Media Marx: Ein Handbuch [1. Aufl.] 9783839404812

Globalisierung und Neoliberalismus prägen das Gesicht der Gegenwart. Dies löst auch ein neues Interesse an den Arbeiten

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Media Marx: Ein Handbuch [1. Aufl.]
 9783839404812

Table of contents :
Inhalt
Prolog
1. Media Marx
Einführungen
2. Von der Erdung der Ästhetik in der Medientheorie – Die materialistische Wende der Ästhetik als Bedingung der Möglichkeit von Medientheorie
3. Marx und Medien – Eine Einführung
Marx’sche Medien
4. Der doppelte Körper des Untertanen
5 Hegels Begriff der Arbeit als medienphilosophische Grundlegung
6 Medium Geld
Künste
7 Radikale Kunstgeschichte 2006
8 Marxismus und Kunstgeschichte – Eine persönliche Einschätzung aus Großbritannien
9 Marxistische Literaturtheorie
Medien vor und während Marx
10 »Kein Protokollobst auf den Tischen fotografieren(sonst wird die Bevölkerung neidisch)« – Marx, Lenin und die Freiheit der Presse
11 Die Zahlen als Medium und Fetisch
12 Flugblatt/Plakat
13 Verkehrte Welt. Ideologie – Camera Obscura – Medien
14 Das Gespenst der Fotografie
15 Übertragung und Explosion – Telegraphie/Telephonie/Transport
Medien nach Marx
16 Marxistische Kino- und Filmtheorien
17 »An alle« – Von Radio und Materialismus
18 Fernsehen und Marxismus
19 Video
20 Proudhons Nadel springt aus der Rille – Sechsmal Erbauliches über Platten, Tapes, Kristallspeicher und Materialismus
21 Simulation (Marx und Heidegger)
22 Der Fetischcharakter der Computerspielwaren und sein medienmorphologisches Geheimnis
23 Das Internet und der ›reibungslose Kapitalismus‹
Industrien
24 Kulturindustrie
25 Medienindustrie – Die »vergessene Theorie« der politischen Ökonomie der Massenkommunikation
Epilog
26 Kapitalismus: Ein sehr spezielles Delirium – Ein Gespräch
Autorinnen und Autoren

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Media Marx

... Masse und Medium 4

2006-05-30 11-50-58 --- Projekt: T481.mum.media-marx / Dokument: FAX ID 0283116966860890|(S.

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) T00_01 schmutztitel.p 116966860898

Editorial Masse und Medium untersucht Techniken und Macht des Diskurses, seine Funktionseinheiten, Flüchtigkeiten und Möglichkeiten zu seiner Unterbrechung. Damit geht Masse und Medium von einer eigentümlichen Brisanz des Massenund Medienbegriffs aus. Denn keineswegs markieren die Massenmedien ein einheitlich integratives und symmetrisches Konzept, sie sind vielmehr auf eine Differenz verwiesen, mit der das eine im jeweils anderen auf z.T. unberechenbare Weise wiederkehrt: Weder ist die Masse in jeder Hinsicht auf Medien angewiesen noch gelingt es den Medien, die Masse allumfassend zu adressieren. Stattdessen zeigt eine Differenzierung zwischen Massen und Medien, dass es sich dabei um beidseitig fragwürdige Konzepte handelt, die gerade auch in ihrer gegenseitigen Zuwendung problematisch und daher zu problematisieren sind. In dieser Hinsicht wird die im Logo der Reihe vorgenommene Auftrennung des Kompositums zu ihrem Einsatz. Zugleich weist der hier und in Zukunft zur Diskussion gestellte Massen- und Medienbegriff auf die Unmöglichkeit eines (bestimmten) Empfängers, auf eine oszillierende Menge als immer auch konstitutive Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation. Für Masse und Medium steht damit weder ein Programm der Einheit noch eines der Differenz zur Debatte. Dagegen wäre ein Brennpunkt zu fokussieren, in dem beide Felder in merkwürdiger Solidarität längst schon und wiederholt auseinander driften und zusammenwachsen. Somit benennt Masse und Medium Medialität und ›Massivität‹ als Grenzbegriffe des Sozialen und thematisiert darin ebenso jene Punkte, mit denen das Soziale in seiner Fragilität auf dem Spiel steht, indem es sich für politische Re-Artikulationen öffnet. Herausgegeben von Friedrich Balke, Jens Schröter, Gregor Schwering und Urs Stäheli

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Jens Schröter, Gregor Schwering, Urs Stäheli (Hg.)

Media Marx Ein Handbuch

... Masse und Medium 4

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) T00_03 innentitel.p 116966860914

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2006 transcript Verlag, Bielefeld Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Bernhard Ebersohl, Jens Schröter, Gregor Schwering Herstellung: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-481-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt Prolog 1

Media Marx . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jens Schröter, Gregor Schwering, Urs Stäheli

11

Einführungen 2

3

Von der Erdung der Ästhetik in der Medientheorie – Die materialistische Wende der Ästhetik als Bedingung der Möglichkeit von Medientheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Leschke Marx und Medien – Eine Einführung Oliver Marchart

21

.........................

45

Der doppelte Körper des Untertanen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leander Scholz

61

Marx’sche Medien Fetisch 4

Arbeit 5

Hegels Begriff der Arbeit als medienphilosophische Grundlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Niklas Hebing

75

Geld 6

Medium Geld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nadja Gernalzick

85

Künste Bildende Kunst 1 7

Radikale Kunstgeschichte 2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Otto Karl Werckmeister

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Bildende Kunst 2 8

Marxismus und Kunstgeschichte – Eine persönliche Einschätzung aus Großbritannien . . . . . . . . . . . . Gen Doy

111

Literatur 9

Marxistische Literaturtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sven Strasen

127

Medien vor und während Marx Buchdruck/Zeitung/Zeitschrift 10

»Kein Protokollobst auf den Tischen fotografieren (sonst wird die Bevölkerung neidisch)« – Marx, Lenin und die Freiheit der Presse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Daniel Müller

135

Zahl 11

Die Zahlen als Medium und Fetisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Claus Peter Ortlieb

12

Flugblatt/Plakat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Jäger

13

Verkehrte Welt Ideologie – Camera Obscura – Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alexander Böhnke

151

Flugblatt/Plakat 167

Camera Obscura 177

Fotografie 14

Das Gespenst der Fotografie Matthias Bickenbach

..............................

15

Übertragung und Explosion – Telegraphie/Telephonie/Transport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jens Schröter

193

Telegraphie/Telephonie/Transport

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Medien nach Marx Kino/Film 16

Marxistische Kino- und Filmtheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Kreimeier

17

»An alle« – Von Radio und Materialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Leschke

18

Fernsehen und Marxismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markus Stauff

19

Video . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolf F. Nohr

217

Radio 243

Fernsehen 259

Video 279

Schallplatte/Tonband/Mpeg 20

Proudhons Nadel springt aus der Rille – Sechsmal Erbauliches über Platten, Tapes, Kristallspeicher und Materialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dietmar Dath

297

Computer 1: Simulation 21

Simulation (Marx und Heidegger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jens Schröter

22

Der Fetischcharakter der Computerspielwaren und sein medienmorphologisches Geheimnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jochen Venus

303

Computer 2: Computerspiele 315

Computer 3: Internet 23

Das Internet und der ›reibungslose Kapitalismus‹ . . . . . . . . . . . . . Jens Schröter

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Industrien Kulturindustrie 24

Kulturindustrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gregor Schwering

25

Medienindustrie – Die »vergessene Theorie« der politischen Ökonomie der Massenkommunikation . . . . . . . . . Sigrid Baringhorst, Simon Holler

357

Medienindustrie 367

Epilog 26

Kapitalismus: Ein sehr spezielles Delirium – Ein Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gilles Deleuze, Félix Guattari

Autorinnen und Autoren

......................................

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➔ Prolog

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) T01_00 RESP prolog.p 116966860978

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) vak 010.p 116966860986

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1 Media Marx

Jens Schröter, Gregor Schwering, Urs Stäheli Karl Marx auf dem Titel des Spiegels und auf dem der TAZ; Marx zum drittbeliebtesten Deutschen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gekürt;1 Marx von den Hörern der BBC zum größten Philosophen aller Zeiten gewählt (vgl. Spiegel, Nr. 34, 22.08.2005; TAZ, Nr. 7655, 03.05.2005; FAZ, Nr. 163, 16.07.2005: 33). Das sind nur einige – die sichtbarsten – Stationen einer Marxrenaissance, mit der, glaubt man z.B. der Rede vom Ende ›großer Erzählungen‹, nicht mehr zu rechnen war. Dabei zehrt diese Wiederkehr nicht einfach vom Mythos des »Gespensts« (Spiegel), sie beschwört nicht schlicht den – für die einen – Spuk einer vor allem unheimlichen Vergangenheit oder – für die anderen – noch einmal das Versprechen zukünftig paradiesischer Verhältnisse, sondern verortet sich dazwischen. Plötzlich nämlich erscheinen Marx’ Analysen, so der britische Historiker Eric Hobsbawm, als ›atemberaubende Voraussage des Effekts der Globalisierung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts‹ (zit. nach: FAZ, Nr. 163, 16.07.05: 33), d.h. sie beschreiben Gegenwart oder könnten zumindest dazu fruchtbar gemacht werden. Dass diese Position keine vereinzelte ist, belegen Kongresse wie Indeterminate! Kommunismus in Frankfurt/Main 2003 (vgl. DemoPunk/Kritik und Praxis Berlin 2005). Zudem ist die Zahl an Publikationen zu Leben und Werk des Begründers eines Ansatzes, der das Gesicht des 19./20. Jahrhunderts signifikant mitgeprägt hat, zuletzt wieder merklich gestiegen (vgl. Hubman 2002; Henning 2005). Und so kommen selbst die schneidigsten Anwälte einer ›entideologisierten‹, von einer scheinbar schrankenlosen Kontingenz der Lifestyles gezeichneten Lebenswelt derzeit nicht umhin, sich wenigstens ex negativo auf Marx zu beziehen – siehe Norbert Bolz’ Buch Das konsumistische Manifest (Bolz 2002). Dennoch: Heute ein Buch über oder mit oder im Anschluss an Marx zu machen, ist kein bequemes Unterfangen. Denn so lauten die Einwände und die Fakten: Ist nicht spätestens seit 1989/90 die ganze mit dem Namen ›Marx‹ verknüpfte Philosophie sowie deren politisch-ökonomische Analyse der historischen Falschheit überführt? Wurden beide nicht von einer ›antimarxistischen‹ Wirklichkeit eingeholt bzw. durch sie ›entsorgt‹? Ist diese Analyse nicht durch die verbrecherischen Praktiken des Leninismus, Stalinismus, Maoismus usw. befleckt und diskreditiert? Ist sie nicht als Legitimationsideologie und Heilsdoktrin des so genannten real existierenden Sozialismus zu Recht gescheitert? Die Herausgeber teilen diese Einwände gegen den so genannten ›Marxismus-Leninismus‹ uneingeschränkt,2 nicht aber zugleich die Annahme, damit sei das Werk von Marx in toto erledigt. Demgemäß aber müssen die Fragen, was ›Marx‹ und ›der Marxismus‹ eigentlich sind, notwendig offen bleiben. Festzustellen ist vorläufig nur, dass

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Media Marx. Ein Handbuch Prolog

dieser Gegenstand erhebliche Komplexität besitzt. Um sich dieser angemessen zu nähern, hat Michel Foucault den Begriff der Diskursivität vorgeschlagen: Gerade als und in seiner »Diskursivität« (Foucault 1969: 1024) stellt der ›Marxismus‹ eine vielfältig sich überlappende, mehrfach sich durchkreuzende und darin vermischende Rede dar.3 Solche Vielfalt und Mehrzahl differenter Sprechweisen findet sich im Media Marx nicht nur gespiegelt, sie wurde von den Herausgebern bewusst respektiert und gewahrt: Denn erst, so betont Foucault, wenn in der Fortsetzung einer Diskursivität die Geste einer rigiden Verknappung derselben zu dominieren beginnt, nähert sich die Diskursivität ihrer Erstarrung in einer »schlechten Fülle« (ebd.: 1026); sie gerät in die Zone der Ver-, Ab- und Ausschlüsse, der Gralshüterei und des Schematismus.4 Dies gilt selbstverständlich nicht allein für eine gegenwärtige Marxrezeption, es betrifft vor allem deren Geschichte. Denn neben der dogmatisierten Staatsreligion der stalinistischen Staaten gab es – dissident und im Untergrund im Osten und zunehmend und spätestens nach Nikita Chruschtschows Geheimrede von 1956 eindeutig und vorherrschend im Westen – ein differenziertes Spektrum von theoretischen Ansätzen und detaillierten Analysen, die sich auf das sowohl kritische als auch humanistische Gedankengut in Marx’ (und Engels’) Schriften bezogen und es in diverse Richtungen weiter entwickelten – nicht zuletzt deshalb, um mit viel schärferen Argumenten, als es die bloßen Verdammungsideologien des Kalten Krieges konnten, den Stalinismus selbst zu analysieren und zu attackieren. Ein Überblick über das Feld ist hier weder möglich noch nötig – es genügt zu sagen, dass viele Philosophen, Theoretiker und Schriftsteller des 20. Jahrhunderts: Theodor W. Adorno, Louis Althusser, Walter Benjamin, Ernst Bloch, Bertolt Brecht, Cornelius Castoriadis, Hans Magnus Enzensberger, Jürgen Habermas, Georg Lukács, Herbert Marcuse, Maurice Merleau-Ponty, JeanPaul Sartre, aber auch Jean Baudrillard, Gilles Deleuze, Michel Foucault, Félix Guattari und Jacques Derrida sowie die Vordenker der Cultural Studies ohne das Erbe und die Auseinandersetzung mit dem Materialismus Marx’scher Prägung kaum zu denken wären. Sogar Martin Heidegger räumte 1947 in seinem Brief über den Humanismus ein, dass »die marxistische Anschauung von der Geschichte aller übrigen Historie überlegen« sei (1947: 87). Weitreichende Überlegungen der genannten Autoren sind – neben anderen – entweder bereits integraler Teil (z.B. Adorno, Baudrillard, Benjamin, Brecht) oder zumindest Anregung einer Medienwissenschaft, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer deutlicher als eigene Disziplin etablierte. So etwa lässt sich geltend machen, dass die Grundannahme bestimmter Richtungen der heutigen Medientheorie – es sei die Medientechnik in ihrer historischen Eigendynamik, welche die kulturellen Formen erst ermögliche und mehr noch in ihren Formen präge – bestimmten Formulierungen des von Marx entwickelten Basis/Überbau-Schemas ähnelt (vgl. Mar-

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chart 1997). Solche Anlehnung zumindest bestimmter Strömungen der Medienwissenschaft an das, wie immer auch problematische, Erbe von Marx’ Theorie und deren historischer Analyse ist der erste Grund, warum es den Herausgebern wichtig erschien, den Media Marx zu machen. Der zweite und vielleicht wichtigere Grund liegt aber in etwas anderem. Dazu ist noch einmal kurz auszuholen: Spätestens nach 1989/90 war Marx ›out‹. Ihren Anfang nimmt die Tendenz allerdings schon während der 1980er Jahre, d.h. in der Zeit der Boomjahre eines bereits im Übergang zum ›Neoliberalismus‹ befindlichen Kapitalismus: Zu dominant erschien damals der glamouröse Wohlstand einer Yuppie-Kultur des Westens und im Vergleich dazu nur trist der bereits stagnierende und zerfallende ›Ost-Block‹. Als er dann in sich zusammenfiel, ging alles ganz schnell: Angesichts der angekündigten ›blühenden Landschaften‹ in einer postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft hatten scheinbar alle Marx-Kritiker Recht bekommen und alle anderen einfach (und buchstäblich) abgewirtschaftet. Doch es vergingen nur wenige Jahre – schon 1993 hatte Derrida (1995) an Marx (wenn auch an dessen ›Gespenster‹) erinnert – bis sich die z.T. triumphale Euphorie des angeblichen Gewinners der Geschichte, des neoliberalen Kapitalismus, zu legen begann. Immer häufiger fiel jetzt auf, dass die rasante Transnationalisierung der Ökonomie, die stetig zunehmenden Megafusionen, Übernahmen und Konzernzerschlagungen, die sinkenden oder stagnierenden Löhne, die immer schmaler werdenden Staatskassen und der daraus folgende Sozial- und Kulturabbau sowie die trotz aller Einschnitte ständig wachsende Arbeitslosigkeit sich nicht mit den Heilsversprechungen nach 1989 decken wollten. Dazu kamen neuartige internationale Konflikte und Bedrohungen – vom so genannten Islamismus über den 11. September bis hin zu den Golfkriegen und der weiterhin zunehmenden (und keineswegs schrumpfenden) Lücke zwischen ›erster‹ und ›dritter‹ Welt (die sich mittlerweile auch in den westlichen Ländern ausbreiten kann). Die Unsicherheit stieg. Parallel dazu erklang allerorten die Rede vom ›Humankapital‹, dem ›Selbstmanagement‹, vom ›sozialverträglichen Frühableben‹, der ›Ich-AG‹ sowie zuletzt von der ›Entlassungsproduktivität‹. Dabei waren es nicht zuletzt solche Wortfindungen, die ein Klima des Zerfalls des sozialen Gefüges (oft nur seicht und moralisierend als Werteverfall beschrieben) nicht bloß neutral zu benennen, sondern auch aktiv zu unterstützen schienen. Dieses Ausbleiben der nach 1989/90 verheißenen Erneuerungen und Verbesserungen, ja die tendenzielle Komplizierung und Verschlimmerung der Lage nicht nur in den Staaten der so genannten ›Dritten Welt‹ oder in denen des ehemaligen ›Ost-Blocks‹, sondern ebenfalls in den westlichen Industrieländern warf neue Fragen nach den Ursachen und ihren möglichen Lösungen, nach den Zusammenhängen und ihren möglichen Alternativen auf. In der Folge formierten sich bald neue Formen des Protests: ATTAC und andere, diver-

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Media Marx. Ein Handbuch Prolog

se Gruppen von Globalisierungsgegnern brachten mit ihren Programmen eine ›andere Welt‹ in die Diskussion. Gleichzeitig begann auch das oben in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen skizzierte Interesse an Marx und seinen Schriften wieder anzusteigen. Dabei ist besonders wichtig, dass das ominöse Ende des Kalten Krieges auffällig mit dem anwachsenden und sich auch in der universitären Etablierung der Medienwissenschaften niederschlagenden Diskurs über die Medien und ihre Effekte einhergeht. Ein markantes Kennzeichen dieser Koinzidenz ist das in den 1990er Jahren beliebte Schlagwort von der postindustriellen Wissensgesellschaft. Das fortlaufend populärer werdende Internet wurde darin zum Leitmedium erklärt. Es avancierte gleichzeitig zur Keimzelle neuer Industrien und Ideologien. So sollte es einerseits – als Teil der ›dritten industriellen Revolution‹ – für den Zusammenbruch der stalinistischen Staaten mitverantwortlich gewesen sein, andererseits zog es schnell jene Hoffnungen auf sich, die eine (vor allem ökonomisch) bessere Welt versprachen. Kein anderer als Bill Gates verkündete in diesem Sinne die Utopie des reibungslosen Kapitalismus, dessen Wunderblase New Economy jedoch zügig kollabierte. Darüber hinaus wurden weitere, ebenso bizarre Ideen einer Überwindung der gegebenen gesellschaftlichen Strukturen durch das Internet lanciert – deren radikalste ein kommendes Global Brain anvisierten (vgl. Schröter 2004: 108-132). In diesem Lichte fällt bei Durchsicht neuerer kritischer Projekte ein Desiderat oder eine Leerstelle ins Auge: nämlich das (Miss-)Verhältnis differenzierter marxistisch orientierter Theorie und Analyse zu den ›Medien‹5 und ihrer Theorie. Zwar haben so verschiedene Autoren wie Robert Kurz (1999: 602-780), Dieter Prokop (2000) oder Wolfgang F. Haug (2003) die Konsequenzen der ›dritten industriellen Revolution‹ als globaler Ausbreitung digitaler Medien für die gesellschaftliche Entwicklung, den ›Medien-‹ oder ›High Tech-Kapitalismus‹ thematisiert. Doch auf das Marx’sche Erbe in der Medientheorie selbst oder wenigstens die Notwendigkeit marxistische Überlegungen auf die Mediengeschichte zu beziehen, wurde kaum reflektiert – und das obwohl zentrale Industrien der ›Neuen Weltordnung‹ gerade Medienindustrien sind. Zwar hat Vief (1991: 117) eine solche Besinnung schon kurz nach 1989/90 gefordert, und hatten, wie gesagt, beispielsweise Benjamin, Horkheimer/ Adorno, Enzensberger oder auch Armand Mattelart/Seth Siegelaub (1979; 1983) schon früher Ansätze oder Materialsammlungen dazu geliefert. Aber eine eigene Ausarbeitung, die sich einer ausdifferenzierten Darstellung des Verhältnisses von Marx und des Marxismus zu den verschiedenen Medien und ihrer Theorie (und vice versa) widmet, fehlt bislang. Dies ist der zweite und wesentliche Grund dafür, den Media Marx zu machen. In diesem Sinne soll das Handbuch Literaturhinweise und vielfältige An-

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knüpfungspunkte in kritischen bis experimentellen Essays beisteuern: Es soll helfen, einen Link zwischen den an Marx orientierten Analysen der gesellschaftlichen ›Verhältnisse‹ und denen der ›Medien‹ zu liefern. Demgemäß beginnt der vorliegende Band mit insgesamt acht Texten, die den Rahmen und das Feld abstecken: • Die ersten beiden Texte (Leschke, Marchart) sind vor allem systematischer Natur. Sie liefern einerseits eine Genealogie der Medientheorie aus der materialistischen, d.h. von Marx6 ausgehenden Ästhetik und andererseits einen Aufriss des Feldes zwischen Marx und den Medien. Auf diese Weise können die Koordinaten des Feldes des Media Marx bestimmt werden. • Auf sie folgt eine Dreiergruppe um die Begriffe Fetisch, Arbeit, Geld (Scholz, Hebing, Gernalzick). Obwohl es sich bei diesen drei Phänomenen nicht um Medien in einem engeren technologischen Sinne handelt, wäre der Media Marx unvollständig, wenn sie hier nicht erwähnt würden – denn der Fetischcharakter der Ware ist bei Marx jenes Medium, durch das den Menschen ihre gesellschaftlichen Verhältnisse als Fremdes gegenübertreten. Die Arbeit wiederum ist schon bei Hegel und erst recht bei Marx jenes ›Mittel‹, durch das der Wert erzeugt wird. Geld schließlich ist die ambigue Materialisierung dieses Wertes selbst. • Dann folgt eine Dreiergruppe von Texten, die einen immer auch gegenwärtigen Rückblick auf die vor den technischen Medien existierenden Felder der Bildenden Kunst und der Literatur werfen. Wir haben uns entschieden, diesen Bereich angesichts der bereits reichlich existierenden Literatur knapp zu halten. Die Texte zur Bildenden Kunst diskutieren, nicht zufällig, dezidiert und darin sehr persönlich die Frage nach dem institutionellen Status der Kunstgeschichte, die von den ›Medien‹ und nicht zuletzt von ökonomischen und politischen Verhältnissen der Gegenwart eingeschnürt zu werden droht (Werckmeister, Doy). Im Feld der Literatur ist die Literatur – kaum überraschend – noch breiter, so dass wir uns hier entschlossen haben, einen kompakten Überblick mit Verweisen auf weiterführende Studien hinzuzunehmen (Strasen). Vor diesem systematischen und in der gebotenen Knappheit aufgerissenen, historischen Hintergrund entfalten sich die beiden zentralen Kapitel von Media Marx. Diese zentrieren sich um das seit dem 19. Jahrhundert explosiv proliferierende Feld der im engeren Sinne technischen Medien. Uns erschien es angesichts der Komplexität des Feldes am sinnfälligsten, einer chronologischen Ordnung zu folgen. • Das Kapitel zu jenen Medien (z.B. Presse, Telegraphie etc.), die Marx

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Media Marx. Ein Handbuch Prolog

kannte, fördert teilweise kaum bekannte Passagen bei Marx zutage, trägt aber ebenso der späteren Entwicklung Rechnung (Müller, Ortlieb, Jäger, Böhnke, Bickenbach, Schröter). • Im Kapitel ›Medien nach Marx‹ werden die Medientechnologien thematisiert, die in der Mediengeschichte erst nach Marx’ Tod erschienen und deren Reflexion ihrerseits oft von den Problemen der Weiterentwicklung Marx’scher Theoreme im 20. Jahrhundert berührt waren (Kreimeier, Leschke, Stauff, Nohr, Dath, Schröter, Venus). • Darauf folgt ein Block mit zwei Texten (Schwering, Baringhorst/Holler), die sich eher den Makroeffekten komplexer Medienverbünde und ihrer ökonomischen Institutionalisierung widmen: der Kulturindustrie, wie sie suggestiv von Horkheimer und Adorno beschrieben wurde, und der Medienindustrie, die heute das Gesicht großer Teile des Erdballs prägt. Schließlich endet der Band mit einem Text, der den Bogen zum systematisch-historischen Textblock des Anfangs zurückschlägt. Wir drucken hier erstmalig in deutscher Übersetzung ein Gespräch Sylvère Lothringers mit Gilles Deleuze und Félix Guattari von 1973 ab. Den Grund für diese Wahl liefert folgende Aussage von Deleuze: »Ich glaube, dass Félix Guattari und ich Marxisten geblieben sind, alle beide, wenn auch vielleicht in verschiedener Weise. Denn wir glauben nicht an eine politische Philosophie, die nicht auf eine Analyse des Kapitalismus und seiner Entwicklungen gerichtet ist« (Deleuze 1993: 246). Das bestätigt nun nicht nur die zu Beginn des Vorworts formulierte These, selbst die jüngere, ›poststrukturalistische‹ Philosophie sei ohne Marx nicht denkbar. Viel mehr noch ist der Text von Deleuze/Guattari deswegen ein guter Abschluss, weil er den ›Massenmaschinen‹ die sprengende Kraft des Wunsches entgegensetzt. Insofern verweist der Text auf die Zukunft, aber nicht im Sinne eines utopischen Heilsplans, sondern mit Blick auf ein (wenn man so will) Medium, das die erstarrten ›Verhältnisse‹ oder besser: deren ›rasenden Stillstand‹ immer wieder irritiert. Dies bringt auch das vorliegende Buch zum Ausdruck (es wäre sonst wohl nicht entstanden). Zum Abschluss möchten wir uns in erster Linie bei den Autorinnen und Autoren für die entspannte Zusammenarbeit bedanken. Wir danken besonders Holger Steinmann und Nicola Glaubitz für ihre gelungenen Übersetzungen sowie Nicola Glaubitz auch dafür, dass sie den Titel des Buches fand. Zudem geht unser Dank an die Universität Basel (Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie) für die finanzielle Beihilfe sowie an den transcript Verlag für das gute Teamwork und die großzügige Unterstützung. Den Éditions du Seuil gebührt unser Dank für die Erteilung der Druckerlaubnis des Textes von Deleuze/Guattari und Renée Rogage dafür, die Kommunikation mit Paris ermöglicht zu haben. Bernhard Ebersohl hat durch seine präzise und unermüdliche Korrekturarbeit entscheidend zum Gelingen des Bandes beigetragen.

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Jens Schröter, Gregor Schwering, Urs Stäheli ➔ 1 Media Marx

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Anmerkungen 1 Siehe den Beitrag von Markus Stauff. 2 Siehe dazu auch den Beitrag von Klaus Kreimeier. 3 »Das Besondere an diesen Autoren [Marx und Freud, G. S.] ist, dass sie nicht nur die Autoren ihrer Werke, ihrer Bücher sind. Sie haben mehr geschaffen als das: die Möglichkeit und Formationsregeln anderer Texte. […] Freud ist nicht einfach der Autor der Traumdeutung oder der Abhandlung über den Witz und seine Beziehung zum Unbewussten; Marx ist nicht einfach der Autor des Manifests, des Kapitals: Sie haben eine unbegrenzte Diskursmöglichkeit geschaffen« (Foucault 1969: 1022). 4 Dabei wird hier keinem willkürlichen Umgang mit der Diskursivität das Wort geredet. Im Gegenteil (und wiederum mit Foucault): Es geht in der Lektüre und Interpretation einer Diskursivität immer darum, auf deren Gründungsakt zurückzukommen, d.h. gegen die Versteifung der »Anwendungen« (Foucault 1969: 1024) die Differenz der Theorie selbst einzuklagen. 5 Da ›Medien‹ in diesem Buch ein zentraler Begriff ist, kommt man nicht umhin ihn zu bestimmen (einen aktuellen Versuch findet man in Winkler 2004). Wie ein Blick in das Inhaltsverzeichnis zeigt, orientieren wir uns an technologischen Dispositiven, also an einem technisch orientierten Medienbegriff – mit der Ausnahme von Fetisch, Arbeit, Geld, die uns als allgemeine Medien bei Marx erscheinen. 6 Eine philologische Anmerkung: Die Autoren und Autorinnen des Bandes (Ausnahme: Daniel Müller) beziehen sich beim Rekurs auf Marx oder Engels meist auf die MEW (Marx/Engels-Werke), also die klassischen ›blauen Bände‹, erschienen beim Dietz Verlag, Ost Berlin und herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Gerade diese historisch problematische Herkunft hätte es vielleicht angeraten lassen sein können, eher auf die philologisch genauere und in ihren Kommentaren untendenziösere MEGA (Marx/Engels-Gesamtausgabe) zurückzugreifen, doch ist diese noch keineswegs vollendet und außerdem in der Regel schwieriger greifbar (zur MEGA, vgl. http://www.bbaw.de/ bbaw/Forschung/Forschungsprojekte/mega/de/Ueberblick, November 2005). Auszüge der MEW liegen überdies auf CD-Rom vor, was die Arbeit mit den Texten immens erleichtert. In der Regel werden in den Literaturverzeichnissen der Autoren die im Text zitierten MEW-Bände nicht noch einmal aufgeführt – in diesem Vorwort wurde ebenso verfahren.

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Literatur Bolz, Norbert (2002): Das konsumistische Manifest, München. Deleuze, Gilles (1993): »Kontrolle und Werden«. In: ders., Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt/Main, S. 243-253. DemoPunk/Kritik und Praxis Berlin (2005): Indeterminate! Kommunismus: Texte zu Ökonomie, Politik und Kultur, Münster. Derrida, Jacques (1995): Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt/Main. Foucault, Michel (2001): »Was ist ein Autor?«. In: ders., Dits et Ecrits. Schriften Bd. I, Frankfurt/Main, S. 1003-1041. Haug, Wolfgang Fritz (2003): High-Tech-Kapitalismus. Analysen zu Produktionsweise, Arbeit, Sexualität, Krieg und Hegemonie, Hamburg. Heidegger, Martin (1947): Platons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den »Humanismus«, Bern. Henning, Christoph (2005): »Geplänkel im Überbau. Zur Kritik der neueren Marxliteratur«. Philosophische Rundschau 52/2, S. 124-143. Hubman, Gerald (2002): »Rückkehr in die Philosophie? Neue Marx-Literatur«. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50/3, S. 445-453. Kurz, Robert (1999): Schwarzbuch Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft, Frankfurt/Main. Marchart, Oliver (1997): »Was ist neu an den neuen Medien? Technopolitik zwischen Lenin und dem Yogi-Bär«. In: nettime (Hg.), Netzkritik. Materialien zur Internet-Debatte, Berlin, S. 89-100. Mattelart, Armand/Siegelaub, Seth (1979): Communication and Class Struggle. Vol. 1: Capitalism, Imperialism, New York, Bagnolet. Mattelart, Armand/Siegelaub, Seth (1983): Communication and Class Struggle. Vol. 2: Liberation, Socialism, New York, Bagnolet. Prokop, Dieter (2000): Der Medien-Kapitalismus. Das Lexikon der neuen kritischen Medienforschung, Hamburg. Schröter, Jens (2004): Das Netz und die Virtuelle Realität. Zur Selbstprogrammierung der Gesellschaft durch die universelle Maschine, Bielefeld. Vief, Bernhard (1991): »Digitales Geld«. In: Rötzer, Florian (Hg.), Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, Frankfurt/Main, S. 117-146. Winkler, Hartmut (2004): »Mediendefinition«. Medienwissenschaft – Rezensionen 1, S. 9-27.

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➔ Einführungen

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Rainer Leschke ➔ 2 Von der Erdung der Ästhetik in der Medientheorie



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2 Von der Erdung der Ästhetik in der Medientheorie – Die materialistische Wende der Ästhetik als Bedingung der Möglichkeit von Medientheorie

Rainer Leschke »Es gibt keine Medientheorie. Die ›Medienrevolution‹ ist bislang, sowohl bei McLuhan als auch bei denjenigen, die gegen ihn Partei ergreifen, empiristisch und mystisch geblieben. Mit der Brutalität eines texanischen Kanadiers hat McLuhan behauptet, die Theorie Marxens […] sei schon zu dessen Lebzeiten durch das Auftreten des Telegraphen umgewälzt worden. In der ihm eigenen Einfalt will McLuhan damit zu verstehen geben, Marx habe mit seiner materialistischen Analyse der Produktion gleichsam nur einen beschränkten Bereich von Produktivkräften umschrieben, aus dem die Sprache, die Zeichen und die Kommunikation ausgespart blieben. In Wahrheit gibt es bei Marx nicht einmal eine Theorie der Eisenbahn als ›Medium‹ […].« Baudrillard 1972: 831 Nicht nur, dass es keine Medientheorie gibt, ist aus materialistischer Perspektive, wenigstens wenn man Baudrillard zu folgen gewillt ist, ein Problem, sondern auch, dass Marx noch nicht einmal den Ansatz zu einer solchen Theorie geliefert hat. Derart werden materialistische Modelle der Medientheorie, die Anfang der 70er Jahre immerhin in einer vergleichsweise seltenen Blüte standen, von Baudrillards forschem Einwand wieder auf den Boden heruntergeholt, einen Boden, der sich ihm zufolge als bodenlos erweisen sollte. Die materialistische Theorie der Medien ist so ohne Grund, wenigstens aber ohne Genealogie. Dieser Grund müsste also nachgeliefert werden und hierzu gab es ja auch die eine oder andere Bemühung – etwa bei Enzensberger, Knilli oder Prokop –, aber Baudrillard bestreitet solchen nachträglichen Ergänzungen des Grundes einer Medientheorie die Existenzberechtigung, stelle doch Marx bestenfalls das Paradigma für die gesellschaftliche Organisation des 19. Jahrhunderts, nicht jedoch das für die gegenwärtigen sozialen Entwicklungen. Marx ist also – so Baudrillard – nicht nur in der Medientheorie abwesend, sondern zudem auch noch grundsätzlich überholt. Eine theoretische Rückergänzung lohnt sich damit nicht. Eine marxistische Theorie der Medien gibt es daher nicht nur nicht, sie steht auch nicht zu erwarten und sie machte vor allem keinen Sinn – soweit Baudrillard.

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Man könnte nun versuchen, Baudrillards Diagnose als falsch zu erweisen, um die Medien dennoch auf ihren materialistischen Grund zurückzubringen. Aber auch das wäre ähnlich überflüssig, wie Baudrillard das den Bemühungen um eine materialistische Medientheorie unterstellt. Baudrillards Diagnose ist nämlich weder richtig noch falsch, sie ist schlicht zu grob, um paradigmatisch sinnvolle Aussagen liefern zu können. Insofern kann man sie ruhig links liegen lassen und noch einmal beginnen. Selbst wenn es keine satisfaktionsfähige materialistische Medientheorie gegeben haben sollte, so hat es doch zweifellos Materialismus innerhalb der Medientheorie gegeben und er war entscheidender, als die Medientheorie nach Baudrillard es immer wahrhaben wollte. Die Reflexion der Medien war nämlich von Anfang an ein Dokument der Unzulänglichkeit der herrschenden idealistischen Ästhetik. Die provozierende Materialität der Medien, die über ihre Technizität zugleich immer auch an die industrielle Reproduktion von Gesellschaft rückgekoppelt ist, verführte Ästhetik vor allem zu einem: Zum vorläufigen und durchaus aggressiven Ausschluss des Medialen dadurch, dass es unter den Generalverdacht des Banalen und der ästhetischen Irrelevanz gestellt wird. Die idealistische Ästhetik vermochte also das Mediale wenn überhaupt, dann nur als Negatives zu rekonstruieren. Wollte man also von der Ästhetik zur Medialität gelangen, dann musste diese konstitutive Negativität entweder kompensiert und kanalisiert werden oder aber es war das Bezugssystem ästhetischer Theoriebildung zu wechseln. Es bedurfte also in jedem Fall eines Zwischenschrittes, einer Intervention, die die Medien neu in den Blick nahm und für die Ästhetik zurechtrückte. Dabei reicht es nicht aus, dass die Medien perspektiviert werden, vielmehr muss auch die Ästhetik selbst einen Transformationsprozess oder aber einen Wechsel des Bezugssystems durchlaufen, um die traditionelle Negativität ihres Verhältnisses zu bannen. Man benötigt also ein Drittes, das hinreichend stark ist, seinen Einfluss auf alle Beteiligten geltend zu machen. Genau hier interveniert der Materialismus.2 Er verhilft der Ästhetik zum Blick auf die Medialität. Ob daraus nun so etwas wie eine eigenständige Medientheorie geworden ist oder nicht, ist dabei zunächst einmal zweitrangig. Es gab ja genauso wenig eine halbwegs anerkannte materialistische Ästhetik, obwohl bei den Bemühungen dazu erheblich entschiedener vorgegangen worden ist. Im Gegensatz dazu hatte jedoch eine spezifische Melange aus Ästhetik, Materialismus und Medientheorie wenigstens eine Zeit lang durchaus etwas zu sagen. Allein schon, dass die Medien noch weit vor einem funktionierenden und gemeinhin akzeptierten Medienbegriff überhaupt zur Theorie fanden, verdankt sich eben diesem materialistischen Kurzschluss zwischen Ästhetik und Medientheorie. Der Materialismus ist daher nicht die Medientheorie selbst, durchaus aber ihr Katalysator. Die Verschränkung von Ästhetik und Medialität konnte also in jedem Fall nur über den Umweg einer mate-

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Rainer Leschke ➔ 2 Von der Erdung der Ästhetik in der Medientheorie

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rialistischen Ästhetik gelingen und das allein reicht aus, der Angelegenheit einmal nachzugehen, selbst wenn Baudrillard ein Requiem nach dem anderen veranstaltet. Dabei verläuft der Weg von der idealistischen zu einer materialistischen Ästhetik keineswegs eindeutig, sondern – und da passt die Angelegenheit wieder ganz ausgezeichnet zum theoretischen Bezugssystem – dialektisch und d.h., es gibt mindestens zwei Typen des Umgangs mit materialistischen Modellen: Zunächst einmal lässt sich eine konservative3 oder minimal invasive Variante feststellen, die die materialistischen Maximen in den Akt der Interpretation einschreibt. Als einen solchen Versuch lässt sich die Tradition ästhetischer Theoriebildung, wie sie etwa von Lukács gepflegt wird, kennzeichnen. Das materialistische Modell tobt sich am Inhalt, am historischen Referenten oder an den Produktionsbedingungen aus, man schätzt Klassenlagen4 und entsprechende Verhältnisse ein und bestimmt den historischen Wert von Standpunkten, man sagt jedoch wenig zur ästhetischen und gar nichts zur medialen5 Form, sofern sie nichts zu solchen eher handfesten Fragen beizutragen hat. Dem steht eine konstruktive oder strukturelle Variante gegenüber, die historisch-materialistische Theoreme nicht bloß als ein Kohärenzstimulans, sondern als eine strukturelle theoretische Annahme über den Zusammenhang von kulturellen und materiellen Produktionsformen nutzt. Diese Variante, die über produktionstechnische Zusammenhänge vermittelt ist, entwickelt zwangsläufig so etwas wie eine mediale Sensibilität. Und in diesem Sinne lassen sich die Oppositionen der Brecht-Lukács-Debatte auch als Konflikt materialistischer Medienbewusstheit und Medienvergessenheit lesen. Reportage6 ist eben nicht nur eine Frage des Stils, sondern zumindest ebenso eine der Medialität. Die Medienvergessenheit lässt sich gerade auch am frühen, noch ungebremst idealistischen Lukács ablesen: Das Medium ist für ihn »– mit einem Wort – ›phantastisch‹« (Lukács 1977a: 76) und keineswegs materialistisch oder wenigstens technisch. »Die von nichts beschränkte Möglichkeit« (Lukács 1977a: 77) zum Prinzip des Mediums Film zu erheben, lässt deutlich werden, wie denkbar ungeeignet ein solcher phänomenologischer Reflex dafür ist, Medien und insbesondere Medientechniken zu beschreiben. Die Materialität beschränkt sich so vor allem auf den Inhalt und Lukács fällt in seiner Medienvergessenheit hier ausgerechnet auf das zurück, was er später einmal kleinbürgerlichen Materialisten vom Schlage eines Ernst Ottwalt (vgl. Gallas 1972: 126ff.) vorwerfen sollte: Der Materialismus beschränkt sich auf das Material und gegebenenfalls noch den Klassenstandpunkt7 des Produzenten. Allenfalls unter Vorbehalt findet auch die Form der Darstellung noch Berücksichtigung, doch bereits hier beginnen die Schwierigkeiten. Denn die Form,

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die Lukács kennt, schließt die Medialität explizit aus, ja Medialität wird in bemerkenswert idealistischem Gestus zum Malus der Form und in der Folge auch ihrer Theorie: Folgerecht findet so die platte Widerspiegelung ihr Pendant nur jenseits der Kunst und d.h. in den Medien oder genauer in der Fotografie.8 Die Schwierigkeiten, die auf der anderen Seite auch die idealistische Ästhetik mit der Materialität der ästhetischen Form hat, lassen sich noch an Heidegger ablesen. Heidegger hegt kaum minder starke Aversionen gegen die Widerspiegelung wie Lukács und Heideggers Schwere der Erde, die er den Bauernschuhen van Goghs9 abschaut, registriert Materialität auf einer ähnlich primären Ebene wie Lukács, nämlich als die Materialität des dargestellten Objekts. Heidegger begibt sich von dort auf den Weg, »das wirkliche Werk auf[zusuchen]«10, und ist sich auch über den Dingcharakter und damit in gewisser Weise die Materialität des Werks durchaus im Klaren. Soweit ändert sich also an der Auffassung ästhetischer Materialität zunächst einmal nichts. Und selbst wenn Heidegger dahin gelangt, dass »im Werk der Kunst […] sich die Wahrheit des Seienden ins Werk gesetzt« (Heidegger 1977: 33) hat, so kann das Lukács noch erstaunlich weit mitmachen, gibt es doch Streit allenfalls in Hinsicht auf das, was denn das Seiende zu sein habe. Ansonsten jedoch bewegt sich der Gang der Dinge in recht vertrauter Nähe (vgl. Goldmann 1975: 94). Nietzsches Satz, wonach »nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt gerechtfertigt« (Nietzsche 1976: 35, vgl. 187) sei, weiß, so könnte man mit Heidegger vermuten, eben nur wenig vom Dasein und mit Foucault nicht allzu viel davon, dass Macht sich noch stets als probates Mittel erwiesen hat, der Faktizität Geltung zu verschaffen. Die Ästhetik kümmerte sich stattdessen vorerst um die Legitimation von etwas an sich Ungewissem. Die präventive Verteidigung eines eigentlich Unbedrohten deutet auf eine begründete Sorge dem Objekt gegenüber hin. Nur so nämlich kommen solche defensiven Allianzen wie die von Ästhetik und Moral überhaupt zustande. Die Moral wird dabei gegen die Medialität11 und Materialität des Ästhetischen ausgespielt. Die Medialität des Ästhetischen ist wenn nicht Bedingung, so doch Begleiterscheinung des Verfalls der Kunst. »Während der Kritiker in Theater und Konzert, der Journalist in der Schule, die Presse in der Gesellschaft zur Herrschaft gekommen war, entartete die Kunst zu einem Unterhaltungsobjekt der niedrigsten Art, und die ästhetische Kritik wurde als das Bindemittel einer eitlen, zerstreuten, selbstsüchtigen und überdies ärmlich-unoriginalen Geselligkeit benutzt, deren Sinn jene Schopenhauersche Parabel von den Stachelschweinen zu verstehen gibt; so daß zu keiner Zeit so viel über Kunst geschwatzt und so wenig von der Kunst gehalten worden ist.« (Nietzsche 1976: 178)

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Medialität und Popularisierung nehmen dem Ästhetischen jenen normativen Reiz, der der Einzigartigkeit inhäriert. Die Standards verlieren sich in der Standardisierung. Einzig am Erhabenen als einem Rauschhaften zeigt sich Nietzsche interessiert. Dessen Flüchtigkeit und Ereignishaftigkeit vertilgt und verliert Materialität, statt sie zur Erkenntnis zu nutzen. Die Normativität des Ästhetischen verzehrt die Medialität und Materialität von Werken gleich welchen Standards und gerade auch Heideggers raunendes Wissen ums Dasein hilft da nicht unbedingt weiter. Dass das Ganze von seiner Grenze her gedacht werden müsste, erfährt man, wenn Heideggers inzestuöser Sprachproduktion und seinen getunten Redundanzen Benjamins nüchterne Kategorie der Reproduzierbarkeit entgegengehalten wird. Reproduzierbarkeit ist eine veritable und vor allem die einzig verlässliche Grenze der Einzigartigkeit und ihrer Aura. Dem Mythos kommt Benjamin getreu Marx’ offen gebliebener Frage, was Hektor und der Blitzableiter und die Fama mit Printinghouse Square noch zu tun hätten, zunächst einmal mit Ökonomie. Dass der Feind des Einzelnen die Produktion des Massenhaften12 sei, weiß jede idealistische Ästhetik und selbst die Lukács’sche Kritik an der einfachen Widerspiegelung hat sich dieses Wissen bewahrt. Keineswegs weniger peinlich genau meidet auch Heidegger die Widerspiegelung im Reich des Ästhetischen: »Also handelt es sich im Werk nicht um die Wiedergabe des jeweils vorhandenen einzelnen Seienden, wohl dagegen um die Wiedergabe des allgemeinen Wesens der Dinge« (Heidegger 1977: 31). Und auch die Wahrheit des Werks, an sich schon eine gewaltige Abstraktion, wird noch einmal zusätzlich aufgeladen, es dreht sich um nicht weniger als Wahrheit an sich: »Im Werk ist die Wahrheit am Werk, also nicht nur ein Wahres« (ebd.: 60). Die Annahme einer geglückten Vermittlung von Abstraktem und Konkretem im Werk ist jene Barrikade, die medial unüberwindlich sein soll. Und genau diese Barrikade reißt Benjamin mit beinahe technischer Nüchternheit und materialistischem Sinn ein. Denn auch der Gegenbegriff zu einer von der Ästhetik verehrten Einzigartigkeit wäre solange nichts wert, solange nicht seine ökonomische Aufladung auch auf der Ebene des Wertes für den nötigen Kontrast sorgte. Wenn der Angriff auf den ästhetischen Kategorienapparat also nicht ausschließlich negativ erfolgen soll, dann benötigt er eben auch eine gehörige normative Unterstützung. Erst die normative Aufladung generiert jenen von Benjamin bekundeten »Kampfwert«13 (Benjamin 1979: 9) der neuen ästhetischen Kategorien. Die bloße Negation des idealistischen Kategorienapparates allein wäre zahnlos geblieben. Umgekehrt lässt sich die Brisanz der Reproduzierbarkeit erst entdecken, wenn die ökonomische Valenz der Kategorie bekannt ist. Und dafür hat Marx nachhaltig gesorgt, indem er nicht nur ökonomische Kategorien mit Erklärungswert versorgt, sondern indem er sie mit einem, wie Benjamin das sieht, »prognostischen Wert« ausgestattet hat, der

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immerhin dem Kapitalismus nichts weniger als »die Abschaffung seiner selbst« (Benjamin 1979: 9) verheißt. Die normative Aufladung funktioniert über die Verheißung eines neuen sozialen Systems und damit eines denkbar umfassenden Wertes. Ohnehin wäre ohne den Tauschwert die Reproduzierbarkeit nichts weiter als eine unglückselige Fälschung und minderwertige Kopie geblieben. Sie hätte sich jedoch nicht zu jenem begrifflichen Hebel entwickelt, mit dem der Kategorienapparat einer idealistischen Ästhetik erfolgreich demoliert werden könnte. Die Negation bedarf, um ernsthaft werden und der Ästhetik überhaupt etwas anhaben zu können, eines Gewichts, das sie nicht selbst produzieren kann. Und dieses Gegengewicht kann auch nicht – und da ist Lukács gegen Ottwalt durchaus Recht zu geben – aus der Moral bezogen werden. Im Übrigen ist die Moral ja ohnehin schon längst von der ästhetischen Tradition requiriert worden. Insofern wäre es vergleichsweise aussichtslos, neuerlich eine Moral etwa im Zuge einer neuerlichen Umwertung der Werte heranzuziehen, da die moralische Forderung ungedeckt und damit allein bliebe. Es hätte sich nichts weiter als eine normative Konkurrenzsituation mit offenem Ausgang ergeben. Auch die Moral bedarf zumindest einer Grundierung und die wird stets ausgelagert. Wenn also die Moral nicht hilft, bleibt nur, gänzlich das Terrain zu wechseln, und d.h. dem allgegenwärtigen ästhetischen Idealismus mit einem gehörigen Materialismus und dem von ihm gedeckten Werten zu begegnen. Heideggers ins Mystische driftender Wahrheit: »Schönheit ist eine Weise, wie Wahrheit als Unverborgenheit west« (Heidegger 1977: 61) und: »Die Kunst ist das Ins-Werk-Setzen der Wahrheit« (ebd.: 89) wird also von Benjamin mit der ökonomischen Prognostik Marx’ begegnet. Man hat es insofern bei der Geburt der Medienwissenschaft aus der Ästhetik mit einem Geflecht und einer Überlagerung mehrerer, sich jeweils stark unterscheidender strategischer Differenzen zu tun: Idealismus und Materialismus, Ästhetik und Ökonomie, Moral und Prognose, Einzigartigkeit und Standardisierung sowie Medialität und Kunst bilden dieses Geflecht, in dem Benjamin eigentlich nur einige Maschen zusammengezogen hat. Marx selbst ist bekanntermaßen mit dem Ästhetischen nicht besonders gut klar gekommen, kannte er sich doch auf ästhetischem Terrain nicht hinreichend aus, dass es für mehr als für interessante Fragen reichte. Allerdings ehrt es ihn als Systemarchitekten durchaus, dass er das Ästhetische nicht kategorisch seinen sozio-historischen Prämissen unterwarf, sondern sich selbst auch noch prinzipielle Zweifel gestattete: so etwa den des von ihm vermerkten komplizierten Verhältnisses der Kunst zur Zeit. Dadurch, dass die Angelegenheit nicht entschieden, sondern schlicht offen gelassen worden ist, entstand jener konstruktive Spielraum, den Benjamin nutzte. Dass Marx von Medien noch weniger verstand, lag zweifellos an seiner Zeit, die historisch noch kein

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Rainer Leschke ➔ 2 Von der Erdung der Ästhetik in der Medientheorie

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ernsthaftes gesellschaftliches Wissen über Medien und Medialität zuließ. Insofern ist das Feld der Medienreflexion von Marx ebenfalls für konstruktive Eingriffe offen gelassen worden. Einzig die ökonomische Strukturanalyse kann daher als eine einigermaßen verbindliche Vorgabe gewertet werden und in dieser Umgebung erst entfaltet die Reproduzierbarkeit ihre Bedeutsamkeit. Von daher konnte Benjamin auf die Kategorie der Reproduzierbarkeit, die Medialität, Ökonomie und Ästhetik kurzschloss, erst stoßen, nachdem sie von Marx als Tauschwert ökonomisch erschlossen worden war, und er fügt dadurch den Marx’schen Differenzen die nötigen weiteren hinzu, die dann in der Lage waren, Medientheorie, Ästhetik und Ökonomie miteinander zu verschalten. Was Benjamin versuchte, war ein Strukturtransfer, also die Applikation einer Analyse von Produktionsverhältnissen nicht dem historischen Ergebnis und Effekt, sondern der Form nach. Die Applikation dem Effekt nach leistete Lukács und er ist damit wenigstens in der Medienanalyse nicht sonderlich weit gekommen. Die Ergebnisse in seiner Ästhetik, die durchaus über ontologische Einschläge verfügt, sind umstritten und mittlerweile weitgehend aus der Diskussion verschwunden, so dass sich ein Transfer auf die Medien aus dieser Position auch nie ernstlich angeboten hat. Lukács und in der Folge noch einige andere rechneten die Konsequenzen des Marx’schen Ansatzes auf ästhetischem Feld ähnlich weiter, wie das Teile der Medientheorie der 70er Jahre auf dem Feld der Medien versucht haben. Sie haben allesamt das Marx’sche Modell nicht als Theorie aufgefasst, sondern als ein einfaches Werkzeug, als ein Instrument begriffen, das selbst nicht zum Gegenstand der Diskussion wird. Und in diesem Kontext ist der Baudrillard’sche Sarkasmus, mit dem er die neue Linke in der Medientheorie bedenkt, durchaus angebracht: Man hat es mit einer Serie theoretischer Analogieschlüsse zu tun, bei denen niemals die Bedingungen ihrer Möglichkeit14 ernsthaft untersucht worden sind. Der solcherart verlängerte Marx wird einfach fad. Der Unterschied zwischen dem Weiterrechnen mit einer Art von Marx’schem Taschenkalkulator und der philosophischen oder theoretischer Arbeit mit einem Paradigma, also dem Versuch, den Benjamin unternahm, besteht eben darin, dass Strukturverhältnisse weitergedacht und nicht Analogien auf Biegen und Brechen verfolgt werden. Dabei ist das Weiterdenken im Gegensatz zum Weiterrechnen durchaus ernst zu nehmen, denn Benjamin unterwirft die theoretische Ausgangslage zweifellos der einen oder anderen Revision und noch einige weitere wären durchaus notwendig gewesen. Übertragen werden also weder Ergebnisse, noch Instrumente – also auf der Ebene der Theorie: Tendenzaussagen, Bestimmungen von Klassenverhältnissen etc. –, sondern der Ausgangspunkt besteht darin, das, was Marx als theoretischen Versuch auf dem Feld der po-

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litischen Ökonomie unternommen hat, auf dem Feld der Ästhetik auszuprobieren. Es handelt sich daher zunächst einmal um eine Methode, mit der Benjamin experimentiert. Der ökonomischen Rationalität, die zumindest eine andere als die des ästhetischen Mythos ist, werden alle Kategorien der idealistischen Ästhetik notwendig fremd: Weder die Einzigartigkeit noch die Singularität des Werks können von Seiten der ökonomischen Vernunft bedient werden, weder ein »Ursprung«, noch eine »Wahrheit« oder aber ein »Wesen« kommen mehr vor und »Stiftung« und »Schenkung« (Heidegger 1977: 89) wären nicht mehr Effekte einer als Dichtung begriffenen Kunst, sondern Elemente einer Art negativen Ökonomie, wie sie abstruser Weise von Baudrillard mit seiner Logik der Gabe wieder belebt worden ist. Zugleich verrät die Begrifflichkeit der idealistischen Ästhetik nicht nur ihre Unzuträglichkeit für die Logik politischer Ökonomie, sie macht zugleich implizit auf ihren Ort in der historischen Ökonomie aufmerksam. Die Produktionsform, der der Kategorienapparat der Ästhetik anhängt, ist bekanntlich der einer vorindustriellen Produktionsweise. Die Ästhetik widersetzt sich von daher nicht notwendig einer ökonomischen Logik, nur ist es die einer mittlerweile bestenfalls als anachronistisch zu qualifizierenden Produktions- und Gesellschaftsform, die gerade mittels der ökonomischen Ungleichzeitigkeit die Produktionssphäre insgesamt harmlos und damit idyllisch erscheinen lässt. Der Kategorienapparat der handwerklichen Produktion und die feudale Attitüde oder Politik, wie sie nicht umsonst überall durch die Fugen der Heidegger’schen Neologismen scheinen, sind angesichts eines industriell organisierten Medien- und Kunstsystem hilflos und tendieren daher zwangsläufig zur Mythenbildung oder aber zum Ritual. Nirgends außer in der Kunst sucht man die Probleme von Massenproduktion und Feinmechanik bzw. Mikrochips mit der Logik des Hammers zu kurieren. Kuren diesen Typs können sich ihrem Objekt auch nicht technisch, sondern nur als Beschwörung nähern, was die Vielzahl der Redundanzen und logischen Selbstinklusionen, wie sie Heideggers Text durchziehen, erklärt: sind diese doch einzig in diesem Diskurstyp noch zugelassen. Benjamin ist daher keineswegs seiner Zeit voraus; er holt nur die hoffnungslose Rückschrittlichkeit der idealistischen Ästhetik ein wenig auf und bringt sie vielleicht auf ihren historischen Stand. »Die Umwälzung des Überbaus, die viel langsamer als die des Unterbaus vor sich geht, hat mehr als ein halbes Jahrhundert gebraucht, um auf allen Kulturgebieten die Veränderungen der Produktionsbedingungen zur Geltung zu bringen« (Benjamin 1979: 9). Großzügigerweise legt Benjamin nahe, dass die Verspätung der Ästhetik auf ihren Gegenstand zurückzuführen sei, was seltsam mit dem von Heidegger der Kunst zugeschriebenen Ursprungsmythos kontrastiert. »Immer wenn Kunst geschieht, d.h. wenn ein Anfang ist, kommt in die Geschichte ein Stoß, fängt Geschichte erst oder wieder an« (Heidegger 1977: 88). Statt also derart

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historische Initiative zu beweisen, muss die Kunst sich bei Benjamin vielmehr beeilen, hinterherzukommen. Das zeitliche Gleichziehen der ästhetischen Theorie gelingt Benjamin nur mittels einer Medialisierung der Ästhetik: Unter industriellen Produktionsbedingungen ist Ästhetik nun einmal wesentlich Medientheorie. Allerdings hat auch das seine Grenzen. Denn selbst wenn man davon ausgeht, dass mit Benjamin die Ästhetik quasi historisch gleichgezogen habe, so ist es von dort bis zur Rubrizierung des Medialen unter die Produktivkräfte bei Enzensberger noch einigermaßen weit. Zudem ergibt sich die keineswegs unberechtigte Frage, ob die Ebene der Produktivkräfte überhaupt der angemessene Ort des Ästhetischen wie des Medialen sei und sein könne. Enzensbergers trug diesbezüglich einigen Optimismus zur Schau: »Mit der Entwicklung der elektronischen Medien ist die Bewußtseinsindustrie zum Schrittmacher der sozio-ökonomischen Entwicklung spätindustrieller Gesellschaften geworden. Sie infiltriert alle anderen Sektoren, übernimmt immer mehr Steuerungsund Kontrollfunktionen und bestimmt den Standard der herrschenden Technologie.« (Enzensberger 1970: 159)

Allerdings dürften solche Hoffnungen auf eine technologische Dynamik spätestens mit dem markanten Ende der New Economy ihren Anlass verloren haben. Irritieren sollten darüber hinaus die mehr oder minder gleichlautenden Konsequenzen, für die die Postmoderne gesorgt hat: Das Mediale als Quell historischer Dynamik wird gerade auch in den diversen Medienontologien15 forciert. Die einzige Differenz, die sich in historischer Hinsicht zunächst einmal ergibt, ist die von der Isolation der Medientechnik in der Ontologie auf der einen und ihrer Integration in einen Prozess ökonomischer Reproduktion auf der anderen Seite, was zweifellos nicht zu vernachlässigen ist. Dennoch kommt es zu einer durchaus bemerkenswerten geschichtsphilosophischen Nähe: Medien machen in jedem Fall Geschichte, ob als Erweiterungen des Körpers oder aber als Produktivkräfte. Die Dialektik von Determination und Determiniertheit, von Subjekt und Objekt spielt in der materialistischen Medientheorie zumindest insofern eine Rolle, als die Medien prinzipiell beide Positionen einnehmen können: Determiniert zeigen sie sich in all jenen Applikationen Marx’scher Theoreme auf die Medien, die die Medien zur Kultur und damit zu einem wie auch immer ausgestalteten Überbau schlagen. Souverän werden sie einzig bei Enzensberger.16 Beides erscheint unbefriedigend, weil es die Funktionen von Medien jeweils nur unvollständig erklärt. Enzensberger vermag kaum zu erläutern, warum die Medien sich historisch derart vornehm zurückhalten, warum sie, wiewohl sie Produktivkraft sein sollen, so bemerkenswert konservativ agieren. Und die Annahme einer Determiniertheit des Medialen steht dem

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ästhetischen Wandel vergleichsweise ratlos gegenüber. Die Subjekt-ObjektDialektik des Medialen schreibt sich zudem einer dualen Struktur ein: je nachdem, ob Medien als kulturelles Phänomen oder aber vermittels ihrer technischen Grundierung als Element der Produktion gefasst werden, ergeben sich prinzipiell vier Positionen, von denen jedoch eine, nämlich die von Medien als kulturelles Phänomen mit Subjektcharakter, aufgrund ihrer strukturellen Unvereinbarkeit mit materialistischen Grundannahmen entfällt, so dass sich faktisch ein Tableau von drei mehr oder minder materialistischen Positionen ergibt: Die Determiniertheit eines Medialen, das wesentlich über seine Inhalte und vielleicht noch über seine Ästhetik bestimmt wird und das als abhängig von der ökonomischen Reproduktion veranschlagt wird, die Determinationskraft eines Medialen, das vornehmlich als dynamische Technik bestimmt wird und damit die ökonomische Reproduktion forciert, und die Benjamin’sche Lösung, nämlich die Bestimmung des Medialen als technisch strukturierte Kultur, die letztlich von der ökonomischen Reproduktion abhängig bleibt, die sich jedoch zugleich gegen vorschnelle Eindeutigkeiten und Übergriffe simpler Kategorien sperrt, indem sie Eigengesetzlichkeiten entwickelt. Die Differenz der drei materialistischen Positionen gegenüber der Medialität besteht jedoch nicht nur auf der Ebene einer Einordnung des Medienbegriffs in eine materialistische Determinationslogik, die Differenz ist noch trennschärfer, kennt sie doch darüber hinaus auch noch unterschiedliche Determinationsverhältnisse. Wenn das Medium sein Inhalt sein soll und daher faktisch mit seinem Repertoire gleichgesetzt wird, dann kann eine mögliche Determination auch eben nur dort ansetzen. Wenn Medien Technik sind und mittels dieser determinierende Kraft erlangen, dann prägt ihre technologische Struktur sowohl den ökonomischen Fortgang als auch die sozialen Strukturen. Es gibt daher neben den zwei Determinationsrichtungen und unterschiedlichen Determinationsintensitäten17 auch noch unterschiedliche Determinationsformen: nämlich inhaltliche und strukturelle bzw. konkrete oder abstrakte. Es geht also um die Übertragung von Merkmalen oder Strukturen: Die Widerspiegelungslogik, wie platt oder elaboriert sie auch immer ausfallen mag, korrespondiert der ersten. Sie ist prinzipiell als Analogie18 konstruiert, was zugleich auf die Beschränktheit des Verfahrens hinweist. Letzterer entspricht wiederum eine sozio-kulturelle Determination durch formale mediale Strukturen. Benjamin übernimmt, wie in allen diesen Verstrickungen, wiederum eine mittlere Position: Die Determination geht zwar nicht von den Medien aus, wird aber strukturell19 gedacht und hat daher nur noch wenig mit einer Widerspiegelungsmechanik zu tun. Die Subjekt-Objekt-Dialektik affiziert also in jedem Fall die materialistische Rekonstruktion des Medialen und führt zu sich rigide unterscheidenden Medienbegriffen mit vollkommen verschiedenen Anschlussmöglichkeiten.

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Dabei ist bislang nur ein Aspekt möglicher Begriffsbildung im Feld des Medialen überhaupt thematisiert worden, nämlich das Verhältnis von Technizität und kulturellem Inhalt. Jedoch geht bereits das Feld der Theoreme, die von Benjamin in einen Konnex gebracht wurden, über die durch diese Opposition vorgegebene Sphäre hinaus, indem sie neben Content und Technik noch auf den Faktor der ökonomischen Reproduktion verweisen. Eine zusätzliche Varianz kann in den Medienbegriff durch die Betonung eben dieser ökonomischen Reproduktion eingeführt werden, also dadurch, dass hinter die verschiedenen Modellierungen der technischen oder kulturellen Dimension des Medialen und ihrer sozio-ökonomischen Valenz zurückgegangen wird, indem schlicht der Warencharakter der Medienproduktion reflektiert wird. Vor dieser aus materialistischer Perspektive eigentlich nahe liegenden Modellierung des Medialen vermochte allenfalls der nicht vollkommen auszuräumende Kunstverdacht des Materials eine Weile zu schützen, indem er den Bereich des Medialen in etwas der Kunst Zuzuschlagendes und einen kommerziellen Sektor aufspaltete und damit die einheitliche Veranschlagung des Warencharakters eine Zeit lang hinausschob. »Aber die Diskrepanz zwischen Kunst und Film, die trotz der Entwicklungsmöglichkeiten der Kinematographie fortbesteht, resultiert nicht so sehr aus dem Oberflächenphänomen der Anzahl von Leuten, die in Hollywood beschäftigt sind, als vielmehr aus den ökonomischen Verhältnissen. Die wirtschaftliche Notwendigkeit einer raschen Realisierung des beträchtlichen Kapitals, das in jeden Film investiert wird, verbietet es, die jedem Kunstwerk inhärente Logik, seine autonome Notwendigkeit zu verfolgen.« (Horkheimer 1973: 43)

Horkheimers kategorische Exkommunikation der Medien aus dem Reich der Kunst öffnete die Medienproduktion zunächst einmal einer rein ökonomischen Analyse. Und solche Analysen sind in den 70er Jahren ja auch mit einiger Verve und erheblichem Pathos betrieben worden20, wobei der allgegenwärtige Gestus des Entlarvungsrituals21 das zugrunde gelegte theoretische Modell latent zu konterkarieren drohte, da der Verdacht, bezog er sich mit der Ware doch auf etwas unter kapitalistischen Bedingungen zwangsläufig allenthalben Anzutreffendes, immer zuverlässig bestätigt werden konnte. Während also Benjamin die idealistische Ästhetik durch eine materialistisch inspirierte Revision quasi in Medientheorie überführt, halten Horkheimer und Adorno an der Leitvorstellung autonomer Kunst fest und kontrastieren sie mit dem Warencharakter des Medialen, den Benjamin eher zu vergessen geneigt ist, da ansonsten das Modell des zerstreuten Examinators einen empfindlichen Kratzer erhielte. Das emanzipatorische Potenzial, das Horkheimer und Adorno wenn überhaupt dann in der Kunst, sofern sie sich wenigstens autonome Reste erhalten hat, wiederfinden, siedelt Benjamin in

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einer Mediennutzung an, die auf der technischen und formalästhetischen Struktur des Medialen aufsattelt. Die Warenlogik interveniert offensichtlich in beiden Fällen und in jedem Fall negativ: Bei Horkheimer und Adorno, die die Kunst sorgsam22 gegen den Warencharakter abschotten müssen, um noch kritisches Potenzial finden zu können, und bei Benjamin dadurch, dass er ihn mit Ausnahme gelegentlicher melancholischer Anflüge23 weitgehend verdrängt, um das Modell emanzipatorischer Mediennutzung aufrechterhalten zu können, wiewohl die Kinoindustrie, von der er redet, gleichzeitig nichts anderes getan hat, als den Warencharakter nebst seinem ideologischen Zubehör zu zelebrieren. Dem Warencharakter inhäriert insofern ein denunziatorisches Potenzial, eignet es sich doch offensichtlich selbst noch in Kontexten, die sich materialistischen Leitvorstellungen verdanken, zur strukturellen Diskreditierung. Eine Positivierung des Warencharakters erscheint demgegenüber schlicht und einfach undenkbar. Die Warenlogik, die bei Marx noch als Struktur funktioniert und daher normativ weitgehend indifferent bleibt, wird bei ihrem Transfer in die Kultur offenbar zwangsläufig negativ. Die Negativität des Warencharakters ästhetischer Produkte verdankt sich dabei den Prämissen der Autonomieästhetik, die die Alterität und den Wert des Ästhetischen einzig über seinen Kontrast zur Ökonomie konstruieren konnten, ohne Schwierigkeiten dabei zu sehen, dass sie sich gleichzeitig der Topik einer anachronistischen Ökonomie bedienten. Zumindest für die Konstruktion von Utopien, egal ob sie auf der Mediennutzung24 oder aber auf der Ästhetik aufsatteln sollen, gilt, dass sie sich von der Ökonomie fernzuhalten haben. Materialistische Analyse, soweit sie – wie zögerlich auch immer – Leitvorstellungen entwirft, setzt daher ihren ökonomischen Grund automatisch negativ. Insofern erzwingt die Belastung des Objekts mit emanzipatorischen Qualitäten25 den Kontrast zur Ökonomie26 und das bringt die beobachteten Ambivalenzen in die Medientheorie und die Ästhetik. Wenn aber materialistische Analyse genötigt ist, moralisch zu werden, deutet das in der Regel auf theoretische Probleme des Modells hin. Die normativen Einschüsse in materialistischen Argumentationen sind in der Tat auffällig. Dass über eine politisch korrekte Klassenlage gestritten werden kann und dass derartige Verortungen ausschließlich mittels sachferner Normen ihr Material unterwerfen, ist von vorneherein klar. Dass die Aussparung der Kunst aus dem ökonomischen Getriebe nicht minder normativ ist, ist ebenso verständlich. Dass jedoch der Warencharakter nur negativ funktioniert, demonstriert, dass die materialistische Medienanalyse einem nahezu klassischen Double-Bind-Muster unterliegt: Die ökonomische Valenz wird angenommen, um das abweichende normativ-ästhetische Urteil begründen zu können, und sie wird ebenso schnell wieder dispensiert, weil sie im Fall der Kunst stets an das genaue Gegenteil des glücklich gefällten Urteils erinnert.

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Einzig als Negatives und das heißt im Fall der Medien – sofern sie als Negation des Ästhetischen gedacht werden – in jedem Fall finden beide zusammen und die moralische Entrüstung läuft zur vollen Form auf. Die Trias von Ästhetik, Ökonomie und Medientheorie, die Benjamin mit seiner Reproduktionslogik auf den Weg bringt, ist so alles andere als stabil, sie operiert vor allem mit Ausblendungen und normativen Kalkulationen, die selbst da noch Hoffnungen wecken möchten, wo sie sich längst industriell und politisch haben begraben lassen müssen. Dennoch lässt sich nun zumindest der Typ von Ökonomisierung der Ästhetik bestimmen, der zur Medientheorie führt. Weder die Anwendung der Warenlogik auf den schönen oder unschönen Schein, noch eine verzweifelt penible Bestimmung von Klassenlagen bewegten die Ästhetik dazu, sich mit der Medialität ihrer Objekte auseinanderzusetzen. Im ersten Fall ließen sich die Grundzüge der Medienökonomie und das spezifische Marktverhalten der Kunst bestimmen, und dass noch so etwas wie eine Warenästhetik (vgl. Haug 1973) dabei heraussprang, war vielleicht noch die instruktivste Einsicht, die auf einem Feld zu gewinnen war, das sich allenfalls durch besondere Einschränkungen ökonomisch hervortat, ökonomischen Strukturen selbst jedoch nichts zu sagen hatte, sondern sie vielmehr durchexerzierte. Es ging um die zweifellos fällige Abarbeitung eines Programms, nicht jedoch um programmatische Einsichten. Die negative normative Aufladung der Ware ist das natürliche Ergebnis dieser relativ ereignislosen Applikation der Ökonomie auf das Ästhetische oder Mediale. Diese charakteristische Mischung von Enttäuschung und Bestätigung provoziert jenen negativen Fetischcharakter der ästhetischen Ware, der es gestattet, alte Aversionen fortzuschreiben, und ansonsten den Mythos des Ästhetischen mit dem Horror der Ökonomie befestigt. Die relative Fruchtlosigkeit der Bemühungen um den Warencharakter des Ästhetischen lässt sich an dem festmachen, was auch Benjamin zum Kriterium des Erfolgs der materialistischen Intervention in der Medientheorie erhebt: »An diese Angaben sind gewisse prognostische Anforderungen zu stellen.« Gefragt seien, so Benjamin den Prognosehorizont noch präzisierend, »Thesen über die Entwicklungstendenzen der Kunst unter den gegenwärtigen Produktionsbedingungen« (Benjamin 1979: 9). Da sich diese nicht wesentlich geändert haben, befindet man sich mittlerweile in der komfortablen Lage, eben diese prognostischen Fähigkeiten rückblickend beurteilen zu können. Die Negativität des Warencharakters und der abstrakten ökonomischen Totalität tendiert, da auf revolutionäre Erlösung zwischenzeitlich kaum ernstlich gehofft werden durfte, unwillkürlich zur Apokalypse, die nicht eintrat oder wenigstens nicht bemerkt wurde. Weder »Agonie«27 noch produktive »Hauptwidersprüche« sind eingetreten, auch hat sich keine intelligente »massenkulturelle Gegenstrategie«28 entwickelt oder ließ sich eine »kritische Transzendenz«29 nachweisen. Die Sache hielt sich vielmehr penetrant, die Medien produzierten unbeein-

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druckt weiter und das Kunstsystem dümpelte vor sich hin und ließ sich allenfalls gelegentlich von den Flausen einer ehrgeizigen Marketingstrategie überraschen. Die Prognosequalität der materialistischen Ästhetik hat sich beängstigend dem gängigen Niveau wirtschaftswissenschaftlicher Vorhersagen angenähert. Zudem sind die aus der Theorie abzuleitenden Rückschlüsse auf die Entwicklung medialer Formen, Repertoires und Karrieren vergleichsweise unbestimmt geblieben. Und einzig auf diesem Feld hätte sich eine bürgerliche Wissenschaft noch beeindrucken lassen. Einzig historische und soziologische Faktoren der Medienproduktion sind akribisch aufgearbeitet und als halbwegs anerkannte zum wissenschaftlichen Bestand geschlagen worden. Die anderen Resultate sind relativ ernüchternd und dem kommt man auch nicht mit einer Kritik der Orthodoxie (vgl. Marcuse 1977: 12f.) bei, der auch nur die Rückkehr zur Autonomie einfällt. Die krampfhafte Insistenz auf der Autonomie der Kunst schreibt nicht nur die anachronistische Logik der idealistischen Ästhetik fort, sie wirkt angesichts der Faktizität des Medialen als jener Modus der Verklärung, der es dem Faktischen gestattet weiterzumachen. Von daher hat sich die materialistische Ästhetik unwillentlich am Scheitern ihrer Spekulationen handfest beteiligt. Die Autonomieästhetik hat gerade auch in ihrer materialistischen Variante die Ideologieproduktion niemals ernstlich verlassen. Dabei stößt ihr Schisma von Autonomie und Totalität, das sich eben auch mittels der Warenlogik denken lässt, nicht nur an Grenzen, sondern es macht auf jene Logik des Medialen aufmerksam, die der Ästhetik, sofern sie nicht zur Medientheorie überlief, wohl zwangsläufig durch die Lappen ging. Wenn allerdings das Benjamin’sche Maß der Prognosefähigkeit rückhaltlos angelegt wird, dann sehen nicht nur die orthodoxen Auguren und ihre Frankfurter Kritiker alt aus, sondern dann erweisen sich auch Benjamins eigene Aussagen als interessierte Spekulation. Allerdings sind seine Spekulationen vielleicht nicht mit ähnlicher Zwangsläufigkeit und Unausweichlichkeit wie bei den restlichen Versuchen gescheitert. Die historischen Leistungen der materialistischen Ausflüge in die Medientheorie sind sowohl im Fall der Waren- als auch des Widerspiegelungskalküls nicht so sehr paradigmatischer, sondern viel eher registrierender oder archivarischer Natur und hierbei ist durchaus Beachtliches erschlossen worden. Paradigmatisch haben sich diese Bemühungen jedoch eher als Holzweg erwiesen. Die bloße Applikation und die einfache Schelte generieren eben keine paradigmatische Phantasie, sondern sie halten nach und rechnen aus. Mit Ausnahme dieses Katasters von Medienmärkten und der Geschichte medienpolitischer Strategien und Verwicklungen hat sich von diesen Ansätzen wenig mehr als widerstandsfähig erwiesen als jener normative Generalverdacht, mit dem sie die Medien belegt haben. Für diesen Verdacht können sie zwar kein Urheberrecht reklamieren, denn sie haben ihn von der idealistischen Ästhetik geborgt, allerdings haben sie einiges für die analytische Gewissheit des Ar-

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gumentes getan. Dem Verdacht korrespondiert der beständige Rechtfertigungsdruck, unter den die Medienwissenschaft geriet und dessen sie sich eigentlich nur durch ignoranten Trotz entledigen konnte, war doch kein positiver Ort für einen solchen Wissenstyp mehr denkbar, sofern man sich nicht an den Entlarvungsritualen30 zu beteiligen gedachte. Gewirkt haben diese materialistischen Modelle also genauso, wie sie gedacht waren, nämlich moralisch. Einzig dem Strukturtransfer, also jener Lösung Benjamins zwischen Widerspiegelung und Warencharakter, gelang es noch, paradigmatische Phantasien zu mobilisieren. Das, was nicht nur tradiert, sondern benutzt wurde, waren dabei nicht so sehr Benjamins Imagination einer emanzipatorischen Medienwirkung, sondern sein strukturelles Kalkül. Nicht der Stratege im Literatur- oder Medienkampf, sondern der theoretische Stratege war anschlussfähig und solche unter Beweis gestellte Anschlussfähigkeit geht noch erheblich über Benjamins ursprüngliches Anforderungsprofil an materialistische Theorien, nämlich die Prognosefähigkeit, hinaus. Der Warencharakter des Medialen und des Ästhetischen ist dabei zweifelsohne nicht falsch, sondern eher umgekehrt: er ist zu allgemein und unbedingt, als dass er den Hintergrund für spezifisch medienwissenschaftliche Paradigmen abgeben könnte. Die Widerspiegelungsmechanik mag zwischenzeitlich in der Komplexität historischer Bezüge verloren gegangen sein, aber der Warencharakter hat an seiner Valenz nichts eingebüßt. Er hat daher als jenes Korrektiv zu fungieren, das Benjamins mediales Strukturwunder, jenen ›zerstreuten Examinator‹, auf den Boden der Medienmärkte zurückholt. Diese Medienagent und damit irgendwie auch Fleisch gewordene Fortsetzung jener bereits von der idealistischen Ästhetik angedachten Versöhnung von Wissenschaft und Kunst, die bei Benjamin die ganze Last der medialen Erlösung trägt, hat in den Medienmärkten keinen Ort und das wäre an die Theorie zurückzuspiegeln. Benjamin verlöre mit dem Warencharakter als Probierstein seiner Theorie zwar einiges von seinem ebenso bestrickenden wie – bedenkt man die historische Konstellation, unter der sie gedacht worden ist – erschreckenden Optimismus, gewönne jedoch als Strukturmodell die Medientheorie. Medientheorie nähme nämlich in der Folge den Materialismus und die Ökonomie nicht nur als jenes Strukturspiel, als das er tradiert worden ist, sondern als Beschreibung faktischer Verhältnisse und d.h. eben auch von Machtverhältnissen ernst. Ein warenästhetisch zurechtgestutzter Benjamin hätte zwar seine Utopie verloren, erhielte jedoch jene analytische Trennschärfe zurück, die sich einst dem utopischen Bedürfnis fügen musste. Die Tradition hat diese Katharsis des Benjamin’schen Modells ohnehin längst besorgt. Einzig der utopielose Benjamin hat sich als bemerkenswert anschlussfähig erwiesen, wobei die materialistische Basis des Benjamin’schen Arguments von der Medientheorie konsequent verdrängt wurde. Allerdings ändert eine solche an sich bemer-

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kenswerte Tilgung, wie theoretisch unangemessen sie auch sein mag, zunächst einmal die symbolische Qualität des Arguments. Wenn mit Benjamin jedoch weitergedacht werden soll und es nicht, worauf sich die Medienwissenschaft über weite Strecken – im Übrigen in bester materialistischer Tradition – zurückgezogen hat, mit der simplen Applikation sein Bewenden haben soll, dann wäre es zweifellos von Vorteil, auch die Struktur des Arguments zu beherrschen. Anmerkungen 1 Zu Marx und dem Telegraphen, siehe den Beitrag von Jens Schröter zur Telegraphie in diesem Band. 2 Der Begriff wird hier der Kürze halber als Synonym für im weitesten Sinne auf Marx’schen Prämissen basierenden Ansätzen verwandt. Zur Begrifflichkeit vgl. auch Karlheinz Barck (1988: 125-131). 3 Brückner und Ricke gehen, ohne in der Diskussion von Konzepten der materialistischen Ästhetik in der Arbeiterbewegung Medien auch nur zu erwähnen, von einem »Kulturschwindel der Bourgeoisie« aus, der von der »Organisation des revolutionären Proletariats« quasi fortgeschrieben worden sei: »Besonders die Mehring-Schülerin Gertrud Alexander, die von 1920-1924 das Feuilleton der Roten Fahne leitete, profilierte sich als Hüterin und Schützerin der ›unvergänglichen Werke‹ des bürgerlichen Kunstschaffens. Sie, der ein Kunstwerk vor allem als ›Genie-geboren‹ erscheint, kann in den Versuchen der künstlerischen Avantgarde nur ›Vandalismus‹ und ›eine vollständig, anarchistische Anschauung gegenüber Kunst und Kultur‹ diagnostizieren« (Brückner/Ricke 1975: 43). Brückner/Ricke verweisen vor allem auch auf den »traditionalistischen Begriffsapparat« (Brückner/Ricke 1975: 44), der solchen Vorstellungen zugrunde liege. In einem anderen Kontext ist von einer »auratische(n) Barriere« (Brückner/Ricke 1975: 59) mit quasi immunisierender Wirkung die Rede. Dies gilt letztlich eben auch für den traditionalistischen Begriffsapparat und ergänzt so vorzüglich Benjamins Aura-Begriff (vgl. Benjamin 1979: 13ff.). 4 Mit frappanter Deutlichkeit und in bedenklicher Schlichtheit wird das etwa von Thalheimer bei der Erläuterung von Franz Mehrings Thesen zu Kleist durchexerziert: »Die Naturgaben: eine etwas pathologische Anlage, eine ursprüngliche künstlerische und speziell dramatische Begabung. Die sozialen Bedingungen: die Zugehörigkeit zum preußischen Junkertum, dessen Horizont er geistig nicht zu durchbrechen vermag, – dies sind die Hauptelemente, die das Schaffen und das Schicksal dieses Dichters in den wesentlichen Zügen erklären« (Thalheimer 1972: 31) – Benjamin, der Mehring als »die proletarische Mimikry zerfallener Bürgerschich-

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ten« (Benjamin 1969: 109) stigmatisierte, ging mit der Frage selbst – im Übrigen bereits 1934 mit einem Gestus des Rückblicks – ein wenig differenzierter um: »Und wenn die materialistische Kritik an ein Werk heranging, so pflegte sie zu fragen, wie dies Werk zu den gesellschaftlichen Produktivverhältnissen der Epoche steht. Das ist eine wichtige Frage. Aber auch eine sehr schwierige« (Benjamin 1969: 97). »[…] anstelle dieser Frage oder jedenfalls vor dieser Frage möchte ich eine andere Ihnen vorschlagen. Also ehe ich frage: wie steht eine Dichtung zu den Produktionsverhältnissen der Epoche? möchte ich fragen: wie steht sie in ihnen? Diese Frage zielt unmittelbar auf die Funktion, die das Werk innerhalb der schriftstellerischen Produktionsverhältnisse einer Zeit hat« (Benjamin 1969: 98). So kennt etwa Ernst Fischer in seiner »modernen marxistischen Ästhetik« von 1966 zwar die Pop-Art, nicht aber deren Medienaffinität, was auf das eminente Beharrungsvermögen des selektiven Blicks dieses Typs marxistischer Ästhetik aufmerksam macht (vgl. Fischer 1966: 89ff.). »Wenn heute die ›neue Sachlichkeit‹ in der ›Reportage‹ die wahre Kunst oder eine besondere neue Kunstart erblickt, so mag das vom Boden der Bedürfnisse und Fähigkeiten der bürgerlichen Kunst in ihrer heutigen Epoche sehr wohl verständlich sein – ein Schelm, wer mehr gibt, als er hat –, für die Arbeiterklasse kann die ästhetische Theorie eines bestimmten Abschnittes der Nachkriegskunst ebenso wenig maßgebend sein wie etwa die ästhetische Theorie des Naturalismus der 90er Jahre für sie maßgebend sein konnte« (Thalheimer 1972: 38) – Die mediale Qualität des Gegenstands der Diskussion wird von Thalheimer noch nicht einmal geahnt. Das gilt ebenso für die Reflexion der Form-Inhalt-Dialektik, die noch nicht einmal ansatzweise auf Medialität als Element der Form eingeht (vgl. Thalheimer 1972: 51f.). »Mit diesen Ausführungen Wittfogels waren zwei Prämissen aufgestellt, die vom Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller bis zur gegenwärtigen, sich marxistisch verstehenden Germanistik Gültigkeit behalten sollten: (1) die direkte Bindung des Wahrheitsgehaltes im Kunstwerk an die Klassenlage des Autors; […]; (2) die kausale Verknüpfung von Kunstentwicklung und sogenannten Aufstiegs- und Abstiegsphasen der bürgerlichen Gesellschaft; implizite Bevorzugung der Kunst der ›revolutionären Periode des Bürgertums‹ als das kulturelle Erbe, an das es anzuknüpfen gelte, sowie die Beurteilung der Kunst in der gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaft als höchste Form des Verfalls, der Dekadenz« (Gallas 1972: 114). Von Medien ist im Übrigen in Gallas’ Analyse – mit Ausnahme von einzelnen Bemerkungen zu Piscator und einer Anmerkung zu Benjamin – praktisch nicht die Rede. »Denn selbst mechanische Materialisten, wenn sie infolge der notwen-

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digen Unzulänglichkeit des mechanischen Materialismus in der Auffassung der Phänomene der Gesellschaft dem Idealismus verfallen, pflegen aus der mechanisch-photographischen Abbildungstheorie unvermittelt zu einem Platonismus, einer Theorie der künstlichen Nachahmung der ›Ideen‹ überzugehen.« (Lukács 1977b: 81) »Aus der dunklen Öffnung des ausgetretenen Inwendigen des Schuhzeuges starrt die Mühsal der Arbeitsschritte. In der derbgediegenen Schwere des Schuhzeuges ist aufgestaut die Zähigkeit des langsamen Ganges durch die weithin gestreckten und immer gleichen Furchen des Ackers, über dem ein rauer Wind steht. Auf dem Leder liegt die Feuchte und Satte des Bodens. Unter den Sohlen schiebt sich hin die Einsamkeit des Feldweges durch den sinkenden Abend. In dem Schuhzeug schwingt der verschwiegene Zuruf der Erde, ihr stilles Verschenken des reifenden Korns und ihr unerklärtes sich Versagen in der öden Brache des winterlichen Feldes« (Heidegger 1977: 29f.). »Um das Wesen der Kunst zu finden, die wirklich im Werk waltet, suchen wir das wirkliche Werk auf und fragen das Werk, was und wie es sei« (Heidegger 1977: 9). Nietzsche stimmt im Übrigen durchaus in die Medienschelte ein: »Wenn demnach die eigentliche Bildungskraft der höheren Lehranstalten wohl noch niemals niedriger und schwächlicher gewesen ist wie in der Gegenwart, wenn der ›Journalist‹, der papierne Sklave des Tages, in jeder Rücksicht auf Bildung den Sinn über die höheren Lehrer davongetragen hat, und letzterem nur noch die bereits oft erlebte Metamorphose übrigbleibt, sich jetzt nun auch in der Sprechweise des Journalisten, mit der ›leichten Eleganz‹ dieser Sphäre, als heiterer gebildeter Schmetterling zu bewegen […]« (Nietzsche 1976: 162). Im Übrigen wird diese Massenhaftigkeit auch in materialistischen Kontexten zumeist normativ und nicht medial gedacht, was zu den diversen Kitschdebatten geführt hat. Damit werden aber zugleich die Prämissen einer idealistischen Ästhetik in eine materialistisch perspektivierte Analyse importiert. Dieser bestand im Übrigen nicht nur darin, dass die Benjamin’schen Kategorien im Gegensatz zu denen Heideggers, die sich erwiesenermaßen problemlos dem Nationalsozialismus akkommodieren ließen, »für die Zwecke des Faschismus vollkommen unbrauchbar sind« (Benjamin 1979: 9), sondern eben auch darin, mittels dieser Erkenntnisse über den Kapitalismus hinaus in ein neues soziales System gelangen zu können. Die Angelegenheit war insofern keineswegs nur defensiv, sondern sie sollte – wenigstens nach der theoretischen Konstruktion – prognostische Bedeutung erlangen. So werden unhinterfragt recht einfache Determinationsverhältnisse an-

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genommen: »Falls nicht ausgegangen wird von den realen Bedingungen zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, denen auch Kommunikation untersteht, falls nicht ausgegangen wird von der Medienbedingtheit der Kommunikation und der Klassenbedingtheit der Medien, so löst sich alle Auseinandersetzung mit Massenmedien auf in Meditation über Kommunikation« (Reiss 1973: 347). Das steht in merklichem Kontrast zur relativ brachialen Polemik, die Enzensberger etwa gegen McLuhan vorbringt. Die Differenz, die Enzensberger hier gegenüber McLuhan geltend zu machen sich bemüht, ist die von Wissenschaft und Ideologie, wobei der Marx’sche Ansatz als Garant der Wissenschaftlichkeit reklamiert wird. So setzen bei Knilli etwa die Medien einen spezifischen Stand der Produktivkraftentwicklung voraus, was die Determinationsrichtung letztlich umkehrt: »Dabei setzt Massenkommunikation einen fortgeschrittenen Stand der allgemeinen Produktivkräfte voraus, der in den kapitalistischen Ländern freilich nur dazu benutzt wird, diese modernen Kommunikationstechnologien nicht mehr ausschließlich als Mittel der Kapitalverwertung zu verwenden, sondern zusätzlich als deren Objekt in großen eigenständigen Medienkonzernen. Dazu gehören nicht allein, wie oft gemeint wird, die Kultur- und Bewußtseinsindustrie, sondern neben diesen Softwareherstellern auch die genetisch früher anzusetzende und ökonomisch gewichtigere Gruppe der Hardwarefabrikanten, […]. Denn die Verflechtung der Geräteindustrie mit der Programmproduktion ist sehr eng, bei gleich bleibendem Primat der Gerätehersteller […]« (Knilli 1973: 293). Bezeichnend für eine Varianz in dieser Dimension ist etwa der Begriff der »Überdetermination«, »Determination in letzter Instanz« oder aber »Struktur mit Dominante« bei Althusser, der die offenkundigen Schwierigkeiten des mechanischen Widerspiegelungsmodells durch Implementation einer Art systematischer Unschärfe oder Elastizität zu kompensieren sucht. Die Frage, die sich bei solchen Erosionen des Determinationskonzepts jedoch immer ergibt, ist die der Kontrolle der neu gewonnenen Flexibilität, denn man muss zumindest dafür sorgen, dass ein Umschlagen ins Gegenteil und damit eine Inversion der Ausgangsthese verhindert wird, was auch bei Althusser nicht überzeugend gelungen ist. (Vgl. Althusser 1968: 87ff. u. 148ff.) Im Übrigen ist der Analogieschluss gerade für die postmoderne Medientheorie von eminenter Bedeutung (vgl. Leschke 2001). Im Übrigen erlaubt auch Benjamin sich gelegentlich Schlenker in Richtung einer allzu simplen Determinationsmechanik: »Als nämlich mit dem Aufkommen des ersten wirklich revolutionären Reproduktionsmittels, der Photographie (gleichzeitig mit dem Anbruch des Sozialismus) die Kunst das Nahen der Krise spürte […]« (Benjamin 1979: 17). Ganz abgesehen

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von der Unsinnigkeit eines solchen Kumulationstopos konterkariert das Argument die zuvor sorgfältig aufgebaute These von der strukturellen Verspätung des Ästhetischen. Vor allem Autoren wie Prokop, Negt, Haug, Knilli, Hickethier und Kreimeier sind in diesem Kontext hervorgetreten und haben Analysen zu sehr verschiedenen medienwissenschaftlichen Problemfeldern geliefert. So lautet der entsprechende Slogan bei Knilli etwa: »Zuschaueraufklärung statt Zuschauerforschung« (Knilli 1973: 303). Knilli will mittels eines wissenschaftlich organisierten Verständnisses Medienbenutzer generieren, die statt zu der »bekannte(n) Spezies kulturpessimistischer Raunzer« (Knilli 1973: 305) zu gehören, zu Subjekten werden, die »zu autonomem und kompetentem Handeln im Kommunikationsbereich qualifizier[t]« (Knilli 1973: 305) sind. Dass bei solchen pädagogischen Utopien die zugrunde gelegte ökonomische Analyse der Medienproduktion flugs wieder ignoriert werden muss, ist einer der konstitutiven Widersprüche, in die sich ein solches Konzept zwangsläufig verwickelt. Und das, wiewohl der Warencharakter der Kunst durchaus zur Kenntnis genommen wird: »Mit der Billigkeit der Serienprodukte de luxe aber und ihrem Komplement, dem universalen Schwindel, bahnt eine Veränderung im Warencharakter der Kunst selber sich an. Nicht er ist das Neue: nur daß er heute geflissentlich sich einbekennt, und daß Kunst ihrer eigenen Autonomie abschwört, sich stolz unter die Konsumgüter einreiht, macht den Reiz der Neuheit aus. Kunst als getrennter Bereich war von je nur als bürgerliche möglich. Selbst ihre Freiheit bleibt als Negation der gesellschaftlichen Zweckmäßigkeit, wie sie über den Markt sich durchsetzt, wesentlich an die Voraussetzung der Warenwirtschaft gebunden« (Horkheimer/Adorno 1980: 141). Im Übrigen registriert auch Benjamin den Warencharakter bei der Kunst, allerdings negativ, also nur seine Abwesenheit, indem er etwa den geringen Marktwert, den die Erzeugnisse des Dadaismus im Gegensatz zum Film aufwiesen, positiv vermerkt (Benjamin 1979: 37). Beiden Positionen ist gemein, dass der Warencharakter vor allem zur normativen Disqualifizierung herangezogen wird. In solchen registriert Benjamin durchaus, dass ihm die Medienpraxis theoretische Schwierigkeiten machen könnte: »In Westeuropa verbietet die kapitalistische Ausbeutung des Films dem legitimen Anspruch, den der heutige Mensch auf sein Reproduziertwerden hat, die Berücksichtigung. Unter diesen Umständen hat die Filmindustrie alles Interesse, die Anteilnahme der Massen durch illusionäre Vorstellungen und durch zweideutige Spekulationen zu stacheln« (Benjamin 1979: 30). Im Übrigen ist es durchaus interessant, dass Benjamin in dem Moment, in dem er eine Differenz zwischen Theorie und Praxis festzustellen genötigt ist, moralisch wird und solcherart die Differenz zu tilgen sucht.

