezialisierte Systeme besitzen, die auf Beziehungsaufnahme und -gestaltung angelegt sind. Emotionen, die als positiv erlebt wurden, verbreitern die Aufmerksamkeit und das Denken, sie reduzieren negative Erregung, steigern die Resilienz, bauen persönliche Ressourcen auf und lösen eine positive Spirale aus. Entscheidende Voraussetzungen für die biologische Funktionstüchtigkeit unserer Motivationssysteme sind das Interesse, die soziale Anerkennung und die persönliche Wertschätzung, die einem Menschen von anderen entgegengebracht werden (Rothschild 2002: 40ff.; Reddemann/Dehner-Rau 2011: 52ff.; Bauer 2006: 169). In stark belastenden Situationen gibt es für uns Menschen drei mögliche Reaktionen, die unterschiedliche Prozesse im Gehirn in Gang setzen (Levine 2010: 63ff.): Mit Kampf und Gegenwehr reagieren (Fight), mit Flucht die Situation zu beherrschen suchen (Flight) oder „[w]enn […] alles nichts hilft – no Fight, no Flight – dann bleibt […] [uns] nichts anderes übrig, um der äußersten

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Bedrohung, nämlich der Auflösung des Selbst zu entkommen, als Freeze and Fragment.“ (Huber 2012: 43) In der von John Bowlby entwickelten Bindungstheorie wird davon ausgegangen, dass die Beziehungserfahrungen, die ein Kind mit seinen Bezugspersonen macht, in internalen Arbeitsmodellen als geistige Repräsentationen im Sinne von Schemata abgebildet werden, die sowohl affektive als auch kognitive Komponenten enthalten (Julius 2001: 176). Es lassen sich vier Arbeitsmodelle von Bindung unterscheiden (Julius 2001: 176f.; Schleiffer 2000: 45ff.): sicher gebundene Kinder, unsicher-vermeidend gebundene Kinder, unsicher-ambivalent gebundene Kinder, desorganisiert/desorientiert gebundene Kinder. Bindungsverhalten steht in einer Wechselbeziehung zum Explorationsverhalten: Ist das Bindungsverhalten aktiviert, ist das Explorationsverhalten inaktiviert und umgekehrt. Exploriert das Kind seine Umwelt und erfährt Unsicherheit, so wird das Explorationsverhalten eingestellt und das Bindungsverhalten aktiviert (Lengning/Lüpschen 2012: 12). Bindungsverhalten hat gegenüber dem Explorationsverhalten immer Priorität (Bowlby 2008: 48). Erkenntnisse zur Salutogenese geben uns Antworten auf Fragen zu Bedingungen und Faktoren gesunder Entwicklung. Heilsame Systeme (gesunde und gesund machende) sind Kontexte, die möglichst vielen Beteiligten ein möglichst hohes Maß an gesunder Entwicklung ermöglichen. Gesunde Entwicklung wird durch Verbundenheit, Bedeutsamkeit, Verstehbarkeit, Handhabbarkeit, Kohärenz und das Erleben von Stimmigkeit gefördert. Damit einher geht die Schlussfolgerung, dass heilsame Systeme Stimmigkeitserleben ermöglichen. Dieses alles durchdringende menschliche Bedürfnis nach Stimmigkeit und Kohärenz ist eng verbunden mit dem Begriff des Wohlfühlens. Menschen suchen in ihrer Umwelt permanent nach positiven Attraktoren, die ihnen ein gutes Gefühl vermitteln. Gute Gefühle haben wir Menschen dann, wenn wir Gelingenserfahrungen machen. Somit wird der Gedanke leitend, was die Menschen, die im System Schule miteinander verbunden sind, brauchen, um sich als gelingend – im Umgang mit anderen, beim Lernen, beim Arbeiten, im Kontakt – erleben zu können (Petzold 2011: 24; Borchert-Wilke 2014: 122; Bauer 2007: 14). Die indigene Orientierung des Circle of Courage kann auf die Frage nach den grundlegenden Bedürfnissen des Menschen eine Antwort mit einer einfachen und überzeugenden Systematik geben, wenn sie Zugehörigkeit (Ich werde geliebt), Autonomie (Ich entscheide), Meisterschaft (Ich kann wachsen und zeige Fähigkeiten, die geschätzt werden) und Großzügigkeit (Ich sehe dich) als zentrale Werte herausstellt, die zusammen den Kreis der Zuversicht ausmachen. Die Kultur der Indianer hat den fundamentalen Grundsatz der westlichen Demokratie

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verwirklicht, verantwortlich für das Wohlergehen aller in der Gemeinschaft zu sein (Inklusion). „Entmutigung ist der verneinte Lebensmut.“ (Brendtro u.a. 1995: 50) Ohne Zugehörigkeitsgefühl, Meisterschaft, Unabhängigkeit und Großzügigkeit gibt es keine Zuversicht sondern nur Entmutigung. Ist der Kreis der Zuversicht zerbrochen, gerät das Leben der Menschen außer Harmonie und Balance. Unter die Oberfläche zu sehen und die Ausgleichbewegungen der Menschen für ihre Verletzungen wahrzunehmen, ist unabdingbar für den Auftrag von Schulen, die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen in ihrem Bemühen zu unterstützen, den eigenen Lebensweg gemäß ihrer Fähig- und Fertigkeiten in einer auf demokratischen Grundsätzen aufgebauten Gemeinschaft zum Gelingen aller zu suchen, zu finden und zu gestalten. Man kann den Kreis nicht wiederherstellen ohne zu verstehen, wo er zerbrochen ist. Wenn die Zuversicht versperrt ist, verlieren die Menschen jenes Harmoniegefühl zwischen sich selbst und anderen, das als lebensnotwendiges Gleichgewicht bezeichnet wird (Menninger 1982; Brendtro u.a. 1995: 63). Das, was Lehrer_innen tun, bildet sich ganzheitlich in Kindern und Jugendlichen ab. Gleichzeitig registrieren sie, wie sie in den Köpfen ihrer Lehrer_innen wahrgenommen werden, wie sie sich in deren Spiegelsystemen abbilden: „An der Art und Weise, wie sie von ihren Eltern und Lehrern wahrgenommen werden, erkennen Kinder und Jugendliche nicht nur, wer sie selbst sind, sondern vor allem auch, wer sie selbst sein könnten, das heißt, worin ihre Potenziale und Entwicklungsmöglichkeiten bestehen.“ (Bauer 2007: 26f.) Sie leben in einen Korridor der Vorstellungen und Visionen hinein, die sich ihre Bezugspersonen von ihnen machen. Bewältigungsstrategien als Überlebensleistungen „Wie hast Du das überlebt?“ (Garbe 2015: 18, Herv. i. O.)

Max hat in seiner frühen Kindheit über Jahre hinweg Vernachlässigung erlebt. Er wurde von seinem damals drogenabhängigen Vater regelmäßig geschlagen, getreten und mit Kabelbindern gewürgt. Diese Übergriffe waren für Max weder vorherseh- noch abwehrbar. Melissa hat in ihrer frühen Kindheit ebenfalls jahrelang Vernachlässigung erlebt. Sie war mehrfach wegen Unterernährung im Krankenhaus, erlebte regelmäßig mit, wie ihr Vater ihre Mutter bedrohte und schlug und wurde von Vater und Onkel sexuell missbraucht.

660 | ELENA Q UACK UND M ARITA FREMMER „Unter einer traumatischen Belastung versteht man die Folgen eines Ereignisses, das den Rahmen alltäglicher Erfahrung und Belastung bei weitem übersteigt. Die natürlichen menschlichen Selbstschutzstrategien angesichts von Lebensgefahr – Flucht und Widerstand – erweisen sich als sinnlos. Ohnmacht, Entsetzen und Todesangst herrschen vor. Dadurch kommt es zu einer Erschütterung der psychischen Struktur und einer großen Spannbreite von Reaktionen.“ (Gahleitner 2005: 21, eig. Herv.)

Jugendliche wie Max und Melissa haben bereits früh und oftmals über Jahre hinweg existentielle Bedrohungen, wie Vernachlässigung, Misshandlungen, sexuellen Missbrauch und häufige Bindungsabbrüche, erfahren (Garbe 2015: 41). Sie haben erlebt, dass ihr Wille grundlegend missachtet wurde und ihnen Bindungspersonen, von denen sie Schutz und Fürsorge erwarteten, Leid zufügten. Ihr Vertrauen in sich und ihre Umwelt wurde so tiefgreifend und nachhaltig erschüttert (Gahleitner 2005: 23; Fischer/Riedesser 2009: 84). Fallen uns diese Jugendlichen im Kontext Schule auf, haben sie für sich Strategien gefunden, um mit ihren extrem belastenden Erfahrungen weiter leben zu können. Verhaltensweisen, wie etwa Selbst- und Fremdaggressionen, auffällige Bindungsmuster, Ängste und Substanzkonsum, verstehen wir als entwicklungslogisches Verhalten (Kühn 2011: 34), „Selbstheilungsversuche“ (Gahleitner 2005: 34) und Anpassungsleistung an traumatisierende Bedingungen (Garbe 2015: 32). Sie basieren auf tief verinnerlichten Grundannahmen über sich und die Welt und können beispielsweise lauten: „Mir geht es besser, wenn ich nichts spüre“ oder „So etwas wird mir nicht mehr passieren, wenn ich von Erwachsenen unabhängig bin“. Die unbedingte Würdigung der Überlebensleistung, das Verstehen von Wirklichkeitskonstruktionen und zunächst dysfunktional erscheinenden Verhaltensweisen bietet (auch) in Schulen die Möglichkeit, einen positiven Kontakt zu den Jugendlichen zu finden, die Erwachsenen aufgrund ihrer Biografie zunächst äußerst misstrauisch und ablehnend begegnen. So lässt sich im weiteren Prozess der pädagogischen Begleitung erfahrungsgemäß (meist) eine stabilisierende Beziehung gestalten, auf deren Basis gemeinsam gesündere Verhaltensalternativen als Wahlmöglichkeiten zur Zielerreichung entwickelt werden können (Fischer/Riedesser 2009: 226ff.; Weiß 2009: 108ff.). Pädagogisch-professionelle Haltung Erst auf der Basis einer gelebten professionellen pädagogischen Haltung können sich schulische Konzepte, Methoden und Strukturen sinnhaft und entwicklungsförderlich entfalten. Nach vielen Jahren Erfahrung im Umgang mit biografisch verletzten Jugendlichen sehen wir als Herzstück und handlungsleitendes Fundament unserer Arbeit eine grundsätzlich wertschätzende, verstehen wollende und

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ressourcenorientierte Haltung. Diese verstehen wir in Anlehnung an eine Definition von Kuhl, Schwer und Solzbacher als ein auf Schüler_innen, die eigene Person als Lehrkraft, Sachverhalte, Prozesse und Rahmenbedingungen bezogenes, individualisiertes Muster von Einstellungen, Werten und Überzeugungen, das sich auf der Grundlage eines authentischen Selbstbezugs und objektiver Selbstkompetenzen entwickelt und sich im Schulalltag in situationsübergreifender Kohärenz, Nachvollziehbarkeit und Kontextsensibilität pädagogischer Entscheidungen und Handlungen zeigt (Kuhl u.a. 2014: 107ff.). Eine traumasensible Spezifizierung integriert psychotraumatologisches und traumapädagogisches Fachwissen. Folgende Leitgedanken haben sich dabei in der schulischen Praxis als hilfreich bewährt: Wir möchten für die uns anvertrauten Jugendlichen Sicherheit herstellen. Die Schüler_innen sollen sich auf dem Schulgelände, im Klassenraum und langfristig auch in sich wohl und sicher fühlen. Dazu möchten wir eine gewaltfreie Umgebung mit transparenten, Selbstkontrolle und Selbstwirksamkeit fördernden Strukturen schaffen. Wir möchten von unseren Schüler_innen als haltend, schützend, verlässlich, unterstützend, konfliktsicher und deeskalierend wahrgenommen werden und ihnen so alternative, korrigierende Bindungserfahrungen ermöglichen (Kühn 2011: 33f.; BAG-TP 2011: 4ff.; Baierl 2014b: 56ff.; Weiß 2009: 106ff.). Wir möchten hinter jedem Verhalten die positive Absicht entdecken und besprechbar machen. Wir gehen davon aus, dass „jeder Mensch zu jedem Zeitpunkt das für ihn zu diesem Zeitpunkt bestmögliche Verhalten zeigt“ (Baierl 2014a: 47). Dies gilt ebenso für Jugendliche, Eltern und Erzieher_innen wie für uns selbst (Baierl 2014c: 108ff.). Durch die Verbalisierung und gemeinsame Reflexion positiver Absichten von Verhaltensweisen sollen die Schüler_innen in ihrem Selbstverstehen unterstützt und in der Wahrnehmung ihrer vorhandenen Fähigkeiten und Ressourcen gefördert werden. Dabei betrachten wir es als hilfreich, (auch für uns ungewöhnliche) Wirklichkeitskonstruktionen verstehen zu wollen. Widerstände und Misserfolge möchten wir als wertvolle Hinweise darauf betrachten, dass wir die Wirklichkeit eines Menschen noch nicht hinreichend verstanden haben (Weiß 2009: 107ff.; BAG-TP 2011: 5ff.; StreeckFischer 2014: 242). Wir möchten den Jugendlichen, uns selbst und allen am Erziehungsprozess Beteiligten wertschätzend begegnen. Die Schüler_innen sollen sich in der Schule und ihrer Lerngruppe willkommen, angenommen und zugehörig fühlen. Ihre unter hochbelastenden Bedingungen vollbrachten Entwicklungsleistungen möchten wir würdigen, ihre Bedürfnisse wahrnehmen und ihre Grenzen respektieren. Wir möchten uns selbst, unsere Strategien zur Stabilisierung und Selbstregulation

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besser kennenlernen. In der Beziehungsgestaltung möchten wir Verstrickungen mit eigenen Themen erkennen und reflektiert mit Übertragungs- und Gegenübertragungsmechanismen umgehen. Unterschiedliche Sichtweisen möchten wir zur Entwicklung eines gemeinsamen Fallverständnisses nutzen (Rauh 2010: 179; Rätz 2015: 52; Zurek/Fischer 2003: 1; Kessler 2016: 282ff.). Wir möchten den Jugendlichen eine größtmögliche Teilhabe ermöglichen. Die Schüler_innen sollen in einem geschützten Rahmen Autonomie und Kompetenz erleben und so schrittweise wieder Vertrauen in sich und ihre Fähigkeiten entwickeln. Dazu möchten wir geschützte Lern- und Erfahrungsräume gestalten, in denen die Jugendlichen an bewältigbaren emotionalen, kognitiven und sozialen Anforderungen wachsen können (Weiß 2009: 116ff.; BAG-TP 2011: 6ff.; Rätz 2015: 52f.). Wir versuchen zu jeder Zeit transparent und klar zu sein. Die Schüler_innen sollen ihre Umgebung und die für sie verantwortlichen Erwachsenen als berechenbar erleben. Wir möchten für Informationen und Erklärungen bereit stehen und verantwortungsvoll mit strukturellen Hierarchien umgehen (Jäckle 2016: 162; Weiß 2009: 116ff.; BAG-TP 2011: 6f.). Wir sind dazu bereit, unsere (trauma)pädagogischen Ansichten und Fähigkeiten beständig zu erweitern. Wir möchten durch Selbstreflexionen lernen und an kollegialen Beratungen, Supervisionen, Fort- und Weiterbildungen teilnehmen (Baierl u.a. 2016: 61ff.). Wir möchten Lebensfreude vorleben und erfahrbar machen. Wir möchten unsere Arbeit mit viel Freude ausüben, positive soziale Situationen schaffen, gemeinsam mit unseren Schüler_innen Spaß haben, in Flow-Erlebnissen aufgehen und oft und viel gemeinsam lachen (BAG-TP 2011: 7; Baierl 2014d: 131ff.; Weiß 2009: 118f.). Diese Haltung erleichtert Lehrer_innen erfahrungsgemäß vieles im alltäglichen Umgang mit oftmals „extremen Beziehungssituationen“ (Baumann 2015: 95), unterstützt Beziehungserhalt und Handlungsfähigkeit und schafft somit in Sinne einer entängstigenden Pädagogik (Lang 2016: 272f.) Sicherheit für die Schüler_innen. Es gibt jedoch auch einige Stolpersteine, wie beispielsweise eigene Themenverstrickungen, Abwehrmechanismen und Grenzerfahrungen oder strukturelle Bedingungen. Für uns hat es sich als hilfreich herausgestellt, insbesondere in und nach herausfordernden Situationen erst einmal durchzuatmen und das eigene Verhalten im Hinblick auf die dargestellten Leitgedanken wohlwollend zu reflektieren.

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Schulpädagogische Handlungsdimensionen Nachfolgend möchten wir exemplarisch darstellen, wie die zuvor beschriebenen theoretischen Ansätze und Gedanken in den Handlungsfeldern Erziehen, Unterrichten und Fördern ihre praktische Umsetzung finden können. Erziehung bindungsorientiert gestalten „Kinder mit schweren Schicksalen brauchen gute Beziehungen […].“ (Weiß 2009: 99)

Wir fühlen uns in Anlehnung an eine Definition von Wiater (2013: 24ff.) einem Erziehungsbegriff verpflichtet, der Erziehung als eine notwendige und intentionale Hilfe bei der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen betrachtet. Schüler_innen sollen demnach mit dem übergeordneten Ziel der Mündigkeit dabei unterstützt werden, ihre Potentiale bestmöglich zu entfalten. Auf der Grundlage des demokratischen Ethos realisiert sich Erziehung in komplexen intersubjektiven Interaktionen, ist somit nicht erfolgssicher planbar und erfordert einen kommunikativen und diskursiven Austausch Erziehender untereinander. Eine traumasensible Spezifizierung stellt im Sinne einer „Bindungsorientierten Pädagogik“ (Lang 2016: 280) den intersubjektiven Beziehungsaspekt in den Vordergrund. Aufgrund der tiefgreifenden emotionalen Verletzung der uns anvertrauten Schüler_innen liegt der Schwerpunkt unserer täglichen Arbeit daher im Aufbau und in der aktiven und individuellen Gestaltung stabilisierender Beziehungen in einer sicheren Umgebung. Die Jugendlichen dabei zu unterstützen, wieder Vertrauen in sich und die Welt zu entwickeln, ihre Selbstheilungskräfte zu aktivieren und sie emotional zu stabilisieren, sehen wir als zentrale traumasensible Erziehungsziele. Am Anfang eines jeden schulpädagogischen Begleitprozesses steht eine positive Kontaktaufnahme, die der/dem Jugendlichen Transparenz und Sicherheit vermitteln soll. In einem gemeinsamen Gespräch mit möglichst allen am Erziehungsprozess Beteiligen entsteht auf der Grundlage eines multiperspektivischen Informationsaustauschs eine gemeinsame Zielvereinbarung. Die Frage nach den notwendigen Bedingungen, die die/der Schüler_in zur Zielerreichung benötigt, ist handlungsleitend zur individuellen Gestaltung der Schulzeit. Als Basis eines gelingenden Beziehungsaufbaus hat sich die Befriedigung von Grundbedürfnissen erwiesen (Krenz 2013: 113). Hierzu gehört neben der täglichen Bereitstellung von Lebensmitteln zur Grundversorgung und der Gestaltung positiv besetzter, nachsozialisierender Situationen, wie etwa dem gemeinsamen Kochen, Spielen, Erzählen und Bewegen, insbesondere die Herstellung

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eines Sicherheitsgefühls. Dies kann beispielsweise durch folgende Elemente unterstützt werden: die konsequente Ablehnung jeglicher Formen von Gewalt, die Etablierung der eigenen Person als positive (starke und gute) Autorität (Baierl 2014a: 48f.; Omer/Schlippe 2010), die Akzeptanz des Bedürfnisses nach gewaltfreier Selbstbestimmung, die gemeinsame Erarbeitung bewältigbarer Anforderungen in allen Entwicklungsbereichen, das Bereitstellen von Rückzugsorten, die durchgängige Präsenz der Bezugslehrkraft in den Pausen, eine Begleitung durch das Schulgebäude (sofern notwendig), die sensible Antizipation und Spiegelung von Gefühlen und Bedürfnissen zur Prävention von Affektdurchbrüchen (Krenz 2013: 154; Baierl 2014f: 75f.; Lang 2016: 278f.), schützende, dialogfähige Grenzen (Ding 2011: 66f.) sowie ein beziehungsbasiertes und sicheres Deeskalations- und Krisenmanagement. Die Konzepte der Gewaltfreien Kommunikation und des Respect ability path bieten hilfreiche Ansätze zur Gestaltung wertschätzender Beziehungen und Interaktionen. Die Gewaltfreie Kommunikation (GfK) nach Marshall Rosenberg ist − wie von Rosenberg (2013), Larsson/Hoffmann (2013), Pásztor/Gens (2010) und Weckert (2012) beschrieben − eine höchst effiziente Methode, um eine empathische Grundhaltung zu üben und sich der Voraussetzungen für Empathieprozesse bewusst zu werden. Sie führt zu Klarheit im Selbstausdruck und funktionierenden Beziehungen. Empathisches Miteinander verändert die Qualität des Zuhörens und der Teamarbeit. Selbstempathie fördert die Gesundheit des Einzelnen, ein bedürfnisorientiertes Aushandeln von Interessen, die Entwicklung des Einzelnen und des Systems. Sie basiert auf drei Säulen: 1) Wer über die Fähigkeit verfügt, seine Gefühle und Bedürfnisse wahrzunehmen, hat gute Voraussetzungen, um seine Anliegen wirksam zu formulieren. 2) Ein kraftvoller Selbstausdruck erzeugt beim Gegenüber Verständnis. Ausgesprochen wird, was wir fühlen und brauchen. Konkrete Grenzen werden gesetzt, klare Bitten geäußert. 3) Nur wenn ich den anderen verstehe, kann ich mit ihm gemeinsam nach Lösungen suchen, welche die Bedürfnisse aller Beteiligten erfüllen. Man kann andere Menschen verstehen, auch ohne deren Handlungen zu befürworten. „Verstehen“ bedeutet nicht „einverstanden sein“. Die GfK ermutigt, Beziehungen zu pflegen, die auf Offenherzigkeit und freiwilliger gegenseitiger Unterstützung basieren. Dabei sind die wertfreie Beobachtung, die Verantwortungsübernahme für eigene Gedanken und damit verbundene Gefühle, die Unterscheidung zwischen Bedürfnissen und Strategien zur Umsetzung dieser Bedürfnisse auf der Grundlage eines Verstehen-Wollens die Voraussetzung dafür, mit offenen Bitten statt mit Forderungen meinen (Konflikt-)Partner emotional berühren und damit erreichen zu können.

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Das aus den USA stammende Konzept Respect ability path (RAP) bietet − wie von Brendtro u.a. (2009: 80ff.) sowie Trapper (2009: 168ff.) ausgeführt − praktische Kommunikationstechniken, mit deren Hilfe auch solche Jugendliche und junge Erwachsene wieder erreicht und wiedergewonnen werden können, die Erwachsene als ernstzunehmende Gesprächspartner längst abgeschrieben hatten. Im Zusammenspiel von Beziehungsaufbau, Klärung und Wiederherstellung und mithilfe verschiedener pädagogischer Techniken (wie z.B. der SandwichTechnik, dem Reframing oder dem Triangulieren) gelingt in Anlehnung an die Grundhaltung des Circle of Courage eine neue Dimension respektvoller Kommunikation, die Erwachsenen hilft, sich immer wieder selbst neu zu reflektieren. Ziel des stärken- und wachstumsorientierten Ansatzes im Umgang mit Konflikten ist es, den Kreislauf zu durchbrechen, bei dem auf negativen Gefühlen beruhende abweichende Verhaltensweisen von Jugendlichen bei uns Erwachsenen negative Gefühle und Disziplinierung auslösen, was dann wiederum neue negative Gefühle, und daraus folgend, entsprechende Verhaltensweisen auf Seiten der Jugendlichen hervorruft. Der Ansatz setzt auf die „emotionale Macht menschlicher Nähe; die Wirkung von (auf Respekt fußender) Autorität statt (auf Macht fußender) Hackordnung und die Ersetzung von Strafe durch (auf Verantwortungsübernahme fußende) Wiedergutmachung“ (Brettel 2007: 2). Durch den Aufbau innerer Stärke, verbunden mit äußerer Unterstützung, sollen die Harmonie zwischen den Vitalfunktionen und Resilienz gefördert werden. Im Zusammenspiel mit neurobiologischen Erkenntnissen geht es um ein bewusstes und gezieltes Verknüpfen von Beziehungsaufbau für positive Unterstützung, Erarbeitung von Klärung, um Herausforderungen und Probleme zu erkennen, und Wiederherstellung von Harmonie und Respekt. Dabei stehen auf dem Weg zu tragfähigen Bindungen das Zusammenwirken von Vertrauen aufbauen – Respekt haben und ausdrücken – Verstehen wollen und die Befähigung zum Aufbau von Stärke und Selbstvertrauen im Mittelpunkt (Brendtro u.a. 2009: 80ff.; Trapper 2009: 168ff.). Als weitere hilfreiche Elemente einer aktiven Beziehungsgestaltung betrachten wir die tägliche Integration bedürfnisangepasster Beziehungsangebote im 1:1 Kontakt in den schulischen Alltag (BAG-TP 2011: 13), eine authentische Anteilnahme am Leben der Jugendlichen (Rätz 2015: 49f.), „Du tust das, weil…“- und „Eigentlich …, aber…“ Interventionen nach Weiß (Baierl 2014e: 84), verlässliche, den Bedürfnissen der Schüler_innen angepasste Tagesstrukturen (Baierl 2014f: 72ff.) und die gemeinsame Entwicklung individueller Zielvereinbarungen (Baierl 2014f: 99ff.). In Krisen hat sich für uns das Konzept Intensive-time statt Time-out, das heißt, eine vorübergehend kürzere, dafür aber beziehungsfokussiertere Schulzeit, bewährt. Es signalisiert den Jugendlichen, dass Beziehungen

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auch in Krisen fortbestehen und fördert somit ihr Sicherheitsgefühl (Lang 2016: 272f.). Lern- und Lebensräume schaffen „Auf der Grundlage einer sicheren Bindung ist das Kind […] fähig, neugierig und freudig die Welt zu entdecken.“ (Mierau 2016: 14f.)

Wir möchten Unterrichtssettings gestalten, in denen Schüler_innen sich wieder auf die Auseinandersetzung mit kognitiven Lerninhalten einlassen können, in denen sie freudvoll ihre Fähigkeiten und Interessen entdecken und in ihrem Selbstwirksamkeits- und Selbstwertgefühl gestärkt werden. Klassenräume sollen durch eine liebevolle Gestaltung zum Wohlfühlen, Beruhigen, Spielen und Lernen einladen und durch klare Strukturiertheit Orientierung und Sicherheit vermitteln (Häußler u.a. 2014). Nach einer Phase gegenseitigen Kennenlernens zur Anbahnung einer positiven und möglichst tragfähigen Lehrer-Schüler-Beziehung im 1:1 Kontakt richtet sich die Form der weiteren Beschulung nach den individuellen Zielen und Bedürfnissen der Jugendlichen. Dabei haben sich folgende Organisationsformen in der Praxis als entwicklungsförderlich erwiesen: Kleingruppenunterricht, erweiterter Gruppenunterricht, Individualpädagogische Betreuung und zeitlich begrenzter häuslicher Unterricht. Mögliche Unterrichtsschwerpunkte können sein: Krisenintervention: Die/der Schüler_in nutzt die Schule als sicheren (Aufenthalts-)Ort. Das Angebot von Rückzugsmöglichkeiten und entlastenden Aktivitäten sowie die Unterstützung bei der Entwicklung möglicher Perspektiven stehen im Vordergrund der Beschulung. Erlebnisraum Schule: Die/der Schüler_in nimmt in der Kleingruppe an positiv besetzten Aktivitäten, wie etwa Kochen und Essen, Spiel und Sport teil. Der nachsozialisierende Rahmen bietet die Möglichkeit, alternative Beziehungserfahrungen zu erleben und soziale Verhaltensweisen zu erproben. Lernen mit Zielen: Die/der Schüler_in arbeitet eigenverantwortlich in ihrem/seinem Tempo an eigenen Zielen und dazugehörigen Lerninhalten, die in einem Arbeitsplan festgehalten werden. Die Lehrkraft wählt gemeinsam mit der/dem Schüler_in passende Materialien aus und nimmt im weiteren Verlauf die Rolle eines Lernprozessbegleiters ein (Grunefeld/Schmolke 2011: 36f.; Potzmann/Perkhofer-Czapek 2013: 6). Erfolgreich bearbeitete Inhalte werden von den Schüler_innen in den Arbeitsplänen farblich markiert. Denn „[k]leine Schritte mit Erfolg erledigen schafft die innere Hoffnung, dass es vorangehen kann“ (Garbe 2015: 54). Zur Förderung eines positiven Selbstbildes liegt der

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Fokus bei der Bewertung von Leistungen stets auf den Stärken und Ressourcen der Jugendlichen. Lernnachweise werden daher erst dann benotet, wenn eine Kompetenz erworben wurde. In einem Ordner, dem sogenannten Entwicklungsportfolio, werden individuelle Lern- und Entwicklungsprozesse dokumentiert. In regelmäßigen Abständen finden Reflexionsgespräche mit den Jugendlichen und ihren Erziehungsberechtigten statt, bei denen die aktuellen Ziele und Bedürfnisse der Schüler_innen besprochen werden und die Form der Beschulung, falls notwendig und/oder erwünscht, angepasst wird. Wiederkehrende Abläufe schaffen Transparenz und Sicherheit im Schulalltag (Jäckle 2016: 161; Ding 2011: 62; Heymann 2002: 9). Als hilfreiche Elemente einer rhythmisierten Tagesstruktur betrachten wir beispielsweise eine Frühaufsicht (als Teil einer Willkommenskultur) (Ding 2011: 64), kurze persönliche Gespräche zu Unterrichtsbeginn, eine Visualisierung des geplanten Tagesablaufs und ggf. Besonderheiten an der Tafel, einen Wechsel aus Phasen individuellen Lernens und gelenkter Kleingruppenaktivitäten, die Integration kurzer Entlastungspausen, das regelmäßige Treffen individueller Absprachen bezüglich der Gestaltung von Arbeitsphasen, Pausensituationen und Übergängen und ritualisierte Reflexions- und Feedbackphasen. Traumasensibel fördern „[…] das heilsame bzw. förderliche Geschehen [findet] im natürlichen Lebensalltag […] statt[…].“ (Gahleitner 2011: 28)

Baumann gibt in seinem Artikel zur Intensivpädagogik zu bedenken, dass Psychiatrie oftmals fälschlicherweise als Steigerung von Pädagogik wahrgenommen werde (Baumann 2015: 88f.). Diesem Gedanken schließen wir uns vorbehaltlos an. Wir betrachten es als schulpädagogische Aufgabe, heilsame Prozesse im täglichen Miteinander zu gestalten (Weiß 2009: 220f.). Eine traumasensible individuelle Förderung findet in erster Linie integriert im regulären Unterrichtsalltag, darüber hinaus jedoch auch in speziell arrangierten Situationen in Einzel- und Gruppensettings statt. Ziele und Maßnahmen werden in Förderplänen dokumentiert und regelmäßig evaluiert. Von uns als entwicklungsförderlich erlebte Elemente einer traumasensiblen individuellen Förderung sind beispielsweise Psychoinformationen, etwa bezüglich menschlicher Grundbedürfnisse, Traumata, traumakompensatorischer Bewältigungsmechanismen und Übertragungsmustern zur Förderung des Selbstverstehens (BAG-TP 2011: 8; Baierl 2014g: 91f.), die Unterstützung der Wahrnehmung, Akzeptanz und Integration verschiedener Persönlichkeitsanteile (Peichl

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2013: 99ff.; Reddemann/Wetzel 2012: 87ff.; Weiß 2011: 172), ein gemeinsames Sprechen über Gefühle, innere Antreiber, persönliche Ziele und Bedürfnisse zur Förderung von Selbstwahrnehmung und Selbstverstehen (Baierl 2014g: 81ff.; Weiß 2009: 107ff.; Rätz 2015: 49f.), die Unterstützung kognitiver Umstrukturierung, beispielsweise durch positive Bindungserfahrungen, das Herausarbeiten von Ressourcen, Selbstwirksamkeits- und Erfolgserlebnisse, die Förderung heilsamer Gedanken, Skalierungen, Reframing und die Anwendung des ABCModells (Baierl 2014g: 85ff.; Gahleitner 2011: 41f.), eine gemeinsame Erarbeitung individueller Stressbewältigungs- und Stabilisierungstechniken als Möglichkeiten zur Selbstregulation (Baierl 2014g: 98; Weiß 2011: 170ff.; BAG-TP 2011: 9f.), die gemeinsame Entwicklung von Dissoziationsstopps (Jäckle 2016: 161) und Strukturierungshilfen wie Tages-, Ziel-, und Notfallpläne (Sautter 2013: 15), die Möglichkeit des Musikhörens mit Kopfhörern beim Lernen zur Förderung von Selbstberuhigung und Konzentration, das Angebot von Wahlmöglichkeiten bezüglich des Sitzplatzes (Einzeltisch vs. Gruppentisch) zur Förderung von Eigenverantwortlich- und Selbstwirksamkeit (Ding 2011: 63), sowie eine gelenkte Unterstützung sozialer Vernetzung zu anderen Schüler_innen und zu von den Jugendlichen als unterstützend wahrgenommenen Erwachsenen (Baierl 2014g: 84f.; BAG-TP 2011: 11; Gahleitner 2011: 56). Das Soziale Training in der Gruppe: Innerhalb der durch den vorgegebenen Rahmen festen Strukturen suchen die Jugendlichen einen Schonraum, in dem sie durch ein auf Beziehung aufbauendes, verlässliches, transparentes und haltgebendes Gerüst nachreifen können, indem sie alte Muster anschauen und neue Strategien aufbauen und trainieren. Ziel des Sozialen Trainings ist eine Veränderung ihrer Bewältigungstechniken. So geht es um die Vermittlung und das Einüben einer verbesserten Selbst- und Fremdwahrnehmung, von Selbstkontrolle und Ausdauer, von Einfühlungsvermögen, des Umgangs mit Lob, Kritik, Misserfolg u.v.m. Durch ständiges Miteinandererleben in einem geschützten Rahmen schaffen wir den Raum, sanktionsfrei neue Verhaltensweisen kennenzulernen, einzuüben und dauerhaft in das eigene Verhaltensrepertoir zu übernehmen. Dieser auf dem Grundsatz selbstbestimmten Lernens basierende Ansatz wird praktiziert nach den Spielregeln der themenzentrierten Interaktion (TZI) (Cohn/Terfurt 2007). Dementsprechend kann jeder ein Lernthema einbringen, wobei die aktuelle Gruppensituation in Form sozialer Konflikte, gruppendynamischer Prozesse oder erlebter Störgefühle der Themenspeicher ist. Elemente des Kooperativen Lernens und der Gestalttherapie fließen ebenso in das Training ein wie Bausteine des Projektunterrichts und der PPCs (Positive Peer Culture). Die neurobiologischen Erkenntnisse der letzten Jahre zeigen, wie groß die Macht der inneren Bil-

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der ist und betonen, wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern (Hüther 2011). Schlussbemerkungen Die Frage nach den Bedingungen, die Schüler_innen brauchen, um eine größtmögliche Teilhabe an schulischen Erziehungs- und Bildungsprozessen zu erlangen, ist ein originär inklusiver Gedanke. Die dargestellten theoretischen Grundlagen verstehen wir als hilfreiche Ansätze zur Gestaltung eines verstehenden und respektvollen Miteinanders im Allgemeinen sowie mit hochbelasteten jungen Menschen im Speziellen. Die von uns auf der Basis einer traumasensiblen pädagogisch-professionellen Haltung beschriebenen Umsetzungsmöglichkeiten können als Impulse verstanden werden, eigene Konzepte und Strukturen in den verschiedenen schulpädagogischen Handlungsdimensionen zu entwickeln und Schule so als sicheren Lern- und Lebensraum zu gestalten. Literatur Arbeitsgruppe Fachtagung Jugendhilfe im Deutschen Institut für Urbanistik (Hg.): Systemsprenger verhindern. Wie werden die Schwierigen zu den Schwierigsten? Aktuelle Beiträge zur Kinder- und Jugendhilfe 103. Berlin: Eigenverlag. Baierl, Martin (2014a): Liebe allein genügt nicht, doch ohne Liebe genügt nichts. Werte und Haltungen in der Traumapädagogik. In: Baierl/Frey, Praxishandbuch Traumapädagogik, 47-55. Baierl, Martin (2014b): Mit Sicherheit ein gutes Leben. Die fünf sicheren Orte. In: Baierl/Frey, Praxishandbuch Traumapädagogik, 56-71. Baierl, Martin (2014c): Zusammen auf der Seite des Kindes stehen. Eltern- und Familienarbeit. In: Baierl/Frey, Praxishandbuch Traumapädagogik, 108-115. Baierl, Martin (2014d): Das Leben lieben lernen. Lebensfreude als Grundhaltung traumapädagogischen Handelns. In: Baierl/Frey, Praxishandbuch Traumapädagogik, 131143. Baierl, Martin (2014e): Dir werde ich helfen. Konkrete Techniken und Methoden der Traumapädagogik. In: Baierl /Frey, Praxishandbuch Traumapädagogik, 80-107. Baierl, Martin (2014f): Herausforderung Alltag. Praxishandbuch für die pädagogische Arbeit mit psychisch gestörten Jugendlichen. 4. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Baierl, Martin/Frey, Kurt (Hg.) (2014): Praxishandbuch Traumapädagogik. Lebensfreude, Sicherheit und Geborgenheit für Kinder und Jugendliche. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