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24 »Die Masse ist eine matrix [sic!], aus der gegenwärtig alles gewohnte Verhalten Kunstwerken gegenüber neugeboren hervorgeht. Die Quantität ist in Qualität umgeschlagen« (Benjamin 1979: 39). 25 Das gilt im Übrigen auch noch für Enzensberger, der seinen emanzipatorischen Mediengebrauch außerhalb der gegenwärtigen ökonomischen Konditionen anzusiedeln gezwungen ist, wobei aufgrund der Zuordnung der technischen Dimension des Medialen zu den Produktivkräften der Kontrast nicht ganz so harsch ausfällt wie bei Horkheimer und Adorno. Enzensberger ist zudem genötigt, da in seinem Modell die Medien in mehr als einer ökonomischen Struktur vorkommen können müssen, so etwas wie eine normative Neutralität des Technischen anzunehmen: »Die neuen Medien [gemeint sind Rundfunk, Fernsehen, Video etc., jedoch nicht Multimedia im heutigen Sinne, R. L.] sind ihrer Struktur nach egalitär« (Enzensberger 1970: 167). »Der Gegensatz zwischen Produzenten und Konsumenten ist den elektronischen Medien nicht inhärent; er muß vielmehr durch ökonomische und administrative Vorkehrungen künstlich behauptet werden« (Enzensberger 1970: 168). 26 Wenigstens zu einem bestimmten Typ von Ökonomie. 27 »In der Agonie des bürgerlichen Kinos spiegelt sich der allgemeine Verfall der imperialistischen Kultur. Das ›Kino der Zukunft‹, das die Theoretiker der Bourgeoisie als reformistisches Planspiel im Überbau konzipieren, wird aus den kommenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen hervorgehen, und der gesellschaftliche Hauptwiderspruch wird seine Triebfeder sein. Nicht diejenigen, die sich gegen Ausbeutung und Unterdrückung zu Wehr setzen, sind dafür verantwortlich zu machen, dass dieses Kino ein Kino des Kampfes sein wird« (Kreimeier 1973: 279) – Auch hier findet sich wieder die charakteristische normative Inversion. 28 »Der relevante Vermittlungsmechanismus ist der Warencharakter des Films unter monopolistischen Bedingungen« (Prokop 1982: 282). »Gegenüber der positivistischen Verarbeitung von Erfahrung ist gerade die Entwicklung massenkultureller Produkte zur Kunst – als wesentlich kritisch-dialektischer Erfahrungsweise – die einzig progressive Möglichkeit einer massenkulturellen Gegenstrategie. Moralisierende Ideologiekritik, Entlarvung von Verschwörungen der Bourgeoisie, empörte Klagen über Hinauswürfe und Zensur, abstrakte Appelle zur Organisation aller Lohnabhängigen sind demgegenüber ineffektiv« (Prokop 1982: 283). 29 »Diese ästhetischen Formen sind geschichtliche Formen der kritischen Transzendenz, mit der die Kunst die Veränderungen der Gesellschaft begleitet« (Marcuse 1977: 29). 30 »Und die Funktechnik: Jahre bevor sie als Unterhaltungsrundfunkdienst für ein Massenpublikum benutzt wurde (ab 1923), war sie als Durchhaltefunk für Frontkämpfer eingesetzt (ab 1917), ab 1921 als Wirtschaftsfunk

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für Industrielle, Kaufleute und Bankiers; und seitdem wird sie im Warenverkehr und auf Großbaustellen verwendet, als Taxi- und Polizeifunk und im Pannen- und Notdienst. Fast das gleiche gilt für die Fernsehtechnik: Arbeiter kontrollieren mit ihr Arbeitsprozesse […]; Unternehmer bespitzeln damit Angestellte, Arbeiter und Kunden oder verfolgen auf Monitoren die Börsenkurse; und Polizei und Militär observieren mit elektronischen Kameras ihre inneren und äußeren Feinde: Verkehrsteilnehmer, Demonstranten, verdächtige Sub- und Objekte« (Knilli 1973: 291). Interessant ist, dass diese bereits reichlich einseitige Funktionsanalyse und Genealogie der Medien immer noch eine erheblich größere Bandbreite aufweist als etwa Kittlers Entstehungsmythos der Medien, der dieses Entlarvungsritual noch mit seinem: »Unterhaltungsindustrie ist in jedem Wortsinn Mißbrauch von Heeresgerät« (Kittler 1986: 149) monokausal überholt. Zugleich wird deutlich, wo genau die Mechanik des Kittler’schen Denkens angedockt hat. Literatur Althusser, Louis (1968): Für Marx [1965], Frankfurt/Main. Barck, Karlheinz (1988): »Materialität, Materialismus, performance«. In: Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, K. Ludwig (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt/Main, S. 121-138. Baudrillard, Jean (1978): »Requiem für die Medien« [1972]. In: ders., Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen, Berlin, S. 83-118. Benjamin, Walter (1969): »Der Autor als Produzent« [1934]. In: ders., Versuche über Brecht, Frankfurt/Main, S. 95-116. Benjamin, Walter (1979): »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« [1936]. In: ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt/Main, S. 7-44. Brückner, Peter/Ricke, Gabriele (1975): »Über die ästhetische Erziehung des Menschen in der Arbeiterbewegung« [1974]. In: Bezzel, Chris u.a.: Das Unvermögen der Realität. Beiträge zu einer anderen materialistischen Ästhetik, Berlin, S. 37-68. Enzensberger, Hans Magnus (1970): »Baukasten zu einer Theorie der Medien«. Kursbuch 20, S. 159-186. Gallas, Helga (1972): Marxistische Literaturtheorie. Kontroversen im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller [1971], Neuwied, Berlin. Goldmann, Lucien (1975): »Einführung zu Lukács und Heidegger« [1970]. In: ders., Lukács und Heidegger. Nachgelassene Fragmente, Darmstadt, Neuwied, S. 85-112. Haug, Wolfgang Fritz (1973): Kritik der Warenästhetik [1971], Frankfurt/Main.

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3 Marx und Medien – Eine Einführung

Oliver Marchart Für jede wissenschaftliche Disziplin ist der Angelpunkt, um den sie sich dreht, zugleich ihr blinder Fleck. Nichts bleibt in den Medienwissenschaften umstrittener und unbeantworteter als die Frage, falls sie denn gestellt wird, was überhaupt ein Medium ist.1 Und nichts im Marxismus bleibt umstrittener und unbeantworteter als die Frage, was überhaupt Marx ist. Muss man erst daran erinnern, dass Marx selbst uns nicht als einer überliefert wird, sondern als zwei: als Marx/Engels? Und so wie Marx nicht einer ist – sondern zumindest zwei, wahrscheinlich aber viele –, ist der Marxismus nicht einer, sondern eine Vielzahl verschiedenster Tendenzen und Strömungen eines theoretischen Traditionszusammenhangs. Der Eigenname ›Marx‹ fungiert dabei als Knotenpunkt, der die unterschiedlichsten, ja der selbst inkompatible Marxismen zusammenhält und als Marxismen benennbar macht. Das bedeutet in Folge, dass es eine Vielzahl möglicher marxistischer Perspektiven auf die Medien geben wird. Jede Ordnung, die in dieses Wirrwarr gebracht werden soll, ist notwendigerweise kontingent, sie ist aber nie beliebig. Das heißt, auch eine andere Ordnung wäre möglich, aber jede Ordnung wäre in irgendeiner Weise positioniert und parteiisch – also nie rein zufällig. Die im Folgenden vorgeschlagene ist also ohne Zweifel einer bestimmten Perspektive, einem bestimmten Strang im marxistischen Traditionszusammenhang verpflichtet. Man könnte ihn den anti-ökonomistischen Strang nennen. Sie ist zugleich einem Blick auf die Medien verpflichtet, der kritisch ist gegenüber in der Medientheorie verbreiteten Technizismen. Denn hier besteht, bedauerlicherweise, die größte Schnittmenge zwischen Marxismus und Medientheorie: in der Anfälligkeit nämlich für ökonomischen und/oder technologischen Determinismus. Um nur die allerkürzeste Andeutung einer Definition zu geben: Unter ökonomischem Determinismus – oder Ökonomismus – versteht man eine Interpretation des Marxismus, die politische und ideologische Entwicklungen direkt kausal aus ökonomischen Entwicklungen bzw. Gesetzen ableitet. Unter technologischem Determinismus oder Mediendeterminismus – kurz Technizismus – lassen sich jene Medientheorien fassen, die in der Struktur der Medien, in der Hardware gleichsam, eine Macht erkennen, die gesellschaftliche Entwicklungen kausal bestimmt oder unidirektional beeinflusst.2 Betrachtet man nun ›Marx‹ und ›Medien‹ vor diesem Hintergrund, so fällt, so erstaunlich das klingen mag, zuallererst die Familienähnlichkeit auf zwischen dem heute gängigen Mediendeterminismus – wie er archetypisch von McLuhan verkörpert wird – und dem marxistisch-orthodoxen Determinismus der Zweiten Internationale. Was war der historische Hintergrund für die Entwicklung des orthodoxen Ökonomismus? Der Vorhersage gemäß sollte der

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Kapitalismus aufgrund seiner eigenen inneren ökonomischen Widersprüche zusammenbrechen. Die von den kapitalistischen Entwicklungsgesetzen angetriebene Homogenisierung der Sozialstruktur – also die zunehmende Transformation der Bauern und Mittelklassen in ein anwachsendes und zugleich verelendendes Proletariat – galt als Voraussetzung für die proletarische Revolution. In den Jahren zwischen 1873 und 1896, während der langen ökonomischen Krise des Kapitalismus, besaß diese Annahme eine gewisse Plausibilität im Faktischen. Der Zusammenbruch schien kurz bevor zu stehen, die proletarische Revolution wurde vom Rückenwind der Geschichte angetrieben. Mit der wirtschaftlichen Konsolidierung nach 1896 ging die historische wie theoretische Plausibilität der Zusammenbruchserwartungen verloren. In der Theorie wurde eine erste Antwort auf diese Lage vom Revisionismus um Bernstein gegeben, der die teilweise Autonomisierung des Politischen gegenüber der ökonomischen Basis postulierte. Eine zweite, genau inverse Reaktion suchte ihr Heil in der Verfestigung des Ökonomismus und der Formierung einer marxistischen Orthodoxie durch Kautsky und Plechanow. Hier stellte man sich gesellschaftliche Zusammenhänge als lineare Determinationseinbahn vor, die ihren Ausgangspunkt im Stand der Produktivkräfte, letztlich in der Technologie hatte. Die Produktivkräfte, so wurde behauptet, determinierten die ökonomischen Verhältnisse, die ihrerseits die sozial-politische Ordnung des Überbaus determinierten. Am Ende dieser Determinationskaskade fanden sich Psyche und Ideologie als bloße ›Widerspiegelungen‹ der Verhältnisse der Basis. Damit war jene krude Version des BasisÜberbau-Schemas geboren, die keineswegs nur in der realsozialistischen Staatsphilosophie fortlebte. Bis hinein in die heutigen Globalisierungsdebatten finden sich ökonomistische Denkfiguren, die sich in ihrer Logik nur geringfügig vom Plechanow’schen Determinismus unterscheiden. Ökonomie wird verstanden als ein von ehernen Gesetzen regierter Zwangszusammenhang, der die Geschichte – oder die ›Globalisierung‹ – vorantreibt. Dieser Figur begegnet man im neoliberalen Einheitsdenken genauso wie in emanzipatorischen Ansätzen. (Das prominenteste Beispiel für eine Wiederauflage des orthodoxen Ökonomismus unter operaistischen Vorzeichen ist Empire von Michael Hardt und Antonio Negri: auch hier führen die ökonomischen Gesetze selbst unweigerlich zum Sieg der Multitude, womit effektive politische Organisation und hegemoniale Artikulation überflüssig werden, vgl. Hardt/Negri 2002). Und so wie schon in der Orthodoxie der Zweiten Internationale ökonomischer mit technologischem Determinismus Hand in Hand ging, so schlüpfen die neuen Kommunikationstechnologien in die antreibende Rolle der Produktivkräfte. Wieder wird Gesellschaft zum Überbauphänomen einer technologisch-ökonomischen Basis, wird gesellschaftliche Entwicklung rückführbar auf einen harten technologischen Kern.3

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Um also etwas Ordnung in das marxistische Theoriengeflecht zu bringen, werden wir im Folgenden von jenen marxistischen Medientheorien ausgehen, die sich in der einen oder anderen Weise dem Ökonomismus zuordnen lassen. Ihnen werden in einem zweiten Schritt emanzipatorische Medientheorien gegenübergestellt, die nicht notwendigerweise ökonomistisch argumentieren, aber doch technizistisch. Erst mit der Verschiebung des eigentlichen Terrains medientheoretischer Fragestellungen, wie sie eine dritte Gruppe von Theorien unternimmt, wird es möglich, Ökonomismus und Technizismus zu umgehen. Diese Vorgangsweise basiert auf der Unterscheidung von drei dominanten marxistische Paradigmen der Medientheorie. Man könnte sie bezeichnen als Massenbetrugsparadigma, als Emanzipationsparadigma und als Paradigma der Politik. Werden Massenmedien im ersten wesentlich als Manipulationsapparate verstanden, so werden sie im zweiten als Kommunikationsapparate und im dritten als Hegemonieapparate verstanden. Das Massenbetrugsparadigma (Medien als Manipulationsapparate) Obwohl die Kritische Theorie oft als neo-marxistisch bezeichnet wird, was sie in vielerlei Hinsicht sein mag, ist sie doch in ihren deterministischen Anteilen mit der Orthodoxie durchaus verwandt. Nur wird der ökonomistisch argumentierte Revolutionsoptimismus der Orthodoxie umgestülpt in etwas, das man vielleicht als Verhängnismarxismus bezeichnen könnte. Der Ur-Sündenfall besteht in der gesellschaftlichen Implementierung des Tausch- und Äquivalenzprinzips (und damit des Identitätsprinzips, welches alles Nicht-Identische zunehmend verkleistert). So sind Äquivalententausch und Warenform für Horkheimer und Adorno die Determinanten eines kapitalistischen Verhängniszusammenhangs, dem nicht mehr anders beizukommen ist als kognitiv: durch radikale Kritik (während politische Praxis verstellt bleibt). Die Möglichkeit radikaler Kritik wird jedoch ihrerseits untergraben von Massenkultur und Massenmedien, die damit jene Rolle übernehmen, die ihnen Ideologiekritik traditionellerweise zudenkt: sie werden als Technologien des Massenbetrugs gefasst (vgl. Horkheimer/Adorno 1988). Allerdings wird sowohl der bürgerliche Begriff der ›Massenmedien‹ wie auch der gängige Begriff der ›Massenkultur‹, auf den sich Horkheimer und Adorno noch in den Entwürfen zur Dialektik der Aufklärung verständigt hatten, letztlich verworfen. Beide Konzepte gelten als nicht ausreichend kritisch und tiefgreifend. An ihre Stelle tritt der berühmte Neologismus ›Kulturindustrie‹. Dieses Konzept zielt weniger auf die industrialisierte Produktion von Kulturwaren als auf deren Standardisierung (man denke etwa an die Standardisierung des Films in leicht identifizierbare Genres) und rationalisierte Distribution. Das System der Kulturindustrie, das sich von den liberalen In-

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dustrieländern her ausbreitete, ist angetrieben von den allgemeinen Kapitalgesetzen. Da aber auf der Suche nach neuen Verwertungsmöglichkeiten des Kapitals das gesamte Feld der Kultur bereits umgegraben wurde, verwandelt sich der Charakter von Kultur als solcher. Die Profitinteressen müssen sich deshalb nicht allein im Verkauf bestimmter Kulturwaren spiegeln, sondern sie verändern den Charakter von Kultur insgesamt. Kultur wird zu Werbung. Anders gesagt: das schiere Ausmaß der ›Kulturindustrialisierung‹ lässt Kultur umschlagen in Reklame für das Bestehende – unabhängig vom jeweils konkret Beworbenen. Das gilt nun auch für die Medien als Teilsegment der Kulturindustrie. Nicht zufällig wird das Format der ›Reklame‹ für Adorno und Horkheimer zum Modell der Medienfunktion insgesamt. Die erweiterte Reklamefunktion der Medien besteht in der standardisierten Massenfabrikation unkritischen Einverständnisses.4 Dieses Einverständnis gilt keiner bestimmten Ideologie, sondern der Ideologie oder dem Ideologischen schlechthin. Medien machen Reklame für den allgemeinen Verhängniszusammenhang und die Undurchschaubarkeit der Verhältnisse. Aus den Medien heraus werden die Massen vom kategorischen Imperativ der Kulturindustrie angerufen: »du sollst dich fügen, ohne Angabe worein; fügen in das, was ohnehin ist, und in das, was als Reflex auf dessen Macht und Allgegenwart, alle ohnehin denken« (Adorno 2003: 343). Deshalb kann Adorno den Gesamteffekt der Kulturindustrie als Anti-Aufklärung bezeichnen. In Form der Kulturindustrie wird Aufklärung falsch verwirklicht als Massenbetrug, wird die Bildung mündiger, autonomer Individuen blockiert. Diese Theorie fand ihre Fortsetzung in Jürgen Habermas’ These vom kommerzialisierungsbedingten Zerfall bürgerlicher Öffentlichkeit. Im Unterschied zur von Habermas geschätzten bürgerlichen Räsonieröffentlichkeit der zum Publikum versammelten Privatleute könne die heutige konsumkulturelle Öffentlichkeit der Massenmedien nur als »Pseudo«- oder »Scheinöffentlichkeit« bezeichnet werden: »Die Öffentlichkeit übernimmt Funktionen der Werbung. Je mehr sie als Medium politischer und ökonomischer Beeinflussung eingesetzt werden kann, um so unpolitischer wird sie im ganzen und dem Scheine nach privatisiert« (Habermas 1990: 267). Konsumkulturelle Öffentlichkeit ist für Habermas weitgehend manipulativ und »vermachtet«. Obwohl Habermas eine Verfallsgeschichte der Medienentwicklung erzählt, die der Kulturindustriethese Adornos und Horkheimers verpflichtet bleibt, wird diese Geschichte nicht ökonomistisch aus Warenform und Äquivalententausch abgeleitet, sondern von Habermas sozialhistorisch rückverfolgt. Aus diesem Grund handelt es sich auch nicht um eine Verhängniserzählung. Das erlaubt im Habermas’schen Modell einen wesentlich größeren politischen Handlungsspielraum jenseits bloß kognitiver Kritik. Am konsequentesten wurden jene marxistischen Grundannahmen, wie

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sie von Horkheimer und Adorno geteilt werden, denn auch gar nicht innerhalb der Kritischen Theorie zu Ende gedacht, sondern in Guy Debords Theorie des Spektakels. Die kapitalistische Produktionsweise habe auf Grund ihrer inneren Logik zur totalen und selbstzweckhaften Spektakelisierung der Gesellschaft geführt. Das Spektakel wird definiert als »das Kapital in einem solchen Grad der Akkumulation, daß es zum Bild wird« (Debord 1996: 27). Die Massenmedien sind nur die »erdrückendste Oberflächenerscheinung« (ebd.: 22) des Spektakels. Ähnlich wie Horkeimer/Adorno, wenn auch unmittelbar beeinflusst von Lukács’ Verdinglichungstheorie, führt Debord das Spektakel in letzter Instanz auf die Warenform als »Mitsichselbstgleichheit« und »Kategorie des Quantitativen« (ebd.: 32) zurück. Das Spektakel ist jener Moment, in dem die Ware das gesamte gesellschaftliche Leben besetzt hält und keine andere Welt mehr sichtbar ist als die des Warenverhältnisses. Das Spektakel in seiner Gesamtheit wird zum allgemeinen Äquivalent aller Waren. Es führt in diesem Sinne die Funktion des Geldes als allgemeinem Äquivalent weiter: Das Spektakel ist das Geld, das man nur anblickt (vgl. ebd.: 39). Abgelöst von jedem Gebrauchswert kreisen die Warenfetische um sich selbst, läuft das Äquivalenzprinzip so weit Amok, dass es zum Bild wird. Gesellschaft verwandelt sich in ein Spektakel, in dem »die Ware sich selbst in einer von ihr geschaffenen Welt anschaut« (ebd.: 41). Wenn Debord diese Diagnose noch im Geiste der Ideologiekritik stellt, dann lässt sich Jean Baudrillard auf die zelebratorische Affirmation des Spektakels ein. Auch für Baudrillard ist die Realität hinter dem zum »Hyperrealen« gewordenen Spektakel verloren gegangen. Was bleibt, ist ein verallgemeinertes Simulakrum: das Hyperreale als »das Reale, plus dem Realen, plus dem Bild des Realen, usw.« (Baudrillard 1978: 45). Jeder Versuch, hinter das Spektakel zu blicken oder seinem Geheimnis auf die Spur zu kommen, ist vergeblich, denn es gibt kein Dahinter und kein Geheimnis. Die »Obszönität« dieser reinen Oberfläche des Allzusichtbaren wurde von Marx bereits an der Warenform entdeckt, die Baudrillard zufolge »das erste große Medium der modernen Welt« (Baudrillard 1987: 19) sei.5 Die Ware verbirgt kein Geheimnis, sondern verkündet ihre Essenz, ihren Preis nämlich, in voller Transparenz. Und doch ist im Vergleich zum Universum der Kommunikation die Transparenz und Obszönität des Warenuniversums noch relativ. Erst heute seien alle Funktionen und Ereignisse der Welt des Spektakels von einer einzigen Dimension vereinnahmt worden: der Transparenzdimension absoluter Kommunikation. Baudrillard steht damit am äußersten Rand des Massenbetrugsparadigmas, dort nämlich, wo Ideologiekritik abkippt in subversive – oder vorgeblich subversive – Affirmation. Die Massen seien der Medienpropaganda keineswegs hilflos ausgeliefert, vielmehr würden sie gerade mit ihrem fatalistischen Schweigen, d.h. ihrer absolute Entfremdung, eine absolute Waffe besitzen. Gerade weil sie nur noch als Simulakrum von Tests und Umfragen

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existiert, also keine reale Substanz mehr besitzt, wird die schweigende Masse im Unterschied zu früheren Kollektivsubjekten wie Klasse oder ›Volk‹ politisch unrepräsentierbar. Genau darin besteht, aus Baudrillards (1978: 41) Sicht, ihre Rache. Das Emanzipationsparadigma (Medien als Kommunikationsapparate) Dass im Massenbetrugsparadigma, das seinen paradoxen Höhepunkt in Baudrillards fatalistischer Inversion findet, kaum Platz für eine emanzipatorische Medienpraxis bleibt, liegt auf der Hand. Und doch lässt sich von marxistischen Prämissen sehr wohl zu optimistischeren Schlussfolgerungen gelangen. Als locus classicus solch emanzipatorischer Medientheorie gilt Walter Benjamins Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (vgl. Benjamin 1980). Benjamin behauptet, mit den modernen Reproduktionstechnologien vor allem des Films habe sich das Kunstwerk von seinem an Tradition und Ritual gefesselten Kultwert emanzipiert. Indem es massenhaft reproduzierbar wird, verliert es seine Einzigkeit und Aura. Und mit der Ablösung von ihrem kultischen Fundament verändert sich zugleich die soziale Funktion von Kunst: sie kann nun auf Politik fundiert werden. Genau darin bestehen die Pointe und das eigentliche Ziel der theoretischen Intervention Benjamins, wie er in Vor- und Nachwort zum Kunstwerkaufsatz deutlich macht. Es geht ihm um die Entwicklung eines kunst- und medientheoretischen Instrumentariums, das für revolutionäre Zwecke brauchbar und für die Zwecke des Faschismus schlicht unbrauchbar ist. Die vielzitierte, von Benjamin postulierte Zertrümmerung der Aura durch die modernen Reproduktionstechnologien betrachtet Benjamin im Kunstwerkaufsatz, entgegen einer gängigen Fehlinterpretation, ganz ohne nostalgisches Bedauern. Sie bildet im Gegenteil die Voraussetzung für massenhafte Verbreitung und emanzipatorischen Einsatz der neuen medialen Technologien. Erst der Faschismus missbraucht die Apparatur, indem er sie der Herstellung neuer Kultwerte dienstbar macht und so die Re-Auratisierung und Ästhetisierung der Politik betreibt. Dem habe der Kommunismus, so Benjamins berühmter Schlussappell, mit der Politisierung der Kunst zu antworten, die ihre Möglichkeitsbedingung eben in massenhafter technologischer Reproduzierbarkeit findet. Ähnlich wie sein Freund Benjamin setzt Bert Brecht in seiner Radiotheorie direkt am Potenzial der Medientechnologie selbst an. Brecht spricht der Rundfunktechnologie ein kommunikatives Potenzial zu, das allerdings von der herrschenden Gesellschaftsordnung blockiert wird. Statt als reiner Distributionsapparat zu wirken, der eine zur Passivität angehaltene Masse beliefert, sei der Rundfunk in einen Kommunikationsapparat umzufunktionie-

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ren: »Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen. Der Rundfunk müßte demnach aus dem Lieferantentum herausgehen und den Hörer als Lieferanten organisieren.« (Brecht 1999: 260) Brechts Vorschlag der Demokratisierung der Medientechnologie wurde 1970 in Hans Magnus Enzensbergers Baukasten zu einer Theorie der Medien aufgegriffen. Enzensberger geht vom Desiderat einer marxistischen Medientheorie aus, die nach seinen Begriffen bis dahin nicht existierte. Wie Brecht kritisiert er, die emanzipatorischen Möglichkeiten der neuen Produktivkraft der Massenmedien (der von ihm so genannten Bewusstseins-Industrie) würden von den Produktionsverhältnissen gefesselt. Die Trennung in Sender und Empfänger sei nicht von der Technik diktiert, denn jedes Transistorradio sei ja zugleich ein potenzieller Sender, sondern spiegle die gesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen Produzenten und Konsumenten, den Grundwiderspruch zwischen Monopolkapital/Monopolbürokratie und Massen wider. Die Neue Linke habe den Fehler begangen, ihr eigenes Medienverständnis am traditionellen Manipulationsparadigma auszurichten. Doch Manipulation sei nicht allein Herrschaftseffekt, sondern auch Strukturmerkmal elektronischer Medien. Die elementarsten Produktionsverfahren (wie Aufnahme, Schnitt, Mischung etc.) seien in sich immer schon manipulativ. Daraus zieht Enzensberger den Schluss: »Die Frage ist daher nicht, ob die Medien manipuliert werden oder nicht, sondern wer sie manipuliert. Ein revolutionärer Entwurf muß nicht die Manipulateure zum Verschwinden bringen; er hat im Gegenteil einen jeden zum Manipulateur zu machen« (Enzensberger 1999: 271). Das wiederum erfordert, soll es in emanzipatorischer Absicht geschehen, das selbstorganisierte Produktivwerden der Massen und die direkte gesellschaftliche Kontrolle der Medien. Enzensberger fasst die Differenz zwischen repressivem und emanzipatorischem Mediengebrauch schließlich in folgender Tabelle zusammen, in der sich nicht zuletzt die wesentlichen Denkfiguren des Massenbetrugs- bzw. Emanzipationsparadigmas wiederfinden (vgl. ebd.: 278):

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Emanzipatorischer Mediengebrauch

• •

Zentral gesteuertes Programm Ein Sender, viele Empfänger

• •



Immobilisierung isolierter Individuen Passive Konsumentenhaltung Entpolitisierungsprozess Produktion durch Spezialisten Kontrolle durch Eigentümer oder durch Bürokraten



Dezentralisierte Programme Jeder Empfänger ein potentieller Sender Mobilisierung der Massen

• • • •

Interaktion der Teilnehmer, feedback Politischer Lernprozess Kollektive Produktion Kontrolle durch Selbstorganisation

• • • •

Nun scheinen die tatsächlichen Umsetzungsmöglichkeiten emanzipatorischen Mediengebrauchs aus Sicht des Massenbetrugsparadigmas gering. »Keine Apparatur der Replik hat sich entfaltet«, konstatierten Adorno und Horkheimer (1988: 130) in den späten 40er Jahren mit Seitenblick auf Benjamin und Brecht. Und es wird auch nicht verwundern, dass Enzensbergers »Baukasten« sofort auf schärfsten Widerstand von Baudrillard gestoßen ist. Für Baudrillard ist es kein historischer Zufall, dass sich keine Apparatur der Replik entfaltet hat. Es ist im Begriff des Mediums selbst begründet, weshalb man jede Hoffnung auf eine Wandlung der Distributions-in Kommunikationsapparate fahren lassen muss, denn »die Medien sind dasjenige, welche die Antwort für immer untersagt, das, was jeden Tauschprozeß verunmöglicht (es sei denn in Form der Simulation einer Antwort, die selbst in den Sendeprozeß integriert ist, was an der Einseitigkeit der Kommunikation nichts ändert)« (Baudrillard 1978: 91). Baudrillard zieht den Schluss, die Medien könnten nicht emanzipatorisch ent- oder ver-wendet werden und seien daher zu zerstören. Der Medienbegriff selbst müsse verschwinden und ersetzt werden durch die Vorstellung radikaler Unmittelbarkeit. Während der Determinismus – und, in der marxistischen Spielart, Ökonomismus – des Massenbetrugsparadigmas mit Händen zu greifen ist, setzen sich doch auch im Emanzipationsparadigma reduktionistische Figuren durch: »Die neuen Medien sind ihrer Struktur nach egalitär«, heißt es bei Enzensberger (Enzensberger 1999: 271). So wie das manipulative Potenzial laut Massenbetrugsparadigma in der Medientechnologie selbst liegt, so suchen auch manche Theorien des Emanzipationsparadigmas das egalitäre Potenzial in der Essenz der Medientechnologie. In beiden Fällen, wenn auch mit jeweils umgekehrten Vorzeichen, tendiert die Argumentation zu technizistischen Verkürzungen, wenn nicht – im Fall des Massenbetrugsparadigmas – zu deterministischen Ableitungen.

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Das Paradigma der Politik (Medien als Hegemonieapparate) Diesen technizistischen Ansätzen steht nun ein Theorienkomplex gegenüber, in dem bewusst nicht-deterministisch, nicht-technizistisch und nicht-ökonomistisch vorgegangen wird. Man könnte ihn als Paradigma der Politik oder der Hegemonie bezeichnen. Bei diesem Paradigma handelt es sich natürlich nicht um die dialektische Aufhebung der ersten beiden referierten Paradigmen. Vielmehr kommt es innermarxistisch zur Verschiebung des eigentlichen Terrains der Fragestellungen, wie sie das Massenbetrugs- und das Emanzipationsparadigma kennzeichnen. Es lässt sich nun nicht mehr fragen, ob eine bestimmte mediale Technologie ›in ihrer Struktur‹ emanzipatorisch oder manipulativ ist. Noch lässt sich – im Sinne einer marxistischen theory of everything – der Gesamtzustand von Gesellschaft, Geschichte und Medien aus irgendeiner abstrakten Formel ableiten (wie etwa aus der Warenform, dem ewigen Antagonismus zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen oder dem Determinationsverhältnis von Basis und Überbau). Mit dem einschlägigen Konzept der Hegemonie verschiebt sich die gesamte Fragestellung weg von Technologie und Ökonomie und hin zu den gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Einer der zentralen Referenzpunkte innerhalb der marxistischen Tradition ist dabei das Werk Antonio Gramscis (vgl. Gramsci 1991ff.). Das Paradigma der Politik nimmt seinen Ausgang von dem historischen Moment der Ernüchterung, als die Gewissheiten der Orthodoxie endgültig verloren gingen. Mit dem Ausbleiben der Revolutionen in den industrialisierten Staaten des Westens und mit der Erfahrung des Faschismus kam auf, was Stuart Hall ›Gramscis Frage‹ genannt hat. Das Konzept der Hegemonie wird von Gramsci entwickelt, um zu erklären, warum die von der Orthodoxie geweissagte Revolution nicht eintrat und die Menschen konsequent gegen ihre ›eigentlichen‹ Interessen handelten. Der Begriff der Hegemonie subvertiert nun das klassische Determinationsverhältnis von Basis und Überbau. Eine Klasse oder Klassenallianz kann die Macht nur erringen, erhalten oder ausbauen, wenn sie im Feld der Zivilgesellschaft Konsens und freiwillige Zustimmung zu ihrer Herrschaft erzielt. Die Verfügungsgewalt über die staatlichen Zwangsapparate (Polizei, Justiz, Verwaltung etc.) ist allein keineswegs ausreichend. Es muss Hegemonie über die Köpfe – den Alltagsverstand (senso comune) – und alltäglichen Praxen der Menschen errungen werden. Damit steigt die Bedeutung der Medien eklatant: als zivilgesellschaftliche Hegemonieapparate sind sie sowohl Terrain als auch Durchsetzungsmittel hegemonialer Stellungskämpfe. Natürlich kann der Hegemonietheorie auch eine deterministische Wendung gegeben werden. Das war mit Louis Althussers einflussreicher Theorie

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Ideologischer Staatsapparate der Fall, deren grundlegendes Setting dennoch stark von Gramsci beeinflusst ist. Wie Gramsci, dessen Begriff des integralen Staates sowohl die politische Gesellschaft (die Sphäre der staatlichen Zwangsapparate) als auch die Zivilgesellschaft umfasst, vertritt Althusser einen ausgesprochen weiten Staatsbegriff. Zum Staat zählen sowohl die so genannten Repressiven Staatsapparate (Polizei, Militär, Verwaltung etc.) als auch die Ideologischen Staatsapparate (Schulen, private Institutionen und nicht zuletzt die Medien).6 Ein Individuum wird zu einem sich selbst bewussten Subjekt erst qua ›Anrufung‹ durch einen Ideologischen Staatsapparat. Konkreter ist darunter zu verstehen, dass Individuen durch Ideologische Staatsapparate – paradigmatisches Beispiel ist die Schule – geschleust werden und so ihren Subjektbildungsprozess durchlaufen. Die Apparatustheorie (oder »screen theory«, nach dem britischen Screen-Journal) übertrug diesen subjekttheoretischen Ansatz auf den cinematischen Apparat, also das apparative Ensemble des Kinos und der Projektionssituation. Doch schon bei Althusser stellt sich eine grundsätzliche Frage: Wie kommt es, dass die Ideologischen Staatsapparate je nach Gesellschaft und Epoche immer andere sind, die Form des angerufenen Subjekts (letztlich das sich selbst bewusste kartesianische Subjekt des cogito) aber immer dieselbe ist? Versteckt sich in diesem Modell nicht genau der alte Determinismus? Diese Frage wurde der Apparatustheorie Althussers wie auch jener der Screen-Theoretiker von den britischen Cultural Studies gestellt. Jedes Subjekt, so hielt man von Cultural Studies-Seite dagegen, sei immer schon in einer Vielzahl von sozialen, kulturellen und institutionellen Verhältnissen verwurzelt. Das Ideologische bestünde nicht in der leeren Form des Subjekts, sondern in den vielfachen Identitäten, die jedes Subjekt durchkreuzen – vorneweg die berühmte Trias von race, class und gender. Die Rückkehr zu Gramscis Hegemoniebegriff ermöglichte den Cultural Studies, die verzwickten Grabenkämpfe um Identitätsbildung und damit um die Herstellung von Konsens und freiwilliger Zustimmung zu dominanten Identitätsformen zu beschreiben. Raymond Williams etwa machte gegen das vulgärmarxistische Widerspiegelungsmodell (Basis/Überbau) das Hegemoniekonzept stark, dessen Entwicklung durch Gramsci er als einen der großen Wendepunkte marxistischer Kulturtheorie ansah: »Hegemony is then not only the articulate upper level of ›ideology‹, nor are its forms of control only those ordinarily seen as ›manipulation‹ or ›indoctrination‹. It is a whole body of practices and expectations, over the whole of living: our sense and assignments of energy, our shaping perceptions of ourselves and our world. It is a lived system of meanings and values – constitutive and constituted – which as they are experienced as practices appear as reciprocally confirming. […] It is, that is to say, in the

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strongest sense a ›culture‹, but a culture which has also to be seen as the loved dominance and subordination of particular classes.« (Williams 1977: 110)7

Die wesentlichen medientheoretischen Fortschritte wurden am Birminghamer Centre for Contemporary Cultural Studies um Stuart Hall erzielt. Hall zufolge kommt den Medien im hegemonialen »Kampf um Bedeutung« oder »Kampf im Diskurs« elementare Bedeutung zu. Für Hall sind Medien »die dominanten Mittel sozialer Signifikation in modernen Gesellschaften«. Damit spielen sie die zentrale Rolle in dem, was Hall »politics of signification« oder Signifikationspolitik nennt. Als »signifying institutions«, als Signifikationsapparate, konstruieren sie den imaginären Horizont, in dem die Menschen sich orientieren können (vgl. Hall 1982; 1997). Sie produzieren soziales Wissen und schaffen ein Inventarium an Werten, Bildern, Klassifikationen und Lebensstilen, das es den Menschen erlaubt, sich im sozialen Raum zurechtzufinden. Mit anderen Worten: sie wirken direkt auf den Alltagsverstand der Menschen ein. Und zugleich sind diese Signifikationsapparate nicht etwa neutrale Vermittler von Ideologemen, sondern sie sind selbst das umkämpfte Terrain hegemonialer Auseinandersetzungen. Welche Funktion ein bestimmtes Medium also erfüllt, ist nie von vornherein ausgemacht. Weder lässt es sich von der Medientechnologie ablesen, noch lässt es sich aus einer allgemeinen Gesellschaftstheorie oder aus Lehrsätzen der politischen Ökonomie ableiten. Aus diesem Grund sind die Effekte konkreten Medieneinsatzes – mögen sie nun manipulativ oder emanzipatorisch sein – nie aprioristisch bestimmbar. Um sie bestimmen zu können, wird eine Analyse der spezifischen hegemonialen Konstellation, also der spezifischen Signifikationspolitik erforderlich, in die Medien verwickelt sind. Das Emanzipatorische (oder Manipulative) steckt also in der emanzipatorischen (oder manipulativen) Politik, nicht in der Apparatur. Fazit Die mit dem zuletzt umrissenen Paradigma verbundene marxistische wie medientheoretische Verschiebung der Fragestellung, nämlich weg von der Apparatur und hin zur Politik, bedeutet zugleich eine Befreiung von marxistischen wie medientheoretischen Determinismen und Reduktionismen. Damit verlässt man nicht unbedingt das Terrain des Marxismus. Zwar wird von der letzten Nachhut marxistischer Orthodoxie oft als antimarxistisch denunziert, was historisch Teil des marxistischen Traditionszusammenhangs ist. Aber nur für jene Marxisten, die immer noch auf der theoretischen Höhe oder Tiefe Plechanows sind – oder auch für Ableitungsspezialisten, die nach wie vor meinen, mit der Marx’schen Werttheorie eine theory of everything in Händen zu

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halten –, stellt sich die von Gramsci eingeleitete Entwicklung als un-marxistisch dar. Doch der Marxismus lässt sich nicht auf den dialektischen Materialismus, den Ökonomismus oder auf eine Universalformel reduzieren. Marxismus ist der Name für einen Theoriezusammenhang mit einer Unzahl von Ausläufern und Nebenarmen. Viele davon enden im Nirgendwo. Andere sind hochaktuell und anknüpfungsfähig an breitere politische und theoretische Zusammenhänge. Die Relevanz des Marxismus wird also nicht durch ein epistemisches Privileg garantiert. Die Lehre von Marx ist nicht, wie Lenin es ausdrückte, allmächtig, weil sie wahr ist. Aber manches daran ist, wie Brecht es ausgedrückt hätte, praktisch. Praktisch nämlich als Erkenntniswerkzeug im Verbund mit anderen Werkzeugen – politischen wie theoretischen.8 Ohne die konzeptuelle Anstrengung der Verknüpfung dieser Werkzeuge wird jede marxistische Medientheorie wenn schon nicht »falsch«, so doch ausgesprochen unpraktisch. Anmerkungen 1 Damit ist natürlich impliziert, dass die Lösung des »Rätsels« (die gültige Auspinselung des blinden Flecks) zugleich das Ende der Disziplin und der disziplinären Entwicklung bedeuten würde. Solange Gott nicht gefunden ist, solange wird es Theologie geben. 2 Die Kritik am Mediendeterminismus sowie die Entwicklung eines alternativen Modells, das hier nur angedeutet werden wird, findet sich ausführlich in Marchart (2004). 3 Vielleicht versteht man Ökonomismus und Technizismus besser, wenn man sie in ihrem Determinismus nicht als simple Analogie nimmt, sondern als Elemente einer umfassenderen Denkfigur, ja eines theoretischen Dispositivs des Determinismus, das marxistische wie nicht-marxistische Ansätze umfasst. Zu letzteren wird man nicht zuletzt auch biologistische (›das Gen, das Homosexualität verursacht‹) und behavioristische (wie in der ›Zuseherforschung‹) zählen müssen. 4 Trotz erheblicher ideologischer Differenzen lassen sich die Familienähnlichkeiten zwischen dem Ansatz Adornos und Horkheimers und dem Behaviorismus der Propagandatheorie ihrer Zeit kaum übersehen. Die beiden verfeindeten Ansätze sind Teil desselben deterministischen Dispositivs. Andererseits hebt sich die Kritische Theorie vom Behaviorismus durch die Rezeption der Psychoanalyse ab, die es verbietet, die Massen auf einen Pawlow’schen Hund zu reduzieren. So baut die Verhängnisreklame der Medien auf der Komplizität der Massen und ihrem Wunsch nach Betrug auf. Ähnlich wie in Sloterdijks späterem Konzept der zynischen Vernunft heißt es bereits bei Adorno (2003: 342): »Nicht nur fallen die Menschen, wie man so sagt, auf Schwindel herein, wenn

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er ihnen sei’s noch so flüchtige Gratifikationen gewährt; sie wollen bereits einen Betrug, den sie selbst durchschauen; sperren krampfhaft die Augen zu und bejahen in einer Art Selbstverachtung, was ihnen widerfährt, und wovon sie wissen, warum es fabriziert wird. Uneingestanden ahnen sie, ihr Leben werde ihnen vollends unerträglich, sobald sie sich nicht länger an Befriedigungen klammern, die gar keine sind.« Man fragt sich allerdings, warum frühere Kollektivsubjekte eine reale Substanz besessen haben sollten. Zu Baudrillards Verhältnis zum Marxismus, das durchaus komplex ist, siehe Kellner (1989). Bezüglich der Medien spricht Althusser (1977: 120) vom Ideologischen Staatsapparat »der Information (Presse, Radio, Fernsehen usw.)«. Williams war jeder Form des technologischen Determinismus abhold, was ihn nicht zuletzt McLuhan kritisieren ließ. Vor allem kritisierte Williams die Vorstellung von unabhängigen Eigenschaften eines Mediums, die nicht nur den Inhalt des Kommunizierten, sondern auch die sozialen Verhältnisse, in denen Kommunikation stattfindet, angeblich determinieren sollten. »In this influential kind of technological determinism (for example in McLuhan) the ›medium‹ is (metaphysically) the master« (ebd.: 159). Eine Überblicksdarstellung des Verhältnisses von McLuhan zu Marx und vom Marxismus zu McLuhan findet sich bei Grosswiler (1998). Ein solch praktisches Verhältnis zur Marx’schen Theorie (oder zu marxistischen Theorien) findet man interessanterweise im marxistischen Traditionszusammenhang am seltensten. Was man zumeist findet, ist ein dogmatisches Verhältnis.

Literatur Adorno, Theodor W. (2003): Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 10.1, Frankfurt/Main. Althusser, Louis (1977): Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg, Berlin. Baudrillard, Jean (1978): Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen, Berlin. Baudrillard, Jean (1987): Das Andere Selbst, Wien. Benjamin, Walter (1980): »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«. In: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I, 2, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main, S. 471-508. Brecht, Bertolt (1999): »Der Rundfunk als Kommunikationsapparat«. In: Pias, Claus et al. (Hg.), Kursbuch Medienkultur, Stuttgart, S. 259-263. Debord, Guy (1996): Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin.

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Enzensberger, Hans Magnus (1999): »Baukasten zu einer Theorie der Medien«. In: Pias, Claus et al. (Hg.), Kursbuch Medienkultur, Stuttgart, S. 264-278. Gramsci, Antonio (1991ff.): Gefängnishefte, 10 Bd., Hamburg. Grosswiler, Paul (1998): Method is the Message. Rethinking McLuhan through Critical Theory, Montreal, New York, London. Habermas, Jürgen (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt/Main. Hall, Stuart (1977): »Culture, the Media and the ›Ideological Effect‹«. In: Curran, James/Gurevitch, Michael/Wollacott, Janet (Hg.), Mass Communication and Society, London, S. 315-348. Hall, Stuart (1982): »The Rediscovery of ›Ideology‹: Return of the Repressed in Media Studies«. In: Gurevitch, Michael et al. (Hg.), Culture, Society, and the Media, London, New York, S. 56-90. Hardt, Michael/Negri, Antonio (2002): Empire, Frankfurt/Main. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1988): Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/Main. Kellner, Douglas (1989): Jean Baudrillard. From Marxism to Postmodernity and Beyond, Cambridge. Marchart, Oliver (2004): Techno-Kolonialismus. Theorie und imaginäre Kartographie von Kultur und Medien, Wien. Williams, Raymond (1977): Marxism and Literature, Oxford, New York.

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➔ Marx’sche Medien

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Leander Scholz



4 Der doppelte Körper des Untertanen

Leander Scholz In einer Fußnote zu dem Kapitel Die Ware aus seiner Kritik der politischen Ökonomie kommentiert Marx den seltsamen Umstand, dass der Wert einer Ware letztlich immer in einer ganz andersartigen Ware ausgedrückt werden muss, wie folgt: »Es ist mit solchen Reflexionsbestimmungen überhaupt ein eigenes Ding. Dieser Mensch z.B. ist nur König, weil sich andere Menschen als Untertanen zu ihm verhalten. Sie glauben umgekehrt Untertanen zu sein, weil er König ist« (MEW, Bd. 23: 72). Zwischen dem König und dem Untertanen besteht wie im Fall der Waren keine Gleichheit, und trotzdem stehen sich beide so gegenüber, als wären sie gleich. Der König glaubt, König zu sein, weil es einen Untertanen gibt. Und der Untertan glaubt, Untertan zu sein, weil es einen König gibt. Beide sind einander zugewandt, ihre Beziehung ist immanent. Es gibt keinen Gott oder eine andere Instanz, aus der diese Beziehung abgeleitet wird. Es gibt keine politische Theologie. Woher aber kommt dann der Unterschied zwischen beiden? Zwischen dem König und dem Untertan besteht ein Reflexionsverhältnis. So wie sich der Wert einer Ware in einer ganz andersartigen Ware spiegelt, ohne mit dieser letztlich gleich zu sein, spiegelt sich der König im Untertan und der Untertan im König. Beide sind im selben Moment gleich und ungleich. Die Reflexion des einen im anderen besteht also darin, dass etwas Ungleiches auf eine merkwürdige Weise gleich wird, ohne dabei seine Ungleichheit zu verlieren. Es heißt, man dürfe Äpfel nicht mit Birnen vergleichen. Aber genau das geschieht ständig, wenn der Wert eines Apfels durch eine bestimmte Anzahl von Birnen ausgedrückt wird oder auch umgekehrt. Und daran ändert sich nichts, wenn man anstelle des Apfels oder der Birne einen bestimmten Geldwert einsetzt, der wiederum für eine bestimmte Anzahl von Äpfel oder Birnen stehen könnte. Auch das Geld repräsentiert keine Instanz außerhalb des Tauschs, der stets Ungleiches in Gleiches verwandelt und Gleiches wiederum in Ungleiches. Auch das Geld repräsentiert keinen absoluten Wert und kann dementsprechend seinen Wert nur dann ausdrücken, wenn es sich selbst ebenso wie eine Tauschware verhält. Die ökonomische Welt, die Marx im Kapital beschreibt, ist keine durchsichtige Welt der Interessen und der Zweckrationalitäten, sondern eine Welt voller wundersamer Verwandlungen und Metamorphosen, die dem aufklärerischen Blick wie eine Theaterbühne erscheint, auf der verstellte und maskierte Mächte auftreten, mit der Absicht, den Betrachter zu täuschen. Die Gleichheit, die hinter dem Tauschvorgang steht und die in den unterschiedlichsten Ökonomien von der Sklavenarbeit bis zur Kapitalwirtschaft permanent entstellt wird, ist für Marx die Gleichheit der Menschen, die Gleichheit ihrer Anstrengungen und ihrer lebendigen Arbeit, die Verausgabung zum Beispiel, die für das Pflücken von Birnen oder Äpfel nötig ist. Wenn ein Ding je-

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doch zur Ware wird, verdoppelt es sich auf magische Weise und wird selbst zu einem magischen Ding, das nach Marx den »inneren Gegensatz« zwischen seinem Gebrauchswert und seinem Tauschwert »einhüllt« (MEW, Bd. 23: 75). Diese seltsame Magie, die es erlaubt, Äpfel mit Birnen zu vergleichen, Ungleichartiges gleich zu machen und gleiche Verausgabung ungleich zu tauschen, enthüllt also die Vorgänge der Ökonomie als ganz und gar irrationale Vorgänge, zumindest im Sinne einer von allen theologischen Dimensionen befreiten Rationalität, auf die sich die politische Ökonomie im allgemeinen beruft. Die berühmte Antwort, die Marx einige Abschnitte später auf dieses Problem gegeben hat, lautet: Fetischismus. Die Ware erscheint nun als ein »vertracktes Ding«, voller »theologischer Mucken« und »metaphysischer Spitzfindigkeiten« und keineswegs einfach nur als ein passives Objekt des Tauschs. Marx führt ein anschauliches Beispiel an: »Die Form des Holzes z.B. wird verändert, wenn man aus ihm einen Tisch macht. Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding«. Dieses magische Ding hüllt jedoch nicht nur einen Widerspruch ein, ihm scheint darüber hinaus auch eine Selbständigkeit innezuwohnen. Denn der Tisch »steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen anderen Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne« (MEW, Bd. 23: 85). Im Abschnitt Der Fetischcharakter der Waren und ihr Geheimnis beschreibt Marx die Welt der Waren als eine Welt eigenmächtiger Gespenster, selbständig gewordener Phantasmagorien und beseelter Dinge, die unter Umständen sogar sprechen können. Zumindest nimmt Marx das einmal polemisch an und lässt, die klassische Ökonomie parodierend, die Warenseelen folgendes berichten: »Könnten die Waren sprechen, so würden sie sagen, unser Gebrauchswert mag den Menschen interessieren. Er kommt uns nicht als Dingen zu. Was uns aber dinglich zukommt, ist unser Wert. Unser eigner Verkehr als Warendinge beweist das. Wir beziehen uns nur als Tauschwerte aufeinander.« (MEW, Bd. 23: 97)

Als sinnliche Dinge sind die Waren ordinär und haben lediglich einen Gebrauchswert für den Menschen. Als übersinnliche Dinge hingegen gehören sie einem eigenen sakralen Bereich an, der in sich abgeschlossen erscheint, und fungieren als Medien höherer Wesen, die für die Menschen selbst nicht sichtbar sind. Es gibt also einen ganzen Bereich der ökonomischen Welt, in dem die Dinge keineswegs sachlich und einfach zu gebrauchen sind, sondern belebt und eigenständig und sich als solche dem unmittelbaren Zugriff ent-

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ziehen. Dieser Bereich ist für Marx nun aber kein Spuk oder ein Zauber, den es auch noch gibt, zusätzlich zu einer reinen und bloßen Ökonomie der Interessen und Zwecke, sondern das Betriebsgeheimnis dieser Ökonomie selbst. Die Verdoppelung der Dinge in eine sinnliche und eine übersinnliche Seite nämlich ist das entscheidende Moment, mit dem sich ein ganzes Feld der Doppelgänger und wechselseitigen Spiegelungen in die ökonomische Struktur der Interessen und gegenseitigen Abhängigkeiten einschreibt. Da das magische Ding kein bloßer Gegenstand ist, sondern ein Medium, hält es etwas Abwesendes anwesend, das auf den ersten Blick nichts mit einer modernen Ökonomie des Mehrwerts zu tun hat. Dieses geheimnisvolle Abwesende aber ist nichts anderes als die Transzendenz einer politischen Theologie, die in der Spiegelung des Untertanen im König und des König im Untertanen gerade als ausgeschlossen erscheint. Indem Marx dieses Geheimnis den Fetischcharakter der Waren nennt, beschreibt er die moderne Welt der Kapitalökonomie zugleich als eine archaische Welt, als eine Welt der Zauberei, die von sakralen Objekten regiert wird, eine Welt niedrigster Religion. So zumindest hat Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte den Fetischismus des »Kinderlandes« Afrika auf eine äußerst geringschätzige Weise beschrieben: ein simpler Kinderglaube, der nichts anderes ausdrückt als die subjektive Willkür, der sowohl die Einsicht in die menschliche Abhängigkeit von der Natur fehlt als auch jegliche Vorstellung von einem absoluten Wesen (Hegel 1970: 120ff.). Der Fetischismus ist für Hegel daher die lächerliche Einbildung, der Natur Befehle geben zu können. Er ist die niedrigste Form der Religion, weil sich der Mensch darin nichts Dauerhaftes entgegensetzt und somit ebenso sein eigenes Wesen in der gleichen willkürlichen Weise begreift, so dass der Fetisch jederzeit wieder verworfen werden kann, wenn er nicht das erfüllt, was man von ihm erwartet hat. Angesichts dieser eindeutig abwertenden Beschreibung bei Hegel, die ihren aggressiv kolonialen Kontext nicht einmal zu verstecken versucht, eröffnet Marx mit der Wiederaufnahme eines Begriffs, der als Projektion der Kolonialherren auf die Kolonisierten seit der Aufklärung eine regelrechte Karriere zu verzeichnen hat (vgl. Kohl 2003: 69-115), selbst eine ganze Reihe von Projektionen und Spiegelungen. Der Begriff des Fetisch, der von der Aufklärung bis hin zur Psychoanalyse immer auch dazu dient, die Gefährlichkeit vielfältigster Formen des Aberglaubens aufzudecken, wird nun zur zentralen Beschreibungskategorie der modernen ökonomisch aufgeklärten Welt. Selbstverständlich geschieht das bei Marx in reflexiver und somit in kritischer Absicht, wenn die Welt der großen imperialen Industrien nun selbst als eine kolonisierte Welt erscheint. Aber auch wenn die Art und Weise, wie Marx das Geheimnis dieser inneren Kolonisierung enträtselt, selbst in der Tradition der Aufklärung steht und man deshalb meinen könnte, es ginge um einen übriggebliebenen Aberglauben oder um einen

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Aberglauben, der im Sinne Hegels aus den etwaigen Anfängen einer Menschheitsgeschichte zurückgekehrt wäre, so handelt es sich doch um ein Phänomen, das in dieser Form ein durch und durch gegenwärtiges ist und ins Zentrum der ökonomischen Welt führt, die Marx im Kapital analysiert. Nicht ohne Grund gehört der Abschnitt über den Fetischcharakter der Waren zu den meist zitierten, auch wenn die prominentesten Interpretationen, wie etwa die Kritik der Warenästhetik von Wolfgang Fritz Haug die theologische Dimension stets nur als eine Dimension des falschen Scheins behandelt haben, als eine moderne »Illusionsindustrie« (Haug 1971: 17), die längst das gesellschaftliche Sein dominiere, also ganz in der Tradition der Junghegelianer. Dass Marx zur Beschreibung dieses Phänomens jedoch einen Begriff gebraucht, der aus der konfliktreichen Sphäre der Kolonialisierung stammt und der gerade aufgrund seiner historischen Ambivalenz von Selbst- und Fremdbeschreibung zur ebenso ambivalenten Selbstbeschreibung dienen kann, macht vielmehr deutlich, dass es sich bei diesem Phänomen weder um eine bloße Täuschung oder um eine gezielte Manipulation handelt, um einen Priestertrug also, noch um eine einfache Dialektik von Sein und Schein, sondern um ein komplexes Verschlingen zweier Strukturen, die sich in der Geschichte als politische Ökonomie und politische Theologie gegenübertreten. Denn die höheren Wesen, die im Medium der Ware erscheinen, sind nach Marx nichts anderes als die Gesellschaft, die sich tatsächlich niemals als solche zeigt und die noch niemand gesehen hat. Diese unsichtbare Gesellschaft ist das fehlende Dritte, das den König und den Untertanen im selben Moment gleich und ungleich macht und das in jedem Moment der modernen Ökonomie zugleich anwesend und abwesend ist. Denn das Geheimnisvolle der Warenform besteht darin, »daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen« (MEW, Bd. 23: 86).

Die Menschen können sich also nur deshalb in den magischen Dingen spiegeln, weil sie in der Kapitalwirtschaft selbst zu Dingen geworden sind, die ebenso wie Waren zirkulieren, gekauft und verkauft werden. Das heißt, die magischen Dinge beziehen sich nicht nur auf sich selbst und zeigen sich darin als Fetische, die mit einer eigenen medialen Macht ausgestattet sind, sondern die Menschen sind ebenso in diesen Kreislauf auf eine Weise einbezogen, nämlich in Form von Dingen, und dazu noch als profane Dinge, so dass sie offensichtlich nicht die Macht haben, den Fetisch zu verwerfen. Diese Verkehrung, die zumindest im Hinblick auf ein Subjekt, das sich über seine Herr-

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schaft einem Objekt gegenüber konstituiert, als Verkehrung erscheint, ist vor allem unter dem Stichwort der Verdinglichung von Georg Lukács in seiner Aufsatzsammlung Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik (1923) ins Zentrum der Marxinterpretation gestellt worden, eines der in diesem Zusammenhang einflussreichsten Bücher, das die gesamte Marxrezeption und besonders die der Frankfurter Schule geprägt hat (vgl. Nemitz 1979). Demnach werden die Menschen von ihrer eigenen Produktionsweise und ihren eigenen Produkten derart kolonisiert, dass sie zwangsläufig auch über ihre eigenen Lebensverhältnisse ein »notwendig falsches Bewußtsein« haben müssen. Die falschen gesellschaftlichen Verhältnisse reproduzieren sich ebenso in denen, die diese Verhältnisse eigentlich produzieren, so dass sich diese Falschheit in jedem einzelnen gesellschaftlichen Moment ausdrückt und die lebendige Arbeit und ihr Arbeitsprodukt in »eine gesellschaftliche Hieroglyphe« verwandelt wird, wie Marx sagt (MEW, Bd. 23: 88). Das entscheidende und zugleich schwer zu erklärende Moment dieses gesamten Komplexes der verkehrten, verzerrten und verrückten Verhältnisse ist jedoch die Erscheinungsweise jener höheren Wesen, also der unsichtbaren Gesellschaft, ausschließlich im Medium des Spiegels. Denn das Medium des Spiegels und seine vielfältigen Formen der Verdoppelung und der Doppelgängerei scheint das systematische Quidproquo zu sein, das aus der modernen Welt der Kapitalwirtschaft jenen archaischen Kontinent außerhalb der Geschichte macht, den Hegel als das imaginäre Afrika der Kolonialherren beschrieben hat. Die Verdoppelung der Waren verdoppelt nämlich nicht nur die Verhältnisse der Menschen untereinander, sondern verleiht der gesamten Gesellschaft einen gespenstisch medialen Doppelcharakter, der es unmöglich macht, diese Gesellschaft allein aus ihren Interessen und Zwecken heraus zu begreifen. Für Marx ist die theologische Dimension der Waren ein unmittelbarer Effekt der politischen Bedingungen, unter denen die Kapitalwirtschaft den Verkehr zwischen den Menschen, den Dingen, den Tieren und der gesamten Natur dominiert. Demgemäß würde dieser Effekt dann verschwinden, wenn sich diese Bedingungen zugunsten einer durchsichtigen Zirkulation verändert haben und wenn an die Stelle der »Gesamtmetamorphose« von Dingen und Menschen ein »Verein freier Menschen« getreten ist. Im Anschluss an die Fetisch-Analyse bei Marx hat Walter Benjamin in seinem Passagen-Werk daher versucht, die Kapitalwirtschaft insgesamt als eine kultische Religion zu beschreiben, mit modernen Tempeln, Wallfahrtsstätten, Heiligenbildern, mit einem untilgbaren Schuldzusammenhang und mit einem entsprechenden Opferritus. Diese Perspektive auf die kultische Dimension der Kapitalwirtschaft hat Norbert Bolz gerade so gewendet, dass der Fetischcharakter der Waren die eigentliche »Kulturleistung« des Kapitalismus darstelle, die eben nicht nach dem Schema der Säkularisierung verstanden werden kann, son-

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dern eine originäre religiöse Form des »Geldzaubers« hervorbringt. Dabei wird der persönliche Gott nicht bloß durch das unpersönliche Geld ersetzt, sondern tatsächlich überboten, indem die Verselbständigung und der Abstraktionsgrad des Geldes ein Medium schafft, von dem eine »wohltuende Neutralisierung« ausgeht (Bolz 2002: 76). Aber das heißt letztlich nichts anderes, als die kritischen Themen der Entfremdung, der Verdinglichung und der Verselbständigung umzukehren und positiv zu besetzen. Und auch wenn sich das im ersten Moment provokativ anhören mag, führt Bolz damit lediglich eine soziologische Tradition fort, die man mit Max Weber, Talcott Parsons und Niklas Luhmann benennen kann und die in den unterschiedlichsten Formen der symbolischen Generalisierung im Wesentlichen eine Funktion sozialer Entlastung sieht und zwar vor allem eine Entlastung von sozialen Konflikten. Dass für diese Formen der symbolischen Generalisierung das Medium Geld das paradigmatische Beispiel schlechthin darstellt (vgl. Hörisch 2004: 108-117), führt noch einmal vor Augen, wie grundsätzlich das Problem ist, das Marx als Fetischcharakter der Waren aufgeworfen hat. In seinem für die oben genannte Tradition grundlegenden Werk Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904) hat Max Weber die These aufgestellt, dass die historische Entwicklung der Kapitalwirtschaft nicht nur von bestimmten religiösen Bedingungen wie der protestantischen Prädestinationslehre abhängig ist, sondern dass sich darüber hinaus solche religiöse Formen, wenn auch von authentischer Spiritualität abgetrennt, als unverzichtbar für das Funktionieren eben jener modernen Gesellschaft erweisen, die sich selbst als unabhängig von allen theologischen Ordnungsvorstellungen begreift. Jenseits davon, ob man Webers Thesen und ihre Weiterentwicklung bei Parsons und Luhmann nun als Ergänzung zur Gesellschaftsanalyse bei Marx liest oder im Detail auch als Gegenthesen, besteht die überraschende Einigkeit dieser Analysen doch darin, dass auch in einer ökonomisch aufgeklärten Gesellschaft religiöse Formen keineswegs verschwinden, sondern dass es nach wie vor konstitutive Formen einer politisch äußerst wirksamen Theologie gibt, selbst wenn sie unter einem so neutralen Begriff wie dem der symbolischen Generalisierung verhandelt werden und zum bevorzugten Gegenstand einer Medienwissenschaft geworden sind, die deshalb immer auch eine Wissenschaft vom okkultistischen Medium sein wird. Die Gespenster der Vergangenheit, die »umgekehrten Schlemihle« (MEW, Bd. 8: 136), wird man offensichtlich nicht so leicht los. Im Gegenteil, gerade dann, wenn man mit aller Anstrengung versucht sie einzufangen, etwa nach der »Strategie einer Hetzjagd«, die Jacques Derrida in seiner Analyse des Gespensterdiskurses bei Marx rekonstruiert hat (Derrida 2004: 173), wenn man sie also einzukreisen und schließlich zu stellen versucht, genau in diesem Moment läuft man Gefahr, sich tatsächlich an ihrer Reproduktion zu beteiligen und sie am Ende vielleicht sogar noch zu vervielfältigen, indem der Geist, den man den Geis-

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tern meint entgegenzuhalten, von eben diesen Geistern bis zur Ununterscheidbarkeit heimgesucht wird. Möglicher Weise ist es aber genau diese »Hetzjagd«, also die Art und Weise der Gespensteraustreibung, über die sich moderne Gesellschaften konstituieren, die zur Erklärung der gespenstischen Verdoppelung dieser Gesellschaften beitragen kann. In seiner folgenreichen Studie The King’s Two Bodies (1957) hat Ernst Kantorowicz die Entwicklung der politischen Theologie des Mittelalters aus der christologischen Doppelnatur des Mensch gewordenen Gottes rekonstruiert. Aus der Vorstellung einer gemischten Person Christi, nämlich zugleich Gott und Mensch zu sein, hat sich über einen langen Zeitraum hinweg die juristische Fiktion vom doppelten Körpers des Königs herausgebildet, der zugleich einen natürlichen und das heißt sterblichen Körper und einen übernatürlichen und das heißt ewigen Körper besitzt. Diese Fiktion regelt einerseits die Ewigkeit des Königs im Sinne eines politischen Körpers und zugleich die begrenzte Zeit eines jeden Amtsinhabers, der sterben kann, ohne dass der politische Körper ebenfalls stirbt. Denn während der himmlische König ewig König sein wird und immer schon war, kann die jeweilige irdische Stellvertreterschafft nur von begrenzter Dauer sein, auch wenn sie als Stellvertreterschafft selbst wiederum unsterblich ist. Jeder König ist insofern nur ein interrex des himmlischen Königs und in diesem Sinne nur ein König von Gottes Gnaden, so dass sich etwa auch die paradoxe Situation ergeben kann, dass man um des Königs willen gegen den König sein kann. In medialer Hinsicht ist die Lehre von den zwei Körpern des Königs dann besonders interessant, wenn sie dazu beiträgt, die instabile Phase des interregnum zu bewältigen. Um die Unterscheidung zwischen den beiden Körpern über diese Phase aufrecht zu erhalten, musste sich der faktische Körper des Königs tatsächlich verdoppeln und zwar in einen natürlichen und in ein bildliches oder figurales Double aus Wachs, Holz oder Leder, dessen separate Bestattung die Königswürde im gleichen Moment von diesem König löst und weitergibt. Auf diese Weise stirbt und lebt der König zugleich. Solche doppelten Bestattungsrituale sind inzwischen auch kulturkomparatistisch untersucht worden und scheinen ganz allgemein eine Antwort auf das Problem zu geben, wie der politische Körper den natürlichen Körper überdauern kann (vgl. Schnepel 1995). Nun könnte man meinen, die gespenstische Verdoppelung der Gesellschaft bei Marx sei eine späte Nachfolge eben jener zwei Körper des Königs, eine Art Restbestand der politischer Theologie, die sich auf irgendeine Weise selbst unter den Bedingungen einer modernen Gesellschaft erhalten hat. Die Beschreibung der Waren als Fetische scheint dies nahe zu legen, da der Begriff des Fetisch einerseits eine Allmächtigkeit suggeriert und andererseits damit ein Kinderglaube assoziiert wird, der aus einer vergangenen Zeit herrührt. In diese Richtung weisen auch noch Adornos Analysen der Kulturindustrie, die sich immer wieder an der Frage abgearbeitet haben, wie es sein kann, dass

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der Schein zugleich »allmächtig« und im Grunde genommen doch »nichtig« ist, so dass es eigentlich »nur einer geringen Anstrengung« bedürfe, um diesen Schein »von sich zu werfen« (Adorno 1972: 477). Nicht nur in diesem Punkt unterscheidet sich der moderne Fetischismus grundsätzlich von seinem religiösen Namensgeber. Während Hegel den afrikanischen Fetischismus so verstanden hat, dass sich darin ein Allmachtsglaube ausdrückt, der an ein Ding delegiert wird, ohne dass diese Delegation durchschaut wird, scheint der moderne Fetischismus gerade aufgrund seiner Durchsichtigkeit allen Versuchen der Entzauberung gegenüber so resistent zu sein. Auch bei der medialen Verdoppelung des Königs in einen sterblichen und in einen unsterblichen Körper handelt es sich um eine Delegation einer Allmächtigkeit an einen Agenten wie zum Beispiel die Krone, selbst wenn der absolutistische Königsglaube, der sich in der politischen Theologie des Spätmittelalters entwickelt hat, schon alle Züge eines transzendenten Glaubens verloren zu haben scheint. Spätestens seit der Englischen Revolution jedoch kann man eine ganze Reihe von komplizierten Techniken der Geisteraustreibung beobachten, bei denen es darum geht, genau jene Transzendenz, die in den zwei Körpern des Königs so überaus wirkmächtig geblieben ist, endgültig zu tilgen. Aber die zahlreichen Rituale der Entzauberung, der Machtentkleidung, der Degradierung und der Enthauptung des Königs, scheinen den zweiten Körper des Königs, den politischen Körper der Ewigkeit, keineswegs zum Verschwinden gebracht zu haben, sondern vielmehr in unzählige Teile zerteilt und verstreut. Wie ein Widergänger sucht er seitdem diejenigen heim, die darin nur einen Kinderglauben vermuten, wenn auch einen äußerst hartnäckigen. Ein politischer Körper, handelt es sich nun um ein Volk, eine Stadt oder eine andere Art von Körperschaft, so Papst Innozenz IV. auf dem Konzil von Lyon im Jahr 1245, kann nicht exkommuniziert werden, weil eine solche universitas zwar wie eine Person aufgefasst werden muss, allerdings wie eine Person ohne Körper und ohne Seele (vgl. Kantorowicz 1990: 309). Und was keine Seele hat, kann auch nicht verdammt werden, sowenig wie etwas enthauptet werden kann, das keinen Körper hat. Medien, die sich wie Dinge oder wie Personen verhalten und die sich dementsprechend auch als Dinge oder Personen beschreiben und ansprechen lassen, gehorchen jedoch offensichtlich einer Logik, die weder in einer Interaktion zwischen Personen, noch in einem Verhältnis zwischen einem Subjekt und einem Objekt aufgeht. Das mediale Verhältnis von Anwesenheit und Abwesenheit ist nicht bloß ein Verhältnis zu einem abwesenden und im Medium repräsentierten Ding oder eine Kommunikation zwischen abwesenden Personen, sondern selbst ein transzendentes Verhältnis, bei dem die andere Seite des Verhältnisses auf eine bestimmte Weise unbestimmt bleiben muss. Eine solche mediale Logik ist daher eng mit der Art und Weise verknüpft, wie die Grenze der Transzendenz eine Gesell-

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schaft konstituiert und formt, also mit dem Verhältnis dieser Gesellschaft zum Jenseits, zu ihren Toten oder ganz allgemein zum Tod selbst. Die »Gesamtmetamorphose« zwischen Dingen und Personen, ihre Verdoppelung und Fetischisierung, die Marx beschrieben hat, bedeutet im Vergleich zu religiösen Gesellschaften, dass der sakrale Bereich eine ungeheure Ausweitung erfahren hat. Es gibt keinen klar abgegrenzten Bereich des Sakralen, den der Warenfetisch beschreiben würde, insofern der Markt beinahe alle Bereiche des profanen Lebens durchdrungen hat. Zwischen dem profanen Bereich der Gebrauchsgegenstände und ihrer sakralen Verdoppelung besteht kein Unterschied in den Dingen selbst. Jedes profane Ding kann zum Fetisch werden, sobald es als Ware in den Kreislauf der heiligen Güter eintritt. Es gibt keine sakralen Dinge, die dem profanen Bereich entzogen und ausschließlich einer Kulthandlung vorbehalten wären. Alles kann zum Fetisch werden, und darüber hinaus gibt es eine drastische Multiplikation an Fetischen, eine unüberschaubare Anzahl von sakralen Dingen, während sich der Glaube an diese Fetische selbst nicht einmal mehr als Glaube versteht (vgl. Apter/Pietz 1993). So wie der sakrale Bereich entgrenzt ist, scheint auch die mediale Verdoppelung selbst eine deutliche Ausweitung erfahren zu haben. Der Untertan steht nicht mehr einem ewigen Körper des Königs gegenüber, sondern spiegelt sich selbst in den sakralen Objekten. Der Ort der Verdoppelung geht nicht mehr von einem sakralen Bereich aus, der als transzendenter dem Bereich des Profanen entzogen ist und gerade deshalb eine politisch wirksame Theologie der Herrschaft entfalten kann. Vielmehr geht die Verdoppelung vom Untertanen selbst aus, und zwar nicht weil die sakralen Objekte aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einem geheiligten Bereich sakral sind, sondern weil sich der Untertan darin spiegeln kann und sie deswegen als sakral erscheinen. Die Verdoppelung findet sich also nicht mehr auf der Seite einer zwillingsartigen oder gespiegelten Königsfigur, sondern auf der Seite des Untertanen, der sich selbst transzendent geworden ist. Die zeitliche und räumliche Transzendenz, die im zweiten und ewigen Körper des Königs anschaulich wurde, ist nun zur Transzendenz des Untertanen geworden. Der König ist im Untertanen inkorporiert und der Untertan im König. Die Antwort, die man von Vico bis Freud auf diesen neuen und schwer zu fassenden Problemkomplex finden kann, lautet: Projektion. Der Untertan sieht sich gewissermaßen selbst immer als König, er sieht sich zentriert und mächtig, während er tatsächlich dezentriert und ohnmächtig ist. Das moderne Ich ist Jacques Lacan zufolge auf einer »fiktiven Linie« situiert, die das »Individuum allein nie mehr auslöschen kann« und die »seine Nichtübereinstimmung mit der eigenen Realität« in Szene setzt (Lacan 1973: 64). Es ist also nicht mehr der König, der als medialer und ewiger Körper des Politischen dem Untertan gegenübertritt, sondern es ist der Untertan, der sich verdoppelt hat und sich

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selbst in dieser medialen Doppelung als imaginärer König gegenübersteht. Louis Althusser hat aus dieser Spiegelbildlichkeit eine allgemeine Theorie der Ideologie entwickelt, bei der an die zentrale Stelle des Königsglaubens das Unbewusste im Sinne von Freud getreten ist. Demnach repräsentiert die Ideologie »das imaginäre Verhältnis der Individuen zu ihren realen Existenzbedingungen« (Althusser 1977: 133). Der Junge sieht sich im Vater, der Schüler im Lehrer, der Angestellte im Chef. Es gibt Angestellte, weil es einen Chef gibt, und es gibt einen Chef, weil es Angestellte gibt. Die sozialen Hierarchien reproduzieren sich entlang einer Kette von Spiegelungen des Imaginären, die sich alle um einen Herrensignifikanten anordnen, so dass, wie zwischen dem König und dem Untertanen, ein mediales Reflexionsverhältnis entsteht, das beide im selben Moment als gleich und ungleich erscheinen lässt (vgl. Pfaller 1997). Der doppelte Körper des Untertanen ist folglich nichts anderes als das uneinholbare Begehren, selbst an die Stelle des Königs treten zu wollen. Uneinholbar ist dieses Begehren insofern, als ihm paradoxer Weise die Entzauberung und Entmachtung des Königs vorausgeht, auf dessen leere Stelle es sich bezieht. Der König, um den sich die Spiegelungen nun anordnen, ist nicht mehr der politische Körper der Ewigkeit, sondern der verjagte, vertriebene oder getötete König. Es handelt sich folglich nicht einfach um eine Substitutionen des zweiten Körpers des Königs, zum Beispiel durch nationale oder andere kollektive Symboliken, sondern das, was den Königskörper substituiert, impliziert zugleich eine Negation dieses Körpers, seine Vertilgung und seine Austreibung. Am besten lässt sich dies an der Psychoanalyse selbst verdeutlichen, die als Theorie und als Praxis ihre unendliche Arbeit einerseits erst im Moment des Todes oder der Abwesenheit einer übermächtigen Vaterfigur aufnehmen kann und anderseits in der therapeutischen Wiederholung die unendliche Reproduktion dieser Vaterfigur betreiben muss. Nicht zufällig hat Freud selbst die Psychoanalyse in seiner Schrift Totem und Tabu (1912/13) in die Tradition der Gesellschaftsverträge eingeschrieben, die in diesem Fall mit einem Vatermord beginnt und mit einem Vertrag der Söhne endet, die sich auf eine Weise um das Grab des Vaters versammeln, dass zugleich der Mord in Erinnerung bleibt und durch das Verbot, selbst die Stelle des Vaters einzunehmen, eine Aussöhnung mit dem getöteten Vater möglich ist. Die Instanz, die den zukünftigen Frieden sichern soll, beruht nun nicht mehr auf der Ewigkeit eines unsterblichen politischen Körpers, sondern im Gegenteil auf einer spezifischen Negation dieses Körpers. Der Vatermord stellt dabei ein unhintergehbares und zeitlich absolut vorgängiges Ereignis dar, das nicht einmal mehr stattfinden muss, um die Konstitution des neuen politischen Körpers zu beherrschen. In diesem Sinne stellt die Psychoanalyse auf hervorragende Weise genau jene »Hetzjagd« dar, von der Derrida gesprochen hat, und praktiziert eine Gespensteraustreibung, die auf Verdacht, Kritik und Wissen be-

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ruht, kurzum bei der das Durchsichtigwerden der Verhältnisse zur zentralen Voraussetzung für der Reproduktion der Symbole der Ewigkeit geworden ist. Denn es ist gerade das Wissen um ihre Tat, das die Söhne an den Vertrag bindet. Es gibt kein sichereres Mittel, als den König auf Dauer zu stellen, indem er fortwährend getötet wird. Anders ausgedrückt, es ist das moderne Verfahren der Kritik selbst, das die Maschinerie der Fetischproduktion antreibt. Im Unterschied zum Königsglauben kann dieser Glaube nicht als Glaube entlarvt werden, weil es sich im Kern nicht um einen Glauben handelt. Die Formen der Ewigkeit, die auf diese Weise zustande kommen und die in der marxistischen Ideologiekritik so intensiv auf ihren Beitrag zur Reproduktion der Produktionsverhältnisse hin untersucht worden sind, gehorchen darum einer vollkommen anderen Logik als der eines überzeitlichen Königskörpers. Denn sie basieren im Wesentlichen auf einem Ikonoklasmus, auf einer stets zu vollziehenden Austreibung, ohne dabei auf das Bild des Königs, auf seine imaginäre Beschwörung verzichten zu können. Diese doppelte Geste eines sich selbst durchstreichenden Präsentismus findet man auch in dem, was die Systemtheorie unter symbolischer Generalisierung versteht, deren Leistung schließlich darin besteht, eine heterogene Menge an Elementen operativ handhabbar zu machen und das heißt zu vereinheitlichen, ohne jedoch die Vielheit unter eine höhere Einheit zu subsumieren. Symbole stellen daher für Luhmann einerseits im Unterschied zum Verweischarakter von Zeichen genau das dar, was sie sind, nämlich die volle und konkrete Präsenz eines singulären und unwiederholbaren Gegenstands. Andererseits implizieren symbolische Generalisierungen zugleich ein ikonoklastisches Moment der »Selbstabstraktion« und der »Selbstreduktion«, so dass sie auf eine äußerst flexible Weise letztendlich doch wiederholbar sind oder, um es systemtheoretisch auszudrücken, eine hohe Anschlussfähigkeit garantieren (vgl. Luhmann 1987: 135-141). Man sieht, dass in dieser Definition des Symbols die gesamte Diskussion dessen enthalten ist, was seit dem 18. Jahrhundert unter einer ästhetischen Einheit verstanden wird (vgl. Scholz 2004). Entscheidend in diesem Zusammenhang ist jedoch der Umstand, dass die neuen Symbole der Ewigkeit, die modernen Fetische, ganz und gar in der Zeit existieren und dass an die Stelle einer die Zeit überdauernden Verdoppelung ein Verfahren getreten ist, diese Verdoppelung historisch zu erzeugen und auch historisch wirksam werden zu lassen. Marx hat mehrfach den paradoxen Umstand betont, dass eine Industriegesellschaft wie die des 19. Jahrhunderts einerseits ein äußerst genaues Wissen um ihre historische Gewordenheit und ihre revolutionären Voraussetzungen hat und sich andererseits als ewig, als naturhaft und in diesem Sinne als unhistorisch und unvergänglich empfindet. Zumal es die ungeheure Expansion der ökonomischen Macht war, die fast alle traditionellen Systeme der Herrschaft und ihre politischen Theologien der Ewigkeit beseitigt hat,

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eine historische Entwicklung, die Marx wie viele andere als Modernisierung verstanden und analysiert hat. Was bedeutet es dann, dass diese ökonomische Macht, die letztlich zu jedem Souverän und seinem Körper der Ewigkeit in Konkurrenz getreten ist, selbst Formen der Ewigkeit produziert? Es ist die gleiche ökonomische Macht, die den doppelten Körper ausgetrieben hat und als modernen Fetisch hervorbringt, die den Gesellschaftskörper von aller Transzendenz reinigt und zugleich eine Unmenge von Fetischen hervorbringt und zwar nicht im Sinne eines religiösen Ausdrucks ihrer eigenen Struktur, sondern als historische Bewegung dieser Austreibung selbst. Die politische Ökonomie nimmt nicht den Platz der politischen Theologie ein, sie bringt keinen ökonomischen Souverän hervor, sondern setzt sich immer wieder an deren Stelle, ohne diese Stelle einnehmen zu können. In der gleichzeitigen Unterschiedenheit und Ununterschiedenheit einer profanen sinnlichen Seite und einer sakralen übersinnlichen Seite des Dings vollzieht sich diese Bewegung des Verschlingens von politischer Theologie und Ökonomie. Man kann stets sagen, dass es sich nur um ein Ding handelt, dass dieses zum Fetisch gewordene Ding tatsächlich nur eine ordinäre Sache ist, oder im Falle des Geldes etwa, dass es sich lediglich um ein Symbol handelt und keineswegs um ein magisches Objekt. Man kann der Meinung sein, das magische Objekt durchschaut zu haben und alles andere sei reine Einbildung. Aber genau diese Geste, mit der man die Gespenster von den Dingen zu trennen versucht, scheint jedoch das zentrale Moment der modernen Fetischproduktion zu sein. W. J. Thomas Mitchell hat daher vorgeschlagen, den modernen Fetisch vom traditionellen durch ein doppeltes Vergessen zu unterscheiden. Während beim traditionellen Fetisch lediglich die Delegation der Allmacht an den Fetisch vergessen wird, um an eben diesen Fetisch glauben zu können, bezieht sich das zweite Vergessen beim modernen Fetisch darauf, dass es sich überhaupt um einen Fetisch handelt: »The deepest magic of the commodity fetish is its denial that there is anything magical about it […]« (Mitchell 1987: 193). Genauer aber müsste man sagen, dass es sich bei diesem zweiten Vergessen eigentlich um ein Wissen handelt, nämlich um die Funktionsweise des traditionellen Fetischs. Der moderne Fetisch setzt immer schon das Durchschauen des traditionellen Fetisch voraus. Denn erst das Wissen darum, dass der Fetisch seine Macht nur aufgrund einer Delegation erhalten hat, macht es möglich, in dem Fetisch zugleich wieder nur ein ordinäres Ding zu sehen. Man muss außerhalb des Glaubens sein, um an den modernen Fetisch glauben zu können, der immer schon auf dem Weg ist, sich über sich selbst aufzuklären. Erst diese paradoxe Beobachterposition macht es schließlich auch der Marx’schen Fetisch-Analyse möglich, in dem »mystischen Nebelschleier« religiöser Formen nur einen »religiösen Widerschein der wirklichen Welt« zu sehen (MEW, Bd. 23: 94; vgl. Post 1969: 78ff.). Es handelt sich gewissermaßen um eine Religion nach der Religion, die sich um den ausgelöschten Ort der

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Transzendenz anordnet. Denn der moderne Fetisch kann erst dann den Platz des traditionellen Fetisch einnehmen, wenn dieser keine theologischen Begründungsleistung mehr für die Politik der Gesellschaft erbringen kann. Insofern handelt es sich beim modernen Fetisch nicht einfach um eine weitere religiöse Gestalt, sei es eine Kultreligion oder ein Geldzauber, sondern um eine Negation von Religion überhaupt. Die moderne Form des Fetischglaubens besteht gewissermaßen darin, den traditionellen Fetisch unablässig zu beseitigen und dadurch eine Transzendenz zu erzeugen, die nicht stattfindet, ein Jenseits, von dem es kein Bild mehr gibt und das nur als Grenze existiert. Die Funktionsweise von modernen Medien basiert daher nicht darauf, sich selbst zu verschleiern und undurchsichtig zu machen, sondern im Gegenteil auf der Potenz, sich selbst fortwährend zu durchschauen. Im Unterschied zur Verdoppelung des Königskörpers gehorcht der doppelte Körper des Untertanen einer zeitlichen Logik der Selbstnegation. Während im zweiten Körper des Königs die Transzendenz als solche anschaulich werden muss, um wirksam werden und als gestaltgewordenes Jenseits die Immanenz der Gesellschaft beherrschen zu können, verdoppelt sich der Körper des Untertanen dadurch, dass er ausschließlich in der Negation der Transzendenz auf sich selbst zurückkommt. Und das heißt, dass er sich selbst negieren muss und sich somit zugleich immer wieder selbst transzendent wird. In beiden Fällen geht es um das Problem, wie eine Gesellschaft überhaupt auf sich zurückkommen kann, das heißt, auf welche Weise die Grenze der Transzendenz gezogen und die Immanenz einer Gesellschaft konstituiert werden kann. Der moderne Fetisch ist nichts anderes als die Gestalt dieses doppelten Zurückkommens auf sich selbst.

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➔ 4 Der doppelte Körper des Untertanen

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5 Hegels Begriff der Arbeit als medienphilosophische Grundlegung

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Niklas Hebing ➔ 5 Hegels Begriff der Arbeit als medienphilosophische Grundlegung

Niklas Hebing Warum ein Artikel über Hegels Begriff der Arbeit in einem medientheoretischen Handbuch zu Marx? Diese Frage muss einleitend nach zwei Gesichtspunkten beantwortet werden: Zum einen, was ist das medientheoretisch Interessante an Hegels Theorie, zum anderen, welche Relevanz besitzt diese wiederum für Marx’ Philosophie? Hegel liefert vornehmlich in seiner Phänomenologie des Geistes und, noch ausführlicher, in seiner Rechtsphilosophie eine medienphilosophische Grundlegung. Aus diesen Schriften kann eine basale Reflexion über das allgemeine Wesen des Mediums, bei Hegel das ›Mittel‹, in der modernen ökonomisch bestimmten Gesellschaft herausgearbeitet werden, die, das wird noch zu zeigen sein, ihre Erkenntnisse in erster Linie aus der Theorie um Hegels Arbeitsbegriff zieht. Dabei versteht Hegel jedes Mittel wiederum als Teil eines komplexen Systems von Mitteln, ohne dessen Berücksichtigung es in seinen allgemeinen Grundbestimmungen nicht erkannt werden kann. Jedes Mittel wird also erst durch die Analyse vor dem Hintergrund des ganzen Systems und dem damit verbundenen Wissen um seine Geschichtlichkeit und Abhängigkeit von der Arbeit und somit auch von anderen Mitteln erfasst. Für eine medienphilosophische Verortung von Marx können daraus wichtige Einsichten gewonnen werden. Dieter Henrich bemerkt in den sechziger Jahren, es sei »unmöglich, das Werk von Karl Marx zu verstehen, ohne sein Verhältnis zu Hegel zu bestimmen« (Henrich 1967: 187), und gibt damit einen Hinweis, der ebenso allbekannt wie entscheidend ist. Für eine umfassende Beschäftigung mit Marx wäre eine Auseinandersetzung mit Hegels Philosophie demnach notwendig; und gerade der Arbeitsbegriff ist ein wichtiger Anknüpfungspunkt für Marx. Als zentraler Aspekt der Hegel’schen Gesellschaftstheorie wird er von Marx rezipiert und kritisiert. Dazu schreibt Herbert Marcuse: »Innerhalb der Philosophie findet sich zum letztenmal im Werke Hegels eine radikale Besinnung auf das Wesen der Arbeit und seine Entfaltung bis in die konkreten Sphären des geschichtlichen Daseins. Sie wird auf breitester Basis aufgenommen und weitergeführt von Marx besonders in den Schriften der Jahre 1844-45; […].« (Marcuse 1978: 560)

Ohne weiter auf die Rezeption von Marx einzugehen oder gar einen Vergleich zwischen beiden sich oft so nahestehenden Philosophen zu versuchen, denn das wäre ein eigenes Arbeitsfeld, sei darauf hingewiesen, dass Marx Hegels Begriff der Arbeit zwar ausarbeitet und andere Konsequenzen aus ihm zieht,

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ihn in seinen Grundbestimmungen aber belässt. Als eine der Säulen der Hegel’schen Tradition baut er auf ihnen seine ökonomischen Reflexionen auf, so dass »Marx’ Bezugnahme auf Hegel [auf diesem begrifflichen Feld] fast durchweg analogisch« ist und von der »aus die idealistischen Vorzeichen Hegels umgekehrt werden können« (Arndt 1985: 43). Im Weiteren soll der Hegel’sche Arbeitsbegriff kurz in seinen unterschiedlichen Facetten aufgerissen und dargestellt werden, um daran anschließend den medienphilosophischen Ansatz herausarbeiten zu können. Arbeit als Bewältigung der Naturüberwältigung – Der Tod des Objekts Greift man einen Satz von Jürgen Habermas auf, ist für Hegel Arbeit in erster Linie Triebbefriedigung; und zwar solche, die den Geist von der Natur unterscheidet (vgl. Habermas 1968: 25). Will man diesen Gedanken explizieren, erscheint es sinnvoll, mit der Aufarbeitung der Abschnitte zur Arbeit in der Phänomenologie des Geistes zu beginnen. Mit der Einführung des Begriffs der ›Begierde‹ im Kapitel über das Selbstbewusstsein definiert Hegel ein triebhaft verankertes Vermögen in der menschlichen Natur, das dem Bewusstsein den Übergang zum Selbstbewusstsein ermöglicht. »Das Bewußtsein hat als Selbstbewußtsein nunmehr einen gedoppelten Gegenstand, den einen, den unmittelbaren, den Gegenstand der sinnlichen Gewißheit und des Wahrnehmens, […] und den zweiten, nämlich sich selbst […]« (PdG: 139). Empfindet der Mensch eine Begierde, so wird er sich seiner selbst bewusst, denn wie Alexandre Kojève diesen Begriff interpretiert, zeigt die Begierde »sich immer als meine Begierde, und um die Begierde zu offenbaren, muß man sich des Wortes ›ich‹ bedienen« (Kojève 1975: 54). Die Begierde erinnert das in der Wahrnehmung vom betrachteten Ding »absorbierte« (ebd.) Subjekt wieder an sich selbst. Das »Ding erscheint ihm als ein ›Objekt‹, ein Gegen-stand, eine äußere Wirklichkeit, die nicht in ihm ist«, die nicht es selbst ist, »sondern ein Nicht-Ich« (ebd.: 54f.) und es überwindet seine Selbstvergessenheit. Gleichzeitig zielt das Selbstbewusstsein durch die Begierde auf die Negation des Anderen; es, so schreibt Hegel, »vernichtet den selbständigen Gegenstand und gibt sich dadurch die Gewißheit, als solche, welche ihm selbst auf gegenständliche Weise geworden ist« (PdG: 143). Begierde zeigt also die Neigung, das Objekt, um es zu etwas Eigenem zu machen, tätig zu verändern, sich anzueignen. Das Subjekt muss das Andere vernichten, um sich selbst verwirklichen zu können: »Der Mensch ist nur insofern, als er wird; […] er ist Geschichte nur in der Tat und durch die Tat, die die Gegebenheit negiert, durch das Tun des Kampfes und der Arbeit« (Kojève 1975: 56). Obwohl der Mensch in der Arbeit also zu sich selbst kommt, ist es für den

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Fortgang der Entwicklung des Selbstbewusstseins entscheidend, dass er nicht der Objekt-Beziehung verhaftet bleibt, sondern diese zugunsten einer Beziehung auf eine andere Begierde überwindet; denn das »Selbstbewußtsein erreicht seine Befriedigung nur in einem anderen Selbstbewußtsein« (PdG: 144). Es ist weniger das bearbeitete, und somit in seiner Unmittelbarkeit negierte Objekt, an dem das Selbstbewusstsein ein Interesse hat, als vielmehr der Besitzanspruch auf dieses Ding. Um sich dieses sein Recht zu sichern, braucht das Selbstbewusstsein die Anerkennung eines anderen Selbstbewusstseins, was notwendigerweise in einen Konflikt führen muss. »Das Verhältnis beider Selbstbewußtsein[e] ist also so bestimmt, daß sie sich selbst und einander durch den Kampf auf Leben und Tod bewähren« (PdG: 148f.). Dieser Konflikt leitet schließlich zu Hegels berühmter Theorie von der gegenseitigen Anerkennung von Herrschaft und Knechtschaft über. Ob, wie Ludwig Siep meint, der Begriff des Anerkennens, als eine Form »des Verhaltens des Menschen zum anderen Menschen und zur Natur«, für Hegel tatsächlich im »modernen Recht […], der Moralität und der Religion« (Siep 2000: 98f.) verwirklicht ist oder nicht, wird bis heute diskutiert. Festzuhalten bleibt, dass sich Intersubjektivität, und in ihrer Konsequenz auch die Sittlichkeit, bei Hegel aus dem Begriff der Arbeit entwickeln. Die Problematik der Anerkennung spielt in seiner Rechtsphilosophie von 1821, die die vergesellschaftete Form der Arbeit weiter untersucht, wohl aufgrund der politischen Veränderungen in Deutschland keine besondere Rolle mehr; zumal man es bei der großen Rechtsphilosophie auch mit einer anderen philosophischen Konzeption und thematischen Gewichtung zu tun hat als bei der Phänomenologie.