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Was lässt Jonas wieder lernen? Umgang mit störungswertiger Dissoziationsneigung U LRIKE D ING Jonas springt mitten im Unterricht auf und beginnt seine Tasche auszuräumen, läuft zum Regal, wieder zurück und spricht unentwegt vor sich hin. Er ist nicht aufzuhalten, reagiert zwar auf Ansprache, indem er kurz den Kopf dreht, kann seine Handlungen aber nicht stoppen. Jonas scheint in diesen Zeiten nicht für Lerninhalte aufgeschlossen zu sein und kann sich über lange Phasen nicht am Unterricht beteiligen. Er wirkt oft völlig desorientiert und erscheint des Öfteren wie „nicht von dieser Welt“. In Zeiten, in denen er am Unterricht teilnehmen kann, erbringt er durchaus gute Leistungen. Er gehört dann zu den Leistungsstarken. Bereits in den 1980er Jahren ging man in der Sonder- und Heilpädagogik davon aus, dass traumatische Ereignisse der Kinder ursächlich für deren Verhaltensauffälligkeiten in der Schule sind. Es wurden entsprechende Konzepte zum sinnvollen Umgang mit den Kindern entwickelt. Doch erst seit kurzem beginnen diese Erkenntnisse langsam Einfluss auf die allgemeine Schulpädagogik zu haben. Heute gilt als gesichert, weil auch neurologisch erwiesen, dass psychische Traumatisierungen und die Entwicklung störungswertiger Dissoziation weit reichenden Einfluss auf alle Lebensbereiche von Kindern und Jugendlichen haben, so auch auf die schulische Situation. Mit der menschlichen Fähigkeit zu dissoziieren kann das Nervensystem bei Reizüberflutung entlastet werden. Dissoziation stößt kreative Prozesse an und ist hilfreich beim Erschließen und Entwickeln nicht nur kognitiver Fähigkeiten. Die Fähigkeit zu dissoziieren hat eine überlebenswichtige Funktion, die sich jedoch negativ auf alle Entwicklungs- und Lernbereiche in der Schule auswirken kann, wenn sie störungswertiges Ausmaß annimmt. Streeck-Fischer verweist auf Untersuchungen verschiedener Wissenschaftler, die Zusammenhänge zwischen Stressreaktionsmustern, Wahrnehmung, kognitiver Entwicklung und neurochemischen Veränderungen, die das Lernen beeinträchtigen, feststellen (Streeck-Fischer 2006: 134). Häufiges Tagträumen,

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extreme Schüchternheit, Unaufmerksamkeit, Desorientierung, soziale Isolation, starke Leistungsschwankungen und Schulabsentismus sind in der Schule auftretende Symptome, die auf dissoziative Zustände als Folge von Traumatisierung hinweisen können. Traumatisierte Kinder und Jugendliche vermeiden stressbelastete Situationen. Das kann dazu führen, dass belastete Schüler_innen trotz guter bis überdurchschnittlicher Begabungsausstattung in ihren Leistungen versagen und ihre Schulkarriere in der Förderschule endet. Oder sie steigen als Jugendliche aus der Schule ganz aus. Warum kann Jonas nicht lernen? Jonas braucht immer sehr lange, bis er sich auf Unterricht einlassen kann. Er zeigt Verhaltensweisen, die auf traumatische Erfahrungen schließen lassen. Er ist unkonzentriert, kann nicht zeigen, was er kann. Ihn beschäftigen andere Dinge als schulische Inhalte. „Traumatische Belastung belastet das Gedächtnis“, überschreibt Streeck-Fischer (2006: 120) ein Kapitel in ihrem Buch „Trauma und Entwicklung“. Störungswertige Dissoziation bewirkt Erinnerungslücken, Wahrnehmungsschwierigkeiten, Sprachlosigkeit und verändert Verhaltensstrukturen. Die Lernfähigkeit und Lernleistung wird dadurch beeinträchtigt. Kinder wie Jonas können nicht zwischen wichtigen und unwichtigen Informationen unterscheiden. Sie haben die Fähigkeit verloren zu unterscheiden, was ,normal‘ ist und was nicht. In Leistungstests erreichen sie meist gute Werte, sind aber im Schulalltag nicht in der Lage, diese Fähigkeiten passend umzusetzen. In allen Altersstufen können traumatische Erfahrungen kognitive und affektive Störungen verursachen. Informationsaufnahme und Informationsverarbeitung werden beeinträchtigt, Lebens- und Erfahrungskonzepte können schwer integriert, Informationen auf verschiedenen Ebenen der Abstraktion nur schlecht verstanden werden. Die Einschränkungen sind für komplexe Lernstörungen verantwortlich. Aufmerksamkeitsstörungen, Konzentrationsstörungen, Störungen der Fähigkeit sich selbst zu instruieren und sensomotorische Wahrnehmungsstörungen treten auf. Traumatisierte Kinder sind schnell erregbar, weil sie gelernt haben, auf Bedrohliches achten und reagieren zu müssen. Sie missdeuten Reize oder nehmen sie nicht wahr. Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft können nicht miteinander verknüpft werden. Auf alltägliche Erfahrungen können sie sich schwer einlassen. Häufig ziehen sich die Kinder aus den Lernprozessen zurück. Möglicherweise bauen sie Blockaden auf, weil sie mit dem System, im Rahmen dessen schulische Inhalte vermittelt werden, nicht zurechtkommen.

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Im deutschen Schulsystem wird über kognitive Dissonanzen gelernt. Kinder müssen aushalten können, dass ein Problem verschiedene Dimensionen haben kann. Diese unterschiedlichen Sichtweisen und Hypothesen zu einem Lerngegenstand müssen nebeneinanderstehen können. Schüler müssen abwägen und Probleme diskutieren können. Traumatisierte Kinder können diese Unsicherheit, dass es mehrere Lösungen zu einem Problem geben kann, oft nicht aushalten. Mit einer Traumatisierung einhergehende Sprachprobleme bedingen, dass sie es nicht gewohnt sind, Geschehenes in Worte zu fassen. Im Gegenteil: Worte erschrecken sie. Hirnforscher entdeckten, dass in Folge von traumatischen Belastungen schnelle neuronale Bahnungen entstehen, die es erschweren, Wahrnehmungen im Gehirn bewusst zu erfassen. Reaktiver Stress kann die Aktivität ganzer Hirnregionen blockieren. Die Kinder haben Schwierigkeiten, sensorische Reize zu verarbeiten. Die Gefühle des Frustes, der Wut sind überwältigend. Jede neue Situation, jeder neu geforderte Gedanke beunruhigt und könnte ein Versagen verursachen. Aus Angst vor Verletzlichkeit kommt es zur Abwehr, sich mit neuen Themen, Aktivitäten, Tatsachen, Handlungen oder Vorahnungen zu beschäftigen. Die Kinder entwickeln eine Abneigung, beim Lernen etwas zu riskieren und ziehen sich in die Dissoziation zurück. Traumatisierte Kinder fühlen sich ungewöhnlich schnell unter Stress gesetzt. Denn sie können nicht glauben, nicht spüren, dass es jemand ernst mit ihnen meint und sieht, was sie können. Traumatisierte Menschen können nicht zwischen positivem und negativem Stress unterscheiden und reagieren aufgrund ihrer Übererregtheit auf beides gleich. Die Lehrerin wundert sich entsprechend, dass das Kind selbst in ,entspannten‘ und ,guten‘ Situationen nicht wirklich an den Lernprozessen teilhaben kann. In der Folge können Gefühle der Lähmung und Hilflosigkeit als Gegenreaktion in der Lehrerin ausgelöst werden. Schule und der dort herrschende Leistungsdruck ist zudem ein Hort der Selbstwertbedrohung. Notengebung, Vergleichsarbeiten, Leistungstests usw. werden von traumatisierten Kindern als Selbstwertbedrohung empfunden. Das Kind darf nicht fragen, nicht um sich schauen, nicht einfach sagen: „Im Moment kann ich nicht“. Wenn ein Kind zu einem festgelegten Zeitpunkt bestimmte Fähigkeiten nicht abrufen kann, wird es negativ beurteilt. Der Selbstwert des Kindes wird somit ständig bedroht. Alleine und auf sich gestellt kann es ihm nicht gelingen, neue Strategien zu entwickeln, denn es werden ihm keine positiven Erfahrungen ermöglicht. Traumatisierte Kinder haben ein gestörtes Verhältnis zu ihrem Körper. Botschaften des eigenen Körpers verstehen sie nicht mehr. Erstarrung und Blockaden in der sensomotorischen Wahrnehmung sind die Folge. Erlebte Stressfaktoren bedingen, dass Körperreaktionen eingefroren, ganze Körperteile ausgeblen-

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det werden. Überschäumende Aktionen, Selbstverletzungen bis zur Selbstgefährdung und Grenzüberschreitungen können die Folge sein. Schließlich sind traumatisierte Kinder in ihrer Bindungsdynamik erschüttert. Sie entwickeln Bindungsmuster, die es ihnen schwer machen, Nähe zuzulassen. Sie haben das Gefühl der Sicherheit verloren, sich auf Hilfe anderer verlassen zu können. Gefühle der Angst, Wut und Verzweiflung überwältigen sie. Sie entwickeln Strategien, mit diesen Gefühlen überleben zu können. Sie vermeiden stabilisierende Bindungen, weil sie nicht gelernt haben, wie die positiven Emotionen mit den früher erfahrenen Gefühlen und Situationen zu vereinbaren sind. Möglicherweise provozieren sie deshalb eine ablehnende Haltung der Lehrer_innen ihnen gegenüber. Die Ungewissheit wird mit Unruhe, Aktionismus, Destruktivität oder Rückzug in eine Fantasiewelt überspielt. Wenn sie provozieren, Personen und deren Hilfe ablehnen, funktioniert der Schutzmantel. Hilfe holen oder sich helfen lassen gelingt den Kindern kaum. Konflikte können dementsprechend nicht konstruktiv gelöst werden. Die Auseinandersetzung mit sich selbst, mit dem eigenen Handeln ist unmöglich. Was lässt Jonas wieder lernen? In der Schule wird häufig vergessen, dass emotional-soziales Lernen genauso zu den professionellen Aufgaben gehört, wie das Lehren kognitiver Fähigkeiten. Kinder mit traumatisierten Erfahrungen haben Blockaden aufgebaut, die sie vor emotionalem Stress schützen sollen. Geht man davon aus, dass jedes Gehirn fähig ist, neue Bahnen zu knüpfen, muss es möglich sein, traumatisierten Kindern einen Weg zu eröffnen, wieder ins Lernen zu kommen. Die Bedeutung von Schule wird in der Gesamtentwicklung eines Kindes häufig unterschätzt. Das Verhältnis der Kinder und auch Jugendlichen zu ihren Lehrer_innen wirkt sich auf die Entwicklung aus. Fantasie und Entwicklungsmöglichkeiten, die Fähigkeit, neue Erfahrungen zuzulassen, Neugierde und Interesse am Leben und Lernen zu entwickeln, sind abhängig von positiven Lernerfahrungen. Wird Schule durch mangelnde Erfolgserlebnisse und negative Fremdbestätigung negativ besetzt, so wird die Entwicklung der Kinder gehemmt. Die Fähigkeit der positiven Selbsteinschätzung und Selbstwahrnehmung, die Bewusstheit über das eigene Tun und die Fähigkeit zur Selbstreflexion sind abhängig von positiven Rückmeldungen durch die Lehrer_innen, um wiederum den Lernprozess positiv gestalten zu können. Weil das traumatisierte Kind aufgrund von Hypersensibilität und unerträglichem emotionalen Stress sehr effektive Schutzmechanismen gegen das Erleben verletzlicher Gefühle aufgebaut hat, ist es oft nicht fähig, sich auf

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Unterricht im klassischen Sinne einzulassen. Primäre pädagogische Ziele müssen in der Schule deshalb Stabilisierung, Vertrauensaufbau und Kontinuität sein. Schule als „soweit als möglich Sicheren Ort“ gestalten Die Schule hat einen Erziehungsauftrag. Erziehung heißt, den jungen Menschen die Welt zu erklären, ihnen Erfahrungswelten zu eröffnen und sie neugierig auf Wissen, auf das Umfeld und neue Erfahrungen zu machen. Schule kann so gestaltet sein, dass sich auch traumatisierte Kinder und Jugendliche sicher fühlen können, sie ihre Überlebensstrategien aufgeben und neue Verhaltensweisen erlernen können. Ein bewusster Umgang mit erlebter Traumatisierung und ihren Auswirkungen erhöht die Sicherheit der Kinder. Lehrer_innen, die über mögliche Auswirkungen von Dissoziation wissen, kann es gelingen, die stressbelastete Situation zu beruhigen und nicht konflikthaft zu verstärken. Erwachsene bieten den Schüler_innen Sicherheit, wenn sie ihre Wahrnehmung dafür schulen, ob, wann und wodurch das traumatisierte Kind getriggert wird und seine Überlebensstrategien aktiviert werden. Das Wissen darüber, wie traumabezogene Reaktionen verringert werden und Achtsamkeit aufgebaut wird, hilft den Lehrer_innen, betroffenen Mädchen und Jungen Struktur und Halt zu geben, damit sie am sozialen und gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Jedes Kind will sich entwickeln und besitzt die Anlagen dazu. Jeder Mensch wird geboren mit dem Willen und Wunsch zu lernen. Er hat seine eigene Geschichte und sein eigenes Bild von der Wirklichkeit. Sein Verhalten hat in einer bestimmten Situation in einem bestimmten sozialen Zusammenhang und unter bestimmten Bedingungen eine sinngebende Funktion, einen ,Guten Grund‘. Das Verhalten des traumatisierten Kindes kann im Gegenüber Gefühle, Gedanken und Reaktionen auslösen, die verunsichern. Es ist Aufgabe der Erwachsenen, mögliche Gegenreaktionen herauszuarbeiten. Die Frage muss lauten: Was löst das Kind in mir an Gedanken und Gefühlen aus? Gehören diese zu mir und meiner eigenen Geschichte oder zu dem Kind? Das Kind verhält sich seiner subjektiv-logischen Bewältigungsstrategie entsprechend. Zuwendung und Offenheit dem Kind gegenüber – ohne es zu überfordern, weder in seiner momentanen kognitiven Leistungs- noch in seiner sozial-emotionalen Entwicklungsfähigkeit – dienen dem Aufbau einer emotionalen Sicherheit. Alternative Bindungsmöglichkeiten und Beziehungsbildung müssen zugelassen werden. Denn Bindungsfähigkeit ist die Grundvoraussetzung für Lernen. Werden Kinder freundlich begrüßt, zeigen Lehrkräfte, Schulleitung und schulisches Personal freundliche, zuge-

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wandte Präsenz, können die Kinder gut ankommen. Für sie entwickelt sich Schule dann zum „sicheren Ort“ und Rückzugsort. Ein traumatisiertes Mädchen denkt, es sei das einzige Kind, dem das Schreckliche passiert ist. Es weiß nicht, wie das Gegenüber reagieren wird, wenn von den schrecklichen Erfahrungen berichtet wird. Wird im Sinne der traumapädagogischen Haltung in der Klasse über Traumata und ihre Folgen, über die normalen Reaktionen auf unnormale Ereignisse gesprochen, wird erklärt, wie wir Menschen auf Ereignisse reagieren, dann kann ein belasteter Junge erkennen, dass es mehr Menschen gibt, die ähnliches erlebt haben. Dies zu wissen, vermindert das Gefühl von Scham und Isolation und stärkt das Gefühl, verstanden und gehalten zu werden. Werden Reaktionsmuster transparent gemacht und in ihrer lebensnotwendigen Funktion mitgedacht und entsprechend kindgerecht besprochen, dann kann die Klasse den sich in Krisen befindenden Kindern Halt geben. „Es ist daher von großer Bedeutung, dass die Traumapädagogik nicht eine ,spezielle‘ Pädagogik für ,spezielle‘ Kinder ist, sondern genereller Bestandteil von Gruppenpädagogik wird.“ (Bausum 2013: 190) Transparenz herstellen kann helfen einen so weit als möglich sicheren Ort zu schaffen. Transparenz heißt nicht, die Geschichte der betroffenen Kinder offenzulegen oder gar die Kinder bloßzustellen. Es ist vielmehr die Aufgabe der Lehrer_innen „dafür zu sorgen, dass die Jungen und Mädchen wissen, wie Beziehungsangebote gestaltet werden, welche Strukturen, Regeln, Konsequenzen und Arbeitsweisen in der Klasse gelten“ (Bausum 2013: 194). Kinder sind angewiesen auf verlässliche Abläufe, um sich orientieren zu können. Diese sollten entsprechend hilfreich und zweckmäßig sein. Eine Regel beschreibt die erwartete positive Handlung. Sie ist klar formuliert und eindeutig zu verstehen. Schulregeln haben nur Sinn, wenn sie immer wieder auf ihre Sinnhaftigkeit hin überprüft werden. Für traumatisierte Mädchen und Jungen sind aufgestellte Regeln oft stressbelastet. Mit ihnen müssen täglich Vereinbarungen neu ausgehandelt werden, manchmal in noch kürzeren Abständen. Verbote und Strafen sind für diese Kinder häufig gewohnte Mittel und deshalb nutzlos. Sie perlen an ihnen ab. Die Kinder reagieren mit „Lass mich doch in Ruhe – ist mir doch egal“ und beginnen den gewohnten Rückzug in die Dissoziation. Erst wenn die Kinder an Sicherheit gewonnen haben, können sie aufgestellte Regeln als Halt gebende Struktur annehmen. Auch Änderungen im Stundenplan müssen für Kinder, egal welchen Alters und in welcher Schulform, zugänglich gemacht werden. Unsicherheiten im Tagesverlauf, weil Kinder z.B. nicht erfahren, welche Person als Vertretung eingesetzt wird, können Kinder mit störungswertiger Dissoziationsneigung vollkommen aus der Bahn werfen.

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Jedes Kind hat seine eigene innere Ordnung und auch sein eigenes Ordnungssystem. In diesem Sinne ist es bedeutsam zu klären, welche Strukturen für das traumatisierte Kind zweckmäßig und sinnstiftend sind. Konstante und Halt gebende Strukturen dienen als Orientierungshilfe. In manchen Kindern lösen offene Arbeitsformen Stress aus, weil ihnen hier die Orientierung fehlt. Es kann helfen, vorgegebene Strukturen mit dem betroffenen Kind zu besprechen und die Zweckmäßigkeit gemeinsam zu überprüfen. Kurz nachdem die Lehrkraft wie jeden Tag einen guten Morgen gewünscht hat, alle Kinder sich unaufgefordert in den morgens üblichen Stuhlkreis setzen und ruhig warten, kann auch Jonas sich auf seinen Platz setzen. Kurz vorher war er noch laut schreiend in der Schule angekommen, rannte herum, beleidigte andere, umarmte die Lehrerin, um sie gleich darauf zu beschimpfen. Doch hier im Klassenraum passiert nichts Neues. Jeden Morgen das gleiche Ritual. Der Tagesplan wird aufgeschrieben und besprochen, nach der Befindlichkeit jedes einzelnen Kindes wird gefragt und am Ende bekommt besonders Jonas genau erklärt, was in den nächsten zehn Minuten gemacht werden soll. Eine Voraussetzung, um lernen zu können, ist die Fähigkeit, Ungewissheit zu ertragen. Doch wenn diese Fähigkeit durch emotionale Stressfaktoren blockiert ist, muss Kindern wie Jonas die Sicherheit geboten werden, von Neuem und Unvorhersehbarem nicht existenziell bedroht zu werden. Offene Arbeitsformen, wie Wochenplanarbeit oder freie Arbeit, die eigenständiges Arbeiten erfordern, dienen Kindern in der Regel als Quelle, aus der sie Selbstwert ziehen. Für Jonas sind sie oft nicht durchschaubar und deshalb bedrohlich. Ihm gelingt es selten, weit vorauszuplanen und seine Lernzeit zu strukturieren. Er erkennt nicht, welche Aufgaben für ihn wie zu schaffen sind. Er braucht kleinschrittige Angebote. Offene Phasen, die vor allem in Kunst, Musik, Sport und Spiel kaum zu vermeiden sind, müssen besonders gut geplant und strukturiert werden. Für eine gute Lernatmosphäre ist die räumliche Umgebung wichtig. Es braucht klar strukturierte, ästhetisch schöne und unerschütterliche Räume, die Sicherheit und Orientierung bieten. Überall in der Schule können Ecken und Plätze eingerichtet werden, die den Kindern einen Rahmen stecken. Ruhezonen, Bewegungsräume, Plätze ohne viel Ablenkung, Spielzonen für Groß und für Klein sind hier nur Beispiele. Zur Struktur gehört auch der Sitzplatz des Kindes. Traumatisierte Kinder wählen oft Einzeltische, die sie als sicheren Ort empfinden, weil sie Nähe und Enge überfordert. Das Blickfeld zwischen dem betreffenden Kind und der Lehrkraft sollte frei sein, damit jederzeit Kontakt aufgenommen werden und das Kind im Hier und Jetzt gehalten werden kann.