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➔ 5 Hegels Begriff der Arbeit als medienphilosophische Grundlegung

Arbeit als Schlüsselbegriff des »Systems der Bedürfnisse« – Die Stiftung der Sittlichkeit Das Kapitel »Das System der Bedürfnisse«, welches im Teil über »Die bürgerliche Gesellschaft« der Grundlinien der Philosophie des Rechts zu finden ist, enthält Hegels Weiterführung seiner Theorie der Arbeit unter sozialtheoretischen bzw. politphilosophischen Vorzeichen sowie unter Einbeziehung des Begriffs des ›Mittels‹. Einleitend resümiert Hegel die Gedanken der Phänomenologie, die partiell Eingang in vorhergehende Teile der enzyklopädischen Systematik gefunden haben, sowie bestimmte Voraussetzungen der Geistphilosophie, indem er betont, dass der subjektive Geist sich in die Naturbedürfnisse entzweit und sich somit beschränkend bestimmt. Daran dialektisch anknüpfend, will er nun zeigen, wie der Geist diese Schranke »überwindet und darin sein objektives Dasein gewinnt« (GPR: 344). Es kommt darauf an, dass »die Natureinfalt […] weggearbeitet werde« (GPR: 344). Der sich in Allgemeinheit und Besonderheit, d.h. Willen und Bedürfnis, unterschiedene subjektive Geist findet seine Aufhebung im sich objektivierenden Subjekt.

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Das subjektive Bedürfnis muss sich Befriedigung verschaffen, jedoch nicht mehr in der unmittelbaren Weise der direkten Ablösung des Bedürfnisses durch die Befriedigung, was ein bloßes Naturverhältnis wäre, sondern in verstandesmäßiger Vermittlung, nämlich in der »Form der Allgemeinheit« (GPR: 344). Diese wird durch das sich gegenseitig bestimmende Verhältnis von Bildung und Arbeit gestiftet, wodurch schließlich die Befangenheit von Dominanz der Begierde und Befriedigungsprozess durchbrochen wird. »Die Bildung ist daher in ihrer absoluten Bestimmung die Befreiung und die Arbeit der höheren Befreiung, nämlich der absolute Durchgangspunkt zu der nicht mehr unmittelbaren, natürlichen, sondern geistigen, ebenso zur Gestalt der Allgemeinheit erhobenen unendlich subjektiven Substantialität der Sittlichkeit.« (GPR: 344f.)

Arbeit bildet; bildet zur Sittlichkeit heran. Umgekehrt ist Bildung aber auch Arbeit und Hegel sieht in ihr eine versittlichende Dynamik. Dadurch dass in einer gemeinschaftlich erwirtschaftenden Gesellschaft der Einzelne nicht allein für seine individuelle Triebbefriedigung arbeitet, sondern ebenso für die Bedürfnisse anderer, macht sich hier die Allgemeinheit geltend, als »Scheinen der Vernünftigkeit in diese Sphäre« (GPR: 346). Der systematische Charakter des Systems der Bedürfnisse liegt gerade darin, dass die »Vermittlung des Bedürfnisses und die Befriedigung des Einzelnen durch seine Arbeit und durch die Arbeit und Befriedigung der Bedürfnisse aller Übrigen« (GPR: 346) geschieht. Gleichzeitig ist mit dieser Versittlichung aber auch eine neue Abhängigkeit verbunden. Die arbeitenden Individuen werden zur Teilnahme am modernen marktökonomischen Prozess gezwungen, denn »die Tatsache, daß der Mensch mit durch menschliche Arbeit bereitgestellten Mitteln seine Bedürfnisse befriedigt, [garantiert] auch den Systemzusammenhang von Produktion und Konsumtion« (Schnädelbach 2000: 277). Verantwortlich dafür ist die »Teilung der Arbeiten« als Grundvoraussetzung gesellschaftlicher Produktion. Das »Arbeiten des Einzelnen wird durch die Teilung einfacher und hierdurch die Geschicklichkeit in seiner abstrakten Arbeit sowie die Menge seiner Produktionen größer« (GPR: 352). Somit gibt die Arbeitsteilung die Richtung der sich weiter ausprägenden Vergesellschaftung der Individuen als soziale Einheiten vor. In § 196 definiert Hegel in einer Kernpassage das Wesen der Arbeit. Dabei setzt er einen besonderen Akzent auf den vermittelnden Charakter seines Arbeitsbegriffs, indem er grundsätzlich die Arbeit als Mittel fasst, das aus sich selbst heraus wiederum eine unüberschaubare Zahl von spezifizierten Mitteln zur Befriedigung spezifizierter, neuer Bedürfnisse entlässt. »Die Vermittlung, den partikularisierten Bedürfnissen angemessene, ebenso partikula-

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risierte Mittel zu bereiten und zu erwerben, ist die Arbeit, welche das von der Natur unmittelbar gelieferte Material für diese vielfachen Zwecke durch die mannigfaltigsten Prozesse spezifiziert.« (GPR: 351)

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➔ 5 Hegels Begriff der Arbeit als medienphilosophische Grundlegung

Bedürfnis und Arbeit treiben ihr besonderndes Fortschreiten gegenseitig an. Das Bedürfnis verlangt nach Befriedigung durch die zwischen Bedürfnis und Befriedigung vermittelnde Arbeit, die, um dieser Forderung gerecht werden zu können, immer speziellere Mittel erarbeiten muss. So entwickelt die Arbeit durch ihre fortlaufende Verfeinerung, und vor allem ihre Möglichkeit, sich noch stärker zu verfeinern, auch neue, in höherem Maße verfeinerte Bedürfnisse, denen sie dann wiederum genügen muss. Das Resultat daraus ist sowohl »die Vervielfältigung der Bedürfnisse und Mittel« als auch die »Zerlegung und Unterscheidung des konkreten Bedürfnisses in einzelne Teile und Seiten, welche […] abstraktere Bedürfnisse werden« (GPR: 348). Durch diesen Prozess entfernt sich der Mensch stetig von seinen natürlichen Bedürfnissen und setzt an ihre Stelle selbst geschaffene, somit vernunftmäßig entstandene. Die Bedürfnisbefriedigung ist dabei eine »Befriedigung durch das Mittel« (GPR: 346). Der Mensch distanziert sich von der Natur und überwindet die Abhängigkeit von ihr zugunsten der Verwirklichung des Geistes und der eigenen »Befreiung, daß die strenge Naturnotwendigkeit des Bedürfnisses versteckt wird und der Mensch sich zu seiner, und zwar einer allgemeinen Meinung und einer nur selbstgemachten Notwendigkeit, statt nur zu äußerlicher, zu innerer Zufälligkeit, zur Willkür, verhält« (GPR: 350). Dieser nicht aufzuhaltende Bildungsprozess schafft ein komplexes und sich stetig verkomplizierendes System der Bedürfnisse und Mittel, dessen besondere Eigenschaften Hegel weiter ausführt. Arbeit bildet in theoretischer und praktischer Weise. Wie schon ausgeführt, erhält die »Natureinfalt« durch die Bildung der Arbeit »die Vernünftigkeit, der sie fähig ist, […] die Verständigkeit« (GPR: 344); allerdings nicht nur in den Verhältnissen zum Mittel und zu anderen Individuen, sondern auch in der Verstandeskultur und der Sprache (vgl. Schnädelbach 2000: 277). Durch die Arbeitsteilung und zahlreichen Abstraktionen im ökonomischen System, die einen immer höheren Grad an praktischer Bildung erfordern, entwickelt sich auch die theoretische Bildung, als »nicht nur eine Mannigfaltigkeit von Vorstellungen und Kenntnissen, sondern auch eine Beweglichkeit und Schnelligkeit des Vorstellens und des Übergehens von einer Vorstellung zur andern, das Fassen verwickelter und allgemeiner Beziehungen usf. – die Bildung des Verstandes überhaupt« (GPR: 352). Hegel sieht einen direkten Zusammenhang zwischen der neuzeitlichen Kultur des abstrakten Denkens und der arbeitsteiligen Marktökonomie. Hegel führt die Entwicklung der arbeitsteiligen Gesellschaft insgesamt also auf die abstrakte Arbeit zurück, »welche die Spezifizierung der Mittel

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und Bedürfnisse bewirkt, damit ebenso die Produktion spezifiziert« (GPR: 352), so dass man es beim System der Bedürfnisse nicht nur mit einem ideellen, sondern vor allem reellen Abstraktionsprozess zu tun hat. Die mit der Abstraktion der Mittel verbundene Abstraktion des Produktionsprozesses entwickelt sich zu einer immer komplexeren Mechanisierung und Automatisierung der Arbeit, so dass schließlich das arbeitende Subjekt überflüssig wird und ein abstraktes Mittel seinen Platz einnimmt, das dann die weiteren Mittel zur Bedürfnisbefriedigung produziert. »Die Abstraktion des Produzierens macht das Arbeiten ferner immer mehr mechanisch und damit am Ende fähig, daß der Mensch davon wegtreten und an seine Stelle die Maschine eintreten lassen kann« (GPR: 352f.). Die abstrakten Bedürfnisse erfordern abstrakte Mittel, so dass auch die Arbeit sich abstrahieren muss. Die Abstraktheit des Produktionsprozesses ist für Hegel jedoch nicht bloß die Wesenseigenschaft eines isolierten ökonomischen Bereichs in der bürgerlichen Gesellschaft, sondern schlägt sich auch in den sozialen Beziehungen ihrer Mitglieder nieder, so dass schließlich die »Abstraktion, die eine Qualität der Bedürfnisse und der Mittel« ist, »auch [zu] eine[r] Bestimmung der gegenseitigen Beziehung der Individuen aufeinander« (GPR: 349) wird. Die Menschen nehmen sich nicht mehr als Individuen, sondern als Zahnräder in der Produktion von Mitteln wahr. Es muss festgehalten werden, dass die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt den Trend der fortschreitend sich erhöhenden Abstrahierung zeigt, sowie »die unbestimmte Vervielfältigung und Spezifizierung der Bedürfnisse, Mittel und Genüsse, welche […] keine Grenzen hat« (GPR: 350f.) und die Hegel unter den Begriff Luxus fasst. Diesem Luxus steht, dialektisch gewendet, »eine ebenso unendliche Vermehrung der Abhängigkeit und Not«, resultierend aus den »äußeren Mitteln« (GPR: 350), gegenüber; eine Tatsache, die für Hegel den untrennbaren Zusammenhang von Luxus und Elend besiegelt. Gegen Ende des Kapitels über Die bürgerliche Gesellschaft präzisiert er diesen Gedanken und bindet ihn in seine Theorie der Arbeit ein. Hegel führt die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten auf die Form der Arbeit »der an diese Arbeit gebundenen Klasse« zurück. »Durch die Verallgemeinerung des Zusammenhangs der Menschen durch ihre Bedürfnisse und der Weisen, die Mittel für diese zu bereiten und herbeizubringen, vermehrt sich die Anhäufung der Reichtümer – denn aus dieser gedoppelten Allgemeinheit wird der größte Gewinn gezogen – auf der einen Seite, wie auf der andern Seite die Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit die Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundenen Klasse, womit die Unfähigkeit der Empfindung und des Genusses der weiteren Freiheiten und besonders der geistigen Vorteile der bürgerlichen Gesellschaft zusammenhängt.« (GPR: 389)

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Hegel macht die Entsprechung von ökonomischer Lage der Arbeiterklasse und ihrer Arbeitsweise deutlich. Die Vereinzelung des Arbeiters sowie sein beschränkter Wirkungsradius in der arbeitsteiligen Produktionsweise machen es ihm unmöglich, Herr seines produzierten Mittels zu sein und damit, sich des Objekts zu bemächtigen. Die Arbeit in der bürgerlichen Gesellschaft hat sich also für eine ganze Klasse dahingehend entwickelt, entgegen ihrer wesenhaften Eigenschaft der individuellen Befreiung und Sicherung der Bedürfnisbefriedigung einen Zustand der Unfreiheit bzw. des Elends geschaffen zu haben. Für die Gruppe der Individuen aus der Arbeiterklasse, die »unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise, die sich von selbst als die für ein Mitglied der Gesellschaft notwendige reguliert«, gefallen sind, gebraucht Hegel den, anders als heute, nicht negativ verwendeten Begriff des »Pöbels« (GPR: 389). Diese Masse wird durch das bürgerliche System immanent produziert und offenbart, wie Herbert Schnädelbach es formuliert, den »Widerspruch, zur bürgerlichen Gesellschaft zu gehören und zugleich von ihr ausgestoßen zu sein – ihren Anforderungen zu unterstehen und zugleich durch sie selbst jeder Chance beraubt zu sein« (Schnädelbach 2000: 292). Hegel hat, anders als Marx, jedoch immer noch geglaubt, die ökonomisch bedingten Widersprüche in der bürgerlichen Gesellschaft könnten durch Eingreifen des Staates negiert werden. Die aus den Schranken geratenen Marktkräfte werden bei ihm von den staatlichen Exekutiven Polizei – Hegel meint dabei vor allem eine Marktaufsicht bzw. eine sozialstaatliche Einrichtung zur Armenfürsorge – und Korporation – in etwa die Gewerkschaften – aufgefangen und besänftigt (vgl. GPR: 393).

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➔ 5 Hegels Begriff der Arbeit als medienphilosophische Grundlegung

Der medienphilosophische Ansatz in Hegels Theorie der Arbeit Zusammenfassend und auf den medienphilosophischen Ansatz hin zugespitzt lässt sich feststellen, dass die »unendlich mannigfachen Mittel und deren ebenso unendlich sich verschränkende Bewegung in der gegenseitigen Hervorbringung und Austauschung« als »der ganze Zusammenhang« (GPR: 354) ein System von Mitteln bilden. Hegel unternimmt eine großangelegte Herleitung dieses Systems. Er beginnt bei der subjektiven Begierde, die den Drang hat, sich das Objekt seinen Zwecken zunutze zu machen, indem es bearbeitet und somit negiert wird. Durch diese Arbeit erlangt das Subjekt die Selbstgewissheit und materielle Basis seiner lebensnotwendigen Bedürfnisbefriedigung, die es mit den Besitzansprüchen der anderen Subjekte abstimmen muss. Da dieses Verhältnis immer wieder zu Konflikten führt, entwickelt sich eine rechtlich gesicherte Gesellschaftsform, die sich, einmal aufgestellt, zu einem immer komplexeren Beziehungs- und Abhängigkeitsgeflecht entwickelt, und die dem Einzelnen in ihrer Idealform eine Grundlage der Freiheit verschaffen soll. Dabei fungiert die Arbeit als Mittel, indem sie sich pro-

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zessual von der Natur entfernend ein verstandesmäßig verfasstes System der Bedürfnisse schafft, und das in doppelter Hinsicht. Da man erkennt, dass durch die Arbeit anderer auch andere Bedürfnisse befriedigt werden können, gilt die Arbeit nicht mehr in erster Linie den eignen Bedürfnissen, sondern denen der anderen. Auf der einen Seite ist das System also eine vermittelnde Abstimmung der Bedürfnisse aller aufeinander, von der jeder abhängig ist. Auf der anderen Seite erarbeitet die gesellschaftliche Arbeit durch Arbeitsteilung in einem progressus ad infinitum neue, speziellere Mittel zur Befriedigung neuer, speziellerer Bedürfnisse, so dass immer vielfältigere und abstraktere Bedürfnisse und Mittel entstehen. Weil die Arbeit dialektisch immer einen sowohl praktischen als auch theoretischen Bildungsprozess auslöst, schlägt sich der Abstraktionsgrad der Arbeit auch in den Verhältnissen der Individuen zueinander nieder. Im letzten Schritt seiner Ausführung zeigt Hegel die immanent entstandenen Widersprüche des Systems der Bedürfnisse auf, die vor allem im separierenden Auseinanderklaffen von Luxus und Elend, der Unfreiheit der Arbeiterklasse und der die Gesellschaftsverhältnisse bestimmenden Entfesselung des Marktes bestehen, die Hegel aber insgesamt für beherrschbar hält. Im Hinblick auf die Verschränkung des Begriffs der ›Arbeit‹ mit dem Begriff des ›Mittels‹ kann Hegels Denkfigur darin gesehen werden, dass das System von Mitteln selbst ein Mittel ist, woraufhin vier Punkte bzw. methodologisch-historische Etappen eingeteilt werden können, die den medienphilosophischen Ansatz deutlich machen: Erstens ist Arbeit ein Mittel, das vom Menschen zur Bewältigung des Zwanges der Natur und der schrittweisen Realisierung von Freiheit und Gemeinschaftlichkeit eingesetzt wird; d.h. also ein Mittel für den Prozess der fortschreitenden menschlichen Kultivierung ist. Zweitens spaltet sich Arbeit als Mittel selber in eine Vielzahl von Mitteln auf, mit denen unterschiedliche Bedürfnisse befriedigt werden können, angefangen bei existenziellen Grundbedürfnissen bis hin zu Kultur- und Luxusbedürfnissen. Drittens können Mittel auch indirekte Mittel sein, z.B. Maschinen, die nicht direkt konsumierbar die Bedürfnisbefriedigung bedienen, sondern dieser wiederum weitere Mittel zuliefern. Ihr Abstraktionsgrad ist demnach noch höher. Viertens schlägt dieses System aber immer wieder in eine neue Abhängigkeit, Unfreiheit und Vereinzelung um, was in diametralem Gegensatz zur Richtung des eigentlichen Prozesses steht und vom System nicht mehr flächendeckend aufgefangen werden kann. Insgesamt stellt Hegel also für die Entwicklung des Systems der Mittel vier große Tendenzen fest: eine Vergrößerung der Distanz zur Natur, ein Fortschreiten der Vergesellschaftung und Zivilisierung, eine Differenzierung der Mittel und Bedürfnisse und eine Steigerung des Abstraktionsgrades, wobei Rückfallerscheinungen ständig auftreten können. Für Hegel müsste aufgrund seines systematischen Anspruches eine Einzeluntersuchung konkreter Me-

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dien, wie z.B. der Dampfmaschine oder der Filmkamera, ihre Ergebnisse wohl immer auch vor dem Hintergrund dieser Grundbestimmungen eines Mittels reflektieren. Denn jedes einzelne Medium hat, als durch Arbeit vermittelt entstanden und selber wiederum vermittelnd, somit eine historische Achse und einen fest zugewiesenen Platz im Gefüge des objektiven Geistes, was bei einer Analyse unter Bezug auf das System der Mittel beleuchtet werden kann. Bezogen auf eine Nutzbarmachung der Marx’schen Theorie für die Medienwissenschaft würde das bedeuten, dass eine Besinnung auf die philosophischen Wurzeln bei Hegel in stärker theoretisch ausgerichteten Fragestellungen fruchtbare Ergebnisse beisteuern kann. In welchem Grade Marx den Begriff des Mittels in seiner Auseinandersetzung mit Hegels Theorie der Arbeit stark macht und welche Auswirkungen die Kontur dieses Begriffs dann auf medienwissenschaftlich zu interpretierende Teile der Marx’schen Theorie hätte, wäre noch zu untersuchen.

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Arbeit

➔ 5 Hegels Begriff der Arbeit als medienphilosophische Grundlegung

Literatur GPR: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Werke in 20 Bänden (= Bd. 7). Redaktion: Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt/Main 1970. PdG: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes. Werke in zwanzig Bänden (= Bd. 3). Redaktion: Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt/Main 1970. Arndt, Andreas (1985): Karl Marx. Versuch über den Zusammenhang seiner Theorie, Bochum. Habermas, Jürgen (1968): »Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels Jenenser ›Philosophie des Geistes‹«. In: ders., Technik und Wissenschaft als »Ideologie«, Frankfurt/Main, S. 9-47. Henrich, Dieter (1967): »Karl Marx als Schüler Hegels«. In: ders., Hegel im Kontext, Frankfurt/Main, S. 187-207. Kojève, Alexandre (1975): Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens, hg. v. Iring Fetscher, Frankfurt/Main. Marcuse, Herbert (1978): »Über die philosophischen Grundlagen des wirtschaftswissenschaftlichen Arbeitsbegriffs«. In: ders., Schriften. Bd. 1, Frankfurt/Main, S. 556-594. Schnädelbach, Herbert (2000): Hegels praktische Philosophie, Frankfurt/Main. Siep, Ludwig (2000): Der Weg der Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/Main.

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Nadja Gernalzick Die tauschtheoretische Erklärung des Geldes bei Karl Marx ist eine von vielen Theorien der Geldentstehung und Geldfunktion. Fünf dieser konkurrierenden Theorien unterscheidet Otto Steiger (2004: 22)2 wie folgt: 1. Aristoteles: die antike Tauscherklärung des Geldes; Geld als Tauschmittel. 2. Adam Smith: die neuzeitliche Tauscherklärung des Geldes; Geld als Tauschmittel und Recheneinheit. 3. John Maynard Keynes: die Kontrakterklärung des Geldes; Geld als Rechengeld. 4. Bernhard Laum: die sakrale Erklärung des Geldes; Geld als Ersatz für Opfergaben. 5. Gunnar Heinsohn und Otto Steiger: die Eigentumserklärung des Geldes; Geld als Eigentumstitel. Jochen Hörisch verweist zudem auf die systemtheoretische Gelderklärung: 6. Niklas Luhmann: die Knappheitserklärung des Geldes; Geld als Tauschmittel und Eigentumstitel zur friedlichen Knappheitsbewältigung (vgl. Luhmann 1988: 251-257 und Hörisch 2004b: 109). Dazu gehört auch, dass Luhmann Geld mit dem Medienbegriff der Systemtheorie als »symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium« fasst (vgl. Luhmann 1988: 230ff.). Dabei schließen sich die genannten Ansätze zur Gelderklärung nicht gegenseitig aus, sondern überschneiden sich. Zugleich fassen sie alle das Geld konsekutiv bzw. erklären es als sekundär, repräsentativ und wirtschaftlichen oder sozialen Wertungs- und Organisationsprozessen nachfolgend. Ein anderes Verständnis dieser Situation und ihrer Prozesse liegt bei Jacques Derrida vor. Er entwickelt es im Anschluss an die Sprachphilosophie, die Linguistik und seine Theorie der Schrift: So wie in der Theorie des arbiträren Zeichens die Sprache als realitätskonstitutiv, konstruktiv und generativ angesehen wird, gilt auch das Geld in der Theorie der Dekonstruktion als konstitutiv3 und ebenso wie andere semiotische Markierungen als, im Sinne von Derridas Konzept der différance, differantiell; Zins erklärt sich als generativer Effekt der différance. Demnach wäre Derridas Position den genannten Theorien noch hinzuzufügen: 7. Jacques Derrida: die Zeiterklärung des Geldes; Geld und Zins als Markierung und Effekt von différance (vgl. Gernalzick 2000).4

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Der tauschtheoretische Ansatz zur Gelderklärung bei Marx geht wie auch die Geldtheorie bei Marx’ Vorläufer David Ricardo von der klassischen Ökonomie bei Adam Smith aus. Die objektive Arbeitswerttheorie, auf der die Gelderklärung bei Smith, Ricardo und Marx beruht, wird jedoch mit der Wende zum 20. Jahrhundert durch die subjektive Werttheorie abgelöst. Die Werttheorie selbst findet schließlich ihr Ende in der Preistheorie. Aus der Perspektive der Wirtschaftstheorie und der Geschichte der Geldtheorie muss somit gelten, dass die Werttheorie und die ihr nachgeordnete Gelderklärung bei Marx überholt sind. Die Marx’sche und andere klassische Geldtheorien erfahren durch John Maynard Keynes’ Kritik der Dichotomie von Wert- und Geldtheorie eine Historisierung. Ein kurzer Abriss der Wert- und Geldtheorie bei Marx, gefolgt von einer Skizze der vorausgehenden und späteren Positionen in der Geschichte der wirtschaftswissenschaftlichen Wert- und Geldtheorien soll im Folgenden die Marx’sche Werttheorie und ihr Verhältnis zur Geldtheorie im wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs über das Medium Geld lokalisieren. Darüber hinaus werden abschließend noch einige Positionen der zeitgenössischen medienwissenschaftlichen Theoretisierung des Geldes umrissen. Wert- und Geldtheorie bei Marx Die Geldtheorie, besser: Goldtheorie, von Marx schließt an die metallistische und repräsentationistische Theorie des Geldes bei Smith an: Gold ist Geld. Damit ist das Geld als Warengeld definiert, indem das Gold als eine unter anderen Waren »innerhalb der Warenwelt die Rolle des allgemeinen Äquivalents« (MEW, Bd. 23: 83) übernimmt: »Diesen bevorzugten Platz hat unter den Waren […] eine bestimmte Ware historisch erobert, das Gold« (ebd.: 8384). Durch den Warencharakter ist das Gold bei Marx an den Tauschwert und damit die Arbeitswerttheorie zurückgebunden; die Herleitung der Funktionen des Goldes als Geld erfolgt von der Arbeitskraft über die Ware, so dass die Marx’sche Gelderklärung eine konsekutive ist. Das Gold übernimmt nach Marx die Funktionen »Maß der Werte«, »Zirkulationsmittel« und schließlich auch »Geld« (ebd.: 109, 118, 143). Als Geld – nicht länger als nur eine besondere Ware unter anderen oder als Münze – führt das Gold nach Marx zur »Schatzbildung« (ebd.: 144) und fungiert – den »innern«, nationalen Währungen übergeordnet – als internationales »Weltgeld« (ebd.: 156): »Mit dem Austritt aus der innern Zirkulationssphäre streift das Geld die dort aufschießenden Lokalformen von Maßstab der Preise, Münze, Scheidemünze und Wertzeichen, wieder ab und fällt in die ursprüngliche Barrenform der edlen Metalle zurück. […] Erst auf dem Weltmarkt funktioniert das Geld in vollem Umfang als die Ware, deren Naturalform zugleich unmittelbar gesellschaftliche Verwirklichungsform der menschlichen Arbeit in abstracto ist. Seine Daseinsweise wird seinem Begriff adäquat.« (Ebd.: 156)

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Dieser Marx’sche Begriff vom globalen Geld ist also völlig an die metallistische Geldtheorie und die Vorstellung vom Edelmetallgeld gebunden. Ein solcher Ansatz ermöglicht es Marx, auch das Geld und damit den – in seinem Sinne – materiellen Träger des Kapitals an die Arbeitswerttheorie zurückzubinden. Auf diese Weise gelingt Marx die Konstruktion seiner gesamten Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie auf der Grundlage der Arbeit: »Für Marx ist die Arbeit der einzige wertbildende Faktor« (Stavenhagen 1951: 148). In der Geschichte der Werttheorie bleibt Marx daher, so Joseph A. Schumpeter, der einzige Werttheoretiker, der jemals die »Idee vom absoluten Wert der Dinge tatsächlich konsequent beibehielt« (1965: 729). Mit der objektiven und objektivierenden Arbeitswerttheorie stellt Marx der Relativität der Tauschwerte als absolutes Maß die Arbeit entgegen. Der subjektive Gebrauchswert der Ware fällt aus dem wirtschaftstheoretischen Interesse heraus, indem Marx von ihm ›abstrahiert‹, um den Tauschwert der Ware zu bestimmen. Nur der Tauschwert der Ware tritt nach Marx im wirtschaftlichen Ablauf als Wert in Erscheinung. Beide Werte entstehen zwar aus Arbeit, aber zum einen aus zweckbestimmter – konkreter –, zum anderen aus abstrakter Arbeit: »Die Nützlichkeit eines Dings macht es zum Gebrauchswert« (MEW, Bd. 23: 50) und »[a]lle Arbeit ist […] Verausgabung menschlicher Arbeitskraft in besondrer zweckbestimmter Form und in dieser Eigenschaft konkreter nützlicher Arbeit produziert sie Gebrauchswerte« (ebd.: 61). Ein Gebrauchswert oder Gut einerseits ist jedoch noch keine Ware, sondern nur der Warenkörper, so dass der Tauschwert hinzukommt. Denn alle Arbeit ist andererseits »Verausgabung menschlicher Arbeitskraft im physiologischen Sinn und in dieser Eigenschaft gleicher menschlicher oder abstrakt menschlicher Arbeit bildet sie den Warenwert« (ebd.: 61). Der Tauschwert entspricht dem in der Ware vergegenständlichten Anteil an »gleiche[r] menschlicher Arbeit, abstrakt menschliche[r] Arbeit« (ebd.: 53). Als »Durchschnitts-Arbeitskraft« oder »gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit« (ebd.) habe der Tauschwert, schreibt Marx, eine »gespenstige Gegenständlichkeit« (ebd.: 52). Der Wert ist für Marx mit der in der Ware verkörperten abstrakten Arbeit identisch. Als Werte sind die Waren »kristallisierte Arbeitsmasse« (ebd.: 55). Mit der Einführung der Abstraktion der gesellschaftlich notwendigen Arbeit ist es Marx im Unterschied zu David Ricardo, der als Annäherung an den objektiven Tauschwert einen Gleichgewichtswert entwirft, möglich, die Schwierigkeit der Umrechnung spezifischer Arbeitsleistungen zu lösen, indem eine Norm – gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit – postuliert wird. Auf dieser werttheoretischen Basis begründet Marx die Mehrwerttheorie zur Erklärung der Kapitalakkumulation. Die Arbeitskraft selbst als Ware besitzt nach Marx als Gebrauchswert »die eigentümliche Beschaffenheit, […] Quelle von Wert zu sein, deren wirklicher Verbrauch also selbst Vergegenständlichung von Arbeit [ist], daher Wertschöpfung« (ebd.: 181). Wird die Wa-

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re Arbeitskraft länger im Produktionsprozess eingesetzt, als zur Schaffung von Werten, welche die eingesetzte Arbeitskraft reproduzieren, nötig, »so werden«, mit Peter Dobias, »weitere Arbeitsleistungen abgegeben, es wird zusätzliche Arbeit vergegenständlicht, es entsteht Mehrwert« (1994: 114). Wert, Wertbildung, Mehrwert und schließlich Profit können nur aus der Arbeit entstehen. Diese – mit Gayatri C. Spivak – superadequacy of human labour power ist ein vom Menschen eingesetztes Zeitverhältnis und kann daher willkürlich bemessen und ausgebeutet werden. Der Mensch muss nicht ›superadequate‹ sein, doch er kann.5 So werden bei Marx die Machtverhältnisse, die den Arbeiter länger als nötig – um den als anthropologische Konstante konstruierten Gebrauchswert der Arbeitskraft zu reproduzieren – arbeiten lassen und damit eine Ökonomie der Zeit schaffen, als Besonderheit des Kapitalismus konstruiert. Damit verursacht bei Marx eine Zeittechnologie, die menschliche ›superadequacy‹ nutzt, die fortschreitende Akkumulation. Frühere und spätere Positionen Eine Zeittechnologie – statt der Arbeitskraft – als Motor der Wirtschaft und Ursache der Akkumulation lässt sich jedoch heute unter anderem mit Derrida oder Heinsohn und Steiger als Effekt des nominalistischen Geldes als eines Leih- und Zinsvertrags über Eigentum erklären. Die der metallistischen (oder materialistischen) Geldtheorie bei Marx widersprechende nominalistische Geldtheorie, nach der die Geltung des Geldes auf Vereinbarung der Nutzer oder die Verfügung eines institutionalisierten Staates zurückgeführt und mit Konvention begründet wird, ist geschichtlich die ältere Theorie. Bereits Aristoteles formuliert die nominalistische Geldtheorie: »So ist aufgrund einer Abmachung das Geld der Vertreter des Bedürfnisses geworden. Darum trägt es auch den Namen Geld (nomisma), weil es nicht von Natur, sondern durch das Herkommen gilt, und weil es bei uns steht, es zu verändern und wertlos zu machen« (Aristoteles 1991: 215 [1133a]). Da von Aristoteles jedoch Natürlichkeit als Maßstab des Guten gesetzt wird, muss das nominalistische Geld für ihn als »ein Unsinn und eine reine gesetzliche Fiktion, in keiner Weise von Natur gegeben« (Aristoteles 1973: 60 [1257b]) gelten – Aristoteles lehnt das ›zinsgebährende‹ Geld als verderblich ab, weil es auf einer Konvention beruht und etwas ›künstlich‹ Vereinbartes nicht wahr und damit nicht gut sein könne. Auch bei Marx ist die angenommene Grenzenlosigkeit der Geldwirtschaft, des Geldhandels und der Zinswirtschaft in der Kapitalismuskritik unter Verweis auf Aristoteles formuliert: Die »Bewegung des Kapitals« gilt Marx als »maßlos« (MEW, Bd. 23: 167, und zu Aristoteles ebd.: 167, Anm. 6). Seine Beschreibung des Kapitalisten wiederholt die aristotelische Charakterisie-

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rung des Erwerbs von unnatürlichem Reichtum im Geldverkehr durch den chrematistos6 in einigen Wendungen fast wörtlich. Der Kapitalist sei nicht für den einzelnen Gewinn, sondern nur für »die rastlose Bewegung des Gewinnens« zu interessieren und unterliege einem »absolute[n] Bereicherungstrieb«, einer »leidenschaftliche[n] Jagd auf den Wert«, dessen »rastlose Vermehrung« (MEW, Bd. 23: 168) das Ziel sei. Diese bis auf Aristoteles zurückgehende Ablehnung der Geldwirtschaft als unnatürlich und unkontrollierbar erhält in zeitgenössischen Reaktionen auf die Elektronisierung und Virtualisierung des Geldes wieder Auftrieb. Es wird in diesen Sichtweisen versäumt, zwischen Geld oder Sprache als Medium, Zahl oder Wort als Zeichen und schließlich Wert oder Sinn als veränderbaren Konventionen – in der Verantwortung des Menschen stehend – zu unterscheiden. Damit kehren wir jetzt zur Geschichte der wert- und geldtheoretischen Positionen zurück: Es entwickelt sich im Gegenzug zur nominalistischen Erkenntnis – und weil das Edelmetallgeld für viele Jahrhunderte vorherrschendes Geldmittel ist – die materialistische Geldtheorie, nach der das Geld nur dann einen Wert und Geltung haben kann, wenn es einen Stoffwert hat oder durch einen Edelmetallschatz gedeckt wird, sein Wert also von einer natürlichen Substanz garantiert wird. Die materialistische Geldtheorie »diente als Grundlage, auf der im wesentlichen die gesamte analytische Arbeit auf dem Gebiet der Geldtheorie aufgebaut wurde« (Schumpeter 1965: 104). Sie kann sich »[t]rotz ihrer unverkennbaren Schwächen […] in ihren Grundzügen bis gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts und noch darüber hinaus« (ebd.) halten und ihr Einfluss bleibt sogar bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts bestehen: Das Ende des Gold-Devisen-Standards wird von Ängsten vor einer ›galoppierenden‹ Inflation sowie vor dem Zusammenbruch der Geldwirtschaft begleitet, auch wenn die Diskussion um die Theorie des Geldes seit Keynes mit der Erklärung des Geldes als Schuldkontrakt für die nominalistische Geldtheorie entschieden ist. Bis in die Mitte der 1970er Jahre werden die Verzichtbarkeit des Edelmetallstandards und damit die Konventionalität oder Fiktionalität des Geldes noch bezweifelt. Die nominalistische Geldtheorie tritt jedoch seit der Wende zum 20. Jahrhundert mit der Durchsetzung der Nutzentheorie des Wertes immer stärker in den Vordergrund. Die Arbeitstheorie des Wertes vertrat die Position des absoluten oder intrinsischen Maßstabs für den Tauschwert gegen die Position des relativen Wertes; diese subjektive Werttheorie oder Nutzentheorie des Wertes war zwar auch schon vor Adam Smith anerkannt, aber bei Marx im Gebrauchswert als für die weitere Analyse unerheblich entlassen worden. So hatte bereits Aristoteles die Güter wegen ihres Nutzens in der Bedürfnisbefriedigung für vergleichbar erklärt. »Man muß […] alles an einem einzigen Maßstab messen […]. Dieser ist […] das Bedürfnis« (Aristoteles 1991: 215 [1133a26]). Die Nutzentheorie des Wertes bleibt mit Erweiterungen durch das

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Mittelalter hindurch bis in das 18. Jahrhundert die einzige Werttheorie; sie wird über die Lehre der Physiokraten und Utilitaristen »bis in die Zeiten von A. Smith hinein« (Schumpeter 1965: 1280) weiterentwickelt. Nach Étienne Bonnot de Condillac »[d]ire qu’une chose vaut, c’est dire qu’elle est ou que nous l’estimons bonne à quelque usage. La valeur des choses est donc fondée sur leur utilité, ou, ce qui revient au même, sur le besoin que nous en avons, ou, ce qui revient encore au même, sur l’usage que nous en pouvons faire« (1948: 245). Dabei hat Ferdinando Galiani, dessen Schriften als, so Schumpeter, »Spitzenleistung« (Schumpeter 1965: 1280) der Werttheorie des 18. Jahrhunderts gelten, nur wegen des ihm fehlenden Begriffs des Grenznutzens »keine zufriedenstellende Preistheorie« (ebd.: 383) ausarbeiten können. In diesem Sinne schreibt Schumpeter Galiani systematischere Einsichten zu als dem werttheoretisch zur gleichen Zeit mit objektiver Begründung argumentierenden Klassiker Smith. Aus Galianis Ansätzen, so Schumpeter weiter, hätte »ein viel vollkommeneres theoretisches Gebäude […] aufgerichtet werden können als das, welches A. Smith konstruierte« (ebd.: 383). Damit schreibt sich die Nutzentheorie des Wertes auf dem Kontinent auch nach dem Erscheinen von The Wealth of Nations und der Einführung der Arbeitswerttheorie entsprechend einer »ununterbrochene[n] Entwicklungslinie« (ebd.: 384) fort. Noch während der Zeit besonderer Aufmerksamkeit für die Arbeitswerttheorie im 19. Jahrhundert – so wie radikal auch bei Marx – werden nutzentheoretische Ansätze der Wertbestimmung weiterentwickelt, um sich schließlich in der mathematischen Preisanalyse und Markttheorie der Grenznutzenschule zu Anfang des 20. Jahrhunderts durchzusetzen. Als Vertreter der Mathematisierung der Wirtschaftswissenschaften und Vorreiter der Preistheorie erklärt schließlich Vilfredo Pareto – u.a. auch gegen Marx – den Wertbegriff um die Wende zum 20. Jahrhundert für überflüssig. »On a […] donné tant de sens vagues et parfois mème contradictoires au terme valeur qu’il vaut mieux ne pas s’en servir dans l’étude de l’économie politique« (Pareto 1966: 243). Nach der Nutzentheorie des Wertes bei Pareto entspricht der Wert dem Preis: »On appelle PRIX de Y en X la quantité de X qu’il faut donner pour avoir une unité de Y« (ebd.: 207). Der Wert scheidet aus der ökonomischen Analyse aus, weil er als »un rapport, la raison d’échange de deux marchandises« (ebd.: 243) einem Preisverhältnis entspreche. Indem man vom Wert »les conceptions nébuleuses dont l’entourent les économistes littéraires« (ebd.: 208) entferne, trete der Preisbegriff hervor und die Wirtschaftswissenschaft werde »[g]râce à l’usage des mathématiques« (ebd.: 160) »une science positive« (ebd.: 208) »sans faire intervenir aucune entité métaphysique« (ebd.: 160). Der Wert stellt für Pareto keine mathematische oder empirische, sondern eine metaphysische Einheit dar und kann in der mathematischen Wirtschaftstheorie entfallen, mittels derer Pareto seine Abkehr von der als metaphysisch und literarisch betitelten Arbeits-

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wertlehre formuliert, zu deren Vertretern als den »économistes littéraires« (ebd.: 242) er auch Marx zählt: »Über den Wert zu schwätzen, zu untersuchen, wann und wie man sagen kann, ›ein Ding hat Wert‹, ist viel weniger schwer, als die Gesetze des volkswirtschaftlichen Gleichgewichts zu studieren und zu verstehen« (Pareto 1962: 62). Die relative Definition des Wertes ist mit einer Orientierung an einem absoluten Maßstab für den Wert, wie er in der Arbeitswerttheorie anhand der Arbeit als einer Substanz des Wertes gedacht wird, nicht kompatibel und bewegt sich hin auf den Preisbegriff. Es wird allerdings noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts dauern, bis der Wertbegriff und die Werttheorie in der Wirtschaftswissenschaft endgültig durch den Preisbegriff und die Preistheorie abgelöst werden. Anders als die klassische Arbeitswerttheorie, die menschliche Arbeitskraft an die Gemeinschaft und ihre ethischen Kategorien wie Verteilung und Gerechtigkeit zurück bindet und deren Probleme – wie noch bei Marx – zu lösen versucht, verwendet die subjektive Werttheorie die Individualität als methodische Grundlage der Quantifizierung und versucht in ihrer Beschreibung zunächst die wirtschaftliche und theoretische Entwicklung Ende des 19. Jahrhunderts einzuholen, als der Konsum statt der Produktion zum Motor der Wirtschaft zu werden schien. Die Grenznutzenschule sieht sich daher mangels differenzierter Theorien zur Unterscheidung von Medium, Zeichensystem und Wert oder Sinn der Kritik ausgesetzt, die Bedürfnisse auf Zahlen reduzieren zu wollen,7 da der Nutzenbegriff des Theoretikers »rein formalen Charakter« (Schumpeter 1965: 1284) habe und die Nutzentheorie eher »als eine Logik denn als eine Psychologie der Werte bezeichnet werden« (ebd.: 1285) müsse. Indem die »Nutzeneinschätzung der Verbraucher Ursache und Bestimmungsgrund für Wert und Tauschwert eines Gutes« wird, können die Marginalisten die »Wert- und Preisbildung von (Konsum-)Gütern und Produktionsfaktoren von einem einheitlichen Erklärungsprinzip her« (»Grenznutzenschule« 1993: 848) ableiten und »ein analytisches Werkzeug von allgemeiner Verwendbarkeit für ökonomische Probleme« (Schumpeter 1965: 1112) schaffen. Dies ist möglich, weil erkannt wird, dass »tout échange suppose un rapport entre les quantités échangées, lequel s’exprime et se formule dans le prix« (Gide/Rist 1947, Bd. 2: 573). Die Grenznutzenschule hat der Arbeitsmengen- und Arbeitswerttheorie des Tausches die abstrahierende Reduktion, um die sich Marx in teilweise obskurer Weise bemüht, voraus; die Arbeitsmengentheorie des Wertes ist nicht falsch, sondern nur dadurch unzulänglich, »daß sie sich auf einen Sonderfall bezieht« (Schumpeter 1965: 1112 Anm. 68), in dem sie nur den Preis bei »einer in allen Warenproduktionen der Volkswirtschaft gleichen organischen Zusammensetzung des Kapitals« (Schumann 1994: 167) beschreiben kann. Da es aber »keine Beschreibung des Prozesses, der diesen Preis hervorbringt« gibt, kann die Arbeitsmengentheorie »daher überhaupt nicht als Preistheorie bezeichnet werden«

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(Schumpeter 1965: 1112, Anm. 68). So wird auch die Grenznutzenschule in ihrer Abwendung von der Arbeitswertlehre der Klassik als Revolution empfunden. Den Grenznutzentheoretikern wird zugestanden, nicht nur »ein existierendes theoretisches Gebäude revolutioniert, sondern ein solches errichtet [zu haben], wo vorher keines gestanden hatte« (ebd.). Mit der wirtschaftswissenschaftlichen Ausarbeitung des Gedankens der Relativität legt Pareto »das Fundament der modernen Werttheorie« (ebd.: 1291), da das Nutzenverständnis nur noch auf den Bereich der Relationen zwischen quantitativen Einheiten hinweist: Die Messung und Zuordnung des Wertes zum Nutzen ist willkürlich (vgl. Pareto 1966: 159). Die Messbarkeit einer Einheit oder eines Wertes im System – in Paretos Wortgebrauch: der Elemente oder Moleküle des Systems – beruht allein auf einem Gleichgewichtszustand »d’interdépendance […] entre les divers facteurs de la production«, so dass »certains biens étant complémentaires l’un de l’autre, leur valeur ne peut varier isolément« (Gide/Rist 1947, Bd. 2: 580).8 Die Mathematisierung der Wirtschaftswissenschaften findet bald internationale Verbreitung, so in der Volkswirtschaftslehre von Alfred Marshall und Francis Y. Edgeworth bis zu John Maynard Keynes in England oder Irving Fisher in den Vereinigten Staaten.9 Die Wirtschaftstheorie tritt erst mit der im Zuge der Durchsetzung der subjektiven Werttheorie und der Marginalanalyse stattfindenden Aufwertung der Geldtheorie seit Beginn des 20. Jahrhunderts die endgültige Überwindung der aristotelischen Opposition einer natürlichen und einer künstlichen Erwerbsform an, die über 2000 Jahre als Trennung von Realanalyse und monetärer Analyse oder Werttheorie und Geldtheorie die Wirtschaftstheorie bestimmte. Von den Anfängen in der Antike über u.a. auch Marx bis zu Keynes’ Kritik an der Dichotomie von Realanalyse und monetärer Analyse geht die Wirtschaftstheorie von einer Trennung der Werttheorie und der Geldtheorie und dazu einer Priorität der Werttheorie aus. In einer »gedankliche[n] Trennung der ökonomischen Vorgänge in einen realen und einen davon unabhängigen monetären Wirkungszusammenhang« (Kath 1995: 177) wird unterstellt, »daß zu den Prinzipien der Werttheorie, die der ökonomischen Theorie zugrundeliegen, Geld nicht gehört«; so ist es der Wirtschaftstheorie »in ihrer zweihundertjährigen Geschichte als Werttheorie […] nicht gelungen, Geld in die Werttheorie zu integrieren« (Riese 1995: 45f.). Während die Realanalyse auf die Beschreibung setzt, dass »die Geldpreise hinter den Austauschrelationen zwischen den Waren zurücktreten, die den eigentlich bedeutsamen Tatbestand ›hinter‹ den Preisen ausmachen« (Schumpeter 1965: 355), wird mit der monetären Analyse argumentiert, dass sich die Position des Geldes im analytischen Apparat auch auf die Theorien der Wertbestimmung auswirkt, und nicht umgekehrt, und es sich also beim Geld um ein konstitutives, kein konsekutives Medium handelt. Diese wirtschaftstheoretische Durchset-

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zung der Geldtheorie im 20. Jahrhundert geht aus dem Ausbau der Preistheorie in Folge der Ablösung der objektiven Werttheorie durch die subjektive Werttheorie der Grenznutzenschule um 1900 hervor. Die historischen Werttheorien – Nutzentheorie und Arbeitstheorie des Wertes oder subjektive und objektive Werttheorie – versuchen die Preise aus dem Wert der Güter herzuleiten, während die zeitgenössische Preistheorie durch mathematische Formalisierung auf diese Begründung verzichten kann und unter anderem mit statistischen Methoden die Preise auf dem Markt beschreiben und vorherzusagen sucht. Erst mit der Marginalanalyse wird diese marktwirtschaftliche Orientierung der klassischen Wirtschaftstheorie initiiert; mit der Entwicklung der modernen Marktformentheorie, die mit einzelnen Untersuchungen – zu vollständiger Konkurrenz, Monopol und Oligopol sowie mit Faktorpreistheorien – bereits im 19. Jahrhundert einsetzt, kommt es spätestens seit den 1930er Jahren zu einer wirtschaftstheoretischen Abkehr von der am einzelnen Produkt oder Konsumenten orientierten Werttheorie, für die es keine Anwendung mehr gibt. Die Preise werden als Ergebnis des Zusammentreffens von Nachfrage und Angebot auf Märkten definiert und als maßgebende Einheiten begriffen, deren Zustandekommen allerdings – mit heutigen Mitteln – nicht vollständig, sondern nur reduziert, akkumuliert und modelltheoretisch nachvollzogen werden kann, so dass auch von Preisindizes abhängige Finanzkalkulationen mit Unsicherheitsmargen operieren müssen und immer nur Annäherungen an die Komplexität des Wirtschaftssystems darstellen (vgl. Cassel 1995: 272). Entsprechend »bilden sich« (Siebke 1995: 63) Preise auf Märkten gleichsam durch sich selbst. Diese Entwicklung zur Preistheorie spiegelt sich heute darin, dass »neuere Begriffslexika – z.B. das Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft von 1981 […] – den Wert als eigene Kategorie nicht mehr behandeln und das Geld sowie die Preisbildung ohne Bezug auf den Wert zu erklären versuchen« (Schwarz 1990: 801). Ein Gut oder eine Arbeitsleistung ist soviel wert, wie dafür gezahlt wird; der in Geld gerechnete Preis eines Gutes ist sein Wert. Erst mit der Preistheorie ist daher die Möglichkeit der Überwindung der Trennung von Realanalyse und monetärer Analyse gegeben, wie sie Keynes in den 1930er Jahren fordert.

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Im 20. Jahrhundert, also in der Folge der Orientierung von der Werttheorie auf die Preistheorie, beginnt die Wirtschaftswissenschaft, das Geld mit seinen Funktionen als menschliche Technik zu affirmieren und in das theoretische Bemühen zu integrieren, auch wenn »[p]raktisch […] natürlich niemand geleugnet [hat], daß, da das technische Hilfsmittel versagen kann, das Geldund Kreditsystem einer Gesellschaft den Wirtschaftsprozeß in jedem Falle ganz erheblich beeinflußt« (Schumpeter 1965: 719, Anm. 25). Initiiert durch Keynes’ Forderung nach Überwindung der Trennung von realökonomischer Analyse und Geldtheorie, dringt die Wirtschaftstheorie zu der Erkenntnis

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durch, dass dem Geld nicht nur repräsentative und sekundäre – und mit denselben Argumenten moralisch diabolisierte (vgl. Luhmann 230ff.) – Funktionen zugebilligt werden sollten. Das Geld wird nicht länger als »technisches Hilfsmittel […], das man übergehen kann, wann immer grundsätzliche Fragen auf dem Programm stehen, oder [als] Schleier, den man beseitigen muß, um die dahinter liegenden Wesensmerkmale zu erkennen« (Schumpeter 1965: 719) betrachtet. Es wird bestritten, dass »das Geld jemals in irgendeiner sinnvollen Bedeutung des Wortes ›neutral‹ sein kann« (Schumpeter 1965: 355). Das Geld und die Preise »erscheinen nicht mehr als Ausdrücke […] von Austauschrelationen«, sondern »erlangen eigenes Leben und eigene Bedeutung, und man muß sich der Tatsache bewußt sein, daß wesentliche Eigenschaften der kapitalistischen Wirtschaft von diesem ›Schleier‹ abhängen können« (Schumpeter 1965: 355). Gerade auf diese theoretische Entwicklung weist Marx mit seiner Insistenz auf dem Moment der Verselbständigung in der Kapitalbildung voraus. Seit Keynes hat sich die Realanalyse und die metallistische Geldtheorie gegen »die monetäre Analyse […] durchgesetzt« (ebd.: 356). Dies äußert sich in der Unterordnung der traditionsreichen, auf den äquivalenten, instantanen Naturaltausch und das Warengeld rekurrierenden Definition des Geldes als Tauschmittel unter die vertragstheoretische, auch mit dem Phänomen der Zinswirtschaft kompatible Gelddefinition.10 Der Auslöser dieses wirtschaftswissenschaftlichen Umdenkens hin auf die Vertragstheorie des Geldes und die theoretische Durchsetzung der nominalistischen Geldtheorie ist Keynes’ Untersuchung über die antiken Geldformen, nach der er in den 1920er Jahren zu der Überzeugung gelangt, »daß für die Erklärung des Geldes nur der in Kontrakten vereinbarte Geldstandard von Interesse ist« (Heinsohn 1995: 238). In A Treatise of Money bekräftigt er dann 1930, dass nur in Bezug auf einen vertraglichen Geldstandard von einem bestimmten Gegenstand als Geld gesprochen werden kann. Auch Kredit und Zins lassen sich über diese Vertragstheorie des Geldes erklären: Kredit ist immer an einen Vertrag gebunden, und Zins ist eine Liquiditätsprämie auf einen Kreditvertrag. Dafür dass der Verleiher von Geld auf die Sicherheit, es zur Verfügung zu haben, verzichtet, erhält er Zins zur Kompensation. Die Vertragstheorie des Geldes erlaubt die Aufgabe der klassischen Erklärung des Zinses durch Konsumverzicht, nach der ein »schmerzhafte[r] Vorgang […] durch das Zugeständnis einer Möglichkeit nach Fristablauf mehr als zuvor konsumieren zu können, ausgeglichen« (Stadermann 1995: 161) werde. Nach Keynes gilt als unübersehbar, dass »jemand, der nur auf den Konsum eines ihm verfügbaren Vermögens oder eines Geldbestandes verzichtet, indem er es in seinem Haushalt hält und keiner Verwendung zuführt, keinen Zins« (ebd.) erhält. »Einen Zins realisiert nur, wer anderen Verfügungsrechte auf sein Vermögen oder ihm bereits verfügbares Geld einräumt« (ebd.). Das Geld ist nach dieser Erklärung

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nicht länger eine Ware im Tausch, sondern ein Pfand im Rechts- und Vertragswesen. Der Rechtsakt, der Besitz zu Eigentum aufteilt, bringt die Akkumulationskraft der Wirtschaft hervor. »Die Revolution zum Eigentum fügt der alten Ordnung gütermäßig nichts hinzu, bringt mit seiner Schöpfung ex nihilo aber umgehend die das Wirtschaften konstituierenden Elemente der Verkauf-, Verleih- und Verpfändbarkeit hervor« (Heinsohn 1995: 233). Aus der »permanenten Umwandlung der Liquiditätsprämie in vom Schuldner zu schaffendes Zusatzeigentum« (ebd.) gewinnt die Eigentumsgesellschaft dann ihre Dynamik. Nicht also die Arbeit, sondern das Gesetz bringt Eigentum und Geld hervor; Ungleichheit ist zunächst ein Verteilungs-, kein Leistungseffekt. »Keineswegs ist es aufgehäufte Arbeit, die dem Geld vorausgeht, sondern ohne jede Arbeit per revolutionärer Rechtssetzung geschaffenes Eigentum, über das dann Kontrakte geschlossen werden« (ebd.: 243-244). In dieser Weise wird auch die Ausbeutungstheorie der Arbeit als Ursache der Akkumulation bei Marx revidiert. Die Beschreibung einer ursprünglichen Akkumulation durch Geld als Kontrakt auf Eigentum muss nicht wie die arbeitstheoretische und marxistische Theorie auf Raub zur Erklärung der ursprünglichen Akkumulation als Beginn der wirtschaftlichen Dynamik zurückgreifen. »Es können Ressourcen von Nichteigentümern durch Kauf, statt durch Raub erworben werden« (Stadermann 1995: 160; vgl. Luhmann 1988: 253).11 Als die bestimmende wirtschaftswissenschaftliche Kategorie relegiert das Geld folglich sogar in der zeitgenössischen wirtschaftswissenschaftlichen Theorie, nicht nur in spätmarxistischen Theorien der Postmoderne oder des Posthistoire, die Produktion auf den zweiten Rang: Jüngste Thesen zum Ende der Arbeit (vgl. Rifkin 1995; Forrester 199612) dürften abgesehen von ihrem Bezug zur zeitgenössischen Massenarbeitslosigkeit auch im Kontext der Entwicklung der Geldtheorie gelesen werden. Die Abkehr von der produktionistischen Theorie der Motivation der Akkumulation betont mit dem Eigentum und der rechtlichen Setzung die konventionelle Verteilung und Zuteilung als wichtigste wirtschaftliche Kategorie und verweist damit auf die Gerechtigkeit, aber auch auf die Notwendigkeit einer differenzierten Unterscheidung zwischen dem Medium Geld, der Zahl als Wertzeichen und dem konventionellen Wert. Indem die Geldtheorie, wichtigste Komponente einer wirtschaftlichen Prognose und der Wirtschaftspolitik, über die Vertragstheorie und Eigentumstheorie des Geldes an das Recht und die Rechtsphilosophie verwiesen ist, findet eine Rückbindung der Ökonomie an die praktische Philosophie statt. Eher als die Tauschmitteltheorie, die die Auffassung von Geld als Dekadenz vom Naturaltausch begünstigt, steht die Vertragstheorie dem Geld als rechtlichem Element aufgeschlossen gegenüber und integriert es in eine Darstellung der Anfänge der Geldwirtschaft, die das Eigentum als Grundlage demokratischer Freiheitsrechte affirmiert: Aufgrund seiner Gesetzlichkeit ist das

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Eigentum ebenso eine Konvention wie Wahrheit oder Sinn und kann dekonstruiert werden. Im Begriff der »exappropriation« plädiert Derrida in einer »geste de fidélité à un certain esprit du marxisme« (Derrida 1993: 148) für die Hinterfragung von Eigentumsverhältnissen und die Ent-Aneignung, welche, so Derrida, die Dekonstruktion kontinuierlich praktiziere. Eigentum und Hierarchie werden nicht ausgeschlossen, aber als absolute, permanente Ordnungen in Frage gestellt. In ihrer Bewegung, Konstitution und Dekonstitution, kann jeweils temporär Gerechtigkeit etabliert werden. Ist also zwar das Edelmetallgeld über Jahrhunderte mit dem Geldbegriff deckungsgleich und wird diese Deckung von der materialistischen Geldtheorie verallgemeinert, müssen das Edelmetallgeld und der Goldstandard tatsächlich nur als ein Sonderfall der grundsätzlich nominalistisch zu erklärenden Technik des Geldes verstanden werden. Die heutige Geldverwendung und Geldform entspricht einer Rückführung des Geldes auf seine grundlegende Funktion; es ist die nominalistische Theorie, mit der die geldwirtschaftliche Realität zu Beginn des 21. Jahrhunderts beschrieben wird: »Nie war das Geld ›papierener‹ als heute, nie so sehr ein Wert nur dem Namen nach, durch Verpflichtung auf einem Fetzen Papier geschaffen. […] [Es] wurde […] nie in so hohem Maß benützt, um Güter zu bewerten, ob im internationalen Vergleich oder im Zeitvergleich oder rückblickend« (Vilar 1984: 16f.). So sind Zahlungen durch Buchgeld, Geldkarten und Kreditkarten bereits im Alltag vorherrschend. Die wirtschaftliche Bedeutung des konventionellen Geldes zeigt sich auch in der mit der Einführung der Computertechnologie an Banken und Börsen seit den 1970er Jahren rasant angewachsenen und beschleunigten Menge des elektronischen Kapitals und in den Börsengeschäften mit digitalem oder virtuellem Geld. »Was wir bisher Geld nannten, war noch nicht zur reinen Form entwickelt. Erst die Bits sind reines Geld« (Vief 1991: 127). Aktualität des marxistischen Ansatzes Bernhard Vief greift Marx’ Rede vom »ideellen Geld« (MEW, Bd. 23: 111; Vief 1991: 126) auf, um eine Lektüre des Kapital »unter semiotischem Blickwinkel […] – als eine Ökonomie der Zeichen«, die »Geld und Kapital auf seinen reinen Zeichenaspekt oder, um mit McLuhan zu sprechen, auf reine Information« (ebd.: 125) reduziert, vorzuschlagen. Eine solche Ökonomie der Zeichen, die allerdings wie bei Vief nicht zwischen Medium, Zeichen und Wert unterscheidet, haben Jean Baudrillard13 und Jean-Joseph Goux in Frankreich bereits seit Ende der 1960er vorgenommen (vgl. Gernalzick 2000: 190ff.). Jedoch gerade eine auf Saussures Semiotik und deren Entwurf eines ›reinen‹, arbiträren Zeichens zurückgreifende Annäherung von Marx’scher politischer Ökonomie und Zeichentheorie führt zu Aporien, denn die Saussure’sche Semiotik und

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das Denken der Arbitrarität korrelieren mit der Nutzentheorie des Werts und nicht mit der Arbeitstheorie des Werts (vgl. Gernalzick 2000: 95ff.). So überliest auch Vief die im essentialistischen Arbeitswertbegriff verortete ›Realität‹ des Geldes bei Marx, die an zitierter Stelle unmittelbar folgt, um dem »ideellen Geld« wieder Substanz aufzunötigen: »Der Wert, d.h. das Quantum menschlicher Arbeit, das z.B. in einer Tonne Eisen enthalten ist, wird ausgedrückt in einem vorgestellten Quantum der Geldware, welches gleich viel Arbeit enthält« (MEW, Bd. 23: 111). Neben Tributen an Hegel ist das permanente Changieren der Sinnkonstitution in Marx’ Text zwischen ideellen und materiellen, ›gespenstigen‹ und realen Kategorien jedoch – und hier läge tatsächlich ein Ansatzpunkt für weitere Marx-Lektüren – ein Indikator für die Unhintergehbarkeit der nominalistischen Geldtheorie und der Nutzentheorie des Wertes bzw. Preistheorie und auch ein Indikator für die Notwendigkeit einer detaillierten Taxonomie von Medien, Zeichensystemen und Wert- oder Sinnsystemen in der Zeit, also ›differantiell‹. Marx’ Insistenz auf dem Mehrwert als Ergebnis einer Zeittechnologie verwiese dann auf eine Möglichkeit, das Kapital mittels eines revidierten Geldbegriffs neu zu lesen, unter der freilich drastischen Bedingung, dass die Theorie von der Wertsubstanz Arbeit als Irrweg verabschiedet wird, und daraus Konsequenzen nicht nur für den marxistischen, sondern auch für den derzeit noch immer ubiquitären Ansatz der klassischen Wirtschaftstheorie und ihrem dem Arbeitsbegriff verpflichteten gesellschaftlichen Diskurs gezogen werden. Eine solche Perspektive eröffnet auch neue Ansätze zur Kritik vorliegender Theorien des Geldes als Medium, wie zum Beispiel bei Marshall McLuhan. Mit seinem Argument »the medium is the message«, definiert als »the formative power in the media are the media themselves« (McLuhan 1964: 21), konstruiert McLuhan seine gesamte Medientheorie im Zuge einer Infragestellung derjenigen Positionen, die den Medien Sekundarität zuschreiben. In seiner Theorie des Mediums Geld jedoch rekurriert McLuhan auf eine historische Herleitung des Geldes aus der Arbeit nach der Werttheorie der klassischen Wirtschaftstheorie und damit auf eine Theorie, die das Geld intrinsisch als konsekutiv erklärt: »the ancient role of money as a store of work« (ebd.: 141). Über die keynesianische Kritik der arbeitswertbasierten Theorie des Warengeldes gelangt McLuhan in einem nächsten Schritt zur Erklärung des Papiergeldes als Information, bindet jedoch auch diese Geldfunktion an den Arbeitsbegriff: »the equally ancient and basic function of money as transmitter and expediter of any kind of work into any other kind« (ebd.). Grundsätzlich bewegt sich McLuhan nicht über eine arbeitswerttheoretisch fundierte Erklärung der Herkunft des repräsentativen Geldes aus dem Warentausch hinaus, im paradoxen Verhältnis zu seiner Aufwertung des Geldes als eines eigenständigen Mediums. McLuhans Zuweisung von sowohl Werkzeugen, Maschinen, Zeichensystemen und Wert- und Bedeutungssystemen zur Kategorie

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Medium lässt darüber hinaus eine systematische Taxonomie der Medien umso wünschenswerter erscheinen. Einen solchen systematischen Ansatz hat Hartmut Winkler im Vergleich von ökonomischem und medienwissenschaftlichem Diskurs versucht, jedoch bleibt auch sein Ansatz in Marx’schen Kategorien stecken: Für seine Anwendung ökonomischer Begriffe auf die Medienwissenschaft legt er fest: »Muster ist hier die Warenzirkulation« (Winkler 2004: 7). Entsprechend erweist sich sein Geldbegriff als ein arbeitswerttheoretischer und tauschparadigmatischer nach Marx, dessen Diktion übernommen wird: »Das eigentliche Geheimnis des Geldes ist, dass es die Kraft hat, Arbeit, die bereits verausgabt wurde, dazu einzusetzen, der zukünftigen Arbeit die Richtung vorzugeben« (ebd.: 43). Darüber hinaus differenziert Winkler nicht zwischen Medium und Zeichen bzw. der »Ordnung des Symbolischen« (ebd.: 37), mit der er Baudrillards Theorie des symbolischen Tauschs zitiert, ohne jedoch Baudrillards Prämissen und seinen Vergleich von Zeichen und Geld als poststrukturalistisch in der Nachfolge Saussures zu erwägen (vgl. ebd.: 38). Diskutiert nicht als Medium, sondern als Zeichen gilt Winkler Geld außerdem als ent-semantisiert, im Unterschied zu »anderen Zeichen. […] Während andere Zeichen grundsätzlich eine Dimension von Bedeutung aufweisen, behauptet das Geld hierauf explizit zu verzichten« (ebd.: 46). Die Begriffe des Wertes oder des Preises, die kategorisch im Verhältnis zum Medium Geld wie die Bedeutung oder der Sinn im Verhältnis zum Medium Sprache anzusetzen wären, diskutiert Winkler nicht. Allerdings unternimmt er eine auf Oskar Negt und Alexander Kluge rekurrierende und an die Autoren der französischen Hegelrenaissance erinnernde Annäherung von Geld und dem Begriff des Begehrens (vgl. ebd.: 47f.), die sich mit der Nutzentheorie des Werts vereinbaren ließe. Winkler schließt: »Wenn die Wünsche also mit beidem paktieren können, mit Geld und Ökonomie unter dem Vorzeichen der Realisierbarkeit und mit dem Symbolischen ohne diese Rücksicht, dann verläuft hier vielleicht die interessanteste Grenze zwischen Geld/Ökonomie und Medien« (ebd.: 49). Es steht zu erwarten, dass diese Grenze zwischen real und fiktional – oder ›rücksichtslos‹ – bei genauerer Betrachtung als zu durchlässig erkannt wird, um noch die Funktion der Ausgrenzung zu erfüllen. Robert Kurz, als Vertreter einer zeitgenössischen deutschsprachigen Kritik des orthodoxen Marxismus, versteht das Geld weiterhin sekundär und konsekutiv als »selbständige[n] Ausdruck einer Wertsumme« (Kurz 1999: 357) und schreibt auf anachronistische Weise die Trennung von Wert- und Geldtheorie fort, indem er daran festhält, dass »das Geld nur die Oberfläche einer bestimmten gesellschaftlichen Form bildet«, die »das zu Grunde liegende Wesen« (Kurz 2004) darstelle. Seine auf der Basis der Marx’schen Kategorien entwickelte These von der Krise des Tauschwerts und des Geldes – in großer Nähe zu Baudrillards Thesen von 1976 – reflektiert das von anderen

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wirtschaftstheoretischen Schulen erklärte Ende des Tauschparadigmas in der Gelddefinition. Anders als von Kurz prognostiziert, wird man jedoch von dieser Krise nicht auf den Zusammenbruch des Finanzsystems schließen (vgl. Kurz 1986; Hildebrandt 1996), sondern in ihr das Ende des wissenschaftlichen Anspruchs der Marx’schen Goldtheorie sehen dürfen. Die Utopie der gesellschaftlichen Befreiung durch Abschaffung des Kapitalismus und des Geldes, die u.a. Kurz’ Denken bewegt (vgl. Kurz 2004), wird dann näher bestimmt werden können, wenn Orthodoxien des arbeitswert- und tauschtheoretischen Diskurses und der Rede vom verlorenen Wesen der Dinge aufgegeben werden, so dass zunächst der wissenschaftliche Blick frei werde für ein angemessenes Verständnis des Geldes und der weiteren Medien, wie auch der Zeichen und der Werte.

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Anmerkungen 1 Der vorliegende Artikel basiert auf Recherchen und Ergebnissen, die zuerst in Gernalzick (2000) vorgestellt und für die vorliegende Fassung überprüft und aktualisiert wurden. Ich danke Jens Schröter für wertvolle kritische Anmerkungen sowie Christian Erb vom Geldmuseum der Deutschen Bundesbank für anregende Diskussion und einzelne Hinweise. 2 Ich danke Ulf Heinsohn für die Zusendung der Powerpoint-Präsentation zum Vortrag von Otto Steiger. 3 Zur Theorie des Mediums Geld als konstitutiv vgl. Hörisch (2004a: 70ff.). Hörisch diskutiert an dieser Stelle McLuhans These »the medium is the message« (McLuhan 1964: 7-21); auch Derrida (1972: 392) notiert McLuhans medientheoretische Überlegungen; anders als McLuhan oder Hörisch gelangt Derrida jedoch stringent u.a. über die linguistische und semiotische Theorie des arbiträren Zeichens nach Saussure zur Kritik derjenigen Positionen, die Schrift oder Geld Sekundarität zuschreiben. 4 Unter den genannten Gelderklärungen steht das wirtschaftliche Denken bei Laum, der 1933 in Übereinstimmung mit den wirtschaftspolitischen Interessen der Nationalsozialisten seine Geschlossene Wirtschaft: Soziologische Grundlegung des Autarkieproblems vorlegt, in Opposition zum Denken der grenzüberschreitenden Offenheit von Sprach- wie auch Geld- und Zinseffekten bei Derrida. Es stellt sich folglich die Frage, ob Laums Thesen vom sakralen Ursprung des Geldes von 1924 in logischem Zusammenhang mit seinen Vorstellungen von der geschlossenen Wirtschaft stehen, so wie umgekehrt die Erklärung des Geldes als differantielle Markierung bei Derrida notwendig Offenheit konnotiert (vgl. zu Derridas kritischer Position zum bereits bei Aristoteles formulierten Anliegen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Geschlossenheit bzw. Eigenständigkeit Gernalzick 2000: 143).

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5 Vgl. Spivak (1993: 107): »[…] the natural […] teleology of the body, […] its irreducible capacity for superadequation«; »[…] [s]urplus-value […] in Marx marks the necessary superadequation of the human to itself.« 6 Händler. Zur Unterscheidung von Ökonomik und Chrematistik bei Aristoteles und der Fortwirkung dieser Unterscheidung und der mit ihr etablierten moralischen Wertungen bis ins 21. Jahrhundert, vgl. Gernalzick (2000: 137ff.). 7 »L’homo œconomicus […] est remis en honneur et bien plus simplifié encore: ce n’est plus seulement l’homme squelette, c’est l’homme schématique. Les hommes ne sont plus considérés que comme des forces représentées par des fléches, comme dans les figures des traités de mécanique. Il suffit d’analyser ce qui résulte de leurs rapports les uns avec les autres et de leurs réactions sur le monde extérieur. […] En somme, l’école nouvelle ramène toute la science économique à une mécanique de l’échange et elle s’y croit d’autant plus autorisée que le principe hédonistique ›obtenir le maximum de satisfaction avec le minimum de peine‹ n’est qu’un principe de mécanique pure, celui qu’on appelle le principe ›du moindre effort‹ ou de ›l’économie des forces‹. Chaque individu est considéré comme subissant l’impulsion de l’intérêt, de même que la bille de billard chassée par la queue; et il s’agit de calculer, comme doit le faire d’ailleurs tout bon joueur, les figures compliquées qui vont résulter du choc des billes entre elles et sur les bandes«, Gide/Rist (1947, Bd. 2: 560, 579). 8 Paretos Systembegriff und seine Begriffe der Arbitrarität und Relativität entsprechen denjenigen, die in Saussures Vergleich von Geld und Sprache im Cours de linguistique générale (vgl. Saussure 1972: 159-160) zum Tragen kommen. Vgl. Gernalzick (2000: 104-112). 9 Vgl. Gide/Rist (1947, Bd. 2: 572-573, Anm. 1) und Stavenhagen (1964: 295ff.): »Die Ausbreitung der mathematischen Methode.« Der Anfang der mathematischen Wirtschaftstheorie wird auf das Erscheinen des Buches Antoine Augustin Cournots von den Recherches sur les principes mathématiques de la théorie des richesses von 1838 zurückgeführt. Hermann Heinrich Gossens ebenfalls mathematisch orientiertes Buch über die Entwicklung der Gesetze des menschlichen Verkehrs und den daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln von 1853 bleibt wie dasjenige Cournots zunächst weitgehend unbekannt, auch wenn darin bereits zentrale Ideen der Grenznutzenschule vorweggenommen werden. Gossen und Cournot finden erst im Zuge einer zweiten Entdeckung marginalistischer Prinzipien mit der Grenznutzenschule Anerkennung. Auch John Bates Clark in den Vereinigten Staaten beansprucht 1899 die Wiederentdeckung der Marginalanalyse nach Johann Heinrich Thünen, vgl. Stavenhagen (1964: 112). 10 Eine Überhöhung der Tauschtheorie bestimmt zum Beispiel noch Georg

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Simmels Philosophie des Geldes von 1900: Simmel gründet Wirtschaft und Wert, aber auch das Geld, auf den Tausch, den er »als Lebensform und als Bedingung des wirtschaftlichen Wertes, als primäre wirtschaftliche Tatsache« (1989: 15) ansieht. Die »Mehrzahl der Beziehungen von Menschen untereinander« könne als Tausch gelten, der die »zugleich reinste und gesteigertste Wechselwirkung« (ebd.: 59) sei. So vollziehe sich all unser Tun »nach dem Schema des Tausches: von der niedrigsten Bedürfnisbefriedigung bis zum Erwerbe der höchsten intellektuellen und religiösen Güter muß immer ein Wert eingesetzt werden, um einen Wert zu gewinnen« (ebd.: 63). 11 Vgl. Stadermann (1995: 162): »Auch er [Karl Marx] vermag sich, weil er eine korrekte Vorstellung vom Gelde nicht entwickelt hatte, diesen Vorgang nur auf der Grundlage des Raubes zu erklären.« 12 Vgl. dazu den Beitrag von Jens Schröter zum Internet. 13 Vief weist darauf hin, dass eine aktuelle Lektüre von Marx Gefahr läuft, in »peinliche Nostalgie« (1991: 125) zu verfallen. Diese Möglichkeit erstreckt sich jedoch nicht nur auf Reminiszenzen an vergangene Tage des real-existierenden Sozialismus in der DDR, wie Vief anführt, sondern bei Jean Baudrillard auf Denkfiguren, die eine nostalgische Sehnsucht nach einem angenommenen Gesellschaftszustand vor der Sprache und der Geldwirtschaft und vor der ›Erfindung‹ des Geldes implizieren. In Baudrillards regressiven und repressiven Gedankenspielen in L’échange symbolique et la mort tritt trotz aller Kritik am Wertbegriff bei Marx der Einfluss der Verbindung der Marx’schen Kapitalismuskritik zur Tradition der auf Aristoteles zurückgreifenden, mittelalterlichen Dämonisierungen der Geld- und Zinswirtschaft hervor (vgl. Gernalzick 2000: 190ff.).

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Otto Karl Werckmeister



7 Radikale Kunstgeschichte 2006

Otto Karl Werckmeister Der Modernisierungsdruck auf die Kunstgeschichte Die Kunstgeschichte ist heute ebenso wie andere Sozial- und Geisteswissenschaften einem Modernisierungsdruck ausgesetzt, der von einer explosiven Erweiterung der Materialbasis, der Reproduktionsmöglichkeiten und der Wissenschaftsorganisation herrührt und dem subjektiven Denken die verantwortliche Rückbindung an kollektiv verfügbares Wissen entzieht. Unter diesen Umständen wird eine wissenschaftliche Begriffsbildung, die sich am historischen Verständnis der Erfahrung bewähren soll, immer schwieriger. Denn sie muss sich aus einer selbstgewissen Subjektivität begründen, die ihre Erfahrung bewältigen, das heißt objektivieren kann. Sie muss sich also über die intersubjektive Gültigkeit ihrer Erfahrung gesellschaftlich verständigen. In der Kunstgeschichte erschwert die anwachsende Unvereinbarkeit zwischen subjektivem Denken und kollektivem Wissen nicht nur das historische Verständnis von Kunst, sondern auch das ästhetische Urteil darüber, was als Kunst zu gelten hat. Die historische Relativierung ästhetischer Maßstäbe genügt dazu nicht mehr. Denn in der Kultur von heute steht der Begriff Kunst als solcher zur Disposition. Das normenlose Kunstverständnis dieser Kultur zieht eine interdisziplinär ungeordnete Öffnung der Kunstgeschichte zu anderen Wissenschaften nach sich, die die Probleme der Wissensexplosion vervielfacht. Die Abdankung des ästhetischen Urteils wird durch keine historische Objektivität belohnt. Vielmehr droht die Kunstgeschichte zu einer Wissenschaft der visuellen Kultur mit unbegrenztem Gegenstandsfeld ausgedehnt zu werden. Sie sucht eine visuelle Reflexion der Wirklichkeit zu verstehen, die nur noch medial, nicht mehr ästhetisch vermittelt ist. Eine derartige Entgrenzung verspricht Gegenstandsbereiche von gesellschaftlicher und zeitgeschichtlicher Dringlichkeit zu erschließen, die man in der zeitgenössischen Kunst vergeblich suchen würde, wie weit auch diese die ästhetischen Abgrenzungen gegen die Lebenswelt durchbricht. Der Auflösungsprozess der Urteilsform in der Kunstgeschichte entwertet ihre stabilisierenden Begriffsprägungen, die aus einfacheren Arbeitsverhältnissen, aus verbindlicheren Bestimmungen von Kunst als Gegenstand und aus interdisziplinärer Autarkie erwachsen sind.

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Von der Kunstgeschichte zur Bildwissenschaft Zugleich ist in der visuellen Kultur der Industriegesellschaft eine elektronisch vermittelte technische Bildlichkeit in exponentieller Modernisierung begriffen. Sie spiegelt eine suggestive Benutzeroberfläche vor, die die zunehmenden Schwierigkeiten der Selbstorientierung in der Lebensumwelt zu bewältigen verspricht. Diese visuelle Kultur zielt auf eine vorkünstlerische Ästhetisierung der Lebensverhältnisse. Einerseits bietet sie den Betrachtern fiktive Erklärungen der technischen Regulierung ihrer Lebenswirklichkeit an. Andererseits grenzt sie ein latentes Katastrophenbewusstsein auf dramatisierte und zugleich entschärfte, anekdotisch verkürzte Bildwahrnehmung ein. Diese technische Kultur von Bildern ohne Künstler, ja ohne Produzenten, gibt auf die dreifache, zusammenhängende Grundfrage der kunstgeschichtlichen Wissenschaft – ›Wer hat die Bilder gemacht? Wie sehen sie aus? Für wen sind sie bestimmt?‹ – keine Antwort mehr. Zwar herrscht kein Mangel an theoretisch überdeterminierten Analysen der technischen Bildkultur mit vorschnellen epochalen Verallgemeinerungen. Ihnen fehlt die historiografische Reflexion der eigenen Begrifflichkeit, die sich die Kunstgeschichte als historische Wissenschaft erarbeitet hat. Zu einem Zeitpunkt, da die gesellschaftlich relevante Bildkultur nicht mehr künstlerisch produziert wird, tendiert jedoch Kunstgeschichte dazu, ihre spezifische Bestimmung aufzugeben und sich zur Bildwissenschaft umzufunktionieren. Bildwissenschaft vernachlässigt professionelle Fragen künstlerischer Arbeit und strebt eine kognitive Aufwertung von Kunst als Erfahrungsform von Naturwissenschaft und Technik statt von Gesellschaft und Geschichte an. Radikale Kunstgeschichte dagegen führt alle funktionalen, ästhetischen und repräsentativen Aspekte der visuellen Kultur, einschließlich der Kunst, auf die geschichtlichen Bedingungen ihrer Produktion und Rezeption zurück. Kunstgeschichte der Gegenwart In der als solche akzeptierten Kunst der Gegenwart existiert seit längerem keine künstlerische Ästhetik mehr, die repräsentative Geltung, und sei sie noch so hypothetisch, beanspruchen würde. Sie kann der Kunstgeschichte keine Anhaltspunkte zur Bestimmung ihrer Gegenstände als Kunst statt als mediale Phänomene vorgeben. Unter künstlerischer Ästhetik verstehe ich eine in sich schlüssige, zumindest partiell verbindliche Bestimmung des Kunstcharakters kultureller Objekte, die nicht dekretiert werden kann, sondern sich intersubjektiv nachvollziehen lassen muss. Die Akzeptanz gegenwärtiger Kunst verdankt sich keiner

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derartigen ästhetischen Begründung, es sei denn einer allgemeinen Bereitschaft zur visuellen Reflexion. Ihre voluntaristische Produktion und dezisionistische Sanktionierung durch Galerien und Museen macht sie in der Gesellschaft marktgängig und installiert sie in der öffentlichen Kultur. Wenn die Kunstgeschichte daran mitwirkt, wie sie es heute vielfach tut, gibt sie die kritische Urteilsform wissenschaftlicher Arbeit auf. Die elitenhaft selbstbezügliche, existentiell aufgeladene, historisch abgehobene Literatur, die über die Kunst der Gegenwart verfasst wird, ist ihr meist zur Legitimierung auf den Leib geschrieben. Sie setzt die Relevanz ihrer Ausstellungskataloge, Gesamtverzeichnisse und Interviews voraus und fällt in einen dokumentarischen Modus von Kunstgeschichtsschreibung zurück. Hans Belting hat in seinem Buch Das Ende der Kunstgeschichte von 1995 die Unvereinbarkeit der Literaturen über gegenwärtige und vergangene Kunst diagnostiziert. Er lastet sie der traditionellen Kunstgeschichte an, die der Kunst der Gegenwart nicht gerecht werde und daher als Wissenschaft zu veralten drohe. Man könnte umkehrt erwarten, dass die Kunstgeschichte ihren wesenhaft historisch-kritischen Ansatz an die Kunst der Gegenwart heranträgt, um ihre Existenzbedingungen historisch zu relativieren, statt ihre Selbstbewertungen auszulegen. Dazu brauchte man den Begriff der historischen Kritik nicht auf Ideologiekritik marxistischer Observanz einzuengen. Man brauchte nur die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Mechanismen der heutigen künstlerischen Kultur auf die gleiche Weise zu untersuchen wie die der früheren. Dann stellte sich ihre Mehrheitsfähigkeit vielleicht ähnlich dar wie die der viktorianischen Salonmalerei oder des sozialistischen Realismus zu ihrer Zeit.

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➔ 7 Radikale Kunstgeschichte 2006

Zeitgeschichte der Kunst Der einschneidendste Modernisierungsdruck auf die Kunstgeschichte in der Bundesrepublik geht jedoch von einer Finanzpolitik aus, die die Staatsausgaben um der marktwirtschaftlichen Investitionsbegünstigung willen kürzt und die Förderung der Wissenschaft an deren kulturpolitische Funktionen knüpft. Wenn in dieser Situation Kunstgeschichte nicht in die amtliche Betreuung privaten Kunstbesitzes ausgelagert wird, sucht sie sich neue Aufgaben zu erschließen. Sie dehnt ihre Kompetenz auf die technisch erweiterte Bildkultur aus, die in der elektronischen Bildproduktion und Bildreproduktion gipfelt. Dem kommt entgegen, dass die technisch erweiterte Bildkultur selber in die künstlerische Kultur der Museen und Galerien vorgedrungen ist. Dort wird

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sie nicht nur zur Ausstellungsform ästhetisiert, sondern zu Kunstobjekten vergegenständlicht. Ein historisches Verständnis der Wechselwirkung zwischen der technisch erweiterten Bildkultur und der Entgrenzung des Kunstwerks als eines ästhetischen Objekts während der letzten zwanzig Jahre ist daher das vordringliche Thema einer radikalen Kunstgeschichte der Gegenwart. Dessen zeitgeschichtliche Voraussetzungen sind der Aufstieg des Kapitalismus zur universalen Wirtschaftsform, die elektronische Technik als sein funktionales Medium, die gesellschaftlichen Krisen, die er zur Folge hat, und die globale Militarisierung, mit der er sich durchsetzen muss. Radikale Kunstgeschichte, die die künstlerische Kultur in solche Zusammenhänge stellt, widersteht der kulturpolitischen Aktualisierung vergangener Kunst und historisiert die Kunst der Gegenwart. Wieweit sie sich dabei auf Marx berufen kann, steht auf einem anderen Blatt.

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8 Marxismus und Kunstgeschichte – Eine persönliche Einschätzung aus Grossbritannien

Gen Doy Ich zögerte zunächst, der Einladung nachzukommen, einen Artikel für die vorliegende Essaysammlung zu verfassen. Vielleicht erkläre ich zunächst, warum ich unsicher war, ob ich etwas über Marxismus und Kunstgeschichte zu diesem besonderen Zeitpunkt schreiben sollte; dieses Problem leitet über zu einer Diskussion des Zustands der Kunstgeschichte an den britischen Universitäten zu Beginn des 21. Jahrhunderts. 1998 veröffentlichte ich ein Buch unter dem Titel Materializing Art History bei Berg Publishers (Doy 1998). Ich war in der glücklichen Lage, einen hilfreichen und begeisterten Verleger zu haben, dessen einzige Sorge es war, den Aufbau des Buchs zu verbessern und es lesbarer zu machen. Soweit es politische Ideen betraf, konnte ich mehr oder weniger schreiben, was ich wollte. Das Buch kam gebunden und – zu einem vernünftigen Preis – als Paperback heraus, aber leider hieß dies, dass es keine farbigen Illustrationen enthalten konnte, da ich es nicht geschafft hatte, Geldgeber dafür zu bekommen. Die Mehrzahl der akademischen Bücher, deren Autoren gegen den Tenor der meisten Veröffentlichungen anschreiben, die von den renommierten Universitätsverlagen wie Yale herausgegeben werden, neigen dazu, ziemlich matt und einfarbig auszusehen, obwohl meine Verleger ihr Bestes geben. Neben T. J. Clark, dessen spätere Bücher hochwertig sind und auch Farbtafeln haben, gehörte mein Buch über Marxismus und Kunstgeschichte bzw. der Geschichte der Visual Culture (mehr zu diesen Begriffen weiter unten) zu einer Gruppe von Veröffentlichungen, in der sich beispielsweise auch die von John Tagg (1988) und John A. Walker (2001) befanden; Bände, bei denen Welten zwischen der Qualität des Textes und der der Illustrationen liegen. (Gleichwohl gibt es in einer neueren Arbeit von John Roberts, The Art of Interruption: Realism, Photography, and the Everyday (1998), einige Farbtafeln, wie auch in meinem letzten Buch Picturing the Self; ich bin dem Arts and Humanities Research Council für den Zuschuss, der dies ermöglichte, dankbar.) Über lange Jahre sah es somit so aus, dass marxistische Historiker und Theoretiker der Visual Culture sich nur mit Studien zu visuell uninspirierendem Material wie alten Photographien und Drucken befassen würden – das Arme, Marginalisierte und Übersehene der visuellen Welt. Dies könnte zudem den Eindruck vermitteln, Marxisten seien gegenüber dem visuellen Vergnügen voreingenommen und würden die Sinnlichkeit gesättigter Farben, die der Kapitalismus zum Beispiel in der Bilderwelt der Werbung zeigt, zurückweisen (über Farben und ihre kulturellen Assoziationen vgl. Batchelor 2000). Vielleicht ist es nicht nur ein Zufall, dass T. J. Clarks Bücher über Kunstgeschichte mehr

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➔ 8 Marxismus und Kunstgeschichte

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damit befasst waren, sozio-politische Lektüren und Analysen anhand von Werken zu entwickeln, die bereits anerkanntermaßen von ›großen‹ Malern stammten – Manet, Courbet, Malewitsch usw. – und zudem mit Farbtafeln ausgestattet waren! Der Mangel an guten Reproduktionen bedeutete zudem die Bestärkung der Ansicht, dass Marxisten, die über Kunst schreiben, mehr am ›Inhalt‹ der Kunst interessiert seien als an ihren visuellen Qualitäten (da der Text durch mangelhafte Qualität nicht so beeinträchtigt wird wie das Bildmaterial in den Büchern). Es sei am Rande bemerkt, dass dies keine Kritik an Clarks Arbeit sein soll, dem viele von uns einiges verdanken – entweder weil wir mit ihm übereinstimmten und das, was er tat, weiterführen wollten, oder weil wir mit bestimmten Aspekten seiner Arbeiten nicht übereinstimmten und Themen ansprechen wollten, die er ausgelassen hatte. Diese Arbeiten spornten uns an, unsere eigenen Praktiken zu entwickeln. Einer der Gründe, die mich dazu anhielten, ein Buch über Marxismus und Kunstgeschichte zu schreiben, war der, dass ich die Klagen und Litaneien nicht mehr hören konnte, nach denen ›Marxisten‹ bestimmte Themen der Kunst und Visual Culture keine Beachtung schenkten – zu diesen gehörten, nach landläufiger Meinung, ›Rasse‹ und Ethnizität, Frauen, Themen der Queer Studies sowie die nicht-gegenständlichen Künste (durch den Marxismus beeinflusste Diskussionen dieser Themen finden sich in Doy 2000; 2005). Wenn der Marxismus als Methode überhaupt von Wert ist, so meine These, dann muss er in der Lage sein, alle Arten der Visual Culture zu bestimmen und zu analysieren und nicht nur Material in Bezug auf Klasse bzw. gegenständliche Kunst oder Kunst, die in Zeiten gesteigerten politischen oder ökonomischen Bewusstseins entstand. Darüber hinaus wurde ich unduldsam, wenn Akademiker in Aufsätzen, Büchern und Vorträgen den Marxismus als plump und ökonomistisch bezeichneten und mit dem Stalinismus gleichsetzten. Ich kam zu dem Schluss, mein Buch müsse verdeutlichen, dass es der marxistischen Methode nicht nur um den historischen, sondern um den dialektischen Materialismus geht, was wenig bekannt zu sein schien. Besonders durch postmoderne Theoriebildung beeinflusste Autoren kritisieren den Marxismus als unsubtil und wenig nuanciert, erklären aber immer ein ziemlich eindimensionales Marxismusmodell zu ihrer ›Zielscheibe‹. Ähnliche Einschätzungen gibt es immer noch, sogar in interessanten und gedankenvollen Büchern wie zum Beispiel The New Art History: A Critical Introduction von Jonathan Harris (Harris 2001). Dieser fragt, ob der Marxismus das Primat der Klasse »mit den Ansprüchen der Feministen, der Schwarzen oder der Schwulen [versöhnen kann], deren andere soziale Existenzweisen und soziale Kämpfe genauso wichtig sind[.] Er kann es nicht. Wenn die UdSSR letztendlich für ihre Selbstauflösung stimmte, so taten dies gewissermaßen auch die meisten westlichen Marxisten, die nicht mehr an

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das glauben konnten, was schon lange zuvor zu einem Dogma geworden war.« (Harris 2001: 267)

Der Marxismus, so Harris, »brach unter dem Gewicht seiner heruntergekommenen und inkompetenten praktischen Umsetzungen zusammen – hauptsächlich durch den ›realexistierenden Sozialismus‹ der UdSSR« (Harris 2001: 285). Hier wird der Marxismus in aller Deutlichkeit mit dem so genannten ›Sozialismus‹ der degenerierten und stalinisierten Arbeiterstaaten des Ostblocks in Zusammenhang gebracht. Weder zur Dialektik noch zu Trotzki findet sich ein Eintrag in Harris’ Buch. Harris konstatiert, dass »die radikale Kunstgeschichte mit Sicherheit vorbei ist« und ihre Begründer nun Teil des akademischen Establishments seien (Harris 2001: 286). Harris liegt damit nun nicht vollkommen falsch. Gesetzt, dass der Marxismus nicht nur die Theorie betrifft, sondern die Theorie im Verbund mit der Praxis, glaube ich nicht einmal, dass ich mich in aller Redlichkeit als Marxistin bezeichnen könnte, da ich in politischen Organisationen kaum tätig bin; dies ist allerdings nicht auf einen Wandel meiner politischen Ansichten zurückzuführen, sondern auf meine Müdigkeit. Aktivitäten jenseits der Universität oder des Colleges sind – obgleich meiner Ansicht nach wichtiger – nicht die einzigen Mittel marxistischer Praxis. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, was die Praxis eines marxistischen Lehrers sein sollte oder könnte. Wie Harris gleichwohl zeigt, besteht in Ermangelung bedeutender Klassenkämpfe und Bewegungen sozial Unterdrückter in Großbritannien kaum eine Basis für radikales Denken. Wie steht es nun heute um die marxistische Kunstgeschichte in der Collegeund Universitätsausbildung in Großbritannien? Dieser Essay gibt mir die Gelegenheit, über mögliche Antworten auf diese Frage nachzudenken.

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➔ 8 Marxismus und Kunstgeschichte

Höhere (Aus)bildung wird zu einem Markt Als mein Buch zur marxistischen Kunstgeschichte erschien, war es nicht gerade ein Bestseller! Gleichwohl hatte ich eines Tages, kurz nachdem es veröffentlich wurde, einen glücklichen Moment, als ich mit meiner Gewerkschaft, der NATFHE (National Association of Teachers in Further and Higher Education), eine Parlamentsentscheidung, die das Personal in Höheren Bildungseinrichtungen betraf, beeinflussen wollte; danach suchte ich das Buchgeschäft des Institute of Contemporary Arts in London auf. In einem Regal lag mein Buch zwischen Derrida und Engels. Gleichwohl wurde es nur für ein paar Wochen ausgelegt, da der Markt für Neuerscheinungen und der Raummangel in teuren Geschäftsräumen dazu führen, dass die meisten akademischen Bücher nur kurz in den Regalen der wenigen Buchgeschäfte, die sie überhaupt anbieten, zu finden sind. Obwohl viele Kunsthistoriker meines Alters dazu neigten, das Buch nicht zu beachten (selbst Gelehrte, von denen

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ich dachte, sie interessierten sich für Marxismus, schienen es zu ignorieren und zitieren es auch nicht in ihren eigenen Arbeiten), war ich sehr erfreut, dass einige jüngere Kunsthistoriker es interessant fanden. Doch muss ich eingestehen, dass die Wirkung meines Buchs gering war. Obwohl ich versuchte zu zeigen, dass der Marxismus auch zur Analyse der Kunst von Frauen und für Gender Studies ausgebaut und verwendet werden kann, hielten prominente Gelehrte wie Griselda Pollock an der Behauptung des »engen Blickwinkels des Marxismus« fest; sie zitierte Freud als Kritiker von Marx, um ihre Argumente – der Marxismus sei ökonomistisch und berücksichtige nicht das Problem der, bewussten oder unbewussten, Psyche – zu untermauern (Pollock 1999: 12). Jeder, der sich mit Frauen- und Gender-Fragen befasste, war laut Pollock per definitionem ein Feminist, kein Marxist, so offensichtlich war es, dass der Marxismus nichts über Frauen zu sagen hatte. Pollock bezog sich nie auf marxistische Argumente, die gegen diese Ansicht sprachen, so dass es Studierenden zumeist unbekannt blieb, dass es hinsichtlich dieser Fragen auch andere Haltungen geben konnte. Darüber hinaus wurde das sehr brauchbare Buch von Teresa Ebert Ludic Feminism and After im Kontext postmoderner feministischer Theorie kaum erwähnt. Wenn ich auch herausgestellt habe, dass Eberts Buch reduktionistische Tendenzen beinhaltet und ihm auch das dialektische Bewusstsein von Widersprüchen und Spannungen in kapitalistischen Kulturen fehlt – z.B. wenn Ebert behauptet »Sexualität ist, kurz gesagt, eine Ausdrucksweise von Profit« (Ebert 1996: 96) – so ist es größtenteils doch eine ausgezeichnete Kritik an Judith Butler und anderen, die vor ein paar Jahren unter radikalen Studenten und Akademikern so beliebt waren. Warum also hatte meine Arbeit zu Marxismus und Visual Culture so geringe Auswirkungen? Neben der Tatsache, dass ich mit einem kleineren Verleger zusammenarbeitete und das Buch von vielen etablierten Akademikern weithin ignoriert wurde, kam hinzu, dass die Situation der Kunstgeschichte sich tatsächlich immer schwieriger gestaltete. In den 70er Jahren, als ich eine Berufung auf eine neue Professur für Kunst- und Designgeschichte der Moderne erhielt, wurde die Kunstgeschichte von einem traditionellen zu einem wahrhaft interdisziplinären Fach umgestaltet, das Filmtheorie, Cultural Studies, Psychoanalyse, französischen Strukturalismus und Poststrukturalismus umfasste (vgl. die Einleitung zu Harris 2001). Die Kunstgeschichte befasste sich nun mit Film, Design, Medien, Bekleidung und Mode sowie Präsentationskultur (Studien zu Museen und Galerien) etc. Das heißt nun nicht, dass die Kunstgeschichte davor nicht auch schon interdisziplinär gewesen wäre. Erwin Panofsky, Ernst Gombrich und Max Raphael haben allesamt über die Fächergrenzen hinweg gearbeitet. Gleichwohl, in einem Klima politischer und sozialer Aktivität, trotz des Scheiterns des Mai 68 in Frankreich, blühte die radikale Kunstgeschichte, die einen Gutteil Marxismus enthielt, in Großbritannien auf,

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besonders in den so genannten polytechnischen und Kunst-Colleges, von denen erstgenannte 1992 zu den New Universities wurden. Vier dieser Polytechnika – Middlesex, Leicester, Newcastle, Stoke on Trent, entwickelten Studiengänge in Kunst- und Designgeschichte der Moderne – 1979 luden Akademiker, die mit dem Middlesex Polytechnic zu tun hatten, andere, darunter mich, zu einer Diskussion ein, in der Block entwickelt werden sollte, ein bahnbrechendes Journal, das der politischen Analyse der Kunst- und Designgeschichte sowie ihrer Lehre und Theoriebildung gewidmet war. Auch die Abteilung für Kunstgeschichte an der Leeds University galt als ›politisch‹, obgleich sie nicht so radikal in ihren Gegenständen war wie einige der Polytechnika, die sich mit Design- und Kleidungsgeschichte sowie mit Film auseinandersetzten. Es ist vielleicht trotzdem bedeutsam, dass die Leeds University auch eine Abteilung für Kunst hatte; diese Verbindung zu radikalen akademischen Kräften, ob Mitarbeiter oder Studierende, war wichtig für die Bereitstellung von Gelegenheiten, Theorie und Praxis zu durchdenken, die es an einigen der älteren Universitäten nicht gab. Wie dem auch sei; für mich waren die späten 70er Jahre die Zeit, in der ich aktiv in einer trotzkistischen Organisation tätig war (viele an marxistischen Methoden für Lehre und Forschung interessierte Kunst- und Designhistoriker waren auch Mitglieder politischer Organisationen), so dass ich keine Zeit fand, die ich Block hätte widmen können, und mich widerstrebend aus den Redaktionstreffen zurückziehen musste. Nach 1992 wurden die so genannten New Universities kommunaler Autorität entzogen und im Grunde zu privaten Institutionen (vor 1992 waren unsere Arbeits- und Vertragsbedingungen wesentlich besser), obgleich sie Regierungsgelder aus Studiengebühren erhalten wie auch Gelder, die von der Regierung in Rücksicht auf die Qualität der Forschung an den Institutionen vergeben werden. Diese wurde von der Research Assessment Exercise (RAE) festgelegt. Dieser Prozess der so genannten peer review (›so genannt‹ weil die Mitglieder des Panels berufen und nicht gewählt werden) hatte komplexe und manchmal widersprüchliche Effekte. Einerseits wurden die Institutionen, an denen radikale Beschäftigte größtenteils mit der Lehre befasst waren, nun ermutigt, Forschung und Veröffentlichungen zu machen, die Graduierte und Sponsoren an die Universitäten ziehen sollten. Ich war eine dieser Universitätsangehörigen, die fast nur noch unterrichteten, aber nun sah ich, dass meine Forschungsinteressen und mein Verlangen zu schreiben, sowohl finanziell als auch durch Freisemester unterstützt wurden. Es erschienen viele interessante und radikale Arbeiten, aber leider, als Rückseite der Medaille, gab es auch viele fade Veröffentlichungen, die als Auswirkungen eines grenzenlosen Fundraising-Markts betrachtet werden konnten. Gleichwohl war es nicht überraschend, dass der mittel- und langfristige Effekt der RAE genau in dem bestand, was die Regierung bezweckte, d.h. der Löwenanteil des Spon-

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sorings ging an die alten renommierten Universitäten, die größtenteils nicht dazu tendierten, radikale, kritische Veröffentlichungen oder Ausstellungen zu machen, während die New Universities, an denen viele der Arbeiten zu radikaler Kunst- und Designgeschichte und -theorie entstanden, nun unter Druck gerieten. Es galt ein System auszubeuten und es entstand ein Markt für den Ankauf und Verkauf von Forschungsbeschäftigten und Forschungsmanagern. Das bedenkenswerte Buch des verstorbenen Bill Readings The University in Ruins (Readings 1996) liefert überzeugende Argumente dafür, dass die Universitäten heutzutage von Marktkräften getrieben werden und mehr an Profitmargen als an Gedanken interessiert sind. Ideen von Kultur und unabhängigem Denken werden durch Marketing-Wortgeklingel wie ›Exzellenz‹ ersetzt, so dass Universitäten ihre Standards und umdefinierten (marktkonformen) Werte in einem tautologischen Verfahren fortbestehen lassen, d.h. Universitäten sind ›exzellent‹, da sie ›exzellent‹ sind. Obwohl die Manager der New Universities versuchten, das System für sich zu nutzen, scheiterten viele dabei, besonders seitdem die Einflussnahme dahin ging, das meiste Geld den Institutionen zukommen zu lassen, die ohnehin schon die reichsten waren. Zum Jahrtausendbeginn, 2001, begannen RAE negative Effekte auf kunsthistorische Studiengänge und Veröffentlichungsmöglichkeiten zu zeitigen. Studiengänge in Kunst- und Designgeschichte wurden unter anderem an der Leeds Metropolitan University (eine New University, die aus dem Leeds Polytechnic hervorging), Staffordshire University (vormals Stoke Polytechnic), De Montfort (vormals Leicester Polytechnic) geschlossen oder reduziert. Die Zahl der Kunstgeschichtestudierenden in Großbritannien fiel auf nur 900 Bewerber für das Fach im Universitätssystem. Im voruniversitären Bereich wird Kunst- und Designgeschichte fast nur noch an Private Schools angeboten, die gebührenpflichtig sind. Herausforderungen für die Kunstgeschichte und die Geschichte der Visual Culture Bei einem Treffen, das von den Mitgliedern Art Historians Association (UK) und der Design History Society (UK) im Herbst 2004 organisiert wurde, wurden die Herausforderungen diskutiert, denen sich die Kunstgeschichte als Disziplin stellen muss; unter anderem ging es um Abteilungen und Universitäten, an denen nur gelehrt wird, die Schließung von Kursen und die Schwierigkeiten, die bei der Veröffentlichung von kunstgeschichtlichen Werken entstehen. Bei den umfassenden Diskussionen vertraten einige Teilnehmer die Ansicht, dass das Auftauchen der Visual Culture als Themengebiet die Identität der Kunstgeschichte verwässert habe; von dieser Entwicklung sei in der Folge das Marktprofil ›Kunst- und Designgeschichte‹ ebenfalls betroffen.

2006-06-02 16-16-37 --- Projekt: T481.mum.media-marx / Dokument: FAX ID 00dd117241997058|(S. 111-125) T04_08 kapitel 8 Doy.p - Seite 116 117241997090

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Obwohl nicht alle Anwesenden dem zustimmten, ist es doch ein weiteres Beispiel für die Verdrängung von potenziell radikalen Entwicklungen, während den eher traditionellen Profilen und Methoden zugeschrieben wird, geeigneter für die Sicherung des Überlebens der Kunstgeschichte an höheren Bildungseinrichtungen zu sein. (Association of Art Historians, Feb. 2005 bulletin). Die zwei Berufsverbände (AAH und DHS) wurden gegründet, um die jeweilige akademische Disziplin zu fördern als auch die Interessen der Mitgliederschaft wahrzunehmen, die aus Lehrern, Forschern an Erziehungseinrichtungen sowie in Museen und Galerien als auch aus Studierenden besteht. Davon gehören viele auch den Gewerkschaften an. Bei diesem Treffen gingen die Meinungen hinsichtlich der Frage, inwiefern Kunst- und Designgeschichte heute in einer Krise steckten, auseinander. Ich neigte zu der Ansicht, dass es um sie – und viele weitere Disziplinen und akademische Abteilungen an den britischen Universitäten – recht schlecht bestellt sei. Immer weniger Verleger sind geneigt, kunsthistorische Bücher herauszubringen und die Gebühren für die Illustrationen bedeuten, dass die Autoren die Unterstützung durch staatliche Institutionen wie der British Academy oder des Arts and Humanities Research Council in Anspruch nehmen müssen, um sich hochwertige Illustrationen, Farbtafeln und die Bildrechte leisten zu können. Die Tatsache, dass einige staatliche Museen, wie Victoria & Albert, ihren Reproduktionsservice auf eine Agentur ausgelagert haben, bedeutete einen immensen Anstieg der Preise. Für die meisten akademischen Publikationen der späten 90er Jahre, die durch die RAE angeregt wurden, stellt sich die Lage jetzt noch schwieriger dar. Die meisten radikalen Kunsthistoriker wollen, dass ihre Arbeiten von so vielen Leuten wie möglich gelesen und verstanden werden. Die Panels der RAE erstellen inoffiziell ein Ranking der Verlage hinsichtlich der Qualität ihrer Arbeit. So ist es Usus, dass ein gebundenes Buch der Yale University Press mehr ›Punkte‹ für die Institution eines Autors bringt, als ein Buch, das in einem (unterstellterweise) minderwertigen Verlagshaus erscheint. Ich und andere kennen dies aus eigener Erfahrung. Nach einer erfolglosen Bewerbung rief ich die betreffende Universität an, um einen Rat hinsichtlich zukünftiger Bewerbungen einzuholen. Man sagte mir, dass ich bei den ›falschen‹ Verlagen und Zeitungen veröffentlichen würde. Hinsichtlich meines laufenden Projekts bin ich nun mit der Entscheidung konfrontiert, ob ich es in einem Universitätsverlag veröffentlichen soll, wo mein Buch in einer Auflage von 400-500 Exemplaren zum Preis von 75 € herauskommt oder aber, ob ich versuchen soll, einen Vertrag über eine Paperbackausgabe abzuschließen, mit einer wesentlich größeren Auflage zu einem Preis von 24 €. Wie auch immer, die erste Strategie wird sowohl meine Berufsaussichten wie meine – auch finanzielle – Position bei der RAE verbessern! Je weniger Leute also Zugriff auf mein Buch haben, desto nützlicher ist

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es für meine Positionierung und meine Institution in der akademischen Hierarchie! Dies ist leider die Lage, in der sich Kunst- und Designhistoriker (und andere Akademiker) heutzutage befinden. Auf einer kurzen Konferenz, an der ich im Juni 2005 am University College in London teilnahm (zum Thema ›Veröffentlichen für die RAE und darüber hinaus‹), stellten Akademiker und Verleger einige der wesentlichen Folgen dar, die aus der Anwendung der verschiedenen RAE-Richtlinien hervorgingen; die nächste Konferenz zu diesem Thema wird 2008 stattfinden. Entsprechend der (inoffiziellen) Emphase auf einige ›Spitzen‹-Verlage wurden auch bestimmte Zeitschriften besonders hervorgehoben. Daher könnten den Zeitschriften, die radikaler ausgerichtet sind, die Autoren ausgehen, da niemand das Verlangen oder die Zeit hat, Artikel für sie zu verfassen. Handbücher werden in dem Verfahren der RAE nicht hoch bewertet, und so gibt es immer weniger Akademiker in Großbritannien, die solche Bücher schreiben, worauf die Verlage Gelehrte aus den USA bitten, die verlangten Bücher zu verfassen. Die Darstellungen von John Thompson (Cambridge University) und Leo Walford (Sage Publishers), die sich mit diesen Entwicklungen und der ›kulturellen Forschungsökonomie‹ befassten, sind in dieser Hinsicht sehr erhellend. Im letzten Jahr verweigerte der Dekan meiner Abteilung der Bewerbung um ein Forschungsstipendium der Regierung seine Unterstützung, das die Kosten für Forschungsaufenthalte sowie für Fotografien und Reproduktionsgebühren decken sollte, obwohl es um eine Ausschreibung von hoher Qualität ging. Etwa eine Woche später bekam ich einen Brief, laut dem ich auf einer Liste von Leuten stünde, die als möglicherweise überflüssig bezeichnet werden. Warum? Man sagte mir, ich würde forschen und die Universitäten bräuchten auf meinem Gebiet keine Forschung mehr. Obwohl unser Studiengang für Kunst- und Designgeschichte wegen Studierendenmangel geschlossen wurde, sollte die Lehre aufrechterhalten werden, allerdings nur im Rahmen des so genannten ›Service Teaching‹ für andere Studiengänge wie Kunst, Optische Medien und Mode. Deshalb brauche man in unserer Abteilung keine Forschung mehr; man sagte mir, dass meine Forschungen jedenfalls nicht genug Geld einbringen würden. Dies ist momentan ein weiteres ernstes Problem in Großbritannien. Während in der Theorie die RAE-Panels akademische Abhandlungen als ›Goldstandard‹ für Forschungsveröffentlichungen ansehen, betrachten viele Universitäten, besonders die ›New Universities‹, den einsamen Forscher, der seine akademischen Forschungen und Veröffentlichungen durch Gelder des Arts and Humanities Research Council weiterbetreiben möchte, mit Argwohn. Die meisten New Universities wollen insbesondere ein Team von Forschern, die sich um Drittmittel von der Industrie bewerben, um Gelder von Kommunen und Regionen oder von der EU. Es entstand eine neue Riege von Forschungsmanagern, die diesen Prozess überwachen und vorwärtstreiben. Wie ein Akademiker letzthin formulierte:

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»Man fragt sich, wie viele wichtige Monographien jemals von einem Team geschrieben wurden« (Sim 2005). Auf den ersten Blick scheint die Zusammenarbeit im Team eigentlich ›sozialistischer‹ zu sein; das gilt aber nicht in diesem Zusammenhang. Teams werden häufig zusammengeschustert, da die Forscher weder die gleichen Interessen und Ziele verfolgen, noch dem gleichen Studiengebiet verpflichtet sind, sondern weil sie aufgefordert werden, sich zur Konzipierung eines Projekts zusammenzusetzen, das in erster Linie Geld einbringt (und nicht eines, das notwendig oder interessant ist). Stuart Sim konstatiert, dass sein eigener Bereich, die kritische Theorie, »oftmals die Voraussetzungen dieser Kultur herausfordert, und dass dies kaum attraktiv auf die meisten Sponsoren wirkt, die ihrer Natur nach Teil des Establishments und ziemlich konservativ in ihren Auffassungen sind«, und weiter: »Die Universitäten verwandeln sich momentan in Orte, an denen Ideen an den Höchstbietenden verkauft werden« (Sim 2005: 14). Es ist evident, dass diese Situation niemanden dazu ermutigt, für radikale Ideen einzutreten oder diese zu verbreiten. Während die Kunstgeschichte allem Anschein nach in Hinsicht auf den gegenwärtigen Arbeitsmarkt und als Folge der RAE in ihre traditionellen Bahnen zurückkehrte, geht es den neueren Feldern der Visual Culture (mein Titel lautet ›Professor für die Geschichte und Theorie der Visual Culture‹) auf dem akademischen Markt weniger gut. Die Idee hinter dem Terminus Visual Culture war ihre Interdisziplinarität wie auch ihre Signalfunktion hinsichtlich einer Abwendung von den traditionellen Zugängen und Feldern innerhalb der Kunstgeschichte sowie der Anwendung von Theorien, die nicht direkt aus der Kunstgeschichte, sondern mehr aus den Cultural Studies kommen; dies heißt auch eine Ermutigung zur Zurückweisung der Hierarchisierung von Bildmaterial, die beispielsweise Untersuchungen zu Werbe- und Medienbildern im Vergleich zu Gemälden und Skulpturen ermöglicht (Walker/Chaplin 1997; Herbert 2003; Pinney 2006). Aber mit der Emphase auf die alten Universitätsverlage, einigen wenigen renommierten Zeitschriften und der Verschanzung von Disziplinen in ihren eigenen festen Spezialisierungs- und Kompetenzgebieten – was wie eine Parodie auf eine schlechte Version der Moderne wirkt – wurde die Visual Culture als verdächtig und vielleicht noch nicht einmal akademisch genug eingeschätzt. Ich habe den Verdacht, dass sogar Wertarbeit zurückgewiesen wird, die sich ausschließlich mit der Gegenwart befasst und vom spezifisch Historischen absieht; obgleich dies nur mein subjektiver Eindruck ist, für dessen Fundierung ich keine hinreichenden Belege habe. Zudem gilt, dass viele der Gelehrten, die zur Entwicklung des Marxismus, zur radikalen Kunstgeschichte und den radikalen Cultural Studies beitrugen, sich der Ruhestands- bzw. Teilruhestandsgrenze nähern oder aber zunehmend zur Redundanz neigen. Terry Eagleton zum Beispiel publiziert weiterhin und gehört der Manchester University an, lehrt aber nicht mehr aktiv. Seine

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Arbeiten werden immer schwächer und haben nur noch wenige Fußnoten oder Belege, mit denen er seine Argumente versieht. In der Tat gibt es überhaupt keine Argumente und Debatten mehr, sondern nur noch die Gedanken von Terry Eagleton (vgl. z.B. Eagleton 2003). Nun können diese Gedanken von Terry Eagleton im besten Sinne sehr provokant und interessant sein. Ich frage mich aber, ob jemand, der im Teilruhestand ist, seine Ideen und Argumente in der gleichen Weise auf den Prüfstand stellt, wenn er sie nicht mit seinen Kollegen oder seinen besten Studierenden und Doktoranden diskutiert. Kritisches Denken muss, meiner Ansicht nach, in Bezug auf eine Art von Praxis entwickelt werden. Schreiben ist mit Sicherheit eine Praxis, wirkungsvoller ist aber vielleicht die Praxis des Unterrichts. Ohne etwas mehr direktes Engagement in der sozialen Welt, wie sie der Unterricht bietet, werden Forschung und kritisches Denken zu einem Hobby, dem man in seiner Freizeit nachgehen kann; oder es ergibt eine einseitige Unterhaltung, die man mit den normalerweise anonymen Lesern seiner Publikationen führt. Vielleicht ist es an der Zeit, eine marxistische Theorie des nützlichen Ruhestands zu erarbeiten oder vielleicht des gesamten Konzepts von Ruhestand. So kehren beispielsweise viele Leute zu organisierter politischer Aktivität zurück, für die sie jahrelang weder Zeit noch Energie hatten. Andere sind so erschöpft durch ihr Arbeitsleben, dass sie einfach nur noch so stressfrei wie möglich genießen wollen, was von ihrer Gesundheit übrig geblieben ist. Die jüngeren Wissenschaftler, die nun in Großbritannien im Begriff sind, die vielen Akademiker vor der Pensionsgrenze zu ersetzen, befinden sich in einem immer wettbewerbsorientierteren Arbeitsmarkt, haben oftmals vorläufige oder befristete Verträge und tendieren in der Folge nicht dazu, sich einen Namen als radikale und zweifelnde Gelehrte zu machen, sondern vielmehr dazu, sich ›sichere‹ Gegenstände für ihre Forschung und ihre Veröffentlichungen zu suchen. Jüngere Gelehrte stehen unter einem immensen Druck, ihre Dissertationen abzuschließen und zu veröffentlichen. Doch es sind noch andere Aspekte zu bedenken. Es gibt eine leicht gestiegene Nachfrage nach Leuten, die in ›nicht-westlichen‹ bzw. so genannten ›globalen‹ Gebieten von Kunst-, Architektur- und Designgeschichte arbeiten, nachdem den Institutionen klar geworden ist, dass sie sich von der Mehrheitskost US-europäischen Materials wegbewegen müssen. Dies resultiert nicht nur aus einem echten Verlangen, sich mit Fragen des Rassismus und des Ausschlusses in Kulturgeschichte und -theorie auseinander zu setzen, sondern möglicherweise auch daher, dass man andere Gruppen von Studierenden anziehen möchte. Ich habe letzthin bemerkt, dass es nun mehr Stellenanzeigen für Islamistik und Judaistik gibt, aber als Marxist kann ich darin keinen Unterschied zu einer Ausschreibung für ›Christianistik‹ sehen. Während die Linke zu den Gemeinschaften stehen sollte, die sich rassistischer Ausbeute und Attacken ausgesetzt sehen, ist es, so denke ich, in niemandes

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Interesse, auf lange Sicht religiösen Ideologien Vorschub zu leisten und heimlich an der Gleichmacherei von Religion, Identität und Kultur mitzuwirken. In Bezug auf die Unterteilung in Lehre und Forschung ist die Situation ebenfalls besorgniserregend. Man muss darüber diskutieren, ob hochqualitative Lehre von Leuten durchgeführt werden kann, die weder Zeit noch Unterstützung für Forschung haben. Es ist schon oft bemerkt worden, dass es eine, durch bestimmte Aspekte des RAE unterstützte, Regierungsstrategie ist, ein zweigeteiltes Universitätssystem zu schaffen. In Wirklichkeit ist es aber noch schlimmer: Wir haben nämlich ein dreigeteiltes System: Eliteuniversitäten an der Spitze, eine Anzahl von ›red-brick universities‹1 in der Mitte (z.B. Essex, Warwick, Sussex) und die New Universities/ex-Polytechnika ganz unten; viele von den letztgenannten stehen in der Gefahr, nur noch Lehre ohne Forschung anbieten zu können. (Dies ist eine sehr allgemeine Einschätzung; bestimmte Abteilungen können durchaus einen höheren oder niederen Rang in der ›Liga‹ besetzen.) Noch schlimmer sind Personal und Studierende an weiterführenden Colleges und Kunstcolleges dran, die nicht mit Universitäten assoziiert sind und überhaupt nicht mehr in ihrer Forschung unterstützt werden; dieses Personal ist gar nicht berechtigt, sich um Forschungsgelder der Regierung zu bewerben. Das Personal an diesen Institutionen hat eine sehr hohe Arbeitsbelastung und ist meist zu müde, um an Forschung auch nur zu denken. Die britische Regierung möchte mehr Studierende an die Universitäten bringen, hat aber entschieden, den Universitäten zu gestatten, höhere Studiengebühren zu verlangen. Als ich die Universität besuchte, gab es Stipendien (teilweise richtete sich deren Höhe nach dem Einkommen der Eltern, gleichwohl bekamen alle einen Mindestsatz) und Studierende hatten überhaupt keine Gebühren zu entrichten. Um ihre finanzielle Lage zu verbessern, suchen sich die Universitäten nun Studierende aus Übersee, die das vier- oder fünffache an Studiengebühren zu entrichten haben als britische oder solche aus der EU. Dies geschieht zum gleichen Zeitpunkt, wo die Regierungsrichtlinie zur Immigration vorsieht, ›ungewollte‹ Immigranten zu kriminalisieren, zu verhaften und zu deportieren, gleichgültig, ob sie aus ökonomischen Gründen kommen oder Asyl suchen. Dies trägt, milde ausgedrückt, wenig dazu bei, gegen rassistische Ideen anzugehen, wie sie sich erst neulich an dem Mord eines schwarzen Teenager namens Anthony Delano Walker zeigten, der mit einer Axt ermordet wurde, weil er schwarz war und seine weiße Freundin zur Bushaltestelle begleitete. Neben diesen Entwicklungen kann man in den letzten Jahren in Großbritannien einen Prozess beobachten, den man als ›Religiösierung‹ der Kultur bezeichnen könnte. Kultur wird gleichgesetzt mit Religion; Säkularismus und Atheismus, geschweige Marxismus, werden in zunehmendem Maße ignoriert. Religiös gebundene Schulen (›Faith Schools‹) werden unter anderem von

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Premierminister Tony Blair unterstützt (zu verschiedenen Einschätzungen und Diskussionen hierzu vgl. Bunting 2004; Toynbee 2004; Manzoor 2005). Das Verschwinden vieler Kurse für Studierende und Graduierte in Kunstund Designgeschichte bedeutet nicht nur den Verlust von Stellen, sondern auch den Verlust von Möglichkeiten, Theorien und Methoden der Analyse der Visual Culture zu unterrichten, darunter den Marxismus. Ohne eigene Abschlüsse ist das Personal, das Kunstgeschichte bzw. Geschichte und Theorie der Visual Culture unterrichtet, in seinem Wirkungskreis bisweilen von den künstlerischen Beschäftigten abhängig. Wenn eine gute Beziehung zwischen Theoretikern und Praktikern besteht, ist es weiterhin möglich, den Studierenden kritisches und radikales Denken beizubringen. Dies ist aber nicht immer der Fall. Zur Zeit sind die Studierenden nicht sonderlich offen für Diskussionen, die sich mit Theorie befassen, besonders dann, wenn die Zeit, die sie mit Kunsthistorikern verbringen, im Vergleich zu Hauptfachstudierenden der Kunstgeschichte so gering ist. Darüber hinaus greifen die Studierenden bei der Abfassung ihrer Essays anstatt auf Bücher und Zeitschriftenartikel auf Websites zurück. Meiner Erfahrung nach sind die Studierenden der Kunst nachdenklicher und auch mehr an Debatten interessiert, vielleicht weil einige von ihnen bereits akzeptiert haben, dass es für sie sehr unwahrscheinlich ist, eine Arbeit zu bekommen, bei der sie das tun können, was sie gelernt haben; deshalb müssen sie ihre Gedanken auch nicht in dem Maße einem zukünftigen Beruf anpassen. Anders sieht dies aus bei Studierenden des Produktdesigns, der Mode und den Multimediafachrichtungen, die Werbung gestalten; hier scheint es so zu sein, dass sie in ihrem Denken weniger kritisch sind und möglicherweise resistenter gegenüber Ideen, die sie tatsächlich in Bezug auf ihre gewählte Karriere desillusionieren könnten. Was kann man also tun? Obwohl es versteckten (und auch weniger versteckten) Druck auf Kunst- und Designhistoriker gibt, ›sichere‹ Arbeiten wie Monographien bei ›berühmten‹ Universitätsverlagen zu veröffentlichen und sich von interdisziplinärer Forschung reinzuhalten, die bei den RAE Panels keine Erfolgsaussichten zu haben scheint, gibt es doch noch ein bedeutendes intellektuelles Leben und radikales Denken in der Kunstgeschichte. Die kommende jährliche Konferenz der Association of Art Historians im Jahr 2006 läuft unter dem Titel Art and Art History: Contents, Discontents, Malcontents.2 Deren Organisator, Fred Orton (University of Leeds), ein weiterer linker Kunsthistoriker, der kurz vor dem Ruhestand steht, schreibt, die jährliche Konferenz sei »einer der wenigen Orte, wo es keine Verwaltungszwänge gibt, die uns von Lehr- und Lernausschüssen, lokalen Behörden, Kuratorien usw. aufgebürdet werden, und wo wir etwas ›Kunstgeschichte‹ in unserer eigenen Sprache betreiben können« (Orton 2004: 21). Es wurden einige Veranstaltungen für diese Konferenz vorgeschlagen, die zu politischem Denken und möglicherweise weiteren Aktionen anregen soll, wie z.B. Jonathan Harris’ Veran-

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staltung zum Thema Morbid Symptoms: Art and Art History after 9/11 and the War on Terror, die Fragen hinsichtlich der Auswirkungen der politischen Linie der Regierung nach dem ›11. September‹ (eine Bezeichnung, die ich nur ungern benutze) auf »zeitgenössische Kunst und den Kunstunterricht an Universitäten und Colleges« behandelt (Harris 2005). Es war Harris selbst, der kürzlich auf die »Spannungen zwischen der kritischen intellektuellen Offenheit der Entwicklungen in der Kunstgeschichte und der beständigen konservativen institutionellen akademischen Kultur in den letzten dreißig Jahren (mit bezug auf die Funktion der Universitäten in modernen kapitalistischen Gesellschaften)« (Harris 2001: 2) hinwies. Marx und Engels betonten, dass ›Menschen‹ Geschichte gestalten, dies aber nicht unter Bedingungen, die sie sich selbst gewählt haben; es ist offensichtlich, dass die gegenwärtige politische und wirtschaftliche Situation für viele von uns nicht die beste ist. Obwohl die Bedingungen auf vielerlei Arten nicht zu einer Blüte marxistischer Methoden in Erziehung und Bildung wie auch in der Welt jenseits von Colleges und Schulen beitragen, so verdienen doch die vielen jungen Leute im Erziehungssystem wenigstens eine Einführung in die Begriffe des dialektischen Materialismus und die Arten, in denen der Marxismus versucht, die Welt zu begreifen und zu verändern; dies ist wichtig, damit sie sich und ihre Praxis in Beziehung zu den Weltereignissen setzen können. Mit der Abfassung dieses Essays hatte ich die Gelegenheit, über meine eigene Praxis als Forscherin und Lehrerin nachzudenken. In den letzten Jahren wurde dieser letzte Aspekt für mich immer frustrierender, da ich immer weniger Studierenden begegnete, die offen für kritische Ideen sind; zudem wird die Lehre in Großbritannien auf allen Ebenen zunehmend reguliert und bürokratisiert. Lehrende werden mehr und mehr dazu angehalten, eher Formen als Inhalte zu vermitteln sowie Präsentationstechniken, die frei von jeder kritischen Idee sind. Walter Benjamin schrieb, es sei entscheidend, Konsumenten in Produzenten zu verwandeln und Leser oder Betrachter in Mitwirkende (vgl. Benjamin 1978). Man vergisst dies so leicht unter dem abstumpfenden Druck der derzeitigen bürokratisierten Universitäten, dem obligatorischen Training des ›Bewertens‹ von neuen Unterrichtsmethoden und der Betonung, wie erwünscht es ist, dass man die Studierenden dazu bringt, sich gegenseitig zu bewerten; zu diesem Komplex gehören auch der Fernunterricht und ähnliches (ein Kollege an einer anderen Universität beschrieb die von diesen Trainingsmethoden begeisterten Kollegen als ›Didaktik-Taliban‹). Ein guter Lehrer wird Konsumenten in Produzenten verwandeln, und alles weitere. Aber, Benjamin ist hier vorsichtig in seiner Argumentation: Es reicht nicht hin unsere Studierenden und Leser in Produzenten zu verwandeln … Es geht auch darum, was sie produzieren und wie die Produktionsmittel verändert werden. Lasst uns nicht vergessen, dass es eine enge Beziehung von ra-

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dikalen Formen und radikalen Inhalten gibt und es unmöglich ist, das eine ohne das andere zu haben. Übersetzt aus dem Englischen von Holger Steinmann Anmerkungen 1 Begriff für Britische Universitäten, die im späten 19. oder frühen 20. Jahrhundert in großen Industriestädten gegründet wurden und der sie von Universitäten wie Oxford und Cambridge deutlich absetzen soll. (SOED 2497, A.d.Ü.). 2 Ein nicht übersetzbares Wortspiel: ›Contents‹ heißt sowohl Inhalte als auch Zufriedenheiten und Befriedigungen; ›Discontents‹ bedeutet Unzufriedenheiten, selten aber auch: Unzufriedene; ›Malcontents‹ läßt sich ebenfalls mit Unzufriedene, aber auch mit politische Agitatoren, Rebellen übersetzen (A.d.Ü.). Literatur Batchelor, D. (2000): Chromophobia, London. Benjamin, W. (1978): »The Author as Producer«. In: ders., Illuminations: Essays, Aphorisms, Autobiographical Writings, hg. v. P. Demetz, New York, S. 220-238. Bunting, M. (2004): »Muslim Schools don’t cause Riots«. In: The Guardian, 10. Juni, S. 22. Clark, T. J. (2001): Farewell to an Idea: Episodes from a History of Modernism, New Haven, London. Doy, G. (1998): Materializing Art History, Oxford, New York. Doy, G. (2000): Black Visual Culture: Modernity and Postmodernity, London, New York. Doy, G. (2005): Picturing the Self: Changing Views of the Subject in Visual Culture, London, New York. Doy, G./Gee, M./Breward, C. (2005): »The Challenges Facing Art History«. Bulletin of the Association of Art Historians 88, S. 1/2. Ebert, T. (1996): Ludic Feminism and After: Postmodernism, Desire, and Labor in Late Capitalism, Ann Arbor. Eagleton, T. (2003): After Theory, London. Harris, J. (2001): The New Art History: A Critical Introduction, London. Harris, J. (2005): »Morbid Symptoms: Art and Art History after 9/11 and the War on Terror«. Bulletin of the Association of Art Historians 89, S. 26. Herbert, J. D. (2003): »Visual Culture/Visual Studies«. In: Nelson, R. S./Shiff, R. (Hg.), Critical Terms for Art History, Chicago, S. 452-464.

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9 Marxistische Literaturtheorie

Sven Strasen Der Sammelbegriff ›marxistische Literaturtheorie‹ fasst sehr unterschiedliche literaturtheoretische Ansätze zusammen. Dies hat seinen Grund darin, dass das Adjektiv ›marxistisch‹ nicht so sehr gemeinsame Basisannahmen über das Wesen der Literatur oder der Sprache impliziert, als vielmehr Übereinstimmungen in der Einschätzung philosophischer, historischer, politischer und vor allem sozio-ökonomischer Sachverhalte und Entwicklungen. Die Arbeiten Marx’ und Engels’ bieten lediglich sehr allgemeine und grundsätzliche Überlegungen zu Literatur und Kultur. Die unterschiedliche Interpretation und relative Gewichtung dieser Überlegungen bilden die Basis für die unterschiedlichen Strömungen in der marxistischen Literaturtheorie. Allen marxistischen Theorien gemeinsam ist die Verpflichtung auf die materialistischen Grundlagen des Denkens Marx’ und damit eine Sicht der Geschichte als einer Abfolge von Kämpfen um die Kontrolle über die materiellen Grundlagen der Existenz. Unter der Prämisse, dass die materiellen Bedingungen des Seins das Bewusstsein bestimmen, ist eine isolierte Betrachtung der Literatur ohne Berücksichtigung der zugrunde liegenden materiellen Bedingungen unsinnig. Insofern kommt keine marxistische Literaturtheorie ohne ein Modell aus, das den Einfluss der Produktionsverhältnisse, der so genannten Basis, auf bewusstseinsabhängige Phänomene wie Literatur, einen Bereich des Überbaus, beschreibt. Wie eng der Zusammenhang zwischen Basis und Überbau ist, ist eine der entscheidenden Fragen in der marxistische Literaturtheorie. Die Aussagen der so genannten Klassiker des Marxismus können diese Frage nicht klären, weil ihre Aussagen einen weiten Interpretationsspielraum bieten. So schreibt Engels:

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»Die politische, rechtliche, philosophische, religiöse, literarische, künstlerische etc. Entwicklung beruht auf der ökonomischen. Aber sie alle reagieren auch aufeinander und auf die ökonomische Basis. Es ist nicht, dass die ökonomische Lage Ursache, allein aktiv ist und alles andere nur passive Wirkung. Sondern es ist Wechselwirkung auf Grundlage der in letzter Instanz stets sich durchsetzenden ökonomischen Notwendigkeit.« (MEW, Bd. 39: 206).

Auf einer ersten Ebene lassen sich marxistische Literaturtheorien danach unterscheiden, als wie unmittelbar der Einfluss der Basis auf den Überbau und als wie stark die Rückwirkung des Überbaus auf die Basis angenommen wird. Die zweite entscheidende Quelle für die Heterogenität marxistischer Literaturtheorien betrifft erkenntnistheoretische Grundlagen. Nach Marx verbürgt nur die selbstbestimmte Arbeit einen Kontakt zur Welt der Objekte, der dem Subjekt die Gewissheit verbürgt, die Welt angemessen wahrzunehmen. Wenn

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durch die Entfremdung der Arbeit unter tauschwertorientierten Produktionsverhältnissen tatsächlich die harmonische Verbindung von Subjekt und Objekt durchtrennt wird und die Sicht auf die Objektwelt notwendigerweise ideologisch verzerrt ist, stellt sich die Frage, wie der marxistische Theoretiker sich diesen Beschränkungen der Möglichkeiten von Erkenntnis soll entziehen können (Ideologie und Ideologiekritik). Die Antwort auf die Frage, wie stark Subjekte in ihren Erkenntnismöglichkeiten durch Ideologie eingeschränkt sind, hat entscheidende Konsequenzen für die jeweilige marxistische Literaturtheorie. Für Zwecke einer ersten Orientierung kann man das Feld der marxistischen Literaturtheorien wie folgt ordnen: a) Hohe Abhängigkeit des Überbaus von der Basis+Schwacher Ideologiebegriff; b) Hohe Abhängigkeit des Überbaus von der Basis+Expansiver Ideologiebegriff; c) Hoher Grad von Autonomie des Überbaus+Expansiver Ideologiebegriff; d) Hoher Grad von Autonomie des Überbaus+Schwacher Ideologiebegriff. a) Marxistische Literaturtheorien dieser Prägung waren insbesondere in der Literaturwissenschaft des ehemaligen Ostblocks verbreitet. Die Partei als Vorhut der Arbeiterklasse sei als Trägerin proletarischen Klassenbewusstseins in der Lage, die objektiven materiellen Bedingungen zu erkennen. Insofern nehme sie nicht nur politisch, sondern auch epistemologisch eine Sonderstellung ein. Gleichzeitig, so die These, spiegelten die kulturellen Erscheinungen ungebrochen den Stand der Produktionsverhältnisse. So glaubte V. Z˘irmunskij, lange Zeit der führende Komparatist der Sowjetunion, in allen europäischen Literaturen die gleiche Abfolge von literarischen Strömungen und Stilrichtungen am Werk zu sehen: »[…] Renaissance, Barock, Klassizismus, Romantik, Realismus und Naturalismus, Modernismus und – in unseren Tagen mit dem Anbruch einer neuen Epoche in der gesellschaftlichen Entwicklung – des sozialistischen Realismus, welcher eine neue und höhere Entwicklungsstufe des Realismus darstellt. Diese Übereinstimmung kann unmöglich Zufall sein. Sie ist vielmehr durch ähnliche soziale Entwicklungen bei den betreffenden Völkern historisch bedingt.« (Z˘irmunskij 1973: 206).

Angesichts der augenfälligen intellektuellen Schlichtheit dieser Typologie ist es nicht erstaunlich, dass westliche Marxisten versuchten, sich von solchen ›vulgärmarxistischen‹ Positionen zu distanzieren. Seit dem Zusammenbruch des Ostblocks spielen marxistische Literaturtheorien dieses Typus kaum noch eine Rolle, und eine Renaissance dieser Strömung ist in absehbarer Zeit auch nicht zu erwarten. Dabei schwindet auch der Einfluss solcher

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Sven Strasen

Theoretiker, die, wie G. Lukács (1970; 1986), eine strukturell ähnliche Position weit differenzierter und subtiler vertreten. b) Konsequenter, aber gerade deshalb mit großen erkenntnistheoretischen Problemen behaftet, argumentieren solche Theoretiker, die als Konsequenz des für stark gehaltenen Einflusses der Basis auf den Überbau die Möglichkeiten zur Überwindung ideologischer Verzerrungen der Realitätserkenntnis skeptisch beurteilen. Der einflussreichste Exponent einer solchen Haltung ist der amerikanische Literaturtheoretiker Fredric Jameson. Er übernimmt das Konzept einer gesellschaftlichen Totalität, deren bestimmendes Moment der Stand der Produktionsverhältnisse sei. Gleichzeitig geht er davon aus, dass in der Mediengesellschaft des Spätkapitalismus die ökonomische Basis immer mehr Bereiche des Überbaus, die bislang noch eine relative Autonomie genossen hätten, direkt beeinflusse. Dieser Prozess sei so weit fortgeschritten, dass es keinen von der Logik der Basis abgekoppelten Bereich mehr gebe, von dem aus Ideologiekritik möglich wäre. Die Ideologie ist einfach allgegenwärtig oder mit Jamesons Worten: »[…] everything is ideology, or better still, […] there is nothing outside of ideology […]« (Jameson 1991: 180). Positionen, die, wie Jamesons, einen starken Einfluss der Basis auf den Überbau und einen sehr expansiven Ideologiebegriff vertreten, geraten zwangsläufig in Gefahr, eines performativen Widerspruchs angeklagt zu werden. Wenn alle Positionen ideologisch verzerrt sind, so das einschlägige Argument, müsste das logischerweise auch für Jamesons eigene Thesen gelten. Trotzdem werden sowohl die theoretischen Grundüberzeugungen als auch die konkreten Analysen kultureller Erscheinungen mit einem impliziten Geltungsanspruch vorgetragen, so dass sich die Frage aufdrängt: »By what authority […] does Jameson now claim exemption from the prison-house of ideology?« (Flieger 1982: 52). Diese Frage bleibt für alle marxistische Literaturtheorien dieses Typus entscheidend. Jameson verweist hier auf ein zukünftiges kollektives Klassenbewusstsein als Möglichkeit zur Überwindung von Ideologie. F. Lentricchia (1983; 1988), der unter Rückgriff auf Überlegungen von Foucault ein ähnliches theoretisches Projekt verfolgt wie Jameson, glaubt hingegen, auf Aussagen mit Wahrheitsanspruch ganz verzichten zu können. Wenn diese Lösungen auch theoretisch stringent aus den Basisannahmen abgeleitet sind, so birgt doch die These, dass individuelle Subjekte Aussagen mit Wahrheitsanspruch nicht legitimieren können, große Probleme bei der konkreten Arbeit mit Texten. Zudem wird der Appellcharakter, der dem marxistischen Diskurs stets innewohnt, durch solche Ansätze stark in Frage gestellt. c) Im westlichen Marxismus hat sich besonders nach dem Zweiten Weltkrieg eine starke Abkehr von mechanistischen Basis-Überbau-Modellen vollzogen. Wesentliche Anstöße hierfür kamen von der so genannten Frankfurter Schule. So entdeckt z.B. Theodor W. Adorno eine Parallele zwischen der Ten-

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denz, heterogene Objekte auf ihren Tauschwert zu reduzieren und dem Versuch, unterschiedlichste Sachverhalte mit Hilfe begrifflicher Konzepte miteinander zu identifizieren. »Identität« ist für Adorno »die Urform von Ideologie« (Adorno 1966: 149). Damit ist der Begriff der Ideologie auf jede Art identifizierenden Denkens ausgedehnt. Für klassische Basis-Überbau-Modelle, die heterogene Überbauphänomene zu einem bloßen Reflex der ökonomischen Basis reduzieren, ist in einem solchen Denken kein Platz. Es muss deshalb ein Bereich gefunden werden, in dem den heterogenen Erscheinungen ihr Recht gelassen wird und in dem sie nicht auf identifizierende Allgemeinbegriffe reduziert werden. Eine Besonderheit der Frankfurter Schule und dort in erster Linie Adornos besteht darin, dass sie der Kunst und damit auch der Literatur die Fähigkeit zuschreibt, sich der Ideologie zu entziehen. Ästhetik wird hier zum Fluchtpunkt des Heterogenen, nicht unter die Identität zu Subsumierenden. Dies erklärt dann auch die Vorliebe der Frankfurter Schule für die ästhetischen Experimente der klassischen Moderne und ihre Abneigung gegen den Realismus. Auf einer völlig anderen Grundlage, nämlich der einer Verbindung strukturalistischer und psychoanalytischer Ansätze, versucht Louis Althusser (1977) vulgärmarxistische Konzepte zu überwinden und den Ideologiebegriff weiterzuentwickeln. Zum einen versucht er, das Verhältnis eines Ganzen zu seinen Teilen neu zu erklären. Es sei nicht so, wie klassische Basis-Überbau-Modelle voraussetzten, dass ein System ein inneres Wesen habe, das sich dann nur in einzelnen Phänomenen manifestiere. Vielmehr genießen nach Althusser die verschiedenen Überbau-Bereiche eine ›relative Autonomie‹ und folgen ihrer eigenen Entwicklungslogik. Einzelne Ereignisse seien Ergebnisse komplexer Wechselwirkungen zwischen jeweils relevanten Subsystemen, durch den Einfluss verschiedener Subsysteme ›überdeterminiert‹. Gleichzeitig sorge die relative Autonomie dafür, dass unterschiedliche Teilsysteme miteinander in Widerspruch geraten könnten. Noch wichtiger für die Weiterentwicklung der marxistischen Literaturtheorie ist jedoch Althussers Theorie der Ideologie. Der Einzelne, so Althusser, könne nicht mit der Erkenntnis der Tatsache leben, dass seine individuelle Existenz für das Funktionieren der gesellschaftlichen Strukturen völlig belanglos sei. Mit ›Ideologie‹ werden diejenigen Fehlurteile über die Realität bezeichnet, die dem Individuum die Illusion vermitteln, einen bedeutsamen Einfluss auf das Gesamtsystem zu haben, um sich so als klassisches Subjekt und nicht als bloßer Träger gesellschaftlicher Funktionen sehen zu können. Damit wird dem durch verschiedenste Einflüsse der umgebenden Strukturen determinierten Subjekt zugleich die Illusion ermöglicht, ein autonomes und stabiles Wesen zu besitzen. Damit hat Althusser die Sphäre der Ideologie von der Erkenntnis der Objektwelt auf die Konstitution von Subjekten selbst ausgedehnt. Bei aller Vergleichbarkeit ihrer Basisannahmen haben Althussers und

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Sven Strasen

Adornos Theorien für die Literaturtheorie sehr unterschiedliche Konsequenzen: Während im einen Fall Literatur auf ihr ideologiekritisches Potenzial hin untersucht werden muss, ist sie im anderen Fall Ausdruck der ideologischen Sicht von Individuen und bietet somit eine Chance, Ideologie sichtbar zu machen. Gemeinsam ist beiden Theorien jedoch, dass sie die marxistische Literaturtheorie für Anregungen anderer Strömungen wie des Strukturalismus und der Psychoanalyse geöffnet haben. d) Die meisten zeitgenössischen marxistischen Literaturtheorien haben in der Nachfolge Althussers und der durch ihn ausgelösten Rezeption des Strukturalismus Modelle entwickelt, in denen der Primat der Basis sich nur sehr indirekt manifestiert. Gleichzeitig wird versucht, dem performativen Widerspruch zu entgehen, der in einem expansiven Ideologiebegriff angelegt ist, ohne das gesellschaftskritische Potenzial des Konzeptes aufgeben zu müssen. Ein häufig beschrittener Weg aus diesem Dilemma ist der Versuch, sich mit Hilfe besonders der frühen Schriften Marx’ ein erkenntnistheoretisches Fundament zu schaffen, mit dessen Hilfe zumindest ein potenzieller Weg zur Erkenntnis nicht ideologisch verzerrter Realität offen gehalten werden kann. Auf dieser Grundlage soll dann mit Wahrheitsanspruch vorgetragene Ideologiekritik möglich werden. So vertritt Terry Eagleton die Position, dass objektive Bedürfnisse und damit rationale Normen aus dem überzeitlichen Datum der Körperlichkeit des Menschen abgeleitet werden können. Arbeit, Sexualität und soziale Interaktion werden so zum Ausgangspunkt für eine Analyse objektiver Bedürfnisse, vor deren Hintergrund Anspruch und Wirklichkeit gesellschaftlicher Strukturen ideologiekritisch miteinander verglichen werden können. Der damit verbundene Versuch, Ethik, Politik, Geschichte und die Rationalität selbst auf einer körperlichen Grundlage zu rekonstruieren, soll so die Basis für eine marxistische Literatur- und Kulturkritik bilden (vgl. Eagleton 1990: 196f.). Die gleichrangige Stellung, die Eagleton Arbeit und Sexualität zuweist, ist Ausdruck der Tendenz, die marxistische Literaturtheorie für andere Ansätze, hier die feministische Literaturtheorie, zu öffnen. Während in Eagletons Fall der Boden des marxistischen Diskurses dabei nicht verlassen wird, sind einige andere dieser Öffnungsversuche kaum noch als marxistische Literaturtheorie zu erkennen. So wurde häufig versucht, marxistische und poststrukturalistische Positionen miteinander zu verbinden. Die dabei entstehenden theoretischen Konstrukte sind zwar häufig in sich stimmig, verabschieden sich aber von für den Marxismus unverzichtbaren erkenntnistheoretischen Basisannahmen (vgl. z.B. Ryan 1982). Elemente marxistischer Literaturtheorie wie der Ideologiebegriff sind auch für solche Theoretiker interessant, die sich nicht dem marxistischen Diskurs zugehörig fühlen. So haben sich höchst erfolgreiche literaturtheoretische Strömungen wie der New Historicism und der Cultural Materialism auf der Grundlage einer fruchtbaren Synthese marxistischer, poststrukturalisti-

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scher und historistischer Theoreme gebildet (vgl. Knowles 1996). Insbesondere der New Historicism kann jedoch nicht zu den marxistischen Literaturtheorien gerechnet werden, weil er die übergeordneten Ziele des Marxismus nicht teilt.1 Anmerkung 1 Vgl. Sven Strasen: »Marxistische Literaturtheorie«. In: Ansgar Nünnig (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. S. 418-421. (c) 2004 J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und C. E. Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart. Wir danken Sven Strasen und dem Metzler-Verlag für die Genehmigung zum Wiederabdruck. Literatur Adorno, Theodor W. (1966): Negative Dialektik, Frankfurt/Main. Althusser, Louis (1977): Ideologie und Ideologische Staatsapparate, Hamburg, Berlin. Callinicos, Alex (1985): Marxism and Philosophy, Oxford. Eagleton, Terry (1990): The Ideology of the Aesthetic, Oxord, Cambridge/MA. Flieger, Jerry A. (1982): »The Prison-House of Ideology: Critic as Inmate«. Diacritics 12, S. 47-56. Forgacs, David (1992): »Marxist Literary Theories«. In: Jefferson, Ann/Robey, David (Hg.), Modern Literary Theory: A Comparative Introduction, London, S. 166-203. Jameson, Fredric (1991): Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism, London. Knowles, J. (1996): »Marxism, New Historicism and Cultural Materialism«. In: Bradford, Richard (Hg.), Introducing Literary Studies, London, S. 568-595. Lentricchia, Frank (1983): Criticism and Social Change, Chicago, London. Lentricchia, Frank (1988): Ariel and the Police. Michel Foucault, William James, Wallace Stevens, Madison/WI. Lukács, Georg (1970): Geschichte und Klassenbewusstsein [1923], Neuwied. Lukács, Georg (1986): Die Theorie des Romans [1916], Darmstadt. Ryan, Michael (1982): Marxism and Deconstruction: A Critical Articulation, Baltimore. Z˘irmunskij, Viktor M. (1973): »Die literarischen Strömungen als internationale Erscheinungen«. In: Rüdiger, Horst (Hg.), Komparatistik: Aufgaben und Methoden, Stuttgart, S. 104-126.

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10 »Kein Protokollobst auf den Tischen fotografieren (sonst wird die Bevölkerung neidisch)« – Marx, Lenin und die Freiheit der Presse

Daniel Müller Zu Lebzeiten von Karl Marx und seinem engsten Mitstreiter Friedrich Engels waren periodische und nichtperiodische Druckschriften faktisch die einzigen Massenmedien, hatte die (Drucker-)Presse also das mediale Monopol. Zwar existierten andere, ältere Medien respektive »Mittel, Formen und Methoden« [des Nachrichtenwesens, D. M.] gemäß ›Riepls Gesetz‹1 (Riepl 1913: 5) fort, jedoch darf man sich bewusst machen, dass Riepl selbst sich zur Illustration vor allem auf das Fortbestehen des Feuer- und Rauchsignalwesens in nicht ›entwickelten‹ Ländern bezog. Das synchronische Nebeneinander bei ihm ist also letztlich doch wenigstens z.T. ein diachronisches Nacheinander, wobei die einzelnen Länder oder Völker Zeitstufen vertreten.2 Neuere Medien steckten noch in den Anfängen bzw. existierten als Vorformen (Camera obscura, Laterna magica, Daguerreotypie); das zeitlich nächste wichtige eigene Medium, der Film, sollte seine Geschichte erst 1895 in Engels’ Todesjahr beginnen.3 Freilich ist auch für die Presse der Begriff vom ›Massenmedium‹ durchaus fragwürdig. Die weitaus meisten Druckschriften erschienen in Auflagen, die nach Hunderten, seltener nach Tausenden zählten. Eine wirkliche Massenpresse entstand in Deutschland erst mit den Generalanzeigern, beginnend 1883 in Marx’ Todesjahr mit August Scherls Berliner Lokal-Anzeiger. Andere Länder waren hier schneller; die höchste Auflage aller Blätter, für die Marx und Engels – 1851-62 – schrieben, hatte die New York Tribune von Horace Greeley, die schon in den 1850er Jahren in ihrer auflagenstärksten Form als Wochenzeitung (Weekly Tribune) mehr als 100.000 Exemplare druckte (vgl. MEGA I/11: 574, wo für die Gesamtauflage schließlich »etwa 300.000« genannt werden).4 Der beschränkte Leserkreis erklärt im Übrigen auch die anspruchsvolle Sprache der Marx’schen Zeitungsartikel: Wie immer man zu ihnen stehen mag – Beschränktheit, Monotonie, Langeweile kann man den Marx’schen Pressetexten nicht nachsagen, aber auf einen maximalen Leserkreis berechnete Verständlichkeit, ›Volkstümlichkeit‹, ebenso wenig.5 Die Presse hatte also, cum grano salis, zu Lebzeiten Marx’ das massenmediale Monopol. Marx und Engels haben selbst eine umfangreiche publizistische Tätigkeit entfaltet – eigene Texte verfasst und fremde redigiert. Ihre enorme Wirksamkeit gründet sich vor allem auf die eigenen Druckschriften, angefangen von anonymen Zeitungsartikeln bis hin zu mehrbändigen Büchern. Die vorliegenden umfangreichen (gemeinsamen) Werkausgaben (MEW, MEGA) bestehen zu einem großen Teil aus Beiträgen für die periodische Presse.

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Eine halbwegs geschlossene Theorie über die Presse lässt sich dennoch aus den Schriften von Marx und Engels nicht ableiten. Die weitaus meisten Textstellen, die in den Registern von Werkausgaben (vgl. z.B. Sandkühler 1983) unter »Presse« und verwandten Stichwörtern (»Arbeiterkorrespondenten«, »Journalistik«, »Publizistik«, »Zeitschrift« etc.) oder auch unter den Namen einzelner Organe verzeichnet sind, enthalten nichts oder herzlich wenig für eine Pressetheorie Relevantes – der Leser erfährt hier z.B., was Engels über diesen italienischen Journalisten oder jenes französische Zeitungsprojekt äußerte und dergleichen; ja, die Äußerungen sind »ausnahmslos aus der Polemik des politischen Tageskampfes geboren« (so zugespitzt Koschwitz 1970: 40). Zahl und Umfang der Schriften, in denen abstrakt-generalisierende Aussagen über die Presse getroffen werden, sind dagegen vergleichsweise beschränkt. Das gilt ebenso, auf einer Zwischenstufe zwischen ›Tageskampf‹ und Abstraktion, für Stellen, in denen (meist kursorisch-beiläufig in Briefen) die eigene publizistische/redaktionelle Praxis reflektiert wird (exemplarisch MEGA I/31: 270-273).6 Die vorhandenen zusammenhängenden und generalisierenden Äußerungen von Marx zur Presse rechnen im Übrigen durchweg zu den Frühschriften, sie gehören seiner ›journalistischen‹ Phase an (etwa 1841-1850); auch sind sie thematisch sehr eng begrenzt: Sie befassen sich vor allem – nicht zuletzt in eigener Sache, wurde Marx doch selbst von der Zensur übel geplagt – mit der Pressefreiheit und, daraus abgeleitet, mit der Funktion der Presse. Zu dieser Funktion der Presse (lies angesichts ihres Monopols: der Medien überhaupt) nach einer proletarischen Revolution hat sich Marx dabei mit keinem Wort geäußert, was der sowjetischen Medientheorie z.B. schon 1963 von Wilbur Schramm entgegengehalten wurde: »On many doctrinal points about which his followers speak with assurance Marx said practically nothing – for example, about the use of mass communication« (Schramm 1963: 111).7 Tatsächlich sind im real existierenden Sozialismus kompakte Veröffentlichungen (also über den Abdruck in MEW/MEGA hinaus) der immerhin im Umfang durchaus für eine starke Broschüre oder auch ein Buch taugenden genannten Frühschriften Marx’ zur Presse(freiheit) – etwa als Lehrmaterialien für die Journalistenaus- und -weiterbildung – die absolute Ausnahme geblieben, in der Regel wurden maximal ›Leseproben‹ gegeben und mit einer Darstellung von Marx’ bekanntem Wirken als oppositioneller bzw. Exil-Publizist verknüpft (Bittel 1953; Hager 1953; Becker 1968; vgl. Biskup 1983). Eine systematisierende Sammlung aller Marx’schen Äußerungen, die im weitesten Sinne mit Medien zu tun haben, ist ebenfalls unterblieben. Von der Zeitungswissenschaft/Publizistik/Kommunikationswissenschaft im ›Westen‹ wurden die presserelevanten Schriften ebenfalls wenig beachtet, was aber aus dem ideologischen Gegensatz heraus erklärbar scheint.8 Die mindestens bis zum Untergang des ›sozialistischen Blocks‹ in diesem

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absolut dominante, ja verbindliche Presse- und damit Medientheorie des Sozialismus schuf Lenin (Vladimir Il’ic˘ Ul’janov, 1870-1924). Die von ihm 1901 im Leitartikel »Womit beginnen?« [S cego nacat’?] in der Iskra [Funke] aufgestellte Forderung: »Die Zeitung ist nicht nur ein kollektiver Propagandist und kollektiver Agitator, sondern auch ein kollektiver Organisator« (Lenin 1959a: 11) und sein Wort von der »Presse neuen Typs« (vgl. dazu Krjuc˘kov 1968) waren Leitmotive in journalistischer Ausbildung und Praxis in allen sozialistischen Ländern. Auch Lenin war wie Marx und Engels lange Jahre Pressepraktiker, wie diese entweder in radikaler Opposition zum Regime im eigenen Land oder aber im Exil; mit der Oktoberrevolution aber war Lenin zugleich unbestrittener Führer des revolutionären Sowjetrussland und konnte (musste) so eine staatliche Pressepraxis im Sozialismus begründen, über die Marx wie erwähnt kein Wort hinterlassen hatte. Dies ist bekanntlich kein auf den Bereich der Presse beschränktes Phänomen; gerade in der Theorie in Bezug auf die nachrevolutionäre Zeit klaffen bekanntlich große Lücken im Marx’schen Korpus, die nicht zuletzt die Entwicklung vom ›Marxismus‹ zum ›Marxismus-Leninismus‹ bewirkt haben. Auch im Lenin’schen Werk ist freilich von einer wirklich durchgearbeiteten Pressetheorie keine Rede; vielmehr ist auch hier die Mehrzahl der Stellen,9 in denen es um die Presse geht, ›aus der Polemik des politischen Tageskampfes geboren‹ (anders formuliert bei Jahnel 1960: IX10). Dennoch wurden von seinen pressebezogenen Schriften und über sie häufig umfangreiche Sammelbände herausgegeben (russ. z.B. Lenin 1959b; Vlasov 1970; Kunicyn 1971; dt. Lenin 1972; Karl-Marx-Universität 1960; Internationale Organisation der Journalisten 1970; Lenin 1973), während die Darstellung seiner publizistischen Praxis demgegenüber eher in den Hintergrund tritt (exemplarisch Bojko 1960). Naheliegend ist es daher, die pressebezogenen Schriften von Lenin (vor und nach der Oktoberrevolution) vor allem unter dem Aspekt zu untersuchen, zu dem sich auch Marx ausgiebiger geäußert hat, nämlich der Pressefreiheit. Wiederum auf einem anderen Blatt stehen die realen Praxen der sozialistischen Staaten. Der Einfluss Lenins auf die Sowjetpolitik nahm in Folge seines schlechten Gesundheitszustands 1922/23 stark ab, und ab 1929/30 wurden alle wesentlichen Entscheidungen von Iosif Stalin getroffen, der auch als Theoretiker neben Lenin (bzw. neben Marx, Engels und Lenin) gestellt wurde, auch in Bezug auf die Presse (vgl. exemplarisch Nabatov 1933). Tatsächlich lieferte Stalin mit der Lehre von der ›aktiven Rolle des Überbaus‹ (vgl. Stalin 1950) einen auch nach seiner partiellen posthumen Diskreditierung durch seinen Mitstreiter Nikita Chrus˘c˘ev auf dem XX. Parteitag beibehaltenen Baustein der Pressetheorie. Früh und noch während des Kalten Krieges wurde die sowjetische Medienpraxis im Westen (vgl. exemplarisch Jaryc 1935; Lyons

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1937; Buzek 1964; Hopkins 1970) meist als weitgehend bruchlos dargestellt (wie auch mit umgekehrten Vorzeichen in der Sowjetunion selbst), was heute z.T. differenzierter gesehen wird.11 Schließlich ist mit dem Untergang – zumindest in Europa – der realsozialistischen Pressepraxis die Frage nach Freiheit und Funktion keineswegs von der Tagesordnung verschwunden; sie stellt sich vielmehr auch im nunmehr weit nach Osten vorgerückten ›Westen‹, wobei auch die Schriften von Marx Beachtung verdienen, die angesichts der marktgetriebenen Globalisierung eine Renaissance in der Rezeption erleben. Somit stellt sich die Aufgabe, viererlei aufeinander zu beziehen: (1) Die Schriften von Marx (und Engels) zur Presse(freiheit); (2) Die Schriften von Lenin zur Presse(freiheit); (3) Die Praxis der Presse(freiheit) im Sozialismus (hier exemplarisch: in der DDR); (4) Die Praxis der Presse(freiheit) im Kapitalismus (hier exemplarisch: in der Bundesrepublik). Die Aufgabe ist nicht neu. Schon 1970 z.B. hat Koschwitz festgestellt, dass Marx in seinen Frühschriften in durchaus liberaler Tradition für unbeschränkte Pressefreiheit eingetreten sei und dem Journalisten eine entsprechend wichtige Vermittlerrolle zugewiesen habe (Koschwitz 1970: 44 und passim), während Lenin und die Praxis der sozialistischen Staaten die Presse zum reinen »Werkzeug der Exekutive« gemacht habe. »Eine solche Abwertung kann kaum im Sinne der Marx’schen Überlieferung gesehen werden« (ebd.). Dieser Sichtweise entspricht auch die Wiedergabe und Kommentierung einiger der besagten Frühschriften durch Pöttker (Pöttker 2001). Demgegenüber hat Henke unmittelbar auf Koschwitz repliziert, Marx’ respektive der NRZ Forderung nach Pressefreiheit sei »durchaus kein Eintreten für Freiheit an sich« gewesen, sondern müsse »unter Berücksichtigung der Klassenverhältnisse« als Eintreten für die Freiheit der Presse der Bourgeoisie gesehen werden und habe somit einer Diktatur des Proletariats nebst Unterdrückung der bourgeoisen Presse, wie von Lenin durchgeführt, in keiner Weise widersprochen. Es gebe keine absolute, über den Klassen stehende Presse- oder Literaturfreiheit, was auch durch die bundesrepublikanische Praxis der Unterdrückung von Druckschriften der DKP belegt sei (Henke 1970: 180-181). Damit hat Henke in seiner kurzen Replik alle vier genannten Bereiche (Schriften Marx/Lenin und Praxis DDR/BRD) angesprochen. Mehr noch als in dieser kurzen Aussprache zeigt sich die Brisanz der Thematik wohl darin, dass wie erwähnt auf eine allzu prominente Würdigung der einschlägigen Marx’schen Schriften in Sowjetunion und DDR verzichtet wurde; ein (und sei er auch ggf. normativ wie bei Henke als nur scheinbar zu erklärender) Wider-

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spruch zwischen Marx und Lenin wurde hier offenbar auch empfunden und als problematisch bewertet.12 Deshalb wurde auch nach Kenntnis des Autors nie eine Zusammenstellung ›Marx, Engels und Lenin über die Presse‹ veröffentlicht, wie sie für eine ganze Reihe anderer Sparten vorliegen. Eine letzte Klärung ›aus der Schrift‹, ob Marx nun ein Anhänger der absoluten, unbedingten Pressefreiheit als Gut an sich je war und/oder blieb oder ob sein Eintreten nur taktisch als zeitgemäßes Eintreten für eine befristete Pressefreiheit der Bourgeoisie zu begreifen ist respektive durch späteren Erkenntnisgewinn abrogiert wurde, ist auch 35 Jahre nach der kurzen Debatte Koschwitz/Henke nicht möglich, da Marx nun einmal keine unmittelbaren Aussagen zur Pressefreiheit im Sozialismus getroffen hat. Wohl aber ist es möglich und sinnvoll, einige Positionen noch einmal unmittelbar zu vergleichen. Die publizistische Tätigkeit von Karl Marx ist wie erwähnt durchaus häufig auch separat gewürdigt worden, auch die Apparat-Bände der MEGA enthalten hierzu eine Reihe kenntnisreicher Artikel (vgl. aber auch z.B. Mehring 1919: 138ff.; konzise Koszyk 1999). 1841/42 und 1848/49 war Marx in Köln die treibende Kraft hinter der Rheinischen Zeitung bzw. der Neuen Rheinischen Zeitung. Nach dem Verbot beider Blätter hat Marx jeweils Zeitschriften (mit)gelenkt, zunächst – mit Arnold Ruge – die Deutsch-Französischen Jahrbücher in Paris (ein Doppelband 1844), dann – mit Engels, der bereits an NRZ und Jahrbüchern mitgewirkt hatte – die Neue Rheinische Zeitung/PolitischÖkonomische Revue in London (Druckort Hamburg; sechs Hefte 1850), explizit als Fortführung der alten NRZ gedacht. Im Prospekt gingen Marx/Engels auch auf die besondere Rolle von Zeitschriften vs. Zeitungen ein:

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➔ 10 »Kein Protokollobst auf den Tischen fotografieren«

»Das größte Interesse einer Zeitung, ihr tägliches Eingreifen in die Bewegung und unmittelbares Sprechen aus der Bewegung heraus, die Wiederspiegelung der Tagesgeschichte in ihrer ganzen Fülle, die fortlaufende leidenschaftliche Wechselwirkung zwischen dem Volke und der Tagespresse des Volkes, – dies Interesse geht nothwendig bei einer Revue verloren. Die Revue gewährt dagegen den Vortheil, die Ereignisse in größern Umrissen zu fassen und nur bei dem Wichtigeren verweilen zu müssen. Sie gestattet ein ausführliches und wissenschaftliches Eingehen in die ökonomischen Verhältnisse, welche die Grundlage der ganzen politischen Bewegung bilden.« (MEGA I/ 10: 17)

Nach dem Eingehen der letztgenannten Zeitschrift hat Marx selbst keinen maßgeblichen Einfluss mehr auf die Redaktion periodischer Druckschriften genommen, wenn er und vor allem Engels auch weiterhin in beachtlichem Umfang für Periodika in vielen Ländern Beiträge verfasst haben, wobei die Mitarbeit an der New York Tribune, deren Londoner Korrespondent Marx war, in Bezug auf Dauer und Umfang am bedeutendsten war. Einen Großteil der

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Beiträge verfasste allerdings Engels, während der Redaktion gegenüber Marx als alleiniger Autor auftrat. Die ausführlichen Äußerungen von Marx zur Pressefreiheit und zur Funktion der Presse fallen vor allem in die Zeit der Rheinischen und der Neuen Rheinischen Zeitung. Bevor die Rheinische Zeitung 1842 selbst der Zensur zum Opfer fiel, hatte Marx sich mit der ihm eigenen, gern auf Paradoxa und andere Stilmittel zurückgreifenden Eloquenz und in leidenschaftlicher Schärfe gegen jede Zensur und für Pressefreiheit artikuliert. Einige Beispiele aus dem Artikel über »Die Verhandlungen des 6. rheinischen Landtags« (MEGA I/1: 121-169) mögen genügen. Marx setzt sich darin aggressiv mit den Gegnern, aber auch den aus seiner Sicht allzu lauen Befürwortern einer zudem relativierten oder bloß als Teil der Gewerbefreiheit zu begreifenden Pressefreiheit auseinander. So macht er die Idee der Zensur allgemein verächtlich und verteidigt umgekehrt die Pressefreiheit gegen übertriebene Erwartungen, sie müsse Wunder wirken, wenn sie nicht versagen wolle. »Es ist ein wahrhaft fürstliches Vorurtheil, wenn trotz aller geistigen Mauthsysteme der deutsche Geist ein Großhändler geworden ist, zu meinen, die Zollsperren und Cordons hätten ihn zum Großhändler gemacht. Die geistige Entwicklung Deutschlands ist nicht durch, sondern trotz der Censur vor sich gegangen. Wenn die Presse innerhalb der Censur verkümmert und verelendet, so führt man dies als Argument gegen die freie Presse an, obgleich es nur gegen die unfreie zeugt. Wenn die Presse trotz der Censur ihr charaktervolles Wesen bewährt, so führt man dies für die Censur an, obgleich es nur für den Geist und nicht für die Fessel spricht. […] Die Preßfreiheit verspricht so wenig, wie der Arzt, einen Menschen oder ein Volk vollkommen zu machen. Sie ist selbst keine Vollkommenheit. Es ist triviale Manier, das Gute damit zu schmähen, daß es ein bestimmtes Gut und nicht alles Gute auf einmal, daß es dieses und kein anderes Gute sei. Allerdings, wenn die Preßfreiheit alles in allem wäre, so machte sie alle übrigen Funktionen eines Volks und das Volk selbst überflüssig.« (Ebd.: 128, 131)

Gegen einen Redner, der die Publikation der Verhandlungen des Landtags selbst in dessen Ermessen stellen wollte, bemerkt Marx unter Rückgriff auf den Schlüsselbegriff Öffentlichkeit: »Eine Repräsentation, die dem Bewußtsein ihrer Committenten entzogen ist, ist keine. […] Nichts ist widersprechender, als daß die höchste öffentliche Action der Provinz geheim sei, daß die Gerichtsthüre zu Privatprocessen der Provinz offen steht und daß sie in ihrem eignen Processe vor der Thür stehen bleiben muß. Die unverkürzte Publikation der Landtagsverhandlungen kann daher in ihrem wahren consequenten Sinn nichts anders sein als die volle Oeffentlichkeit des Landtags. […] Eine wahrhaft politische

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Versammlung gedeiht nur unter dem großen Protectorat des öffentlichen Geistes, wie das Lebendige nur unter dem Protectorat der freien Luft.« (Ebd.: 136, 137, 139)

Freilich erkannte Marx auch vor seiner ›ökonomischen‹ Phase die materielle Basis des Druckwesens (da er ja selbst in die Finanzierungsschwierigkeiten eingeweiht war, hätte es auch kaum anders sein können) und wollte die Gewerbefreiheit (deren Träger die Verleger waren) als der Pressefreiheit (deren Träger die Journalisten/Schriftsteller respektive Redaktionen waren) unter-, nicht übergeordnet verstanden wissen. »Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein. Dem Schriftsteller, der sie zum materiellen Mittel herabsetzt, gebührt als Strafe dieser innern Unfreiheit die äußere, die Censur, oder vielmehr ist schon seine Existenz seine Strafe. Allerdings existirt die Presse auch als Gewerbe, aber dann ist sie keine Angelegenheit der Schriftsteller, sondern der Buchdrucker und Buchhändler. Es handelt sich hier aber nicht um die Gewerbefreiheit der Buchdrucker und Buchhändler, sondern um die Preßfreiheit.«13 (Ebd.: 163)

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➔ 10 »Kein Protokollobst auf den Tischen fotografieren«

Damit geht Marx zu einer Frage über, die man als Freiheit des Berufszugangs bzw. der Berufsausübung auffassen kann, indem er die Aussagen eines Redners, der die Pressefreiheit als Element der Gewerbefreiheit auffasst und entsprechend reglementieren will, zunächst wiedergibt und dann zurückweist: »›Er rede von befugten und unbefugten Autoren. Dies verstehe er dahin, daß er die Ausübung eines verliehenen Rechtes immerhin auch in der Gewerbefreiheit an irgend eine Bedingung knüpfe, die nach der Maaßgabe des Faches leichter oder schwerer zu erfüllen sei.‹ ›Die Maurer-, Zimmer- und Baumeister hätten verständiger Weise Bedingungen zu erfüllen, wovon die meisten andern Gewerbe befreit seien.‹ ›Sein Antrag gehe auf ein Recht im Besondern, nicht im Allgemeinen.‹ Zunächst, wer soll die Befugniß ertheilen? Kant hätte Fichten nicht die Befugniß des Philosophen, Ptolemäus dem Copernikus nicht die Befugniß des Astronomen, Bernhard von Clairvaux dem Luther nicht die Befugniß des Theologen ertheilt. Jeder Gelehrte zählt seinen Kritiker zu den ›unbefugten Autoren‹. Oder sollen Ungelehrte entscheiden, wer ein befugter Gelehrter sei?« (Ebd.)

Schließlich setzt sich Marx kritisch mit der skeptischen Annahme auseinander, die Presse werde unzensiert dem ›Bösen‹ die Oberhand verleihen, weil dies der Natur des Menschen entspreche. Die Stelle sei ausgiebig zitiert (Marx selbst rechtfertigt sich: »Wir haben diese Stelle ganz ausgezogen, um ihren etwaigen pathetischen Eindruck auf den Leser nicht zu schwächen«), weil sie sich gut zu Auffassungen Lenins in Beziehung setzen lässt; Marx weist in ihr eine erzieherische Aufgabe der Presse zurück:

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Media Marx. Ein Handbuch Medien vor und während Marx »›Je weniger in Abrede gestellt werden könne, daß die Presse heut zu Tage eine politische Macht sei, um so irriger erscheine ihm die ebenfalls so vielfach verbreitete Ansicht, daß aus dem Kampfe zwischen der guten und bösen Presse Wahrheit und Licht hervorgehen werde, und sich eine größere und wirksamere Verbreitung derselben erwarten lasse. Der Mensch sei im Einzelnen, wie in Masse stets derselbe. Er sei seiner Natur nach unvollkommen und unmündig, und bedürfe der Erziehung, so lange seine Entwicklung daure, die erst mit dem Tode aufhöre. Die Kunst des Erziehens bestehe aber nicht im Bestrafen unerlaubter Handlungen, sondern in der Förderung guter und in dem Fernhalten böser Eindrücke. Von jener menschlichen Unvollkommenheit sei aber unzertrennlich, daß der Sirenengesang des Bösen auf die Massen mächtig wirke, und wenn nicht als ein absolutes, jedenfalls als ein schwer zu besiegendes Hinderniß der einfachen und nüchternen Stimme der Wahrheit entgegentrete. Während die schlechte Presse nur zu den Leidenschaften der Menschen rede, während ihr kein Mittel zu schlecht sei, wo es darauf ankomme, durch Aufregung der Leidenschaften ihren Zweck zu erreichen, der da ist möglichste Verbreitung schlechter Grundsätze und möglichste Förderung schlechter Gesinnungen, während ihr alle Vortheile jener gefährlichsten aller Offensiven zur Seite stehen, für die es objektiv keine Schranken des Rechts und subjectiv keine Gesetze der Sittlichkeit, ja nicht einmal der äusseren Ehre gebe, sei die gute Presse stets nur auf die Defensive beschränkt. Ihre Wirkungen könnten größtentheils nur abwehrend, zurückhaltend und festigend sein, ohne sich bedeutender Fortschritte auf das feindliche Gebiet rühmen zu können. Glück genug, wenn nicht äussere Hindernisse jenes noch erschweren.‹ Wir haben diese Stelle ganz ausgezogen, um ihren etwaigen pathetischen Eindruck auf den Leser nicht zu schwächen. Der Redner hat sich à la hauteur des principes gestellt. Um die Preßfreiheit zu bekämpfen muß man die permanente Unmündigkeit des Menschengeschlechts vertheidigen. Es ist eine ganz tautologische Behauptung, daß, wenn die Unfreiheit das Wesen des Menschen, die Freiheit seinem Wesen widerspricht. Böse Skeptiker könnten so waghalsig sein, dem Redner nicht auf sein Wort zu glauben. Wenn die Unmündigkeit des Menschengeschlechts der mystische Grund gegen die Preßfreiheit ist, so ist jedenfalls die Censur ein höchst verständiges Mittel gegen die Mündigkeit des Menschengeschlechts.« (Ebd.: 140-141)

Bewusst wurde hier nur der eine längere Beitrag, dafür aber in etwas ausgiebigeren Exzerpten, gewürdigt, um einen wenn auch unvollkommenen Eindruck von Verve und Eloquenz zu geben, mit denen Marx die Freiheit der Presse verteidigte; bewusst auch wurde die ältere Rheinische und nicht die NRZ gewählt, da erstere durchgehend unter Zensur stand, während letztere davon zeitweilig recht frei agieren konnte. Auch so ist festzustellen, dass Marx in seinen Schriften für die Pressefreiheit kaum ein Blatt vor den Mund nahm, sodass es (mit Koschwitz und Pöttker) vom spontanen Eindruck her schwer fällt, einen inneren Vorbehalt anzunehmen, wonach Marx die unbe-

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schränkte Pressefreiheit nur in ›strategischer Kommunikationsabsicht‹ zu vorübergehendem Nutzen der Bourgeoisie gefordert habe. Auch späterhin, im Exil, als von Rücksichten erst recht keine Rede mehr sein konnte, haben Marx und Engels sich keineswegs von diesen Äußerungen distanziert oder sie relativiert; Engels schrieb noch 1890 im Abschiedsbrief an den Zürcher Sozialdemokrat in der Rückschau in Bezug auf die NRZ 1848/49, sie habe »unbedingte Preßfreiheit« genossen, und es sei dies eine der »beiden günstigsten Bedingungen […], unter welchen man überhaupt in der Presse wirken kann« (MEGA I/31: 270). In den Schriften Lenins nimmt die Frage der Pressefreiheit ebenfalls einen bedeutenden Platz ein; in vielen Sammelbänden wird ihr ein eigener Abschnitt eingeräumt (z.B. Internationale Organisation der Journalisten 1970: 204-242). Lenins Ansichten, weitgehend ad hoc 1917 entwickelt, scheinen z.T. widersprüchlich. So kündigt er am 1. August (19. Juli alten Stils, fortan alle Daten neuen Stils) 1917 das Verbot der »bürgerlichen Zeitungen« durch das Proletariat an, und ebenso am 9. und 10. Oktober; zwischenzeitlich aber (28. September) schlägt er vor, ein Staatsmonopol auf Privatanzeigen einzuführen und die benötigten Druckereien und Papierbestände zu requirieren. Von einem Verbot ist jedoch keine Rede, vielmehr: »…Pressefreiheit bedeutet, daß alle Meinungen aller Bürger frei verbreitet werden können.« Als Träger der Pressefreiheit will er jede Gruppe zulassen, »die eine bestimmte Anzahl von Unterschriften aufbringt«, was er wiederum am 4. November auf 10.000 präzisiert (ebd.: 211-218, Zitate 215). In der Folge war davon keine Rede mehr; Lenin unterschied nun weitgehend konsequent zwischen einer formalen (Zensur-)Freiheit, die von den Feinden der Sowjetmacht maximal gewährt worden, aber ohne die materielle Freiheit wertlos gewesen sei, und der realen Freiheit für das Proletariat, die sich dieses durch Beschlagnahme der Produktionsmittel genommen habe. Eine Gewährung von Pressefreiheit für die Feinde (zu denen zunächst die rechten, dann alle bürgerlichen und zuletzt auch die übrigen ›linken‹ Parteien rechneten) komme nicht in Frage. Stets fragt Lenin, wie hier in einem Brief: »Untersuchen wir einmal, was für eine Pressefreiheit? Wofür? Für welche Klasse? An ›Absolutes‹ glauben wir nicht. Wir lachen über die ›reine Demokratie‹« (ebd.: 229). Zur Begründung für das grundsätzliche Verbot aller nichtbolschewistischen Organe wurde die Schwäche der proletarischen Regierung gegenüber der Bourgeoisie der Welt genannt, die keinen gleichen Kampf zulasse. Andererseits erklärte Lenin Anfang 1920 in einer Rede:

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»Die Weißgardisten schreiben überall, daß die Bolschewiki eine glänzende Agitation entfalten, daß sie für die Agitation nicht mit Geld sparen. Aber das Volk hat ja alle mögliche Agitation erlebt, auch die der Weißgardisten und der Anhänger der Konstituante.

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Media Marx. Ein Handbuch Medien vor und während Marx Es ist lächerlich zu glauben, daß es sich auf die Seite der Bolschewiki geschlagen habe, weil ihre Agitation geschickter gewesen wäre. Durchaus nicht, ausschlaggebend war, daß ihre Agitation auf Wahrheit beruhte […].« (Ebd.: 164)

Dieses Vertrauen in die Kraft der Wahrheit erinnert an den Marx’schen Optimismus, dass bei freiem Kampf der Meinungen die ›richtige‹ Seite siegen werde, wobei Lenin stärker auf die materielle Basis abzielte, Marx mehr auf die Zensurfreiheit. Zu Lenins Zeiten mag der Eindruck von Schwäche der Revolution in einem Land gegen den Rest der Welt noch hingehen. Schwieriger scheint es, mit solcher Schwäche die Praxis der DDR zu begründen, die hier exemplarisch für die Medienpraxis der realsozialistischen Länder untersucht werden soll. Die DDR stellt freilich einen besonderen Fall dar, da sie wegen der Sprache und der geographischen Nähe im Medienbereich einem besonders intensiven Wettbewerb mit dem kapitalistischen Westen ausgesetzt war. In der DDR wurde jede Form von Gegenöffentlichkeit systematisch unterbunden; selbst Kopierer, ja Schreibmaschinen von »Unbefugten« (vgl. Marx) wurden beargwöhnt. Die gesamte Presse wurde in geradezu grotesker, kafkaesker Weise ›auf Linie‹ gebracht, die lebenslängliche Unmündigkeit und Erziehungsbedürftigkeit der Bürger vorausgesetzt. In regelmäßigen, selbstverständlich streng geheimen Befehlsausgaben wurde den gleichgeschalteten Zeitungen bis in absurde Details befohlen, was sie nicht respektive nicht mehr bringen durften, nämlich (Beispiele): »Nichts über Bratwurststände (die Leute essen schon genug Fleisch).« »Nichts über selbstgebaute Fluggeräte (sonst hauen uns die Leute ab).« »Kein Protokollobst auf den Tischen fotografieren (sonst wird die Bevölkerung neidisch).« (Leuschner 2005a: 1) »LDZ vom 11. September [1982, D. M.] bringt ein Rezept über Karotten und Mandeln. Das geht doch nicht. Wir provozieren doch nur Fragen und regen Wünsche an.« (Holzweißig 1991: 51)14

Den Verboten standen die Gebote an Kabarettreife nicht nach. Bis in die Einzelheiten der Platzierung wurden selbst absolut nachrangige Themen vorgegeben. Für schnelle Orientierung zur Pressepraxis der DDR sei auf die Quellensammlung und Darstellung von Holzweißig (1991; 2002) verwiesen. Es darf wohl – etwas boshaft zugespitzt – spekuliert werden, was Marx zu diesem Befund zur Situation in den 1970er oder 1980er Jahren gesagt hätte: Zwei deutsche Staaten liegen mehr oder minder antagonistisch nebeneinander, der eine sozialistisch, unter ständiger Berufung auf seine, Marx’, Lehre;

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der andere kapitalistisch. Der eine Staat muss seine Bürger durch eine schwer bewachte Grenzbefestigung an der Flucht in den anderen hindern; muss die Einfuhr der Printmedien des anderen Staates faktisch fast total verbieten (aber nolens volens die massenhafte Nutzung durch den Äther gesandter Medien, die Marx noch nicht kannte, hinnehmen), während seine weitgehend frei exportierbaren Medien ›drüben‹ fast niemand nutzen will; muss Pseudowahlen per Einheitsliste durchführen, auf dass die Regierungsclique nicht abgewählt werde, während die eigenen Ableger ›drüben‹ bei weitgehend freien Wahlen kaum je mehr als 1 Prozent der Stimmen erreichen. Für Marx wäre schon diese Fragestellung sicher eine Überraschung gewesen, aber die Tatsache, dass der ›sozialistische‹ Staat in diesem Wettbewerb, auch und gerade um Mediennutzung, der so hoffnungslos unterlegene war, dass er es war, der sich ängstlich abschotten musste (und nicht umgekehrt), wäre sicher eine bittere Enttäuschung gewesen – oder aber Anlass, die DDR-Gewaltigen mit Hohn und Spott zu übergießen. Die DDR ist zweifellos nicht in erster Linie an ihren Medien oder überhaupt ihrem ›Überbau‹ gescheitert, sondern, soweit durchaus im Einklang mit Marx, an ihrer ›Basis‹. Die Niederlage im Medienwettbewerb mit der Bundesrepublik war nur ein Ausdruck der Niederlage im Wettbewerb der Volkswirtschaften; die materielle ›Wahrheit‹ sprach eben zu Bundes- wie DDRBürgern nicht für die DDR, sondern gegen sie. Angesichts der Fehlleistungen der DDR ist es freilich allzu leicht, die Bundesrepublik als strahlenden moralischen Sieger darzustellen. Freilich scheint das System der zunächst einmal formalen Pressefreiheit in der Bundesrepublik funktionaler zu sein, trotz Einschränkungen, wie Henke sie 1970 beklagte; seine binäre Logik – da die Pressefreiheit in der BRD nicht total war/ist, herrscht dort totale Unfreiheit – ist allemal inakzeptabel. Viel stärker als die formale Seite und der ›Überbau‹ ist es auch hier die materielle Basis, die bedenklich stimmen sollte. Nach einer langen Phase der Illusion fortgesetzter Aufhebung von Klassen- und überhaupt Interessengegensätzen nimmt offenbar, wie von Marx durchgreifender und früher erwartet, aber ansonsten durchaus im Einklang mit seinen Überlegungen, die Polarisierung von Arm und Reich (wieder) zu. In den resultierenden Verteilungskämpfen spielen die Medien eine durchaus ›bourgeoise‹ Rolle, man denke an die – trotz aller Dementis – doch recht augenfällige ›Agitprop‹-Aktion der meisten Medien zugunsten eines Wahlsiegs von CDU/CSU und FDP bei der Bundestagswahl 2005, was offenbar den Interessen der Mehrheit der Bevölkerung, die trotzdem anders wählte, nicht entsprach. Einer solchen ›Aktion‹ liegt wohl kein Plan zugrunde, wie es vielleicht mancher Verschwörungstheoretiker möchte (insoweit sind die empörten Dementis echt); sie ergibt sich zwanglos aus den denkbar schlichten materiellen Interessen der Verleger, der Werbetreibenden und – in teils falschem, teils ›richtigem‹ (arbeiteraristo-

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kratisch-besserverdienenden) – Bewusstsein zumindest der leitenden Redakteure. Gleichzeitig ist die linke (auch marxistische) Medienkritik, die in den 1970er Jahren lautstark zu vernehmen war, sehr weitgehend verstummt. Freilich ist die Presse im Vergleich zu Marx’ Zeiten im Wert tief gesunken und sinkt weiter, bis hin zur Rückkehr eines beachtlichen Analphabetismus; die Dominanz des Fernsehens (wo öffentlich-rechtliche Sender zwar dem Parteienproporz, aber nicht in vollem Umfang der Gewerbefreiheit unterliegen) könnte zudem durch neue (Online-)Medien in Frage gestellt werden, die unter Kostengesichtspunkten vielleicht eher eine funktionierende Gegenöffentlichkeit zulassen. Anmerkungen 1 »Andererseits ergibt sich gewissermaßen als ein Grundgesetz der Entwicklung des Nachrichtenwesens, daß die einfachsten Mittel, Formen und Methoden, wenn sie nur einmal eingebürgert und brauchbar befunden worden sind, auch von den vollkommensten und höchst entwickelten niemals wieder gänzlich und dauernd verdrängt und außer Gebrauch gesetzt werden können, sondern sich neben diesen erhalten, nur daß sie genötigt werden, andere Aufgaben und Verwertungsgebiete aufzusuchen« (Riepl 1913: 5). 2 Eine Ausweitung des Medienbegriffs auf Inszenierungen wie Theateraufführungen und Gottesdienste oder Events wie das »Hambacher Fest« 1832 scheint nicht sinnvoll, da die mediale Vermittlung und die Möglichkeit der Konservierung/Fossilierung fehlt; anderen Kommunikationsformen fehlt es an Teilnehmer-Masse, um hier beachtlich zu sein. 3 Telegraph, Telephon und zunächst – noch in der Oktoberrevolution, vgl. den Beitrag zum Hörfunk in diesem Band – auch das Radio in seinen verschiedenen Formen (Drahtfunk) waren keine Massenmedien, sondern Kommunikationsmittel, die lange Strecken zwischen Einzelnen überbrückten; es gab kaum Empfangsgeräte, daher auch später der Einsatz von Lautsprecheranlagen zur Verbreitung. Vgl. zu Telegraphie/Telephonie den entsprechenden Beitrag von Jens Schröter; zum Radio den Beitrag von Rainer Leschke in diesem Band. 4 Die Angaben der MEGA zur Auflage der Tribune scheinen hier wie stets (vgl. z.B. MEGA I/13: 633; I/14: 886) überhöht; sie stammen durchweg aus Eigenwerbung des Blattes, was zwar in Bezug auf Zeiten fehlender Auflagenkontrollen praktisch unvermeidlich ist, zugleich aber der expliziten Relativierung bedarf. Vgl. auch MEGA I/12: 671, wo kritiklos-zustimmend wiedergegeben wird, die Tribune sei »the best general Advertising medium this Country has ever known« gewesen, nach New York Daily

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Tribune, Nr. 3379 vom 11. April 1853, S. 4, Sp. 3. Das hat noch fast jedes Anzeigenorgan von sich behauptet, in der Mehrzahl der Fälle wahrheitswidrig; die kapitalistische Marktschreierei wird hier von der MEGA-Redaktion wohl akzeptiert, weil sie Marx’ Mitarbeit aufwertet. Auch die Kumulation von Wochen-, Halbwochen- und Tageszeitungsauflagen (etc.) ist problematisch; besonders auflagenstark war stets die Ausgabe mit der niedrigsten Periodizität. Besonders fallen der Gebrauch von zahlreichen Fremdwörtern, der Rückgriff auf klassisches Bildungsgut und nicht zuletzt das Stilmittel der Ironie auf. Für die englischsprachigen Artikel etwa für die Tribune gilt dies im Übrigen weniger; hier war Marx, der zunächst durch Engels übersetzen ließ, dann aber selbst Englisch schrieb, wohl durch die Fremdsprache diszipliniert; auch war die Leserschaft dort ja größer und der Anteil der Leser, deren Muttersprache nicht die Zeitungssprache war, höher. MEW, Bd. 22: 76-77; andere Beispiele sind MEW, Bd. 16: 362-364; Bd. 21: 19; Bd. 30: 565. Vgl. Koschwitz (1970: 40). So sah sich Pöttker (2001) veranlasst, drei einschlägige Marx-Texte (zweimal von Marx, einmal von Marx/Engels) in kommunikationswissenschaftlichem Kontext neu zur Verfügung zu stellen. Mit ›Ost‹ und ›West‹ wird hier im Übrigen mehr auf den ideologischen als auf den geographischen Standpunkt Bezug genommen. Die Lenin-Ausgaben sind nicht ganz unproblematisch. Die umfassendste dt. Ausgabe folgt der vierten russischen; die fünfte russische Ausgabe ist, obwohl erstmals als »Vollständige Ausgabe« [Polnoe sobranie socinenij, PSS] bezeichnet, mit mancherlei Problemen behaftet, vgl. die (z.T. wohl überzogene) Kritik in Pipes (1996). Nämlich: »Manche dieser Materialien mögen auf den ersten Blick ausschließlich zeitbedingt erscheinen […]« Mitentscheidend hierfür war die Öffnung der ehemals sowjetischen Archive. Erinnert sei an das Marx’sche Bonmot »je ne suis pas marxiste«, aber auch umgekehrt an den bekannten mit dem Anachronismus spielenden Witz (hier nach dem Historiker Walter Grab), wonach Marx im kommunistischen Himmel nur eine kleine Stelle als Archivar zugewiesen bekam, weil er mit einer Adligen (Jenny von Westphalen) verheiratet und Westemigrant war, vor allem aber, weil man in seinen Schriften nirgends den Namen Lenin gefunden habe. Unter Bezugnahme nicht auf Marx, sondern auf Gustav Freytags Erfolgslustspiel »Die Journalisten« (1854) bemerkt Leuschner (2005b) treffend: »Er [der Zeitungsschreiber, D. M.] identifiziert sich weitgehend mit dem

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Verleger und hält sich am Ende gar für den eigentlichen Lehensträger der ›Pressefreiheit‹. Bereits aus ihrer sozialen Stellung wächst der Mehrzahl der Journalisten so ein falsches Bewußtsein zu, das sie befähigt, auch andere objektive Interessengegensätze in falsches Bewußtsein aufzulösen.« 14 Die ersten drei Beispiele sind Anweisungen vor, das vierte ist Kritik nach Erscheinen. Literatur Becker, Gerhard (1968): »Der Journalist und Redakteur Karl Marx«. Neue Deutsche Presse 5, S. 1-4. Biskup, Josip (1983): Karl Marks novinar. Beograd. Bittel, Karl (1953): Karl Marx als Journalist. Vortrag gehalten im Klub der Kulturschaffenden, Berlin (DDR). Bojko, K. G. (red.) (1960): Lenin – z˘urnalist i redaktor, Moskau. Buzek, Anthony (1964): How the Communist Press Works, London. Hager, Kurt (1953): Einleitung. In: Marx, Karl/Engels, Friedrich: Die Revolution von 1848 (Auswahl aus der »Neuen Rheinischen Zeitung«), Stuttgart, S. 527. Henke, Otto (1970): »Aussprache/›Karl Marx und die Presse‹«. Gewerkschaftliche Monatshefte 3, S. 180-181. Holzweißig, Gunter (1991): DDR-Presse unter Parteikontrolle. Kommentierte Dokumentation, Bonn. Holzweißig, Gunter (2002): Die schärfste Waffe der Partei. Eine Mediengeschichte der DDR, Köln, Weimar, Wien. Hopkins, Mark (1970): Mass Media in the Soviet Union, New York. Internationale Organisation der Journalisten (Hg.) (1970): Lenin über die Presse, Prag. Jahnel, Bernhard (1960): »Vorwort«. In: Karl-Marx-Universität Leipzig, Fakultät für Journalistik, Institut für Pressegeschichte (Hg.), Lenin über die Presse, Leipzig, S. VIII-X. Jaryc, Marc (1935): Press and Publishing in the USSR, London. Karl-Marx-Universität Leipzig, Fakultät für Journalistik, Institut für Pressegeschichte (Hg.) (1960): Lenin über die Presse, Leipzig (dt. Ausgabe von Lenin 1959b). Koschwitz, Hansjürgen (1970): »Karl Marx und die Presse«. Gewerkschaftliche Monatshefte 1, S. 37-44. Koszyk, Kurt (1999): »Karl Heinrich Marx (1818-1883)« [1971]. In: ders., Publizistik und politisches Engagement. Lebensbilder publizistischer Persönlichkeiten, Münster, S. 152-159.