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Ein Kind mit traumatisierenden Erfahrungen braucht in besonderem Maße Erfolge, die in den Unterricht mit eingeplant werden. Je jünger die Kinder sind, desto konkreter, schlichter und leichter handhabbar sollte das Material sein. Demonstrationsbeispiele sollten nicht zu perfekt sein, damit Kinder für sich eine konkrete Chance haben, ihr Produkt im Vergleich als gut anzuerkennen. Es kann hilfreich sein, das Kind so lange in Druckschrift schreiben zu lassen, wie es möchte. Nur auf Leserlichkeit muss geachtet werden. Den Kindern auch die Struktur in Heften immer wieder zeigen und erklären. Eine klare Lehrersprache mit positiven Formulierungen und kurzen konkreten Arbeitsanweisungen, die das erwartete Verhalten formulieren, nutzen Kindern wie Jonas. Mit Symbolen arbeiten, um den Redeanteil zu verringern. Dem Kind eine beschreibende Rückmeldung über seine Leistung oder sein positives Verhalten geben. Traumatisierte Kinder können freundliche Kontaktaufnahmen oft nicht wahrnehmen. Sie interpretieren die Handlungsweisen der anderen auf ihre eigene Weise. Erwähnt, also spiegelt der Lehrer wie nebenbei positive Verhaltensweisen des Kindes − „Du sitzt ruhig auf Deinem Platz“ − hört es, dass es wahrgenommen wird. Auch mit Zeichen und Bewegungen kann Verhalten gespiegelt werden. Um wieder in den Lernprozess kommen zu können ist wichtig, dass das Kind hört und spürt, dass es gesehen wird, ohne im Mittelpunkt stehen zu müssen. Traumatisierte Kinder verstehen Kritik als Abwerten ihrer gesamten Person. In Reflexionsrunden sollte deshalb besonders auf die Sprache und einzelne Formulierungen geachtet werden. Die Kinder müssen erst lernen, Lob und Kritik annehmen zu können. Jonas braucht unendlich viel Bestätigung, viele Erfolgserlebnisse und das Gefühl, mit seinen positiven Anteilen gesehen zu werden, um wieder ein Gefühl zu sich selbst zu bekommen. Manchmal nutzt aber die positive Bestärkung bei Jonas nichts mehr. Er rastet aus, gefährdet sich und andere. Bei Kindern, die Gewalt erfahren haben, ist ,sich gegen Grenzen zu wehren‘ eine Überlebensstrategie. Diese Kinder brauchen Grenzen, die in ihnen das Vertrauen aufbauen, dass sie sich in Sicherheit bewegen, sie Sicherheit gewinnen, wenn sie die Grenzen einhalten. Grenzen zu setzen bedeutet meistens Konfrontation, die von Lehrer_innen eine hohe Fähigkeit zu professioneller Distanzwahrung fordert. Natürlich ist es sinnvoll, sollten Erwachsene ein bestimmtes Verhalten des Kindes wahrnehmen, von einer Situation abzulenken, bevor ,es losgeht‘, indem Jonas zum Beispiel eine neue Aufgabe wie das Putzen der Tafel übertragen wird. Doch das gelingt nicht immer. Die Grenzsetzung sollte dann eindeutig, klar und rechtzeitig geschehen. Sie ist keine Bitte mehr. Ein deutlich formuliertes „Jonas hör auf!“ − vielleicht auch mehrfach genauso wiederholt − entlastet alle. Sowohl bei Konfrontationen als auch bei

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Grenzsetzungen muss die Haltung der Erwachsenen immer deutlich machen: Ich achte dich als Person. Manchmal kann es für Jonas gut sein, wenn er aus einer Situation herausgenommen wird. Zeigt sein Verhalten an, dass die Lerngruppe nicht mehr genügend Sicherheit bietet, muss er die Möglichkeit bekommen, die Gruppe zu verlassen. Mit Jonas ist vereinbart, dass er vor die Tür gehen kann, bis es ihm wieder besser geht. Sind diese Phasen besprochen, dienen sie nicht als Strafe, sondern werden als Entspannungsvariante angeboten. Wichtig ist, dass das Kind mitentscheiden kann, wann ,es wieder geht‘. Jonas kommt immer wieder von alleine zurück. Denn die Bindungsmöglichkeiten sind aufgebaut und: Der Mensch will lernen. Für Jonas und all die anderen kann es aber auch schon sinnvoll sein, einfach da sein zu dürfen. In der Gruppe sein zu dürfen schützt sie vor Isolation und dient der sozial-emotionalen Stabilisierung. Pädagogik der Selbstbemächtigung in der Schule Traumatisierte Kinder konnten grundlegende Fertigkeiten in ihren Ursprungsfamilien oft nicht erlernen. Die unterentwickelten Fertigkeiten können gezielt gefördert werden. Gleichzeitig müssen die Beziehungs- und Sicherheitsbedürfnisse des Kindes und auch der Lehrer_innen versorgt werden. Die aus der Traumapädagogik entwickelte Pädagogik der Selbstbemächtigung (Weiß 2013b) ist eine konzeptionelle Antwort auf die schwierige Arbeit mit traumatisierten Kindern. Sie erleichtert den Aufbau eines positiven Selbstbildes, der Selbstwirksamkeit und der sozialen Fertigkeiten. Mit Methoden der Selbstbemächtigung wird die Stresstoleranz erhöht. Verstehen sich Lehrer_innen als Lernbegleitung, können sie im Rahmen der regelmäßigen Gespräche eine förderliche Beziehung zu den Kindern und Jugendlichen schaffen. „Für die Adoleszenzentwicklung kann es entscheidend wichtig sein, in welchem Verhältnis der Jugendliche zum Lehrer steht, ob Lernen und Lernerfahrungen positiv besetzt sind und Fantasie- und Entwicklungsräume bereitgestellt werden können, die Neuerfahrungen ermöglichen.“ (Streeck-Fischer 2006: 132) Schule braucht professionelle Lehrer_innen und Pädagog_innen, die das nötige Wissen über Traumatisierung besitzen und deren Auswirkungen kennen. Dann können sie eine entsprechende Haltung den Kindern gegenüber entwickeln und eine Pädagogik umsetzen, die auch diese Kinder erreicht. Schulen, die nach den Grundsätzen der Traumapädagogik arbeiten, können stark dissoziierenden Kindern und Jugendlichen helfen, ihre lernhemmende Neigung im Schulalltag zu verringern.

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Jonas und all die anderen wollen an der Schule teilhaben. Sie wollen Kontakt zu anderen Kindern und Jugendlichen, sie wollen lernen, doch sie sind so stressbelastet, dass sie ihre Aufmerksamkeit nicht regulieren können. Sie können nicht im Hier und Jetzt sein. Das bedeutet, dass wir in der Schule eine Atmosphäre schaffen müssen, die neue Erfahrungen möglich macht. Den Kindern Zeit geben, die Welt zu entdecken und ihnen diese zu erklären. Aber ihnen auch Zeit und Möglichkeit zu geben, ihre Sicht der Welt erklären zu können. Horst Rumpf beklagt bereits 1981 in seinem Buch „Die übergangene Sinnlichkeit“ die Entwicklung der Schulpädagogik, in der nur technokratisch Lernstoff dargeboten wird. Die Tulpe wird zwar eventuell noch in den Unterricht mitgebracht, doch dann können die Kinder nicht erklären, was beispielsweise das Rot der Blütenblätter oder welche Ideen, Erinnerungen oder Bilder die Tulpe in ihnen auslöst. Im Gegenteil: Die Tulpe wird zerrissen oder auseinandergeschnitten, um sie zu erforschen. Auf die Kinder und ihr Inneres zu achten und beim Gegenstand zu verweilen, über die eigenen Gefühle, Erinnerungen reden zu können, wird versäumt (Rumpf 1988). Hier könnte auch helfen „Pädagogik als Kunst“ zu begreifen, wie Dederich (2012) es beschreibt. Er fordert eine „sehr klare, empfindliche, für Nuancen sensible Wahrnehmung der Schüler, ihrer Lernwege, inneren Ressourcen und Neigungen, ihrer lebensweltlichen Erfahrungshintergründe, Schwierigkeiten und eventuell schädigungsbedingten Beeinträchtigungen.“ (Dederich 2012: 104) Wenn Lehrer_innen ihre eigene Sinneswahrnehmung, Achtsamkeit und Aufmerksamkeit schulen, werden sie erkennen, ob Kinder anwesend sind und aufpassen können. Schüler_innen zeigen, was sie brauchen. Manchmal sehr verborgen, aber immer „durch ihr Verhalten, ihren körperlichen und emotionalen Ausdruck, ihre Art sich auf Dinge, Situationen und Menschen zu beziehen ...“ (Dederich 2012: 104). Ein feinfühliges Achten auf die grundsätzliche und aktuelle Aufnahmekapazität des Kindes bei Lernanforderungen kann dann möglich werden. Begleitung des Lernprozesses verlangt gerade bei traumatisierten Kindern ein genaues Hinschauen auf die Ressourcen und Fähigkeiten der Kinder. Lernbegleit- oder Förderplangespräche können genutzt werden, um mit dem Jugendlichen darüber zu sprechen, was triggert, was ihm hilft. Wird das Wissen über Trauma und Dissoziation mit in die Gespräche einbezogen, fühlen sich die Schüler_innen ernst genommen. Sie können sich sicherer fühlen, weil sie spüren, dass sie gehalten werden können. Sie werden nicht verurteilt dafür, dass sie nicht zu einem bestimmten Moment auf den Punkt genau verlangte Leistungen zeigen können. Zielsetzungen in kleinen erreichbaren Schritten ermöglichen ihnen Erfolgserlebnisse. Sie können das Gefühl von Bewältigungs- und Steuerungsfähigkeit behalten. Für die Kinder kann es sich dann lohnen, in der Gemeinschaft der

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Schule zu bleiben. Reflexionsfähigkeit, Wahrnehmungsfähigkeit nicht nur zwischen den Erwachsenen, sondern auch und vor allem gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen, muss geübt werden. Pädagogik der Selbstbemächtigung im Unterricht Eine wertschätzende Haltung vor-leben Als Grundhaltung gilt die Wertschätzung der Überlebensleistung lebensgeschichtlich belasteter Kinder. Ihre Leistungen und Anstrengungen, die sie tagtäglich zeigen, auch wenn diese nicht mit den üblichen Kategorien der Schule messbar erscheinen, sind anzuerkennen. In den Schulen braucht es eine Atmosphäre der gegenseitigen Unterstützung. Erwachsene unterstützen Kinder und Jugendliche, Lehrkräfte unterstützen sich gegenseitig. Das beginnt bereits mit der Sprachkultur. Eine wertschätzende Sprache, die wohlwollend einlädt, jeden Tag, jede Stunde wieder neu gemeinsam beginnen zu können, stärkt den Halt und die Sicherheit der Mädchen und Jungen: die Kinder morgens begrüßen, jeden Morgen herzlich aufnehmen, anwesend sein, wenn die Schüler ankommen, auch außerhalb des Unterrichts kurze positive Anmerkungen einfließen lassen und dabei auf eine wertschätzende Wortwahl achten. Manchmal ist die Sprache Auslöser für irritierende Verhaltensweisen. Mit einfachen Mitteln kann es Lehrer_innen gelingen, die Gefahr von beunruhigenden Momenten zu verringern. Traumatisierte Kinder haben teilweise ihre Sprache verloren. Wir können sie darin unterstützen, Ausdrucksmöglichkeiten − ihre Sprache − für das Unaussprechliche wieder zu finden. Dem Kind vermitteln: Ich sehe Dich. Ich akzeptiere Dich, so wie du bist und mit dem, was Du erlebt hast. Und ich kann Dir im geschützten Rahmen neue Wege aufzeigen, damit du im Hier und Jetzt lernen kannst. Präsent sein Traumatisierte Mädchen und Jungen fühlen sich sicher und gestützt, wenn sie merken, dass sie gesehen werden. Lehrer_innen, die zeigen „ich bin da und kann dich unterstützen, wenn du mich brauchst“, die Offenheit zeigen und hinsehen ohne sich unkontrolliert einzumischen, geben den Kindern Sicherheit. Lehrkräfte können Pausen auf dem Schulgelände nutzen, um in Kontakt mit den Kindern und Jugendlichen zu treten. Die Erwachsenen zeigen Interesse und die Kinder fühlen sich ernst genommen. Präsent sein heißt, in Beziehung treten mit sich, den Mädchen und Jungen und mit den Kolleg_innen. Im gemeinsamen Kontakt kann bereits innerhalb der Schule ein Netzwerk entstehen, in dem Traumabelastete aufgefangen und gehalten werden können.

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Die Aufnahmekapazität des Kindes beachten Die jeweilige momentane Verfassung traumatisierter Schüler_innen beeinflusst das Lernverständnis und die Fähigkeit, Absprachen oder Aufträge zu verstehen. Neue Lerninhalte, aber auch bereits bekannte Arbeitsaufträge, haben für sie ein hohes stressbelastetes Moment. Achtet die Lehrkraft z.B. auf die grundsätzliche und momentane Aufnahmekapazität einer traumabelasteten Schülerin, kann sie gegebenenfalls Arbeitsaufträge wiederholen oder in kleineren Schritten und kürzeren Abständen erklären. Wird Jonas aufgefordert, seine Hausaufgaben aus dem Ranzen zu holen, kann ihn das schon in großen Stress versetzen. Alleine, weil er sich nicht erinnern kann, ob er die Hausaufgaben gemacht hat, ob er sie eingepackt hat oder ob er sie richtig ausgeführt hat. Er fängt an vor sich hin zu erzählen, driftet ab in seine Monsterwelt oder ähnliches. Es ist Aufgabe der Lehrkraft, Jonas aus seiner Welt herauszuholen. Ihn wohlwollend dabei zu unterstützen, im Ranzen nachzuschauen. Oder ihm zu versichern, dass er die Aufgaben schon einmal gemacht hat und damals lösen konnte. Professionelle Distanz wertschätzend wahren Herausforderndes Verhalten traumatisierter Kinder ist nicht gegen Lehrkräfte oder das Lernen an sich gerichtet. Lehrer_innen dürfen das Verhalten nicht persönlich nehmen, sondern müssen ihre professionelle Distanz wahren. Und trotzdem müssen sie erkennen, dass auch ihr eigenes Verhalten Auslöser für die Reaktion des Kindes sein kann. Gelingt es, die eigenen Reaktionen und Verhaltensweisen professionell zu reflektieren, kann man den „Guten Grund“ des Kindes für dessen Verhalten erkennen und entsprechend stärkend darauf eingehen. Eine wertschätzende Beziehung zum Kind, die es ihm ermöglicht, neue Bindungsmuster kennenzulernen, verringert die lernhemmende Neigung. Den Guten Grund erkennen In Lernbegleitgesprächen kann dem ,Guten Grund‘ (vgl Weiß 2013a:122 ff.) nachgegangen werden. Kinder mit störungswertiger Dissoziationsneigung wissen oft nicht, wann sie wie gehandelt haben. Ihr Handeln ist häufig automatisiert oder wirkt paradox, der Situation völlig unangemessen. Mit der „Weilfrage“ (Weiß 2014: 103) laden wir sie ein, gemeinsam nach dem guten Grund zu suchen. Häufig sind sie überrascht, wenn sie hören, wie sie gehandelt haben und wie sie auf andere wirken. Mit dem Wörtchen „weil“ gelingt es, mit ihnen über ihre Situation ins Gespräch zu kommen, in Worte zu fassen, was so unfassbar erscheint und gemeinsam nach Lösungswegen zu suchen – die Weilfrage kann einladen, zu verstehen.

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Lernen ist Bewegung – Bewegung in den Schulalltag bringen Traumatische Erfahrungen werden im Nervensystem des Körpers gespeichert. Konnte ein Kind während der traumatischen Erfahrung vom Körper reflexhaft ausgeschüttete Energie nicht ausagieren, verbleibt sie im Körper als ,eingefrorene Energie‘. Das hat zur Folge, dass Körperwahrnehmung, Koordination, das Gefühl für die eigenen Körpergrenzen und Sinneswahrnehmungen gestört sind. Unser Gehirn entwickelt sich gemeinsam mit unserem Körper durch Bewegung. Das neuronale System baut sich über Bewegungserfahrung auf. Unser gesamter Organismus ist durch Bewegung bestimmt. Atmung, innere Organe, die Sinnesfähigkeiten, alle menschlichen Funktionen sind abhängig von Bewegung. Die ersten nach außen gerichteten Bewegungen eines Menschen sind durch Reflexe bestimmt. Die reflexhaften Bewegungsabläufe sind als Körpergedächtnis in uns verankert. Mit jeder Bewegungserfahrung werden neuronale Verzweigungen geschaffen, die Vernetzung vergrößert sich, Emotionen werden ausgelöst und Erinnerungen an Gerüche, Klänge, Berührungen im Körpergedächtnis integriert. Bewegung und innere Bewegtheit sind eng miteinander verbunden. Die Erfahrung durch und mit Bewegung vergrößert das Verständnis für uns selbst und ermöglicht es uns, Gelerntes durch Handeln zum Ausdruck zu bringen. Traumatisierte Mädchen und Jungen sind in ihren Bewegungserfahrungen häufig stark eingeschränkt. Die Energie, die während des traumatisierenden Ereignisses nicht freigesetzt werden konnte, ist im Körper dieser Kinder eingeschlossen. Das Körpergedächtnis wird in jeder vermeintlichen Stresssituation aktiviert, gelernte Reaktionsmuster werden ausgelöst. Traumatisierte Kinder brauchen Erfahrungen, die ihnen neue neuronale Vernetzungen ermöglichen. Das gelingt durch Bewegung, die Erfahrungen in Raum und Zeit, mit Emotionen und Berührungen ermöglicht. Je mehr wir uns bewegen, desto effizienter arbeitet unser Gehirn, wohingegen Bewegungsmangel zusätzlich zu innerem Stress führt. Die Folge ist, dass Lern- und Gedächtnisleistung ab- und Konzentrationsprobleme zunehmen. Traumatisierte Mädchen und Jungen leben aber in ständiger Alarmbereitschaft. Sie reagieren sensibel auf jedes Nebengeräusch und selbst flüchtige Bewegungen. Für sie bedeutet die Erhöhung von Bewegungsfähigkeit den Abbau von Stress im Körper, eine Verringerung von Stressfaktoren und einen weiteren Baustein zur Selbstbemächtigung. In jeden Unterricht können Bewegungsphasen integriert werden. Lässt die Konzentrationsfähigkeit nach, wird die Klasse unruhig, kann eine kurze rhythmische Übung helfen, alle zu lockern, damit sie sich anschließend wieder auf den Lerninhalt konzentrieren können. Ein Kind wird aufgefordert, einen Rhythmus