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Als Anfang des Jahres 2005 die Anzahl der Arbeitslosen in Deutschland die Marke von fünf Millionen überschritt, war die Aufregung groß, und die Stimmung verdüsterte sich. Der Kanzler nannte diese Zahl ›bedrückend‹, obwohl er doch wie alle wusste, dass sie nur einer neuen Zählweise geschuldet war. Offenbar war es hier die Zahl selbst und nicht die dahinter liegende gesellschaftliche Realität, die die öffentliche Wahrnehmung auf sich zog und ihrerseits beeinflusste. Die Bundesregierung hätte vielleicht besser daran getan, sich ein Beispiel an der früheren britischen Regierung Thatcher zu nehmen, die in ihrer Regierungszeit die Arbeitslosigkeit dadurch bekämpfte, dass sie sie in dreizehn aufeinander folgenden gesetzlichen Vorschriften immer weiter herunter rechnete. Wenn nur die Zahlen sinken, ist alles in Ordnung. Gut drei Monate später war die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland auf 4,97 Millionen gesunken, und der Wirtschaftsminister beeilte sich auf einer Podiumsdiskussion zu dem von den anwesenden Arbeitslosen mit Gelächter quittierten Schwur: ›Wir werden ab jetzt nie mehr die fünf Millionen überschreiten. Da können Sie Gift drauf nehmen.‹ Ob mit dem Nachsatz das Unbewusste dem Minister einen Streich gespielt und eine verdrängte Lösung des Problems an die Oberfläche gespült hat, bleibe dahingestellt. Es soll im Folgenden auch nicht um die Frage gehen, wie man Arbeitslose ›richtig‹ zählt, sondern vielmehr um das Phänomen, dass Zahlen sich gewissermaßen verselbständigen können und für die Wirklichkeit genommen werden, obwohl sie tatsächlich eine sehr geringe Aussagekraft haben. Dieser offenkundigen Verrücktheit sind sich auch die von ihr Erfassten durchaus bewusst, wenn etwa in Tageszeitungen die fünf Millionen mit leiser Ironie als »magische« Grenze (einschließlich der Anführungszeichen) bezeichnet werden, mithin gesehen wird, dass hier Magie am Wirken ist, die doch gleichwohl in unseren aufgeklärten Zeiten nichts zu suchen habe. Es wird zu zeigen sein, dass es sich genau darum handelt: Um die Magie der Aufklärung und ihres Denkens. Die Arbeitslosenzahl ist nur ein Beispiel für das hier eingekreiste und hinsichtlich seiner Ursachen genauer zu bestimmende Phänomen. Man braucht nicht lange zu suchen, um weitere in beliebiger Anzahl und Vielfalt zu finden. Die gesamte institutionalisierte statistische Erhebungs- und Prognosetätigkeit lebt von ihnen. Zu nennen sind etwa die jährlich aufgestellten Wachstumsprognosen der wirtschaftswissenschaftlichen Institute und ihre monatlichen Korrekturen, die Inflationsrate und, damit zusammenhängend, das ›reale‹ Bruttoinlandsprodukt, die in Zahlen gefassten Ergebnisse der PISA- und anderer Studien, die Bestimmung des Intelligenzquotienten oder – für viele elementarer – der Schulnoten, der Waldschadensbericht, die Prognosen zum

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Weltklima, ausgedrückt in Grad Celsius der zu erwartenden Erhöhung der Durchschnittstemperatur usw. Umgekehrt schlagen in Gesetzen und Vorschriften die Zahlen, deren genaue Bedeutung niemand zu bestimmen vermag, als Normen auf die Wirklichkeit durch, indem sie ebenso magische wie reale Grenzen setzen: die drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts etwa, die die Neuverschuldung eines EU-Landes nicht überschreiten darf; die Schulnoten, die einen gewissen Standard nicht unterschreiten dürfen, soll die Versetzung gesichert sein; die die erlaubte Umweltverschmutzung regelnden ›Grenzwerte‹ etwa für Feinstaub in der Luft, Gifte in Nahrungsmitteln o.Ä., so als wäre die Welt darunter vollkommen in Ordnung und bräche sie darüber sofort in sich zusammen. Die Erhebung bzw. Festlegung dieser Zahlen ist in jedem Einzelfall mit erheblichen methodischen Problemen verbunden, die den beteiligten Fachleuten zwar auch nicht stets bewusst sind, es aber immerhin sein könnten. In der öffentlichen Wahrnehmung und gesellschaftlichen Wirkung jedoch wird der mehr oder weniger ›wissenschaftliche‹ Herstellungsprozess, dessen Ergebnis die Zahlen erst sind, samt seinen Unwägbarkeiten vollständig ausgeblendet. Die Zahlen verselbständigen sich dadurch und erhalten eine eigenständige, von aller Wirklichkeit außer ihnen absehende Bedeutung. In Konfliktfällen scheint dieser Sachverhalt manchmal auf, wenn z.B. Eltern nicht einsehen mögen, dass die Fünf in Mathematik den Leistungsstand der Tochter angemessen beschreibe, wobei allerdings regelhaft nur die Wahrnehmung der ›ungerechten‹ Lehrerin und eher selten die Zumutung angegriffen wird, die darin besteht, Fähigkeiten und Verständnis in einer Zahl ausdrücken zu müssen. Das hier beschriebene, offenkundig magische Verhältnis, in dem wir als moderne Menschen zu den Zahlen stehen, sollte nicht verwechselt werden mit der Zahlenmagie in vormodernen oder außereuropäischen Kulturen. Diese bezog sich immer auf die einzelne Zahl: die Sieben etwa, die Drei oder die Fünf, die jede für sich eine eigene Qualität hatten. Die haben sie heute gerade nicht mehr, weder im Alltagsbewusstsein noch in der modernen Mathematik und mathematischen Naturwissenschaft, in der sich die Zahlen als qualitätslose Punkte auf dem Zahlenstrahl nur noch hinsichtlich ihrer Anordnung unterscheiden. Worum es also geht, sind die Zahlen als Gesamtheit und ist der Sachverhalt, dass sie für uns ein Medium sind, uns über die Welt zu verständigen, auch dort noch, wo es ohne jeden Sinn ist. Angesichts der Komplexität der modernen Welt erscheint es immer dann angemessen, sich der Zahlen als Medium zu bedienen, wenn es um Sachverhalte geht, die die Einzelerfahrungen übersteigen. Das inzwischen wohl als gesichert geltende Ergebnis der PISA-Studien etwa, dass in keinem anderen vergleichbaren Land Bildungschancen und Schulerfolg von der sozialen Herkunft abhängen wie in Deutschland, wäre ohne die methodisch durchaus

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problematische zahlenmäßige Erfassung von Bildungsinhalten wohl kaum erreichbar gewesen. Bei den Geldflüssen, um einen andere Bereich zu nennen, handelt es sich, so sie sich denn erfassen lassen, um aussagekräftige Größen: Wenn sich etwa laut UNCTAD im Weltmaßstab die ausländischen jährlichen Direktinvestitionen im Zeitraum zwischen 1980 und 2003 ungefähr verzehnfacht und ihre Bestände sich mehr als verhundertfacht haben, dann sagt das etwas über die Neuartigkeit des mit dem Wort ›Globalisierung‹ ein wenig unscharf beschriebenen Phänomens und widerlegt jedenfalls die Behauptung, es sei alles schon mal dagewesen. Und schließlich, zum Dritten: Von den ökologischen Gefährdungen, dem Ozonloch etwa oder den absehbaren Klimaveränderungen und ihren jeweiligen, von der modernen Gesellschaft hervorgebrachten Ursachen würden wir ohne ihre zahlenmäßige Erfassung in Millionen von Messdaten keinerlei Kenntnis haben. Man beachte allerdings die dieser Argumentation zu Grunde liegende Logik: Sie besagt, dass wir an bestimmte, über Einzelerfahrungen hinausgehende Sachverhalte nur über das Medium der Zahlen herankommen können. Daraus folgt aber nicht, dass das dann auch gelingt. Die Aussage, dass wir über unsere Welt ohne das Medium der Zahlen nur wenig wissen würden, ist insofern richtig und gleichwohl nur der kleinere Teil der Wahrheit. Zum größeren gehört, dass es ohne dieses Medium und seine teilweise gewalttätige Verselbständigung in Naturwissenschaft und Technik viele Probleme gar nicht gäbe, die sich dann nur noch mit diesem Medium erfassen lassen; dazu gehört, dass die ausschließliche Verwendung dieses Mediums ohne Bewusstsein für seine Grenzen in die Irre bzw. genauer gesagt zu magischen Vorstellungen führt; und dazu gehört schließlich, gewissermaßen als Quintessenz, dass wir von unserer Welt letztlich nicht mehr wissen als andere Kulturen von der ihren.

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Positive Wissenschaft als Magie Die Zahlen stehen hier stellvertretend für die Mathematik, in die sie eingebettet sind und die bekanntlich nicht nur eine Lehre von den Zahlen ist. In Verallgemeinerung des bisher Gesagten geht es im Folgenden daher um die moderne Vorstellung, die Welt folge mathematischen Gesetzmäßigkeiten und alle objektive Erkenntnis bestehe darin, diese Gesetze aufzuspüren, wodurch aber die Mathematik letztlich zum Medium wird, das eine allgemein verbindliche Verständigung über die Wirklichkeit allererst ermöglicht. Die Zahlen spielen hier insofern eine besondere Rolle, als sie in der Gestalt von Messergebnissen die Verbindung zwischen den mathematischen Modellen und der Empirie herstellen. ›Tatsachen‹ werden – auf dem Wege der Messung – durch Zahlen ausgedrückt, wogegen deren gesetzesförmige Erklärung komplexerer mathematischer Konstruktionen bedarf.

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Wer nach den Ursprüngen sucht, stößt auf Galilei. Dem vor allem von der Wissenschaftsgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts ins Leben gerufenen modernen Volksglauben nach, welchem auch einige der heute noch in Gebrauch befindlichen Physikbücher anhängen, war Galilei der erste, der den Blick von den tradierten Schriften des Aristoteles und der Kirchenväter abwendete und den ›Tatsachen‹ ins Auge blickte. Kennzeichnend dafür ist die Legende der ›berühmten‹ Fallversuche vom Schiefen Turm von Pisa, mit der Galilei angeblich aller Welt sein Fallgesetz (›Alle Körper fallen gleich schnell‹) bewies und Aristoteles, der das anders gesehen hatte, widerlegte. Die Legende ist noch nicht einmal gut erfunden (vgl. Koyré 1998: 123ff.): Zum einen hätten die beschriebenen Versuche Galileis Fallgesetz nicht bestätigt, sondern falsifiziert, zum anderen wird hier, wie in vielen Physikbüchern noch immer, der Charakter der in der Person des Galilei kulminierenden wissenschaftlichen Revolution zu Beginn des 17. Jahrhunderts vollständig verfehlt. Nach Galileis Überzeugung ist ›das Buch der Natur‹ in der Sprache der Mathematik geschrieben, und diese Überzeugung hat er und mit ihm die neuzeitliche Physik gegen alle unmittelbare Empirie durchgehalten (vgl. Ortlieb 1998: 24ff.). Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Das bereits Galilei und Descartes geläufige und von Newton zum Axiom erhobene Prinzip, demnach ein bewegter Körper sich gleichförmig weiterbewege, auf einer geradlinigen Bahn, solange ihn keine äußere Kraft daran hindert, ist rein hypothetisch, es wurde nie beobachtet, kann gar nicht beobachtet werden, und gehört gleichwohl zu den Grundlagen der neuzeitlichen Physik. »In der griechischen Antike ebenso wie im Mittelalter wären die gleichen Auffassungen als ›offenkundig‹ falsch, ja absurd eingestuft worden« (Koyré 1998: 72), und es gibt überhaupt keinen Grund, Antike oder Mittelalter deswegen als irrational oder autoritätshörig zu qualifizieren. Sie haben nur die Methode der neuzeitlichen Wissenschaft nicht gekannt. Deren Vermittlung ihrer mathematischen Konstruktionen mit der Wirklichkeit besteht im Experiment und einer der größten anzunehmenden wissenschaftlichen und wissenschaftshistorischen Irrtümer darin, dieses mit der schlichten Beobachtung gleichzusetzen, wie sie Antike und Mittelalter zur Verfügung stand. Im Experiment wird Realität nicht einfach beobachtet, sondern hergestellt, den idealen mathematischen Konstruktionen zumindest näherungsweise entsprechend. Hierin und nur hierin ist der Erfolg der mathematischen Naturwissenschaft begründet: Die Realität, die sie beschreibt, ist eine von ihr selbst produzierte. In den Worten von Kant: »Als Galilei seine Kugeln die schiefe Fläche mit einer von ihm selbst gewählten Schwere herabrollen, oder Torricelli die Luft ein Gewicht, was er sich zum voraus dem einer ihm bekannten Wassersäule gleich gedacht hatte, tragen ließ, oder in noch späterer Zeit Stahl Metalle in Kalk und diesen wiederum in Metall verwandelte, indem er ihnen

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etwas entzog und wiedergab; so ging allen Naturforschern ein Licht auf. Sie begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Na-

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tur nötigen müsse auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse; denn sonst hängen zufällige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtungen gar nicht in einem notwendigen Gesetze zusammen, welches doch die Vernunft sucht und bedarf. Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien, nach denen allein übereinkommende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt. Und so hat sogar Physik die so vorteilhafte Revolution ihrer Denkart lediglich dem Einfalle zu verdanken, demjenigen, was die Vernunft selbst in die Natur hineinlegt, gemäß, dasjenige in ihr zu suchen (nicht ihr anzudichten), was sie von dieser lernen muß, und wovon sie für sich selbst nichts wissen würde. Hierdurch ist die Naturwissenschaft allererst in den sicheren Gang einer Wissenschaft gebracht worden, da sie so viel Jahrhunderte durch nichts weiter als ein bloßes Herumtappen gewesen war.« (Kant 1990: B XIII)

Die Gesetzmäßigkeit der Natur ist keine Natureigenschaft, sondern hat ihren Platz im erkennenden Subjekt und dessen Prinzipien der ›Vernunft‹. Kant macht hier zweierlei und führt es in der Kritik der reinen Vernunft genauer aus: Er analysiert und kennzeichnet das tatsächliche Vorgehen der Naturwissenschaft so genau und zutreffend wie niemand vor und kaum einer nach ihm. Und zugleich erhebt er es zur Norm und erklärt diese spezifische Erkenntnisform zur einzig möglichen, indem er mit der ganzen Arroganz der Aufklärung alle anderen Erkenntnisformen als ›bloßes Herumtappen‹ disqualifiziert. Völlig blind bleibt er schließlich, auch hierin ganz Aufklärungsphilosoph, gegenüber der Frage, woher denn die von ihm propagierte Vernunft wohl kommen möge, er scheint sie für eine Natureigenschaft des (männlichen, weißen) Menschen zu halten. Diese Blindheit treibt der seit anderthalb Jahrhunderten den wissenschaftlichen Mainstream bestimmende Positivismus gewissermaßen zur Vollendung, indem er Kants Metaphysik dadurch ›überwindet‹, dass er sich ausgerechnet des an ihr Zutreffenden entledigt. Comte (1994: 5) entwickelt mit seinem »Gesetz der Geistesentwicklung der Menschheit oder Dreistadiengesetz« eine Geschichtsphilosophie, die drei notwendig nacheinander durchlaufene Stadien (Erkenntnisformen) unterscheidet, denen die Kindheit, eine Art pubertäre Übergangsphase und schließlich das Mannesalter (!) der Geistesentwicklung bzw. der Menschheit zugeordnet wird, wobei einzelne Menschen oder auch die »drei Rassen« (!) in ihrer Entwicklung unterschied-

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lich weit fortgeschritten sein können: Das »theologische oder fiktive« Stadium, das »metaphysische oder abstrakte« Stadium und schließlich das »positive oder reale« Stadium. Entscheidend ist nun – und hier ist Comte sehr klar –, dass der im Übergang zur Erwachsenenphase liegende Fortschritt nicht etwa durch einen sprunghaften Erkenntniszuwachs, sondern vielmehr durch eine Veränderung der Fragestellung begründet wird. So weise etwa das theologische Stadium »eine typische Vorliebe für die unlösbarsten Fragen über Gegenstände auf, die einer entscheidenden Nachprüfung am unzugänglichsten sind« und suche nach »absoluten Wahrheiten« (ebd.). Das metaphysische Übergangs-Stadium behandele die gleichen Fragen, jedoch mit Mitteln, die eine »kritische oder auflösende« Wirkung erzielen: »Die Metaphysik ist also in Wahrheit im Grunde nichts anderes als eine Art durch auflösende Vereinfachungen schrittweise entnervter Theologie« (Comte 1994: 13). Und als Ergebnis und Krönung dieser Entwicklung, die damit zugleich abgeschlossen sei, stelle sich wie von selbst das positive oder reale Stadium ein: »Diese lange Reihe notwendiger Vorstufen führt schließlich unsere schrittweise frei gewordene Intelligenz zu ihrem endgültigen Stadium rationaler Positivität […]. Nachdem derartige vorbereitende Übungen von selbst die völlige Nichtigkeit der der anfänglichen Philosophie – sei sie nun theologisch oder metaphysisch – eigenen unklaren und willkürlichen Erklärungen bewiesen haben, verzichtet der menschliche Geist fortan auf absolute Forschungen, wie sie nur seiner Kindheit angemessen waren, und beschränkt seine Bemühungen auf das von da an rasch sich entwickelnde Gebiet der echten Beobachtung, der einzig möglichen Grundlage der wirklich erreichbaren und unseren tatsächlichen Bedürfnissen weise angemessenen Erkenntnisse.« (Comte 1994: 15f.)

Bestimmte Fragen werden einfach nicht mehr gestellt, jedenfalls nicht unter erwachsenen (weißen) Männern. Die sind fortan der positivistischen »Grundregel« verpflichtet, »daß keine Behauptung, die nicht genau auf die einfache Aussage einer besonderen oder allgemeinen Tatsache zurückführbar ist, einen wirklichen oder verständlichen Sinn enthalten kann« (Comte 1994: 16). Da spielt es dann schon keine Rolle mehr, dass etwa das oben erwähnte Newton’sche Axiom der gleichmäßig geradlinigen Weiterbewegung eines Körpers im kräftefreien Raum nach dieser Regel nicht hätte formuliert werden dürfen, weil es einen solchen Raum bekanntlich nicht gibt. Das Vorgehen der mathematischen Naturwissenschaft wird vom Positivismus verallgemeinernd propagiert und zugleich hinsichtlich seines Charakters völlig verfehlt: »Mit einem Wort, die grundlegende Revolution, die das Mannesalter unseres Geistes charakterisiert, besteht im wesentlichen darin, überall anstelle der unerreichbaren Be-

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stimmung der eigentlichen Ursachen die einfache Erforschung von Gesetzen, d.h. der konstanten Beziehungen zu setzen, die zwischen den beobachteten Phänomenen bestehen. Ob es sich nun um die geringsten oder die höchsten Wirkungen, um Stoß und

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Schwerkraft oder um Denken und Sittlichkeit handelt, wahrhaft erkennen können wir hier nur die verschiedenen wechselseitigen Verbindungen, die ihrem Ablauf eigentümlich sind, ohne jemals das Geheimnis ihrer Erzeugung zu ergründen.« (Comte 1994: 17)

Im »Mannesalter« der Aufklärung werden die in Zahlen und anderen mathematischen Formen gefassten Gesetze endgültig für eine Eigenschaft der Natur gehalten, das Erkenntnissubjekt kommt als Gegenstand der entsorgten Metaphysik nicht mehr vor, und solche feinen Unterscheidungen wie die zwischen Experiment und Beobachtung lässt man doch besser weg, sie stören nur noch. Diese Schludrigkeit erst erlaubt es, die mathematisch-naturwissenschaftliche Methode umstandslos für Gebiete wie etwa die Volkswirtschaftslehre geeignet zu halten, in denen Experimente nicht möglich sind. Und die Überschätzung der nicht verstandenen Methode führt dazu, alle Fragen, die sich mit ihr nicht angehen lassen, auszublenden bzw. in die irrelevant gewordene »Kindheitsphase« der Menschheit zu verweisen. »Der Aufklärung wird zum Schein, was in Zahlen, zuletzt in der Eins, nicht aufgeht; der moderne Positivismus verweist es in die Dichtung« (Horkheimer/Adorno 1988: 13). Die tabuisierte Metaphysik allerdings kehrt, wenn sich ihre Fragen auch im Rahmen positivistischer Wissenschaft nicht mehr wegdrängen lassen, in ihren ganz alten Formen zurück, nämlich in Gestalt magischer Vorstellungen. Regelmäßig passiert das dann, wenn sich Positivisten über das Verhältnis von Mathematik und Wirklichkeit Gedanken machen und ihrer Verwunderung Ausdruck geben, dass beide so gut zueinander passen. Der positivistische Wissenschaftsphilosoph Carnap etwa spricht von einem »Glücksfall« und zieht dafür zu Recht den Spott von Adorno (1969: 30) auf sich. Erst recht löst diese Frage bei in der Wissenschaft praktisch Tätigen ehrfürchtiges Staunen aus: »Echte Wissenschaft hingegen bleibt wirkliche Magie. Es ist faszinierend zu sehen, wie viele physikalische Phänomene sich mit unheimlicher Genauigkeit an Theorien und Formeln halten, was nichts mit unseren Wünschen oder kreativen Impulsen, sondern mit der reinen Wirklichkeit zu tun hat. Es macht einen völlig sprachlos, wenn es sich herausstellt, daß Phänomene, die zunächst nur theoretisch begründet und mit Formeln errechnet worden sind, sich in der Folge als Realität erweisen. Warum sollte die Wirklichkeit so sein? Es ist reine Magie!« (Dewdney 1998: 30)

In der letzten Konsequenz der Aufklärung, deren Pathos doch immer darin bestand und noch besteht, die irrigen Vorstellungen der Vormoderne hinter

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sich gelassen und überwunden zu haben, fällt der von ihr so betonte Gegensatz von Religion/Magie auf der einen und Wissenschaft auf der anderen Seite in sich zusammen. Fetischismus Ein Fetisch ist ein Ding, in das übersinnliche Eigenschaften projiziert werden und das damit über die ihm Verfallenen Macht auszuüben vermag. Über solcherart Fetischismus, wie er zu Beginn des Kolonialismus vor allem an westafrikanischen Religionen festgemacht wurde, weiß die Aufklärung sich erhaben. Marx sah das bekanntlich anders: »Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. […] Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt. Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist.« (MEW, Bd. 23: 86f.)

Die Analogie zum Gegenstand dieses Aufsatzes springt ins Auge. Die inzwischen auch außerhalb der Naturwissenschaften reichlich verwendete mathematisch-naturwissenschaftliche Methode ist der Versuch, Produkte des menschlichen Kopfes, hier also Zahlen und andere mathematische Formen, an die Wirklichkeit anzulegen und diese nach ihrem Bilde zu gestalten oder jedenfalls durch sie hindurch wahrzunehmen. Und das Ende dieser Geschichte besteht in dem Glauben, die Wirklichkeit bzw. die ›Natur‹ selber sei gesetzesförmig und der Erfolg der Naturwissenschaft der schlagende Beweis dafür. Doch es handelt sich nicht um eine bloße Analogie, nicht um die zufällige Parallelität zweier voneinander unabhängiger Fetischismen. Seit der späten Veröffentlichung des Ansatzes von Sohn-Rethel (1970) hat es immer wieder Versuche gegeben, die von der Aufklärung ausgeblendete und vom Positivismus schließlich tabuisierte Frage anzugehen, also den Zusammenhang von »Warenform und Denkform«, »Gesellschaftsform und Erkenntnisform«,

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»Geld und Geist« auszuleuchten, so etwa von Greiff (1976), Müller (1977), Bolay/Trieb (1988), Ortlieb (1998). Die Angelegenheit ist komplex und lässt sich nicht auf wenigen Seiten klären. Den direktesten Weg nimmt Bockelmann (2004), den ich hier kurz skizziere. Eine der Schwierigkeiten, an der der erste Versuch Sohn-Rethels letztlich gescheitert ist, besteht darin, die moderne Form der Erkenntnis ebenso wie der Warengesellschaft in ihrer Besonderheit von ihren Vorläufern in der Antike klar abzugrenzen. Es ist nicht das bloße Vorhandensein von Geld oder der Tausch der überschüssigen Produktion, die die moderne Denkform auf den Weg bringen, sondern dazu ist notwendig, dass das Geld zur bestimmenden Allgemeinheit und dem eigentlich Zweck der Produktion wird,

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➔ 11 Die Zahlen als Medium und Fetisch

»wenn es ein historisch erstes Mal also heißen kann, ›all things came to be valued with money, and money the value of all things‹. Dann beginnt Geld – in diesem für uns prägnanten Sinn – Geld zu sein, indem es als Geld allein noch fungiert. Der feste Bestand, den es bis dahin nur im wertvoll gedachten Material hatte, geht dann nämlich über in die bestandsfeste Allgemeinheit des Bezugs aller Dinge auf den Geldwert – und also in dessen für sich genommen festes Bestehen. Wenn die Handlungen des Kaufens und Verkaufens für die Versorgung bestimmende Allgemeinheit erlangen, entsteht damit die allgemeine Notwendigkeit, den Markt, zu dem es dafür gekommen sein muss, als das Geflecht dieser Kaufhandlungen fortzusetzen, ganz einfach deshalb, damit die Versorgung, die daran hängt, nicht ihrerseits abreißt. Die Notwendigkeit, allgemein über Geld zu verfügen, übersetzt sich so in die Allgemeinheit, mit der die Geldfunktion auch weiterhin notwendig ist; und übersetzt sich damit in die Festigkeit dieser Funktion als einer für sich bestehenden Einheit.« (Bockelmann 2004: 225)

Die historisch neue Situation besteht in einer Realabstraktion. Sie verlangt von den Marktteilnehmern eine Abstraktionsleistung, die sie erbringen müssen, ohne sie als bewusste Denkleistung zu vollziehen; in der Marx’schen Formulierung: »Die Menschen beziehen also ihre Arbeitsprodukte nicht aufeinander als Werte, weil diese Sachen ihnen bloß sachliche Hüllen gleichartiger menschlicher Arbeit gelten. Umgekehrt. Indem sie ihre verschiedenartigen Produkte einander im Austausch als Werte gleichsetzen, setzen sie ihre verschiednen Arbeiten einander als menschliche Arbeit gleich. Sie wissen das nicht, aber sie tun es.« (MEW, Bd. 23: 88)

Es sollte darauf hingewiesen werden, dass Bockelmann sich an keiner Stelle auf Marx bezieht, der Begriff der (abstrakten) Arbeit tritt bei ihm nirgendwo auf. Hinsichtlich der Frage, was die Warenproduktion, die Produktion also zum alleinigen Zwecke des durch Geld vermittelten Erwerbs anderer Waren, in den ihr unterworfenen Menschen bewirkt, sind beide Erklärungen aber

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kompatibel. Die Warensubjekte müssen um ihrer Überlebensfähigkeit willen einen Reflex ausbilden, der fortan als ein ihnen nicht bewusster Zwang nicht nur die Geldhandlungen, sondern ihren Zugang zur Welt überhaupt bestimmt: »Dies die Form, in der kein Mensch bis dahin hatte denken müssen und keiner daher hatte denken können, die neuzeitlich bedingte synthetische Leistung, welche die Menschen damit aufzubringen haben: zwei auf Inhalte bezogene, selbst aber nicht-inhaltliche Einheiten im reinen Verhältnis von bestimmt gegen nicht-bestimmt. Diese Synthesis wird dem Denken, so bedingt, zur Notwendigkeit und zum Zwang. […] Ihren genuinen Bereich hat diese Synthesis im Umgang mit Geld, und ebendort haben die Menschen sie anzuwenden auf alle, unbestimmt welche Inhalte, haben sie die reine Einheit ›Wert‹ auf gleichgültig welchen Inhalt zu beziehen. […] Über die ältere und ebenfalls synthetische Leistung materialer Denkform, nämlich Wert in den Dingen zu denken und sie nach diesem inhärent gedachten Wert aufeinander zu beziehen, legt sich die neue, funktionale Leistung, ihn zu formen in die nicht-inhaltlichen Einheiten.« (Bockelmann 2004: 229f.)

Es ist unschwer zu erkennen, wie weitgehend der hier abstrakt beschriebene, von der Warenform erzwungene Weltzugang dem der mathematischen Naturwissenschaft entspricht und sich noch in den Details ihrer Methode wiederfindet: »Das Experiment ist das Medium zur Verwandlung von Natur in Funktion. Der neuzeitlich veränderte Blick auf das empirisch Gegebene ist keiner der Betrachtung mehr, sondern dringt ein, um das darin zu finden, was er voraussetzen muss, das gesetzmäßige Verhalten« (ebd.: 354). Und auch das fehlende bzw. fetischistische Bewusstsein positivistischer Wissenschaft von ihrer Methode und ihrem Gegenstand lässt sich auf diese Weise zwanglos erklären: »Welt und Natur werden funktional gedacht: das heißt – solange die Genese der funktionalen Denkform unerkannt bleibt –, sie werden gedacht, als wäre die funktional gedachte ihre wirkliche Form. Danach muss es die Naturgesetze wirklich so geben, wie wir sie denken und voraussetzen, wirklich in dieser Form funktionaler Nicht-Inhaltlichkeit.« (Ebd.: 358)

Dass für die Überwindung dieses Bewusstseins die Kenntnis der Genese seiner Form notwendig ist, heißt nicht – und wird von Bockelmann auch nicht behauptet –, dass sie allein ausreichen wird, wenn damit nicht zugleich die Überwindung des ihm zu Grunde liegenden Warenfetischs einhergeht.

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Geschlechtliche Abspaltung Es sollte deutlich geworden sein, dass jede Erklärung des Zusammenhangs zwischen Gesellschafts- und Erkenntnisform das Subjekt der Erkenntnis in den Blick zu nehmen hat, welches immer zugleich Staatsbürger und Warenmonade ist, geprägt von der Gesellschaft, in der Erkenntnis stattfindet. Auch wenn es nur darum gehen soll, das hier als Zahlenfetischismus gekennzeichnete Phänomen besser zu verstehen, können davon unabhängige Untersuchungen zur Konstitution der Subjektform durchaus hilfreich sein (vgl. etwa Ulrich 2002; Kurz 2004). Ein grundlegendes, aber bisher nicht berührtes Moment soll hier noch herausgehoben werden, nämlich die Gespaltenheit des modernen Subjekts und die (damit zusammenhängende) geschlechtliche Konnotation der wertförmigen Vergesellschaftung ebenso wie der zahlenförmigen Erkenntnis. Objektive Erkenntnis, wie sie sich etwa im physikalischen Experiment vollzieht, lässt sich als ein Vorgang der Abspaltung beschreiben, nämlich der Abspaltung derjenigen Aspekte der Wirklichkeit, die den gesetzesförmigen Ablauf stören würden. Einer der auszuschaltenden ›Störfaktoren‹ ist der Experimentator selbst. Seine Körperlichkeit und seine Empfindungen könnten den ›idealen‹ Ablauf durcheinander bringen und sind daher soweit wie möglich zu eliminieren, ohne damit seinen Beobachterstatus zu gefährden, was Greiff (1976) anhand der geläufigen, imperativisch formulierten Vorschriften in Lehrbüchern der experimentellen Physik zur Ausführung von Experimenten herausarbeitet. Der im Experiment vorgenommene aktive Eingriff in die Natur ist also zuallererst eine Handlung des Experimentators an sich selbst, nämlich seine Spaltung in ein Verstandes- und ein Körperwesen. Diese Erkenntnisform setzt mithin ein Subjekt voraus, das sich in dieser Weise spalten lässt. Derartige Subjekte sind keineswegs in allen Gesellschaftsformen vorzufinden, sondern vielmehr ein Spezifikum einer einzigen, nämlich der bürgerlichen Gesellschaft, für die die Spaltung in Gefühl und Verstand, Körper und Geist, privat und öffentlich samt der dazugehörigen geschlechtlichen Konnotation konstitutiv ist. In der an abstrakten Kalkülen orientierten öffentlichen Sphäre sind nur die ›männlichen‹ Anteile gefragt, die ›weiblichen‹ dagegen abzuspalten. Letztere, da für das individuelle Überleben wie die gesellschaftliche Reproduktion gleichwohl erforderlich, sind damit aber nicht verschwunden, sondern werden vielmehr an die Frau delegiert (»Wertabspaltung«, vgl. Scholz 2000: 13ff. u. 107ff.). Wohin denn auch sonst, ließe sich einwenden, aber ›weiblich‹ werden diese Anteile – und ›männlich‹ die anderen – eben erst durch die entsprechende Zuweisung, sie sind es nicht von Natur aus. Zu beachten ist ferner, dass es sich hier um ein Schema handelt, das in den Individuen vielfach gebrochen ist, schließlich ist nicht von biologischen Determi-

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nanten, sondern von gesellschaftlichen Verhältnissen die Rede. Nicht jeder Mann ist also gleichermaßen ›männlich‹, nicht jede Frau gleichermaßen ›weiblich‹, doch der Zwang ist groß, sich diesen von der Warengesellschaft kodifizierten geschlechtlichen Attributen zu fügen, sodass nach wie vor, statistisch gesprochen, die positive Korrelation zwischen gesellschaftlichem und biologischem Geschlecht hoch ist. In diesem Sinne ist der Experimentator, ist das Subjekt und der Träger der objektiven, gesetzes- und zahlenförmigen Erkenntnis ›männlich‹, und zwar nicht nur strukturell, sondern auch empirisch, und das desto ausgeprägter, je höher sein Rang in der wissenschaftlichen Hierarchie. Es ist daher kein Zufall, dass Kritik an den unangreifbar scheinenden mathematischen Naturwissenschaften in den letzten Jahrzehnten fast ausschließlich von feministischer Seite erhoben wurde. Stellvertretend für viele seien hier Scheich (1993) und Keller (1995) genannt. Die Tiefendimension des Problems lässt sich freilich ohne Bezug auf die Wertabspaltung als ebenso umfassendes wie »in sich gebrochenes Formprinzip der gesellschaftlichen Totalität« (Scholz 2004: 19) schwerlich erreichen. Wer nur die institutionalisierte Erkenntnisgewinnung und ihre Mechanismen für sich betrachtet, kann allenfalls an ihrer Oberfläche kratzen. Harte Fakten? Als ›harte Fakten‹ (man beachte auch hier die geschlechtliche Konnotation) gelten in der Regel solche Tatbestände, die durch eine Zahl, eine Zahlenkolonne oder eine mathematische Funktion ausgedrückt werden. Über deren Bedeutung ist damit aber noch gar nichts gesagt. In den experimentellen Wissenschaften ergibt sie sich aus der technischen Herstellbarkeit, also präzisen Handlungsanweisungen, mit denen sich das behauptete Ergebnis erzielen lässt. Darin liegt das ganze Geheimnis der ›Exaktheit‹ der mathematischnaturwissenschaftlichen Methode. Bei der Übertragung auf Wissensbereiche, in denen Experimente nicht möglich sind, sondern die Verbindung zur Empirie nur in der nicht eingreifenden Beobachtung oder statistischen Erhebung liegt, muss diese Exaktheit verloren gehen. Was an ihre Stelle tritt, bleibt unklar. Die Frage, welchen Sinn eine mathematische Erfassung der Wirklichkeit noch hat, wie weit also die den Naturwissenschaften entnommene Methode noch trägt, wenn sie ihrer basalen Anbindung an die Empirie beraubt ist, verfällt, da nicht Gegenstand ›positiver Wissenschaft‹, der Nichtbeachtung. Ganze Fächer leben von derartigem Selbstbetrug, allen voran der Mainstream der akademischen Volkswirtschaftslehre (vgl. Ortlieb 2004). Die ›Härte‹ der Fakten erweist sich als Schein und pure Fassade. Betrachtet man im Einzelfall die von solchen Fächern produzierten Daten, so zeigt sich oft, dass unvergleichliche Qualitäten unter einen Hut gebracht,

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Äpfel also gewissermaßen mit Kartoffelsäcken addiert wurden. Das soll an einem abschließenden Beispiel verdeutlicht werden, bei dem es wiederum – obwohl hier wirklich nicht das eigentliche Thema – um die empirische Erfassung des Phänomens der Arbeitslosigkeit geht: Für wohlmeinende, um den Zustand der Welt besorgte Menschen, die ein wenig Aufheiterung brauchen, ist wohl eine Meldung wie diese gedacht:

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»Weltweit weniger Joblose: Der jahrelange Trend steigender weltweiter Arbeitslosigkeit ist 2004 unterbrochen worden. Das geht aus dem Weltarbeitsbericht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) für 2004 hervor. Demnach sank die Arbeitslosenquote von 6,3 Prozent auf 6,1 Prozent, die Zahl der Erwerbslosen ging auf 184,7 (2003: 185,2) Millionen zurück.« (»tageszeitung« 15.02.05)

Wer die deutsche Arbeitslosenquote vor Augen hat, könnte den Eindruck gewinnen, die damit bezeichnete Krisenerscheinung sei ein Problem vor allem Deutschlands bzw. Europas, und wird darin durch dieselbe Meldung sogleich bestätigt: »In den 25 EU-Ländern gab es mit einem Rückgang von 9,1 Prozent auf 9,0 Prozent fast einen Stillstand. Die Quote sei aber niedriger als vor 10 Jahren, als sie bei 11,2 Prozent lag.« Tatsächlich wird hier aber Unvergleichbares miteinander verglichen, obwohl die ILO die Arbeitslosigkeit weltweit auf einheitliche Weise erfasst: Als erwerbstätig wird von ihr gezählt, wer mindestens eine Stunde pro Woche bezahlt arbeitet. Als arbeitslos gilt, wer in diesem Sinne nicht erwerbstätig ist, eine solche ihr/ihm angebotene ›Arbeit‹ innerhalb von 14 Tagen nach eigenen Angaben aber antreten würde. Von den Schwierigkeiten bei der Datenerhebung einmal abgesehen: Bereits die Anhebung der völlig willkürlichen Grenze von 1 auf 3 Stunden pro Woche bezahlter Arbeit würde die so errechnete Arbeitslosenquote in einigen Ländern drastisch in die Höhe treiben, in anderen dagegen überhaupt nicht verändern. Hinzu kommt, dass ›Arbeit‹ und ›Arbeitslosigkeit‹ in verschiedenen Ländern ganz verschiedene Bedeutung haben können. Ein grelles Licht auf diesen Sachverhalt wirft eine andere Zahl, die in der Mitteilung der ILO (2005) enthalten ist, auf den auch die obige Zeitungsmeldung sich bezieht: Der Anteil der »$ 2 working poor« unter den weltweit als arbeitend Geltenden lag 2002 bei 50,4 Prozent und sank trotz der Dollarentwertung in den beiden Folgejahren nur auf 48,7 Prozent im Jahr 2004. Etwa die Hälfte aller ›Arbeitenden‹ verdient also weniger als zwei Dollar pro Tag, weniger als ein Viertel des Zuverdienstes eines 1Euro-Jobbers. Auch diese Zahl sagt über die dahinter liegenden Wirklichkeiten wenig aus, von ihr erfasst sind ohne Vertrag arbeitende Lohnsklaven ebenso wie Elendsunternehmer, die am Straßenrand eine Handvoll Früchte am Tag auf eigene Rechnung verkaufen, und sie bezieht sich auf Länder, in denen man für zwei Dollar zumindest noch eine anständige Mahlzeit be-

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kommt ebenso wie auf solche, in denen sie nicht einmal für ein Sonderangebot bei McDonalds reichen. Dennoch zeigt sich auch an ihr, dass bei der Berechnung der weltweiten Arbeitslosenquote ganz offensichtlich ›Äpfel mit Kartoffelsäcken addiert‹ wurden. Anders gesagt: Die Zahl von 6,1 Prozent, die immerhin eine Zeitungsmeldung wert war, ist nicht einfach falsch, sondern hat keinerlei sachlichen Gehalt. Dasselbe gilt dann für die Nachricht ihrer Veränderung entsprechend. Damit wird die ›Korrektheit‹ der erhobenen Zahlenwerte nicht bestritten. Ob die ILO bei ihren repräsentativen Umfragen sauber oder unsauber gearbeitet hat, lässt sich von mir nicht überprüfen, spielt aber auch gar keine Rolle. Die Zahlen mögen korrekt sein, sie verlieren aber jeden Sinn, wenn mit ihnen Länder mit unterschiedlichen ökonomischen Verhältnissen und gesetzlichen Regelungen verglichen und dann über solche Ländergruppen hinweg gar noch Mittelwerte gebildet werden. Wenngleich sinnlos, sind die Zahlen doch nicht ohne Wirkung, weil sie in fast beliebiger Weise instrumentalisiert werden können. Sind sie einmal in der Welt, lassen sich aus ihnen munter Schlüsse ziehen. Beispielsweise kann man mit ihnen jetzt den ›empirischen Beweis‹ antreten, dass die Deregulierung von Arbeitsverhältnissen und die Senkung der Löhne zu einer Verringerung der Arbeitslosigkeit führt, da die ja schließlich, so orakeln jedenfalls die Zahlen, in den Billiglohnländern geringer ist. Aber um mehr als ein Orakel handelt es sich in der Tat nicht. Zahlen scheinen in der modernen Gesellschaft nahezu das einzige Medium zu sein, sich ›objektiv‹, also über den pluralistischen Meinungsaustausch hinaus, über den Zustand unserer Welt zu verständigen. Der abgespaltene, von Zahlen gar nicht erfassbare ›weibliche‹ Bereich muss dabei von vornherein außer Betracht bleiben. Wie sich zeigt, sind aber auch die zahlenförmigen Kenntnisse über den öffentlichen ›männlichen‹ Bereich mehr als fragwürdig. Letztlich lässt sich auf diesem Wege über unsere Gesellschaft nur wenig in Erfahrung bringen. Dem Glauben an den Zahlenfetisch und seine umfassende Geltung tut das allerdings keinen Abbruch. Literatur Adorno, Theodor W. (1969): Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Einleitung, Neuwied. Bockelmann, Eske (2004): Im Takt des Geldes. Zur Genese modernen Denkens, Springe. Bolay, Eberhard/Trieb, Bernhard (1988): Verkehrte Subjektivität. Kritik der individuellen Ich-Identität, Frankfurt/Main. Comte, Auguste (1994): Rede über den Geist des Positivismus [1844], Hamburg. Dewdney, Alexander K. (1998): Alles fauler Zauber?, Basel.

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➔ 11 Die Zahlen als Medium und Fetisch

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Christian Jäger Bereits in der Antike wird gelegentlich von handschriftlich vervielfältigten Flugblättern berichtet, ihre erste Konjunktur erlebten sie allerdings erst nach Erfindung – und zwar unmittelbar danach – des Buchdruckes. Im Unterschied zu Flugschriften, die mehrere Seiten umfassen, ein Einblattdruck wird das Flugblatt zum wichtigen Publikationsorgan des Zeitalters von Reformation und Gegenreformation sowie der Bauernkriege. Einblattdrucke waren allerdings auch die den Stein des reformatorischen Anstoßes bildenden Ablassbriefe, sie wiesen gleichermaßen die Bild- und Textkomposition der späteren Flugblätter und der sich aus ihnen entwickelnden Plakate auf. Zumal in der mehrheitlich analphabetischen Gesellschaft des 16. Jahrhunderts war dies eine unhintergehbare Konzession an die Adressaten. Schätzungen gehen gesamtgesellschaftlich von 10 Prozent Lesern aus, mit einer höchst ungleichen Verteilung allerdings, da in den Städten circa ein Viertel bis ein Drittel der Bewohner des Lesens und Schreibens fähig war, auf dem Lande hingegen jenseits von Klerus und Verwaltung kaum jemand (vgl. Schulz 1997: 126). Zugleich erhöhte das Bild neben der Verständlichkeit den ästhetischen Reiz des Blattes, was in jener Zeit nicht unwichtig war, da die Flugblätter in Anbetracht des relativ hohen Materialwertes (hohe Papierkosten) in der Regel1 nicht umsonst verteilt wurden, sondern erworben werden mussten. Dennoch war der Erwerb vergleichsweise günstig und traf mit dem Informationsbedürfnis dieser Zeit des ideologischen Umbruchs und Aufbruchs zusammen, so dass von einer exponentiellen Verbreitung der Flugblätter und -schriften ab 1520 ausgegangen wird. Die Texte waren nur teilweise in Prosa gehalten, oftmals fanden sich auch Epigramme, Gedichte oder Lieder auf den Flugblättern, da sie nicht ausschließlich zum stillen Gebrauch eines Lesers gedacht waren, sondern auf Multiplikation durch öffentlichen Vortrag rechneten. Zu den herausragenden Flugblattautoren zählen Sebastian Brant (1457-1521) und Hans Sachs (1494-1576). Brant illustrierte seine meist Narrensatiren beinhaltenden Blätter selbst, andere Autoren beschäftigten Grafiker wie Hans Sebald Beham, Albrecht Dürer oder Lucas Cranach d.Ä. – im engeren Sinn Holzschnittkünstler und Formschneider. Im politischen Kontext war Luther sicherlich der auflagenstärkste Autor, aber auch Thomas Müntzer oder anonyme Bauernkollektive publizierten ihre Thesen in Flugblattform. Schon diese Beispiele zeigen die medientechnische Indifferenz gegenüber den Gehalten: das Flugblatt wurde zwar häufig zu progressiven Zwecken genutzt, da es unkompliziert herzustellen und relativ unauffällig zu vertreiben war, doch es gab immer auch eine obrigkeitliche Nutzung dieses Mediums. Außerdem wurden bald nach Einführung der Flugblätter auch Verbote erlassen, die teilweise drakonische Maßnahmen bis hin zur

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Todesstrafe den Vertreibern und Herstellern der Flugblätter androhten. Nichtsdestotrotz wurde weiter gedruckt und hergestellt, eifrig geschrieben und gelesen, so führte das Bedürfnis nach Flugblättern zu technischen Neuerungen wie dem Wittenberger Schnelldruck, der eine rasche Herstellung kleiner Schriften in großen Auflagen gestattete. Die Flugblätter bildeten die medientechnische Grundlage der frühbürgerlichen Öffentlichkeit und erster Formen plebejischen Protestes. Bereits im ausgehenden 16. Jh. bildet sich eine Unterhaltungssparte der Flugblattproduktion heraus, die auf Jahrmärkten vertrieben und vorgetragen wurde, oftmals Merkwürdigkeiten und Sensationen zum Anlass hatte.2 Drucktechnisch wird bei den Illustrationen der Holzschnitt allmählich vom Kupferstich abgelöst. Ab 1609 wird die unterhaltsam-informative Funktion von den ersten Periodika teilweise übernommen, doch wird insbesondere der Dreißigjährige Krieg eine neuerliche Konjunktur des Flugblattes als eines propagandistischen Mittels begründen. Jüngste Forschungen messen den Flugblättern sogar eine Teilschuld an Drastik und Dauer dieses Krieges zu (vgl. Burkhardt 1997: 225ff.). Vor dem Hintergrund der stets präsenten Produktion unterhaltender Bilderbogen und Flugblätter erlebt das zeitkritische, polemische Flugblatt jeweils Auflagenhöhepunkte im Verbund mit sozialen, militärischen und ideologischen Krisen so während der Englischen Revolution (1640-1661), der türkischen Belagerung Wiens 1683, dem Aufkommen der Aufklärung, der Französischen Revolution und der napoleonischen Besatzung Deutschlands. In Österreich führte die vorübergehende Einführung der Pressefreiheit (1781) zu einer Schwemme populär-unterhaltsamer Flugblätter. Im Gebiet des heutigen Deutschland gab es zwar eine Vielzahl von Versuchen zur Volksaufklärung mittels Flugblatt und -schrift mit dem weiteren Ziel, über die Französische Revolution aufzuklären und deren Zielsetzungen zu übertragen, doch von der kurzlebigen Mainzer Republik abgesehen drangen diese Ideen nicht durch und erreichten ihr Publikum nicht. Zum Teil lag dies an obrigkeitlichen Repressionsmaßnahmen, zum Teil aber auch an der ideologischen Rückständigkeit der Bevölkerung, die sich eher auf die Wiederherstellung vergangenen alten Rechts kaprizierte, als dass sie sich neuen Rechtsvorstellungen geöffnet hätte. Zumeist waren diese Texte Gedichte zweifelhafter Güte, die in Reimform die Ideale von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit an den gemeinen Mann zu bringen suchten. »Etwa dreitausend Revolutionsgedichte und -lieder sind überliefert, ihre Autoren aus verständlichen Gründen vielfach anonym geblieben, zu den namentlich bekannten gehören neben Dichtern wie Wieland, Schubart, Stäudlin, Pfeffel oder Klopstock, die die französische Revolution als Konsequenz und Verwirklichung der Aufklärungsbewegung, als Kulminationspunkt des Zeitalters der Kritik ansahen und feierten, auch radikale Publizisten wie Eulogius Schneider, Gottfried Jakob Schaller, Friedrich Lehne oder

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Niklas Müller, die in der kurzen Geschichte der Mainzer Republik eine Rolle spielten. Abgedruckt in jakobinischen Zeitschriften, Flugblättern oder eigenen Anthologien wie Friedrich Christian Laukhards ›Zuchtspiegel für Fürsten und Hofleute‹ (1799), erreichte diese Lyrik ihre Adressaten oft nur auf Um- oder Schleichwegen, in handschriftlicher Kopie und versteckt im Handwerkstornister oder unter den Waren fliegender Händler.« (Ueding 1987: 620)

Den nächsten Höhepunkt erlebt die Flugblattproduktion im Zuge der Restauration und der so genannten Demagogenverfolgung als eine der Konsequenzen des Wiener Kongresses. Die Allianz der konservativen Kräfte, die zwar bereitwillig der kapitalistischen Produktion Entfaltungsmöglichkeiten bot, aber die politische Ordnung des Feudalismus bewahren wollte. Sowohl bürgerliche als auch frühsozialistische Kräfte agitierten gegen diese Politik. In diesen Kontext rechnet auch der wohl bekannteste als Flugblattserie konzipierte (vgl. Büchner 1984: 3), dann aber als Flugschrift publizierte Text deutscher Dichter: Der hessische Landbote von Georg Büchner und Ludwig Weidig aus dem Jahre 1834. Eröffnet wird dieser in seiner drastischen Rhetorik an Luther und Müntzer gemahnende Revolutionsaufruf mit der Parole der französischen Revolutionsarmeen von 1792 »Friede den Hütten! Krieg den Palästen!«, die wohl durch ihn im deutschen Sprachraum ihre nachhallende Wirkung erlangten. Den deutlichen Höhepunkt erklomm die Flugblattproduktion im Gefolge der 48er Revolution – allein in Berlin und Wien wurden zusammen 1200 Flugblätter gezählt. Neben diesen politischen Flugblättern finden sich jedoch zahlreiche Flugblätter, die eher als Aufklärungszettel zu lesen sind, sich mit lebensreformerischen, hygienischen oder religiösen Vorstellungen an ein diffuses Publikum wandten – in der Hoffnung auf einen Masseneffekt, der sich selten einstellte. Dem Wortsinn gemäß wurde das Flugblatt im Ersten Weltkrieg (sowie im Zweiten) zur Agitation der gegnerischen Truppen und der Zivilbevölkerung im jeweiligen Feindesgebiet abgeworfen. Erst in den politischen Kampfzeiten der letzten Jahre der Weimarer Republik wird auf die Gestaltung der Flugblätter wieder mehr Aufmerksamkeit gerichtet, entwickelt sich neuerlich eine Flugblattkunst getragen von Künstlern wie John Heartfield, A. Frank, F. Schulze oder H. Grundig, die mehrheitlich der Assoziation revolutionärer bildender Künstler Deutschlands angehörten. Sie setzten ihre grafischen Mittel im Verbund mit einer Vielzahl namenlos gebliebener Arbeiterzeichner im revolutionären antifaschistischen Kampf ein, der nach 1933 auf die alten zur Subversion tauglichen Mittel zurückgreifen musste. Als Degenerationsformen des Flugblattes, das in den hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften als Werbemittel angeeignet wurde, können Prospekte und Postwurfsendungen, sowie die modischen Flyer gelten, unentgeltlich an die Massen durchgereicht, doch korrumpiert, insofern sie eine individuelle Adressierung vortäuschen und dem je einzelnen seine Beson-

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derheit als Konsument versichern, statt wie die Flugblätter an die Preisgabe der privatistischen Subjektivität zu appellieren und zur Vereinigung mit einem Kollektivsubjekt aufzurufen. Davon unbeeindruckt werden und wurden Flugblätter immerfort als Mittel progressiven Protests, Medium der Gegenöffentlichkeit genutzt, sei es in der Antiaufrüstungsbewegung der 50er, in Zeiten der Studentenbewegung und des Deutschen Herbstes oder im Rahmen der Antiatomkraftbewegung. Die ökonomische Effizienz, relative Unkontrollierbarkeit und der Zwang zur Informationsverdichtung haben dem Flugblatt eine mehr als fünfhundert Jahre währende Geschichte als Medium politischen Widerstands beschert, die allenfalls durch die mediale Revolution ihr Ende finden könnte. Im Internet können noch mehr Adressaten mit noch weniger ökonomischem Aufwand erreicht werden – was in der vergleichsweise jungen Geschichte dieses Mediums noch in Frage steht, ist die Kontrolle des Informationsflusses. Im 19. Jahrhundert veränderte sich der Charakter der Flugblätter zusehends und zwar gerade auf dem Höhepunkt ihrer Entfaltung um 1848: Der Anteil der Illustrationen geht zurück, zum einen aufgrund der zunehmenden Alphabetisierung, zum anderen weil ein anderes Medium, die zuvor signifikante Bild-Text-Kombination übernimmt: das Plakat. Das Plakat kann differenziert werden in Schrift- und Bildplakate. Die ursprüngliche Form ist dabei die rein schriftliche, da Plakate schon im etymologischen Sinn – aus dem niederländischen plakkaat gebildet – einen öffentlichen Anschlag, eine offizielle Bekanntmachung indizieren. In diesem Sinn entsprechen die ersten Plakate ausgehängten Amtsblättern und werden in dieser Form von den politischen Fraktionen der Französischen Revolution adaptiert. Erst mit dem Durchsetzen des Kapitalismus gerät das Plakat aus dem engeren politischen Kontext in den Bereich der kommerziellen Werbung, innerhalb dieses Rahmens lässt sich weiter nach kultur(industri)ellen und rein gewerblichen Nutzungen des Plakates differenzieren. Einen der ersten Höhepunkte der öffentlichen politischen Plakatierung bildet in Deutschland die Revolution von 1848. Fast ein Jahr nach den Märzkämpfen formuliert Friedrich Engels im Kontext einer »Debatte über das Plakatgesetz«, die in der Sitzung der zweiten Kammer von Berlin am 13. April 1849 geführt wurde und über welche er in der Neuen Rheinischen Zeitung berichtet: »Die Plakate sind ein Hauptmittel, auf das Proletariat zu wirken; das Proletariat ist seiner ganzen Stellung nach revolutionär, das Proletariat, die unter dem konstitutionellen Regime ebensogut wie unter dem absoluten unterdrückte Klasse, ist nur zu bereit, abermals zu den Waffen zu greifen; von der Seite des Proletariats droht gerade die Hauptgefahr, und darum fort mit allem, was die revolutionären Leidenschaften im Proletariat lebendig erhalten könnte! Und was hilft mehr dazu, die revolutionäre Leidenschaft unter den Arbeitern lebendig zu erhalten, als gerade die Plakate, die jede Stra-

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ßenecke in eine große Zeitung verwandeln, in der die vorbeikommenden Arbeiter die Tagesereignisse verzeichnet und glossiert, die verschiedenen Ansichten dargelegt und debattiert finden, wo sie zu gleicher Zeit Leute aller Klassen und Meinungen versammelt antreffen, mit denen sie die Plakate diskutieren können, kurz, wo sie ein Journal und einen Klub in einem haben, und alles das, ohne daß es sie einen Heller kostet. Das aber ist es gerade, was die Herren von der Rechten nicht wollen. Und sie haben recht. Von der Seite des Proletariats droht ihnen die größte, ja die einzige Gefahr – warum sollten sie, die die Macht in Händen haben, nicht diese Gefahr mit allen Mitteln zu erdrücken streben?« (MEW, Bd. 6: 440)

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In der Nachfolge der Revolution von 1848 beschreibt Engels das Plakat als das eigentliche Medium des Proletariats, das sich auf der Straße und vor den Plakaten als Öffentlichkeit konstituiere und insistiert auf dem klassenkämpferischen Charakter des Mediums. Diese frühe Form der Gegenöffentlichkeit war auch am Flugblatt des Bauernkrieges zu beobachten gewesen und markiert eine Kontrafaktur zu Jürgen Habermas’ Konzeption einer Geschichte bürgerlicher Öffentlichkeit (vgl. Habermas 1962, vgl. dagegen Kluge/Negt 1972). Auch jüngere Forschungen zur soziologischen Form der Öffentlichkeit in der 48er Revolution bestätigen Engels empirische Beobachtung, so schreibt bspw. Sigrid Weigel: »Man wird […] das Bild der 48er Revolution als ›bürgerliche Revolution‹ revidieren müssen, wenn man die Literatur und die Szenarien der volkstümlichen Straßen- und Vereinsöffentlichkeit einbeziehen will. Dabei zeigt sich vor allem, daß das Personal und die Deutungsmuster der revolutionären Massenliteratur weder für das Bild einer heroischen noch einer tragisch gescheiterten Revolution taugen.« (Weigel 1998: 115)

Die Hochkonjunkturphasen des politischen Plakates – Pariser Commune und Oktoberrevolution – belegen die Bedeutung des Mediums für die Bildung einer Gegenöffentlichkeit wie auch die Konjunkturen des Flugblatts mit Krisenzeiten und der Ausbildung politischen Widerstands zusammenfallen. Damit ergibt sich eine nichtlineare Geschichte der beiden Medien, ähnlich wie sie der amerikanische Soziologe Greil Marcus für künstlerische Formen der Subversion im 20. Jahrhundert geschildert hat (vgl. Marcus 1992). Für die Entwicklung des Plakates zum umfassenden Werbe- und Propagandamittel waren verschiedene technische Innovationen ausschlaggebend: so die Erfindung der Lithographie 1798 durch Alois Senefelder, mit deren Hilfe hohe Auflagen gedruckt werden konnten; 1827 die Erfindung der Chromolithographie und ab 1890 der Einsatz der Fotografie. Unterstützt wird die Kommerzialisierung des Plakatwesens darüber hinaus durch die Einführung spezieller Anschlagsmöglichkeiten: so eine fahrbare Säule (London 1928) und die Litfasssäule (Berlin 1855). Ab 1860 wird in der Werbung großer Londoner und Pari-

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ser Warenhäuser das Schriftplakat durch das Bildplakat verdrängt. In der Folge beginnen sich in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts vor allem in Frankreich Künstler für das zuvor anonym produzierte Plakat zu interessieren. Plakatkünstler machen auf sich aufmerksam wie Henri de Toulouse-Lautrec, Theophile Steinlen, Felix Vallotton oder Alphonse Mucha. Wesentlich für die Entwicklung der Plakatkunst ist die Entwicklung einer Formensprache, die das illusionistische Moment der Malerei zugunsten einer wirkungsorientierten Reduktion auf Flächigkeit und Linearität zurücknimmt. Diese Tendenz fand überall in Europa Vertreter, zu deren bekanntesten Aubrey Beardsley, Gustav Klimt, Franz von Stuck, Kolo Moser, Edvard Munch etc. rechnen. In Deutschland entwickelte sich eine Gegenbewegung, die den Werbezweck dem künstlerischen Ausdruckszweck überordnete, worin sich das Selbstverständnis der sich etablierenden Gebrauchsgrafiker artikulierte. Obgleich nicht auf künstlerischen Anspruch orientiert, erwarb sich die politische Plakatkunst insbesondere aus der Frühzeit der Sowjetunion3 hohe kunstgeschichtliche Anerkennung. Künstler wie Wladimir Majakowski, Alexander Rodtschenko, Kasimir Malewitsch oder El Lissitzky stellten sich in den Dienst der sozialistischen Sache. Und versuchten mit neuen Formen (Konstruktivismus, Suprematismus) die neue Gesellschaftsordnung zu vermitteln und zugleich die »neuen Menschen« zu bilden. Dabei wurden auch medial innovative Wege gegangen wie bspw. in Form der ROSTA-Fenster (benannt nach der russischen Telegraphenagentur). Diese Fenster waren Schaufenster aufgelassener Geschäfte oder von Institutionen, die mit mehrteiligen Plakaten beklebt wurden und in der Vorzeit der Übertragungsmedien insbesondere in ländlichen Gebieten mit einer geringfügig alphabetisierten Bevölkerung als Informationsquelle erster Güte galten, zumal sie oft über Nacht geschaffen wurden und hohe Aktualität besaßen. Dem Bildungsstand und Bedürfnis der Landbewohner wurde ästhetisch durch den formalen Rückgriff auf die ›Lubok‹ genannten volkstümlichen Bilderbogen Rechnung getragen, was dem Plakat eine comicstrip-ähnliche Erzählstruktur verlieh. 1921 ging die Produktion der Fensterplakate an die Abteilung für politische Aufklärung des Volksbildungsministeriums (Glavpolitprosvet) über, nachdem zuvor freie Künstlergruppen die Plakate produziert hatten. Im Zweiten Weltkrieg wurde unter dem Namen der neuen Nachrichtenagentur TASS die zwischenzeitlich eingeschlafene Plakatform wieder aufgenommen. Die frühen Jahre der Sowjetunion stellen plakatgeschichtlich insofern einen Sonderfall dar, als Plakate weder kommerziellen noch künstlerischen oder kritisch-politischen Zwecken dienten, sondern ausschließlich auf Agitation und Propaganda verpflichtet waren. Dabei ging es um Wissensvermittlung, Persuasion und Handlungsappelle gleichermaßen, die jeweils an die parteipolitische Ausrichtung des Marxismus-Leninismus gebunden waren. In der Offenheit des revolutionären Aufbruchs dominierten dabei experimentel-

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le Formen (vgl. exemplarisch El Lissitzky: »Mit dem roten Keil – schlag die Weißen«, 1920). Im Zuge der Stalinisierung wurden diese Formen jedoch zusehends zurückgedrängt und entsprechende Künstler auf andere Tätigkeitsfelder verpflichtet. Den offiziellen Wendepunkt in der formalen Ausrichtung bildet dabei die Resolution »Über die Plakatliteratur« des ZK der KPdSU vom März 1931, in welcher die Situation als »unerträglich verwahrlost« beschrieben und dringlicher Änderungsbedarf angemeldet wurde. In der Folge wurden die Ideale des sozialistischen Realismus ausformuliert und propagiert, die schließlich die Plakatgestaltung dominierten. Davon unbeeinträchtigt wurden auch in den sozialistischen Ländern des Post-Stalinismus hervorragende Plakate geschaffen (in der DDR bspw. durch Klaus Wittkugel). In den westlichen Ländern erlebte die Plakatkunst vor allem in Kreisen der politischen und kulturellen Opposition ihre Blüte in den ausgehenden 60er und in den 70er Jahren (in der Bundesrepublik bspw. durch Klaus Staeck). Damit einher ging die Wiederentdeckung älterer Plakate, die nunmehr massenhaft nachgedruckt und als Poster genutzt wurden. Seit den 80er Jahren dominieren die zumeist anonym gefertigten Plakate international operierender Werbeagenturen. Nur selten wird dabei die Möglichkeit genutzt, Debatten zu initiieren, wie es etwa Oliviero Toscani in seinen Bildern für eine italienische Modefirma getan hat, indem er nicht gerade tabuisierte, aber in der Öffentlichkeit unbeliebte Themen visualisierte (Aids, Krieg, Todesstrafe, Kinderarbeit etc.). Derartig Aktionen sind allerdings in sich zwiespältig, wecken zum einen gesellschaftliches Bewusstsein für medial vernachlässigte Problematiken, dienen zum anderen in ihrer Schockästhetik der Publizität von Auftraggeber und Gestalter, was aber in einer Tauschwert dominierten Gesellschaft nicht anders zu erwarten steht. Abseits der auf Gebrauch orientierten Plakattheorien finden sich eher geschichtliche Darstellungen der Plakatentwicklung (vgl. bspw. Bohrmann 1984; Feuchtinger 1977; Gallo 1975; Kämpfer 1985; Rademacher 1965), weniger theoretisch anleitende – und für das Flugblatt gilt dies ebenso. Einer der wenigen Theoretiker, die sich auf Flugblatt und Plakat zugleich bezogen haben, ist Walter Benjamin. Zu Beginn seiner Einbahnstraße heißt es:

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»Die bedeutende literarische Wirksamkeit kann nur in strengem Wechsel von Tun und Schreiben zustande kommen; sie muß die unscheinbaren Formen, die ihrem Einfluß in tätigen Gemeinschaften besser entsprechen als die anspruchsvolle universale Geste des Buches[,] in Flugblättern, Broschüren, Zeitschriftartikeln und Plakaten ausbilden. Nur diese prompte Sprache zeigt sich dem Augenblick wirkend gewachsen. Meinungen sind für den Riesenapparat des gesellschaftlichen Lebens, was Öl für Maschinen; man stellt sich nicht vor eine Turbine und übergießt sie mit Maschinenöl. Man spritzt ein wenig davon in verborgene Nieten und Fugen, die man kennen muß.« (Benjamin 1972: 85)

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Dieses Tankstelle überschriebene Denkbild (vgl. zum Denkbild: Jäger 2000) steht der Einbahnstraße programmatisch voran. Benjamin verlangt die pragmatische Orientierung der Literaten an der Sprache der Flugblätter und Plakate, orientiert die schriftstellerische Produktion auf Wirkung. Da es um den »Riesenapparat des gesellschaftlichen Lebens« geht, darf gefolgert werden: um politische Wirkung. Zudem gilt es diesen Apparat zu kennen, also zu schreiben mit einer Theorie der Gesellschaft, mehr noch einer Analyse der Gesellschaft im Hinterkopf. Der theoriegeleitete Literaturproduzent stellt am Ende der Einbahnstraße den Wegweiser Zum Planetarium auf, was – da Einbahnstraßen in der Regel auf eine andere Straße führen, so dass man entweder die linke oder die rechte Richtung einschlagen kann – nicht zufällig auf eine gesamtheitliche Orientierung weist: »Der Schauer echter kosmischer Erfahrung ist nicht an jenes winzige Naturfragment gebunden, das wir ›Natur‹ zu nennen gewohnt sind. In den Vernichtungsnächten des letzten Krieges erschütterte den Gliederbau der Menschheit ein Gefühl, das dem Glück der Epileptiker gleichsah. Und die Revolten, die ihm folgten, waren der erste Versuch, den neuen Leib in ihre Gewalt zu bringen. Die Macht des Proletariats ist der Gradmesser seiner Gesundung. Ergreift ihn dessen Disziplin nicht bis ins Mark, so wird kein pazifistisches Raisonnement ihn retten. Den Taumel der Vernichtung überwindet Lebendiges nur im Rausche der Zeugung.« (Benjamin 1972: 147f.)

Benjamin gibt sich als Marxist zu erkennen, der die Technik als Möglichkeit der Erweiterung menschlicher Möglichkeiten begreift, sofern die politischökonomische Ordnung sich so ändert, dass alle davon profitieren. Dies geschieht mit Hilfe (der Disziplin) des Proletariats. Das Proletariat, das disziplinierte, bringt die Heilung, und wenn es seine Diktatur errichtet hat, ist der Patient genesen, und kann als Menschheit sein eigentliches Tun beginnen, wäre da nicht die Gefahr, dass alles so weiter geht wie bisher, drohte nicht der dem Kapitalismus immanente ›Taumel der Vernichtung‹, den wir a posteriori Faschismus zu nennen haben. Die Einbahnstraße führt also tatsächlich auf eine andere Straße, an einen Punkt, von dem aus es in zwei Richtungen geht. Und mit der an ihrer Einmündung aufgestellten Forderung nach der Sprache der Flugblätter und Plakate ist der Klassenkampfcharakter der Medien gleichermaßen akzentuiert. Doch zeigt die Geschichte von Flugblatt wie Plakat, dass diese Medien nicht selbstverständlich auf Seiten der Unterdrückten stehen, sich zwar dem subversiven Gebrauch anbieten, doch muss dieser immer wieder gegen obrigkeitlichen und kommerziellen Gebrauch erkämpft werden.

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Christian Jäger

Anmerkungen 1 Eine Ausnahme stellt bspw. das Vorgehen Franz von Sickingens dar, der 1522 in das belagerte Trier Kriegspropaganda schießen ließ. 2 Bei diesen Produktionen kann kaum zwischen Bilderbogen und Flugblatt differenziert werden. 3 Durch das Lotman-Institut für russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universität Bochum wurde ein zu Studienzwecken sich anbietender Link gelegt, der neben Bildmaterial auch historische Texte wie neuere Darstellung diverser Spezialthemen zur Geschichte des sowjetischen Plakats bietet: www.russianposter.ru. Siehe auch die Darstellung in Buchform (Baburina/Waschik 2003).

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Flugblatt/Plakat

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Literatur Baburina, Nina/Waschik, Klaus (2003): Werben für die Utopie. Russische Plakatkunst des 20. Jahrhunderts, Bietigheim-Bissingen. Benjamin, Walter (1972): »Einbahnstraße«. In: ders., Gesammelte Schriften, Bd. IV., hg. v. Tillmann Rexroth, Frankfurt/Main, S. 83-148. Bohrmann, Hans (Hg.) (1984): Politische Plakate, Dortmund. Büchner, Georg (1984): Büchners Werke, ausgew. u. eingel. v. Henri Poschmann, Berlin, Weimar. Burkhardt, Johannes (1997): Der Dreißigjährige Krieg, Darmstadt. Feuchtinger, Heinz Werner (1977): Plakatkunst des 19. und 20. Jahrhunderts, Hannover u.a. Gallo, Max (1975): Geschichte der Plakate, Herrsching. Habermas, Jürgen (1962): Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied. Jäger, Christian (2000): »Wachträume unter dem Strich. Zum Verhältnis von Feuilleton und Denkbild«. In: Kauffmann, Kai/Schütz, Erhard (Hg.), Die lange Geschichte der Kleinen Form. Beiträge zur Feuilletonforschung, Berlin, S. 229-243. Kämpfer, Frank (1985): »Der rote Keil«. Das politische Plakat, Berlin. Kluge, Alexander/Negt, Oskar (1972): Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt/Main. Marcus, Greil (1992): Lipstick Traces. Von Dada bis Punk, Hamburg. Rademacher, Hellmut (1965): Das deutsche Plakat. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Dresden. Schulze, Winfried (1997): Deutsche Geschichte im 16. Jahrhundert: 1500-1618, Darmstadt.

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Flugblatt/Plakat

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Weigel, Sigrid (1998): »Literarische Gegenöffentlichkeit in der März-Revolution«. In: Sautermeister, Gert/Schmid, Ulrich (Hg.), Zwischen Restauration und Revolution, München, S. 94-115. Ueding, Gert (1987): Klassik und Romantik. Deutsche Literatur im Zeitalter der Französischen Revolution. 1789-1815, München, Wien.

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Alexander Böhnke



13 Verkehrte Welt Ideologie – Camera Obscura – Medien

Alexander Böhnke »Je nun, eine gute Verwirrung ist doch mehr werth als eine schlechte Ordnung.« Tieck 1964: 82 ›Ideologie‹ ist kein genuin marxistischer Begriff (vgl. Williams 1977; Eagleton 1991). Bevor Marx und Engels ihn in Die Deutsche Ideologie für die Analyse des deutschen Idealismus nutzten, ist er sowohl von konservativen Denkern als auch von Anhängern der Aufklärung in Anschlag gebracht worden – wenn man diese Unterscheidung, die keine strikt marxistische ist, überhaupt machen möchte. Terry Eagleton hat auf die merkwürdige Inversion hingewiesen, denen sich Worte, die mit dem Suffix »-ologie« enden, ausgesetzt sehen. Ursprünglich bezeichnen sie die Analyse bzw. die Wissenschaft eines Phänomens, ihre Bedeutung kehrt sich jedoch häufig um und dann meinen sie das Phänomen selbst. Genau das gilt auch für das Wort ›Ideologie‹: »Such an inversion befell the word ideology not long after its birth. ›Ideology‹ originally meant the scientific study of human ideas; but fairly soon the object took over from the approach, and the word rapidly came to mean the systems of ideas itself« (Eagleton 1991: 63). Eine gewisse Widersprüchlichkeit kennzeichnet dann auch die marxistische Diskussion des Begriffs, die seitdem bemüht war, ihn – besonders für die Analyse von Kultur1 – produktiv zu machen, und dabei immer wieder neue bzw. bis dahin vernachlässigte Aspekte des Begriffs betont hat. Ebenso hat es Versuche zur Verabschiedung des Begriffs gegeben. Dabei ist der Begriff selbst bzw. seine Tauglichkeit für eine marxistische Gesellschaftsanalyse einer Art Ideologiekritik unterzogen worden.2 Hier kann keine solche Kritik geleistet werden, es soll lediglich im Anschluss an W. J. T. Mitchell3 der Diskussionstand zu einer Metapher, die Marx’ Leser dauerhaft nachdenklich gemacht und verblüfft hat und vielleicht mitverantwortlich ist für die unterschiedlichen, teilweise widersprüchlichen Deutungsversuche der Deutschen Ideologie, zusammengefasst und kommentiert werden. Weiterhin soll daran anschließend versucht werden, den Begriff ›Ideologie‹ in seinem möglichen Wert für die Medienanalyse zu skizzieren. Die fragliche Metapher – der rhetorischen Terminologie entsprechend müsste man wohl eher von einem Vergleich bzw. simile sprechen – bezieht sich auf ein Bildmedium, die Camera obscura. Die entsprechende Textpassage liest sich wie folgt:

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Camera Obscura

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»Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebensosehr aus

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Camera Obscura

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Media Marx. Ein Handbuch Medien vor und während Marx ihrem historischen Lebensprozeß hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen.« (MEW, Bd. 3: 26)

Ein recht komplexer Vergleich, den man vielleicht zunächst auf seine Bestandteile reduzieren sollte: Ideologie, Menschen und ihre Verhältnisse, Camera Obscura, historischer Lebensprozess, Netzhaut, physischer Prozess. Diese Elemente werden durch den zitierten Satz in ein Verhältnis gesetzt. Kurzgeschlossen könnte man formulieren: Die Ideologie zeichnet sich durch eine Verkehrung aus, die auch die Bilder auf der Netzhaut kennzeichnen. Diese Umkehrung ist, wie Sarah Kofman analysiert hat, das gemeinsame Merkmal, das den Analogieschluss der unterschiedlichen Phänomene rechtfertigt: »It involves setting up a relationship between a social phenomena and a physical phenomena [sic!] thanks to a common feature which legitimizes the analogy: inversion« (Kofman 1998: 1). Die Inversion ist die Eigenschaft, die den Vergleich von sozialen und physischen Phänomenen erst möglich macht: Ohne Umkehrung keine Erkenntnis, der Vergleich wäre keiner ohne diese Inversion. Bei genauerer Betrachtung ergibt sich jedoch, dass die Umkehrung, die der Ideologie zugeschrieben wird, auf dem Vergleich mit der Camera obscura aufruht. In der »ganzen Ideologie« – hier stellt sich die Frage, ob damit jegliche Ideologie oder die gesamte Ideologie der deutschen Philosophen, die in der Deutschen Ideologie behandelt werden, gemeint ist; der Kontext legt nahe, dass nur die letzteren gemeint sind – erscheinen die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt. Das ist aber, wie gesagt, nur ein Teil des komplexen rhetorischen Gewebes, das Marx und Engels erstellen.4 Bleiben wir zunächst bei diesem Teil. Wieso produziert die Ideologie eine verkehrte Welt? Sie geht von falschen Voraussetzungen aus – oder besser: sie startet an der falschen Stelle. Dies wird dann im nächsten Abschnitt verdeutlicht – und gleich dazu die eigene Position: »Ganz im Gegensatz zur deutschen Philosophie, welche vom Himmel auf die Erde herabsteigt, wird hier von der Erde zum Himmel gestiegen« (MEW, Bd. 3: 26). Die Ideologie der deutschen Philosophie hat also keine Bodenhaftung und muss geerdet werden. Das erreicht man durch die Umkehrung der Perspektive. Kofman beschreibt die Textstrategie mit Bezug auf den vorausgehenden Vergleich folgendermaßen: »The second metaphor, however, introduces a supplementary religious connotation. There is a slight displacement: Marx draws attention to the privileged status of religious ideology as exemplary, even constitutive, of ideology as such. He notes, as well, that the ideological inversion is a hierarchical inversion which substitutes, for a real foundation, an imaginary one.« (Kofman 1998: 2)

Der Gegensatz von Himmel und Erde ist dementsprechend rhetorisch aufge-

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Alexander Böhnke

laden. Er soll buchstäblich die Unhaltbarkeit der Position des deutschen Idealismus vorführen: Auf einem Wolkengebilde lässt sich kein Gebäude errichten.5 Das widerspricht der Physik. Der Text der Deutschen Ideologie ist durchzogen von solchen metaphorischen Einsprengseln, die ihre Anziehungskraft dadurch erhalten, dass sie an physikalische Gesetzmäßigkeiten appellieren. So wird der »Typus der neuen deutschen revolutionären Philosophen« in der Vorrede anhand einer kurzen Erzählung charakterisiert: »Ein wackrer Mann bildete sich einmal ein, die Menschen ertränken nur im Wasser,

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weil sie vom Gedanken der Schwere besessen wären. Schlügen sie sich diese Vorstellung aus dem Kopfe, etwa indem sie dieselbe für eine abergläubige, für eine religiöse Vorstellung erklärten, so seien sie über alle Wassersgefahr erhaben.« (MEW, Bd. 3: 13f.)

Schon diese kurze Skizze enthält in nuce das rhetorische Programm der Deutschen Ideologie. Auch hier finden wir den Hinweis auf die Religion verbunden mit einem physikalischen Phänomen, der Schwerkraft. Die spekulative Philosophie zieht gegen Aberglauben und Religion zu Felde. Nur stellen Marx und Engels den wackeren Mann, der die Schwerkraft als Aberglauben abtut, als ebenso von einem Aberglauben regiert vor. Und die Wurzel dieses Aberglaubens wird als die Trennung der Ideen von ihren materiellen Voraussetzungen identifiziert: »Keinem von diesen Philosophen ist es eingefallen, nach dem Zusammenhange der deutschen Philosophie mit der deutschen Wirklichkeit, nach dem Zusammenhange ihrer Kritik mit ihrer eignen materiellen Umgebung zu fragen« (MEW, Bd. 3: 20). Es geht also bei der Ideologiekritik darum, eine Philosophie zu diskreditieren, die den Geist zum primären Faktor des menschlichen Handelns macht und das Bewusstsein von seiner materiellen Umgebung, die es formt, trennt. Der Glaube an die reine Macht der Gedanken führt zu nichts als der Stabilisierung der Verhältnisse. »Diese Forderung, das Bewußtsein zu verändern, läuft auf die Forderung hinaus, das Bestehende anders zu interpretieren, d.h. es vermittelst einer andren Interpretation anzuerkennen« (MEW, Bd. 3: 20). Die Aussichtslosigkeit des Unternehmens wird mit dem Bezug auf die Schwerkraft plausibilisiert. Doch auch hier zeigt sich ein Problem, das den ganzen Text und die weitere Debatte um Ideologie strukturiert: Wo stellt man sich hin, wenn man die herrschende Ideologie kritisieren will? Oder genauer: Woher weiß man, dass man auf festem Boden steht? Es können zwei Aspekte von Ideologie und ihrer Kritik unterschieden werden. Auf der einen Seite stabilisiert Ideologie die bestehenden Verhältnisse, ist damit Waffe im Klassenkampf und muss dementsprechend politisch bekämpft werden, d.h., dass die Seiten klar verteilt sind. Auf der anderen Seite gibt es ein eher epistemologisches Problem bzw. Anliegen, das unter dem

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Stichwort Ideologie verhandelt wird. Ideologie produziert ein Wissen, das die realen Verhältnisse außer Acht lässt. Der Text der Deutschen Ideologie changiert zwischen beiden Aspekten, die aber nicht bruchlos ineinander überführt werden können.6 Die folgende Stelle bringt den ersten Aspekt sehr deutlich zum Ausdruck: »Die herrschenden Gedanken sind weiter Nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefaßten herrschenden materiellen Verhältnisse; also der Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft.« (MEW, Bd. 3: 46)

Fraglich bleibt einerseits, wie eine Ideologie, die sich dermaßen weit entfernt hat von der »Realität« wie die im Text präsentierte deutsche Ideologie, tatsächlich herrschaftsstabilisierend wirken kann. Wenn Ideologie andererseits, wie im oben zitierten Vergleich angenommen, aus dem »historischen Lebensprozeß« hervorgeht, dann liegt der (Umkehr-)Schluss nahe, dass auch die Ideologiekritik sich immer schon auf ideologischem Terrain bewegt. Der Ausweg kann demnach nur revolutionäre Praxis sein. Marx und Engels beharren darauf, »[…] daß nicht die Kritik, sondern die Revolution die treibende Kraft der Geschichte auch der Religion, Philosophie und sonstigen Theorie ist« (MEW, Bd. 3: 38). Bloße Analyse bliebe genauso spekulativ, deshalb geht es um mehr, wie in den Thesen über Feuerbach formuliert: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern« (MEW, Bd. 3: 7). Das Ziel ist also eine Veränderung der sozialen Welt, die dann auch eine Veränderung des Bewusstseins bewirkt. Der historische Materialismus zeichnet sich dementsprechend durch ein besonderes Zeitverhältnis aus: »In a characteristically synthetic and critical move, Marx repudiated both the positive science of ideology elaborated in the French Enlightenment, and the simple negation of this science as idolatrous illusion by English and German reactionaries, and developed in their place the notion of ideology as the key term in a new sort of science, a negative, interpretive science of historical and dialectical materialism. The science of the future, however, had to work with the poetry of the past in elaborating its central concept of ideology.« (Mitchell 1986: 167)

Das Projekt Ideologiekritik arbeitet sich an den bestehenden Verhältnissen ab und greift dabei zwangsläufig auf überkommene Begriffen zurück.7 Wie kommt man aber von da aus zu eigenen Positionen? Louis Althusser hat darauf eine Antwort zu geben versucht und ganz im Sinne Mitchells die interpretative Komponente betont:

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»Sie [eine neue Wissenschaft wie der historische Materialismus] ›arbeitet‹ nicht an einem reinen, objektiven ›Gegebenen‹, das das der reinen und absoluten ›Tatsachen‹ wäre. Ihre eigentliche Arbeit besteht im Gegenteil darin, ihre eigenen wissenschaftlichen Tatsachen auszuarbeiten durch eine Kritik der ideologischen ›Tatsachen‹, die durch die vorhergehende ideologische theoretische Praxis ausgearbeitet worden sind.« (Althusser 1968: 125f.)

An den »reinen« Tatsachen findet man keinen Halt, weil diese Tatsachen durch Ideologie verstellt sind. Es gibt keine Erkenntnis durch bloße Anschauung. Man darf der Wahrnehmung nicht trauen und entwickelt eine Hermeneutik des Verdachts, die aber – entgegen eigener Beteuerungen und etlicher Verweise auf eine Beobachtung ohne Spekulation8 – ebenso eine Hermeneutik vorstellt und damit Interpretation bleibt:

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»If there is no detour around ideology to a direct, positive view of men and their circumstances, the obvious alternative is to work through ideology by means of a process of interpretation, a ›hermeneutics of suspicion‹ that distrusts the manifest, surface content of representations, but can get to the deep, hidden meaning by working its way through the surface.« (Mitchell 1986: 174)

Hermeneutik zeichnet sich durch eine solche Ebenendifferenzierung aus. Die oberflächliche Erscheinung muss auf eine tiefer liegende, den Sinnen nicht zugängliche Ebene zurückgeführt werden. Wenn es in die Tiefe geht, ist es also kaum ein Zufall, dass dabei auf die Sinne des Menschen bzw. deren Beschränkung und im Besonderen auf das Auge Bezug genommen wird. In den Frühschriften entwirft Marx dementsprechend eine Utopie, die an die Abschaffung des Privateigentums eine Emanzipation der Sinne koppelt:9 »Die Aufhebung des Privateigentums ist daher die vollständige Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften; aber sie ist diese Emanzipation grade dadurch, daß diese Sinne und Eigenschaften menschlich, sowohl subjektiv als objektiv, geworden sind. Das Auge ist zum menschlichen Auge geworden, wie sein Gegenstand zu einem gesellschaftlichen, menschlichen, vom Menschen für den Menschen herrührenden Gegenstand geworden ist. Die Sinne sind daher unmittelbar in ihrer Praxis Theoretiker geworden.« (MEW, Bd. 40: 540)

Praxis und Theorie fallen in der klassenlosen Gesellschaft zusammen. Die Sinne können deshalb »unmittelbar in ihrer Praxis Theoretiker« werden. Damit wäre auch die Arbeitsteilung aufgehoben,10 die in der Deutschen Ideologie als Ursache für die Trennung von Bewusstsein und materieller Umgebung ausgemacht wird.