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mit körpereigenen Instrumenten vorzumachen1. Es können auch Überkreuzbewegungen oder Stampf- und Klopfbewegungen vor- und nachgemacht werden, die den Zugang zu den Sinnen (auditiv, visuell und propriozeptiv) verbessern. Je langsamer die Übungen ausgeführt werden, desto mehr werden Feinmotorik und Balance beansprucht. Die zuständigen Hirnfunktionen werden bewusst aktiviert. Bei jüngeren Kindern oder in Gruppen mit mehreren schwer belasteten Mädchen und Jungen kann es sein, dass alle zwanzig Minuten solch eine kurze Phase in den Unterricht eingebaut werden muss. Bewegung kann auch ritualisiert für Phasenwechsel genutzt werden. Für ein besonders belastetes Kind können in kürzeren Abständen Bewegungsphasen nötig sein. Sind diese aktiv eingeplant, verhindern sie bei allen Beteiligten stressbehaftete Situationen. Zum Beispiel kann es dem Kind gut tun, wenn es die Tafel putzen soll, Blumen gießt, Aufträge bekommt, die es veranlassen über den Schulhof oder ins Sekretariat zu gehen. Mit Bewegung wird unser gesamtes vegetatives Nervensystem aktiviert, die Konzentration erhöht und unsere Aufmerksamkeit ins Hier und Jetzt gelenkt. Unterstützende Themenauswahl für den Unterricht Aufmerksamkeitsregulation, Selbstwahrnehmung und Wahrnehmungssteuerung sind bei traumatisierten Kindern gestört. Damit diese Fähigkeiten auch an curricular festgelegten Lerngegenständen geübt werden können, muss eine Kultur der Sinnlichkeit in die Schulen zurückkehren. Sinnlichkeit und Achtsamkeit können in alle Fächer eingebracht werden, in denen mit Materialien oder dem Körper gearbeitet wird. Lassen wir die Kinder und Jugendlichen an einem Gegenstand ein wenig länger verweilen, damit sie erspüren können, was das Material, die Bewegung, der Gegenstand mit seiner Form, Farbe und Eigenschaft in ihnen für Empfindungen auslöst. Dies in Worte zu fassen, aussprechen zu dürfen, kann eine gute Übung sein, sich selbst besser zu verankern. Zur Stärkung des Selbst, zur Selbsterfahrung und auf dem Weg zu einer positiven Selbsteinschätzung braucht es Räume, in denen Ausdrucksformen ohne schulische Bewertung möglich werden. Besonders geeignet sind hierfür künstlerisch-ästhetische Fächer, Gefühle malen, sich musikalisch und tänzerisch ausdrücken dürfen. Werden hierbei die Ressourcen der Kinder und Jugendlichen genutzt (Sprache, Bewegung, Musikalität, künstlerischer Ausdruck, Ästhetik etc.), dient dies dem Selbstausdruck und damit der Selbstbemächtigung. Auch handwerkliche Fähigkeiten sollten genutzt werden. Die praktische Arbeit mit Holz, Ton und Stein verankert traumatisierte Kinder und Jugendliche im Hier und Jetzt.

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Vgl. hierzu die nachfolgenden Erläuterungen zum Schlagwort Musik.

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Sport und Psychomotorik Hier werden bewusst Einheiten eingebunden, in denen es nicht um ,schneller‘ und ,besser‘ sondern um Wahrnehmung geht. Akzeptieren, dass Grenzen da und auch legitim sind, hilft den Schüler_innen bei ihrer Selbstwahrnehmung und Selbstakzeptanz. Selbsttätiges Handeln steht, wie in der Psychomotorik, vor dem Üben. Wieder wäre es wichtig, Kinder bei Übungen verweilen zu lassen. Die Kinder anleiten, in den Körper hineinzuspüren: „Wenn ich diese Übung mache, wo spüre ich das in meinem Körper? Wie fühlt sich das an?“ Aufwärmübungen oder freies Tanzen bewusst mit festem Aufstampfen der Füße auf den Boden und mit Körperwahrnehmungsübungen verbinden. Bodenkontakt herstellen hat eine stabilisierende Wirkung. Immer wieder Phasen zur Improvisation, zum Entdecken eigener Möglichkeiten einräumen. Ohne negative Bewertung oder beschämende Situationen kann jeder frei und ungezwungen eigene Bewegungs- und Lösungsmöglichkeiten im Rahmen vorgegebener Spiel- und Lernangebote ausprobieren und finden. Die Angebote lassen die Kinder den Wechsel von Anspannung und Entspannung wahrnehmen, Körpergrenzen spüren sowie die Möglichkeiten und Grenzen ihrer eigenen Handlungsfähigkeit erleben. Musik Musik ruft im Menschen emotionale und körperliche Veränderungen hervor. Bei keinem menschlichen Sinn – sieht man vom Schmerzsinn ab – ist der emotionale Anteil so hoch wie beim auditiven System. Schwingungen, die beim Hören aufgenommen werden, wirken auf das gesamte vegetative Nervensystem. Vor allem aktives Musizieren erhöht die emotionale Beteiligung am Musikerleben. Selbst wenn es nicht zu äußerlich sichtbarer Bewegung kommt, wirken Musik und Rhythmus auf psychosomatische Abläufe und beeinflussen das vegetative Nervensystem, unser Erleben und unsere Bewegung. „Je mehr der emotionale Bereich im Vordergrund steht, desto intensiver ist der Wirkungsgrad rezeptiv oder aktiv erlebter Musik.“ (Moroder-Tischler/Tischler 1990: 11) Musik zu erleben, fördert die Fremd- und Eigenwahrnehmung. Durch Musik werden der emotionale, der körperlich-sensorische, der soziale und der kognitive Bereich sensibilisiert. Unsere körpereigenen Instrumente stellen den engsten Bezug zu sich selbst dar. Mit allen Körperteilen kann rhythmisch, arrhythmisch, melodisch oder geräuschhaft gespielt werden. Wir können unmittelbar spüren, wie die Musik produziert wird. Der eigene Rhythmus wird spürbar. Wenn Kinder beispielsweise mit den Händen auf die Oberschenkel patschen, führen sie die Bewegung nicht nur aus, sondern sie spüren den Widerhall in ihrem Körper. Die Erfahrung, mit dem eigenen Körper Musik machen zu können, mit ihm umgehen und seinen

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Rhythmus wahrnehmen zu können, steigert das Selbstwertgefühl. Es gibt kein richtig oder falsch, weshalb die Selbstwertbedrohung minimiert wird. Die Kinder erleben ihre Musikalität, erfahren, dass sie die Bewegung selbst und bewusst steuern und dass sie damit ein musikalisches Produkt herstellen, mit dem sie wiederum die Welt bewegen können. Trommeln, mit Rhythmusinstrumenten spielen und tanzen, lässt die Kinder sich selbst erfahren. Auch hier sollte man Improvisation ermöglichen, damit die eigene Ausdrucksfähigkeit erprobt werden kann. Den eigenen Rhythmus zu finden, den eigenen inneren Rhythmus zu erspüren und wahrzunehmen, schult die Selbstwahrnehmung und kann helfen, sich im Hier und Jetzt zu verankern. Auch die Arbeit mit der Stimme und der Atmung bewirkt Schwingungen im ganzen Körper. Langsam und behutsam kann Musik helfen, Körperempfindungen, Atemvolumen und Beweglichkeit zu erweitern. Gemeinsam Musik zu machen gibt Halt in der Gruppe, stärkt die Gemeinschaft und das Gefühl, dazuzugehören. Kreatives Gestalten – Kunst „Selbstverwirklichende Kreativität ist heilend und gibt den Menschen ein Gefühl der Befriedigung und des Könnens, sie kann gelernt und entfaltet werden.“ (Bundschuh/Picard 2013: 213) In der Schule können wir Räume schaffen, Zeiträume, in denen Platz für freien Ausdruck gegeben wird, in denen es kein richtig oder falsch gibt. Es braucht Angebote, im Rahmen derer die Mädchen und Jungen Materialerfahrungen sammeln können, um sich die Welt ein wenig mehr zu erklären. Der Kunstunterricht kann genutzt werden, aufmerksam die Welt betrachten zu lassen. Den Schüler_innen zeigen, was in der Umgebung alles zu sehen und zu entdecken ist, damit sie ihre Aufmerksamkeit immer mehr einem Außen zuwenden können, das sie nicht bedroht. Der Umgang mit Farben und Formen, Bildern und Gestalten fördert die visuelle und taktile Verarbeitung. Kreatives Gestalten fördert den Selbstausdruck, neue Verzweigungen im und zum Neokortex, dem denkenden Teil des Gehirns, können gebahnt werden. Sachunterricht, Deutsch, Mathematik, Geschichte usw. Zur Selbstbemächtigung gehört kognitives Wissen. So lassen sich auch in den Unterrichtsfächern, die auf den ersten Blick mehr die Kognition fordern und rein theoretisch wirken, Einheiten einfügen, die Schüler_innen darin unterstützen, ihre traumabezogenen Verhaltensweisen zu verringern (Ding 2014). Neben besonderen Unterrichtseinheiten kann es in Fächern wie dem Sachunterricht, Geschichte und Deutsch sowie den Naturwissenschaften gelingen, die Kinder zu erreichen und dort abzuholen, wo sie sich innerlich gefangen fühlen. Helfen kann bereits, wenn Lehrkräfte bei einigen Themen darauf achten, die menschliche Fä-

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higkeit der Überlebensstrategie mitzudenken. Werden traumatische Folgereaktionen in unterschiedlichen Zusammenhängen benannt, kann es gelingen, nicht nur bei belasteten Kindern ein Verständnis für ihre Situation zu entwickeln und ihnen dadurch das Gefühl von Halt und Zugehörigkeit zu geben. Auch für alle anderen Mitschüler_innen können die Erläuterungen ein Verständnis für Reaktionen erwirken, die ansonsten alle überfordern würden. Verstehe ich was passiert, kann ich auch realistisch reagieren. Die Funktion des Gehirns und des vegetativen Nervensystems begeistert bereits Kinder im Grundschulalter, auch in der Förderschule. Sie interessieren sich für die Funktionen des Nervensystems und des Gehirns und sind fasziniert von der Darstellung des „dreigliedrigen Gehirns“ (Ding 2014: 211). In einigen Fächern kann Gewalt mit ihren Auswirkungen auf den einzelnen Menschen thematisiert werden. Mögliche Reaktionen und Überlebensstrategien aufzeigen und wertschätzen. Häufig wird den Auswirkungen von Krieg und Folter nicht genügend Raum gegeben. Dabei gilt auch hier, dass es sich lohnt, die Schüler_innen spüren zu lassen, welche Empfindungen und vielleicht Gefühle in ihnen ausgelöst werden. Oder durchaus einen Bericht eines Mitschülers anzuhören, dessen Familie einem der Kriege unserer Zeit entflohen ist. Das Verweilen bei diesen Themen erhöht die Erfahrung des ernstgenommen und wahrgenommen werdens, der Akzeptanz und Wertschätzung des Verhaltens. Aber auch, dass es sich lohnen kann, den Schutzmechanismus gegen neue Verhaltensstrukturen einzutauschen. Lebensgeschichtlich belasteten Mädchen und Jungen fällt es schwer, in Sprache zu bringen, was so sprachlos macht. Weil ihr Lebensthema sie so sehr belastet, sie oft nicht über das Erlebte reden dürfen, weil sie unter einem ,Geheimnis-‘ oder ,Tabudruck‘ stehen, haben traumatisierte Kinder häufig Sprache als Ausdrucksmittel verloren. Für sie ist es wichtig, mit genügend Zeit und Verständnis den Umgang mit ihrer eigenen Sprache üben zu dürfen. Raum zum freien Ausdruck und Geduld beim Zuhören entlastet die Kinder. Freies und kreatives Schreiben bietet für manche dann eine gute Ausdrucksmöglichkeit. Zusammenfassung Die Pädagogik der Selbstbemächtigung kann in fast allen Unterrichtsfächern und im gesamten Schulalltag mit einfachen Mitteln umgesetzt werden. Bereits bekannte Konzepte wie Psychomotorik, Entwicklungstherapeutische Pädagogik u.a. dienen einer Verringerung verstörender Verhaltensweisen. Mit der traumapädagogischen Haltung kann Schule und Unterricht für traumatisierte Kinder ein „sicherer Ort“ werden. Wird das Thema Trauma und Dissoziation als Unter-

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richtsinhalt miteinbezogen, kann einer Traumatisierung entgegengetreten werden. So gelingt es, Kinder und Jugendliche immer wieder ein Stückchen mehr am schulischen Miteinander teilhaben zu lassen. Literatur Bausum, Jacob (2013): Ressourcen der Gruppe zur Selbstbemächtigung: „Ich bin und ich brauche Euch.“ In: Bausum/Besser/Kühn/Weiß, Traumapädagogik, 189-198. Bausum, Jacob/ Besser, Lutz-Ulrich/Kühn, Martin/Weiß, Wilma (Hg.) (2013): Traumapädagogik. Grundlagen, Arbeitsfelder und Methoden für die pädagogische Praxis. 3. Aufl. Weinheim, München: Juventa. Bundschuh, Eva/Picard, Eva (2013): Ausdrucksmalen als Beitrag zur Bebilderung traumatischer Lebensumstände. „Dich hab ich jetzt angezündet, leider verbrennst Du jetzt.“ In: Bausum/Besser/Kühn/Weiß, Traumapädagogik, 199–207. Dederich, Markus (2012): Pädagogik als Kunst. In: Zeitschrift für Heilpädagogik. 63 (3), 98-104. Ding, Ulrike (2014): „Ich kann mir sowieso nichts merken“. In: Weiß, Wilma/Friedrich, Esther K./Picard, Eva/Ding, Ulrike: »Als wäre ich ein Geist, der auf mich runter schaut«. Dissoziation und Traumapädagogik. Weinheim, Basel: Beltz Juventa, 166222. Moroder-Tischler, Ruth/Tischler, Björn (1990): Musik aktiv erleben. Musikalische Spielideen für die pädagogische, sonderpädagogische und therapeutische Praxis. Frankfurt/Main: Diesterweg. Rumpf, Horst (1988): Die übergangene Sinnlichkeit. Drei Kapitel über die Schule. 2. Aufl. Weinheim, München: Juventa. Streeck-Fischer, Annette (2006): Trauma und Entwicklung. Frühe Traumatisierungen und ihre Folgen in der Adoleszenz. Stuttgart: Schattauer. Weiß, Wilma (2013a): Philipp sucht sein Ich. Zum pädagogischen Umgang mit Traumata in den Erziehungshilfen. 7 Aufl. Weinheim, Basel: Beltz Juventa. Weiß, Wilma (2013b): Selbstbemächtigung. Ein Kernstück der Traumapädagogik. In: Bausum/Besser/Kühn/Weiß, Traumapädagogik, 167–182. Weiß, Wilma / Friedrich, Esther Kamala / Picard, Eva / Ding, Ulrike (2014): „Als wär ich ein Geist, der auf mich runter schaut“ Dissoziation und Traumapädagogik, Weinheim, Basel: Beltz Juventa

Notes on the ‘Body-Brain’ Use of Somatic Experiencing Principles as a PTSD Prevention Tool for Children and Teens during the Acute Stress Phase Following an Overwhelming Event1 P ETER A. L EVINE AND M AGGIE K LINE Somatic Experiencing (SE) is a naturalistic approach to understand and treat trauma. The premise of Somatic Experiencing(SE) is that trauma is a fact of life; but so is resilience. Trauma can result from events that are clearly extraordinary such as violence and molestation, but it can also result from everyday ‘ordinary’ events. In fact, common occurrences such as accidents, falls, invasive medical procedures and divorce can cause children to withdraw, lose confidence, or develop anxiety and phobias. Traumatized children may also display behavioral problems including aggression, hyperactivity and, as they grow older, addictions of various sorts and dysfunctional relationships. School is the place where children with traumatic or potentially traumatic experiences learn and live. School and teachers play an important role in the lives of every child, but for traumatized children, being recognized and supported during the school day is essential. School is the place which has a very strong influence on the biography especially of traumatized children, much more than teachers are aware of. Regardless if they want it or not, teachers are key to their success or failure, especially when we talk about trauma. This article has the intention to provide teachers, on the one hand, with all the necessary information, with all they need to know theoretically about trauma and, on the other hand,

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This article is a reworked version of an article by Peter Levine and Maggie Kline first published in a volume edited by Vittoria Ardino titled “Post-Traumatic Syndromes in Children and Adolescents“. It has additionally been reworked under the assistance of Bettina Wuttig.

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this article aims to provide the practical skills of how teachers can deal with trauma in everyday life. For the sake of the children and for themselves. SE is a method currently used successfully in both the prevention and healing of trauma.2 This chapter will focus on a brief introduction to the theory of SE. The thrust will be on the practical application of its principles through skill building. Ideally, teachers will be guided to bring children (and their parents)3 gently out of shock during the acute phase (first 30 days) following a traumatic episode in order to prevent secondary symptoms from developing. Information will include working with individuals as well as with groups of children in a crisis setting. Although the emphasis is on prevention, this approach can help build a preliminary capacity to heal PTSD symptoms as well.4 Despite a recent interest in trauma treatments, precious little has been written regarding the common causes or the prevention and the non-drug treatment of trauma. Focus, instead, has been on the diagnosis and the medication of its various symptoms. Children are frequently exposed to potentially traumatic events. It is possible to minimize the effects of the ‘ordinary’ situations mentioned above, as well as those from extraordinary events (such as natural and man-made disasters, including violence, war, terrorism and molestation) with a basic understanding of how trauma affects a youngster’s equilibrium and how to assist him or her in the early stages to return the nervous system to homeostasis and balance. Fortunately, teachers, especially those who are able to see children during the first month or so following the incident, are in a position to prevent, or at least mitigate, the damaging effects of overwhelming events. But in order to do the most good for the children, it is necessary to recognize the underlying roots of trauma, how the trauma response is held in the body as implicit memory and how it may disturb the child’s self-regulatory capacities. In other words, trauma is a physiological phenomenon, rather than purely a psychological one. Therefore, teachers need to understand the core mechanisms of how to stabilize the body’s reactions to overwhelm at the physical level. Trauma Is Not Only in the Event Trauma happens when an intense experience stuns a child like a bolt out of the blue; it overwhelms the child, leaving him altered and disconnected from his body, mind and spirit. Any coping mechanisms the child may have had are un-

2

Refer to Leitch (2007).

3

Refer to Levine and Kline (2008).

4

Refer to Levine and Kline (2007).