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Media Marx. Ein Handbuch Medien vor und während Marx »Die Teilung der Arbeit wird erst wirklich Teilung von dem Augenblicke an, wo eine Teilung der materiellen und geistigen Arbeit eintritt. Von diesem Augenblicke an kann sich das Bewußtsein wirklich einbilden, etwas Andres als das Bewußtsein der bestehenden Praxis zu sein, wirklich etwas vorzustellen, ohne etwas Wirkliches vorzustellen – von diesem Augenblicke an ist das Bewußtsein Imstande, sich von der Welt zu emanzipieren und zur Bildung der ›reinen‹ Theorie, Theologie, Philosophie, Moral etc. überzugehen.« (MEW, Bd. 3: 31)

Die Arbeitsteilung schiebt sich wie ein Schirm vor das Bewusstsein bzw. die Wahrnehmung. Oder wie eine Linse, dann wäre man bei der oben zitierten Camera obscura.11 In ihren Analysen der Camera obscura-Metapher haben Sarah Kofman und W. J. T. Mitchell genau an diesem Punkt angesetzt. Zunächst verweisen beide jedoch darauf, dass die Camera obscura sozusagen als Inkarnation bzw. als Modell der natürlichen Wahrnehmung galt. »The camera obscura had been synonymous with empiricism, with rational observation, and with the direct reproduction of natural vision ever since Locke employed it as a metaphor for understanding« (Mitchell 1986: 168). An vielen Stellen der Deutschen Ideologie klingt es auch so, als ob hier ein Empirismus vertreten würde, der dem rationalen Paradigma der Camera obscura entspräche, etwa, wenn im Anschluss an das Bild der Camera obscura und dem Bild von den in den Wolken schwebenden Philosophen festgehalten wird: »[…] es wird nicht ausgegangen von dem, was die Menschen sagen, sich einbilden, sich vorstellen, auch nicht von den gesagten, gedachten, eingebildeten, vorgestellten Menschen, um davon aus bei den leibhaftigen Menschen anzukommen; es wird von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt.« (MEW, Bd. 3: 26)

Die Invertierung des Idealismus scheint in einen naiven Empirismus zu münden.12 Der Text setzt sich aber von beiden Bewegungen ab – gerade dadurch, dass er Ideologie und Camera obscura im Vergleich zusammenbringt und damit das Bild der Camera obscura im diskursiven Feld neu verortet.13 Der Marx’sche Ideologiebegriff bringt neue Parameter auf den Plan und kehrt damit das Verhältnis von Idealismus und Empirismus um. Beiden ist die Sicht versperrt. Die Pointe des Vergleichs ist ja gerade, Ideologie und Camera obscura in ein Verhältnis zu setzen, und dass er erlaubt, den »wissenschaftlichen« Charakter der Ideologie ebenso wie den »illusionistischen« der Camera obscura zu fokussieren. Es wäre also zu einfach die Camera obscura bzw. ihre Funktion im Vergleich mit der Ideologie auf den Aspekt der Täuschung zu reduzieren, so wie Kofman das in ihrer Lektüre nahe legt:

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»The camera obscura functions, not as a specific technical object whose effort is to present, in inverted form, real relationships, but, rather, as an apparatus for occultation, which plunges consciousness into darkness, evil and error, which makes it become dizzy and lose its balance. It is an apparatus which renders real relationships elusive and secret.« (Kofman 1998: 14)

Das hieße die Funktion der Camera obscura einfach umzudrehen. Aber ist die Funktion der Camera obscura so eindeutig? Neben der Versinnbildlichung rationaler Wahrnehmung, die ihre Autorität aus dem wissenschaftlichen Status der Camera obscura bezog – dabei aber als Bildgeber für eine bestimmte Ideologie fungierte14 –, war sie u.a. ebenso Illusionsverfahren und Hilfe bei der Anfertigung von Gemälden (vgl. Crary 1996). Ebenso kann man bezweifeln, ob die Wissenschaft, mit deren Hilfe sich die Camera obscura konstruieren ließ, in der Deutschen Ideologie ein Merkmal für Erkenntnis darstellt.15 Es geht also gar nicht um einfache Oppositionen wie falsches Bewusstsein und echte Erkenntnis. Gerade die Durchkreuzung dieser Positionen zeichnet Ideologie aus. »Yet that is just the paradox of ideology: it is not just nonsense or error, but ›false understanding‹, a coherent, logical, rulegoverned system of errors« (Mitchell 1986: 172).16 Und gerade deshalb ist die Camera obscura vielleicht ein besonders prägnantes Bild für Ideologie. Eine Auseinandersetzung mit dem Marx’schen Ideologiebegriff bleibt aber selten bei der Deutschen Ideologie stehen. Wie viele andere auch beziehen sich Mitchell und Kofman in ihren Analysen der Figuration der Ideologie ebenso auf Das Kapital. Dort bildet die Auseinandersetzung mit dem Fetischcharakter der Ware eine Art Ideologiekritik, ohne dass das Wort selbst eine Rolle spielt.17 Signifikant ist, dass auch dort auf das Sehen Bezug genommen wird. Im Kapitel »Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis« wird zunächst festgestellt: »Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, daß sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken« (MEW, Bd. 23: 85). Man beachte die Referenz auf die Theologie und damit auf Religion, die ebenso wie in der Deutschen Ideologie auch im Kapital ihre Rolle spielt. Auch hier trifft man auf Umkehrungen:18

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»Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen andren Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.« (MEW, Bd. 23: 85)

Erstaunlich ist aber nicht allein, dass sich hier ein Tisch auf den Kopf stellt, sondern dass den Waren selbst bzw. ihrer Form eine solche Umkehrung zuge-

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traut wird. Die Sinnlichkeit der Dinge wird durch die Warenform entstellt. Das führt dazu, dass soziale Beziehungen vermittelst Waren gedacht bzw. erfahren werden. Der gesellschaftliche Charakter der Arbeitsprodukte wird verleugnet, wenn sie im abstrakten Netz des Kapitalismus nur als Waren wahrgenommen werden. Gesellschaftliche Verhältnisse erscheinen dann als objektive Beziehungen, mithin als unabänderlich. Die Dinge entziehen sich der sinnlichen Wahrnehmung, werden übersinnlich. Und hier kommt das Auge ins Spiel. »So stellt sich der Lichteindruck eines Dings auf den Sehnerv nicht als subjektiver Reiz des Sehnervs selbst, sondern als gegenständliche Form eines Dings außerhalb des Auges dar. Aber beim Sehen wird wirklich Licht von einem Ding, dem äußeren Gegenstand, auf ein andres Ding, das Auge, geworfen. Es ist ein physisches Verhältnis zwischen physischen Dingen. Dagegen hat die Warenform und das Wertverhältnis der Arbeitsprodukte, worin sie sich darstellt, mit ihrer physischen Natur und den daraus entspringenden dinglichen Beziehungen absolut nichts zu schaffen. Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt. Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist.« (MEW, Bd. 23: 86-87)

Auch hier reicht die spekulare Metapher nicht aus, um das komplexe Verhältnis von Ideologie bzw. Warenfetischismus und den real gegebenen Verhältnissen zum Ausdruck zu bringen. Das Sehen selbst wird als objektives, physisches Verhältnis gedacht. Dieses »objektive« Sehen wird jedoch durch den Warenfetischismus überlagert. Der objektive Charakter der Ware verdeckt den gesellschaftlichen Charakter ihrer Produktion. Der entscheidende Unterschied dieser Konzeption wird im Gegensatz zur Deutschen Ideologie in der direkten Verortung von Ideologie in der sozialen Welt gesehen. Die Warenproduktion selbst, mithin ein Phänomen, das man eindeutig der Basis zuschlagen kann, ist hier entscheidend am Prozess der ideologischen Programmierung beteiligt: »To begin with, this curious inversion between human subjects and their conditions of existence is now inherent in social reality itself. […] Ideology is now less a matter of reality becoming inverted in the mind, than of the mind reflecting a real inversion. […] Ideology has been, so to speak, transferred from the superstructure to the base.« (Eagleton 1991: 85)

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Alexander Böhnke

Wenn man Ideologie in diesem Sinne nicht als reines Überbauphänomen abtut, sondern als konstitutiv für soziale Verhältnisse im Kapitalismus und damit für die Vergesellschaftung von Individuen begreift, kann man vielleicht auch das Bild der Camera obscura wieder produktiv machen. Anzuknüpfen wäre dann an den Ideologie-Begriff von Louis Althusser, der folgende Definition gibt: »Die Ideologie repräsentiert das imaginäre Verhältnis der Individuen zu ihren realen Existenzbedingungen« (Althusser 1977: 133). Das Verhältnis der Individuen wird aber als verkörpert in bestimmten sozialen Praktiken konzipiert, so »daß dieses imaginäre Verhältnis selbst eine materielle Existenz besitzt« (Althusser 1977: 137). Althusser geht es also auch darum, die unproduktive Differenz von quasi-autonomen Überbauphänomenen und ihrer Determinierung durch die materielle Basis aufzulösen. Wenn man diese Überlegungen auf den Vergleich von Camera obscura und Ideologie anwendet, gilt es, der Komplexität des Vergleichs Rechnung zu tragen und auch den zweiten Teil der Gleichung mit einzubeziehen. Das Phänomen der Verkehrung, das Ideologie und Camera obscura auszeichnet, geht nämlich aus dem historischen Lebensprozess hervor, der wiederum mit dem physischen Prozess analog gesetzt wird, der die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut produziert:19

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»The inverted images, whether in the eye or the camera obscura, are inverted, not by a simple physical mechanism of light, but by a ›historical life process‹, and they can be rectified only by a reconstruction of that process – that is, by a recounting of the material history of production and exchange that gives rise to them.« (Mitchell 1986: 175)

Die Verwirrung entsteht also weniger durch das Bild der Camera obscura, sondern durch das Bild der auf der Netzhaut verdrehten Gegenstände. Die historisch bedingte Invertierung erscheint wie eine »natürliche« und muss demnach in den spezifischen gesellschaftlichen Diskurs eingebettet werden: »If the rectification of the inverted images of idealist German ideology involves reconnecting them with material conditions and practical life, the rectification of the empiricist image is accomplished by temporalizing it, seeing it as a product of a ›historical life-process‹ and not as a simple datum presented to the senses.« (Mitchell 1986: 175)

Dasselbe gilt auch für das Bild der Camera obscura.20 Ihre Historisierung kann mit einer Umkehrung starten: »But suppose we reversed the stress, and thought of the eye as modeled on the machine? Then vision itself would have to be understood not as a simple, natural function to be understood by neutral, empirical laws of optics but as mechanism subject to historical change.« (Mitchell 1986: 175)

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Und hier treten die medientheoretischen bzw. mediengeschichtlichen Aspekte der bisherigen Überlegungen zu Tage. Auch die Medienwissenschaft startet mit einem Verdacht, wie er bei Marx anzutreffen ist.21 Ein prominentes Beispiel wäre Marshall McLuhans (1994) medientheoretische Wendung, das Medium sei die Botschaft, die ja auch eine Umkehrung der Perspektive beinhaltet. Die Effekte der Technik auf die Wahrnehmung dürfen aber nicht als einseitige Determinierung gefasst werden, sondern Technik und Betrachter müssen in ihrer wechselseitigen und überdeterminierten Strukturierung begriffen werden. Eine einseitige Überspitzung des Verdachts würde den Medienbegriff kassieren und widerspricht informationstheoretischen Grundlagen (vgl. Baecker 1999: 184). Eine Möglichkeit, diesem einseitigen Determinismus aus dem Wege zu gehen, ist an die Arbeit von Jonathan Crary (1996) anzuknüpfen, der einen eindrucksvollen Versuch der Historisierung des Betrachters sowie seiner technischen und diskursiven Verortung vorgelegt hat. »Jedes einzelne Gerät ist nicht einfach als materielles Objekt zu verstehen oder als Teil einer Geschichte der Technik, sondern als die Art, in der es in ein wesentlich größeres Gefüge (assemblage) von Ereignissen und Mächten eingebettet ist.« (Crary 1996: 19)

Die Variable des Betrachters muss dabei selbst historisiert werden. Crary formuliert dementsprechend: »Vielleicht gibt es kein größeres Hindernis, das einem Verständnis der Camera obscura oder sogar aller optischen Geräte im Wege steht, als die Vorstellung, das optische Gerät und der Betrachter existierten völlig unabhängig voneinander, die Identität des Betrachters bestehe unabhängig von dem optischen Gerät, das als materieller Gegenstand, als technische Apparatur verstanden wird.« (Crary 1996: 42)

Genau das kann man vielen medientheoretischen Ansätzen vorwerfen, so z.B. den Theoretikern der Apparatus-Debatte, die versucht haben den IdeologieBegriff für die Medienanalyse produktiv zu machen.22 Der kinematographische Apparat wird dabei ganz im Sinne von Marx nicht als neutrale Instanz technischer Entwicklung begriffen, im Zentrum des Interesses steht vielmehr der ideologische Effekt auf den Zuschauer, dem das Wissen um die Konstruiertheit des Produkts systematisch entzogen wird. Die Kamera wird zur ideologischen Maschine erklärt, die nicht nur als Vehikel für bestimmte Inhalte dient, sondern als solche schon eine bestimmte Ideologie vorgibt bzw. produziert. Der Apparat wird dabei als mechanische Verlängerung des perspektivischen Codes der Malerei des Quattrocento verstanden. Auch wenn der Basisapparat nach Jean-Louis Baudry, einem der wichtigsten Vertreter dieser Richtung (vgl. seine beiden wichtigsten Aufsätze in Riesinger 2003), alle für

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die Herstellung und Projektion notwendigen Geräte und Operationen umfasst und damit ein im Sinne Foucaults vielschichtiges Dispositiv darstellt, bildet doch die einseitige Determinierung durch die Technik eine deutliche Schwäche des Ansatzes, besonders ihre ahistorische Gleichsetzung ganz verschiedener Bildtechniken. Crarys Kritik an der einem solchen Modell zugrunde liegenden Hypothese trifft auch die Apparatus-Theoretiker. Er bestreitet, dass »sich die Camera obscura zur Fotokamera entwickelt. Ein solches Modell setzt voraus, daß auf jeder einzelnen Stufe dieser Entwicklung im wesentlichen die gleichen Voraussetzungen für das Verhältnis des Betrachters zur Welt gelten« (Crary 1996: 38). Bildgebungsverfahren sind demnach nicht für alle Zeiten festgeschrieben und in ihrer historischen Spezifität zu analysieren. Medienwissenschaft kann es sich gar nicht leisten, ökonomische und diskursive Kontexte außer Acht zu lassen, das gilt für die Analyse des Hollywoodkinos genauso wie für Überlegungen zur Informationsgesellschaft und ihre prominenteste Metapher, das Netzwerk. Studien zu den sozialen Veränderungen durch Technik (Castells 2004) sind demnach nicht von Überlegungen zu trennen, die versuchen, den ideologischen Gehalt der durch die Technik hervorgerufenen Bilder herauszuarbeiten (Boltanski/Chiapello 2003). Die Medienwissenschaft kann sich durch das Bild der Camera obscura in der Deutschen Ideologie nur herausgefordert sehen, vielschichtige Phänomene ihrer Komplexität entsprechend zu behandeln:

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»In ihr [der Camera obscura] überschneidet sich eine diskursive Struktur mit materiellen Praktiken. Aus diesem Grunde läßt sich die Camera obscura weder auf ein technisches noch auf diskursives Objekt reduzieren: Sie ist eine komplexe Verschmelzung sozialer Elemente, deren Vorhandensein als Sprachfigur untrennbar mit ihrem mechanischen Gebrauch verbunden war.« (Crary 1996: 42)

Die Rolle der Technik im Allgemeinen und der Camera obscura im Besonderen zu beurteilen, kann demnach nur gelingen, wenn man sie nicht ihrer Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit entkleidet. »The camera obscura plays a deeply equivocal role, then, as a figure for both the illusions of ideology and for the ›historical life-process‹ that generates those illusions and provides a basis for dispelling them. In this light, the camera obscura is both the producer and the cure for the illusions of ideology.« (Mitchell 1986: 178)

Das Bild der Camera obscura bietet deshalb die Möglichkeit, die Komplexität der Beziehungen von Technik, Gesellschaft und Subjektivität einzufangen. Sowohl der Apparat als auch das sprachliche Bild, das sich auf ihn beruft,23 haben nichts Natürliches, auch wenn der Apparat nach physikalischen Gesetzen konstruiert ist. Ohne die Arbeit einer Historisierung bleibt es ideologisch

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– auch wenn die eigene ideologische Verstrickung dadurch nicht aufgehoben ist. »Clear meaning thus does not pre-exist ideological obscurity, and there is no ›truth‹ without a labour of transformation« (Kofman 1998: 19). Let’s go to work! Anmerkungen 1 Mitchell (1986: 186) fragt, warum die marxistische Ästhetik vom Ideologiebegriff dominiert wird : »Why is ›ideology‹, with its shadows, projections, and reflections, the crucial notion in Marxist criticism of literature and art, while fetishes, which in at least one sense literally are works of art, generally have a minor and problematic function in Marxist aesthetics?« 2 Siehe z.B. Abercrombie/Hill/Turner (1980). Mitchell (1986: 163) hat diese Art Kritik prägnant formuliert: »[Marxism] has made a fetish out of the concept of fetishism, and treated ›ideology‹ as an occasion for the elaboration of a new idealism.« 3 Siehe Mitchell (1986: 160): »The purpose of this essay is not to settle those disputes or to further that elaboration but to perform a historical analysis on some features of the figurative language it employs.« 4 Vgl. Eagleton (1991: 78): »For The German Ideology ideological consciousness would seem to involve a double movement of inversion and dislocation. Ideas are assigned priority in social life; and simultaneously disconnected from it.« 5 Vgl. die Thesen über Feuerbach: »Aber daß die weltliche Grundlage sich von sich selbst abhebt und sich ein selbständiges Reich in den Wolken fixiert, ist nur aus der Selbstzerrissenheit und Sichselbstwidersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären« (MEW, Bd. 3: 6). 6 Siehe Eagleton (1991: 79): »The text, in other words, hesitates significantly between a political and an epistomological definition of ideology.« 7 Vgl. dazu Althusser (1968: 37): »Man bricht nicht mit einem Mal mit einer theoretischen Vergangenheit: man braucht auf jeden Fall Worte und Begriffe, um mit Worten und Begriffen zu brechen, und es sind oft die alten Worte, die mit dem Protokoll des Bruchs beauftragt werden, solange die Erforschung der neuen andauert.« 8 »Die empirische Beobachtung muß in jedem einzelnen Fall den Zusammenhang der gesellschaftlichen und politischen Gliederung mit der Produktion empirisch und ohne alle Mystifikation und Spekulation aufweisen« (MEW, Bd. 3: 25). 9 Vgl. Kofman (1998: 9): »It is no accident that the same terms and metaphors turn up to describe both ideology and exchange value.« 10 Aber keinesfalls die Ausdifferenzierung der Sinne, wie Crary (1996: 100)

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mit Hinweis auf den weiteren Verlauf des Textes ausführt: »Marx klingt hier wie ein Modernist, der die Utopie einer interesselosen Wahrnehmung postuliert, einer Welt ohne Tauschwert, in der das Sehen sich selbst genügt.« Vgl. auch Taussig (1997: 106f.). Crary (1996: 65) weist darauf hin, dass das Bild der Camera obscura gerade auch einen nichtsinnlichen Anteil transportiert: »Obwohl das Paradigma der Camera obscura tatsächlich dem Sehen Priorität einräumt, steht dieses Sehen doch a priori im Dienst eines nichtsinnlichen Denkvermögens, das allein einen wahren Begriff von der Welt gibt.« »In comparing ideology to a camera obscura, Marx seems to be undercutting his own model for empirical, materialist cognition by treating it as nothing but a mechanism for illusion, for the ›phantoms‹, ›chimeras‹, and ›shadows of reality‹ that he attributes to the German ideologists. Marx’s use of the camera obscura as a polemical device for ridiculing the illusions of idealist philosophy begins to look even more ungainly when we recall that Locke had also used it as a polemical device – in exactly the opposite way« (Mitchell 1986: 168). Siehe zu einer Kritik der »Reflexe und Echos« Williams (1977: 59f.) und Eagleton (1991: 75f.). Vgl. dazu Crary (1996: 41): »Der Apparat, der noch ein Jahrhundert zuvor als Hort der Wahrheit gegolten hatte, wird unter anderem in den Schriften von Marx, Bergson und Freud zum Inbegriff all jener Verfahren und Kräfte, die die Wahrheit verbergen, entstellen und vortäuschen.« Siehe Crary (1996: 49): »Sie ist sowohl eine Metapher für ein nominell freies, souveränes Individuum als auch für ein privatisiertes Subjekt, das abgeschlossen von der Öffentlichkeit, der Außenwelt, in einem quasidomestischen Raum steht.« »Selbst diese ›reine‹ Naturwissenschaft erhält ja ihren Zweck sowohl wie ihr Material erst durch Handel und Industrie, durch sinnliche Tätigkeit der Menschen. So sehr ist diese Tätigkeit, dieses fortwährende sinnliche Arbeiten und Schaffen, diese Produktion die Grundlage der ganzen sinnlichen Welt, wie sie jetzt existiert, daß, wenn sie auch nur für ein Jahr unterbrochen würde, Feuerbach eine ungeheure Veränderung nicht nur in der natürlichen Welt vorfinden, sondern auch die ganze Menschenwelt und sein eignes Anschauungsvermögen, ja seine Eigne Existenz sehr bald vermissen würde.« (MEW, Bd. 3: 44) Vgl. Eagleton (1991: 72): »The falsity of the ideas, we might say, is part of the ›truth‹ of a whole material condition.« Nur an einer Stelle wird es benutzt: »Auf diese fertige Welt des Kapitals wendet der politische Ökonom mit desto ängstlicherem Eifer und desto größerer Salbung die Rechts- und Eigentumsvorstellungen der vorkapitalistischen Welt an, je lauter die Tatsachen seiner Ideologie ins Gesicht schreien« (MEW, Bd. 23: 792).

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18 Die bekannteste Umkehrung findet sich im Nachwort zur zweiten Auflage: »Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, daß er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken« (MEW, Bd. 23: 27). Siehe zur Frage der Umstülpung von Hegels Dialektik und zum Bild der mystischen Hülle und des rationalen Kerns Althusser (1968). 19 Vgl. Mitchell (1986: 178): »The ›historical process‹, we should recall, is that which Marx sees as causing the camera’s ›inversions‹, just as the ›physical life-process‹ inverts the images on the retina.« 20 Es ist wichtig, die optischen Bilder von den sprachlichen Bildern, die die Camera obscura generiert, zu unterscheiden, auch wenn sie sich häufig bedingen bzw. unterstützen. Siehe Mitchell (1986: 162): »When we speak of them [Camera obscura und Fetisch] as ›images‹, then, it is important to keep in mind that we are using the term to refer (1) to the use of these objects as concrete vehicles in a metaphoric treatment of abstractions, and (2) to objects which themselves are graphic images or producers of images.« 21 Siehe zur Hermeneutik des Verdachts in den Medienwissenschaften Baecker (1999: 182), der behauptet, »daß eines der wichtigsten Motive der Verwendung des Medienbegriffs die Möglichkeit ist, mit seiner Hilfe einen Verdacht zu formulieren.« 22 Einen Überblick gestattet der Sammelband von Riesinger (2003). 23 Vgl. de Man (1987: 92): »Was wir Ideologie nennen, ist genau die Verwechslung von Sprache mit natürlicher Realität, von Bezugnahme auf ein Phänomen mit diesem selbst.« Sprache ist eben auch ein Medium. Literatur Abercrombie, Nicholas/Hill, Stephen/Turner, Bryan S. (1980): The Dominant Ideology Thesis, London. Althusser, Louis (1968): Für Marx, Frankfurt/Main. Althusser, Louis (1977): Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg, Berlin. Baecker, Dirk (1999): »Kommunikation im Medium der Information«. In: Maresch, Rudolf/Werber, Niels (Hg.), Kommunikation. Medien. Macht, Frankfurt/Main, S. 174-191. Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003): Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz. Castells, Manuel (2004): Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Das Informationszeitalter I, Opladen.

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Crary, Jonathan (1996): Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden, Basel. De Man, Paul (1987): »Der Widerstand gegen die Theorie«. In: Bohn, Volker (Hg.), Romantik. Literatur und Philosophie, Frankfurt/Main, S. 80-106. Eagleton, Terry (1991): Ideology. An Introduction, London, New York. Kofman, Sarah (1998): Camera Obscura. Of Ideology, London. McLuhan, Marshall (1994): Die magischen Kanäle, Dresden, Basel. Mitchell, W. J. T. (1986): Iconology. Image, Text, Ideology, Chicago, London. Riesinger, Robert F. (Hg.) (2003): Der kinematographische Apparat. Geschichte und Gegenwart einer interdisziplinären Debatte, Münster. Taussig, Michael (1997): Mimesis und Alterität. Eine eigenwillige Geschichte der Sinne, Hamburg. Tieck, Ludwig (1964): Die verkehrte Welt, Berlin. Williams, Raymond (1977): Marxism and Literature, Oxford, New York.

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Matthias Bickenbach Das Kapital notiert: »Photographie 2.366«. Es ist das Kapital selber, konkret der »Zensus von 1861 (für England und Wales)«, mit dem Karl Marx im Kapital die Fotografie als Industrie zitiert (MEW, Bd. 23: 469).1 Die genannte offizielle Zahl ist eine geringe, sie steht für die Beschäftigten in einem Kleingewerbe, das im Kontext der industriellen Revolution noch unbedeutend ist. Das Zitat ist eine von nur drei Nennungen des neuen Bildmediums, das während Marx Studien- und Arbeitszeit entstand und, nach Meinung der heutigen Medien- und Fotografietheorie, Gesellschaft und Kultur, Wissen, Wahrnehmung und Kommunikation nachhaltig verändert hat. Während Fotografie im allgemeinen Kontext der großen ›Leitmedien‹ (Schrift, Buchdruck, Film, Computer) eher ein Schattendasein fristet, sind sich die drei großen Fotografietheoretiker des 20. Jahrhunderts einig. Trotz ihrer sehr unterschiedlichen Ansätze betonen sowohl Walter Benjamin und Roland Barthes, als auch Vilém Flusser, dass mit Fotografie statt hat, was gemeinhin unter den Begriff der ›Medienrevolution‹ verstanden wird: ein Effekt des Mediums, der Wahrnehmung und Kommunikation der Gesellschaft nachhaltig so verändert, dass das neue Medium als Zäsur oder Epoche angesehen werden muss: »Das Auftreten der Photographie – und nicht, wie gesagt worden ist, das des Films – schafft die Zäsur, die die Geschichte der Welt spaltet« (Barthes 1985: 97).2 Scheinbar nichts davon bei Marx: »Photographie 2.366«. Das scheint die einzige Aussage zum neuen Medium zu sein, die sich im Gesamtwerk finden lässt. Alternative und historische Begriffe für Fotografie (etwa Daguerreotypie oder Talbotypie) tauchen ebenfalls (fast, vgl. unten) nicht auf. Keiner der vielen Erfinder der Fotografie wird genannt, keine ihrer Technologien erwähnt, ihre Geschichte und ihr enormer Erfolg als neues visuelles Massenmedium der Zeit um 1860 sind offenbar nicht von Interesse. Nur dreimal überhaupt erscheint flüchtig der bloße Name ›Photographie‹. Die beiden anderen Erwähnungen gelten einmal derselben Stelle der Aussage, die die Zahl »2.366« einführt, sowie das andere Mal einem eher beiläufigen Zitat, das Zeigen einer Fotografie betreffend. Alle drei Erwähnungen des neuen Mediums können zu Recht als beiläufig betrachtet werden. Aus heutiger Sicht muss diese Beiläufigkeit jedoch verwundern. Hatte doch Karl Marx den Aufstieg der Fotografie vom experimentellen Medium einzelner Projektemacher (ca. 1825-1848) zum Massenmedium (ca. 1854-1890) vor Augen. Mehr noch: auch Karl Marx hat sich fotografieren lassen. Seine Porträts, Vorlagen auch für die bekannten Büsten, sind bekannt geworden und begleiten sein Werk. Der weißbärtige Karl Marx steht wohl jedem vor Augen, ob Marxist oder nicht, Leser der Werke oder nicht. Der Effekt des neuen Bildmediums, eine Person durch ihr Bildnis oder Image allgemein bekannt zu machen, steht der mithin

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➔ 14 Das Gespenst der Fotografie

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verschwindenden Präsenz namentlicher Erwähnung im Werk eklatant entgegen.3 Auch in einer zu Unterrichtsgebrauch in der ehemaligen DDR zusammengestellten umfangreichen Anthologie über Kultur und Ästhetik findet sich kein Verweis auf die Widerspiegelungskunst der Fotografie (vgl. Marx/Engels/Lenin 1981) – sei es affirmativ als Darstellungsmedium objektiver Verhältnisse, sei es, im Sinne Brechts Kritik am Massenmedium in der »Kriegsfibel« als bildhafte Oberfläche, die die wahren Verhältnisse verschleiert und damit selbst zum Agenten des Kapitals wird.4 Fotografie könnte damit, ganz nach dem Muster der jüngeren postmarxistischen und medientheoretischen Rezeption, als Exempel für eine vergessene, übersehene oder fehlende mediale Dimension im Marx’schen Werk gelten. Hat Marx die Fotografie übersehen? Hat er sie unterschätzt? Anders und im Kontext dieses Bandes gefragt: Konnte sein ökonomisch-politischer Geist zwar die Lage der Arbeiter und die Mechanismen des Kapitals analysieren, nicht aber den politischen und kulturellen Mehrwert der damals neuen Medien? Ein Gespenst geht um Fotografie wird jedoch nicht nicht erwähnt. Sie erscheint als Gespenst im Marx’schen Werk. Gespenstisch wie die allseits immer noch vor Augen stehenden und auch in Zukunft proliferierenden fotografischen Bildnisse Karl Marx’ ist das Medium im Werk, wo es ausgeschlossen scheint, anwesend. Es ist, mit einem Wort, das Gespenst eines Mediums, das sowohl uns wie Karl Marx heimsucht. Am 22. August 2005 titelt der Spiegel über dem Porträt Karl Marx’: »Ein GESPENST kehrt zurück«.5 Die Unterscheidung von ›Geist‹ und ›Gespenst‹ hat Jacques Derrida in seinem Buch über die Lehre der Heimsuchung (»Hantologie«), die Karl Marx für die Zukunft der Gesellschaften und des Kapitalismus bedeute, mit dem Kriterium des Angesehenwerdens verbunden. Ein Gespenst ist das Erscheinen eines Geistes, seine Verkörperung, die uns ansieht. Aber die Heimsuchung verkompliziert die Logik von An- und Abwesenheit. »Oder vielmehr ist das Gespenst – Marx präzisiert es selbst, wir werden darauf zurückkommen – eine paradoxe Verkörperung, das Leib-Werden, eine bestimmte fleischliche Erscheinungsform des Geistes. […] Der Geist und das Gespenst sind nicht dasselbe, und wir werden diese Differenz verschärfen müssen, aber was das angeht, was sie gemeinsam haben, so weiß man nicht, was das ist, was das gegenwärtig ist.« (Derrida 1995: 21f.)6

Ein Gespenst ist »dieses Ding, das uns ansieht« (Derrida 1995: 22). Der hier wie anderswo bei Derrida konnotierte Doppelsinn des französischen Begriffs ›ça regard‹ lässt ›ansehen‹ und ›uns angehen‹ zusammenfallen. Die eigenar-

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tige Präsenz dieses Blicks verstört die Chronologie der Zeit, die klare Ordnung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, indem die Synchronie der Erscheinung zur Anachronie der Heimsuchung wird, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenfallen. »Dieses Ding betrachtet indes uns und sieht uns, wie wir es nicht sehen, selbst wenn

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es da ist. Eine gespenstische Asymmetrie unterbricht hier jede Spekularität. Sie desynchronisiert, sie erinnert uns an die Anachronie. Wir werden das den Visier-Effekt nennen: Wir sehen nicht, wer uns ansieht.« (Derrida 1995: 22)

Dieses Angesehenwerden von einem »Ding«, das irgendwie die Verkörperung des Geistes sei und selbst fast nicht zu sehen, ist damit eine Form der Macht: sehen, ohne gesehen zu werden. Diese Macht oder ihre Illusion kehrt als das Unheimliche nicht nur der Geister oder auch der großen Geister (Autoren und Diskursbegründer) wieder, sondern auch als das Unheimliche fotografierter Menschen.7 Die Fotografie, so legt es Roland Barthes nahe, ist ein gespenstisches Medium.8 Sie verkörpert das unsichtbare Licht und teilt mit Derridas Bestimmung des Gespenstischen die Anachronie als verrückte Zeitlichkeit einer nicht-präsenten Präsenz.9 Das Gespenst der Fotografie hat Karl Marx angesehen. Es hat ihn abgelichtet und selbst zum Gespenst oder fotografischen Bild werden lassen, das uns noch heute ansieht oder angeht. Das Gespenst der Fotografie aber erscheint namentlich im Text des Marx’schen Werkes. Es ist nicht nicht vorhanden, sondern geistert ruhelos und unerlöst im Text. Wenn man heute den Media Marx als Orakel befragt, muss man die Stellen genau lesen. Herauszufinden ist dabei auch, warum Fotografie keine weitere Thematisierung und Reflexion erhält. Zunächst ist jedoch noch auf eine weitere Stelle zu einzugehen, in der nicht ›Photographie‹, sondern ihr Vorläufer recht gespenstisch erscheint. In »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte« vergleicht Marx überraschend die Idee oder das Gespenst des noch zukünftigen, aber im Geiste schon präsenten Staatsstreichs durch Napoleon mit dem Erscheinen der Gestalt auf einer Daguerreotypie. Die Stelle rückt Idee und Medium explizit in ein gespenstisches Szenario, in dem der Traum vom ›coup d’etat‹ in einem Szenario von Schatten und Nacht, von Heimsuchung und Gespensterstunde als Schrecken der Zukunft bereits präsent ist. Inmitten der langen Passage über die ›fixe Idee‹ Bonapartes heißt es ebenso überraschend wie dunkel: »Der Schatten nahm zugleich Farbe an, wie ein buntes Daguerreotyp« (MEW, Bd. 8: 188). Es ist ein merkwürdiger Vergleich. Daguerreotypien sind nicht farbig, es sei denn, sie werden nachkoloriert. Darauf spielt jedoch das »[d]er Schatten nahm zugleich Farbe an« (Hervorheb. M. B.) eindeutig nicht an. Marx enthüllt

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hier nicht nur durchaus Kenntnis über das Verfahren und die visuelle zwar nicht farbige, aber nuanciert schattierte Brillanz der Daguerreotypie, sondern eine äußerst komplexe Anspielung auf den schwarzen Geist Napoleon und seinen coup d’etat. Das Licht (und die Idee als Licht der Vernunft) wird zu einem Schatten, der farbig erscheint bzw. Nuancen gewinnt, die Latenz der Idee wird zur Realität. Der Schatten oder Spuk ist jedoch ein Gespenst, das, wie das Licht, das die Platte belichtet, aus der Vergangenheit heraus die Zukunft heimsucht. Der Staatsstreich Bonapartes ist keinesfalls Anfang oder Ursprung gewesen, sondern bereits eine Wiederholung: »Ein Gespenst ist immer ein Wiedergänger. Man kann sein Kommen und Gehen nicht kontrollieren, weil es mit der Wiederkehr beginnt« (Derrida 1995: 28). Es ist eine Wiederholung, die bereits, sogar als Zwang, immer schon präsent war, sichtbar und doch kaum zu sehen. All das wird von Marx als gespenstische Szenerie dargestellt, in der die Nacht und die Gespensterstunde als Ankündigung einer Zukunft, deren ›Spuk‹ bereits sichtbar ist, eine zentrale Rolle spielt: »Wenn je ein Ereignis lange vor seinem Eintritt seinen Schatten vor sich hergeworfen hat, so war es Bonapartes Staatsstreich. Schon am 29. Januar 1849, kaum einen Monat nach seiner Wahl, hatte er den Vorschlag dazu dem Changarnier gemacht. Sein eigner Premierminister Odilon Barrot hatte im Sommer 1849 verhüllt, Thiers im Winter 1850 offen die Politik der Staatsstreiche denunziert. Persigny hatte im Mai 1851 Changarnier noch einmal für den Coup zu gewinnen gesucht, der ›Messager de l’Assemblée‹ hatte diese Unterhandlung veröffentlicht. Die bonapartistischen Journale drohten bei jedem parlamentarischen Sturme mit einem Staatsstreich, und je näher die Krise rückte, desto lauter wurde ihr Ton. In den Orgien, die Bonaparte jede Nacht mit männlichem und weiblichem swell mob [Hochstaplergesindel] feierte, sooft die Mitternachtsstunde heranrückte und reichliche Libationen die Zunge gelöst und die Phantasie erhitzt hatten, wurde der Staatsstreich für den folgenden Morgen beschlossen. Die Schwerter wurden gezogen, die Gläser klirrten, die Repräsentanten flogen zum Fenster hinaus, der Kaisermantel fiel auf die Schultern Bonapartes, bis der nächste Morgen wieder den Spuk vertrieb und das erstaunte Paris von wenig verschlossenen Vestalinnen und indiskreten Paladinen die Gefahr erfuhr, der es noch einmal entwischt war. In den Monaten September und Oktober überstürzten sich die Gerüchte von einem coup d’état. Der Schatten nahm zugleich Farbe an, wie ein buntes Daguerreotyp. […] Der Staatsstreich war stets die fixe Idee Bonapartes. Mit dieser Idee hatte er den französischen Boden wieder betreten. Sie besaß ihn so sehr, daß er sie fortwährend verriet und ausplauderte.« (MEW, Bd. 8: 188f.)

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Matthias Bickenbach

Stellenlektüre Wenn Marx die Daguerreotypie zu einem solch filigranen Vergleich und einer Metapher für die ›Begeisterung‹ Bonapartes werden lassen kann, spricht dies nicht nur für seine schriftstellerischen Fähigkeiten. Offenbar hat Marx jenseits seiner Texte einen deutlichen Eindruck von dem neuen Bildmedium gehabt. Angesichts der kargen Nennungen desselben fragt es sich daher, ob sie tatsächlich so beiläufig sind, wie sie erscheinen. Warum wird die Fotografie nicht eingehender thematisiert? Aufschluss darüber gibt eine genauere Lektüre ihres Erscheinens. Die eingangs angeführte nüchterne Stelle über die geringe Zahl der Beschäftigten lautet im Kontext:

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➔ 14 Das Gespenst der Fotografie

»Die Vermehrung von Produktions- und Lebensmitteln bei relativ abnehmender Arbeiterzahl treibt zur Ausdehnung der Arbeit in Industriezweigen, deren Produkte, wie Kanäle, Warendocks, Tunnels, Brücken usw., nur in fernrer Zukunft Früchte tragen. Es bilden sich, entweder direkt auf der Grundlage der Maschinerie, oder doch der ihr entsprechenden allgemeinen industriellen Umwälzung, ganz neue Produktionszweige und daher neue Arbeitsfelder. Ihr Raumanteil an der Gesamtproduktion ist jedoch selbst in den meistentwickelten Ländern keineswegs bedeutend. Die Anzahl der von ihnen beschäftigten Arbeiter steigt im direkten Verhältnis, worin die Notwendigkeit rohster Handarbeit reproduziert wird. Als Hauptindustrien dieser Art kann man gegenwärtig Gaswerke, Telegraphie, Photographie, Dampfschiffahrt und Eisenbahnwesen betrachten. Der Zensus von 1861 (für England und Wales) ergibt in der Gasindustrie (Gaswerke, Produktion der mechanischen Apparate, Agenten der Gaskompagnien usw.) 15.211 Personen, Telegraphie 2.399, Photographie 2.366, Dampfschiffdienst 3.570 und Eisenbahnen 70.599, worunter ungefähr 28.000 mehr oder minder permanent beschäftigte ›ungeschickte‹ Erdarbeiter nebst dem ganzen administrativen und kommerziellen Personal. Also Gesamtzahl der Individuen in diesen fünf neuen Industrien 94.145.« (MEW, Bd. 23: 469)

Was hier aufgezählt wird, ist ein statistisches Orakel. Ein Orakel deshalb, weil hier neue Industrien angeführt werden, die »nur in fernrer Zukunft Früchte tragen«. Die Rede ist von »ganz neue[n] Produktionszweigen« (»Kanäle, Warendocks, Tunnels, Brücken usw.«) und »der ihr entsprechenden allgemeinen industriellen Umwälzung«, d.h. von ganz »neue[n] Arbeitsfeldern«. Aber all dies, so das Orakel Marx, wird erst in »fernrer Zukunft« Früchte tragen. Man wird keineswegs behaupten können, dass Marx die Bedeutung der »Industriezweige« unterschätzt hat, auch wenn er diese nicht weiter ausführt. Doch was an dieser Stelle als »Hauptindustrien dieser Art« benannt ist, sind exakt jene Industrien und Medien, die heute als mediale und industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts begriffen werden: »Gaswerke [d.h. zunächst: Licht], Telegraphie, Photographie, Dampfschiffart und Eisenbahnwesen«. Es

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sind die zentralen neuen Transport- und Kommunikationsmedien einer zukünftigen Zeit, die Marx als Keim zukünftiger Umwälzung oder Heimsuchung begreift: »Ihr Raumanteil an der Gesamtproduktion ist jedoch selbst in den meistentwickelten Ländern keineswegs bedeutend« [Hervorheb. M. B.], heißt es, aber zugleich besagt der Satz zuvor: »Es bilden sich, entweder direkt auf der Grundlage der Maschinerie, oder doch der ihr entsprechenden allgemeinen industriellen Umwälzung, ganz neue Produktionszweige und daher neue Arbeitsfelder«. Fotografie erscheint hier im Ensemble jener Transport- und Kommunikationsmedien, denen heute Bücher und Theorien der Medienrevolution gelten. Dennoch kommt das Zitat »Photographie 2.366« als Beleg für eine damals noch geringe Bedeutung innerhalb der »großen Industrien« daher. Nur Marx wählt das falsche Beispiel. Er konzentriert sich einerseits auf England, nicht auf Paris, wo die Zahl der in der fotografischen Industrie Tätigen für 1861 auf 33.000 geschätzt wird. Andererseits bezieht er sich auf die Beschäftigten, nicht aber auf das Produkt.10 Die Zahlen der medialen Reproduktion der Bilder, die 1861 in allen Industrieländern (Frankreich, England, Deutschland, USA) bereits in die Hunderttausende ging, wären beeindruckend gewesen, aber Marx bezieht sich nicht auf die Reproduktionskraft des Mediums, sondern auf die der Arbeit: »Die Anzahl der von ihnen beschäftigten Arbeiter steigt im direkten Verhältnis, worin die Notwendigkeit rohster Handarbeit reproduziert wird.« In der Tat nimmt die Fotografie ihren industriellen Werdegang von der Handarbeit in den um 1860 florierenden Ateliers aus. Dort werden erstmals die zuvor dem einzelnen Fotografen oder Operateur zukommenden Arbeiten (Vorbereitung der Platte, Aufnahme, Entwicklung) arbeitsteilig auf Gehilfen oder Assistenten verteilt. Der Aufschwung der Fotografie fällt mit der Arbeitsteilung im Atelier zusammen. Mit ihr sowie der Standardisierung der Formate und der Variation von Chemie und Optik zugunsten schnellerer und billigerer Lösungen, die im Kleinbild-Porträt der Carte de Visite nach Disdéris Patent von 1854 als Massenmedium kulminiert, avanciert die Fotografie zur Industrie. 1861 gilt Disdéri als reichster Fotograf der Welt, seine Einnahmen im Pariser Atelier werden auf 1.200.000 Francs jährlich beziffert. Doch wie Jens Ruchatz in einer eingehenden historischen Studie gezeigt hat, reflektiert die frühe Fotografie Begriff und Sache der Serialität nicht (vgl. Ruchatz 1998). Das Atelier als ›Industrieort‹ verharrt zwischen traditionellem Handwerksbetrieb und Betrieb maschineller Produktion: arbeitsteilig und massenhaft produzierend, aber noch in Handarbeit und – relativ – geringer Stückzahl, gemessen an dem, was die Zukunft dieser Umwälzung maschinell leisten wird. Karl Marx hat somit in seiner Einschätzung Recht. Fotografie konnte »gegenwärtig« noch nicht als ökonomische Umwälzung angerechnet, aber doch

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schon – gespenstisch – in Rechnung gestellt werden: als Wechsel auf die Zukunft. So ist ihre Erwähnung im »Kapital« ein gespenstisches Orakel zu nennen. Barthes auf die Füsse stellen

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Die dritte Erwähnung ist es nicht minder. Im gleichen Jahr erscheint von Karl Marx in der Zeitschrift Die Presse (Nr. 353 vom 24. Dezember 1861) eine Polemik unter dem Titel »Ein Verleumdungsprozeß«. Es geht um die Arbeit von Polizeispitzeln und Marx zitiert einen »humoristischen Dialog« aus der Lloyds Weekly News. In dieser Zitatmontage, die das Absurde des Prozesses und das Perfide der Bespitzelung aufdecken oder erscheinen lassen soll, taucht der Satz aus der Zeugenbefragung auf: »Ihr veröffentlicht Photographien von Schwindlern? – Ja« (MEW, Bd. 15: 426). Die Macht des Mediums ist hier kaum sichtbar und doch genannt. Die Veröffentlichung von Personen – Schwindler oder nicht – wird jedoch in der Folgezeit in jeder Hinsicht zu einer ambivalenten Angelegenheit. Während auf der einen Seite das Porträt, vom Nimbus des gemalten oder gezeichneten Porträts zehrend, für das Bürgertum bis hin zu den Königshäusern zum ›guten Ton‹ avanciert, etabliert sich auf der anderen Seite diese Sichtbarkeit des Subjekts, das angesehen werden kann, ohne dies zu sehen, als neue Überwachungstechnik des Staates. Darauf spielt die polemische Zitatmontage Marx’ an. Die Veröffentlichung der Fotografien von Schwindlern stellt nichts anderes als eine neue Praxis der Verleumdung und der öffentlichen Denunziation dar. Es gehört zu den in Fotografiegeschichten oft wiederholten Anekdoten dieser Dialektik des öffentlichen Bildes, dass die Pariser Kommunarden 1871 angeblich aufgrund einer Fotografie (wiederum Disdéris) identifiziert, gefasst und hingerichtet wurden. Belege dafür gibt es nicht, nur das Bildnis und damit die öffentlich zu Schau gestellte Identifizierung von zwölf toten Kommunarden (vgl. Koetzle 1996: 70). Aus dem Porträt, das für den Ruhm der Person stehen soll, wird in der Folgezeit die fotografische Erfassung des Subjekts und jene Trias staatlicher Überwachungstechniken von Fahndungs-, Pass- und Verbrecherfotografie entstehen, in der die fotografische Genauigkeit der Identifizierung oder Verleumdung von Personen dient.11 Von Marx’ dritter Erwähnung der Fotografie ausgehend wäre eine Geschichte der Fotografie zu entwerfen, welche deren Funktionalisierung und Zurichtung des Staates in Rechnung stellt, und zwar nicht als beiläufiger Eingriff oder zusätzliche Funktion, sondern als deren ›Wesen‹ im Sinne der Bestimmung ihrer Möglichkeiten. Es hieße mit John Taggs explizitem Ansatz an Parlamentsreden und -beschlüssen sowie Gesetzgebungen als Bestimmungen des Mediums, Barthes auf die Füße zu stellen.12 Das Medium der Fotografie beweist seine ›Revolution‹ weniger durch die industrielle Produktion,

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denn durch seine gesellschaftsweite Durchdringung der Vorstellungen oder Ideen (etwa von dem, was ›realistisch‹ ist) mit papiernen Vorbildern. Wenn man Bernard Edelmans »Elements for a Marxist Theory of Law« folgt, dann konstituiert das neue Bildmedium im Zuge der von ihm ausgelösten Notwendigkeit der Definition des Rechts am Bild nichts weniger als das moderne Subjekt und damit die Notwendigkeit der Illusion oder Ideologie vom Subjekt für die moderne Welt der Medien (vgl. Edelman 1979: 37ff.).13 Anmerkungen 1 Es handelt sich um das Kapitel »Maschinerie und große Industrie«, den 4. Abschnitt »Die Fabrik«. 2 Für Flusser (1989) bedeutet Fotografie den Eintritt in das »Universum der technischen Bilder«. Vgl. auch Flusser (1998). Benjamins Thesen zum Zeitalter der Reproduzierbarkeit wie zum Verlust der Aura nehmen den Ausgang von seiner »Kleinen Geschichte der Photographie« her. Benjamin (1980a, hier: 372f.); vgl. die Parallelen im »Kunstwerk-Aufsatz«, Benjamin (1980b: 435ff.). 3 Geschrieben wird darüber wenig. Vgl. aber Rudjak (1983). 4 Vgl. Brecht (1955: o.P.): »Die große Unwissenheit über gesellschaftliche Zusammenhänge, die der Kapitalismus sorgsam und brutal aufrechterhält, macht die Tausende von Fotos in den Illustrierten zu wahren Hieroglyphentafeln, unentzifferbar dem nichtsahnenden Leser.« 5 Was offenkundig eine Anspielung auf den berühmten ersten Satz des Kommunistischen Manifests ist (vgl. MEW, Bd. 4: 461). Siehe auch die häufige Verwendung des Wortes ›Gespenst‹ in Die deutsche Ideologie (MEW, Bd. 3). 6 Zum Kontext vgl. Maresch (2004). 7 Mit diesem Blick eröffnet Roland Barthes (1985: 1) seine Fotografietheorie: »Ich sehe die Augen, die den Kaiser [Napoleon] gesehen haben.« Im 46. Kapitel geht Barthes ausführlich auf das Paradoxon des fotografierten Blicks ein, vgl. ebd.: 122f. Zum Thema vgl. auch Barthes (1990). 8 Vgl. Barthes (1985: 100), wo es zum Film abgrenzend heißt: »er ist kein Gespenst.« Vgl. ebd.: 68, wo es im Kontext der Bestimmung des »punctum« über eine Person heißt, sie trete »gespensterhaft aus dem Bild« heraus. 9 Vgl. Barthes (1985: 91): »[D]as Licht ist hier, obschon ungreifbar, doch ein körperliches Medium«. Zur Bestimmung der »verrückten Zeitlichkeit« der Fotografie, »das wird sein und das ist gewesen«, ebd.: 101f. und: 105f. 10 Zum Aufstieg der Fotografie durch das bürgerliche Porträt vgl. Freund (1979) sowie Sagne (1998). 11 Zur Erfindung Bertillons Normen des Pass- und Polizeibildes und dem

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Kontext steckbrieflicher i. U. fotografischer Erfassung von Personen vgl. Kittler (2002: 187ff.). 12 Tagg (1993) wirft in seiner fulminanten Arbeit Barthes die Verkennung dieser materialistisch orientierten Perspektive vor und zeigt, vor allem für England und Amerika, den bestimmenden Einfluss staatlicher Interventionen für Konzept und Möglichkeit der Fotografie hinsichtlich ihrer künstlerischen und dokumentarischen Verwendung auf. 13 Edelmans Rekonstruktion der Entstehung des Urheberrechts am Bild greift auf Louis Althussers Theorie der Ideologie und des Subjekts zurück. Indem das Urheberrecht das Recht am Bild auf das (künstlerische) Individuum gründet, speise es die Illusion des selbstbestimmten Subjekts in die Produktion der Bilder, wie in die Gesellschaft ein. Vgl. die instruktive Einleitung von Paul Q. Hirst, ebd., die die Verbindungen zu Althusser wie zur marxistischen Rechtstheorie ausführlich darstellt.

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Literatur Barthes, Roland (1985): Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt/Main. Barthes, Roland (1990): »Auge in Auge«. In: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt/Main, S. 315-319. Benjamin, Walter (1980a): »Kleine Geschichte der Fotografie« [1931]. In: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Bd. II, 1, Frankfurt/Main, S. 368-385. Benjamin, Walter (1980b): »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« [Erste Fassung, 1935]. In: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Bd. I, 2, Frankfurt/ Main, S. 431-470. Brecht, Bertolt (1955): Kriegsfibel, Berlin. Derrida, Jacques (1995): Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt/Main. Edelman, Bernard (1979): Ownership of the Image. Elements for a Marxist Theory of Law, London, Boston, Henley. Flusser, Vilém (1989): Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen. Flusser, Vilém (1998): »Die Fotografie als nachindustrielles Objekt«. In: ders., Standpunkte. Texte zur Fotografie. Edition Flusser, Bd. VIII, Göttingen, S. 117-133. Freund, Gisèle (1979): Photographie und Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg. Kittler, Friedrich (2002): Optische Medien, Berlin. Koetzle, Michael (1996): Photo Icons. Die Geschichte hinter den Bildern, Köln u.a.

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Maresch, Rudolf (2004): »Karl lebt – als Zombie. Die Dekonstruktion versucht sich am Erbe des Marxismus«. http://www.heise.de/tp/r4/artikel/16/16457/ 1.html, August 2005. Marx, Karl (1960): »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«. In: MEW, Bd. 8, S. 111-208. Marx, Karl (1961): »Ein Verleumdungsprozeß«. In: MEW, Bd. 15, S. 423-426. Marx, Karl (1968): »Maschinerie und große Industrie«. In: MEW, Bd. 23, S. 391-530. Marx, Karl/Engels, Friedrich/Lenin, Vladimir I. (1981): Über Kultur, Ästhetik, Literatur. Ausgewählte Texte, hg. v. Hans Koch, Leipzig. Ruchatz, Jens (1998): »Ein Foto kommt selten allein. Serielle Aspekte der Fotografie im 19. Jahrhundert«. Fotogeschichte 18/68/69, S. 31-46. Rudjak, Boris (1983): »Die Photographien von Karl Marx im Zentralen Parteiarchiv des Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der KpdSU«. MarxEngels-Jahrbuch, Bd. 6, Berlin, S. 293. Sagne, Jean (1998): »Porträts aller Art. Die Entwicklung des Fotoateliers«. In: Frizot, Michel (Hg.), Neue Geschichte der Fotografie, Köln, S. 102-122. Tagg, John (1993): The Burden of Representation. Essays on Photographies and Histories, Minneapolis.

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Jens Schröter



15 Übertragung und Explosion – Telegraphie/Telephonie/Transport

Jens Schröter »As the telegraph advanced it opened the world to capitalism.« Bernal 1979: 232. Als 1964 Marshall McLuhans Buch Understanding Media erschien, war der Kalte Krieg gerade auf seinem Höhepunkt. Nur zwei Jahre zuvor wäre es in der Kubakrise beinahe zur thermonuklearen Eskalation zwischen den Supermächten USA und UdSSR gekommen. Und schon 1965 begann der VietnamKrieg, in welchem die »Implosion« des »elektronischen Zeitalter[s]« (McLuhan 1994: 526) sich wieder in ganz konkrete Explosionen verwandelte. Understanding Media entstand also mitten im kalten und bald an der Peripherie auch wieder heißen Krieg zwischen den Blöcken – nicht umsonst gelten McLuhan auch Waffen als Medien (1994: 509-519; dieser Abschnitt beginnt mit einem expliziten Verweis auf den Kalten Krieg).1 Und es ist darüber hinaus kein Zufall, dass McLuhan dem im stalinistischen Ostblock herrschenden so genannten Marxismus-Leninismus – der Legitimationsideologie einer meist blutig nachholenden Modernisierung – eine zur westlichen Consumer Society passende Legitimationsideologie entgegensetzte. Während im Osten Marx’ These, die Produktionsverhältnisse bestimmten die gesellschaftliche Form und die Stufenfolge gesellschaftlicher Zustände in sehr verkürzter Weise aufgegriffen wurde, nur um wahrheitswidrig zu behaupten, man habe den Horizont der kapitalistischen Wertform bereits verlassen, vertrat McLuhan – passend für Gesellschaften, in der seit ca. zehn Jahren das Fernsehen boomte –, es sei die Medienentwicklung, die die gesellschaftliche Entwicklung antreibe. Er schrieb folglich, wenn auch reduziert auf Sprachliches: »In ihrer Ehe mit der industriellen Technik des 19. Jahrhunderts als Grundlage der klassenlosen Gesellschaft könnte nichts zersetzender auf die marxistische Dialektik wirken als der Gedanke, daß sprachliche Medien die gesellschaftliche Entwicklung genauso formen wie die Produktionsmittel« (1994: 86). Allerdings hatte nur 14 Jahre zuvor (also 1950) der seinerzeit oberste Tyrann des Marxismus-Leninismus, Joseph Stalin, geschrieben,2 dass »sich die Sprache prinzipiell vom Überbau [unterscheidet], jedoch nicht von den Produktionsmitteln, sagen wir, von Maschinen, die ebenso neutral den Klassen gegenüber sind, wie die Sprache, und ebenso einem kapitalistischen System wie einem sozialistischen dienen können« (Stalin 1972: 26). D.h. Stalin nähert die Sprache sehr wohl den Produktionsmitteln an, jedoch nur um beider Neutralität gegenüber einem gesellschaftlichen ›System‹ zu behaupten. Für McLuhan wäre wiederum die Annahme, dass Medien (seien es nun die Sprache oder

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Telegraphie/Telephonie/Transport

➔ 15 Übertragung und Explosion

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Telegraphie/Telephonie/Transport

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technische Medien)3 neutrale Instrumente seien, unannehmbar – er nennt dies »Nachtwandlermentalität« (1994: 27). Seiner Auffassung nach ›formen‹ sprachliche und technische Medien eben die ›gesellschaftliche Entwicklung‹. Hier bahnt sich keimhaft also schon eine Differenz an, die man – in aller Vorsicht – als die Differenz von der seit McLuhan so genannten Medientheorie4 und ›marxistischen‹ Ansätzen benennen könnte. Und dies ist die Differenz in der Frage, ob entweder die Geschichte der (technischen) Medien, sei sie nun evolutiv oder eskalativ aufgefasst, die Geschichte der Gesellschaft oder die der Produktionsverhältnisse die Geschichte der Gesellschaft inklusive ihrer Medien formt. Diese Differenz und die Frage, ob man die beiden Pole nicht irgendwie vermitteln müsste, beschäftigt bis in die jüngste Zeit die Diskussion (vgl. Winkler 2000). Allerdings ist diese Dichotomie genau dann überpointiert, wenn Stalins exemplarische Betonung der Neutralität der Technik und mithin technischer Medien gegenüber sozialen Imperativen selbst eine Verkürzung oder Vereinseitigung Marx’scher Positionen darstellt – passend zu einer Modernisierungsdiktatur, die seit den 30er Jahren die Industrialisierung in der UdSSR ohne Rücksicht auf Menschenleben durchgepeitscht hatte. Dementgegen hatte z.B. Habermas (1969) in einer Auseinandersetzung mit Marcuse die Frage diskutiert, inwiefern Technik und Wissenschaft selbst als Ideologie zu fassen sind. Überdies bleibt zunächst unklar, inwiefern die ›Geschichte der Produktionsverhältnisse‹ nicht immer auch als Mediengeschichte – als Geschichte von Kommunikationsverhältnissen, von »Verkehrsform[en]« (MEW, Bd. 3: 73) – verstanden werden kann oder muss. Eine umfassende Diskussion oder gar Lösung dieser Problematik kann nicht geleistet werden. Hier sollen nur ihre Konturen an einem Beispiel skizziert werden, und dieses Beispiel ist keineswegs zufällig die Telegraphie. Denn McLuhan schrieb weiterhin: »Karl Marx und seine Anhänger […] machten die Rechnung, ohne die Dynamik der neuen Kommunikationsmedien zu verstehen. Marx legte seiner Analyse gerade zum falschen Zeitpunkt die Maschine zugrunde. Gerade damals, als der Telegraf [sic!] und andere implosive Formen begannen, die mechanische Dynamik ins Gegenteil zu verkehren.« (1994: 69)

Der Vorwurf lautet also, dass Marx und der Marxismus die Rolle der materiellen Produktionsmittel und die ›explosive‹ Logik des Maschinenzeitalters, d.h. die maschinelle Ausweitung des Körpers in den Raum, zu sehr in den Mittelpunkt geschoben hätten. Marx sei die eigentlich konstitutive Rolle der Informationsspeicherung und -zirkulation,5 die »alle sozialen und politischen Funktionen in einer plötzlichen Implosion« (ebd.: 17) zusammenziehe und so Raum und Zeit aufhebe (vgl. ebd.: 15), entgangen.

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Jens Schröter

Dass McLuhan für diesen Vorwurf aber ausgerechnet auf den Telegraphen rekurriert, ist merkwürdig. Denn der Telegraph nimmt eine prominente Rolle im Diskurs von Marx (und Engels) ein – 1848 wurde im Kommunistischen Manifest plakativ formuliert: »Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen. […] Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. […] Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschifffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen – welches frühere Jahrhundert ahnte, daß solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten.« (MEW, Bd. 4: 465-467)

Auf dem ganzen Erdball werden Verbindungen hergestellt, um die Kommunikationen zu erleichtern und explizit wird als eine Produktionskraft6, die dies bewerkstelligt, die Telegraphie angeführt – das klingt nach McLuhans ›globalem Dorf‹ (und sehr deutlich nach unserer globalisierten Gegenwart). Insofern sieht es so aus, als ob Marx keineswegs die ›implosive‹ Rolle des Telegraphen unterschätzt habe. Er kannte sehr wohl die »Zusammendrängung von Zeit und Raum durch Kommunikations- und Transportmittel« (MEW, Bd. 16: 127). Allerdings scheint die ominöse Bourgeoisie jene unendlich erleichterten Kommunikationen quasi »herbeigeforscht«7 zu haben. Man könnte sagen: Die telegraphische Technik erscheint nicht von sich alleine einfach aus dem Nichts, folgt aber eben gerade deswegen implizit einem bestimmten Imperativ, nämlich dem, expansiv immer weitere Teile der Welt anzuschließen und so für den Weltmarkt verfügbar zu machen: »Die kolossale Ausdehnung der Verkehrsmittel – ozeanische Dampfschiffe, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Suezkanal – hat den Weltmarkt erst wirklich hergestellt« (MEW, Bd. 25: 506 Fußnote). Wäre es also zuviel interpretiert, bei Marx (und Engels) implizit ein vermittelndes Technik-Modell angelegt zu sehen? Eines, das weder einer ahistorischen Neutralität (Stalin), noch einer ahistorischen Omnipotenz (McLuhan) des technischen Mediums das Wort redet? Man könnte Marx und Engels genauso lesen: Eine Medientechnik wie der Telegraph hat massive Folgen für das soziale Gefüge, tritt aber keineswegs einfach von sich aus plötzlich auf, was bei McLuhan, der sich kaum für Fragen der Technikgenese interessiert, oft so erscheint. Vielmehr wird die Medientechnik überhaupt

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Telegraphie/Telephonie/Transport

➔ 15 Übertragung und Explosion

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oder in spezifischer Form oder in spezifischen Verwendungskontexten hervorgebracht und institutionell stabilisiert von spezifischen gesellschaftlichen Formationen: »Einmal entdeckt, kostet das Gesetz über die Abweichung der Magnetnadel im Wirkungskreise eines elektrischen Stroms oder über Erzeugung von Magnetismus im Eisen, um das ein elektrischer Strom kreist, keinen Deut. Aber zur Ausbeutung dieser Gesetze für Telegraphie usw. bedarf es eines sehr kostspieligen und weitläufigen Apparats.« (MEW, Bd. 23: 407/408)8

Dieser kostspielige und weitläufige Apparat – man beachte: die Strukturen, die aus einem beobachteten Effekt einen Apparat machen, werden selbst als Apparat bezeichnet – steht nach dem orthodoxen Marxismus nur der ›herrschenden Klasse‹, ergo ›der Bourgeoisie‹, zur Verfügung. Das Problem daran ist vor allem das Konzept der ›Bourgeoisie‹ – also einer irgendwie herrschenden Gruppe von Personen. Man muss derartige soziologistische und personalistische, auch bei Marx einerseits anzutreffende, Konzepte bezweifeln. Denn Marx beschreibt andererseits den Wert als grundlegende Bestimmung des Kapitalismus wie folgt: »Er geht beständig aus der einen Form in die andre über, ohne sich in dieser Bewegung zu verlieren, und verwandelt sich so in ein automatisches Subjekt« (MEW, Bd. 23: 168/169; Hervorheb. J. S.; vgl. Kurz 2004). Diese Bestimmung des Werts als unaufhörliche Selbstbewegung, welches womöglich Bourgeoisie und das so genannte Proletariat – wenn diese Begriffe von ›Klassen‹ heute überhaupt noch Sinn machen – als Effekte erst hervorbringt,9 beschrieben mit der maschinischen Metapher des ›automatischen Subjekts‹, legt nahe, Technik als so etwas wie materiell sedimentierte soziale Relationen zu betrachten. Das selbst automatische Subjekt des Werts erzeugt Automaten bzw. technologische Medien als fetischistische10 Verdinglichung seiner selbst: »Die Technologie enthüllt das aktive Verhalten des Menschen zur Natur, den unmittelbaren Produktionsprozeß seines Lebens, damit auch seiner gesellschaftlichen Lebensverhältnisse und der ihnen entquellenden geistigen Vorstellungen« (MEW, Bd. 23: 393 Fußnote). Marx schreibt ›enthüllt‹, womit aber zweifellos gemeint ist, »durch Analyse den irdischen Kern der religiösen Nebelbildungen zu finden« (ebd.). Dies bedeutet: Ohne Analyse tradiert jede Technologie fetischistisch-dinglich die sedimentierten Lebensverhältnisse und Vorstellungen, in dem sie zur ›zweiten Natur‹ verborgen werden – dies ist der Normalfall. Dann mutieren Techniken in fetischistischer Verkehrung zu Vorbildern der ›ersten Natur‹: So diente der Telegraph z.B. seit 1850 Hermann von Helmholtz als Muster und Metapher der menschlichen Wahrnehmung (vgl. Helmholtz 1850: 873; vgl. zu einer noch früheren Metaphorisierung dieser Art Siegert 1997). Bei den ›Lebensverhältnissen‹, die sich sedimentieren, geht es allerdings

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Jens Schröter

niemals um die einzelner Personen, sondern um die Metamorphosen des ›automatischen Subjekts‹, dem – um es mit einer Formulierung Marx’ aus einem ganz anderen Kontext zu sagen – »reine[n], rastlose[n] Kreisen in sich« (MEW, Bd. 40: 584). Statt also anekdotische Geschichten großer Erfinder zu schreiben, müsste man mit Marx fordern: »Eine kritische Geschichte der Technologie würde überhaupt nachweisen, wie wenig irgendeine Erfindung des 18. Jahrhunderts [und mithin auch jedes anderen, J. S.] einem einzelnen Individuum gehört« (MEW, Bd. 23: 393 Fußnote). Und ›gehört‹ meint hier mitnichten nur den ökonomischen Besitz, sondern vielmehr, dass Techniken keine Erfindungen von Personen, sondern Sedimente gesellschaftlicher Verhältnisse sind. Als solche Sedimentationen erlauben Techniken die Verhältnisse einerseits zu tradieren, wobei sie sie andererseits auch beschleunigen, verformen und damit potenziell destabilisieren können.11 Die Sedimentation kann nicht von vorneherein regulieren, ob die Techniken nicht unerwartete Effekte mit sich bringen. Ein konkretes Beispiel dafür ist die zunächst nicht mitbedachte und dann immer problematischer werdende Umweltzerstörung durch Ausweitung der industriellen Produktion, was wiederum die Etablierung neuer Techniken (z.B. Solarzellen oder Luftfilter) nach sich zog. Im Folgenden soll versucht werden diese Überlegungen am Beispiel des Telegraphen zu konkretisieren (zu dessen hier vollständig nicht präsentierbaren Geschichte, vgl. Fahie 1884 und Karras 1909). Die Implosion12 des Raums durch die Telegraphie – wie sie McLuhan unterstreicht – ist Folge der Explosion des Werts bzw. Kapitals als automatischem Subjekt, welches zugleich »die Kommunikationsmittel und den modernen Weltmarkt« (MEW, Bd. 3: 60) herstellt. Denn der »Weltmarkt bildet selbst die Basis dieser Produktionsweise« (MEW, Bd. 25: 345). Oder wie Engels in einer Weise, die die strukturelle Abhängigkeit der so genannten Bourgeoisie vom automatischen Subjekt offen legt, formuliert:

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Telegraphie/Telephonie/Transport

➔ 15 Übertragung und Explosion

»Die Bourgeoisie muß sich vollständig entwickeln, ihre Kapitalien täglich vermehren, die Produktionskosten ihrer Waren täglich erniedrigen, ihre Handelsverbindungen, ihre Märkte täglich ausdehnen, ihre Kommunikationen [!] täglich verbessern, um nicht zugrunde zu gehen. Die Konkurrenz auf dem Weltmarkt treibt sie dazu.« (MEW, Bd. 4: 56; Hervorheb. J. S.)

1823 erscheint in London eine kleine Schrift mit dem Titel Descriptions of an Electrical Telegraph, verfasst von einem gewissen Francis Ronalds. Dieser Text ist die erste Publikation über elektrische Telegraphen und galt zumindest noch 1884 als so komplett und instruktiv, dass ihm zugesprochen wurde als potenzielles Lehrbuch für Studierende zu taugen (Fahie 1884: 137/138). So landet man ganz schnell wieder bei der Erfinderlogik. Doch das Seltsame ist eben, dass Ronalds mit seinen Versuchen gar kein Erfolg beschieden war. Am

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11. Juli 1816 hatte er einen Brief an Lord Melville, den Chef der britischen Admiralität, geschrieben und sein System empfohlen. Doch am 5. August 1816 wurde das Ansinnen abschlägig beschieden. In dem Schreiben hieß es, »that telegraphs of any kind are now wholly unnecessary, and that no other than the one now in use will be adopted« (zit. nach Fahie 1884: 136). Die bisherigen optischen Telegraphensysteme, ursprünglich von Chappé im Zuge der französischen Revolution eingeführt (vgl. Karass 1909: 24-38), sollten also weiterverwendet werden. Fahie bemerkt dazu: »Had he [also Ronalds, J. S.] worked in the days of railways and joint-stock enterprise, there can be no doubt that […] he would have stood forth as the practical introducer of electric telegraphs; but he was a generation too soon, the world was not yet ready for him« (Fahie 1884: 137). Ronalds (oder jeder andere) wird mithin nicht von sich aus zum ›Erfinder‹ einer Technik, sondern die Bastelei als Technik erst dann operativ, wenn ›die Welt dafür bereit ist‹. In den hier vorgeschlagenen Termini gedeutet heißt das: Eine Apparatur muss eine Funktionsstelle im explosiven Entfaltungsprozess des automatischen Subjekts bekommen, um eine ›erfolgreiche‹ Technik zu werden. Fahie sagt explizit, wo sich Funktionsstellen für den Telegraphen auftaten: nämlich in der Ausweitung der Eisenbahn im Dienste des Personen- und vor allem Güterverkehrs; in der Ausbreitung von ›joint-stock enterprises‹, d.h. von Firmen im Besitz von Aktiengesellschaften, und schließlich mit der Ausbreitung der Presse. Gerade die Verbindung mit der Eisenbahn kann man auch bei Marx finden: »Das Hauptmittel zur Verkürzung der Zirkulationszeit [des Kapitals, J. S.] sind verbesserte Kommunikationen. […] Auf dem Lande ist die makadamisierte Straße durch die Eisenbahn, auf der See das langsame und unregelmäßige Segelschiff durch die rasche und regelmäßige Dampferlinie in den Hintergrund gedrängt worden, und der ganze Erdball wird umspannt von Telegraphendrähten.« (MEW, Bd. 25: 81)

Die verbesserten Kommunikationen führen also zur Beschleunigung der Zirkulation und somit zur so genannten »Saison, beruhe sie nun auf Periodizität der Schiffahrt günstiger Jahreszeiten oder auf der Mode, und die Plötzlichkeit großer und in kürzester Frist auszuführender Ordres. Die Gewohnheit der letztern dehnt sich mit Eisenbahnen und Telegraphie aus« (MEW, Bd. 23: 502). Immer wieder führt Marx Eisenbahn und Telegraphie – zwei Techniken der Übertragung – eng. Und in der Tat: Nachdem um 1825 die ersten Experimente mit Eisenbahnen durchgeführt worden waren, breitete sich bald der Personen- und Güterverkehr aus – damit aber auch der Eisenbahnunfall … 1838 formulierte Edward Davy, auch einer der vielen, die mit technischen Vorrichtungen herumbastelten, in einem Brief die Frage: »The point which now remains for consideration is, of what use will this electrical telegraph be? What are its applications? […] [W]hat inducements does it hold out to private

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adventurers to take it up as means of investing capital?« (zit. nach Fahie 1884: 405). Offenbar war das Potenzial der Telegraphie – aus heutiger Perspektive fast unbegreiflich – noch nicht klar, ihre Funktionsstelle im Gefüge noch nicht eingenommen, aber auf jeden Fall ist bereits vorausgesetzt, dass es eine solche in der Reproduktion des Kapitals einnehmen muss. Und etwas später liefert Davy nach, was mögliche Funktionsstellen des Telegraphen – explizit schon als »medium« (zit. nach Fahie 1884: 411) tituliert – sein könnten. Er spricht davon, dass die zahlreichen Unfälle der Eisenbahn dringend nach einer Lösung suchen. D.h. die neue Transporttechnik benötigt den Telegraphen zu seiner Stabilisierung, so wie der Telegraph durch sein Bündnis mit der Eisenbahn recht eigentlich erst Technik wird. Und dabei lautet letztlich immer wieder die Frage: »Whence will be the revenues to cover this expense [also die Ausgaben für die Einrichtung von Telegraphen, J. S.], and leave a profit?« (zit. nach Fahie 1884: 410). Unter der maßgeblichen Prämisse der Selbstreproduktion des automatischen Subjekts fand die Telegraphie schließlich ihren ›Systemplatz‹ (vgl. Kittler 1993: 178). Auf symptomatische Weise wird das in Thomas Alva Edisons Entwurf eines Telegraphen von 1869 deutlich, der gleichzeitig als ›Stockticker‹, also der Vermittlung der Börsendaten diente. Einer Biografie zufolge kristallisierte sich in Edison das Wissen um »die Abhängigkeit des Handels von der Telegrafie« (Schreier/Schreier 1987: 24). Genealogisch gesehen hat Deleuze mithin recht, wenn er mutmaßt: »Vielleicht sind die Kommunikation und das Wort verdorben. Sie sind völlig vom Geld durchdrungen: nicht zufällig, sondern ihrem Wesen nach« (1993: 252). Und was für die Telegraphie in ihrer Kopplung an den globalen Markt und die damit im 19. Jahrhundert (und bis heute) verbundene Transporttechnik der Eisenbahn gilt, lässt sich a fortiori für die Telefonie behaupten (obwohl sich diese zunächst eher regional ausbreitete und erst später zur globalen Kommunikationstechnik mutierte).13 Wieder stand am Anfang ein Feld aus konkurrierenden Basteleien. Und wieder bedurfte es einer neuen Expansion des automatischen Subjekts, um die Experimente in den Rang einer operativen Technik zu erheben – und das war, laut Winston, die Entstehung des modernen Konzerns in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (vgl. Winston 1998: 51-54). So wurde denn auch die erste Telefonleitung 1877 verlegt, um das Anwesen von Charles Williams Jr. in Sommerville mit seiner Fabrik in Boston zu verbinden. Überall müssen – wie Marx formuliert – Verbindungen errichtet werden, um das gesellschaftliche Feld an die Märkte anzubinden und zu kontrollieren. Die vielbeschworene Expansion des Weltmarkts kann ja nur funktionieren, wenn immer mehr Zeichen, Befehle und Waren an immer mehr Orte übertragen werden. In dieser Hinsicht wäre auch die heutige, buchstäblich explosive Ausbreitung des Handys zu verstehen, die die allzeitige Erreichbarkeit des Arbeitnehmers schon fast zur Pflicht machen. Ständig muss man darüber Auskunft

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geben (und sei es nur an Freund oder Freundin), wo man ist und was man tut. Und selbst wenn man keine Auskunft darüber geben wollte, so sind doch heute schon Handys leicht lokalisierbar. Das Handy abzustellen ist heute schon verdächtig. Mit Notebooks und Satellitennetzen werden auch die E-Mails der Firma an jedem Punkt der Welt und auf der Reise abrufbar. Alles und jede/r sollen jederzeit lokalisier-, kontrollier- und mobilisierbar sein. Um auf McLuhan zurückzukommen: Ausgerechnet im Kapitel über Telegraphie in Understanding Media vertrat er die bekannte These, dass immer »wenn es zu einem neuen Medium oder einer Ausweitung des Menschen kommt, […] dafür ein eigener neuer Mythos gegründet« (McLuhan 1994: 383) wird, was den vorsichtigen Schluss zulässt, dass der von ihm – 1964 – so emphatisch gegen Marx gewendete Telegraph die Quelle McLuhans eigener Mythologien ist. Und tatsächlich ordnet McLuhan dem Medium Telegraph einen eigenen Mythos zu – den der heldenhaften Krankenschwester Florence Nightingale, die vom Leiden telegraphisch erfuhr und deren Mildtätigkeit telegraphisch gepriesen wurde: »Das Elektrische verleiht der Stimme der Schwachen und Notleidenden kräftig Nachdruck […]. Die Tragweite ›menschlicher Anteilnahme‹ ist einfach die Unmittelbarkeit der Beteiligung an der Erfahrung anderer, die durch die sofortige Information gegeben ist« (ebd.: 386). Entgegen diesem kitschigen und zum Fernsehen seiner (und unserer) Zeit passenden Gerede McLuhans wusste man es schon im 19. Jahrhundert leider besser: »Die Eisenbahnen und Telegraphen sind ein politisches Machtmittel ersten Ranges […] zur Kräftigung der Exekutive und zur Vermehrung des Einflusses der Regierung. […] Gegenwärtig ist die telegraphische Meldung von der nächsten sichern Stelle und der telegraphische Befehl an die nächsten zuverlässigen Truppen Sache von […] Stunden, und es gelingt dadurch leichter, aufständische Erhebungen im Keim zu ersticken.« (Geistbeck 1895: 537)

Oder wie Marx – eben präziser als McLuhan – sagt: »Man könnte eine ganze Geschichte der Erfindungen seit 1830 schreiben, die bloß als Kriegsmittel des Kapitals wider Arbeiteremeuten [sic!] ins Leben traten« (MEW, Bd. 23: 459).14 Interessanterweise findet sich hier Kittlers These, dass technologische Medien zumeist als Kriegstechnologien entstanden, präfiguriert. Das gilt auch nach außen. So schreibt Marx andernorts zur englischen Kolonialpolitik in Indien: »Diese Einheit, durch das britische Schwert aufgezwungen, wird jetzt Kraft und Dauer erhalten durch den elektrischen Telegraphen« (MEW, Bd. 9: 221) – womit bewiesen wäre, dass selbst Harold Innis medientheoretische Ansätze in Empire and Communication (vgl. Innis 1950) zumindest einen Vorläufer in Marx haben.

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So ist der Telegraph weit entfernt davon, wie McLuhan behauptet, Einsatzpunkt des Versagens der Marx’schen Analyse zu sein. Vielmehr ist er gerade Ausgangspunkt der Mythologien McLuhan’scher Medientheorie, die in der Ausbreitung elektronischer Medien ja sehr explizit den Advent eines neuen Paradieses vermuten: »Das Streben unserer Zeit nach Ganzheit, Einfühlungsvermögen und Erlebnistiefe ist eine natürliche Begleiterscheinung der Technik der Elektrizität. […] Es liegt ein tiefer Glaube in dieser Haltung – ein Glaube, der auf eine schließliche Harmonie aller Kreatur gerichtet ist« (McLuhan 1994: 18). Diese Visionen beerben keineswegs ›marxistische Utopien‹, denn bekanntlich kritisierten zumindest Marx und Engels den utopischen Sozialismus im Namen der Wissenschaft, sondern sind ein anthropozentrischtechnokratisches Phantasma: McLuhan behauptet selbst, dass der Zweck seines Buches sei, »die Grenzen unserer in den Techniken ausgeweiteten Menschennatur« zu erforschen mit dem Ziel, »Einsicht in diese Formen zu bekommen, um sie planmäßig einsetzen zu können« (ebd., Hervorheb. J. S.). Da kollabiert letztlich die Differenz zwischen den 1964 ach so demonstrativ gegeneinander kämpfenden – und beide einer Marx’schen Kritik nicht gewachsenen – Systemen in West und Ost. Denn: ›Planmäßig‹ war nicht nur Herrschaftsjargon der Stalinisten, sondern ist auch ein immer wiederkehrendes Wort bei Marx und Engels. So schrieb letzterer: »Indem sich die Gesellschaft zur Herrin der sämtlichen Produktionsmittel macht, um sie gesellschaftlich planmäßig zu verwenden, vernichtet sie die bisherige Knechtung der Menschen unter ihre eignen Produktionsmittel« (MEW, Bd. 20: 273) – aus dieser Wurzel ging so manches Missverständnis hervor. Leicht vorstellbar, wie dieses Wort zum Repertoire von Entwicklungsdiktaturen werden konnte.

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➔ 15 Übertragung und Explosion

Am Ende – oder eigentlich schon ganz am Anfang – treffen sich ein verkürzter Marx (wie schon bei Engels oder gar Stalin) und McLuhan hinsichtlich der Vorstellung des menschlichen Primats über eine scheinbar geschichtslose Technik und blenden so beide die strukturale Ebene des fetischistischen Selbstzwecks des Werts bzw. Kapitals als automatischem Subjekt aus. Marx’ Frage: »Ist die Anschauung der Natur und der gesellschaftlichen Verhältnisse, die der griechischen Phantasie und daher der griechischen [Mythologie] zugrunde liegt, möglich mit Selfaktors und Eisenbahnen und Lokomotiven und elektrischen Telegraphen?« (MEW, Bd. 13: 641) sollte erweitert werden zu der Frage: Welche Anschauung der Natur und der gesellschaftlichen Verhältnisse entsteht, wenn man sie nur und allein auf den elektrischen Telegraphen und andere Medientechnologien zurückführt (McLuhans Mythologie der barmherzigen Florence Nightingale)? Müsste man dabei nicht die Frage nach der paradoxen implosiven Explosion des automatischen Subjekts stellen, die allererst verschrobene Basteleien zu weltverändernden Herrschaftstechno-

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logien transformiert? Denn »die Produktion wohlfeiler Transport- und Kommunikationsmittel [ist] Bedingung für die auf das Kapital gegründete Produktion und wird daher von ihm hergestellt« (Marx 1953: 423). Anmerkungen 1 Ist es nicht bezeichnend, dass McLuhans zentrale Unterscheidung in heiße vs. kalte Medien so sehr der Rhetorik des Kalten bzw. heißen Krieges nach 1945 ähnelt? Zu McLuhans sehr zum Kalten Krieg passender, teils polemischer Zurückweisung des ›Marxismus‹, vgl. Grosswiler (1998: 19-29). 2 Wenn nicht andere diesen Text zumindest mitverfasst haben. 3 Stalins Gleichsetzung von Sprache und Technik ist auch insofern problematisch, da Techniken kurzfristiger und daher künstlicher, aber auch massiver und stabiler erscheinen als Sprache. 4 Wenn die verschiedenen Ansätze hier einmal zusammengezogen werden dürfen. 5 So lautet nämlich, neben der bekannteren als »Ausweitung des Menschen« (1994: 15), eine Definition von Medien bei McLuhan, nach der diese die Aufgabe hätten, »zu speichern und zu übertragen« (ebd.: 98; vgl. ebd.: 517). 6 Die Begriffe ›Produktionskraft‹ und ›Produktivkraft‹ werden hier synonym verwendet. 7 Wie nun wiederum Friedrich Kittler (1993: 184) bezeichnenderweise in Bezug auf das »Röhrenradio, als drahtlose Telephonie« – also eine andere Weise ›Verbindungen herzustellen‹ – formuliert. Und noch bezeichnender ist, dass Kittler dieses Herbeiforschen mit dem »Brechen imperialer Kabelmonopole« (ebd.) in Verbindung bringt. 8 Damit spielt Marx auf die 1819 gemachte Entdeckung Hans-Christian Oerstedts an, dass elektrische Ströme Magnetfelder erzeugen. 9 Allerdings ist die Bedeutung des Begriffs des ›automatischen Subjekts‹ und die Frage, ob das Kapitalverhältnis dem Klassenverhältnis vorausgeht oder nicht, äußerst umstritten, vgl. z.B. Bonefeld (1997). Hier sollen nur die maschinellen Implikationen dieser Formulierung in Beziehung zu technologischen Medien gesetzt werden. Zum Zusammenhang von ›Wert‹ und ›Kapital‹ vgl. MEW, Bd. 23: 165-167: »Der ursprünglich vorgeschoßne Wert erhält sich daher nicht nur in der Zirkulation, sondern in ihr verändert er seine Wertgröße, setzt einen Mehrwert zu oder verwertet sich. Und diese Bewegung verwandelt ihn in Kapital. […] Die Zirkulation des Geldes als Kapital ist […] Selbstzweck, denn die Verwertung des Werts existiert nur innerhalb dieser stets erneuerten Bewegung. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos.«

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10 Vgl. dazu den Beitrag von Leander Scholz in diesem Band. 11 Zur Destabilisierung siehe meinen Beitrag zum Internet. 12 Neuere Autoren wie David Harvey reservieren hierfür den Terminus ›Kompression‹. 13 Vgl. zum Telefon generell die wichtige Aufsatzsammlung von Münker (2000). 14 Zu den guten Diensten, die die in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstehende Bildtelegraphie für die Polizei leisten kann, vgl. Korn (1927) – dort finden sich auch technische Details zu verschiedenen Verfahren der Bildtelegraphie. Literatur Bernal, J. D. (1979): »Electric Light and Power« [1953]. In: Mattelart, Armand/Siegelaub, Seth (Hg.), Communication and Class Struggle. 1. Capitalism, Imperialism, New York, Bagnolet, S. 231/232. Bonefeld, Werner (1997): »Das Kapital als Subjekt und die Existenz der Arbeit«. Wildcat-Zirkular 36/37, S. 55-91. Deleuze, Gilles (1993): »Kontrolle und Werden. Gespräch mit Antonio Negri«. In: ders., Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt/Main, S. 243-253. Fahie, John Joseph (1884): A History of Electric Telegraphy to the Year 1837, New York 1974 [Faksimile-Reprint]. Geistbeck, Michael (1895): Der Weltverkehr, Hildesheim 1986 [Faksimile-Reprint]. Grosswiler, Paul (1998): Method is the Message. Rethinking McLuhan through Critical Theory, Montreal, New York, London. Habermas, Jürgen (1969): Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹, Frankfurt/Main. Helmholtz, Hermann (1850): »Über die Methoden, kleinste Zeittheile zu messen, und ihre Anwendung für physiologische Zwecke«. In: ders., Wissenschaftliche Abhandlungen, 1882-1895, Bd. 2, Leipzig, S. 862-880. Innis, Harold (1950): Empire and Communications, Oxford. Karras, Theodor (1909): Geschichte der Telegraphie, Braunschweig. Kittler, Friedrich (1993): »Geschichte der Kommunikationsmedien«. In: Huber, Jörg/Müller, Alois (Hg.), Raum und Verfahren, Basel, S. 169-188. Korn, Arthur (1927): Die Bildtelegraphie im Dienste der Polizei, Graz. Kurz, Robert (2004): »Subjektlose Herrschaft. Zur Überwindung einer verkürzten Gesellschaftskritik«. In: ders., Blutige Vernunft. Essays zur emanzipatorischen Kritik der kapitalistischen Moderne und ihrer westlichen Werte, Bad Honnef, S. 153-221. Marx, Karl (1953): Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf) 1857-1858, Berlin.

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➔ 15 Übertragung und Explosion

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McLuhan, Marshall (1994): Die magischen Kanäle, Dresden. Münker, Stefan (2000): Das Telefonbuch. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Telefons, Frankfurt/Main. Schreier, Wolfgang/Schreier, Hella (1987): Thomas Alva Edison, Leipzig. Siegert, Bernhard (1997): »Kant, Sömmerring und die Ästhetik Des Dings. Paralogische Anfangsgründe der Signaltechnologie«. Weimarer Beiträge 43/1, S. 89-98. Stalin, Joseph (1972): Marxismus und Fragen der Sprachwissenschaft. Und über die Entstehung der Sprache, München. Winkler, Hartmut (2000): »Die prekäre Rolle der Technik«. In: Heller, Heinz B. et al. (Hg.), Über Bilder sprechen. Positionen und Perspektiven der Medienwissenschaft, Marburg, S. 9-22. Winston, Brian (1998): Media Technology and Society. A History: From the Telegraph to the Internet, New York.

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➔ Medien nach Marx

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) T06_00 RESP medien nach marx.p 116966861402

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) vak 216.p 116966861410

Klaus Kreimeier



16 Marxistische Kino- und Filmtheorien

Klaus Kreimeier »Ist Achilles möglich mit Pulver und Blei? Oder überhaupt die Iliade mit der Druckerpresse, und gar Druckmaschine?« Karl Marx

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➔ 16 Marxistische Kino- und Filmtheorien

»Der Sinn bedeutet die (politische) Herrschaft einer Klasse über eine arbeitende Klasse.« Jean-Joseph Goux Marxistische Theorie definierte sich stets als radikale, wissenschaftlich begründete, keine Kompromisse mit der ›bürgerlichen Ideologie‹ duldende Alternative in einer feindlichen (kapitalistischen) Welt und stand gleichzeitig, in den europäischen Klassenkämpfen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und vor allem nach dem Sieg des Faschismus in Italien, Spanien und Deutschland, mit dem Rücken zur Wand. In den ›realsozialistischen‹ (stalinistischen) Gesellschaften des vergangenen Jahrhunderts diente sie in ihrer petrifizierten Form als Staatsreligion, Herrschaftsdoktrin und Repressionsinstrument. Aus dieser Abnutzungs- und Perversionsgeschichte resultieren grundlegende Probleme für jeden Versuch, sie als emanzipatorische Theorie unter den Bedingungen des globalisierten Kapitalismus aufs neue zu aktivieren. Die Menschheit stellt sich immer nur Aufgaben, die sie lösen kann (Karl Marx): dies gilt auch für eine Wiederbelebung des Marxismus im 21. Jahrhundert. Ein Versuch, über ›die Medien‹ oder ›den Film‹ (abermals) ›im Licht‹ der Marx’schen Theorien nachzudenken, kann die realen Finsternisse und die im Namen des Marxismus aufgehäuften Trümmerberge nicht ignorieren, auf die der Engel der Geschichte erschrocken zurückblickt, während ihn der Sturm des Fortschritts nach vorn, auf die neuen Schlachtfelder und Schädelstätten der neoliberalen Globalisierung reißt. Vier Vorbemerkungen sind unerlässlich, um das Unternehmen einer Erneuerung marxistischer Theorie nicht von vornherein einer Beliebigkeit zu überantworten, die entweder historischer Unkenntnis oder theoretischer Bedenkenlosigkeit geschuldet wäre. Erste Vorbemerkung: Marxismus als Gesellschaftstheorie Wer sich mit dem Marxismus beschäftigt, um ihn für ein Teilgebiet der wissenschaftlichen Welterkenntnis ›operationalisierbar‹ zu machen, steht sofort einem fundamentalen Problem gegenüber. Die vor allem in den drei Bänden des Kapital niedergelegte politische Ökonomie von Marx und Engels entfaltet eine umfassende Gesellschaftsanalyse und Gesellschaftstheorie, die sich

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nicht nur die Beschreibung eines Befunds, sondern seine historische Überwindung zum Ziel setzt. Die deskriptive (analytische) Energie der Texte ist von ihrem normativen Furor nicht zu trennen, mehr noch: sie unterwirft sich ihm, denn die allumfassende Analyse der antagonistischen Widersprüche in der kapitalistischen Gesellschaft dient im Marx’schen Denken allein dem Ziel, das ›revolutionäre Subjekt‹ mit den Waffen auszurüsten, die es benötigt, um die von veralteten Produktionsverhältnissen gefesselten Produktivkräfte zu befreien und eine neue ›Ordnung der Dinge‹ zu errichten. Daraus folgt: Auch der Neo-Neo-Marxist des 21. Jahrhunderts entgeht nicht der Totalität, genauer: dem totalisierenden Zugriff marxistischer Theorie – zumal dann nicht, wenn er sich ausdrücklich vornimmt, den Kapitalismus im Stadium seiner schrankenlosen Globalisierung, der Liberalisierung der Märkte, der weitgehenden Deregulierung der gesellschaftlichen Beziehungen, der Marginalisierung des Politischen und der Medialisierung des Alltags zu verstehen. Er muss sich entscheiden: für die Renovierung eines wissenschaftlichen Teilgebiets, zum Beispiel der Medien- oder Filmwissenschaft, mit Hilfe einer Relektüre der marxistischen Theorie – oder für die in eben dieser Theorie unhintergehbar angelegte Konsequenz, die analytische Arbeit auf einem Teilgebiet als Beitrag zum Verständnis des gesellschaftlichen Ganzen zu begreifen und im Prozess des Durchdringens einer ›falschen Totalität‹ zu ihrer (revolutionären) Überwindung fortzuschreiten. Verweigert er sich dieser Konsequenz, bastelt er möglicherweise an einem interessanten Anbau im Schrebergarten der ebenso fröhlichen wie folgenlosen Wissenschaft, nur muss er sich dann fragen lassen: Warum ausgerechnet marxistische Theorie? Zweite Vorbemerkung: Marxismus und allgemeine Emanzipation Sollte sich der Neo-Marxist von heute, nach Strukturalismus, Post-Strukturalismus und Postmoderne, mit aller Ernsthaftigkeit auf den revolutionären Anspruch seines Gegenstands einlassen, holt ihn freilich alsbald die Geschichte ein – als Geisterbahn. Er sieht sich in eine Ruinenlandschaft versetzt, in der ihm, in Gestalt grimassierender Ungeheuer, altbekannte historische Paradigmen begegnen. Das aggressivste Ungeheuer ist eine Art Krake, die mit ihren Fangarmen nach ihm greift: das Paradigma des historischen und dialektischen Materialismus, die ›Philosophie der Praxis‹, die sich ihm als ›Anwendung‹ marxistischer Theorie auf die ›realen‹ und ›konkreten‹ gesellschaftlich-politischen Widersprüche zu erkennen gibt und bedingungslosen Gehorsam fordert. Im Kopf der Krake haust die Widerspiegelungstheorie, an ihren Fangarmen sitzen Saugnäpfe, die streng nach der Hierarchie der historischdialektisch-materialistischen Ordnung von Haupt- und Nebenwiderspruch, Ökonomie, Politik und Ideologie funktionieren. Medienwissenschaft, Filmtheorie? Unterabteilungen der Ideologie. Die Frage lautet allein: bürgerliche

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Klaus Kreimeier

oder proletarische Ideologie? Die Entscheidung für das Proletariat erheischt die Unterordnung unter die politische Führung durch das Proletariat; wer für die Revolution optiert, begibt sich, will er nicht als Einzelkämpfer belächelt werden, unter das Kommando der revolutionären Partei. Mit anderen Worten: der neo-marxistische Intellektuelle des 21. Jahrhunderts sieht sich von Gespenstern umzingelt. Sie mögen ihm klapprig, hohlwangig und vertrocknet erscheinen, aber es wäre naiv, darüber hinwegzusehen, dass diese Monstren, als sie noch über Macht geboten, nicht nur Millionen Menschenleben gefordert, sondern auch die Existenz und die Moral intellektueller Eliten zerrüttet, ihre wissenschaftliche oder künstlerische Arbeit korrumpiert, ihre theoretischen Anstrengungen aufgezehrt und ihre analytischen Fähigkeiten vernichtet haben. Es wird noch am historischen Beispiel zu zeigen sein, dass gerade eine Film- und Kinotheorie, die am entschlossensten die Denkbewegungen des Marxismus aufnimmt und in der ›Umsetzung‹ seiner Kategorien am konsequentesten voranschreitet, am Ende geradezu dafür disponiert ist, sich ihrer intellektuellen Autonomie zu entäußern und unter dem Kommando einer (stets nur imaginierten) ›politischen Führung‹ ihren Geist aufzugeben.1 Groß ist die Versuchung, gegen eine furchtbar gescheiterte Praxis die Theorie in Schutz zu nehmen: Sie, die grundlegend die Idee einer allgemeinen Emanzipation der Menschheit formuliert hat, kann, ja darf nicht haftbar gemacht werden für die Zerstörungen, die zwar in ihrem Namen, aber entgegen ihrer humanen Intention angerichtet wurden. Das Fatale ist, dass solches Räsonnieren nur neuen Dogmenstreit gebiert. Es wäre nicht nur halbherzig und unredlich, sondern auch schizophren, die Gründe für das Scheitern der ›konkreten Utopie‹ allein in ihrer Konkretisierung zu suchen – und nicht auch im utopischen Entwurf selbst, seiner intellektuellen Konstruktion und seiner theoretischen Maschinerie. Dennoch: Wer über dem Marxismus die Grabplatte schließen will, stiehlt sich aus einer noch nicht ausgestandenen Affäre. Verschüttet unter der Klassenanalyse von Marx und Engels und ihrem Dogma vom unausweichlichen Sieg des Proletariats über die Bourgeoisie liegt die in der Tat noch immer ›systemsprengende‹ Idee, dass die Freiheit jedes einzelnen eine Bedingung der Freiheit aller anderen Gesellschaftsglieder sei und der Kampf gegen ökonomische Ausbeutung und soziale Entrechtung nur ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur allgemeinen Emanzipation des Menschen als Gattungswesen. Unter den Bedingungen der Globalisierung ist diese ›marxistische‹ Grundposition nicht nur von ungeminderter Aktualität; es ist vielmehr an der Zeit, wieder an sie zu erinnern und die Wissenschaften darauf hin zu befragen, welchen Beitrag sie für ihre Wiederbelebung zu leisten imstande sind.

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➔ 16 Marxistische Kino- und Filmtheorien

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Kino/Film

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Dritte Vorbemerkung: Marxismus und Globalisierung Eine marxistische Theorie der Globalisierung ist weit und breit nicht in Sicht. Einen Grund dafür sehen Michael Hardt und Antonio Negri, avancierte Erforscher des globalisierten ›Empires‹, in den »fehlenden Bänden« des Kapital (Hardt/Negri 2002: 246); ihrer Ansicht nach blieben die (geplanten) Bände zum Staat und zum Weltmarkt ungeschrieben und sind nur in Notizen und Skizzen überliefert. Eine moderne marxistische Theorie irrlichtert also im leeren Raum und weiß nicht so recht, wo in den Marx’schen Konvoluten sie ihre Anker auswerfen soll. Dabei sind die Voraussetzungen im Grunde glänzend: »Im Niedergang des Nationalstaats wird das Verhältnis von Staat und Kapital im eigentlichen Sinn vollständig realisiert. […] Wenn man dem Geist der Marx’schen Methode folgend seine Einsichten zum Staat und zum Weltmarkt zusammenbringt, wäre der Versuch zu machen, eine revolutionäre Kritik des Empire zu schreiben.« (Ebd.: 248)

Und: »Der Klassenkampf treibt den Nationalstaat in Richtung seiner Abschaffung, überschreitet so die von ihm aufgerichteten Grenzen und zwingt dergestalt Analyse und Konflikt gleichermaßen auf das Niveau der Konstitution des Empire. Ohne diese Grenzen ist der Ausgang des Kampfes völlig offen. Kapital und Arbeit stehen sich direkt antagonistisch gegenüber. Das ist die Grundvoraussetzung jeder politischen Theorie des Kommunismus.« (Hardt/ Negri 2002: 248f.)