N OTES ON

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dermined and probably she/he feels utterly helpless. It could be as if his legs are knocked out from under him. Trauma can also be the result of ongoing fear and nervous tension. Long-term stress responses are likely to wear a child down, causing an erosion of health, vitality and confidence. Trauma is the antithesis of empowerment. Vulnerability to trauma differs from child to child depending on a variety of factors, especially age, quality of early bonding, trauma history and, according to the current medical epistemology, genetic predisposition. The younger the child, the more likely she/he is to be overwhelmed by common occurrences that might not affect an older child or adult. Up until now, it has been commonly believed that the severity of traumatic symptoms is equivalent to the severity of the event. While the magnitude of the stressor is clearly an important factor, it does not define trauma. Here, the child’s capacity for resilience is paramount. In addition, Peter Levine claimed in his earlier work that trauma resides not in the event itself; but rather has its effect on the nervous system (Levine 1997). What we basically stated there is a change of a paradigm that lays in the following: The basis of “single-event” trauma (as contrasted to ongoing neglect and abuse) is primarily physiological rather than psychological (ibid.) What is meant by “physiological” is that there is no time to think when facing threat; therefore, the primary responses of human beings (as that of animals) are instinctual. Especially, the function of the brainstem is survival. At the root of a traumatic reaction is our 280-million-year heritage − a heritage that resides in the oldest and deepest structures of the brain. When these ‘primitive8 parts of the brain perceive danger, they automatically activate an extraordinary amount of energy. An example: We personally know a woman whose arm was trapped under the tire of a truck as an eight-year-old girl. Rescue workers were unsuccessful in helping her until they were able to get her father to the scene. With his powerful, protective, bear-like surge of energy, he was able to lift the car enough to pull her out. This fathomless ‘survival energy’ − according to neurophysiological and ethological epistemology− builds a common ground in human existence. That means, all human beings elicit a pounding heart along with more than twenty other physiological responses designed to prepare us to defend and protect others and ourselves. These rapid involuntary shifts include concrete physical dimensions, such as the redirection of blood flow (away from the digestive and skin organs and into the large motor muscles of flight) along with rapid respiration and a decrease in the normal output of saliva. Pupils dilate to increase the eyes’ ability to take in more information. Blood-clotting ability increases, while verbal ability decreases. Muscles become highly excited, stiffening in preparation for

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action with a vast expenditure of energy. Alternatively, when faced with mortal threat or prolonged stress, certain muscles may collapse in fear as the body shuts down in an overwhelmed state. Fear of Our Own Reactions When a child or adolescent is uncomfortable with what is happening inside them (their inner sensations and feelings), the very responses that are meant to give a physical advantage can become downright frightening. This is especially true when, due to size, age or other vulnerabilities, one is either unable to move or it would be disadvantageous to do so. For example, an infant or young child doesn’t have the option to run and escape from a source of danger or threat. However, an older child, a teen or an adult, who ordinarily could run, may also need to keep very still, such as in the case of surgery, rape or molestation. According to the neurophysiological traumatological epistemology, when physical flight-or-fight-reactions become either impossible or are perceived to be impossible, the human organism uses it's ‘program8 to freeze (or go limp −collapse). In this case, there is no conscious choice to do so or not. Freeze and collapse are the last-ditch, ‘default8 response to an inescapable threat, even if that threat is a microbe in our blood. Infants and children, because of their limited capacity to defend themselves, are particularly susceptible to freezing and, therefore, are vulnerable to being traumatized. This is why the adult’s skill is so crucial in providing emotional first aid to a frightened youngster. Professional and parental support can slowly move a child out of acute stress to empowerment, and even, joy. What must be understood about the freeze/collapse response is that although the body looks inert, those physiological mechanisms that prepare the body to escape may still be on ‘full charge’. Muscles that were poised for action at the time of threat are thrown into a state of immobility or ‘shock’. When in shock, the skin is pale and the eyes are vacant. Breathing is shallow and rapid, or just shallow. The sense of time is distorted. Underlying this situation of helplessness, however, is an enormous vital energy. This potential energy lies in wait to finish whatever action had been initiated during the incident. In addition, very young children tend to bypass active responses, becoming motionless instead. Later, even though the danger is over, a simple reminder can send the exact same alarm signals racing once again through the body until it shuts down. When this happens, we may see the child becoming sullen, depressed, whiney, clingy and withdrawn. Whether a youngster is still fully charged or has shut down, the guidance of a teacher or parent is imperative to alleviate the traumatic stress response and to build up the youngster8s resilience. Furthermore, younger children generally pro-

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tect themselves not by running away, but by running towards the protective adult. Hence, to help the child resolve a trauma, there must be a safe adult to support him/her. The adult who has the skills of emotional first aid can help children literally ‘shake things off’ and breathe freely again. How does the outpouring of ‘survival energy’ and multiple changes in physiology affect children and teens over time? The answer to this question is an important one in understanding the consequences of trauma and depends on what happens during and after the threat. The catch is that, to avoid being traumatized, the excess energy mobilized to defend oneself must be used up. When the activation is not fully discharged, it does not simply go away; instead, it remains as a kind of highly charged ‘body memory’ creating the potential for repeated traumatic symptoms. This type of imprint is known as implicit procedural memory. The ‘Recipe’ for Trauma The likelihood of developing traumatic symptoms is related to the level of shutdown as well as to the ‘residual survival activation’ that was originally mobilized to fight or flee. This self-protective process has now gone haywire. Children need consistent, patient support to release this highly charged state and return to healthy, flexible functioning. The myth can be laid to rest that babies and toddlers “are too young to be affected” by adverse events or that “it won’t matter because they won’t remember” What was not so obvious becomes apparent as we learn that prenatal infants, newborns and very young children are the most at risk to stress and trauma due to their yet undeveloped nervous, muscular and perceptual systems. This vulnerability also applies to older children who have limited mobility because of permanent or temporary disabilities, such as having a splint, brace or cast due to an orthopedic injury or correction. Included in this category are children less able-bodied due to cerebral palsy, congenital deformities or developmental delays. The Reason ‘Our Bodies Don’t Forget’: What Brain Research Has Taught Us Why is it that once the threat is over we are not free of it? Why are we left with anxiety and vivid memories that alter us forever if we don’t get the help we need? Antonio Damasio (1995, 1999) demonstrates that emotions literally have an anatomical mapping in the part of the brain necessary for survival. That is to say the emotion of fear has a very specific neural circuitry etched in the brain corresponding to specific physical sensations from various parts of the body. When something we see, hear, smell or taste evokes body sensations similar to a previous threat, the emotions of fear and helplessness are again evoked, mimick-

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ing what happened when the initial danger was present. Originally, the experience of fear served an important purpose. It helped the body to organize a flee or freeze plan to remove us from peril quickly. However, the trigger now produces a similar fear; even though there is no conscious memory of its origin (but the the identical physical response remains imprinted). The heart rate escalates rapidly or drops precipitously, sweat is produced, and the anguish occurs because the body is totally re-engaged, mistaking its responses for the original threat as if it were actually happening in present time. The ‘Recipe’ for Resilience Whether a child or teen remains distressed or bounces back with resilience depends on what happens during and/or after the threat. As mentioned above: To avoid being traumatized, the excess energy that had been mobilized in a failed attempt to protect or defend oneself must be accessed and then ‘metabolized’. When this ‘emergency’ energy is not fully engaged and discharged, it does not simply go away. Instead, it is capable of causing all sorts of troublesome symptoms. In the following case study derived from our practice, this will be pinpointed. It illustrates the experience of a four-year-old named Henry. We will demonstrate how Henry’s aversion for and avoidance of certain foods and noises soon disappeared as he ‘used up’ his anxious energy to joyfully rebound with a little adult support. The case of Henry will furthermore give a step-by-step introduction into our somatic approach to work with apprehensive, stressed or outright, terrified children after a frightening challenge. Because this article is also meant to be a teaching, we will address the reader directly. Henry Four-year-old Henry’s mother became concerned when he refused to eat his (previously) favorite foods: peanut butter and jelly with a glass of milk. When his mother placed them in front of Henry, he would get agitated, stiffen and push them away. Even more disturbing was the fact that he would start shaking and crying whenever the family dog barked. It never occurred to her that this ‘pickiness’ and fearfulness of the barking were directly related to an ‘ordinary’ incident that had occurred almost a year before, when Henry was still using a high chair. Sitting in his high chair, devouring his favorite foods − peanut butter, jelly and milk −he had proudly held out his half-empty glass for his mother to fill. As things like this happen, Henry lost his grip and the glass fell to the ground with a crash. This startled the dog, causing it to jump backward, knocking over the high chair. Henry hit his head on the floor and lay there, gasping, unable to catch his

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breath. His mother screamed and the dog started barking loudly. From his mother’s perspective, Henry’s food aversion and apparent fear of the dog made no sense. However, from the vantage of trauma, the simple association of having milk and peanut butter right before the fall and the wild barking of his dog, in a Pavlovian response, conditioned his fear and aversion to his previously favorite foods. So how can this symptomatic cycle be interrupted? By engaging Henry through playful practiced controlled falling onto pillows, he learned to relax his previously stiffened muscles as he gradually surrendered to gravity. His protective reflexes were restored and his symptoms disappeared. Before this, he ‘simply’ would not eat those foods and had trouble sleeping when dogs barked in the neighborhood. Fortunately, after a couple of play sessions, this little boy was once again devouring his favorite foods and barking back at the dog in playful glee. In other words, Henry got to use up the energy that was bound up in his defenses against falling during these safe ‘tumbling sessions’ As he gained mastery of his balance − with the help and safety of adult guidance − Henry’s fear was transformed into delight. Although this case example is a commonplace accident rather than an ‘extraordinary’ event (such as a sexual violation, a flood, an auto accident or surgery), the same principles are involved in re-working the incident in terms of assisting the child or teen to complete the energetic cycle of the body’s natural protective and defensive responses that were thwarted (or had not been established yet, due to developmental stage) as he or she oriented to the original danger. In other words: Establishing the sensory-motor sequence that satisfies the body’s need to use up the excess energy stored somatically is what returns a youngster to equilibrium. Building Resilience by Building Sensory Awareness Skills In order to build a child’s or teen’s capacity to rebound after overwhelming situations, you will first need to learn and practice several skills. This chapter provides a variety of exercises that will enable you, and your pupils, to discover the rich sensory landscape that exists within the body. You will also be guided to acquire a new vocabulary for this new terrain. The language of sensation is communicated from the deep recesses of the brain and what we shall call the body-brain. You will become adept at recognizing these spontaneous internal signals and promptings that arise from this instinctual part of you if you practice the exercises. Becoming proficient in these skills lessens the rift between conscious and unconscious bodily processes. This experiential knowledge of sensations will not only give you the tools to assist overwhelmed children; it has the

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side benefit of helping the professional to become more intuitive, ‘self-regulated’ and attuned in order to provide more effective treatment for the child. Giving Appropriate Support to an Overwhelmed Child In order to prevent or minimize trauma and alleviate stress, it is important to make sure that, as a teacher or a parent, you are not overwrought by the traumatic event or by the child’s re-enactment of it. This may be difficult, when an episode was horrific, and is especially relevant for mental health professionals who work with children in disaster settings. This means that the teacher must stabilize his/her own reactions first, then assist parents and children. It may be comforting for the adult in charge to reassure the parents that children, by their nature, are both fragile and resilient. With proper support, they are usually able to rebound from stressful and traumatic events. In fact, as they begin to triumph over life’s shocks and losses, kids grow into more competent, resilient and vibrant beings. Because the capacity to heal is innate, the adult’s role is simple: it is to help youngsters access this capacity. Being a teacher, your task is similar −in many ways − to the function of a band-aid or a splint: The band-aid or splint doesn’t heal the wound but protects and supports the body as it restores itself. The suggestions, exercises and step-by-step guidelines provided here are thus meant to enable you to be a good ‘band-aid’ for the child. Simple Steps to Build Resilience The experiential exercises provided will increase your ability to help a child or teen restore equilibrium, quickly and naturally. Once your body learns how to recognize cycles of nervous system activation (or arousal) and de-activation (or deep settling) after a discharge of energy, you will be in a position to give emotional first aid to a child in order to prevent or minimize post-traumatic stress symptoms from emerging with time. As you practice, your body will have an experiential understanding5 that ‘what goes up (charge/excitation/fear) can come down (discharge/relaxation/security)’. As you develop a more resilient nervous system, you are in a position to help yourself and the parents and children you work with to weather both the stressful ups and downs of life as well as the truly overwhelming events. When your body ‘gets it’ you become contagious −in a good way. Through body language, facial expression and tone of voice, your own nervous system communicates directly with the child’s or teen’s nervous system. This is how we basically are able to connect with our pupils! It is not our

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In German social sciences this and other possible corporeal knowledge is often spoken of as “Körperwissen”.

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words that have the greatest impact; it is the non-verbal cues that create the feelings of safety and trust. Before you can attune to the child’s or youngsters sensations, rhythms and emotions, you must first learn to attune to your own. Then your calm can become their calm. The first step in this non-verbal attunement process is to understand the importance of experiencing both comfortable and uncomfortable sensations while learning to tolerate and, little by little, befriend them. It is essential not only in becoming a more resilient teacher but, also, in becoming one that is able to resonate more deeply with what the child needs to feel supported. This deeper experience of ourselves, often neglected, shapes an important part of our being. It is from our own breath and belly that we humans form our sense of self. If exploring physical sensations is new because you normally work only with thoughts and emotional feelings, it may be difficult to stay focused on physical sensations. But each time you practice, it will become a bit easier. It is important to be able to tolerate displeasure long enough for the sensation to change, as it inevitably will. It is equally important to be able to experience increased pleasure and joy. As you practice, your body is able to hold (and ‘contain’) more sensation and emotion without getting stressed or overwhelmed. Once you feel more ‘at home’ with these new sensations, it becomes natural to assist your pupils to become aware of and tolerate their internal experience. The Body-Brain Connection Biologically speaking, humans have a complicated brain circuitry with distinctly different parts which, while closely connected, have different functions. Paul MacLean (1990) posited the theory of the triune brain (three distinctive brains functioning together as one mind). With the advent of new brain research, we now know that the circuitry of the brain is far more complex and inter-related than once believed. However, for simplicity sake, we know that various parts of the brain serve different functions, especially when there is a perception of danger or a life-threat as opposed to a perception of safety. The neocortical or newest part of the brain in the pre-frontal cortex is responsible for complex thinking skills such as problem solving, planning and perception, as well as social functioning. The mammalian (midbrain) or limbic system is also referred to as the ‘emotional brain’, because it processes memories and feelings (LeDoux 1998). The reptilian or ‘lower’ brain is responsible for survival through the myriad functions that accompany the regulatory mechanisms of basic existence, such as heart rate and respiration. These include the workings of our nervous system that interact with our sensory and motor systems to move us

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quickly out of danger. The structures in the lower brain work overtime when the nervous system is overwhelmed. Each region of our triune brain has very specialized functions − and each speaks its own ‘language’. The thinking brain speaks with ‘words’, while the emotional brain uses the ‘language of feelings’, such as anger, sorrow, joy, disgust, shame and fear. Unlike the ‘newer’ thinking and feeling brain segments, the primitive reptilian brain speaks the unfamiliar, but vastly important, ‘language of sensations’. This language of sensations is, to many, a foreign language. There is a world of sensation-based feeling inside of us that exists whether or not we are aware of them. Fortunately, it is a language that, with a little practice, is easy to learn. It is extremely helpful to be familiar with sensations when traveling the road to recovery from overwhelm and stress (just as learning some survival phrases is when traveling abroad). If you want to help your pupils, you should get acquainted with your own inner landscape first. All it takes is some unhurried time, set aside without distractions, to pay attention to how your body feels. Sensations can range from pressure or temperature changes on the skin to vibrations, ‘butterflies’, muscular tension, constriction or spaciousness, trembling or tingling and heat. This is the ‘language’ of the lower brain that acts on our behalf whenever we are in danger or when unexpected change occurs. It has a very different focus than most of us are accustomed to. Its signals may seem imperceptible, subtle or strange at first, because of our customary reliance on feedback from language, thought and emotion. Getting Acquainted with Your Own Sensations Although children may not be able to verbalize what they are feeling, because they are too scared and/or too young to talk, they know how a shocking upset feels and so do you! It is the undeniable dread in the pit of the stomach, a racing heart, the tightness in the chest or the “lump in the throat”. Turn on the news after a catastrophe or listen to a bystander who has just witnessed an accident describe his experience: “I don’t have words for it.” − “It’s such a cold feeling.” − “It was like getting the wind knocked out of me.” − “I just feel numb.” − “My heart wouldn’t stop racing, but I couldn’t move.” − “My legs were like lead.” Take a moment to think about your own experiences when something upsetting happened out of the blue. Can you recall some of the sensations you felt? Did your heart pound rapidly? Did you get dizzy? Did your throat or stomach tighten in a knot? And when the danger was over, how did the sensations gradually shift or change? Perhaps you noticed that you could breathe easier or felt some tingling or vibration as your muscles began to relax.

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Exercise: Noticing Sensations Let’s try this brief experiment to get you started on deepening your awareness. Find a comfortable place to sit. Take some time to notice how you are feeling physically. Pay attention to your breathing. Are you comfortable or uncomfortable? Where in your body do you register your comfort level? What do you notice? Are you aware of your heart beating or conscious of your breathing? Perhaps you’re more aware of muscle tension or relaxation or the temperature of your skin; perhaps you notice sensations like ‘tingly’. When you feel settled enough to go on, try the simple exercise below: Imagine it’s a pleasant summer day and you’re driving down a country road through a beautiful natural landscape at the start of a vacation. You are playing your favorite music and singing along in delight. You’re not in any hurry because you have no deadlines, responsibilities or schedules today. You love the countryside (or wherever it is you chose to go). You are free! Take a minute to notice how you are feeling right now − before you read the next paragraph. Note the sensations in various parts of your body, such as your belly, limbs, breath, muscles and skin. Also notice any thoughts or mental pictures you might have as you look around at the trees or meadow, orchards, mountains or streams. [Note: Pause here for a minute or two to give yourself enough time to notice your bodily sensations. When ready, continue with the second part of the story.] Suddenly, from out of nowhere, a hot-rod motorist cuts in front of you, nearly causing a collision. Furthermore, he is rude and shouts profanities at you as if you had done something to cause the mishap. What are you noticing in your body and mind right now? Compare these feelings to the ones you had in the first part of the exercise. Pay attention to changes. What feels different now? Where does it feel different? Are you warm, hot or chilled? Do you feel tension or constriction anywhere? Notice changes in your heartbeat and breath. Notice if there is anything you feel like doing or saying. Or do you just feel stunned? There is no right or wrong way to answer. Each person has his or her own individual experience. You may have been scared and felt your shoulders, arms and hands tightening to turn the steering wheel quickly to swerve. Or you might have blanked out and gone numb. When you imagined the other driver cursing at you, you might have felt irritated. If you did, where do you sense the irritation and what does it feel like? You may have noticed the muscles in your upper body tightening as your body prepared to fight. Or you might have noticed a word forming in your vocal cords to shout back, but the sounds never left your lips. When you check your body to feel your reactions and sensations in the present moment, you have most likely gotten in contact with what in neuroscience epistemology is called ‘basic instincts of survival’.

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Now take a little time to let any activation (charged-up feelings) settle down. Think for a moment about the enclosed glass containers with a winter scene inside, the ones you shake up to make white flakes that look like it’s snowing. Remember that it takes a little time before all the flakes accumulate on the ground so that the ‘snowing’ stops. In order for you to settle, it certainly doesn’t help to get all shook up again. Instead, it takes a little quiet time of stillness and calm, just like in the snow scene, for the settling to occur. It can be very helpful to explore the room with your eyes, being aware that you are safe and that the visualization was only an exercise. As you continue to settle, place both feet flat on the floor to help you feel grounded. Next, direct your attention to something in the room that brings comfort, such as a flower, the color of the room, a tree or the sky outside the window, a photo or a favorite possession. Notice how you are feeling in your body at this moment now. This brief exercise was intended to help you see that the language of sensation isn’t really so foreign after all. Sitting around the dinner table, it’s easy to feel a comfortable or overly stuffed stomach after a full meal or one that feels warm and cozy after sipping hot chocolate. But when people share their feelings, especially in the western world, they typically express them as moods or emotions, such as happy, cranky, mad, excited or sad. Noticing sensations may seem odd at first, but the more you learn about the ups and downs of your own body’s ‘moods’, the more intuitive, instinctual and confident you will become. This precious knowledge, that our basic sense of well-being is based on the body’s ability to regulate itself − rather than to unconsciously escalate out of control, is only recently becoming common to the western world. To be in control this way means to be open to that which occurs spontaneously within you. This capacity for self-regulation is enhanced by your ability to be aware of your changing sensations and to know what to do if unpleasant sensations remain stuck over time, thereby causing distress. Building a New Vocabulary When learning skills in any new language, it helps to develop and practice the new vocabulary. Since the vocabulary of resilience is sensation, building a ‘sensation vocabulary’ is a central skill crucial in developing resilience. The box below is provided to get you started. To create a balance, be sure to notice and label sensations that are pleasurable or neutral, as well as those that may be uncomfortable.

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Sensation Vocabulary Box • cold/warm/hot/chilly • twitchy/butterflies • sharp/dull/itchy • shaky/trembly/tingly • hard/soft/stuck • jittery/icy/weak • relaxed/calm/peaceful • empty/full/dry/moist • flowing/spreading • strong/tight/tense • dizzy/fuzzy/blurry • numb/prickly/jumpy • owie/tearful/goose-bumpy • light/heavy/open/icky • tickly/cool/silky • still/clammy/loose Note that sensations are different from emotions. They describe the physical way the body feels. A non-verbal child who seems frightened can be invited to point to where in their body they might feel shaky or numb, or to where the “owie” is located. “Pendulating” between Pleasant and Unpleasant Sensations, Emotions and Images In my (Peter’s) ethological research, I stated that the body of human beings (and also that of animals) has its own potential that lies in a natural rhythm of contraction and expansion (Levine 1997, 2010). The term “pendulation” was used there to describe the latter (ibid.). I hypothosized that humans are capable of knowing and experiencing this rhythm. Being familiar with it reminds us that no matter how bad we feel in the contraction phase, expansion will inevitably follow, bringing with it a sense of relief. One way to follow or ‘track’ your body’s own rhythm is as easy as paying attention to the pressure and flow of air in and out of your lungs and belly as you inhale and exhale. Notice if there is any tightness or whether the air seems to flow freely throughout your nostrils, throat, chest and belly. You might also note if the inhale and exhale are even or if one is shorter than the other. Are there pauses before the inhale and exhale? How do the pauses feel? Do your muscles tense and relax as you breathe?

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Far from including only the expansion and contraction of the breath, pendulation is much more than that. It is the rhythm of our entire being as our internal state changes back and forth between uncomfortable sensations, emotions and images to more comfortable ones. This allows for new experiences to freshly emerge at each moment. When uncomfortable feelings don’t readily go away, they are usually associated with stress or trauma. If we were defeated and frozen in hopelessness, the ability to move out of that state through natural pendulation could be diminished. We may need a little help to get ‘the pendulum’ moving again. When this natural resilience process has been shut down, it must be gradually restored − the mechanisms that regulate our mood, vitality and health are dependent upon it. When this rhythm is re-established, there is, at least, a tolerable balance between the pleasant and unpleasant. And no matter how bad a particular feeling may be, knowing that it can change releases you from a sentence of helplessness and hopelessness. And, as you assist your child with her/his natural rhythms, you are giving her/him a stable foundation for self-confidence. Exercise: Exploring Sensations and the Rhythm of Pendulation Take some time to get comfortable in your chair. Notice where your body is touching the seat; notice how the chair supports your back and buttocks. Allow sufficient time to settle down into the chair. Notice your breathing and how you are feeling overall. As you slowly follow the story below, take the time to notice the sensations, thoughts, emotions and images that come up. Some will be subtle and others obvious. The more attention and time you take, the more your awareness will grow. At the same time it is important not to overdo it; it is recommended that you take no more than ten or fifteen minutes with this exercise. Now, imagine that today is your birthday. Even though it’s a special day, you feel lonely. You don’t want to be alone so you decide to go see a movie. You start to get ready. As you reach for your wallet you have a dreadful feeling as you notice it is missing. What are you feeling? Take some time to notice feelings, sensations and thoughts in your body and your mind. If you feel dread, what does it feel like? Where do you feel it in your body? Common places to experience sensations are your gut, chest, throat and the muscles in your neck and limbs. Do you feel a tightening or a sinking sensation − perhaps queasiness? Do you notice any temperature changes in your hands? Do they feel sweaty, hot or cold? Is there any place you feel unsteady or wobbly? And notice how these sensations change over time as you attend to them. Does the intensity increase or decrease? Does the tightening loosen or change to something else? Do the feelings spread or stay in one place?

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As you settle, the thought comes to you that: “Oh, perhaps I left my wallet in the other room.” Imagine that you go and look there. You check out other places you might have left it. You can’t find it and you begin to get a bit frantic. Again, focus your attention inward and take time to notice your bodily sensations, your feelings and your thoughts. Now, you slow down a bit and your thoughts become a little clearer. You begin to hunt for your wallet more methodically. Is it in the drawer? Maybe, when I came in, I left it over there on the table ... but then I went to the bathroom ... (you wonder) ... could I have left it in the bathroom; or was it at the supermarket? (Pause here to notice sensations.) However, while you’re looking, you are interrupted by the ringing telephone. You pick up the phone. It’s your friend and she tells you that you left your wallet at her house. You take a big sigh of relief! Feel that and notice how you smile as you think about your previous frantic state of mind. [Take plenty of time here, allowing your sensations to develop and be noticed before continuing with the story.]

Your friend tells you that she’s leaving shortly, but she’ll wait, if you come right now. So you walk briskly to her house. Feel the strength in your legs as you walk fast. You arrive at her house and knock on her door, but there’s no answer. You knock a second time and there’s still no answer. You begin to think that you must have missed her. You feel a bit irritated. After all, she said that she would wait and you came as quickly as you could. Where do you feel the sensation of irritability? What does it feel like? Take your time and notice the range of sensations just as you did before. How do you experience the irritability? Where else do you feel it? What does it feel like? From the back of the house, you hear your friend’s muffled voice. She’s telling you to come in. You open the door and it’s really dark. You slowly find your way in the dark. You begin to make your way down the hallway. Notice how your body feels as you fumble through the darkness trying to get to the back of the house. You call again to your friend, but you’re interrupted by a chorus of voices yelling, “Surprise!” What are you feeling in your body now, in this moment, as you realize it’s a surprise birthday party for you? Again, take the time to notice your sensations, feelings and thoughts. This exercise was intended to acquaint you with a variety of sensations, which correspond to emotions such as frustration, expectancy, relief, conflict and surprise. If you noticed different feeling states and were able to move smoothly

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from the pleasant to the unpleasant and back again, you now know what it feels like to pendulate. The twists and turns of the visualization above were filled with many surprises. Surprise excites the nervous system. In the case of a good surprise, something gets registered in the body that makes you feel better. In the case of a horrifying surprise, distressing sensations may become stuck, resulting in a diminished sense of ‘OKness’ and in feelings of helplessness. When you experience your sensations consciously, you can begin to move with fluidity out of one state and into another. Remember, whatever feels bad is never the final step. It is the movement from fixity to flow that frees us from the grip of trauma as we become more resilient and self-aware. Ideally, you were able to feel this fluidity within yourself. If you did, you are well on your way to learning the skills that will help you to help your child fluidly glide through his/her sensations. If, in any way, you felt ‘stuck’ or frozen on an unpleasant sensation, emotion, thought or disturbing image while practicing, take the time now to look around, get up, move and take notice of an object, movement, thought, person, pet or natural feature that makes you feel better. Take some time to sense how you know you are feeling better and where those sensations are located inside you. Then briefly ‘touch in’ to the place in your body where you were previously stuck and notice what feelings you are having now! Helping a Child or Teen Focus on Internal Sensations One way to help youngsters develop an awareness of their internal state is by teaching them to ‘track’ their sensations and to notice how they change moment by moment. To begin, you might ask a child to reflect on something that happened today or yesterday, something that made them feel either good or mildly upset. If they can’t recall anything, have them notice how they are feeling as they are sitting with you in anticipation of working together. As images, thoughts and emotions come and go, make note of them and what impact they have on your pupils’ fluctuating sensations. Help to develop more awareness of the details of his or her sensations. You can keep your pupil from getting stuck by moving forward in time with the help of an occasional gentle question − keeping pace with your rhythm − such as “And when you feel…, what happens next?” Study the ideas that follow for more specifics on how to facilitate sensation-based therapy that leads to discharge and release of traumatic activation.

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Language of Sensation Idea Box According to neuro-linguistic knowledge, the ‘body-brain’ responds better to open-ended than closed-ended questions. An open-ended question invites curiosity. It suggests sensing rather than thinking. It defies a simple “yes” or “no” answer, which can be a communication dead-end. An example would be: “What do you notice in your body?” − a question which summons a leisurely exploration and limitless answers. It is different from: “Are you feeling tense?” − a question which forces a person to think rather than feel and then give a “yes” or “no” response. Other examples of open-ended questions that you might consider when tracking sensations with a partner are listed below. These questions can be used judiciously from time to time to increase the ability to focus or to keep from getting stuck. For best results, use them infrequently and allow plenty of quiet time between each one. Allowing sufficient time is the key to developing sensory awareness. It’s in the ‘quiet waiting’ that our bodies begin to speak to us. Open-Ended: • What do you notice in your body now? • Where in your body do you feel that? • What are you experiencing now? • As you pay attention to that sensation, what happens next? • How does it change? Invitational: • What else are you noticing? • Would you be willing to explore how your body might want to move? • Would you be willing to focus on that feeling with a sense of curiosity about what might happen next? Explore Sensation with Details to Increase Focus: • What are the qualities of that sensation? • Does it have a size? Shape? Color? Weight? • Does it spread? Notice the direction as it moves. • Does the (pressure, pain, warmth, etc.) go from inward to outward or vice versa? • Do you notice a center point? An edge? (Where does the sensation begin and end?)

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Broaden Awareness of Sensation: • When you feel that, what happens in the rest of your body? • When you feel that in your (area of the body), how does it affect you now? Movement through Time: • What happens next? (Even if the person reports feeling stuck) • As you follow that sensation, where does it go? How does it change? • Where does it move to or want to move to if it could? Savoring and Deepening Sensations: • Allow yourself to enjoy that (warm, expansive, tingly, etc.) sensation as long as you’d like. • Is there anything else about that (sensation, feeling, etc.) that you are noticing now? First Aid for Trauma Prevention: A Step-By-Step Guide The following First Aid Trauma Prevention-Guide is useful to teachers as well as parents. Naturally a school-situation differs from a situation within the family. Some interventions are probably not easy to practice by a single teacher who has many pupils to take care of at the same time, or not particularly suitable in a school-setting. Trauma prevention involves assisting a child to ‘unwind’ the energy that was stirred up during their upset. There are eight steps involved in this procedure. The first seven steps teach you how to help the child’s body rebound from fear, shock and shutdown. Step eight guides you to help the child recover emotionally, and to develop a coherent story of what happened. This final step helps the child to put the bad occurrence in the past where it belongs. The eight simple steps outlined below can be used as soon as your child is in a safe, quiet place. 1. Check your own body’s responses first Take time to notice your own level of fear or concern. Next, take a full, deep breath and as you exhale s-l-o-w-l-y feel the sensations in your own body. If you still feel upset, repeat the procedure until you feel settled. Feel your feet, ankles and legs, noticing how they make contact with the ground. Remember that any excess energy you have will help you to stay focused to meet the challenge at hand. The time it takes to establish a sense of calm is time well spent. It will increase your capacity to attend fully to the child. If you take the time to gather yourself, your own acceptance of whatever has happened will help you to attend to the child’s needs. Your composure will greatly reduce the likelihood of fright-

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ening or confusing the child further. Remember, children are very sensitive to the emotional states of adults. 2. Assess the situation If the child shows signs of shock (glazed eyes, pale skin, rapid or shallow pulse and breathing, disorientation, appears overly emotional or overly tranquil, i.e., is acting like nothing has happened), do not allow him/her to jump up and return to play. You might say something like this: “You’re safe now … but you’re still in shock (or a bit shaken up). I will stay right here with you until the shock wears off. It’s important to stay still for a little while, even though you might want to play.” Remember, a calm, confident voice communicates to the child that you know what’s best. 3. As the shock wears off, guide the child’s attention to his/her sensations Indications of coming out of shock that are easy to spot include some color returning to the skin, a slowing down and/or deepening of the breath, tears or some expression returning to the eyes (which may have seemed blank before). When you see one or more of these signs, softly ask the child how she/he feels “in her/his body”. Next, repeat his or her answer as a question − “You feel okay in your body?”− and wait for a nod or another response. Be more specific with the next question: “How do you feel in your tummy (head, arm, leg, etc.)?” If she/he mentions a distinct sensation (such as “It feels tight or hurts”), gently ask about its location, size, shape, color or weight (e.g. heavy or light). Keep guiding the child to stay with the present moment with questions such as “How does the rock (sharpness, lump, ‘owie’, sting) feel now?” If she/he is too young or too startled to talk, have her/him point to where it hurts. (Remember that children tend to describe sensations with metaphors such as “hard as a rock” or “butterflies”.) 4. Slow down and follow the child’s pace by careful observation of changes Timing is everything! This may be the hardest part for the adult; but it’s the most important part for the child. Providing a minute or two of silence between questions allows deeply restorative physiological cycles to engage. Too many questions asked too quickly disrupt the natural course that leads to resolution. Your calm presence and patience are sufficient to facilitate the movement and release of excess energy. This process cannot be rushed. Be alert for cues that let you know a cycle has finished. If uncertain whether a cycle has been completed, wait and watch the child to give you clues. Examples of signs include a deep, relaxed, spontaneous

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breath, the cessation of crying or trembling, a stretch, a yawn, a smile or the making of eye contact. The completion of this cycle may not mean that the recovery process is over. Wait to see if another cycle begins or if there is ‘a sense of enough’ for now. Keep the child focused on sensations for a few more minutes just to make sure the process is complete. If the child seems tired, stop. There will be other opportunities later to complete the process. 5. Keep validating the child’s physical responses Resist the impulse to stop the child’s tears or trembling, while reminding her/him that whatever has happened is over and that she/he will be ‘OK’. The child’s reactions need to continue until they come to completion. This part of the natural cycle usually takes from one to several minutes. Studies have shown that children who are able to cry and tremble after an accident have fewer problems recovering from it over the long term. Your task is to convey to the child −through word and touch − that crying and trembling are normal, healthy reactions. A reassuring hand on the back, shoulder or arm, along with a few gently spoken words as simple as “That’s OK” or “That’s right, just let the scary stuff shake right out of you” will help immensely. 6. Trust in the child’s innate ability to heal As you become increasingly comfortable with your own sensations, it will be easier to relax and follow the child’s lead. Your primary function, once the process has begun, is to not disrupt it! Trust the child’s innate ability to heal. Trust your own ability to allow this to happen. If it helps you in letting go, take a moment to reflect on and feel the presence of a ‘higher power’ or the ‘remarkable perfection of nature’ guiding you in the ‘ordinary miracle of healing’. Your job is to stay with the child. Your balanced presence provides a safe container for the child to release his/her tears, fears and any strange new feelings. Use a calm voice and reassuring hand to let the child know that he/she is on the right track. To avoid unintentional disruption of the process, don’t shift the child’s position, distract his/her attention, hold him/her too tightly or position yourself too close or too far away for comfort. Notice when the child begins to look around to see what’s happening with a sense of curiosity. This type of checking out the surroundings is called biological orienting and is a sign of resolution. It is a sign of completion or letting go of the stressful energy produced in response to the scary event. A natural orientation to what’s happening in the environment may bring with it more sensory awareness, aliveness in the present moment and even feelings of joy.

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7. Encourage the child to rest, even if he/she doesn’t want to. Deep discharge and processing of the event generally continue during rest and sleep. Do not stir up discussion about the mishap by asking questions about it during this stage. Later on, though, the child may want to tell a story about what happened, draw a picture or play it through. If a lot of energy was mobilized, the release will continue. The next cycle may be too subtle for you to notice, but this resting stage promotes a fuller recovery, allowing the body to gently vibrate, give off heat and go through skin color changes etc., as the nervous system returns to relaxation and equilibrium. In addition, dream activity can help move the body through the necessary physiological changes. These changes happen naturally. All you have to do is provide a calm, quiet environment. (Caution: Of course, if the child possibly has had a head injury (concussion), you want her/him to rest but not sleep until the doctor tells you that sleeping is safe.) 8. The final step is to attend to the child’s emotional responses and help him/her make sense of what happened Later, when the child is rested and calm − even the next day − set aside some time for her/him to talk about her/his feelings and what she/he experienced. Begin by asking her/him to tell you what happened. Children often feel anger, fear, sadness, worry, embarrassment, shame or guilt. Help the child to know that those feelings are OK and that you understand. You could tell the child about a time when you or someone you know had a similar experience and/or felt the same way. This may encourage expression of what the child is feeling. It may help her/him not to feel weird or defective in some way because of what happened or because of her/his reactions. Let the child know by your actions that that you accept whatever she/he is feeling and that sharing them is worthy of your time and attention. Set aside some time for storytelling or for relating the details of the incident to assess if there are any residual feelings. Drawing, painting and working with clay can be very helpful in releasing strong emotions. If you notice the child becoming unduly upset at any point, again have her/him attend to her/his sensations in order to help the distress pass. Crisis Relief with Groups This somatic work can also be done with groups of children in a school or community setting. A teacher or school counselor trained in working with the principles of tracking sensations, nervous system activation/deactivation and sensorymotor defensive movements can lead the group with the assistance of other adults to provide safety and containment. As one child volunteers to process their symptoms and gets relief, the shyer youngsters gain confidence and ask for

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their turn. This is a very different approach than the Mitchell Model of Critical Incidence Debriefing that asks children to share the worst part of the trauma in detail. Below are guidelines for working with groups of three to twelve pupils: • Invite as many parents (or other caregivers) as possible to participate. • Seat pupils in a circle so that everyone can see each other. Seat adults directly •











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behind the children in a concentric circle for support. It is very helpful, but not necessary, to have a child-size fitness ball for the pupil who is ‘working’ to sit on. Sitting on the ball helps youngsters drop into and describe their sensations more easily because of the proprioceptive input they provide. These balls are very comfortable and children love to sit on them. Educate the group on the trauma response and what they might expect to experience both during the shock phase of the event and as they begin to come out of shock to normalize their symptoms.6 Explain what you will be doing to help them (i.e., that the group will be learning about their inner sensations and how they help to move stuck feelings, images, and worrisome thoughts out of their bodies and minds). Do not probe the group to describe what happened during the event. Instead explain to them that you will teach skills to relieve symptoms and help them to feel better. Ask the group to share some of the trauma symptoms they may be having. (For example: difficulty sleeping, eating or concentrating, nightmares, feeling that it didn’t really happen). Explain what a sensation is and have the group brainstorm various sensation words. You might even write these down for all to see, if convenient. Explain what to expect: that they might feel trembling, shaking, tearful, jittery, warm, cool, numb, or they might feel like they want to run, fight, disappear or hide. Let them know that these are feelings that happen as they are moving out of the shock response. Work with one volunteer at a time within the circle. Have that child notice the support of the adults and other pupils in the group. Invite him/her to make eye contact with a special friend or familiar adult for safety. At any time during the session, if the pupil needs extra support, invite him/her again to take a break and make contact with a special ‘buddy’ in the group.