Einerseits, so könnte man sagen, ist der für die Theorie äußerst glückliche Umstand eingetreten, dass sich das Marx’sche Konzept von der Entwicklung der Widersprüche im Weltmaßstab erfüllt hat und vom Prozess der Globalisierung sogar in zugespitzter Form bestätigt wird. Andererseits stellt der Theoretiker von heute zu seiner Betrübnis fest, dass Marx und die ›Klassiker‹ gerade für die Phase der Zuspitzung der Antagonismen, mithin für die offensichtlich bevorstehende Entscheidungsschlacht, ein verfeinertes, zudem für die Bedingungen des 21. Jahrhunderts praktikables Analyse-Instrumentarium nicht geliefert haben. Ein neuer Anlauf tut not. Den verdienstvollen Büchern von Hardt und Negri ist zu bescheinigen, dass sie mit ihren Zentralbegriffen des ›Empire‹ und der ›Multitude‹ (Hardt/Negri 2004) Instrumente bereitgestellt haben, die (besonders auch im Interesse einer Theorie, der es um die emanzipatorischen Qualitäten des marxistischen Gedankengebäudes geht) theoriefähig sind, politisch jedoch (noch) nicht praktikabel. Diese unausgegorene Gesamtlage bringt auch den Spezialwissenschaftler, der sein Fachgebiet nicht nur um einen ›marxistischen Denkansatz‹ bereichern, sondern den Lauf der Dinge in der wirklichen Welt verändern will, in

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eine ungemütliche Situation. Wie denkt man ›marxistisch‹ über die technischen Medien, über Film und Kino nach, ohne sein Nachdenken ›erden‹, an reale gesellschaftliche Kräfte und Bewegungen ankoppeln und damit Boden unter den Füßen gewinnen zu können? Vielleicht ist ja das ganze Unterfangen für die Katz – für jene berühmte Katze, die man zwar in einen Sack stecken und nach Hause tragen kann, von der man jedoch nicht weiß, ob sie auch Mäuse fängt.

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Vierte Vorbemerkung: Marxismus und Filmtheorie Eine ›marxistische Filmtheorie‹ wäre im Zeitalter der elektronischen Globalisierung und des Computers reine Schildbürgerei, verstünde sie sich nicht explizit als Beitrag zu einer Theorie des weltumspannenden audiovisuellen Medienuniversums, in dessen Rahmen der Film als Einzelmedium und das Kino als Rezeptionsort innerhalb der ökonomischen Verwertungskette zwar noch eine begrenzte Rolle spielen, kulturell jedoch zunehmend marginalisiert werden. Mit anderen Worten: Filmtheorie, als spezialisierte Disziplin, ist längst obsolet. Hinzu kommt: Der Kapitalismus hat alle Anstrengungen, die Medien des 20. Jahrhunderts ›kritisch‹, ›aufklärerisch‹, gar ›marxistisch‹ auf den Begriff zu bringen, überholt – teils hat er sie gnadenlos ignoriert, teils hat er sie im Dienst der Profitmaximierung seinen Strategien listig einverleibt. Im Folgenden wird daher nicht zuletzt von einer Geschichte des Scheiterns die Rede sein. Theoretiker nehmen in der Regel die Unfälle nicht zur Kenntnis, die sie in der Welt der Ideen produzieren: Sie vermessen auf ihre Weise die Wirklichkeit – und lasten es ihr allein an, wenn sie mit den Messdaten nicht übereinstimmt. Auf den folgenden Seiten wird anders verfahren: Es wird, an wenigen exemplarischen Beispielen, nach den Fehlern und Unfällen der (marxistischen) Theorie gefragt, desgleichen nach ihren ›operationalisierbaren‹, möglicherweise auch für die Gegenwart nützlichen Einsichten. Eine Geschichte der marxistischen Filmtheorie ist nicht intendiert, nicht einmal ein ›Überblick‹. Die Arbeiten Sergej M. Eisensteins, Dziga Vertovs, Lev Kuleschovs, Wsewolod Pudovkins sowie der russischen Formalisten zur Ästhetik des Films sind längst in den allgemeinen Theoriediskurs eingegangen sowie vielfach publiziert und kommentiert worden2 – an ihre Pionierfunktion kann hier nur erinnert werden. Dies gilt auch für die Texte so unterschiedlicher Autoren wie Hans Richter und Béla Balázs, die aus der Auseinandersetzung mit der Produktionswirklichkeit des ›bürgerlichen‹ Kinos entstanden sind und vor 1933 einer ›progressiven‹, mit dem Sozialismus sympathisierenden Theorieströmung zuzuordnen waren. Ebenso wird die institutionalisierte, weitgehend unter politischer Kontrolle betriebene Theoriearbeit in den ehemaligen ›realsozialistischen‹ Ländern nicht berücksichtigt. Die folgende Auswahl ist einseitig und subjektiv, aber nicht willkürlich.

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Sie verschiebt den Blickpunkt bewusst in das neuere, nach dem Ende der Stalin-Ära und des ›Schdanowismus‹3 entstandene Theoriefeld und legt den Akzent auf Ansätze der ›Neuen Linken‹ in Frankreich und Italien. Mit einem Text von Guido Aristarco sowie dem Konzept der Gruppe »Cinéthique« werden zwei extrem entgegengesetzte Modelle marxistischer Theoriebildung vorgestellt; in einem weiteren Schritt soll ein Rekurs auf die Gruppe »Tel Quel« an ein Theoriedesign erinnern, das auch für die medientheoretische Reflexion unter den Bedingungen der gegenwärtigen Umbrüche hilfreich sein könnte. Vor allem in Frankreich schuf das vitale Interesse an einer Erneuerung marxistischen Denkens im Kontext der westeuropäischen Studentenbewegung die Voraussetzungen sowohl für originelle, genuin emanzipatorische Denkmodelle als auch für die Ankopplung der klassischen Filmtheorie an die Anforderungen eines erweiterten, von neuen Medien bestimmten audiovisuellen Medienensembles. Zu prüfen ist somit, ob und in welchem Grade die hier vorgestellten Modelle den Voraussetzungen gerecht geworden sind. 1965: Guido Aristarco Erst 1981 erschien eine deutsche Ausgabe des programmatischen Textes Marx, il cinema e la critica del film, den Guido Aristarco, Begründer und Chefredakteur der Zeitschrift Cinema novo, 1965 als Einleitung zu seinem Buch Il dissolvimento della regione veröffentlicht hatte: dem deutschen Herausgeber Klaus Eder zufolge ein konsequenter Ansatz »zu einer materialistischen Ästhetik des Kinos« (Aristarco 1981: 5; im Folgenden werden die Zitate lediglich mit den Seitenzahlen nachgewiesen). Das Referenzfeld des Autors ist die Ästhetik von Georg Lukács, der auch als Verfasser des Vorworts auftritt und, seiner relativen Ferne zum Gegenstand ungeachtet, der Überzeugung Ausdruck gibt, »daß die relevantesten sozialen und ästhetischen Probleme, die mit der kinematographischen Kunst verbunden sind, in ihrer Gesamtheit auch von jemandem begriffen werden können, der sie von einem abstrakten Gesichtspunkt aus betrachtet« (7) Lukács’ marxistischem Verständnis zufolge ist das Besondere nur eine Erscheinungsform des Allgemeinen – die Welt mit ihrer Fülle des Konkreten wirft alle Schleier ab, sobald sich der Blick der Abstraktion, will sagen: der materialistischen Analyse auf sie richtet. Das Kino »in der Hand des Großkapitals« reduziert sich für Lukács auf das »Problem der Manipulation« sowie auf das Primat des Technischen, dessen Funktion darin bestehe, »vom menschlichen und gesellschaftlichen Gehalt der Manipulation abzulenken« (8). Dem spezifischen Deduktionismus der Ästhetik von Lukács, besonders seinem apodiktischen Realismusbegriff, bleibt auch der Theorieapparat Aristarcos verpflichtet. Die US-amerikanische Filmindustrie ist für ihn ein erdrückender Beweis für die These, dass »die herrschenden Gedanken die Gedan-

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ken der herrschenden Klasse« seien: »Hollywood, das über die Mittel der materiellen Produktion verfügt, verfügt damit auch über die Mittel der geistigen Produktion und herrscht als Produzent von Gedanken, deren Verbreitung es regelt« (19). Erstaunlicherweise enthält sich Aristarco jedoch einer umfassenden Analyse des Kinos als eines Teilsystems der kapitalistischen Bewusstseinsproduktion; statt dessen wendet er sich, mit dem Gestus der traditionellen Filmgeschichtsschreibung, einzelnen Filmen und ihren Regisseuren zu. Und obwohl er sich ausdrücklich auf Antonio Gramsci beruft, der die Bedeutung des Massenerfolgs kultureller Produkte hervorgehoben hat, lässt Aristarco auch dieses Kriterium fallen, um sich fast ausschließlich und ganz im bildungsbürgerlichen Rededuktus an den »Meisterwerken« (21) der Filmgeschichte zu orientieren und ihren »kulturellen Stellenwert«, ihre »Tendenz« zu untersuchen. Ihn interessieren die »nonkonformistischen« Werke vor allem der zeitgenössischen italienischen Filmproduktion, und um sie zu demystifizieren und gleichzeitig in ein übersichtliches Ordnungsschema zu bringen, schlägt er vor, die »von Marx und Engels erwähnten falschen (reformistischen und konservativen) Formen von Sozialismus in Erinnerung zu rufen« (28). Auf diesem Wege, d.h. mit Hilfe einer mechanischen Analogiekonstruktion, führt er in das italienische Kino eine »fatalistische«, eine »humanitäre« und eine »philanthropische Schule« ein; er findet in den Filmen des späten 20. Jahrhunderts den »kleinbürgerlichen Sozialismus«, den »konservativen oder BourgeoisSozialismus« und den »kritisch-utopischen Sozialismus« (28f.) aus den ideologischen Kämpfen des 19. Jahrhunderts wieder, um am Ende zu fragen: »Welche westlichen Filme beziehen sich nun auf den historischen Materialismus?« (30). Soweit Aristarco auch seinen Blick schweifen lässt: es finden sich keine. Gewiss: es gibt Leuchttürme, »Meisterwerke« des Übergangs, deren Autoren, in den Worten des Kommunistischen Manifests, »zum theoretischen Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung sich hinaufgearbeitet haben« (31). Aristarco rechnet ihnen Viscontis La terra trema, Kubricks Paths of Glory sowie das Gesamtwerk von Chaplin zu, ohne freilich diese Präferenzen näher zu begründen, geschweige denn, sie aus den Beurteilungskriterien des historischen Materialismus abzuleiten. Etwas überraschend tauchen in diesem Zusammenhang am Ende seines Essays auch die Brüder Paolo und Vittorio Taviani auf, deren Filmen eine »Rückkehr zur Ironie« (82) und die Vorzüge einer »offenen Erzählweise« mit ihren »Ellipsen« und »Sprüngen« (83) attestiert wird: mithin Attribute avancierter, um 1965 jedoch etablierter ästhetischer Verfahrensweisen, die sich längst im ›bürgerlichen‹ Literatur- und Kunstsystem bewährt haben. Immer wieder bezieht sich Aristarco auf Georg Lukács’ Widerspiegelungstheorie und seinen Begriff des »Typischen«. »Typisch« bedeute nicht »positi-

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ver Held«, im Gegenteil: »Es bedeutet in jedem Fall Widersprüchlichkeit und Probleme im Innern des Menschen«. »In diesem Sinne« fordert er die engagierten italienischen Regisseure auf, »vom Neorealismus zum Realismus, von der ›Chronik‹ zur ›Geschichte‹ überzugehen: nicht als ›Programm‹, das den Regisseuren verordnet wird oder verordnet werden soll, sondern eben als Aufforderung« (40). Die post-stalinistische reservatio mentalis in dieser Formulierung ist schwerlich zu überhören: Es ist nicht allzu lange her, dass auch Aristarcos Mentor Lukács noch im Geist eines Apparats geschrieben hat, der Verordnungen bevorzugte, wenn die Aufforderung allein nicht Früchte trug. Zwar grenzt Aristarco sich – und Lukács – gegen die »illustrierende Literatur der Stalinzeit« entschieden ab: »grobe Manipulation der Gegenwart«, »stets durch die jeweiligen Beschlüsse des Apparats dem Inhalt und der Form nach bestimmt« (38). Doch unfreiwillig liefert er einen Fingerzeig auf seinen eigenen krypto-stalinistischen Idealismus, wenn er dem Film Die Rückkehr des Wassili Bortnikow lobend nachsagt, er habe »direkt einige Resolutionen des XX. Parteitags« vorweggenommen (45). Es ist die Semantik, die hier das Prinzip stalinistischer Parteidisziplin noch in der Phase der Auflösung des stalinistischen ›Personenkults‹ triumphieren lässt. Auf die Materialität, die technischen Implikationen des Mediums geht Aristarco nur ein, um in der Debatte zwischen Lukács und Umberto Barbaro seinen Mentor gegen den Vorwurf in Schutz zu nehmen, er habe das Technische »nach dem Vorbild des philosophischen Idealismus« unterbewertet, anstatt seine Aufmerksamkeit gerade darauf zu richten, dass die Technik des Films der modernen Ästhetik »Anforderungen und Anstöße« geliefert habe, »um aus der Sackgasse der idealistischen Kunstphilosophie herauszukommen« (43). Dabei trifft Barbaros Kritik ein zentrales Dilemma der Kunstdoktrin von Lukács: sein idealistisches Unverständnis für das Material und den operativen Prozess der Produktion. Eine Geringschätzung, die im Ideenhimmel des Bürgertums beheimatet ist, mit der Verordnungsstrenge und dem Rigorismus einer als ›marxistisch‹ deklarierten Ästhetik sich jedoch mühelos zu einer unheiligen Allianz verbindet. Aristarco schlüpft ohne Schwierigkeiten in die klapprige Rüstung, die ihm Lukács zur Verfügung stellt. Er will zwar, mit jenem schönen Marx-Wort, gegen die »Nebelbildungen im Gehirn der Menschen« (71) zu Felde ziehen und deren Verwurzelung im Reich der Materie, der gesellschaftlichen Arbeit, der Produktion kenntlich machen. Doch allenfalls gelingt ihm eine Programmschrift, die gegen den »Pessimismus«, die »Düsternis«, die »Verzweiflung«, die »Skepsis« (45f.) der bürgerlichen Avantgarde im Allgemeinen und der italienischen Filmavantgarde im Besonderen so etwas wie einen »›optimistischen‹ Realismus« (64) mobilisieren will. Die avancierten italienischen Regisseure seien dem Mystizismus (Fellini), dem Symbolismus und der Neigung zum Emblematischen (Antonioni), dem

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Irrationalismus (der späte Visconti) oder einem platten Verismus (Zavattini und De Sica) verfallen (55): Bis in die Formulierungen hinein hat sich die kritisch-polemische Semantik Aristarcos vom Shdanowismus, von der stalinistischen Kunstdiktatur, nur wenig emanzipiert. Und das zuvor dementierte Postulat des »positiven Helden« verschafft sich erneut Geltung, wenn sich Aristarco mit Antonionis schwierigstem Film, Il grido, befasst: hier werde »der Arbeiter nicht als wirklicher und konkreter, als im Sinn von Marx und Engels typischer Arbeiter beschrieben«; in ihm verschwinde

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»das positive Element, das er als reifer Vertreter seiner Klasse in der ihm selbst entfremdeten Arbeit sieht: das heißt das Bewußtsein, daß die Produktionsmittel ihm nicht gehören, daß der Gegenstand, den er produziert, das Produkt seiner eigenen Arbeit, ihm als fremde Sache, als unabhängige Macht entgegentritt.« (67f.)

In der Tat wäre an einem erweiterten (gleichzeitig vom Marx’schen Klassenfetischismus entschlackten) Entfremdungsbegriff anzusetzen, wollte man das emanzipatorische Potenzial marxistischer Theorie für die Analyse des Kapitalismus im Stadium der Globalisierung zurückgewinnen und für eine Umwälzung der Wissenschaft von den technischen Medien in Anschlag bringen. Entfremdung hat, über den Bereich der materiellen Arbeit hinaus und jenseits der historischen Figur des enteigneten Proletariers, unter neoliberaler Herrschaft längst alle Felder der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion erfasst. Guido Aristarco hat einen überraschend scharfen Blick für die »Überschwemmung« des modernen Menschen durch die Zumutungen der »Objektivität«, für »dieses Meer der Objektivität«, für »die Unfähigkeit des Menschen, die Geschichte zu machen, die er zu erleiden gezwungen ist« (75). In selbstverordneter Unmündigkeit beugt sich der soziale Prototypus der Gegenwart, ob ›Kapitalist‹ oder ›Proletarier‹, der Diktatur des Markts und seiner als Naturgesetz propagierten Alternativlosigkeit. Eine Gegenstrategie kann sich allerdings nicht mit Appellatorik begnügen, auch nicht mit einem ›marxistischen‹ Erlösungsprogramm, wie es Aristarco gegen Ende seines Textes formuliert: »Die wahre Überwindung der idealistischen Philosophie wird mehr als durch jeden anderen vergangenen und gegenwärtigen Materialismus durch den historischen und dialektischen Materialismus vollzogen […], durch den praktischen Umsturz der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse, aus denen diese idealistischen ›Flausen‹ hervorgegangen sind.« (78f.)

Solcher Verbalradikalismus verfehlte freilich nicht seine Wirkung – zumal auf das liberale Feuilleton und die ›progressive‹ westeuropäische Filmkritik der 60er und 70er Jahre. Er erwies sich als nützlich für die Selbstradikalisierung

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einer Generation linker Autoren, die das Privileg genossen, im ›bürgerlichen Kulturbetrieb‹ ihrer Entfremdung inne zu werden und sie gleichzeitig auszuleben – weitgehend risikolos, aber auch ohne bemerkenswerte Folgen. 1969-1972: Cinéthique Die französische Theoriegruppe »Cinéthique« brach wenige Jahre später, im Kontext des Pariser Mai 1968, mit ihrer gleichnamigen Zeitschrift4 auf, um Positionen wie die Aristarcos als »subjektiven« und »objektiven Idealismus« zu geißeln. In ihrem polemisch-analytischen Diskurs, den sie selbst als einen »Prozeß der Selbstkritik und Umgestaltung« (Beatrix Schumacher u.a. 1973: 88; die im Fließtext folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diesen Band) bezeichnete, setzte sich die Gruppe vor allem mit der führenden französischen Filmzeitschrift, den Cahiers du Cinéma, mit der Autorengruppe »Tel Quel« (auf die noch zurückzukommen sein wird) sowie mit der kultur- und filmpolitischen Linie der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF) auseinander. Parallel zur Theoriearbeit versuchte »Cinéthique«, als ein treibender Faktor der dynamischen Umbruchprozesse innerhalb der linken französischen Filmszene nach dem Mai 68, mit der Organisation von Filmvorführungen eine ›politische Praxis‹ zu entwickeln. Mit der Gründung der »Gruppe Dziga Vertov« gelang es ihr vorübergehend, Jean-Luc Godard als prominenten Bündnispartner für ihre Theoriearbeit und ihre politischen Zielsetzungen zu gewinnen. Was die Gruppe zu jener Zeit mit Godard, aber auch mit zahlreichen anderen Intellektuellen der französischen und westeuropäischen ›Neuen Linken‹ verband, war die Faszination durch die ›Mao Tse-tung-Ideen‹, die, unter dem Eindruck der ›Kulturrevolution‹ in der Volksrepublik China, als produktive Erweiterung der marxistischen Philosophie im Sinne einer permanenten Mobilität (und Mobilisierung) der revolutionären Kräfte und des revolutionären Denkens auf jeweils ›höherer Stufe‹ des fortschreitenden Klassenkampfes begriffen wurden. Auf dieser Basis wurde den ›erstarrten‹, in ihrer politischen Praxis ›verbürgerlichten‹ Kräften der Linken, besonders den ›revisionistischen‹ Parteien wie der KPF, ein ›unversöhnlicher‹ Kampf angesagt. Nur vor dem Hintergrund der permanenten ideologischen Kriegsführung, in deren Schützengräben sich Gruppen wie »Cinéthique« verschanzt hatten, sind die Lehrsätze zu verstehen, der sie theoretische Arbeit und praktisches Handeln, Kunst und Wissenschaft, Filmproduktion und filmwissenschaftliche Reflexion subsumierten: »Seit seinem Beginn […] begreift der Marxismus die revolutionäre künstlerische Praxis immer schon in ihrer Einheit mit der revolutionären politischen Praxis. ›Einheit‹ als ein dialektisch-materialistischer Begriff bezeichnet hier nicht die Überlagerung der künst-

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lerischen durch die politische Praxis, sondern die notwendige Interdependenz beider unter der Führung der Praxis, die für die Veränderung der historischen Wirklichkeit wesentlich ist: der revolutionären politischen Praxis. […] Deshalb hat die marxistische Überlieferung […] immer die Notwendigkeit betont, daß die Schriftsteller und Künstler, die zu Revolutionären werden wollen, ihre Weltanschauung verändern und revolutionieren müssen: gerade auch außerhalb ihrer spezifischen Praxis. Dieser langwierige Pro-

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zeß beruht auf einer wirklichen Verbindung mit den kämpfenden Massen, die auf der Grundlage des Studiums und der lebendigen Anwendung des Marxismus-Leninismus und der Mao Tse-tung-Ideen entsteht; das heißt: auf der Grundlage eines Studiums und seiner Anwendung, worin sich die wirklichen Widersprüche in ihrer ständigen Entwicklung und Veränderung widerspiegeln.« (167, Hervorhebungen im Original)

Eine Kritik am Phänomen »Cinéthique« (wie überhaupt am westeuropäischen Maoismus der frühen 70er Jahre) verfehlte ihren Gegenstand, würde sie ihm, wie oft geschehen, eine voluntaristische, letztlich religionsförmige Gläubigkeit unterstellen. Der tatsächliche Voluntarismus und die offensichtliche Wirklichkeitsferne des Denkens resultierten vielmehr aus einer Überanstrengung und gewaltsamen Überdeterminierung marxistischer Theoriebildung: einer im klassischen Marxismus bereits angelegten dynamischen Forcierung orthodoxer Positionen, die, unter permanenter Beschwörung der dialektischen Methode, realiter deren Außerkraftsetzung betrieb. Die Aporien, die aus solchem Theorie-Rigorismus erwachsen, können nur durch verstärkte Axiomatik (auf philosophischer Ebene) und eine zunehmende Entschlossenheit zur Selbstsuggestion (auf psychologischer Ebene) beschwichtigt werden. Um zu einer marxistischen Filmtheorie zu gelangen, setzt sich »Cinéthique« mit der vor allem von Lenin (in Materialismus und Empiriokritizismus und in den Philosophischen Heften) entwickelten Abbildtheorie auseinander, als deren Kern wiederum die bereits von Lukács zum Dogma erklärte Widerspiegelungstheorie fungiert. Wenn das Denken Lenin zufolge »ein Zustand der Materie« sei, könne man »auch allgemein sagen, daß das Abbild ein Zustand der Materie ist« (51). Das Abbild sei »untrennbar mit der Praxis verbunden, die es hervorbringt«. Da es nicht statisch, sondern dynamisch und ebenso komplex wie die Wirklichkeit sei, müsse das Abbild ebenso wie der Vorgang der Widerspiegelung prozesshaft verstanden werden: »›Widerspiegelungsprozeß‹ und die ›wirklichen Prozesse‹ sind von einander unterschieden, auch wenn sie den gleichen dialektischen Gesetzen der Determinierung und Überdeterminierung gehorchen« (52). Mit den Begriffen ›Determinierung‹ und ›Überdeterminierung‹ wird die materialistische Theorie festgezurrt: Während Idealismus und Revisionismus von der »Besonderheit des Abbilds der künstlerischen Tätigkeit« ausgehen und es in einer bloßen »Parallelität« zu den anderen (politischen, wissenschaftlichen, philosophischen) Abbildern definieren, ist das künstlerische Abbild »nach der materialistischen Definition

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[…] durch seinen notwendigen, dialektischen Zusammenhang mit den anderen Abbildformen bestimmt, wobei das politische Abbild das beherrschende ist.« Aus dieser Interpretation der Abbild- und Widerspiegelungstheorie folgt für »Cinéthique« notwendigerweise, dass Filme unter bürgerlicher Klassenherrschaft sensu stricto Produkte bürgerlicher Politik sein müssen: Als Bildmedien sind sie den künstlerischen Abbildern zuzuordnen, die von den politischen Abbildern (Strukturen, Institutionen) der herrschenden Klasse determiniert werden. Das Kino, seine Produkte und Einrichtungen sind der Ökonomie und dem ideologischen Kampf (der Bourgeoisie) »eingeschrieben« (60). Innerhalb des ideologischen Apparats bilden sie einen Teilapparat, dem zwei Funktionen obliegen: Er hat »die Bedingungen seiner eigenen Reproduktion zu reproduzieren« und »teilzunehmen an der Reproduktion der Bedingungen zur Erhaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse«. Filmische Praxis entwickelt sich »ganz notwendig« innerhalb des Staatsapparats. Überraschenderweise spielt die Filmindustrie als ökonomischer Komplex für die Analysen von »Cinéthique« nur eine geringe Rolle. 1968 hatte sich die gesamte französische Film-Linke auf die Macht des staatlichen »Centre National de la Cinématographie« (CNC) eingeschossen, und es schien plausibel, das CNC als ein »Unterensemble des kulturellen Staatsapparats« (59) zu definieren – nicht anders als das staatliche Radio und Fernsehen, institutionalisiert in der ORTF. Das Filmwesen wie der ganze »Rest des audiovisuellen Schauspiels« seien »den Interessen der herrschenden Klasse untergeordnet«, auch wenn einige »Randprogramme« ein »Mythos von Unabhängigkeit« (60) umgebe. Über diese sehr allgemeinen Aussagen zum Verhältnis von Film, Ideologie und Staatsapparat gelangt »Cinéthique« im Wesentlichen nicht hinaus. In der Argumentationsstrategie der Gruppe reichen sie auch vollkommen aus, um von dieser Position einerseits das Feuer auf die Kultur- und Filmpolitik der ›revisionistischen‹ Kommunistischen Partei zu richten, andererseits die Notwendigkeit eines »revolutionären politischen Apparats« (118) zu beschwören. Die KPF ergehe sich in »kaum noch reformistischen Betrachtungen« (96), sie rede nicht mehr von den gesellschaftlichen Klassen und überlasse die »Transformation der ideologischen Apparate« den »Professionellen, Regisseuren, Technikern, Schriftstellern sämtlicher Strömungen«, also dem bürgerlichen Spezialistentum (97). Die in diesem Zusammenhang auffallende Fixierung auf den ›Apparat‹ ist keinesfalls nur eine intellektualistische Marotte von »Cinéthique«, sondern der Tradition der Bolschewiki und dem Konzept des ›führenden Kerns‹ in der Kommunistischen Partei Chinas unter Mao Tse-tung geschuldet; letztlich geht sie zurück auf den Organisationsfetischismus von Karl Marx in der Zeit der Auseinandersetzung des »Bundes der Kommunisten« mit anderen Strömungen der frühen europäischen Arbeiterbewegung. Theoretisch wird sie

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von »Cinéthique« folgendermaßen begründet: »Obwohl der ideologische Kampf notwendigerweise über die Sprache stattfindet, stützt er sich doch in der Hauptsache auf die Apparate; es gibt außerdem keine Sprache ohne ideologischen Apparat (und Sprache läßt sich bekanntlich nicht auf gesprochene Sprache reduzieren) – jeder Diskurs findet in einem Apparat statt […]« (115). In diesem Kontext macht sich die Gruppe über die Strukturalisten lustig: Es wäre »komisch« zu behaupten, die ideologischen Apparate des Staates »seien wie eine Sprache strukturiert«. »Cinéthique« bleibt nicht auf halbem Wege stehen: Da man selbst im politischen Zusammenhang Filme vorführt (überwiegend Werke Dziga Vertovs sowie drei Filme von Godard: Pravda, Vent d’Est und Luttes en Italie) und darüber hinaus die Produktion eigener Filme in Angriff nimmt, ist eine Fundierung ästhetischer Theorie im Dienst einer revolutionären Filmpraxis zwangsläufig der nächste Schritt. Auch hier findet Theoriemodellierung in der marxistisch bewährten Methode der kritisch-polemischen Abgrenzung gegenüber anderen, ›falschen‹ Modellen statt. Im Kontext der Auseinandersetzung mit der Autorengruppe »Tel Quel« nimmt sich die Gruppe den von der französischen Linken viel beachteten Film Méditerranée von Jean-Daniel Pollet und Philippe Sollers vor, dem auch »Cinéthique« in einer frühen Phase eine Vorbildfunktion bescheinigt hatte. Méditerranée, ein Film ohne Handlung, ohne den Gestus der Sinnkonstruktion nach den etablierten fiktionalen oder non-fiktionalen Modellen, ohne die Logik des Linearen und ohne jede raum-zeitliche Kontinuität, besteht, so »Cinéthique«, »aus der Zerstörung filmischer Mechanismen, die in der Mehrzahl der Filme den Einsatz, die Zirkulation und die erweiterte Reproduktion der bürgerlichen Ideologie regeln. Indem er diese Mechanismen aktiv negiert, versucht er das idealistische System der Repräsentation zu dekonstruieren« (141). Dadurch werde die »Gewohnheit des Zuschauers […], signifiés außerhalb der Wirkung der signifiants zu suchen«, verunsichert; Erzählung und Darstellung werden »als Mittel der Wiedergabe einer Gegenwart dekonstruiert«, mit ihnen schwinden alle Stützen einer »metaphysischen Kontinuität«. Schließlich: »Die Schaffung einer unendlichen Bedeutung löst das zur Interpretation einer Botschaft bestimmte Subjekt auf und reiht es als ein signifiant unter anderen in die Kette der signifiants ein«. Nicht länger, so heißt es an anderer Stelle, verdrängen die Bilder und Töne »die Materialität ihrer Aufzeichnung« (113), sie riskieren vielmehr einen »Bruch«, der den Film gegen die Ideologien abschirmt, »die die Zeichen (die Körper, Gesichter) durchdringen möchten« (114). Dieser Bruch heiße Materialismus. Bei nochmaliger Prüfung hält dieser »Bruch« jedoch einer kritischen Analyse nicht mehr stand; er bricht, als Bruch, sozusagen unter dem unerbittlichen Auge des revolutionären Proletariats in sich selbst zusammen. Er markiert nur die »Widersprüche […] im Innern der bürgerlichen Ideologie, selbst

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wenn er durch den Widerhall des Klassenkampfs in der künstlerischen Praxis provoziert wurde; und er ist erst dann zu etwas nütze, wenn er in eine Fortentwicklung der künstlerischen Praxis zu einer Filmpraxis des Proletariats (als der führenden Klasse der sozialistischen Revolution) einbezogen wird« (114). Noch deutlicher, ein paar Seiten weiter: »Gegen den sogenannten materialistischen Film. Das heißt dagegen, daß die Art, wie sich der Materialismus dem Film einschreibt, auf ein jeu signifiant reduziert wird, das keinerlei Befehle von der Politik bekommen hat, sondern diese nach einer von Kristeva systematisierten Logik des signifiant repräsentiert.« (121)

Dieser direkte Angriff auf Julia Kristeva und »Tel Quel« lässt die Katze, die nach der Vorstellung der Revolutionäre Mäuse fangen soll, aus dem Sack. Aus den Anstrengungen der materialistischen Analyse katapultiert sich die marxistische Filmtheorie und -praxis kopfüber in die Kommandostruktur der marxistisch-leninistischen Partei, wo sie stramm stehen und auf die »Befehle« der kämpfenden Arbeiterklasse oder vielmehr ihrer Stellvertreter warten soll. Ausführlich beschäftigt sich »Cinéthique« mit einem Inkunabelwerk der frühen europäischen Filmavantgarde, Luis Buñuels und Salvador Dalís L’Âge d’Or. Der Text intendiert eine umfassende Demythisierung des leidenschaftlich umstrittenen, in Frankreich jahrzehntelang verbotenen Films, doch der Versuch, seine ›Botschaft‹ im marxistischen Sinne vom Kopf auf die Füße zu stellen und seinen (bürgerlichen) Klassencharakter herauszuarbeiten, bleibt an der Oberfläche der Inhaltsanalyse, verharrt unter Vernachlässigung der formalen Aspekte auf der Ebene der signifiés. Im Zentrum der Polemik von »Cinéthique« steht der Vorwurf, die Auflehnung des Helden in L’Âge d’Or richte sich gegen den Vater, nicht gegen die Bourgeoisie als politische und ökonomische Klasse: »Wenn es stimmt, daß sich die Bourgeoisie hinter der ideologischen Figur des Vaters als Mittelpunkt verbirgt (Eckpfeiler der heiligen bürgerlichen Familie), dann stimmt auch die Behauptung, daß die Auflehnung gegen den Vater, die den Vaterkult einfach nur umgekehrt beinhaltet, diesen in seiner Rolle bestätigt (ihn nicht von einem anderen Standpunkt betrachtet) und die Bourgeoisie, die sich dahinter, darunter, verbirgt, nicht angreift.« (152)

Man mag dieser lecture zustimmen oder nicht: In jedem Fall ist ihr eine bemerkenswerte Zahnlosigkeit zu bescheinigen, die dem scholastischen Argumentationsmuster und dem Dogmatismus der ihr zugrunde liegenden Widerspiegelungstheorie zugeschrieben werden muss – letztlich Ausdruck eines

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Theorieverzichts, der sich mit Binärcodierungen (ja-nein, proletarisch-bürgerlich) begnügt. Immerhin muss »Cinéthique« dem Umstand Rechnung tragen, dass L’Âge d’Or von der französischen Bourgeoisie geächtet und von der staatlichen Zensur verboten wurde. Jenseits der Inhaltsanalyse wird dem Film konzediert, dass er »durch [seine] Zersetzungstätigkeit das Echo der auf der geschichtlichen Szenerie auftretenden und die Herrschaft der Bourgeoisie ernsthaft bedrohenden Massen in die düsteren Kinos der Bourgeoisie« getragen habe (158). Die intellektuelle Avantgarde, die den Film noch Jahrzehnte später feiert, könne »ein potentieller Bündnispartner des Proletariats« werden, »aber bei ihrem momentanen Stand ist sie es noch nicht«. Im Zusammenhang mit den Filmen Godards versucht »Cinéthique«, den Begriff, aber auch das Verfahren der Filmmontage aus der marxistischen Lehre von der Dialektik der Widersprüche abzuleiten. Montage bilde »den grundlegenden spezifischen [d.h. filmsprachlichen] Code zur Entwicklung der Widersprüche, die dann die Bewegung der Begriffe erzeugen« (189). Im Innern des Films organisiert sie vom proletarischen Standpunkt aus »den Kampf gegen die bürgerliche Ideologie«. Ihr Material bilden die »unspezifischen« (außer-kinematographischen) Codes, »die als einzelne, Einstellung für Einstellung betrachtet, nicht den Begriff der Realität hervorbringen, wie er durch die Montage zustande kommt«. Um diesen Begriff zu kreieren, setzt die Montage die Einstellungen »in ein Verhältnis, die so konstruiert sind, daß sie an einem Prozeß teilnehmen können, der sich bis zur Begrifflichkeit erhebt«. Diese Definition orientiert sich deutlich am Montagekonzept Eisensteins, findet jedoch erst mit der folgenden Anweisung ihre ›revolutionäre‹ Legitimation:

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»Jede codierte Einstellung (Produktionsverhältnis, Familie, Sexualität usw.) muß also so komponiert sein, daß sie die ihr von der Montage zugewiesene Funktion nicht überschreiten kann; durch diese Montage wird sie in eine Ordnung überführt, die selbst in jeder Phase des Films durch die Veränderungen des Diskurses und durch die tiefere Einsicht in die Beziehungen, die diese Veränderungen untereinander verbinden, bestimmt wird […].« (Ebd.)

Bei »Cinéthique«, so scheint es, ist man der festen Überzeugung, dass der Filmautor mit Hilfe der Komposition jeder einzelnen Einstellung und ihrer Zuordnung durch die Montage nicht nur den filmischen Diskurs bis in die Details der Mikrostruktur hinein steuern, sondern auch das Verständnis des Rezipienten gleichsam widerstandslos formen und zu »tieferer Einsicht« führen kann: ein theoretischer Ansatz, der die einzelne filmische Einstellung nicht als inkommensurable Entität, sondern als feste Größe behandelt. Die Polyva-

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lenzen des Materials werden nicht wahrgenommen; dort, wo sie nicht zu übersehen sind, werden sie schlicht geleugnet. Gerade hier, im Zentrum der »spezifischen«, d.h. filmischen Codes, zeigt sich, dass die ›marxistisch-leninistischen‹ Theoriemodelle in der Tat genuin marxistisch sind: In der buchstabengetreuen »Anwendung« des Dogmas vom Klassenantagonismus nicht nur auf die ideologische Sphäre im allgemeinen, nicht nur auf die Bedingungen kultureller Produktion und ihre »Apparate«, sondern auch auf die Struktur des ästhetischen Produkts und jede einzelne Entscheidung im ästhetischen Mikrobereich lässt sich die Gruppe »Cinéthique«, prinzipienfest wie sie ist, vom marxistischen Determinismus nicht abbringen. Zugleich freilich wird das dialektische Prinzip stillgestellt, wird der materialistische Anspruch marxistischen Denkens der Willkür, mithin einer idealistischen Haltung ausgeliefert. Über die Frage der spezifischen und unspezifischen Codes im Film entfesselt die Gruppe einen Disput mit Christian Metz, der seit den frühen 60er Jahren an einer linguistisch und semiologisch orientierten Theorie des Films arbeitet und von »Cinéthique« zwar als bürgerlicher Spezialist eingeschätzt wird, dessen Arbeiten »dem Kommando einer positivistischen Ideologie« (197) unterworfen seien, der jedoch Fragen stelle, »von denen sich einige mit unseren decken«, und zu »Teilantworten« gelangt sei, »die, verändert und innerhalb einer marxistischen Perspektive, die revolutionäre Filmtheorie und Filmpraxis vorantreiben können«. Mit Metz ist man sich zum Beispiel darin einig, dass in jedem Film zwischen den kinematographischen und außerkinematographischen Codes ein »Kräfteverhältnis« walte; allerdings müsse auch von einem »Verhältnis zwischen einem herrschenden und einem beherrschten Element« und von einem »determinierenden Einfluß« der Elemente (209) gesprochen werden. »Cinéthique« erstrebt, durchaus im Metz’schen Sinne, einen »politischen Film neuen Typus« – nur dass dem Semiologen dabei eher ein »Film der Destruktion« wie Méditerranée vorschwebt, während es der Autorengruppe um den »marxistisch-leninistischen politischen Film« geht: »Nur eine den Interessen der herrschenden Klasse entgegengesetzte politische Linie benötigt für ihre Vertretung im Film die Erfindung neuer spezifischer Sub-Codes. Sicherlich können die revolutionären politischen Filme nur eine teilweise Transformation alter kinematographisher Codes bewirken, aber hier ist ein wirklicher Widerspruch zu bemerken; bei den nichtrevolutionären militanten Filmen gibt es keinen echten Widerspruch zwischen ihrer politischen Linie und ihrer kinematographischen Traditionalität.« (211)

Wie geht man also als entschiedener Revolutionär mit dem positivistischen

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Metz um? Man könne sich nicht, soviel ist klar, mit einem einfachen »Umschreiben« (215) seiner Begriffe begnügen, also dort »Klassenkampf« einsetzen, wo Metz von »Kultur« oder »Epoche« spricht. Doch allzu weit entfernt von solchem Pragmatismus sind die Autoren von »Cinéthique« keineswegs. Mit einigem Recht werfen ihnen ihre deutschen Herausgeber in ihrer Einführung vor:

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»Niemals wird […] die zentrale Kategorie des Codes kritisiert, die ja selbst als technische, formale Kategorie niemals eine wesentliche Bestimmung dessen, was Film in seiner bestimmten gesellschaftlichen Produziertheit ist, abgeben kann. Und für ›Cinéthique‹ ist es typisch, wenn dann die fehlenden inhaltlichen Bestimmungen adjektivistisch eingeholt werden sollen. Aber ein ›bürgerlich‹ oder ›proletarisch‹ kann dem ›Code‹ nicht den Inhalt geben, der ihm als formaler Kategorie abgeht.« (12)

Metz selbst geht mitteilsam und mit gebotener Nachdenklichkeit auf die von »Cinéthique« eröffnete Diskussion ein und beschließt sie mit einer differenzierten These: »Es gibt keinen Zweifel darüber, daß die Filmgeschichte, wie die Geschichte aller Dinge – unter anderem also auch der Differenzierungsprozeß der spezifisch kinematographischen Sub-Codes – zu einem beträchtlichen Teil mit den Klassenkämpfen verknüpft ist. […] Aber sobald es sich um ein kulturelles und nicht mehr allein um ein Unterbauprojekt handelt, gibt es auch psychoanalytische Bestimmungen: diese könnten ihrerseits einer Geschichte eingeschrieben sein, die der ersten weder fremd noch mit ihr vermengt zu sein bräuchte. Und schließlich gibt es noch die relative Autonomie, die den sprachlichen Gegebenheiten und den textuellen Instanzen eigen ist (und damit eine dritte Geschichte, die mit den beiden ersten komplexe Beziehungen unterhält).« (220f.)

1968: Tel Quel Den Begriff der »relativen Autonomie« (des künstlerischen Subjekts, der Zeichensysteme und der kulturellen »Instanzen«) konnte »Cinéthique« nur als Provokation auffassen. Um ihn hatte sich, sinngemäß, der ideologische Streit gedreht, den die Gruppe mit »Tel Quel« vom Zaun gebrochen und mit der Läuterung und Selbstreinigung zur marxistisch-leninistischen Avantgarde hinter sich gelassen hatte. Auch »Tel Quel«, eine Gruppe linker, an Marxismus, Linguistik, Strukturalismus und Psychoanalyse interessierter Autoren, der u.a. Jacques Derrida, Jean-Louis Baudry (er verbündete sich zeitweilig mit »Cinéthique«), Julia Kristeva und Philippe Sollers angehörten, hatte sich im Umfeld des Pariser Mai 1968 gebildet, nachdem Louis Althusser vorgeschla-

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gen hatte, Marx neu zu lesen, d.h. die marxistische Widerspiegelungstheorie, das Basis-Überbau-Schema und das Theorem von der ökonomischen Determiniertheit aller sozialen Phänomene kritisch zu überprüfen. »Tel Quel« insistierte darauf, das Gesamtsystem der bürgerlichen Ideologie als ein Ensemble von Sprach-, Text- und Zeichensystemen zu analysieren und, gleichsam flankierend zu den ökonomischen und politischen Kämpfen, dieses Gesamtsystem anzugreifen, um zu seiner Überwindung beizutragen. Der von »Tel Quel« entwickelte Textbegriff wurde, ebenso wie Derridas kritische Methode der Dekonstruktion und die spätere Apparatustheorie von Jean-Louis Baudry, in Frankreich sehr bald auf kinematographische Kontexte und Probleme der Filmtheorie angewandt; nicht nur »Cinéthique«, auch die Cahiers du Cinéma haben sich mit diesen Ansätzen intensiv befasst. Die keineswegs widerspruchsfreie Wirkungsgeschichte von »Tel Quel« im Bereich der Film- und Medientheorie (vgl. Brunette/Wills 1994; Rodowick 1988) ist bis heute nicht abgeschlossen; allerdings hat es den Anschein, als hätten sich die um 1970 so relevanten marxistischen Theorieanteile in der Rezeption der folgenden Jahrzehnte merkwürdig schnell verflüchtigt. Die Arbeiten der Gruppe erschienen im Verlag Le Seuil; erste deutsche Übersetzungen veröffentlichte die Zeitschrift alternative; einen Sammelband mit Texten von Baudry, Jean-Joseph Goux, Marcelin Pleynet, Jean-Louis Houdebine, Kristeva und Sollers brachte 1971 der Kindler Verlag heraus (Tel Quel 1971). Die folgenden Zitate entstammen diesem Band: dem Aufsatz Schreiben und gesellschaftliche Veränderung von Philippe Sollers und, vor allem, dem Artikel Marx und die Inschrift der Arbeit von Jean-Joseph Goux. Zum Textbegriff von »Tel Quel« findet sich eine programmatische Äußerung von Sollers: »Unter ›Texten‹ verstehen wir im weitesten Sinn alle Kulturprodukte, die sich in die grundlegenden Mythen dieser [i.e. kapitalistischen] Gesellschaften investieren lassen: Bibliotheken, Konservatorien, Museen, Institutionen und ähnliche Kulturreservate dienen als Basis für die Inszenierung einer ›Formengeschichte‹, die eine bestimmte, von der herrschenden Klasse festgelegte Funktion zu erfüllen hat.« (Tel Quel 1971: 185f.)

Die Legitimität dieses ›erweiterten‹ Textbegriffs war in den folgenden Jahrzehnten Gegenstand einer kontroversen kulturwissenschaftlichen Diskussion, die vernachlässigt werden kann, wenn man dem Anspruch von »Tel Quel«, Elemente einer materialistischen Kulturtheorie oder, im modernen Verständnis, einer materialistischen Medientheorie zu entwickeln, Priorität einräumt. Mit anderen Worten: Die ›Texte‹, die heute zur Inszenierung der »Formengeschichte« im Medienuniversum des globalisierten Kapitalismus zusammenschießen, sind zu einem beträchtlichen Teil analoge oder digitale

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Bilder und Bildsequenzen, audiovisuelle Produkte oder Produkt-Ensembles auf unterschiedlichsten Trägern und medialen Plattformen. Auch der Zeichenbegriff streift seine oftmals changierenden Konnotationen ab, wenn man ihn in ein materialistisches Theorie-Umfeld stellt und, mit Jean-Joseph Goux, der These folgt, »daß das Zeichen (wie jedes Produkt) auch einen Gebrauchswert hat, einen von der Geschichte verkannten, schweigend übergangenen Gebrauchswert« (Tel Quel 1971: 86). Ausdrücklich plädiert Goux für einen ›erweiterten‹ Zeichenbegriff: »Der Gebrauch von Zeichen ist natürlich nicht nur auf die Linguistik beschränkt: Gesten, Zeichnungen, Signale, ›Symptome‹ irgendwelcher Gegenstände schließlich – der Begriff Zeichengebrauch ist möglichst weit zu fassen« (89). Macht man sich die Produziertheit der Zeichen bewusst, so öffnet sich die Wahrnehmung für ihren Gebrauchswert als »Lebensmittel«, ebenso dafür, dass das Zeichen »›auf einem Umweg‹ als Produktionsmittel dient«. Es entfaltet sich hier, im Bereich der Zeichen, die Dialektik von Produkt und Werkzeug: »Wie aber ein Produkt das Mittel zur Produktion anderer Produkte ist […], so bilden die Zeichen (Ganzheiten von Zeichen oder Teile davon) die Mittel zur Produktion anderer Zeichen (anderer Zeichenkombinationen).« Auf das Untersuchungsfeld der Filmwissenschaft übertragen: Filmbilder generieren andere Filmbilder, Filme fungieren als »Mittel« zur Produktion filmischer Genres, die Filmindustrie als Zeichensystem funktioniert als gigantische Fabrikhalle für die Zeichensysteme der Fernseh-, Video- und DVD-Industrie. Der »schweigend übergangene Gebrauchswert« ist hier die motorische Energie, die Bilder, Bildmedien und Bildmedien-Systeme zu Gliedern in einer nicht abreißenden, sich immer weiter ausdifferenzierenden Verwertungskette macht. Die »Verkennung« dieses Gebrauchswerts der Zeichen schreibt Goux, hierin strikt Marx folgend, ihrem Tauschwert zu, der die »Verschleierung ihres produktiven Werts« (87) betreibt: die Unkenntlichmachung der in den Zeichen materialisierten Arbeit »oder des Spiels der Zeichen mit anderen Zeichen«. Der »operative Wert« der Zeichen (der Arbeit, der Technik und Kombinatorik, die in ihnen stecken) zielen auf Sinnproduktion. Doch gerade dieser »operative Wert« wird »ausgelöscht« durch den »transparenten Warencharakter des Sinns«. Der Sinn-Begriff ist eine zentrale Kategorie in den Texten von »Tel Quel«. Im Anschluss an Freud und Jean-Louis Baudry spricht Sollers von der »Ideologie des Sprechakts« und meint, »daß der Sinn, weit entfernt, ›erster‹, ursprünglicher Sinn« zu sein, »etwas Abgeleitetes ist«, ein »Resultat, das durch das System einer Sprache kaschiert wird, die in das gesprochene und dann in das ›geschriebene‹ Wort eingebracht wird« (187). Sollers’ Kernthese lautet, dass der Sinn im Sprachprozess (wie auch im gesamten medialen Produktionsprozess) »genau die Rolle spielt, die das Geld in der Warenproduktion

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spielte« (und bis auf weiteres spielen wird). Ausdrücklich wendet sich Sollers gegen Missverständnisse: Man solle sich nicht etwa jeglichen Sinns »entschlagen«, sondern mit Hilfe der Marx’schen Lehre von Gebrauchs- und Tauschwert »den Prozeß seines Produziertwerdens« analysieren, um zu einer haltbaren Theorie der Sinnproduktion unter den Bedingungen des Kapitalismus zu gelangen. Der Sinn ist also eine zwiespältige, genauer: gespaltene Angelegenheit. Das signifié, das Signifikat gerät unter Generalverdacht. Kategorisch formuliert Jean-Joseph Goux: »Die Opposition zwischen Signifikant und Signifikat ist nichts anderes […] als diese ›Spaltung‹ zwischen Gebrauchswert und Tauschwert« (87). Die These ist nicht unproblematisch, da sie mechanisch den Gebrauchswert dem Produktionsprozess und den Tauschwert der Sinnsphäre – oder vielmehr der Zirkulationssphäre, in der erst der Sinn gestiftet werden soll – zuordnet. Dabei wird ja, hält man sich an Marx, bereits der (kapitalistische) Produktionsprozess vom Tauschwertcharakter der zu produzierenden Waren determiniert. Wenn bereits das Industrieprodukt notwendigerweise von seinem Status als Ware ›kontaminiert‹ ist, so gilt dies auch für die Produktion von Signifikanten, also von Zeichen und Zeichenkombinationen als Bedeutungsträgern. In der Medienindustrie bedeutet dies, dass dem »operativen Wert« eines filmischen Bildes der kapitalistische »Sinn«, nämlich der Warencharakter eines verkäuflichen Films, eines den Publikumserwartungen entsprechenden Genres, eines auf dem Markt operierenden Studios – kurzum: einer marktkompatiblen ›Sprache‹ gleichsam a priori übergestülpt wird. So entsteht ein Gespensterreich, das Karl Marx für die Welt der industriellen Produktion präzis analysiert hat. Goux macht nun den Vorschlag, die »gespenstige Gegenständlichkeit« (Marx) verausgabter Arbeitskraft »auch auf dem Feld der Sprache« (also der Medien) zu untersuchen: »eben in Gestalt des alle Unterschiede auslöschenden Sinns« (88). Es geht darum, zu verstehen, dass die Medienprodukte (wiederum in den Worten von Marx) »eine von ihrer sinnlich verschiedenen Gebrauchsgegenständlichkeit getrennte, gesellschaftliche Wertgegenständlichkeit« erhalten. Konkret: Filmbilder werden, ganz unabhängig von ihrem jeweiligen »operativen Wert«, von einem vorgegebenen »Sinn« (›Unterhaltung‹, ›Suspense‹, genrespezifische Erwartungen, marktkonforme Anschlüsse an die ›Macht der Gefühle‹) absorbiert. Wie im linguistischen Zeichensystem das »Laut- oder Schreibmaterial«, so fungieren die Zeichen in den audiovisuellen Systemen der Medienindustrie als »bloße Signifikanten eines ihnen äußerlichen, sie transzendierenden Sinns«, der stets auf die Logik des Geldes hinausläuft (91). Sie verlieren dabei ihren »operativen Charakter« als Produktionsmittel und ihren »Charakter als erzeugtes Produkt« – oder, mit Alexander Kluge gesprochen, sie verlieren ihre Befähigung, ja ihre ursprüngliche Bestimmung zur »Eigensinnigkeit«:

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ihre Bestimmung, einen anderen »Sinn« zu generieren als den immer gleichen der kapitalistischen Warenzirkulation. Als Kronzeugen dieser kulturellen Enteignung zitiert Jean-Joseph Goux niemand anderen als Saussure: Das Material, mit dem die Zeichen produziert werden, sei »gänzlich gleichgültig«, es berühre »das System« nicht – »ob ich die Buchstaben weiß oder schwarz schreibe, vertieft oder erhöht, mit einer Feder oder einem Meißel, das ist für ihre Bedeutung gleichgültig« (93). Für Goux ist dies »der springende Punkt«: »Die Spur der Arbeit ist, als Erzeuger des Gebrauchswerts, aus der Sphäre des Sinns getilgt.« Was Saussure als ›bürgerlicher Spezialist‹ einer von ihm als ›wertfrei‹ verstandenen Sprachwissenschaft formuliert hat, muss sich der materialistischen Analyse als Problem darstellen. Die Zirkulationssphäre »übersetzt das Unübersetzbare«, schreibt Goux (100) mit Bezug auf Derrida; wie im ökonomischen Bereich, wo es um Kauf und Verkauf von Arbeitskraft, um die Übersetzung von Arbeit in bezahlte Arbeit geht, institutionalisiert sie auch in der Welt der Zeichen einen »Übersetzungs-Kodex«.

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»Die unübertragbare Inschrift der Arbeit in Geld-Wert übertragen und umgekehrt eine Geldsumme nach Abschluß eines in der Zirkulationssphäre vollzogenen Handels in Arbeitskraft umwandeln: eben das ist die Transaktion, die den Profit des Kapitalisten begründet und die Leistung des Arbeiters vorschreibt. Und analog dazu: die unübertragbare (produktive) Schreibweise in die Zirkulationssphäre des Sinns und der Sprache übertragen, heißt Profit aus der Arbeit des Schreibens schlagen, indem man sie maskiert.« (101)

In der Struktur der modernen audiovisuellen Medienindustrie kontrollieren, unter dem Gesetz fortschreitender Kapitalkonzentration, einige wenige transnationale Konzerne ein wachsendes, immer unübersichtlicheres Feld von Produzenten und Verkäufern, kommerziellen Anbietern und quasi-staatlichen Distributionssystemen, Filmherstellern und Filmverleihern, Unternehmern und Sub-Unternehmern, Kinoketten und Fernsehanstalten. Gleichzeitig treiben sie, gestützt von rasanten Entwicklungen im Hardware- und Softwarebereich und im Zuge einer dynamischen Medienintegration, die ökonomische Verflechtung der analogen und digitalen Medienkanäle – Buchproduktion, Kinofilm, TV, Video/DVD und Internet – voran. Nicht nur die Transaktion von produktiver Arbeit in Geldwert, sondern auch die permanente »Übersetzung« von Waren in andere Waren (von literarischen Stoffen in Filmdrehbücher, von Filmbildern in TV- und Video/DVD-Bilder, von Kinofilmen in Fernsehserien usw.) garantieren die Profitrealisierung auf einer Vielzahl miteinander verflochtener Ebenen: ein Wirbel der Transaktionen und Transfers, der die »unübertragbare Inschrift« der ins Ausgangsprodukt wie in den Transfer selbst investierten Arbeit unkenntlich macht und

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ihren »operativen Wert« hinter der abstrakten (kapitalistischen) Sinnproduktion verschwinden lässt. Produktions- und Zirkulationssphäre verschwimmen ineinander, weil im Prozess der Warenzirkulation die Formatierung und Umformatierung der Produkte, ihre Serialisierung, ihr ›Relaunch‹ und Remake immer wieder neue Schleifen bilden. Die »Leistung des Arbeiters«, des lebendigen Kapitals in der Medienindustrie ist die des Content-Produzenten, der sich in ein Knechtschaftsverhältnis fügt: »Die Unterwerfung des Arbeiters unter das Kapital, die mittels der Geldform andauert, ist […] mit der Knechtung des operativen Schreibens durch den Sinn identisch: Schreiben wird dem Logozentrismus subsumiert« (102). Einem Logozentrismus, der »Sinn macht« (nicht zufällig überschwemmt dieser Anglizismus inzwischen alle Diskurse) und der jeglichen operativen Eigensinn, sei’s in schriftsprachlichen oder audiovisuellen Texten, absorbiert. Das Signifikat ist der »Ertrag« des Signifikanten, schreibt Jean-Joseph Goux, »der von der Arbeit der Zeichen geschaffene Mehrwert« (103). Und er zerlegt Merleau-Pontys Satz »Das Wunder der Sprache besteht darin, daß sie sich vergessen macht« in seine ideologischen Fertigteile: »Die Arbeit der Worte wird in die Sphäre des Sinns verflüchtigt. […] Wer dergestalt den Sinngehalt […] von der Form ablösen will, verfährt nicht anders als der Kapitalist, der ›weiß, daß alle Waren, wie lumpig sie immer aussehn oder wie schlecht sie immer riechen, im Glauben und in der Wahrheit […] Geld sind und zudem wundertätige Mittel, um aus Geld mehr Geld zu machen‹.« (104)

In der Tat: treffender als mit diesem Marx-Satz lässt sich die Entwertung der audiovisuellen Produkte in der globalisierten Medienökonomie nicht umschreiben. Goux fasst zusammen: »Die Marxsche Analyse heftet sich […] konkret an den langen Weg, die Spur der Arbeit, den mühsamen Umweg (der Produktion); sie entlarvt die Geldform des Wertes als Verschleierung der Ausbeutung der Arbeitskraft, enthüllt das Geheimnis des Geld- und Warenfetischismus und erschüttert dadurch das Zeichensystem in seinen Grundfesten.« (108)

Postscriptum Die Erschütterung des Kapitalismus »in seinen Grundfesten« ist allerdings ausgeblieben, und auch seine Zeichensysteme, seine Medien und Bildwelten haben sich nicht nur weiterentwickelt, sondern mit dem Umbruch von den analogen zu den digitalen Medien eine ungeheure Dynamik, Dichte und gegenseitige Durchdringung erfahren. Dem Verständnis eines kapitalistisch generierten medialen ›Paralleluniversums‹, das von ›Datenströmen‹, vom

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›streaming‹ der Bilder, Töne und Texte durchwirkt ist, stellt die These von der Geldform der alle Unterschiede auslöschenden Sinnproduktion einen theoriefähigen Denkansatz zur Verfügung – mehr freilich zunächst nicht. Ihr Vorzug besteht darin, dass sie einer als ›marxistisch-leninistisch‹ deklarierten Theorie-Usurpation nicht zur Verfügung stünde, sehr wohl aber anschlussfähig wäre an einen (zu entwickelnden) medientheoretischen Diskurs im Umfeld vernetzter globalisierungskritischer Gruppen. Anschlussfähig wäre sie auch an ästhetische und institutionelle Gegenstrategien, die der erdrückenden ›Objektivität‹ des kapitalistischen Sinn-Terrors den ›Eigensinn‹ des Subjekts und, in der Formulierung Goux‹, den ›nicht-maskierten‹ Text entgegenzustellen suchen. Die Behendigkeit, mit der Filme oder Texte, die ›keinen Sinn machen‹, alsbald dem Kunstsystem subsumiert werden, sorgt freilich im Handumdrehen für neue Aporien. Philippe Sollers weist darauf hin, »daß die Aufwertung von ›Kunstwerken‹ einem simplen Schema gehorcht: Werk / Autor / Wert. Ein Subjekt (das im allgemeinen, anders als der warenproduzierende Arbeiter, geheiligt wird) ›schafft‹ ein ›Werk‹, das (wenn sein ›Sinn‹ für repräsentativ erklärt wurde) Geld wert ist« (Tel Quel 1971: 188). Die Literatur im Umkreis der ›Neuen Linken‹ in der Bundesrepublik um 1968 hat die französischen Theoriedebatten nur rudimentär reflektiert. Allerdings forderte Enno Patalas, Herausgeber der Filmkritik, schon 1966, unter dem Eindruck der französischen Strukturalisten, mit seinem Plädoyer für eine ästhetische Linke einen filmtheoretischen Paradigmenwechsel: die Abkehr von simplifizierender Ideologiekritik und eine Aufmerksamkeit für die textuelle Struktur des Films. In den folgenden Jahren befasste sich die Filmkritik auch mit »Tel Quel«; u.a. veröffentlichte sie 1970 einen Text von Baudry (Baudry 1970). Die Zeitschrift film leitete ab 1968 eine »Radikalisierung der Filmkritik« (Brandlmeier 1988) ein und wurde für eine sehr kurze Zeit zum Forum linker, an Theorie ebenso wie an ›direkter Aktion‹ interessierter Autoren wie Günter Peter Straschek, Hartmut Bitomsky und Harun Farocki (Farocki 1969). 1970 publizierte Hans Magnus Enzensberger im Kursbuch 20 seinen Baukasten zu einer Theorie der Medien, der, von einer marxistischen Position aus, erstmals das komplexe Ensemble der elektronischen Medien ins Visier nahm und für eine aktive Politik der »neuen Linken« gegenüber den technischen Medien plädierte. Zwei Bücher, Bitomskys Die Röte des Rots von Technicolor (das sich auch mit »Tel Quel« auseinandersetzt) und Strascheks Handbuch wider das Kino, sorgten 1972 für Diskussionsstoff in der linken Cinéasten-Szene. Zehn Jahre später, in der 1983 von Alexander Kluge herausgegebenen Bestandsaufnahme: Utopie Film, dementierte Helmut Färber entschieden den linken Fortschrittsoptimismus der 70er Jahre: »Es braucht […] kein Kino mehr, durch welches eine Wirklichkeit vergessen und verlassen werden kann, wenn es ein Fernsehen gibt, das sie durchsetzt, auflöst und an sie gewöhnt« (Färber 1983: 18). 1989 versuchte Rudolf Kersting in seinem Buch Wie die Sinne auf

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Montage gehen noch einmal, die Sinnlichkeit der Epoche und ihre Seh-Apparate, die Arbeit der Augen und die der Filmbilder, die Zeichen und ihre Bedeutung in ein materialistisches Denksystem zu bringen; das Buch blieb ein einsamer großer Wurf. Von einer kohärenten Arbeit an der Entwicklung einer ›marxistischen Filmtheorie‹ im systematischen Sinne des Worts konnte in der Bundesrepublik ebenso wenig wie in Frankreich die Rede sein. Ob es einen neuen Anlauf geben wird, scheint zweifelhaft – dass Filmtheorie überhaupt im 21. Jahrhundert noch eine taugliche, ›kontingenzfeste‹ Disziplin sein wird, ist eher auszuschließen. Mit dem Vergehen der Moderne beginne gleichsam eine neue Epoche, schreiben Michael Hardt und Antonio Negri (Hardt/Negri 2002: 104): »Die Erfahrung der Revolution wird nach der Moderne wieder geboren werden, aber unter neuen Bedingungen, welche die Moderne auf so widersprüchliche Weise geschaffen hat. […] Alles ist anders, und doch scheint sich nichts geändert zu haben.« Sagen wir es umgekehrt: Nichts scheint sich geändert zu haben, und doch ist alles anders geworden. Anmerkungen 1 Einige einschlägige Arbeiten des Autors waren Anfang der 70er Jahre auf dem besten Weg in dieses Dilemma. Vgl. Kreimeier (1971) und (1973). 2 Zuletzt, als »Konspekte zur Geschichte der Theorie des Spielfilms«, von Wuss (1990). 3 Andrej Alexandrowitsch Schdanow, 1896-1948, setzte 1934-38 die »große Bildungsreform« in der Sowjetunion unter Stalin durch und bestimmte ab 1944 wesentlich die Kulturpolitik des »Sowjetpatriotismus«. 4 Benutzt wurde eine von Beatrix Schumacher u.a. ins Deutsche übertragene und 1973 herausgegebene Sammlung von Cinéthique-Texten aus den Jahren 1971 und 1972 (vgl. Schumacher et al. 1973). Sie setzt ein mit der Nummer 9/10, die die frühe, stark von »Tel Quel« beeinflusste Phase abschließt und mit dem Text Kritik – Selbstkritik – Umgestaltung eine ideologische Neuorientierung einleitet. Literatur Aristarco, Guido (1981): Marx, das Kino und die Kritik des Films, München u.a. Baudry, Jean-Louis (1970): »Der Sinn des Geldes«. Filmkritik 8, S. 408-412. Bitomsky, Hartmut (1972): Die Röte des Rots von Technicolor. Kinorealität und Produktionswirklichkeit, Neuwied, Darmstadt. Brandlmeier, Thomas (1988): »Filmtheorie und Kinokultur. Zeitgeschichte und filmtheoretische Debatten«. In: Petermann, Werner/Thoms, Ralph (Hg.), KINO-FRONTEN. 20 Jahre ’68 und das Kino, München, S. 50-74.

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Klaus Kreimeier

Brunette, Peter/Wills, David (1994): »The Spatial Arts: An Interview with Jacques Derrida«. In: dies. (Hg.), Deconstruction and the Visual Arts. Art, Media, Architecture, Cambridge, S. 9-32. Enzensberger, Hans Magnus (2000): »Baukasten zu einer Theorie der Medien« [1970]. In: Pias, Claus et al. (Hg.), Kursbuch Medienkultur, Stuttgart, S. 264-278. Färber, Helmut (1983): »Das unentdeckte Kino«. In: Kluge, Alexander (Hg.), Bestandsaufnahme: Utopie Film, Frankfurt/Main, S. 15-34. Farocki, Harun (1969): »Die Agitation verwissenschaftlichen und die Wissenschaft politisieren«. film 3, S. 49-51. Hardt, Michael/Negri, Antonio (2002): Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt/Main, New York. Hardt, Michael/Negri, Antonio (2004): Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt/Main, New York. Kersting, Rudolf (1989): Wie die Sinne auf Montage gehen. Zur ästhetischen Theorie des Kinos/Films, Basel, Frankfurt/Main. Kreimeier, Klaus (1971): »Grundsätzliche Überlegungen zu einer materialistischen Theorie der Massenmedien«. Sozialistische Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft 7, S. 61-85. Kreimeier, Klaus (1973): Kino und Filmindustrie in der BRD. Ideologieproduktion und Klassenwirklichkeit nach 1945, Kronberg Ts. Lommel, Michael (2001): Der Pariser Mai im französischen Kino. 68er-Reflexionen und Heterotopien, Tübingen. Metz, Christian (1972): Semiologie des Films, München. Patalas, Enno (1966): »Plädoyer für eine ästhetische Linke«. Filmkritik 7, S. 403-408. Rodowick, David N. (1988): The Crisis of Political Modernism. Criticism and Ideology in Contemporary Film Theory, Urbana, Chicago. Schumacher, Beatrix et al. (1973) (Hg.): Filmische Avantgarde und politische Praxis – Gruppe Cinéthique, Reinbek bei Hamburg. Straschek, Günter Peter (1972): Handbuch wider das Kino, Frankfurt/Main. Tel Quel (1971): Tel Quel. Die Demaskierung der bürgerlichen Kulturideologie [mit Texten von Jean-Louis Baudry, Jean-Joseph Goux, Marcelin Pleynet, Jean-Louis Houdebine, Julia Kristeva und Philippe Sollers], München. Wuss, Peter (1990): Kunstwert des Films und Massencharakter des Mediums. Konspekte zur Geschichte der Theorie des Spielfilms, Berlin.

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➔ 16 Marxistische Kino- und Filmtheorien

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»An alle«1 (Dahl 1983: 17) heißt natürlich nie an alle, sondern es dient zunächst einmal zur Maskerade dessen, dass ein neu auf den Plan tretendes Medium zumeist nur wenige zu adressieren vermag, eben jene early adopter, die die Phantasie von Ingenieuren beflügeln und den Verkäufern Hoffnung machen. Dass aus wenigen viele werden, ist dabei zugleich das Interesse derjenigen, die das kommunikative Potenzial von Medien nutzen wollen, sowie derjenigen, die es auf den ökonomischen Gewinn abgesehen haben. »An alle« soll also sein und wenn ein Medium ein Massenmedium geworden ist, dann spätestens wird seine Medialität ebenso schnell wie nachhaltig Gegenstand sozio-kultureller Auseinandersetzung. Gelegentlich können jedoch den ökonomischen auch politische Interessen vorgreifen und bereits in der Vorgeschichte des Mediums intervenieren. Das wird gerade auch beim Radio deutlich, das auf Entwicklungen von See-, Militär-2 und Wirtschaftsfunk3 aufsetzt und in der Phase von der nicht-öffentlichen Nutzung zum Unterhaltungsrundfunk wenigstens in Deutschland in einer seiner medialen Metamorphosen auch einmal Revolutionsmedium war: »An alle Arbeiter-, Soldaten- und Matrosenräte Deutschlands! Wir haben Radio von Kiel erhalten, daß Arbeiter, Soldaten und Matrosen Deutschlands die Macht erlangt haben. […] Verbindet euch mit uns durch Funkspruch […].« (Dahl 1983: 15) »Über die Station Königs Wusterhausen wandte sich die Zentralfunkleitung an sämtliche Stationen des innerdeutschen Funknetzes mit der Meldung, daß sie als ›Zentralsoldatenrat der Funker‹ die Leitung aller Anlagen übernommen habe.« (Lerg 1980: 38)

Die revolutionäre Episode4 ging so nicht nur dem Massenmedium, sondern bereits dem Wolff’schen Telegraphen-Bureau und dem Wirtschaftsfunk (Lerg 1980: 48f.) voraus. Dafür, dass diese eher subversive Verwendung von Medientechnik nicht von Dauer sein sollte und dass solche revolutionären Ambitionen wieder in die Defensive gedrängt wurden, sorgten mit Nachdruck Staat und ökonomische Interessengruppen, die ein gemeinschaftliches Interesse an der Kontrolle und Steuerung von Massen5 hatten. Für die Einführung des Rundfunks 1923 in Deutschland haben, so Dahl, »handfeste politische Interessen« (Dahl 1983: 30), nämlich solche der Konfliktbefriedung und Durchsetzung staatlicher Ordnungsinteressen gesprochen. Insofern wurde das Medium Radio historisch inmitten politischer und ökonomischer Konflikte platziert. Die »notorische Staatsnähe« (Lerg 1980: 27), die dann dem publizistischen Rundfunk, sobald er einmal Massenwirksamkeit erlangt hatte,

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nachgesagt wurde, und die sich durchsetzenden ökonomischen Interessen erzwangen geradezu als Gegenreaktion eine politisch kodierte Auseinandersetzung um den Rundfunk, die auch relativ schnell geführt wird. So fordert denn auch Tucholsky den »politischen Rundfunk« (Dahl 1983: 36) und das Politische wird als Gegenbegriff zu jenem Unpolitischen gebraucht, unter welchem Rubrum nach dem Selbstverständnis der bürgerlichen Mittelschichten die eigene Politik rangierte. Fordert Tucholsky noch die Politisierung des Rundfunks und Brecht die adäquate Form der Programme, so zieht die organisierte Arbeiterbewegung den Schluss, eigene Sender zu verlangen. Damit gibt es aus mehr oder minder linker Perspektive prinzipiell drei Strategien mit dem neuen Medium umzugehen: Eigene Inhalte, eigene Formen oder eigene Sender. Zwar gab es neben der »Arbeiter-Radio-Internationale« von 1927 und der »Internationalen Radiokommission der revolutionären Gewerkschaftsinternationale« von 1929 (Knilli 1970b: 112) noch jene drei dem Freien Radio-Bund zu verdankenden ›revolutionären‹ Reminiszenzen, nämlich die Entführung eines missliebigen sozialdemokratischen Sprechers und seine Ersetzung durch einen kommunistischen Landtagsabgeordneten, die Platzierung von nicht vorgesehenen Wahlaufrufen im Programm sowie die Unterbrechung und Kommentierung einer Sylvesteransprache Hindenburgs6 durch »Gedanken der KPD zum Jahreswechsel« (Knilli 1970b: 117), nur deutet die Häufigkeit des Zitats7 auf einen sonstigen Mangel an Beispielen einigermaßen bemerkenswerter Aktivitäten. Ohnehin ist es egal, ob Kabel durchgeschnitten, Sprecher ausgetauscht, Piratensender benutzt oder legale eigene Sender gefordert werden, der bloße Besitz von Sendern und der dadurch ermöglichte Austausch von Inhalten allein bleibt mechanisch und bewirkt noch längst keinen eigenständigen Umgang mit dem neuen Medium. Auch ist der Effekt des Austauschs von Inhalten bescheiden, da, wie Benjamin bemerkt, »der bürgerliche Produktions- und Publikationsapparat erstaunliche Mengen von revolutionären Themen assimilieren, ja propagieren« (Benjamin 1980b: 692) könne, ohne auch nur das geringste Risiko einzugehen. Selbst die anfängliche in Arbeiter-Radio-Klubs organisierte Bastelei war eine entschieden komplexere Reaktion auf das neue Medium als die spätere Forderung nach einem eigenen Sender für die politisch organisierte Arbeiterschaft. Die Herstellung eigener Empfangsgeräte reduzierte die Beschäftigung mit dem Medium nicht auf den bloßen Empfang von Programm, sondern fügte dem die Auseinandersetzung mit der Technik des Mediums und seinen Schaltplänen hinzu. Diese Eigenaktivität war auf jeden Fall differenzierter als die ansonsten verbleibenden Wahlmöglichkeiten beim An- und Ausschalten, selbst wenn es sich um Radio Moskau handeln sollte. Wie trist und mechanisch die abstrakte Negation auf der Ebene selbst noch eines imaginierten Programms war, lässt die Kombination von »proletarische[m] Blasorchester[.]

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Leipzig«, der »Verlesung des Kommunistischen Manifests« und »Körperkultur und Lebensreform im Arbeiterstaat« (Arbeitersender 1932, in: Dahl 1983: 93) ahnen.8 Die Programmstrategien, die die organisierte Arbeiterklasse erträumt, wirken ähnlich befremdlich wie die heutigen Programmversuche pietistischer Sekten oder alle sonstigen Programme, in denen der Rundfunk als Verkündungsmedium genutzt wird. Der eigene Sender macht als Verlautbarungsinstrument nur Sinn, wenn es einer bleibt. Sobald nämlich der Hörer in die Rolle des Produzenten rückte, ginge das zentralisierte Distributionspotenzial des Mediums verloren. Brecht, der dereinst sich genötigt sehen sollte, »im Lautsprecher […] die Siegesmeldungen des Abschaums« (Dahl 1983: 82) zu verfolgen, begann seine Auseinandersetzung mit dem neuen Medium auf dem Niveau Tucholskys: Er diskutierte das Verhältnis von Medium und Inhalt. Dabei steht nicht allein die Opposition politisch/unpolitisch auf dem Reflexionsprogramm, sondern die von erheblich/unerheblich: Das Medium Rundfunk ist durch sein geradezu groteskes Unverhältnis von medientechnischem Potenzial und der Belanglosigkeit des Programms gekennzeichnet. »Die Resultate des Radios sind beschämend, seine Möglichkeiten sind ›unbegrenzt‹« (Brecht 1990a: 120), wobei die Bourgeoisie über Möglichkeiten verfügt, ohne mit diesen etwas anfangen zu können. Das Medium wird mithin von Brecht gegen seine Inhalte gewendet. Zugleich wird dem Ganzen noch eine generelle Einsicht abgewonnen: Technik ohne Inhalt wird nämlich nach Brecht zum generellen Merkmal der Produktivkraftentwicklung der Bourgeoisie. Aber auch das ist nur ein Teil der Pointe seiner Kritik, denn im rhetorischen Überschwang droht das Ganze dann auch noch ins Idealistische abzukippen. Der Inhalt wird wenigstens implizit der Materialität des Mediums vorgezogen. Die unbestellten Erfindungen (Brecht 1990d: 127) verweisen natürlich auf die bestellten und Bestellungen kann nach Brecht im Medienbereich nur aufgeben, wer etwas zu sagen hat und dies auch sagen darf. Brechts Medienmodell inhäriert offenbar eine implizite Normativität, die sich wenigstens so kaum in einem marxistischen Theoriekonzept fundieren lässt. Einzig Inhalte haben so das Recht, medientechnische Innovationen erforderlich werden zu lassen, und die Inhalte selbst legitimieren sich allein dadurch, dass sie die richtigen sind. Der Medienmaterialismus setzt in seiner Brecht’schen Variante bereits eine Institutionalisierung voraus, die erst Klarheit über die Richtigkeit von Inhalten und die Angemessenheit von Themen zu verschaffen vermag. Die Forderung nach dem rechten Medium im falschen, funktioniert vor einem materialistischen Hintergrund allenfalls symbolisch. Faktisch ist das, was ist, – also die konzeptionslose Mitteilung von Küchenrezepten an eine denkbar umfassende Öffentlichkeit –, nicht nur zu erwarten, sondern gar nicht zu vermeiden. Das kritisierte Verhältnis der Bourgeoisie zu ihren Me-

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dien ist daher zwangsläufig und nicht zufällig. Die von Brecht der Bourgeoisie nachgesagte Sprachlosigkeit ist dabei keineswegs geräuschlos, denn es wird Programm gemacht und daher eine Menge gesagt, auch wenn man nichts zu sagen hat. Die Unterscheidung, die zwischen nichts und etwas zu sagen zu haben diskriminieren soll, lässt sich allein mittels durchaus legitimationsbedürftiger normativer Standards treffen. Dennoch bleiben solche ehrenwerten Normen, selbst wenn ihre Legitimation, was durchaus zu bezweifeln ist, einigermaßen zuverlässig gelingen sollte, den faktischen Verhältnissen nachgeordnet. In diesen jedoch müsste das Radio, wenn es wirklich nichts zu sagen hätte, qua Langeweile und Belanglosigkeit zuverlässig wirken und nicht mittels Brecht’scher Lehrstücke. Brecht geht implizit von einem regulativen Prinzip aus, demzufolge die formalen Eigenschaften von Medien und ihre Inhalte einander zu entsprechen hätten. Das Telos bleibt die Aufhebung von Widersprüchen. Eigentlich müsste er sich der vom falschen Programm produzierten Widersprüche freuen, generieren sie doch letztlich die Dynamik, die das, was Brecht fordert, dereinst möglich machen soll. Brechts Überlegungen, wonach seine Forderungen an den Intendanten zu ihrer Realisierung einer anderen Gesellschaftsordnung bedürften, sind daher selbst vor allem symbolischer oder normativer Natur. Denn eigentlich müsste Brecht warten oder politisch eingreifen, sicherlich aber keine Stücke produzieren. Brecht produziert also auf medientechnischem Feld eine Art normativer Ideologiekritik. Er stellt dabei jedoch nicht die bürgerliche ideelle Produktion der produzierten Wirklichkeit gegenüber, sondern er misst sie anhand einer Art normativer Utopie, der gemäß das Medium und sein Content einander entsprechen sollten, wobei der hierfür erforderliche Content in Gestalt der Brecht’schen Produktion bereits da ist. Nur lässt die Realität eben noch ein wenig auf sich warten. Allerdings ist auch das in materialistischen Konzepten gerade nicht vorgesehen; hier hinken, wie eben auch von Benjamin vermerkt wird, die ideelle Produktion und ihre Medien stets der faktischen Organisation der Produktion hinterher. Brechts Materialismus ist also normativ und symbolisch, nicht jedoch strukturell oder theoretisch. Im Übrigen verhält er sich damit auch zur Politik der Arbeiter-Radio-Klubs antagonistisch, die vor allem das pragmatische Interesse an der billigen Herstellung von Empfangsanlagen zu befriedigen suchen: »Es galt zunächst, das technische Interesse der Mitglieder zu wahren, wobei die kulturellen Ziele vorerst zurücktreten mussten.«9 Trotz der Dominanz der Inhalte gewinnen Brechts Überlegungen quasi in der ironischen Rückprojektion auf das Medium auch noch eine medientechnische Pointe: »Ich wünsche sehr, daß diese Bourgeoisie zu ihrer Erfindung des Radios noch eine weitere Erfindung mache: eine, die es ermöglicht, das durch Radio Mitteilbare auch noch für alle Zeiten zu fixieren« (Brecht 1990a: 120). Die Fixierung der Banalität wäre damit die erträumte Rache der Medientechnik.

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Was Brecht jedoch dem Intendanten vorschlägt, ist zunächst einmal nichts weiter als neue Inhalte: »wirkliche[.] Ereignisse«, »wichtige Reichstagssitzungen« und »große Prozesse« (Brecht 1990b: 121), »an Stelle toter Referate wirkliche Interviews« sowie »Disputationen zwischen bedeutenden Fachleuten« (Brecht 1990b: 122). Nun, abgesehen von der Frage der Wichtigkeit und Bedeutung, die erst einmal normativ zu klären wäre, wird hier nichts gefordert, was der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht auch produziert haben könnte, ohne dass das Medium darum in den Ruf gekommen wäre, revolutionär zu sein. Brecht vertraut hier noch auf die Besetzung medialer Inhalte und auf die Macht des Agenda Settings. Dass er der bedeutenden Wirklichkeit noch die eigene ästhetische Produktion und die befreundeter Kollegen hinzufügt, beweist zumindest ein Sensorium für die Bedeutung von Distributionskanälen. Theoretisch wie medienpraktisch ist seine Position daher keineswegs aufregend und sein Interesse »an den ganz lächerlichen und schäbigen Honoraren« (Brecht 1990b: 122) vielleicht ein Beweis für seinen nüchternen Geschäftssinn, kaum jedoch für seine materialistische Attitüde. Bis hierhin gelangt Brecht über Tucholskys Forderung nach einem politischen Rundfunk nur dadurch hinaus, dass er sich intensiver als jener in Widersprüche verstrickt und die materialistische Rhetorik nur ungenügend dem Gegenstand anzupassen versteht. Theoretisch und dann eben auch medientheoretisch interessant wird es bei Brecht erst, wenn er dem sich einer anarchischen gesellschaftlichen Organisation verdankenden Medium nicht nur ein anderes Repertoire, sondern vor allem eine andere kommunikative Struktur verordnen will.

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»Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen.« (Brecht 1990d: 129)

Hierbei wird einiges zusammengeführt: Das Medium imitiert nicht mehr wie in seiner »Stellvertreterphase« bloß andere Medien, indem es sie inkorporiert, sondern es findet seine Form, nämlich die eines öffentlichen Kanalsystems. Es geht nicht mehr ausschließlich um Inhalte, sondern um einen Komplex, der gleichzeitig sowohl die medientechnische Leistung als auch die ästhetische und kommunikative Form veranschlagt. Bedauerlich ist nur, dass diese medientheoretisch einigermaßen luzide und ob ihrer Sloganfähigkeit ungemein prominente Konstellation medientechnisch versagt und deshalb der Begriff der Öffentlichkeit arg gebeutelt werden muss, damit das Ganze wenigstens den Anschein eines Funktionierens bekommen kann.

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Der Rundfunk soll bei Brecht den gesellschaftlichen Diskurs organisieren und dies soll dadurch funktionieren, dass Öffentliches wirklich öffentlich ist, d.h., dass es öffentlichem Interesse entspricht. Diese Entsprechung ist zwangsläufig normativer Natur, so dass Brecht zwischen einem normativen und einem deskriptiven Begriff von Öffentlichkeit hin und her wechselt. Das Medium selbst gestattet allenfalls den Verweis auf einen deskriptiven Öffentlichkeitsbegriff, der normative hingegen hat die Funktion, das Repertoire zu strukturieren und zugleich den kommunikativen Switch von der Distribution zur Kommunikation zu organisieren. Kommunikation wird einzig dadurch gewährleistet, dass die Inhalte den Interessen aller oder wenigstens doch einer relevanten Mehrheit entgegenkommen. Gegebenenfalls tut es auch so etwas Preziöses wie die politisch verbürgte Wahrheit. Die passive Seite der Öffentlichkeit vermag das Medium herzustellen, es produziert Öffentlichkeit qua der von ihm organisierten Distribution, die aktive Seite soll von der strategisch verbürgten Repräsentation übernommen werden. Dahinter steht die einfache utilitaristische Annahme, dass die Wahrheit der meisten nützlich sei. Nun hat der Utilitarismus noch einen kleinen Zwischenschritt bei diesem Verfahren eingeplant: Es wird abgestimmt – wenigstens von denen, die über entsprechende Erfahrungen verfügen, und das ist wieder eine der feinen Einschränkungen, die immer dann auftauchen, wenn man der Stimmung der Massen10 nicht traut. Bei Brecht erledigt sich diese Abstimmung auf dem Weg der Erkenntnis: Sobald man weiß, was wichtig, bedeutsam und daher notwendig ist, ist die Abstimmung nicht mehr notwendig. Die Interaktivität ist so schlicht eine Frage der normativ richtigen Position. Deutlich wird, wie fragil diese von Brecht ins Auge genommene Konstruktion von Interaktivität faktisch ist, wenn bedacht wird, dass sie sich durchaus auch noch mit Lenins Kontrollphantasien verträgt, der über die Massen mittels Radiolaboratorium herrschen möchte, indem er die ›richtige‹ Erkenntnis zentral an die Massen distribuieren lässt.11 Politischer Zentralismus und mediale Interaktivität drohen so aufs Merkwürdigste in Eins zu fallen. Selbst wenn diese normative Lösung eines kommunikativen Problems nur wenig behagen sollte, so muss zunächst einmal festgehalten werden, dass Brecht ein kommunikatives Problem überhaupt feststellt und dass er damit systematisch über die Auseinandersetzung um die Inhalte bzw. um einen eignen Sender weit hinausweist. Die sozialdemokratische Bastelei und Programmkritik fordert das Medium ebenso wenig heraus wie die kommunistische Forderung nach einem eigenen Sender. In beiden wird die Medialität des Radios nicht ernst genommen, ja sie wird gar nicht erst thematisiert, weil sie nicht wahrgenommen wird. Erst die die Form determinierende Kraft des Mediums kann als Medientheorie und damit Theorie des Mediums Radio Beachtung finden, die Reaktionen der Arbeiter-Radio-Bewegung hingegen sind mit Ausnahme der Bastelei quasi medienvergessen. Insofern entspringt der

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zeitlichen Koinzidenz der Brecht’schen Auseinandersetzung mit dem Radio und der Arbeiter-Radio-Bewegung12 noch längst nicht ein medientheoretischer Konsens oder auch nur eine Kompatibilität. Brecht ist viel bürgerlicher und zugleich radikaler, als es die Arbeiterkulturorganisationen sich jemals erlauben sollten. Die kommunikative Funktion, die Verkündigung von etwas Vorgegebenen, wird dort vorausgesetzt und kann daher nicht mehr thematisiert werden. Das Medium ist nichts anderes als jener Transmissionsriemen der großindustriellen Produktionsweise des 19. Jahrhunderts, der noch die Logik der McLuhan’schen Medienphantasien regulieren sollte. Bei Brecht hingegen ist das Medium Formgebung und verfügt insofern über eine eigene Qualität. Man hat es daher nicht mit differenten medientheoretischen Modi zu tun, die sich einer unterschiedlichen Strenge der Anwendung des materialistischen Gedankens verdanken, sondern man hat es mit der Frage zu tun, ob etwas davon überhaupt zu einer im weitesten Sinne materialistischen Medientheorie des Radios gehören könnte. Gesehen hat man bisher, dass – außer den kommunikationstheoretischen Reflexionen Brechts – allenfalls die Aneignung des Mediums qua Bastelei eine einigermaßen angemessene Reaktion auf das Medium darstellt, die im Übrigen medienhistorisch ein Unikum geblieben ist. Der Kampf um den Sendeapparat bleibt eine Macht- und keine Medienfrage.13 Walter Benjamin geht, wiewohl er zum Rundfunk trotz seiner Rundfunkarbeiten nur relativ wenig zu sagen hat, die Angelegenheit theoretischer und damit ein wenig grundsätzlicher als Brecht an: »Gesellschaftliche Verhältnisse sind, wie wir wissen, bedingt durch Produktivverhältnisse. Und wenn die materialistische Kritik an ein Werk heranging, so pflegte sie zu fragen, wie dies Werk zu den gesellschaftlichen Produktivverhältnissen der Epoche steht.« (Benjamin 1980b: 685)

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»Also ehe ich frage: wie steht eine Dichtung zu den Produktionsverhältnissen der Epoche? möchte ich fragen: wie steht sie in ihnen? Diese Frage zielt unmittelbar auf die Funktion, die das Werk innerhalb der schriftstellerischen Produktionsverhältnisse einer Zeit hat. Sie zielt mit anderen Worten unmittelbar auf die schriftstellerische Technik der Werke. Mit dem Begriff der Technik habe ich denjenigen Begriff genannt, der die literarischen Produkte einer unmittelbar gesellschaftlichen, damit einer materialistischen Analyse zugänglich macht.« (Benjamin 1980b: 686)

Benjamin stretcht hier den Begriff der Technik gewaltig, um materielle und kulturelle Produktion auf einen Begriff bringen zu können. Was auf dem Feld der Literatur noch problematisch sein mag, gewinnt unter medialer Perspektive eine etwas andere Bedeutung: Technik vermittelt in diesem Zusammenhang nämlich Medium und Inhalt auf dem Wege der Formästhetik. Die Konditionen, die ein Medium dem in ihm Darstellbaren oktroyiert, determinieren

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ebenso die ästhetische Form potenzieller Inhalte. Medientechnik ist insofern die Bedingung der Möglichkeit ästhetischer Technik. Gleichzeitig ist Medientechnik nur eine Produktionstechnik unter vielen und damit an den Stand der Produktivkraftentwicklung verwiesen. Technik leistet von daher im Benjamin’schen Konzept etwas Ähnliches, was von Brecht dem Begriff der Öffentlichkeit abverlangt wird, nämlich mediale Form und Materialität zusammenzubringen. Insofern ist die Inbesitznahme »eines Apparates, der in Wirklichkeit sie besitzt« (Brecht in Benjamin 1980b: 697), witzlos, es geht vielmehr um einen »gewaltigen Umschmelzungsprozeß literarischer Formen« (Benjamin 1980b: 687), der sich mit mindestens demselben Recht auf die medial bedingten Formen beziehen lässt. Der »gewaltige Umschmelzungsprozeß […] [geht] nicht nur über konventionelle Scheidungen zwischen den Gattungen, zwischen Schriftsteller und Dichter, zwischen Forscher und Popularisator hinweg[.], sondern er [unterzieht] sogar die Scheidung zwischen Autor und Leser einer Revision.« (Benjamin 1980b: 689)

Die Aufhebung dieser Differenz ist nichts anderes als der Kern des Brecht’schen Versuches, die Kommunikationsstruktur des Radios umzufunktionieren. Allerdings ist die medientechnische Deckung, die Brecht unterstellt, bei Benjamin aufgehoben: Die Aufhebung des Gefälles von Produzent und Rezipient gilt bei Benjamin zumindest für die Literatur, die Presse und den Film, ist also medial indifferent und damit eine Frage der Zeit, der anstehenden Umfunktionierung14 der gesellschaftlichen Verhältnisse, die auf mediale Eigenheiten vielleicht nur insofern Rücksichten nimmt, als sie ihr Passen oder Nicht-Passen konstatiert. Diese prinzipielle Austauschbarkeit von Rezipienten- und Produzentenrolle ist die strukturelle Norm, die Benjamin zum regulativen Prinzip der revolutionären Qualität von Medien erhebt. Brecht ist da bereits ein wenig bescheidener und lässt selbst im Lindberghflug die Hörer allenfalls vorgefertigte Textpartikel nachsprechen. Ein derartiges KaraokeModell mag den einen oder anderen Hörer vielleicht aktivieren (vgl. Dahl 1983: 126), nur bewirkt solches Nachsprechen noch längst keinen Rollentausch und unterscheidet sich von dem Nachsummen von Schlagern allenfalls noch durch die Textqualität. Benjamin kokettiert mit dem Reich der Produktivkräfte und schätzt daher ein »Verhalten, das ihn [den Schriftsteller, R. L.] aus einem Belieferer des Produktionsapparates zu einem Ingenieur macht, der seine Aufgabe darin erblickt, diesen den Zwecken der proletarischen Revolution anzupassen« (Benjamin 1980b: 701), ohne dass Benjamin auch nur einigermaßen genau sagen könnte, worin denn die medialen und ästhetischen Anforderungen einer solchen proletarischen Revolution beständen. Dass die Montage helfe, soviel sei klar, aber was weiter? Pädagogik? Auch da gehen Brecht und Benjamin weit-

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gehend konform: »Kunst und Rundfunk sind pädagogischen Absichten zur Verfügung zu stellen« (Brecht 1990c: 124). Die didaktische Form muss so die mediale Form ersetzen oder zumindest ihr auf die Sprünge helfen. Die pädagogische Attitüde wird quasi zur Verstärkung der Bedeutung der Inhalte für den Rezipienten herangezogen und zugleich lässt sich ihr ein Unwohlsein in Bezug auf die demokratische Parität der Angelegenheit entnehmen: wo dem Interaktionspartner allererst pädagogisch auf die Füße zu helfen ist, muss zumindest von einem Gefälle ausgegangen werden. Solange Pädagogik die Programme beherrscht, solange ist der Hörer kein Produzent, sondern Zögling. Benjamin versucht den kontraproduktiven Effekt der Pädagogisierung des Programms dadurch wieder zurückzuschrauben, dass er pädagogische und mediale Form engführt. Der pädagogische Charakter wird hinter der Maske der Volkstümlichkeit15 versteckt. Volkstümlichkeit verbindet pädagogische Tendenz und das revolutionäre Subjekt als schwierigen Kunden wenigstens sprachlich derart geschickt, dass das immanente Ungleichgewicht nicht sofort ins Auge sticht. Der ebenfalls bemühten Volksbildung, die im Bildungsauftrag öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten ihren willigen aber inzwischen auch aus der Mode gekommenen Nachfolger fand, gelingt die Kaschierung des kommunikativen Asymmetrie bereits entschieden weniger gut. Der pädagogische Gestus gedenkt bei Benjamin mit Macht das Distributionspotenzial des Mediums Rundfunk zu nutzen und konterkariert damit implizit den von Brecht geforderten Übergang zu einem Kommunikationsmedium.