You might want to use the information stated in this article. (For example, some may feel numb; others may have recurring images or troublesome thoughts, etc.).

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• Ask the pupil to find a comfortable position in the chair or on the ball. Invite

him/her to feel his/her feet touching the floor, the support of what he/she is sitting on, and his/her breath as he/she inhales and exhales. Make sure he/she feels grounded, centered, and safe. • Begin the sensation work as soon as he/she is ready. First, have him/her describe a sensation of something that brings comfort or pleasure. If he/she hasn’t had any resourceful feelings since the event, have him/her choose a time before the event when he/she had good feelings and ask for a description of what he/she feels like now as he/she recalls those good feelings. • The child might automatically describe symptoms or you may need to ask what kind of difficulties he/she is struggling with since the event. Then ask him/her to describe what he/she is feeling. The following are sample questions to use as a guide for inviting awareness of sensations. Sample Questions: • And as you see the image of the man behind the tree, what do you notice in your body? • And when you worry that he might come back, what do you notice in your body? • And when you feel your tummy getting tight, what else do you notice? Tight like what? Can you show me? • And when you look at the rock … or make the rock with your fist … what happens next? • And when you feel your legs shaking, what do you suppose your legs want to do? • When your legs feel like running, imagine you are running in your favorite place and your (insert name a favorite safe person) will be waiting for you when you arrive. • Or, have the child imagine running like his/her favorite animal. Encourage him/her to feel the power in his/her legs as he/she moves quickly with the wind on his/her face. The idea is to follow the pupil's lead. And help them to explore, with an attitude of curiosity, what happens next as they notice their internal responses. Resolving a stress reaction does much more than diminish the likelihood of developing trauma later in life. It also fosters an ability to move through any threatening situation with greater ease and flexibility. It creates, in essence, a natural resilience to stress. A nervous system accustomed to experiencing and releasing stress is healthier than a nervous system burdened with an ongoing, if not

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accumulating, level of stress. Children who are encouraged to attend to their instinctual responses are rewarded with a lifelong legacy of health and vigor! Literature Damasio, Antonio R. (1995): Descartes’ Error. Emotion, Reason, and the Human Brain. New York: Harper Perennial. Damasio, Antonio R. (1999): The Feeling of What Happens. Body and Emotion in the Making of Consciousness. New York: Harcourt Brace. LeDoux, Joseph E. (1998): The Emotional Brain. Mysterious Underpinnings of Emotional Life. New York: Simon and Schuster. Levine, Peter A. (1997): Waking the Tiger. Healing Trauma. Berkeley, CA: North Atlantic Books. Levine Peter A. (2010): In an Unspoken Voice. How the Body Releases Trauma and Restores Goodness. Berkeley, CA: North Atlantic Books. Levine, Peter A./Kline, Maggie (2007): Trauma through a Child’s Eyes. Awakening the Ordinary Miracle of Healing. Berkeley, CA: North Atlantic Books. Levine, Peter A./Kline, Maggie (2008): Trauma-Proofing Your Kids. A Parents’ Guide for Instilling Confidence, Joy and Resilience. Berkeley, CA: North Atlantic Books. Leitch, M. Laurie (2007): Somatic Experiencing Treatment with Tsunami Survivors in Thailand: Broadening the Scope of Early Intervention. In: Traumatology. 13 (3), 1120. MacLean, Paul (1990): The Triune Brain in Evolution. Role in Paleocerebral Functions. New York: Springer Science & Business Media.

Autor_innen Bahcelibas, Buse, studierte Lehramt an Haupt-/Mittelschulen, Master of Education, arbeitet zu den Schwerpunkten philosophische Bildungsforschung und Migrationsforschung und ist seit 2016 Lehramtsanwärterin an einer Mittelschule in Augsburg/Bayern. Becker, David, Dr. phil., ist Diplompsychologe, Direktor des Büros für psychosoziale Prozesse (OPSI) an der internationalen Akademie für innovative Pädagogik, Psychologie und Ökonomie an der Freien Universität Berlin (INA GmbH), lehrt Psychologie an der Sigmund Freud PrivatUniversität Berlin und berät psychosoziale Projekte im In- und Ausland. Bergold-Caldwell, Denise, promoviert am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Philipps-Universität Marburg (PUM) zu "Subjektivierung als vergeschlechtlichte Rassifizierung und Strategien der Ent-Unterwerfung". Sie ist neben ihrer Arbeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der PUM als AntiDiskriminierungstrainerin tätig. Bialek, Julia, ist Dipl. Behindertenpädagogin, praktiziert systemische Beratung und Therapie, Traumapädagogin / -fachberaterin (DeGPT/BAG-TP), Mitgesellschafterin und Ausbilderin des Traumapädagogischen Instituts Norddeutschlands (train), promoviert an der Hochschule Rhein Main Wiesbaden. Brenssell, Ariane, Dr. phil., ist Kritische Psychologin und Politikwissenschaftlerin aus Berlin sowie Professorin für Psychologie in der Sozialen Arbeit an der Hochschule Braunschweig-Wolfenbüttel. Gemeinsam mit dem Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe führt sie die partizipative Forschung „Kontextualisierte Traumaarbeit“ durch.

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Dauber, Heinrich, Dr. phil., war bis 2009 Universitätsprofessor für Erziehungswissenschaft (Schwerpunkte: Erziehungs- und Schultheorie, einschließlich Weiterbildung) an der Universität Kassel; arbeitet im Feld der Beratung, der Supervision und des Coachings (grad. Integrative Leib- und Bewegungstherapie, Gestalttherapie, FPI Düsseldorf), Gründungsmitglied der Kommission ‚Pädagogik und Humanistische Psychologie’ in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Ding, Ulrike, ist Dipl. Sonder- und Heilpädagogin, Förderschulrektorin, Schwerpunkte Erziehungshilfe und Lernhilfe, Schulleiterin einer Förderschule und eines Beratungs- und Förderzentrums mit den Schwerpunkten Lernen, Sprachheilförderung und sozial-emotionale Entwicklung. Seit 1978 arbeitet sie mit traumatisierten Mädchen und Jungen sowie Erwachsenen in verschiedenen Arbeitsfeldern der Jugendhilfe und Schule. Referentin im Zentrum für Traumapädagogik Hanau. Eck, Sandra, ist Soziologin, angehende Gestalttherapeutin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Frauenakademie München. Ihre Schwerpunkte liegen in der Erkundung herrschaftskritischer Forschungs- und Lebensweisen (gender, race, care) und dem Ausloten der Schnittmengen psychischer und sozialer Phänomene unter der Herangehensweise qualitativer, partizipativer Sozialforschung. Eißner, Birgit, ist Ethnologin und Pädagogin mit den Schwerpunkten Anwendbarkeit des Trauma-Konzeptes in nicht-westlichen Kulturen, NonprofitOrganisation-Management, Umsetzung von Frauenrechten, Identitätsbildung im postkolonialen Kontext. Sie leitet seit September 2015 gemeinsam mit Andreas Reimer das gemeinnützige Projekt Asha Vihar in Indien, das aus Klinik und Waisenhaus besteht. Fath, Maria Johanna, ist Familientherapeutin, Traumafachberaterin, Traumatherapeutin und Diplomtheologin. Sie leitet das TraumahilfeNetzwerk Augsburg und Schwaben und arbeitet als Dozentin, Lehrtherapeutin und Supervisorin im pädagogischen und therapeutischen Feld. Ihre Schwerpunkte beziehen sich auf die Arbeit mit traumatisierten Menschen und die Weiterbildung von Fachkräften zum Thema Trauma.

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Fremmer, Marita, ist Lehrerin für Sonderpädagogik in Mönchengladbach. Seit 2005 unterrichtet sie traumatisierte und in ihrer Lebensbiografie verletzte Jugendliche im Kriseninterventionszentrum (KRIZ). Im Rahmen ihres Lehrauftrags an der Universität zu Köln beschäftigt sie sich mit der Beratung von Studierenden, Kollegen und multiprofessionellen Teams. Fuchs, Christian, ist Dipl. Ing. (FH), Dipl. Wirtsch-Ing. (FH), arbeitet als Gestalttherapeut und Traumatherapeut in eigener Praxis in Augsburg und Schondorf, ist Mitbegründer des Lore Perls Instituts, lehrt an diversen Hochschulen und leitet ein Beratungsunternehmen im Bereich der Erwachsenenbildung. Gahleitner, Silke Birgitta, Dr. phil., studierte Soziale Arbeit, promovierte in Klinischer Psychologie und arbeitete langjährig als Sozialarbeiterin und Psychotherapeutin in sozialtherapeutischen Einrichtungen sowie in eigener Praxis. Seit 2006 ist sie als Professorin für Klinische Psychologie und Sozialarbeit an der ASH Berlin tätig und hatte einen mehrjährigen Forschungsaufenthalt an der Donau-Universität Krems im Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit. Gregor, Anja, Dr*in. phil., ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der FSU Jena (AB Allgemeine und Theoretische Soziologie). Forschungsschwerpunkte: kritischer feministischer (Neo-)Materialismus/Soma Studies; queer_feministische Theorie; sozialwissenschaftliche Intergeschlechtlichkeitsforschung; queer_feministische Wissen(schaft)skritik, Biographieforschung. Neben der wissenschaftlichen Tätigkeit im Vorstand des Jenaer Frauenhauses e.V. aktiv. Hart, Susan, MA, is a psychologist, specialist and supervisor in child psychology and in psychotherapy. With a background in family treatment and child psychiatry, Susan is now self-imployed. In her extensive lecture and workshop activity, she develops and teaches the neuroaffective concept developed from recent brain research. She has written fourteen other books on the subject of neuroaffective developmental psychology and psychotherapy, of which four are published in English.

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Hartmannsberger, Lena, studierte Lehramt an Gymnasien in den Fächern Deutsch und Englisch an der Universität Augsburg, Erweiterungsstudium zur Beratungslehrkraft, lehramtsbezogener Bachelor of Education sowie Bachelor of Arts (Germanistik/Anglistik), Master of Education; derzeit in Ausbildung zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin (Verhaltenstherapie). Jäckle, Monika, Dr. phil., ist freie Erziehungswissenschaftlerin, forscht zu den Schwerpunkten hermeneutische Bildungsforschung und Subjektivationsforschung unter dem Aspekt der Anerkennung und Verletzbarkeit im pädagogischtherapeutischen Feld, viele Jahre als Modulbeauftragte des Beratungsstudienganges „Beratungslehrkraft“ am Lehrstuhl für Schulpädagogik der Universität Augsburg tätig, ist Mitbegründerin des Lore Perls Instituts (Augsburg) und arbeitet als Gestalt- und Traumatherapeutin in eigener Praxis. Jergus, Kerstin, Dr. habil., ist Erziehungswissenschaftlerin und Vertretungsprofessorin für Systematische Erziehungswissenschaft an der Universität Dresden, lehrt und forscht zu Grundlagen der Erziehungswissenschaft. In Verbindung mit einer kulturwissenschaftlichen Analytik der Bildungsforschung bearbeitet sie aktuelle Themenstellungen pädagogischer Theoriebildung wie etwa Heterogenität, Elternschaft, Universität, pädagogische Beziehungen und Normalisierung. Kline, Maggie, has been a humanistic & gestalt psychotherapist for over 30 years and is a retired school psychologist. She uses Somatic Experiencing with individuals, couples & groups. She integrates S.E. with art and play when working with youth. Maggie is a senior S.E. faculty member teaching internationally. She is the co-author of Trauma through a Child’s Eyes and Trauma-Proofing Your Kids with Peter A. Levine. Köckeritz, Christine, Dr. phil., studierte Psychologie an der Friedrich-SchillerUniversität in Jena, arbeitete als Diplom-Psychologin in der Medizin, der Erziehungsberatung und im Jugendamt; seit 1993 Professorin an der Hochschule Esslingen, Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege, vertritt das Lehrgebiet Entwicklungspsychologie für die Soziale Arbeit, insbesondere für die Jugendhilfe. Kühn, Martin, Dipl. Behindertenpädagoge, Systemischer Berater und Therapeut, Mitbegründer der BAG Traumapädagogik sowie Gründer und Ausbilder des Traumapädagogischen Instituts Norddeutschland (train), lehrt an der Hochschule Rhein/Main Wiesbaden und an der Universität Hale/Saale.

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Levine, Peter A., Dr., ist Biophysiker und Psychologe. Er hat an zahlreichen Kliniken und Schmerzentren in den Vereinigten Staaten und Europa gelehrt. Zudem ist er Gründer und Ehren-Präsident der Non-Profit-Organisation Foundation for Human Enrichment in Lyons (Colorado). Levine ist Begründer der körperorientierten Traumabehandlungsmethode Somatic Experiencing (SE). Er wurde 2010 mit dem Lifetime Achievement Award für besondere Verdienste im Bereich der Körperpsychotherapie ausgezeichnet. Pusch, Corinna, studierte Erziehungswissenschaften in Augsburg und ist im Bereich Gleichstellung und Diversität an der Universität Augsburg beschäftigt. Ihre Interessensschwerpunkte sind Prävention sexualisierter Gewalt, Macht und Abhängigkeit in pädagogischen und therapeutischen Beziehungen, gesellschaftspolitische Aspekte Sozialer Arbeit sowie Geschlecht und Körper. Quack, Elena, ist Lehrerin für Sonderpädagogik mit den Fachrichtungen Emotionale und soziale Entwicklung und Lernen sowie Fachberaterin für Psychotraumatologie. Sie arbeitet seit 2009 als Klassenleitung einer intensivpädagogischen Lerngruppe mit traumatisierten Jugendlichen in Mönchengladbach. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der Konzeptionalisierung, Umsetzung und Evaluation traumapädagogischer Ansätze in intensivpädagogischen Schulsettings. Scholle, Jasmin, ist Erziehungswissenschaftlerin, Lehrbeauftragte am Institut für Erziehungswissenschaft sowie am Zentrum für Gender Studies und feministische Zukunftsforschung der Philipps-Universität Marburg. Bildungsarbeiterin bei in.bildung – Kollektiv für diversitätsbewusste Bildung und Beratung. Weiterbildungen in den Bereichen Neuer Tanz, Contact Improvisation und Clownerie. Forschungsinteresse im Schnittfeld von Körpern als somatischer Materialität und sozialen Ordnungen. Ullrich, Franziska, ist Diplom-Rehabilitationspädagogin (Verhaltensgestörtenund Geistigbehindertenpädagogik) und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Pädagogik bei Verhaltensstörungen am Institut für Sonderpädagogik der Leibniz Universität Hannover zum Schwerpunkt traumatisierte Kinder und Jugendliche in der Schule. Urmann, Martin, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich 980 „Episteme in Bewegung“ der DFG an der Freien Universität Berlin. Nach einem Studium der Geschichte, Philosophie und Politikwissenschaft in Berlin und Paris promovierte er im Jahr 2014 im Fach Allgemeine und

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Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin und der École des Hautes Études en Sciences Sociales mit einer Arbeit zur Kunst um 1900 in Paris und Wien. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der Poesie der Dekadenz, der Ästhetik und Medienphilosophie sowie der historischen Epistemologie. Vobbe, Frederic, Dr., ist Sozialarbeiter, Religionspädagoge und Erziehungswissenschaftler. Er ist Professor an der SRH Hochschule Heidelberg und leitet den Bachelorstudiengang Soziale Arbeit. Er lehrt und forscht zu den Themenschwerpunkten Diversity, abweichendes Verhalten und sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Er arbeitete mehrere Jahre in einer Beratungsstelle gegen sexualisierte Gewalt an Mädchen und Jungen. Als Bildungsreferent der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Intervention bei Kindesmisshandlung und -vernachlässigung e.V. koordinierte er im Auftrag des BMFSFJ die spezialisierten Fachberatungsstellen zum ergänzenden Hilfesystem. Weiß, Wilma, ist Diplompädagogin und Sozialpädagogin, und war in verschiedenen Arbeitsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe tätig. Von 2008 - 2015 leitete sie das Zentrum für Traumapädagogik in Hanau. Gemeinsam mit Martin Kühn gründete sie die Bundesarbeitsgemeinschaft für Traumapädagogik. Sie ist Kursleiterin der Deutschen Qigonggesellschaft, Fachbuchautorin und Referentin bei Wunde®kinder – Traumapädagogik und interdisziplinäre Traumaarbeit. Wolf, Barbara, Dr. phil., ist Erziehungswissenschaftlerin und Soziologin. Sie ist Professorin an der SRH Hochschule Heidelberg und Studiengangsleiterin am Fachbereich Kindheitspädagogik. Ihre Forschungs- und Interessensschwerpunkte bilden u.a. phänomenologische Kindheitsforschung und qualitative Sozialisationsforschung, die pädagogische Beziehung, Diversität (Soziale Ungleichheit, Migration, geschlechtssensible Pädagogik), soziologische und pädagogische Theorie und kritische Erziehungswissenschaften. Wuttig, Bettina, Dr. phil., ist Erziehungswissenschaftlerin und Professorin an der SRH Hochschule Heidelberg. Sie leitet dort den Masterstudiengang Soziale Arbeit - Psychosoziale Beratung und Gesundheitsförderung. Darüber hinaus lehrt sie am Zentrum für Gender Studies und feministische Zukunftsforschung der Universität Marburg im Bereich poststrukturalistische Geschlechtertheorien und Körper. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Geschlechterverhältnisse und Embodiment, Soziale Verwundbarkeit, Trauma und Diskriminierungsverhältnisse. Sie ist Performancekünstlerin und arbeitet in eigener psychotherapeutischer

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Praxis sowie in der politischen Bildung. Sie ist Begründerin und Mitherausgeber_in der Edition ‚Soma Studies‘ des transcript Verlags. Yehuda, Na’ama, MSC, SLP, is a speech language pathologist and audiologist, and has worked as a clinician, educator, and researcher in both Israel and the United States. She presently works as a speech-language-pathology consultant to the New York City Department of Education, as well as in private practice. She has presented internationally on the topic of language and dissociation, and is the author of several papers on the topic. She has served on the board of directors of the Israeli Speech, Language, and Hearing Association (ISHLA), and is presently on the board of directors of the International Society for the Study of Trauma and Dissociation, chairs the Development Committee, and is a member of the Child and Adolescent Committee. Zimmermann, David, Dr. phil., ist Juniorprofessor für Pädagogik bei Verhaltensstörungen an der Leibniz Universität Hannover. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der psychoanalytischen und der Traumapädagogik sowie im schulischen Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung. Die aktuellen Lehr-, Forschungs- und Praxisprojekte bearbeiten die Themenfelder „reflexive Professionalisierung“, „Zwangsmigration“ sowie „traumapädagogische Beziehungsarbeit“. Er ist Mitbegründer des Instituts für Traumapädagogik Berlin. Aktuell zudem stellvertretender Sprecher der Kommission Psychoanalytische Pädagogik in der DGfE.

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Peter Bubmann, Eckart Liebau (Hg.) Die Ästhetik Europas Ideen und Illusionen Juli 2016, 206 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3315-3 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3315-7

Inga Eremjan Transkulturelle Kunstvermittlung Zum Bildungsgehalt ästhetisch-künstlerischer Praxen Juni 2016, 448 S., kart., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3519-5 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3519-9

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