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»Der Rundfunk – und das ist eine seiner bemerkenswertesten Folgeerscheinungen – hat diese Sachlage tiefgreifend gewandelt. Kraft der Möglichkeiten, die er eröffnete, an unbegrenzte Massen sich zu gleicher Zeit zu wenden, wuchs die Popularisierung über den Charakter einer wohlmeinenden menschenfreundlichen Absicht hinaus und wurde zu einer Aufgabe mit eigenen Form-Artgesetzen, die sich nicht minder deutlich von der älteren Übung abhebt als die moderne Werbetechnik von den Versuchen des vorigen Jahrhunderts.« (Benjamin 1980a: 671)

Davon, dass der Rundfunk eine eigenständige Volkstümlichkeit mit einer eigenen Formästhetik generiere, wird die pädagogische Konstellation und ihre konstitutive Asymmetrie jedoch auch nicht aufgehoben. Dass das Medium Rundfunk sich im Zuge der Benjamin’schen Überlegungen zu einem Medium des Volkstümlichen auswächst, verstärkt in seinem überkompensatorischen Eifer eher das Problem: Solange der Rundfunk pädagogisches Medium bleibt, taugen Subjekte eben nicht zu seinen Adressaten. Eingerenkt wird die ganze Problematik wieder ähnlich wie bei Brecht: Das Volkstümliche des Rundfunks besteht genau darin, die pädagogischen Geister wieder zu bannen.

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Media Marx. Ein Handbuch Medien nach Marx »Die sehr viel breitere, aber auch sehr viel intensivere Volkstümlichkeit jedoch, die der Rundfunk sich zur Aufgabe setzt, kann sich mit diesem Verfahren [Reduktion auf das Wesentliche und Auslassen der Details, R. L.] nicht begnügen. Sie verlangt eine gänzliche Umgestaltung und Umgruppierung des Stoffes aus dem Gesichtspunkt der Popularität heraus. […] alles [kommt] darauf an, ihm die Gewißheit mitzuteilen, daß sein eigenes Interesse einen sachlichen Wert für den Stoff selber besitzt, daß sein Fragen, auch wenn es vor dem Mikrophon nicht laut wird, neue wissenschaftliche Befunde erfragt. Damit ist das äußerliche Verhältnis zwischen Wissenschaft und Volkstümlichkeit, das früher vorherrschte, durch ein Verfahren ersetzt, an dem die Wissenschaft selber unmöglich vorübergehen kann. Denn hier handelt es sich um eine Popularität, die nicht allein das Wissen mit der Richtung auf die Öffentlichkeit, sondern zugleich die Öffentlichkeit mit der Richtung auf das Wissen in Bewegung setzt.« (Benjamin 1980a: 672)

Ganz abgesehen von der vergleichsweise optimistischen und nicht zuletzt auch idealistischen Einschätzung des Interesses von Wissenschaft an Öffentlichkeit, bietet Benjamin hier mit seiner eigentümlichen Melange von Pädagogik, Volkstümlichkeit, Wissenschaft und Öffentlichkeit ein Konzept an, das das Distributionspotenzial nutzen will und zugleich seine strukturell negativen Effekte durch Wissenschaft und Öffentlichkeit aufzuheben beabsichtigt. Dass ein solches Modell medientheoretisch nicht ausgegoren ist, ist klar. Vielleicht jedoch lässt es sich medientheoretisch auch gar nicht lösen. Man hätte dann den revolutionären Gedanken schlicht am untauglichen Objekt ausprobiert. Denn wenn das revolutionäre Potenzial eine solche komplexe Emballage benötigt, um in einem solchen Medium sich entwickeln zu können, dann ist es vielleicht das Medium, in Sonderheit seine technisch vorgegebene Kommunikationsstruktur, die dem revolutionären Gedanken im Wege steht. Wenigstens traut Benjamin dem Medium Rundfunk entschieden weniger zu als noch dem Film. Dieser evoziert im Gegensatz zum Rundfunk ein formästhetisch getriebenes Wissen und damit ein Medienwissen ganz ohne Pädagogik. Die Kompetenz des zerstreuten Examinators entwächst einzig der technischen Logik der medialen Darstellung. Über eine solche verfügt der Rundfunk offensichtlich nicht – oder Benjamin war noch nicht so weit, solches einzusehen. Hier sind pädagogische Absichten und Maßnahmen noch von Nöten und nicht das kommunikative Potenzial eines Mediums. Brechts pädagogische Sterilität des Lindbergh Flugs, die sich im Übrigen ähnlich fatal im behandelten Subjekt irrt wie Benjamin in der angenommenen politischen Unempfindlichkeit des Mediums Film gegenüber dem Faschismus, fügt der Benjamin’schen kompensatorischen Medienrezeptur nichts Wesentliches mehr hinzu. Die linken Bemühungen um das Medium Rundfunk blieben also selbst dort, wo sie über die einfache Besetzung von Inhalten oder Sendern hinaus-

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gingen und Medienqualität in Rechnung zu stellen sich bemühten, medientheoretisch zweifelhaft. Das Medium, das sie jedoch zweifelsfrei beherrschten und das sie zu einem theoretischen Faktor werden ließen, ist die Sprache, insbesondere in jener – erst seit der Postmoderne fraglich gewordenen – Form des Slogans: Dass aus dem Distributions- ein Kommunikationsmedium zu machen sei, ist rhetorisch so exzellent, dass dahinter schlicht vergessen wird, dass es nicht nur machtpolitisch, sondern – und das interessiert eben auch den Medienwissenschaftler – allein schon medientechnisch schlicht nicht funktioniert. Und dann hilft eben auch alles Umfunktionieren nichts.

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Anmerkungen 1 »Als erstes setzten die Räte über WTB (Wolff’sches Telegraphen-Bureau; Anm. R. L.) folgenden Aufruf ab: »An Alle! Hier hat die Revolution einen glänzenden, fast ganz unblutigen Sieg errungen. […]. An alle!, das war die Formel, mit der Lenin das Friedensangebot der Sowjetunion über Funk und damit öffentlich […] unterbreitete« (Dahl 1983: 17; vgl. Knilli 1970b: 102). Etwas anders stellt Mühl-Benninghaus den Zusammenhang dar: »Noch vor dem Ausbruch der Revolution hatten die Bolschewiki am 6. November 1917 die Petersburger Telegraphen-Agentur (PTA) besetzt, die als einziges russisches Nachrichtenbüro die Konzession für den Betrieb der internationalen Funkverbindungen erhalten hatte. […] Die Beschaffung und die Weitergabe von Informationen wurde unter diesen Voraussetzungen zu einem Hauptproblem der Revolution. Man behalf sich zunächst mit Funkgeräten, die auf Schiffen installiert waren. So sendete die ›Aurora‹, die das Zeichen für den Aufstand gegen die provisorische Regierung gegeben hatte, die ersten Berichte über deren Entmachtung in den Äther. In der Folgezeit diente die von Matrosen besetzte Rundfunkstation auf der Insel Novaja Golandija zur Verbreitung von Funksprüchen, die immer mit dem Vorspann ›An Alle! An Alle! An Alle!‹ verbreitet wurden« (Mühl-Benninghaus 2004: 112). 2 »Seit 1917 bekamen die Soldaten via drahtlose Telephonie Musiksendungen und Vorlesungen aus Zeitungen und Büchern zu hören« (Knilli 1970b: 104). »Ein wesentlicher Beweggrund für die Einführung des Rundfunks war es, der durch den Krieg ausgebauten funktechnischen Industrie weitere Absatzchancen zu geben« (Lersch 2001: 456). Lersch weist zudem auf die »über 100.000 entlassenen Militärfunker« (Lersch 2001: 456) hin. Schanze rekurriert ebenfalls auf die militärische Episode des Rundfunks, weist allerdings mit Recht Kittlers kokette These vom zweckentfremdeten Heeresgerät zurück und hält dem die These von einer »zivilen Revindikation des Rundfunks« (Schanze 2004: 18) entgegen. Allerdings dürfte der Funk in der Handelsmarine, in militärischen

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oder als Wirtschaftsfunk in ökonomischen Kontexten sich massiv vom Unterhaltungsrundfunk unterscheiden, zumal er in all diesen Fällen kein Massenmedium darstellt, so dass der vergleichsweise bruchlose Zusammenschluss dieser Verwendungsweisen des Funks zu einer Rundfunkgeschichte (vgl. Schanze 2004:13ff.) vielleicht den einen oder anderen Gründungsmythos ermöglicht haben mag, aus medienwissenschaftlicher Perspektive jedoch kaum Sinn macht, da hierfür sowohl technische Differenzen als auch Unterschiede in dem sozialen Gebrauch mit Nachdruck ignoriert werden müssen. Wie weit so etwas gehen müsste, deutet sich bei Schanze an, wenn er darauf verweist: »Dass Revolution ›Elektrifizierung‹ meint, war Teil der Parolen der Russischen Revolution« (Schanze 2004: 20). Übertragen auf die Medientheorie bedeutete das, dass sämtliche ›elektrischen Medien‹ mehr oder minder eins wären, was in die Dimensionen eines ansonsten nur McLuhan würdigen Mangels an Tiefenschärfe vorrückte. Das Ineinssetzen von Technik und Medium dürfte gerade auch mediengeschichtlich problematisch sein. Es handelt sich in all diesen Fällen nur um vergleichbare Techniken, jedoch um unterschiedliche Medien. In jedem Fall jedoch macht Kittlers säbelrasselnde Genealogie medienwissenschaftlich keinen Sinn. 3 Vgl. Lerg (1980: 48f.) und G. W. Evenius in Schanze (2004: 25). 4 Lenin konservierte die mit dem Medium Radio verbundenen revolutionären Vorstellungen noch einige Zeit. So schrieb er 1920 an BontschBrujewitsch: »Die Zeitung ohne Papier und ›ohne Entfernungen‹, die Sie schaffen, wird eine große Sache sein« (Lenin 1960a: 547) und 1922 an das Volkskommissariat für Post- und Fernmeldewesen: »Übrigens, wenn Sie mir schreiben, teilen Sie mir bitte mit, ob die Arbeit des Radiolaboratoriums in Nishni-Nowgorod Sie vollständig zufrieden stellt; ferner bitte ich, mir – so kurz wie möglich – eine Stellungnahme von Bontsch-Brujewitsch zu schicken, wie es mit seiner Arbeit zur Herstellung von Lautsprechern geht, mit deren Hilfe man Mitteilungen, die radiotelefonisch durchgegeben werden, für breite Massen übertragen kann. Diese Arbeiten sind für uns von außerordentlich großer Bedeutung, weil ihr Erfolg, […], der Agitation und Propaganda riesigen Nutzen brächte. Deshalb müssen wir einige Opfer bringen, um diese Arbeiten zu unterstützen. Insbesondere hörte ich, daß in Amerika analoge Arbeiten bereits Erfolg gebracht und zu praktischen Resultaten geführt haben« (Lenin 1960b: 561). An Stalin schreibt Lenin 1922: »[…] durchaus zu verwirklichen ist auch die Inbetriebsetzung vieler hundert Empfänger, die imstande wären, in Moskau gehaltene Reden, Referate und Lektionen in Hunderte von Orten der Republik zu übertragen, die von Moskau Hunderte, ja unter bestimmten Umständen auch Tausende Werst entfernt sind. Ich bin der Meinung, daß die Verwirklichung dieses Planes für uns eine unbe-

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dingte Notwendigkeit darstellt sowohl vom Standpunkt der Propaganda und Agitation besonders für die des Lesens und Schreibens unkundigen Massen der Bevölkerung als auch zur Übertragung von Lektionen« (Lenin 1960c: 564). Zur revolutionären Episode in Deutschland, vgl. neuerdings auch Schrage (2001). Im Übrigen verweist Mühl-Benninghaus darauf, dass Lenins Rundfunkpolitik (Mühl-Benninghaus 2004: 108) genau dasselbe Interesse verfolgte, so dass – u.a. auch aus Lenins Mitteilungen an Stalin (vgl. Anm. 4) – geschlossen werden darf, dass offensichtlich selbst die Revolution ein Interesse an der Kontrolle der Massen hat. Eine einfache Wiederholung hätte es auch getan, wie die Rundfunkgeschichte im Falle Helmut Kohls mittlerweile bewiesen hat. Sie werden eifrig zitiert: Bei Knilli als »drei von vielen Aktionen« (Knilli 1970a: 116f.), bei Dahl noch ein wenig süffisanter (vgl. Dahl 1983: 102). Knilli rettet diese programmatische Peinlichkeit des Freien Radio-Bundes durch einen interessierten Vergleich: »statt dessen wurde der 1890 von den Arbeitern beschlossene und erkämpfte 1. Mai mit klerikalen Morgenfeiern, ländlichem ›Mai-Ansingen‹, ›Mai und Frühlingsliedern‹ und einer sozialdemokratischen ›Feierstunde der Werktätigen‹ ins Religiös-Mythische umgedeutet« (Knilli 1970b: 115). Kennzeichnend für Knillis Revolutionsemphase aus sicherer Distanz ist, dass ihr die religiösmythische Umdeutung materialistischer Positionen durch die Rituale der Arbeiterbewegung entgeht. Dies hat vermutlich damit zu tun, dass ihm selbst um eine Apotheose der Arbeiter-Radio-Bewegung zu tun ist. Im Übrigen galt die zweifelhafte Qualität keineswegs nur für Programmkonzeptionen der organisierten Arbeiterphantasie, sondern auch für das faktische Programm: »Am Anfang des Rundfunks war die Langeweile. Da sie in einer brillanten und reizvoll technischen Maskierung einherging (denn immer wieder blendete das technische Wunder), merkten sie nur wenige. Entsetzliche Dinge wurden damals getrieben« (Hans Flesch 1930 in: Dahl 1983: 113). Arbeiterfunk H. 15 1929 zit. in: Wunderer (1980: 54). Dass der Massenbegriff gerade bei der Einschätzung und Auseinandersetzung mit dem Medium Rundfunk von besonderer Bedeutung ist, darauf verweisen sowohl Schanze (Schanze 2004: 15ff.) als auch MühlBenninghaus (Mühl-Benninghaus 2004: 105ff.). Auch bei Brecht bleibt die Haltung gegenüber der Masse ambivalent: Sie ist gleichermaßen Legitimation und Objekt. Vgl. Anm. 4. »Er [der Rundfunk, R. L.] ist zwar ein Kind der Republik, aber seine Väter sind kaiserliche Ministerialbeamte. Sie sind noch Etatisten und nicht einmal Kapitalisten. Deshalb ist Brechts Empfehlung aus den Jahren der

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Arbeiter-Radio-Bewegung (1918-1933) auch den Neo-Liberalen der siebziger Jahre empfehlenswert« (Knilli 1970: Klappentext). Ganz abgesehen von der ein wenig euphorischen Zeitrechnung – 1924-33 wäre vermutlich realistischer – ist Knillis Suggestion von Allianzen theoretisch wenig angemessen. 13 Dass das kommunikationstheoretische Problem nicht gestellt wird, ahnt Knilli zwar, er meint jedoch offensichtlich, dass es sich mit den folgenden Praktiken organisierten Hörens kompensieren ließe: »Dieses Ausgeliefertsein des Hörers durchbrach der Freie Radio-Bund [die kommunistische Fraktion der Arbeiter-Radio-Bewegung, R. L.] mit kollektiven Abhörabenden, an denen das Programm des sowjetischen Gewerkschaftssenders empfangen und anschließend zur Diskussion gestellt, an denen aber auch die antisowjetischen Hetzsendungen der Deutschen Welle abgehört und im Gespräch mit Sachverständigen entlarvt wurden« (Knilli 1970b: 116). Auch hier wird immer noch medientheoretische Reflexion durch die rechte Gesinnung substituiert. Dabei verstellt die Ideologie wiederum den Blick auf das prinzipielle Problem: »Denn es existiert ein starres und privilegierendes Benutzersystem: auf der einen Seite die starken Sender, auf der anderen Seite die schweigenden Empfänger. Ein liberaler Rollentausch zwischen Sprecher und Hörer findet nicht statt, und nicht, weil eine Korrespondenzschaltung technisch unmöglich oder zu teuer ist: Die starre Rollenteilung garantiert die Herrschaft der Wenigen« (Knilli 1970a: 10). Dass sich daran ja auch nichts ändert, wenn der Sender einer Partei gehört, wird ebenso ignoriert, wie der Rollentausch mittels des disqualifizierenden Attributs ›liberal‹ prinzipiell desavouiert werden soll. 14 »Für die Veränderung von Produktionsformen und Produktionsinstrumenten im Sinne einer fortschrittlichen […] Intelligenz hat Brecht den Begriff der Umfunktionierung geprägt. Er hat als erster an den Intellektuellen die weittragende Forderung erhoben: den Produktionsapparat nicht zu beliefern, ohne ihn zugleich, nach Maßgabe des Möglichen, im Sinne des Sozialismus zu verändern« (Benjamin 1980b: 691). 15 Im Übrigen stimmt eine derartige Volkstümlichkeit interessanterweise durchaus auch mit den Vorstellungen Lenins überein (vgl. Zetkin 1960: 637). Literatur Benjamin, Walter (1980a): »Zweierlei Volkstümlichkeit. Grundsätzliches zu einem Hörspiel« [1932]. In: ders., Gesammelte Schriften, Bd. IV.2, Aufsätze, Essays, Vorträge. Werkausgabe Bd. 11, Frankfurt/Main, S. 671-673.

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Benjamin, Walter (1980b): »Der Autor als Produzent« [1934]. In: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II.2, Aufsätze, Essays, Vorträge. Werkausgabe Bd. 5, Frankfurt/Main, S. 683-701. Brecht, Bertolt (1990a): »Radio – Eine vorsintflutliche Erfindung?« [1927]. In: ders., Gesammelte Werke in 20 Bänden, Bd. 18, Frankfurt/Main, S. 119-121. Brecht, Bertolt (1990b): »Vorschläge für den Intendanten des Rundfunks« [1927]. In: ders., Gesammelte Werke in 20 Bänden, Bd. 18, Frankfurt/Main, S. 121-123. Brecht, Bertolt (1990c): »Über Verwertungen« [1930]. In: ders., Gesammelte Werke in 20 Bänden, Bd. 18, Frankfurt/Main, S. 123-124. Brecht, Bertolt (1990d): »Der Rundfunk als Kommunikationsapparat« [1932]. In: ders., Gesammelte Werke in 20 Bänden, Bd. 18, Frankfurt/Main, S. 127134. Dahl, Peter (1983): Radio. Sozialgeschichte des Rundfunks für Sender und Empfänger, Reinbek bei Hamburg. Halefeldt, Horst O. (1981): »Die Linke und der Weimarer Rundfunk. Literatur zur Geschichte der Arbeiter-Radio-Bewegung: eine Zwischenbilanz«. Rundfunk und Fernsehen 29/4, S. 513-517. Klingsporn, K. M. (1988): »Vom Bastelklub zur Kulturorganisation: Gründung und Aufbau des ›Arbeiter-Radio-Klub Deutschland e.V.‹«. http://www.kla umikli.de/arbradbew/node18.html, 15.06.2005. Knilli, Friedrich (1970): Deutsche Lautsprecher. Versuche zu einer Semiotik des Radios, Stuttgart. Knilli, Friedrich (1970a): »Vorwort«. In: ders., Deutsche Lautsprecher. Versuche zu einer Semiotik des Radios, Stuttgart, S. 7-12. Knilli, Friedrich (1970b): »Arbeiter-Radio-Bewegung«. In: ders., Deutsche Lautsprecher. Versuche zu einer Semiotik des Radios, Stuttgart, S. 102-118. Lenin, W. I. (1960a): »Brief an M. A. Bontsch-Brujewitsch« [1920]. In: ders., Über Kultur und Kunst. Eine Sammlung ausgewählter Aufsätze und Reden, Berlin, S. 547. Lenin, W. I. (1960b): »Aus einem Brief an das Volkskommissariat für Postund Fernmeldewesen« [1922]. In: ders., Über Kultur und Kunst. Eine Sammlung ausgewählter Aufsätze und Reden, Berlin, S. 561. Lenin, W. I. (1960c): »An J. W. Stalin: Über die Entwicklung der Radiotechnik« [1922]. In: ders., Über Kultur und Kunst. Eine Sammlung ausgewählter Aufsätze und Reden, Berlin, S. 564-566. Lerg, Winfried B. (1980): Rundfunkpolitik in der Weimarer Republik. Rundfunk in Deutschland, München. Lersch, Edgar (2001): »Mediengeschichte des Hörfunks«. In: Schanze, Helmut (Hg.), Handbuch der Mediengeschichte, Stuttgart, S. 455-489.

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Markus Stauff Als im November 2003 das ZDF von seinen ZuschauerInnen »Unsere Besten« wählen ließ, belegte am Ende, zur Überraschung nicht nur des Senders, Karl Marx den dritten Platz – hinter Konrad Adenauer und Martin Luther! Es wäre allerdings voreilig, aus diesem Resultat eine besondere Affinität zwischen Marxismus und Fernsehen abzuleiten. Nicht nur der Verfassungsschutz Baden-Württembergs weist darauf hin, dass die Wahl keineswegs abgesichert repräsentativ erfolgte; in der linken Presse sei Werbung dafür gemacht worden, per SMS, Telefon und Mail für Marx zu votieren.1 Sein dritter Platz wäre somit zumindest Effekt eines komplexen Medienverbunds und geschickter politischer Strategie. Dem entspricht die Tatsache, dass das Fernsehen in den verschiedenen Schattierungen marxistischer Medienforschung nur selten Konturen als ein distinktes Medium erhält. Eine marxistische Fernsehtheorie kann und soll auch im Folgenden nicht präsentiert werden; auch keine marxistischen Fernsehtheorien im Plural. Wenn Adorno bei aller Kritik an einzelnen Aspekten des Fernsehens darauf insistiert, dass »diese Faktoren selber ihre Kraft einzig im Ganzen des Systems« empfangen (Adorno 1963: 70), so kann dies als kennzeichnende Haltung der marxistischen Medienforschung insgesamt gelten. Ob Fernsehen als Ideologie oder als Produktivkraft, als Element des Überbaus oder der Basis betrachtet wird – seine spezifischen Funktionen (für die Gesellschaft) und auch seine ›inneren‹ Funktionsweisen sind, aus marxistischer Perspektive, immer vermittelt durch die gesellschaftliche Totalität. Insofern der Prozess der ›Vermittlung‹ (wie viele andere Argumentationsfiguren bei Marx) selbst quasi-mediale Aspekte aufweist, ergeben sich vielfältige Schnittpunkte zwischen dem Marx’schen Theoriegebäude und Problematiken der Medienwissenschaft. Diese Schnittpunkte betreffen dabei in aller Regel die Einzelmedien übergreifende Aspekte und stellen zugleich Gegenmodelle zu den konventionellen Grundbegriffen einer etablierten Medienund Kommunikationswissenschaft dar. So wie Marx’ ökonomische Theorie immer eine Kritik der Politischen Ökonomie war, so entfaltet auch eine marxistische Medienwissenschaft ihr Potenzial wohl vor allem dann, wenn sie als Kritik der Medienwissenschaft – und dabei vor allem als Kritik der ›oberflächlichen‹ und ›unvermittelten‹ Vorstellungen von Einzelmedien – auftritt. Die Schnittpunkte zwischen marxistischer Theoriebildung und Medienwissenschaft vervielfältigen sich, insofern die Betonung von Vermittlung/ Medialität einen relativ gleitenden Übergang zwischen ökonomischen und anderen Aspekten der Medien erlaubt. So können beispielsweise die im Zuge der ökonomischen Analyse entwickelten Begriffe Fetisch, Entfremdung, Tausch- und Gebrauchswert, insofern sie bei Marx (und in der Ökonomie) Re-

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sultat von Vermittlungsprozessen sind, auch dort auf Medien angewendet werden, wo gar nicht von deren Ökonomie im engeren Sinne, sondern etwa von ihren Darstellungsformen, ihren Realitätsbezügen oder den durch sie instituierten Sozial- und Kommunikationsbeziehungen die Rede ist. Im Mittelpunkt steht dann vor allem die strukturelle oder funktionale Ähnlichkeit zwischen Medien und ökonomischem Prozess, wobei technische Massenmedien – und das Fernsehen in besonderem Maße – gleichermaßen als Produktivkräfte wie auch als Ideologieproduzenten betrachtet werden können. Das historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus konstatiert in dem Eintrag ›Fernsehen‹, dass dieses eine »gesellschaftliche Technologie im weitesten Sinne« ist, »ein scheinbar universeller Vermittler mit der Fähigkeit, die Kreisläufe ökonomischer Verwertung mit der Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse sowie der Formierung von Subjektivität zu verknüpfen« (Dienst 1995: 332). Das Fernsehen ist das paradigmatische Medium der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und steht somit symbolisch sowohl für die Ökonomisierung von Kultur wie auch für die Herausbildung von Medienoligopolen. Wenn das Fernsehen in mancher Hinsicht mehr als andere Medien zum Objekt marxistischer Analysen wurde, resultiert dies weniger aus den spezifischen Merkmalen des Fernsehens, als aus seinem gesellschaftlichen Status. Die meisten Massenmedien waren im Zuge ihrer Etablierung einer kritischen und häufig kulturpessimistischen Beurteilung ausgesetzt;2 das Fernsehen konnte sich in seiner bisherigen Geschichte aber weniger als andere Medien von einer solchen Beurteilung emanzipieren: Im Gegensatz zum Radio, zum Film und zur Presse haben sich für das Fernsehen weder Bereiche einer künstlerischen Wertschätzung noch Instanzen einer kritischen Gegenöffentlichkeit Raum und Aufmerksamkeit verschafft. Die Affirmation ›neuer, interaktiver‹ Medien trägt darüber hinaus noch nachträglich dazu bei, Fernsehen durch eine homogenisierende Dichotomie mit einem passiven und standardisierten Konsum gleichzusetzen. Wenn Medien als Agenten einer repressiven Vergesellschaftung sowie einer kommerziellen Verdinglichung betrachtet werden, dann steht das Fernsehen immer an prominenter Stelle. Die marxistische Auseinandersetzung mit den ideologischen Funktionen des Fernsehens oder mit seinen Produktions- und Besitzverhältnissen schließt somit in vielen Punkten an eine bürgerliche und hegemoniale Fernsehkritik an. Ironischerweise gewinnt deshalb die marxistische Fernsehkritik ihre Prägnanz vor allem dort, wo sie eingeschliffene marxistische Kategorien modifiziert und reflektiert; wenn etwa in der längst hegemonialen Kommerzialisierungsthese ein verallgemeinertes (und reduktionistisches) Basis-Überbau-Modell mitläuft, dann werden die marxistischen Ansätze interessant, die eine ›relative Autonomie‹ der kulturellen und ideologischen Formen herausarbeiten. Hierbei ist es nicht zuletzt von Bedeutung, dass sich das Medium Fernsehen historisch erst etablierte als sich ›im Westen‹ sowohl eine skeptische

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Haltung gegenüber Marx’ Revolutionsprognosen als auch eine distanzierende Haltung gegenüber dem Stalinismus entwickelt hatten; die Auseinandersetzung mit dem Fernsehen ist deshalb von vornherein von neo- und postmarxistischen Argumenten geprägt, die auch hier im Mittelpunkt stehen werden. Die ›Begegnung‹ zwischen Fernsehen und Marxismus/Marxismen verlief dabei, wie schon gesagt, entlang von Problematiken, die in der Regel die Einzelmedien übergreifen. Allerdings gibt es Fragen, die sich beim Fernsehen dringlicher oder prägnanter stellen, als bei anderen Medien; dies gilt etwa für den Komplex Zuschauer/Rezeption, der deshalb im Folgenden im Zentrum stehen soll.

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Gebrauchswert/Tauschwert/Produktivkraft Fernsehen ist zunächst ein ungeheuerlicher Distributionsapparat. Es übermittelt und verteilt kulturelle Produkte, politische Auseinandersetzungen und öffentliche Ereignisse unterschiedslos in die privaten Wohnräume. Am umfassendsten wurde dieser Prozesse aus marxistischer Perspektive in Oskar Negts und Alexander Kluges Öffentlichkeit und Erfahrung untersucht. Ihr Ausgangspunkt besteht darin, dass mit diesen Distributionsprozessen des Fernsehens zunächst – neben der ökonomischen – eine weitere, jetzt mediale, anonyme und abstrakte Vergesellschaftung einhergeht. Zugleich allerdings verbindet sich damit auch die Hoffnung auf eine massenmediale Kommunikation, die die anonyme Vergesellschaftung den Individuen zugänglich machen und somit ihre gesellschaftlichen Eigenschaften überhaupt erst entfalten könnte (Negt/Kluge 1972: 18). Dieser mögliche Gebrauchswert des Fernsehens wird allerdings in seiner tatsächlich existenten institutionellen Realisierungsform unterlaufen; das Fernsehen »bleibt auf die Abstrahlung generalisierter Programme beschränkt« (ebd.: 176). Im Anschluss an Dieter Prokop (1974) beschreiben sie die Praxis des Fernsehens deshalb als einen Tausch von ›generalisierter Rezeptivität‹ gegen ein pluralistisches, aber nicht weniger generalisiertes Programm, in das »die wirklichen Interessen und Bedürfnisse, für die die Menschen auch ernsthaft kämpfen würden«, nicht eingehen (Negt/Kluge 1972: 177). Die Distanz zwischen der (noch weitgehend manufakturiellen) Produktion von Fernsehsendungen, die nur als Teil eines hochindustriellen Gesamtangebots wahrnehmbar sind, auf der einen Seite und den Bedürfnissen der Zuschauer auf der anderen könnte erst durch eine »Industrialisierung des ›Faktors Zuschauer‹« getilgt werden. Solange dies nicht geschieht bleibt die »Selbsttätigkeit« der Zuschauer unorganisiert und somit machtlos (ebd.: 200f.). Fernsehen wird von Negt und Kluge als Agent einer spezifischen Tauschabstraktion thematisiert, die eine Vermittlung von individuellen Erfahrungen und gesellschaftlicher Organisation verhindert. In der Analyse werden drei

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Problematiken miteinander verbunden, die in der marxistischen Fernsehforschung eine unterschiedliche ›Karriere‹ machten. Die Frage nach der Möglichkeit einer Aneignung von Fernsehen (bzw. dessen einzelner Produkte), durchläuft in der marxistischen Fernsehkritik zahlreiche Variationen und bleibt bis in die Gegenwart wissenschaftlich und politisch produktiv. Bei Negt und Kluge ist diese Frage an eine präzise Analyse der Produktionsverhältnisse und Arbeitstechniken beim Fernsehen gebunden (vgl. ebd.: 201-216). Solche Analysen wurden für das Fernsehen zwar kaum noch unternommen;3 dass die Thematik aber innerhalb der marxistischen Theorie prinzipiell weiter relevant ist, zeigt sich beispielsweise an den Auseinandersetzungen um Konzepte wie immaterielle Arbeit (z.B. Negri/Lazzarato/Virno 1998). Ein drittes Motiv, das bei Negt und Kluge neben die Frage der Aneignung und die Frage der Produktionsverhältnisse tritt, hat demgegenüber mittlerweile an Plausibilität verloren: das Motiv vom Fernsehen als einer Produktivkraft, die zwar durch staatliche und kapitalistische Strukturen geprägt ist, unter anderen Produktionsverhältnissen aber sehr wohl einen entscheidenden Beitrag zu einer ›befreiten‹ Gesellschaft leisten könnte.4 Eine Zuspitzung dieser Vorstellung findet sich bei Hans Magnus Enzensberger, der in der Tradition von Walter Benjamin (für den Film) und Bertolt Brecht (für das Radio) auch dem Fernsehen (bzw. den »elektronischen Medien« im weiteren Sinne) ein revolutionäres Potenzial zuspricht, das sich mehr oder weniger aus der Struktur des Mediums ergibt (Enzensberger 1970). In der kapitalistischen Realisierungsform des Fernsehens werden diese Potenziale unterdrückt; sie zeigen sich aber an den Widersprüchlichkeiten, die diese Realisierungsform kennzeichnen und sie letztlich zum Scheitern bringen werden.5 So führt schon alleine die Notwendigkeit eines ungehinderten Informationsaustausches in der Industriegesellschaft zu einer strukturellen »Undichtigkeit der Bewusstseinsindustrie« (ebd.: 162), die es möglich machen soll, den Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Eine solche Perspektive auf das Fernsehen ist zurzeit schon deshalb in den Hintergrund gerückt, weil längst andere Medien, vor allem das Internet, die vermeintlichen Beschränkungen des Fernsehens aufheben – und gerade deshalb eine Wiederholung der gleichen Argumente auf sich ziehen. Die These von einem ökonomisch begrenzten Potenzial der technischen Medien/der Produktivkräfte (die im Übrigen auch in eher technikorientierten und ganz unmarxistischen Theoriemodellen vertreten wird; vgl. etwa Kittler 1995; 1998), bleibt allerdings nicht nur wegen der historischen Entwicklung, sondern auch aus theoretischen Gründen unbefriedigend. Das Fernsehen als mediale Konstellation ist (wie andere Medien auch) konstitutiv mit einem bestimmten ökonomischen System verkoppelt; seine Fortexistenz als dasselbe Medium unter anderen ökonomischen Bedingungen wäre somit erst noch zu erläutern. »Das Fernsehen ist eine Maschine, die nicht nur am besten inner-

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halb kapitalistischer Systeme funktioniert, sondern diese auch reproduziert und unterstützt« (Dienst 1995: 331). Dass diese ›Unterstützung‹ des Kapitalismus aus marxistischer Perspektive sehr vielfältige Erklärungen findet, soll im Folgenden gezeigt werden. Fernsehen als Ideologie: Kulturindustrie

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Die Kritische Theorie/Frankfurter Schule, insbesondere Theodor W. Adorno, kann sicher als eine der ersten marxistischen Auseinandersetzungen mit dem Fernsehen gelten. Und es ist auch hier der marxistische Hintergrund, der es verbietet, Fernsehen als ein distinktes Medium zu isolieren: »Das Medium selbst fällt ins umfassende Schema der Kulturindustrie und treibt deren Tendenz, das Bewusstsein des Publikums von allen Seiten zu umstellen und einzufangen, als Verbindung von Film und Radio weiter« (Adorno 1963a: 96). Das Fernsehen weist zwar einige spezifische Merkmale auf, die allerdings lediglich eine ›Arbeitsteilung‹ innerhalb des Medienverbunds und somit ein lückenloses Funktionieren der kulturindustriellen Maschinerie möglich machen.6 So weist Adorno (und dies kann durchaus als ›medienmaterialistisches‹ Argument gelten) explizit darauf hin, dass die Inhalte des Fernsehens zwar keineswegs schlechter als die von Film und Radio sind, dass aber der familiäre und miniaturisierte Charakter des Apparats in besonderem Maße dazu führe, alles Kulturelle zu verfügbaren Objekten (Waren) zu degradieren und einen Schein von Vergesellschaftung zu instituieren: Die Zuschauer »verwechseln das ganz und gar Vermittelte, illusionär Geplante mit der Verbundenheit, nach der sie darben« (Adorno 1963a: 75). Das Interesse richtet sich dabei, und dies ist eine entscheidende Neuakzentuierung gegenüber dem Marx’schen Projekt, auf die Ebene der kulturellen Erscheinungsformen und ihrer Ideologie(n), die (auch) unter Verwendung marxistischer Begriffe und Modelle analysiert werden. Wenn etwa Adorno 1953 in seinem Aufsatz Fernsehen als Ideologie formuliert, dass der »Schwachsinn des Ganzen […] sich aus lauter gesundem Menschenverstand zusammen[setzt]« (Adorno 1963b: 96), dann greift er damit eine Denkfigur der Kritik der politischen Ökonomie auf: So wie – nach Marx – aus dem völlig ›rationalen‹ Verkauf der Arbeitskraft zu einem durchaus ›angemessenen‹ Wert gesamtgesellschaftlich notwendigerweise Ausbeutung und Entfremdung resultiert, so führen – nach Adorno – die ›rationalen‹ Handlungen der Produzenten und Rezipienten von Fernsehen im bestehenden System zu kulturellen Formen, die die Subjekte an der Entfaltung von Identität und Bedürfnissen hindern (vgl. ebd.: 97). Das Fernsehen steht in der Kritischen Theorie/Frankfurter Schule somit exemplarisch für eine notwendige Modifikation des marxistischen Denkens: das Ausbleiben der Revolution, die bei Marx aus der ökonomischen Analyse

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heraus prognostiziert wurde, wird erklärt, indem neben den Produktions-, Arbeits- und Besitzverhältnissen weitere Instanzen der Bewusstseinsbildung eingeführt werden; mit Blick auf die Kulturindustrie und dabei vor allem die Medien, werden psychologische Aspekte aufgewertet. Das Fernsehen (wie gesagt: als Teil eines Ganzen, das dem Fernsehen seine Effektivität verleiht) ›naturalisiert‹ die bestehende Welt. Analog zur Diagnose eines zunehmenden Widerspruchs zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften wird die innere Widersprüchlichkeit der Kulturindustrie betont – zugleich wird aber abweichend von Marx’ Revolutionsprognose der Kulturindustrie die Fähigkeit zugesprochen, jeglichen aus den Widersprüchen resultierenden Widerstand auf die Medienprodukte umzulenken: »[J]e mehr, unter diktatorialem Willen, das Auseinanderweisende integriert wird, um so mehr schreitet die Desintegration fort, um so mehr fällt auseinander, was nicht von sich aus zusammengehört, sondern bloß äußerlich addiert wird. […] Der Verdacht, dass die Realität, die man serviert, nicht die sei, für die sie sich ausgibt, wird wachsen. Nur führt das zunächst nicht zum Widerstand, sondern man liebt, mit verbissenen Zähnen, das Unausweichliche und zuinnerst Verhasste um so fanatischer.« (Adorno 1963a: 72)7

Wenn nach Marx Ideologie in den Formen besteht, »in denen sich Menschen […] eines Konflikts bewusst werden und ihn ausfechten« (MEW, Bd. 13: 9), tragen die Massenmedien nach Adorno entscheidend dazu bei, dass sich diese Konflikte lediglich im Unbewussten artikulieren.8 Wider die Massenkommunikation (Raymond Williams) Wie unterschiedlich das Spannungsverhältnis zwischen der ökonomischen und der ideologischen Strukturierung von Fernsehen (und somit das Verhältnis von Basis und Überbau) in der Anwendung marxistischer Theorie auf das Fernsehen modelliert werden kann, zeigt sich deutlich, wenn man die Kritische Theorie/Frankfurter Schule mit den britischen Cultural Studies vergleicht. Sicher können diese (ebenso wie die Kritische Theorie) nicht im Ganzen als ein marxistisches Projekt bezeichnet werden und von Vertretern einer (wiederum nur z.T. marxistischen) Politischen Ökonomie der Medien wurde immer wieder der Vorwurf erhoben, dass die Cultural Studies die Besitz- und Produktionsverhältnisse der Medien allzu sehr vernachlässigen würden.9 Mit Raymond Williams und Stuart Hall beziehen sich allerdings zwei so genannte ›Gründerfiguren‹ der britischen Cultural Studies explizit (wenn auch in unterschiedlicher Weise) auf Marx sowie auf neo-marxistische Positionen. Zunächst wird bei beiden, ganz ähnlich der Kritischen Theorie, deutlich, dass aus einer marxistischen Perspektive Fernsehen nicht als ein eigenständiger

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Mechanismus mit einer ›eigenen Logik‹ verstanden werden kann; das Fernsehen bildet aber für beide einen zentrales Anschauungsobjekt ihrer Theoriebildung, die sich auf Massenmedien und Populärkultur erstreckt. Williams insistiert darauf, dass sich eine marxistische Medienforschung von den Grundbegriffen der Massenkommunikationsforschung absetzen muss:

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»The bourgeois concept of ›mass communications‹ and the tied radical concept of ›mass manipulation‹ are alike inadequate to the true sociology of these central and varying institutions. […] the concept of the ›mass‹ replacing and neutralizing specific class structures; the concepts of ›manipulation‹ (an operative strategy in capitalist advertising and politics) replacing and neutralizing the complex interactions of control, selection, incorporation, and the phases of social consciousness which correspond to real social situations and relations.« (Williams 1977: 49f.)

Zunächst deckt sich diese Einschätzung mit der Perspektive Adornos, der die Frage der Sozialforschung, »what television does to the people«, zurückweist, weil alle Faktoren, die als Ursache einer ›Wirkung‹ in Frage kommen »selber ihre Kraft einzig im Ganzen des Systems« empfangen (Adorno 1963a: 70). Zumindest eine Medienwissenschaft, der es selbst gelingt, die Medien nicht als distinkte und spezifische Funktionseinheiten zu betrachten, kann sich auch heute noch mit diesem originär marxistischen Argument gegen die Zumutungen von Wirkungsforschungen wappnen. Der Beitrag des Fernsehens zur Reproduktion der Produktionsverhältnisse liegt somit nicht in seinen Wirkungen, sondern in seiner Verflechtung mit anderen gesellschaftlichen und subjektivierenden Mechanismen. Williams spricht in seiner Monografie zum Fernsehen (die allerdings auffällig wenig expliziten Bezug zur marxistischen Theorie enthält) zumindest zwei entsprechende Funktionen des Fernsehens an: Zum einen trägt die Kommunikations-/ Distributionsstruktur des Fernsehens zur Durchsetzung einer »mobile privatisation« bei; einer nicht zuletzt durch neue Ausbildungs- und Berufsverhältnisse intensivierten Mobilität, die aber dank der medialen Infrastruktur eine bürgerliche Privatheit der Menschen quasi mit transportiert. Zum anderen trägt die Präsentationsform des Fernsehens – ein endloser flow fragmentierter Teilelemente, der keine innere Ordnung und Konsistenz, sehr wohl aber fortlaufende thematische Assoziationen aufweist – zu einer konsumistischen Wahrnehmung bei.10 Williams Argument weist allerdings noch eine ganz andere Stoßrichtung auf, die es deutlich von der Kritischen Theorie unterscheidet. In einer Klassengesellschaft ist das Fernsehen, wie jedes Medium, immer schon widersprüchlich und heterogen.11 Auch deshalb ist Manipulation kein brauchbarer Begriff, um die Funktionen des Fernsehens für die gesellschaftliche Reproduktion zu beschreiben; schließlich impliziert ›Manipulation‹ nicht nur, dass

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es ein (manipulierendes) Medium gibt, sondern dass es darüber hinaus auch den zu manipulierenden Zuschauer/Rezipienten gibt. »A Marxist cultural sociology is then recognizable, in its simplest outlines, in studies of different types of institution and formation in cultural production and distribution, and in the linking of these within whole social material processes. Thus distribution, for example, is not limited to its technical definition and function within a capitalist market, but connected, specifically, to modes of production and then interpreted as the active formation of readerships and audiences, and of the characteristic social relations, including economic relations, within which particular forms of cultural activity are in practice carried out.« (Williams 1977: 51)

Das Fernsehschauen selbst, die Praktiken des Publikums, sind Teil einer ökonomischen und kulturellen Struktur, die mit dem Fernsehen keineswegs deckungsgleich ist. Hieraus leitet sich eine spezifische Akzentsetzung der Cultural Studies ab, die sich mit genau diesen Praktiken des Fernsehschauens befassen, um herauszufinden wie und durch welche Faktoren sie konstituiert werden und wie sie dem Fernsehen (als Institution) Wirksamkeit verleihen. Die Dynamik gesellschaftlicher Widersprüche wird somit weniger auf der Ebene von Produktivkräften/Produktionsverhältnissen und auch nur zum Teil auf der Ebene der Besitzverhältnisse, sondern vor allem im Spannungsfeld von zentraler Institution und lokaler Aneignung sowie in der Widersprüchlichkeit unterschiedlicher Aneignungsweisen betrachtet: Dass Fernsehen – auch in seiner kapitalistischen Form – angeeignet werden kann, steht hier (im Gegensatz zu Negt/Kluge und Adorno) außer Frage. Damit können die Cultural Studies in der Tradition eines ›humanistischen Marxismus‹ verortet werden, der sich für die historische Gestaltungskraft und Handlungsmacht ›der Leute‹ interessiert. Die neue Problematik besteht in der Frage, wie die Institutionen des Fernsehens und die Praktiken der ZuschauerInnen überhaupt in ein Wechselverhältnis treten, das gleichermaßen die ökonomische wie die ideologische Produktivität von Fernsehen erst begründet. Dieses Verhältnis kann vor der Folie Marx’scher Begrifflichkeiten zum einen, wie bei der Kritischen Theorie schon gesehen, als ein Verhältnis analog zur Warenzirkulation, zum anderen aber auch als ein Verhältnis analog zum Produktions- und Arbeitsprozess betrachtet werden. Mit der Fokussierung der Zuschauer als eigenständiger und konstitutiver Größe ist – wie später noch zu zeigen sein wird – eine ökonomische Perspektive keineswegs ausgeschlossen. Innerhalb der Cultural Studies dominiert allerdings die ideologietheoretische über die ökonomische Problematik; Marx’ Theorie ökonomischer Zirkulation und Reproduktion wird für Fragen der massenmedialen Bedeutungsproduktion fruchtbar gemacht; die Frage nach der Reproduktion der Produktionsverhältnisse bleibt dabei präsent,

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die nach der Konstitution von Wert und nach ökonomischer Ausbeutung gerät in den Hintergrund. Zirkulation und Aneignung (Stuart Hall) Als paradigmatisch für eine solche Aneignung marxistischer Versatzstücke kann sicherlich Stuart Halls Modellierung der massenmedialen Kommunikation unter dem Titel Encoding/Decoding gelten. Der Text basiert auf einem Vortrag, der schon 1973 für einen Congress of European Mass Communications Research verfasst und 1980 in dem Sammelband Culture, Media, Language. Working Papers in Cultural Studies, 1972-1979 publiziert wurde. Obwohl er nie darauf zielte ein kohärentes theoretisches Modell für die weitere Medienforschung vorzustellen, sondern nur das Forschungsfeld sondieren und Raum für neue Fragestellungen öffnen sollte (Hall 1994: 255), wurde er zum zentralen Bezugspunkt aller anschließenden Debatten um den Stellenwert von Rezeption und Aneignungsprozessen. In Übereinstimmung mit Williams werden die Konzepte der traditionellen Massenkommunikations- und Wirkungsforschung zurückgewiesen. Die Unterscheidung von drei konstitutiven Teilmechanismen – ›Produktion‹, ›Zirkulation‹/›Distribution‹, ›Rezeption‹ – erinnert zwar noch stark an konventionelle Kommunikationsmodelle, die aber durch Betonung der Komplexität und Heterogenität dieser Instanzen weitgehend unterlaufen werden: An die Stelle einer linearen Kontinuität des Prozesses tritt eine Abfolge je spezifisch strukturierter Mechanismen; an die Stelle eines isolierbaren Kommunikationsablaufs tritt die konstitutive Einbindung der drei Mechanismen in umfassendere gesellschaftliche und kulturelle Prozesse (die ihnen erst ihren jeweiligen ›Eigensinn‹ verleihen). In deutlicher Anlehnung an neo-marxistische Theorieentwürfe, die Gesellschaft als eine strukturierte Gesamtheit verstehen, die durch umfassende Wechselbeziehungen zwischen unterschiedlichen Ebenen geprägt ist, ohne dass eine vereinheitlichende und determinierende Struktur diese Beziehungen reguliert, betrachtet Hall auch den Kommunikationsprozess als eine Verkettung ›relativ autonomer‹ Faktoren: »a structure produced and sustained through the articulation of linked but distinctive moments« (1992: 128).12 Der Begriff der Artikulation – ebenfalls eine Anleihe bei Marx – verweist darauf, dass die Wechselwirkungen und Übergänge zwischen den verschiedenen Momenten eines massenmedialen Kommunikationsprozesses weder ›natürlich‹ noch ›notwendig‹ sind; vor allem können sie nicht aus der Form eines der beteiligten Elemente abgeleitet werden (wie es geschieht, wenn von der Form einer Sendung entweder auf ihr Publikum oder auf das Produktionsinteresse geschlossen wird). »While each of the moments in articulation is necessary to the circuit as a whole, no one moment can fully guarantee the next moment with which it is articulated« (ebd.: 129). Zugleich werden in diesem Modell die

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›eigenwilligen‹ Funktionsweisen der drei Instanzen auf externe Einflüsse zurückgeführt (Ideologien, ökonomische und politische Faktoren etc.), die somit keineswegs nur als ›Störungen‹ fungieren, sondern konstitutive Faktoren der Kommunikation sind. Während Hall also einerseits die selbstverständlichen Verbindungen zwischen den Instanzen der Kommunikation kappt, indem er diese jeweils als heterogene Mechanismen konzipiert, erstellt er andererseits neue und stärker vermittelte Wechselwirkungen, indem er die Instanzen als soziale und diskursive Praktiken konzipiert und so ihre Verkopplung mit übergreifenden kulturellen und sozialen Mechanismen herausarbeitet. Plausibel wird dieses Modell vor allem durch die Betonung der semiotisch-diskursiven Struktur medialer Produkte. Es zirkulieren Zeichen, keine Botschaften; die Bedeutungen der Zeichen müssen immer wieder neu reproduziert werden, was nur unter Rückgriff auf nicht Mitkommuniziertes möglich ist.13 Die Bedeutungsproduktion in den verschiedenen Teilmechanismen des Kommunikationsprozesses ist somit abhängig von anderen Zirkulationsprozessen, die zuvor und danach sowie in anderen Medien stattfinden. Wenn massenmediale Zirkulation nun zum einen durch eine Verkettung von relativ autonomen Instanzen, zum anderen in Form von nicht bedeutungsstabilen und kontextabhängigen Signifikanten erfolgt, dann geraten notwendigerweise auch die Rezeptions- und Aneignungsprozesse als relativ eigenständige Größe in den Blick. Genau an diesem Punkt bringt Hall die hierarchische und widersprüchliche soziale Struktur der Gesellschaft ins Spiel, wenn er – sicherlich etwas zu schematisch – drei idealtypische Positionen formuliert, die zu spezifischen und zum Teil gegensätzlichen ›Lesarten‹ führen. Erst die soziale Situiertheit bringt endgültige Bedeutungen hervor, »being produced by social and economic relations, which shape their ›realization‹ at the reception end of the chain and which permit the meanings signified in the discourse to be transposed into practice or consciousness […]« (ebd.: 130). Bezeichnend für die Entwicklung neo-marxistischer Theorieentwicklung ist wohl auch, dass die zunächst dominante sozio-ökonomische (sprich: an Klassenzugehörigkeit orientierte) Differenzierung solcher Aneignungsweisen, innerhalb der Cultural Studies sehr schnell durch weitere, von Marx nur wenig thematisierte gesellschaftliche Widersprüche ergänzt wurde: die Gewichtung der Faktoren ›race, class, gender‹ (und zunehmend weiterer) bildete im Folgenden eine zentrale Problematik der Cultural Studies. Aus marxistischer Perspektive muss es als eines der zentralen Defizite dieses Modells angesehen werden – Stuart Hall (1994: 260) hat dies später selbst eingeräumt –, dass der mediale Zirkulationsprozess – obwohl der Bezug der einzelnen Instanzen auf die gesellschaftliche Totalität durchaus betont wird – nicht konsequent ausformuliert wird: Die Fokussierung der differenten Aneignungsformen führt dazu, dass diese eine Art ›Endpunkt‹ der Re-

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produktionsprozesse darstellen, womit letztlich Implikationen des konventionellen Kommunikationsmodells aufrecht erhalten werden.14 Nur in wenigen Andeutungen geht Hall beispielsweise auf die konstitutive Rolle der Aneignungsweisen für die Produktionsprozesse ein; die zirkuläre Reproduktion der Aneignungsweisen selbst (des Verhältnisses der Subjekte zu den Medien) kommt gar nicht in den Blick.

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Fernsehschauen als Arbeit (Dallas W. Smythe) Marx hat die schlichte, für die Medien- wie die Konsumforschung aber weiterhin erst noch auszuformulierende, Feststellung getroffen, dass jede Produktion immer auch Konsumtion, jede Konsumtion auch Produktion ist; und zwar nicht nur, weil bei der Produktion eine Verausgabung (also Konsumtion) von Rohstoffen und Arbeitskräften stattfindet, während die Konsumtion (etwa von Lebensmitteln) zur (Re-)Produktion von Arbeitskraft beiträgt, sondern auch, weil sich Produktion und Konsumtion wechselseitig Anlass sind und sich damit wechselseitig realisieren: »Die Konsumtion schafft den Trieb der Produktion; sie schafft auch den Gegenstand, der als zweckbestimmend in der Produktion tätig ist« (MEW, Bd. 13: 623). Jede Konsumtion übernimmt also gerade auch für das, was sie konsumiert, produktive Funktionen. Es spricht wenig dagegen, dieses Modell, das von Marx für materielle Prozesse formuliert wurde, auch für symbolische und semiotische Prozesse in Anspruch zu nehmen. Interessanterweise wird in neueren Publikationen aus dem Umfeld der Cultural Studies die Tätigkeit der Zuschauerinnen und Zuschauer als consumption bezeichnet und dabei auch ein voller Kreislauf der Reproduktion kultureller Produkte beschrieben (z.B. Gay u.a. 1997); unter Bezug auf Marx wird die Bedeutung von »intermediary movements« herausgestellt, die eine wechselseitige Kopplung (aber keine Determination!) zwischen allen Praxisbereichen der medienkulturellen (Re-)Produktion sicherstellen (ebd.: 52); indem aber alle Teilbereiche gleichermaßen als je spezifische kulturelle Praktiken aufgefasst werden, gerät die Marx’sche Totalität mit ihrer abstrakten Vermittlung aus dem Blick. Die Ausformulierung eines reproduktiven Zirkulationsmodells, das auch die Praktiken der Aneignung nicht als Endpunkt, sondern als konstitutiven Faktor für die Reproduktion der Medien als Institutionen und Unternehmen beschreibt, findet sich am ehesten in Publikationen, die (im Vergleich zu den Cultural Studies, aber auch im Vergleich zur Kritischen Theorie) den ökonomiekritischen Aspekt der marxistischen Theoriebildung gegenüber dem ideologiekritischen stärker betonen. In einem engen ökonomischen Sinn ist keineswegs klar, wo Produktion und wo Konsum des Fernsehens stattfinden und durch welche Praktiken wel-

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che Waren konsumiert und produziert werden. Auch von (neo-)liberalen Wirtschaftswissenschaftlern ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass zumindest im kommerziellen und werbefinanzierten Fernsehen nicht Sendungen an Zuschauer, sondern Zuschauer an die werbetreibende Industrie verkauft werden (prominent hierzu z.B. Coase 1965). Fernsehsender müssen – keineswegs nur metaphorisch, sondern höchst operational – als Maschinerien betrachtet werden, die das Produkt Zuschauer in immer neuen und fein differenzierten Modellreihen hervorbringen, um es an Kunden aus der (Werbe-)Industrie zu verkaufen. Sollten Zuschauer Fernsehen konsumieren, so werden sie gerade dadurch selbst zum Gegenstand von Konsumtionsprozessen – und Teil eines Produktionsprozesses. Unter explizitem Bezug auf die marxistische Theorie hat der kanadische Medienforscher Dallas W. Smythe (der im Übrigen auch schon in Adornos frühen Fernsehtexten erwähnt wird, z.B. 1963b: 82) diese Überlegung Anfang der 1980er Jahre ausformuliert. Während seine Argumentation in erster Linie das Ziel verfolgt, die Ausbeutung der Zuschauerinnen und Zuschauer durch die mediale Ökonomie aufzuzeigen, verdeutlicht sie zugleich, wie die Zuschauerinnen und Zuschauer Durchgangspunkte für gleichermaßen kulturelle wie ökonomische Zirkulationsprozesse bilden. Die Fernsehsender streben danach, durch ihre Programmgestaltung und die Realisierung einzelner Sendungen ein möglichst wertvolles Produkt zu erstellen, d.h. quantitativ möglichst viele Zuschauer und qualitativ möglichst »hochwertige« Zielgruppen zu erreichen. Während dies auf der einen Seite abstrakte statistisch-demographische Größen sind, haben diese für die Werbewirtschaft nur deshalb eine derartige Attraktivität, weil sehr konkrete Arbeit in dieses Produkt (Zuschauerinnen und Zuschauer), das für viel Geld erworben wird, eingegangen ist. Dies ist aber weniger die Arbeit, die bei den Sendern geleistet wird (diese verleiht dem Produkt kaum Wert), als vielmehr die Arbeit, die von den Zuschauerinnen und Zuschauern eingebracht wird. Smythe spricht deshalb auch von audience power als Voraussetzung für die Veräußerung von Sendeminuten (was man in diesem Zusammenhang wohl eher mit »Zuschauerkraft« als mit »Macht der Zuschauer« übersetzen wird, nicht zuletzt um zu verdeutlichen, dass die »Zuschauerkraft« eine strukturelle Größe und kein individuelles Vermögen ist). »Because audience power is produced, sold, purchased and consumed, it commands a price and is a commodity« (Smythe 2001: 256). Mit diesem Begriff weist er darauf hin, dass eben sehr viel mehr als nur die Aufmerksamkeit für eine Sendung (oder sogar nur den einzelnen Werbespot) der Gegenwert für den Preis der Werbeminuten ist. In der audience power bündeln sich so unterschiedliche Faktoren wie die Anschaffung von Unterhaltungselektronik, die Notwendigkeit, beim Einkauf Entscheidungen zu treffen, wofür das Geld ausgegeben wird, vor allem aber dem gesamten gesellschaftlichen Erziehungsprozess, der eine Sensibilität für Marken und Pro-

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dukte und ein kulturelles Differenzierungsvermögen für Sendungen und Sender vermittelt: »People in audiences, we should remember, have had a rich history of education for their work as audience members. As children, teenagers, and adults they have observed old and new models of particular brands of products on the street, in homes of

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friends, at school, at the job front etc. Much time will have been spent in discussing the ›good‹ and ›bad‹ features of brands and commodities in hundreds of contexts. […] Advertisers get this huge volume of audience work (creation of consumer consciousness) as a bonus even before a specific media free-lunch-advertising program appears on the tube face and initiates a new episode in audience work.« (Smythe 2001: 267)

Die Zuschauerinnen und Zuschauer tragen selbst zur Produktion der Ware Zuschauer erheblich (und nicht zuletzt finanziell) bei, indem sie Apparate und Programmzeitschriften kaufen und dabei jeweils enorme Zeit – und somit Arbeit – für Information, Entscheidungsfindung, Auswahl etc. verwenden. Zusätzlich befinden sich die Zuschauerinnen und Zuschauer immer an einem Schnittpunkt vielfältiger paralleler Konsumtionsprozesse. Wenn sich beispielsweise in der Fernsehprogrammzeitschrift eine Sonderseite zur Übertragung eines Formel 1-Rennens findet, dann produziert die Fernsehzeitschrift damit die Ware Zuschauer für ihre Inserenten; sie greift dabei allerdings auf die von dem Fernsehen (vor-)produzierte Ware der Formel 1-Fans zurück, die sie zugleich für das Fernsehen (re-)produziert. Die Lektüre der Programmzeitschrift trägt ebenso zur Produktion der Formel 1-Zielgruppe des Fernsehens bei, wie umgekehrt das Fernsehschauen spezifische Interessen produziert, die von der Programmzeitschrift verwertet werden können. Wo hier konsumiert, wo produziert wird, ist lediglich eine Frage der je eingenommenen Perspektive; entscheidend für die Reproduktion und die gesellschaftliche Funktion der Institution Fernsehen ist aber, dass immer neue Bezüge zwischen (extra dafür definierten und hervorgebrachten) Verhaltensweisen, demographischen Merkmalen, Genres, Themen und unterschiedlichen Medien erstellt werden. Die rhythmische Ablösung unterschiedlicher Formate und Gattungen im Fernsehprogramm, die meist recht kurzfristige Moden erleben – an die Stelle der Talksendungen treten Gerichtssendungen; an die Stelle von Spiel- treten Quizshows – kann zwar auch auf einen Konsum der Formate durch Zuschauer zurück geführt werden (ihr Wert wird durch wiederholtes Ansehen gemindert); zugleich zeigt dies aber einen Konsum von Zielgruppen durch die Werbeindustrie an (allgemein hierzu: Gitlin 1994: 29f.). Zuschauerinnen und Zuschauer werden in den Prozess des Tauschens hineingezogen; ihre Praktiken werden konsumiert, sobald sie konsumieren. Alle am Fernsehen beteiligten Elemente können ebenso gut Subjekte wie Objekte der Konsumtion sein. Dies gilt sowohl in finanzieller wie in kultureller

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bzw. semiotischer Hinsicht. Vor allem ist die Produktion der Ware Zuschauer in keinem Fall ein bloß manipulativer Prozess oder ein Prozess künstlicher Bedürfniserzeugung – die Praktiken der Zuschauerinnen und Zuschauer gehen in vielfältiger Weise in die kulturelle Produktion ein, sie werden ständig angereizt und vervielfältigt, um für die Ausdifferenzierung neuer Produkte produktiv zu werden. »Fernsehen ist in diesem Sinne tatsächlich eine Art Arbeit, sowohl im engeren Sinn (es be/schafft Mehrwert für Fernseh-Sender) als auch im weiteren Sinn (es übersetzt unsere eigene Aktivität in eine abstrakte ›Konsummasse‹, die immer vergrößert werden muß)« (Dienst 1995: 341). Ein Verständnis von Fernsehen als Teilmechanismus eines – sei es ökonomischem, sei es diskursivem – Zirkulationsprozesses, in dem sich unterschiedliche Praktiken verketten, bringt zumindest zwei medienanalytische Einsichten mit sich: Zum einen verdeutlicht sie, dass eine Ökonomie des Fernsehens sich nicht auf Besitzverhältnisse, Fernsehproduktion und Rechtekauf beschränken kann. Wenn sich eine (selbstdeklarierte) kritische Fernsehforschung allzu häufig darauf reduziert, die zunehmende Kommerzialisierung und Privatisierung des Fernsehens zu beklagen, und nicht selten explizit für mehr öffentlich-rechtliches Fernsehen eintritt, muss dies aus einer marxistischen Perspektive als ›Ideologie‹ erscheinen (in dem Sinne, in dem Marx die klassische Politische Ökonomie als ideologisch bezeichnete). Die konventionelle Analyse ist den oberflächlichen Erscheinungsformen – etwa in der unproblematischen Differenzierung von Produktion/Distribution/Rezeption – verhaftet, ohne das Zustandekommen dieser Kategorien erklären zu können. Zum anderen (und hieran anschließend) verdeutlicht die hier skizzierte Perspektive, dass insbesondere ›die Zuschauer‹, die so häufig zum affirmativen Bezugspunkt einer Fernsehkritik werden, ein Konstrukt sind, das den Zirkulationsprozessen des Fernsehens (den ökonomischen wie den diskursiven) immanent ist.15 Martin Allor schlägt deshalb vor, analog zu Marx’ Kritik an einem nur scheinbar konkreten Bezugspunkt wie etwa der ›Bevölkerung‹, auch die Zuschauer nie als gegeben anzunehmen, sondern sie vielmehr auf die vielfältigen Artikulationen zurückzuführen, die ihnen Konkretheit verleihen. »The audience exists nowhere; it inhabits no real space, only positions within analytic discourses« (Allor 1988: 228). Damit kann ein marxistischer Blick auf das Fernsehen nicht nur Wirkungsund Manipulationsmodellen, die das Medium aus der gesellschaftlichen Totalität isolieren, eine Absage erteilen, sondern auch liberalen Vertragsmodellen, die das Individuum und die intersubjektiven Aushandlungsprozesse zum (und sei es nur modellhaften) Ausgangspunkt nehmen. Die marxistische Perspektive könnte somit zwar nicht genauer als andere Ansätze beschreiben, was Fernsehen ist. Sie könnte aber entscheidend dazu beitragen, die Konstitu-

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tion von Fernsehen als ökonomisch und ideologisch produktiver Apparat in ihren historisch ständig sich wandelnden Ausprägungen kritisch nachzuvollziehen. Anmerkungen

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1 http://www.verfassungsschutz-bw.de/links/files/l_autonome_2004-01 _2.htm, 15.6.2005. 2 Zu den diskursiven Figuren, die die Einführung nahezu aller Medien begleiten, vgl. Kümmel/Scholz/Schumacher (2004); insb. die Einleitung. 3 Dies gilt für marxistisch orientierte Analysen; Produktionsanalysen unter anderer Perspektive finden sich selbstverständlich weiterhin, so z.B. bei Caldwell (1995). 4 Dieses Motiv fasst Douglas Kellner, prominenter US-amerikanischer Vertreter einer marxistischen kritischen Medientheorie, in einer schlichten Dichotomie zusammen, die ein weitgehend instrumentelles Medienverständnis impliziert: »For Marxian theory, the new technologies are forces of production used by capital to produce a new media and computer society in which information, entertainment, education, and everyday life will be mediated by these technologies. The project of corporate capital is to commodify the new technologies as rapidly as possible to maximize capital accumulation and the project of the Left should be to struggle for their decommodification and to use the technologies against the interests of capital and in favor of empowering human beings« (Kellner 2004). 5 Enzensberger geht so weit zu behaupten, dass sich der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen bei den elektronischen Medien am schärfsten zeige, insofern die »Bewusstseinsindustrie« maßgeblich für den Entwicklungsstand der gesellschaftlichen Technologien sei (Enzensberger 1970: 159). 6 In der Dialektik der Aufklärung wird dies nochmals zugespitzt; Fernsehen figuriert als schlichte Steigerung älterer kulturindustrieller Medien: Fernsehen ist die »hohnlachende Erfüllung des Wagnerschen Traums vom Gesamtkunstwerk. Die Übereinstimmung von Wort, Bild und Musik gelingt um so viel perfekter als im Tristan, weil die sinnlichen Elemente, die einspruchslos allesamt die Oberfläche der gesellschaftlichen Realität protokollieren, dem Prinzip nach im gleichen technischen Arbeitsgang produziert werden und dessen Einheit als ihren eigentlichen Gehalt ausdrücken« (Horkheimer/Adorno 1988: 132). 7 Adorno zieht hier explizit eine Analogie zwischen Fernsehen und den »totalitären Staaten beider Versionen« (1963a: 72).

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8 Zum Begriff der Ideologie vgl. auch den Beitrag von Alexander Böhnke in diesem Band. 9 Aus Sicht der ›Political Economy‹ z.B. Garnham (1990 u. 1995); aus Sicht der ›Cultural Studies‹ etwa Grossberg (1998). Die Diskussion wird interessanterweise gerade in jüngster Zeit wieder mit neuer Hartnäckigkeit geführt; z.B. in der Internet-Zeitschrift ›flowtv‹ (http://idg.communication.utexas.edu/flow/; beginnend in Vol. 2, No. 5). 10 Diese Position hat Margaret Morse (1990) weiter ausgearbeitet, indem sie die ständig transitorischen Wahrnehmungsformen von Shopping Malls, Autobahnen und Fernsehen miteinander vergleicht; ausführlicher dazu Stauff (2004). 11 Ein Argument, das schon früh von Stuart Hall auch unter Hinweis auf die Technik gestützt wird. »Television is a hybrid medium. […] Its position as a highly advanced and socially specialized technology is marked by the degree to which it combines old and new media into a new medium« (Hall 1996a: 4). Eine solche Formulierung erinnert nicht zuletzt an die simultane Ko-Existenz unterschiedlicher Produktionsweisen im Kapitalismus. 12 »Althusser persuaded me […], that Marx conceptualizes the ensemble of relations which make up a whole society – Marx’s ›totality‹ – as essentially a complex structure, not a simple one« (Hall 1996b: 11; vgl. auch Hall 2004). Diese neo-marxistische Theoriebildung, die bei Hall präsenter ist als bei anderen Vertreterinnen und Vertretern der Cultural Studies, wird in der deutschen Rezeption häufig vernachlässigt. Dies ist mit ein Grund dafür, dass der Ansatz gelegentlich als theoretisch unterkomplex wahrgenommen wird. 13 Die (post-)strukturalistischen Zeichenmodelle, die dieser Annahme zugrunde liegen, können hier nicht genauer ausgeführt werden; entscheidend ist, dass sich mit diesen Modellen nicht mehr von einer stabilen Übertragung der von einem Sender intendierten Bedeutungen sprechen lässt: »At either end of the communicative chain the use of the semiotic paradigm promises to dispel the lingering behaviourism which has dogged mass-media research for so long« (Hall 1992: 131). 14 Eine Ausformulierung eines tatsächlichen Reproduktionszyklus für die diskursiv-semiotische Ebene findet sich – wenn auch nicht unter spezifischer Berücksichtigung des Fernsehens – in der Interdiskurstheorie von Jürgen Link; vgl. z.B. Link (1983; 1990). 15 Peter Zima (1977: 278) weist darauf hin, dass auch im Marxismus-Leninismus der Gegensatz zwischen ›Rezeption‹ und ›Produktion‹ häufig verabsolutiert wird.

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Markus Stauff

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Media Marx. Ein Handbuch 276 Medien nach Marx

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Markus Stauff

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2006 über Video und Videorecorder zu schreiben, meint vordergründig über Mediengeschichtliches zu schreiben. Das »Phänomen Video«1, welches es im Folgenden zu umreißen gilt, scheint zunächst ein ›Unzeitgemäßes‹ zu sein; ein medienhistorischer Einschub, eine technische Innovation, die zu ihrer Einführungszeit bestimmte Gebrauchs- und Handlungsformen an und mit Medien verändern konnte, die aber gerade als Speichertechnik oder als ›emanzipatorische‹ Form eines Mediengebrauchs ›für alle‹ längst durch weitere Entwicklungsschübe obsolet geworden ist. Der Stellenwert von Video in Geschichte und Theorie der Medien scheint gerade eben noch durch seine Stellung als ›Vorläuferprojekt‹ definiert zu sein. Es wirkt, als ob das Video seine Aktualität nur noch in einer (auch zunehmend verschwindenden) rhetorischen Trope bewahrte: dem in bestimmten Zusammenhängen vorgebrachten Hinweis darauf, dass ›man unfähig sei, einen Videorecorder zu programmieren‹. Diese Wendung steht gemeinhin synonym für eine zumeist latent kulturpessimistische Aussage über vorgeblich verbraucherfeindliche Alltagstechnologien. ›Die‹ (Technokraten und Medieningenieure) sind zu weltfremd, um ein so ›praktisches und sinnfälliges‹ Gerät wie einen Videorecorder so zu bauen, dass er unter den Maßgaben (neudeutscher) usability intuitiv zu bedienen wäre. Was lehrt ein solcher Diskurszusammenhang über Medienbewertungen und den Stellenwert von Medientechniken innerhalb eines Common Sense? Erstens: Medientechniken kommen aus der Differenz (›die-da-oben‹ vs. ›wirEndverbraucher‹), zweitens: die Funktion und der Gebrauch von Medientechniken und -innovationen werden innerhalb eines Common Sense manchmal als sinnvoll und zwingend notwendig erachtet oder herbeigesehnt (sie sind also Entdeckungen und keine Erfindungen), drittens: die Medientechnik ist dabei dem Feld des Eigenen zuzuschlagen; die Verunmöglichung des intuitiven Handelns und Handhabens am Eigenen ist dabei der Differenz des ›weltfremden‹ Anderen geschuldet.2 Im Kern kreist die Aussage von der Unfähigkeit einen Videorecorder zu programmieren wesentlich weniger um usability, sondern vielmehr um das, was Hartmut Winkler an anderer Stelle als Wunschkonstellation (des Computers) beschrieben hat: »Die grundlegende Annahme ist, dass die Dynamik der Medienentwicklung in bestimmten Wunschstrukturen ihre Ursache hat und dass die Mediengeschichte beschreibbare Sets impliziter Utopien verfolgt« (Winkler 1997: 17). Dass an Medien sich nicht nur materialisiert ›was sie selbst zu sein behaupten‹, sondern vielmehr – und meist interessanter – was man sich von ihnen wünscht, ist oft ausgeführt worden. Im Rahmen dieses Bandes gewinnt die Frage nach den Wunschkonstellationen (an den Videorecorder) aber an

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neuer Überzeugungskraft – stellt doch die Formulierung eines Begehrens immer auch den Ausdruck eines Defizitären dar.3 Ausgangspunkt dieser Betrachtung des Medienphänomens VCR ist es also, Video weniger als Technologie, sondern als eine kulturelle Praktik, ein Produktionswerkzeug (sowohl als Aufnahme-, Distributions- und Aneignungswerkzeug) zu verstehen. Präziser meint dies (auch im Sinne des einführenden Bonmots) Video als eine Praxis zu begreifen, die eine Kompetenzaneignung sowohl verlangt als auch evoziert. In dieser Betrachtungsweise entfalten medientechnologische Produkte (wie Video) erst sekundär als technologische Artefakte ihre Wirkung – primär müssen sie als Konnex zwischen Subjekten verstanden werden, als Techniken der Organisation von Gesellschaft (vgl. Cubitt 1991: 1-21). Eine solche Betrachtungsweise leitet sich auch aus einem marxistischen Technikverständnis ab, einem Verständnis, welches Technik (innerhalb jedweder Produktionsprozesse) als eine Differenzfunktion begreift: »Die Technologie enthüllt das aktive Verhalten der Menschen zur Natur, den unmittelbaren Produktionsprozess seines Lebens, damit auch seiner gesellschaftlichen Lebensverhältnisse und der ihnen entquellenden geistigen Vorstellungen« (MEW, Bd. 23: 393 Fußnote).4 Diese Perspektivierung ermöglicht in Konsequenz auch eine Abgrenzung zu Anschauungsweisen, die Video eben gerade nicht aus gesellschaftlichen Begehrensstrukturen heraus entstanden verstehen, sondern Video im Kontext einer technologischen Innovationsgeschichte begreifen (vgl. Armes 1988). Das drängendste Begehren, das sich in Videotechnologie einschreibt, ist sicherlich eines, das sich seit Beginn apparative Medien (und womöglich darüber hinaus) immer wieder artikuliert hat: der Wunsch selbst Medium zu werden. Oder konkreter: einer hegemonialen und senderzentrierten oneway-Kommunikation (top-down) ein eigenes Senden (bottom-up) entgegen zu halten. Dieses Begehren artikuliert sich verschiedentlich theoretisch – prominent beispielsweise bei Brecht (1989) oder Enzensberger (1970) –, viel häufiger jedoch im konkreten Handeln. Gerade apparative Medien, deren rein technische Handhabungsschwelle auf niedrigem Fertigkeitenniveau angesiedelt ist, werden einerseits mit einer latent emanzipatorischen Aufladung als Produkt in den Warenkreislauf eingespeist (»You press the button – we do the rest« – Kodak), andererseits aber auch in voller Entfaltung dieses Impulses angeeignet.5 Wenn wir also fragen, welche subjektiven wie intersubjektiven Wünsche sich in der Innovation und Etablierung des Phänomens Video materialisieren, so wären hier (mit der Einschränkung einer eher mitteleuropäisch zentrierten Perspektive) einige Punkte in Deutlichkeit zu benennen. Im Objekt bzw. dem medientechnischen Verbund von Videokamera, mobilem Videorecorder, Camcorder etc. materialisiert sich der (wiederholt und eindringlich artikulier-

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te) Wunsch, dem Ordnungsmodell der technischen Medien(macht) der Bewegtbilder ein emanzipatorisches, dissidentes und/oder demokratisches bzw. ›taktisches‹ (de Certeau 1988) Gegenmedium gegenüber zu stellen. Die Frage oder die Hoffnung, mit dem Video nunmehr ein »videolow«-Verfahren (Fiske 2001: 494) der Gegenöffentlichkeit und ›Antiästhetik‹ zu Händen zu haben, ist mehrfach und über die Jahre wiederholt artikuliert worden (z.B. Mattelart/Piemme 1983). Dabei ist es zunächst noch das (kulturindustrielle) ästhetische Projekt, das sich der Wunschkonstellation eines emanzipatorischen Antimediums hingibt.6 Hand in Hand damit geht aber auch das politisch und sozial gedachte Projekt der Herstellung von ›Gegenöffentlichkeit‹ als eine Methode der anderen, alternativen Erfassung von ›Wirklichkeit‹ und der Intervention in Gesellschaft (einhergehend mit der Umgestaltung von medialen Distributions- und Rezeptionssituationen). Trotz zahlreicher legal observer7 und dem Versuch zurückliegende Diskussionen zu aktualisieren8 hat zwanzig Jahre später eher der nicht-öffentliche Gebrauch von Video zugenommen. Ein solches politisches Arbeiten (wohlgemerkt innerhalb einer mitteleuropäischen Perspektive) am Medienbegriff und der Etablierung einer alternative oder countermedia structure begreift Video meist nur als ein Implement eines umfassend gedachten Medienhybriden; zumeist den Begriff der open source sinnvoll vorwegnehmend.9 Auch ein Verständnis von Video als Medium des kulturellen Gedächtnisses (also im Sinne einer Politik, die nicht ausschließlich die öffentliche Sphäre, sondern ebenso sehr auch das Subjekt selbst, seine Wahrnehmung wie auch seine Wahrnehmbarkeit integriert), in das sich das Bild von Hanns Martin Schleyer, Rodney King oder Osama Bin Laden eingeschrieben hat, ist Teil des Diskurses über Video.10 Im Zeichen der Organisation von Zugriff auf die Gesellschaft durch Medien wird die Kategorie des Ereignisses zum eigentlichen Signifikanten der Geschichte: Ereignisse können ›vertextet‹ und ›narrativisiert‹ werden, ihre ›Aufschreibung‹ erfolgt als Ereignis und in Form des medialen Speicherns des dem Ereignis zugehörigen Bildes (vgl. Engell 1996). Das Ereignis selbst tritt in den Hintergrund: Es wird durch sein mediales Ereignis ersetzt (vgl. Tomasulo 1996). Dass diese Wunschkonstellation sich zumindest nicht quantitativ deckend und politisch wirksam durchgesetzt hat (sieht man ggf. von den daraus entstandenen offenen Kanälen ab; vgl. Kamp 1986), mag auch an der zweiten großen Artikulation eines Begehrens liegen, die sich weitaus wirkmächtiger in das Phänomen Video einschreibt: den ›Rückzug ins Private‹. Anschließbar ans Video ist ebenso sehr wie die mediale Gegenöffentlichkeit die Materialisierung des Wunsches der Aufschreibung des Privaten, also einer Schließung des öffentlichen Bildes hin zu einem privaten Aufschreiben mithilfe des Technischen – eine Wunschvorstellung, die sich an viele (technische) Medien koppelt. Auch das Begehren nach der Aufschreibung und Aufzeichnung des

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Media Marx. Ein Handbuch 282 Medien nach Marx

Authentischen (meist gekoppelt an die Idee der Aufschreibung des Privaten) manifestiert sich in der Wunschkonstellation Video wie in anderen Medientechniken. Die Idee des Tagebuchprinzips, der Fixierung privater Blicke und Erlebensweise (Humm 1998) schreibt sich von Anbeginn an beispielsweise in die Fotografie (Arbeiterfotografie der 30er Jahre, Polaroid, Lomographie etc.) wie auch in diverse Filmformen ein (Super8, Video, DigiCam, Handy-Kamera etc.).11 Die bis zu diesem Punkt beschriebenen Strategien der Aneignung und der Begehrensformulierung an ein medientechnisches System sind aber zunächst nicht ›exklusiv‹ auf das Video zugespitzt. Interessant ist insofern die Frage, welche Wünsche sich mit einem gewissen Exklusivitätsanspruch im Video materialisieren? Zuallererst ist es sicher die mit dem Video auf den Plan getretene Möglichkeit der Speicherung des Fernsehprogramms im Hausgebrauch wie auch die Möglichkeit des Filmentleihs aus Videotheken sowie der Aufbau eigener Film- und Fernsehkollektionen: also die Idee des Speicherns, Archivierens und Sammelns. Der Videorecorder ist im Privatgebrauch die erste Möglichkeit, die Programmstruktur des Fernsehens selbstbestimmt aufzubrechen. Das zeitversetzte Fernsehen (»time-shift«, vgl. Cubitt 1991) ermöglicht bei genauerer Betrachtung unterschiedlichste Strategien der Entkontextualisierung, des ›Flotierens‹ (»sequenz as flow«; vgl. Williams 2001) und Umorganisierens von Fernsehen als programmierter Form. Ann Gray (1992: 191ff.) folgend können dabei grundsätzlich einige basale Formen dieser Umorganisation unterschieden werden. Das ›organized shifting‹ ist eine Aufzeichnungsstrategie, bei der vor allem Serien etc. zeitversetzt verfolgt werden, um den Anschluss behalten zu können: eine Aneignungsform, die den Aktualitätsund live-Charakter des Fernsehens unterläuft. Ähnlich funktioniert die »time out«-Aufnahmestrategie. Hiermit wird ein organisiertes ›shiften‹ charakterisiert, bei dem bestimmte Inhalte für eine spezielle Phase des Tagesablaufes vorgehalten werden (Ruhe, Zubettgehen oder Arbeitspause etc.). Dem gegenüber stehen generelle Strategien der dauerhaften oder zumindest temporären Archivierung, also der Aufnahme zur (potenziell) mehrfachen Rezeption unterschiedlichster Fernsehformate. Beim Sammeln wird die Aneignung des Fernsehens wohl am deutlichsten zu einer ›materiellen‹ Handlung: die Entstehung einer Videokassettensammlung dokumentiert hierbei nicht zuletzt einerseits die Idee der Sammlung selbst, als auch zumindest den Wunsch, sich Fernsehen ›handhabbar zu machen‹. Im Gegensatz zur grundsätzlichen Idee der Sammlung, bei der das Objekt oder das Artefakt im Vordergrund steht (Pomian 1998), zählt aber bei der selbstaufgenommenen Videosammlung mehr der unsichtbare (vage auratische) Gehalt. Erst mit der Bereitstellung von spezifisch auf den Sammlungscharakter zugeschnittenen Kaufprodukten (Collectors-Edition, Kaufkassette mit Zusatzmaterial, Angebote zum

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Coverdesign) findet die private Videosammlung zu den eigentlichen Formen des Sammelns zurück (vgl. Dismore 1998). An der Funktion des Videorecordings als Entprogrammierung von Fernsehen lässt sich auch ein Genderaspekt im Gebrauch der Medientechnologien anschließen, der aber en détail als kritisch hinterfragbar verbleiben muss. Gray folgend (1997; 1992: 238ff.) lässt sich am Gebrauch des Videorecorders eine spezifische Ausarbeitung eines weiblichen Gebrauchs der Medientechnologie Video beschreiben. Über die Zeitorganisation der (Haus-)Arbeit und der Freizeit (»daytime television«) und daran gekoppelte Formate wie Serien oder Soaps bzw. dem zeitversetzten Rezipieren präferierter Formate in den Lücken der Hausarbeit entstünde so eine weibliche Programmierung von Fernsehen. Die Sammlung und Archivierung stünde demgegenüber eher im Rahmen eines männlich-technizistischen Verhaltens. Als Hinweis ist sicher die dieser Argumentation zugrunde liegende Überlegung wichtig, dass Medientechnologien durch bestimmte gesellschaftliche Genderpositionen jeweils unterschiedlich zu konzeptualisieren sind. Grundsätzlich muss aber gelten, dass der Kulturwert des Fernsehens über Aufnahme verfügbar gemacht und archiviert (oftmals aber nicht gesehen) wird. An anderer Stelle greift der Videorecorder aber über den Leihkassettenmarkt in die Verwertungskette des Produkts televisueller Programmelemente ein. Der Videorecorder ermöglicht es grundsätzlich in die Verwertungskette von (vorrangig) Filmen weitere Abschöpfungsstufen einzubauen (Kinoauswertung, Kaufkassette, Leihkassette, Fernseherstausstrahlung, weitere Fernsehausstrahlungen, Wiederveröffentlichung im Rahmen von Sammlereditionen etc.). Gestützt – wenn nicht gar wesentlich ermöglicht – wird dieser ›neue Markt‹ allerdings auch durch das Angebot von Pornografie in den neu gegründeten Videotheken. Viele Medieninnovationen erfahren ihren ökonomischen Durchbruch nicht zuletzt durch die Herstellung, Distribution und exklusive Darreichung von Pornografie. Die Erfolgsgeschichte des Videorecorders ist demnach parallel nicht nur eng verkoppelt mit der Möglichkeit die eigne sexuelle Privatheit aufzuzeichnen, sondern weitaus mehr auch mit der Erfolgsgeschichte der Videothek, deren Angebotspalette zumeist aus mehr als 50 Prozent erotischem, sexualisierten oder pornografischen Produkten besteht (vgl. auch Heinig 1990). Dass Video durch die enge Koppelung ans Private eine Affinität zum Sexuellen hat, wird also hierbei nicht nur zu einem Effekt der Aufzeichnung, sondern auch des Konsums – eine weitere Wunschkonstellation. Der Effekt dieses Angebots ist also (zumindest marktwirtschaftlich betrachtet) nicht nur die Einführung der Videothek als Zweitverwertungsort des Filmischen, sondern auch die Umorganisation der Ökonomisierung zumeist männlichen Triebhandelns: Das durch die Etablierung neuer Verwertungsketten prognostizierte Kinosterben trifft zuallererst die Pornokinos.

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Als weitere wesentliche Effekte des Videorecorders müssen nun aber auch (in Abgrenzung zu den bis dato beschriebenen Handlungsformen der Konsumation, Entprogrammierung oder Verwertung) Mikroprozesse in der Aneignung des aufgezeichneten Materials benannt werden. Denn angeeignet werden nicht nur strukturfunktionale Aspekte des Mediensystems Video, sondern auch seine Oberflächen, seine Gebräuche und Handlungsmöglichkeiten ›im Kleinen‹. Die Konsequenzen solcher Übernahmen und Effekte sind manchmal überraschend – so ist beispielsweise ohne die Möglichkeit des entlinearisierten und gespeicherten Zugriffs auf audiovisuelle Formen eine Medienwissenschaft wenn nicht gar per se möglich gemacht, so doch zumindest stark befördert worden (vgl. Pauleit 2002). Wesentlich deutlicher und konsequenter sind solche Mikroeffekte aber beispielsweise in der ästhetischen Hybridisierung von ›Oberflächen‹ und ›Interfaces‹. Die der Videoaufzeichnung eigenen ästhetisch-technischen Operationen (beispielsweise Zeitlupe, Zeitraffer, die Wiederholung, bestimmte digitale Effekte u.Ä., aber eben auch die verwackelte Handkamera, die Einblendung des REC-Zeichens, eine wiedererkennbare ›grobkörnige‹ Bildqualität etc.) mäandrieren durch andere technische Bildformen dokumentarischen und fiktionalen Charakters (vgl. Adelmann 2006). Der aber vermutlich augenscheinlichste Effekt der Videotechnologie für die Medien wie das Subjekt und seine Gesellschaft ist der Effekt der Überwachung als private wie auch öffentliche Politikform der Visualität, die sich nahe liegender Weise als eine Steuerungstechnik der Disziplin und Selbstdisziplin begreifen lässt (vgl. dazu im Überblick: Levin 2002). Den Massenmedien fällt eine immer gewichtigere Funktion in der Konstitution des öffentlichen Raumes zu. Mit dem Video als ökonomisch relativ billiger Medientechnik wächst die Zahl der Beobachter exponentiell (›new surveillance‹) und bezieht die Überwachung zunehmend auch auf eine Körperlichkeit des Subjekts (Kember 1995). Somit ist das Feld der ›Überwachung durch Video‹ nicht exklusiv eines, das aus dem Zugriff der Institutionen oder hegemonialen Systeme erklärt werden kann, sondern eine Form der Politik der Sichtbarkeit quer zu den Organen und Körperschaften einer Gesellschaft. Die Gesellschaft selbst wird transparent; jeder ist nicht nur Objekt, sondern auch Subjekt der Überwachung. Insofern kann nicht von einer strikten und distinkten Unterscheidung in eine öffentliche und eine private Überwachung ausgegangen werden (Berko 1992). Der ›technische Blick‹ des Systems aus Kamera, Überwachungsmonitor und (ggf.) Bildaufzeichnung generiert drei Positionen des Zugriffs auf das Subjekt: Zum einen die panoptische Position des von einer Kamera beobachteten Subjekts, welches sich durch den wahrgenommenen Blick des Videosystems selbst in eine überwachte Position begibt. Zum zweiten die durch die Technik zur Verfügung gestellte Permanenz der Überwachung, die sich aus der quantitativen Vervielfältigung durch vergleichsweise geringe

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Kosten ergibt und die sich sowohl zeitlich wie räumlich entfaltet (also einen Chronotopos der Kamerapräsenz hervorbringt). Und schlussendlich in Konsequenz die Frage nach dem off des Kamerabildes (vgl. dazu Pauleit 2002: 201f.). Hier zeigt sich, dass diese Adressierung des Subjekts durch eine Medientechnologie als politische Form nicht ausschließlich auf einer anderen Ebene als der oben beschriebenen Ebene subjektorientierter Handlungsformen am Video zugreift. Gerade die Überwachung verweist wiederum auf die dem Video charakteristisch innewohnende Thematisierung des Intimen und Privaten; und die durch die Überwachung evozierte Frage nach dem off verweist auf Formulierungen von ›taktischen‹ Bewegungen mittels und anhand von Medientechniken im Sinne De Certeaus (1988). Insofern arbeitet das Überwachungssystem Video mit an der Gestaltung von Räumen: Grenzen werden in einem Feld öffentlicher wie privater Medienkommunikation, in dem Information als Ware zirkuliert, nicht mehr geografisch, sondern technologisch definiert. Und die Entkoppelung des Überwachungsbegriffes von (repressiv gedachten) Instanzen, das Wegfallen der Unterscheidung von öffentlichen oder privaten Zugriffsformen des bzw. auf das System Video lässt auch den Begriff der Überwachung selbst unscharf werden. Fernsehformate wie ›Versteckte Kamera‹, Reality TV oder ›Pleiten, Pech und Pannen‹ etc. verweisen auf die Omnipräsenz einer zwar immer noch panoptischen, aber eher (selbst-)disziplinatorischen Handlungsform, die wesentlich durch Zirkulation und Konsumtion determiniert scheint (vgl. Berko 1992). Ein sinnfälligerer Begriff für diesen Komplex ist damit der der ›Selbstmonitorisierung‹ [self monitoring]. Video muss also als eigentliche ›Multimedia‹-Kulturtechnik analysiert werden, als Teil eines komplexen Aufnahme- und Transmissionssystems, das sich als (westliches) Industrieprodukt zum technologisch-diskursiven Leitsystem entwickelt hat, welches zwar technologisch abgelöst, in seinem disponierenden Charakter aber durchaus anhaltend in Wirkung ist. In diesem Sinne könnte also durchaus von einem Dispositiv ›Video‹12 gesprochen werden. Viele der letztgenannten Punkte aber drehen sich als Analyse von subjektiven Wünschen und gesellschaftlichen Wirkmächtigkeiten von und an Medientechniken mehr oder minder deutlich um Veränderungen innerhalb der Zeitstruktur von Medienangeboten, -nutzungen, -strukturen und -funktionalitäten. Wenden wir nun diese Feststellung (oder These) auf die Fokussierung des vorliegenden Bandes hin. Die Frage wäre also, wie sich in einem Verständnis der Gesellschaft als durch Produktionsverhältnisse und soziale Gegensätze bestimmte Struktur die Wunschkonstellation ›Video-als-Zeitmanagement‹ präziser beschreiben lässt. Es wird zuallererst zu konstatieren sein, dass Technik nicht länger eine exklusive Ware der bürgerlichen Gesellschaft ist, sondern umschlägt in eine (dialektische)13 Ordnungsfunktion der Gesell-

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schaft und der Ökonomie (vgl. Bammé 1997: 173f.), wobei dieses Verhältnis als nicht gleichberechtigt bzw. austauschbar zu gelten hat: Technik ist ein Teil der Ökonomie, aber nicht umgekehrt. So verstanden würde aber die Frage, was der Stellenwert des Phänomens Video innerhalb der (spät- oder neoliberalen) kapitalistischen Gesellschaft wäre, relativ unbefriedigend zu beantworten sein. Video (wie jede andere Medientechnologie) wäre dann nur ein technisches Artefakt mit Warencharakter, dessen Herstellung, Konsumtion und Austausch im Sinne reiner Warenhaftigkeit beschreibbar wäre. Dem gegenüber steht aber ein Verständnis, welches das Phänomen Video nicht auf seine Technizität reduziert, sondern nach der eigentlichen ›Ware‹ jedes Medien(teil)systems fragt. Was ist das eigentliche ›Objekt‹, welches innerhalb von Medien (und Mediengesellschaften) hergestellt, zirkuliert, getauscht und mit Wert bemessen wird? Eine mögliche Antwort könnte sein, das ›Symbolische‹ selbst als eigentliche ›Ware‹ des Mediensystems zu begreifen. Diese Ansicht fußt maßgeblich auf einer Betrachtungsweise der Ökonomie des Diskursiven (vgl. Winkler 2004). Dabei zerfällt eine solche Ökonomie sicherlich in (mindestens) zwei unterschiedliche Ökonomien: eine ›pekuniäre‹ und eine kulturelle (vgl. Fiske 1989: 23ff.). Für die Beschäftigung mit Medien hat dann in Konsequenz die Frage zu lauten, wie innerhalb dieser Klammer des Ökonomischen einerseits die Konsumtion und andererseits die Produktion organisiert ist – und natürlich, welchen speziellen Stellenwert eine Speichertechnik wie Video darin spielt. Für eine Betrachtung von Medien ist aber zunächst die Frage, was das Tauschgut bzw. der Tauschwert für das durch die Medien bereitgestellte Symbolische ist.14 Es geht dabei nicht darum, einen ›Rückkanal‹ zu erwarten, d.h. über einen direkt nachweisbaren Austausch von Werten und Mehrwerten nachzudenken.15 Tausch heißt in diesem Sinne viel eher, Ungleichartiges zu relativieren, d.h. die Tauschfunktion des Rezipienten auch in andere Kontexte zu verlagern. Es geht also (auch und vor allem) um eine Ökonomie, die sich an einem Tausch von Medieninhalt (als symbolische und diskursive Äußerungen gedacht) gegen Aufmerksamkeit organisiert (vgl. Franck 1998). Jenseits des Geldes selbst (das natürlich primär als Äquivalent für symbolische Waren gedacht werden muss – Videorekorder wie Kassetten haben einen Preis) ist der weitaus dynamischere und effektivere Gegenwert der der Aufmerksamkeit des Erwerbenden. Die Fixierung der institutionellen Strukturen des Mediensystems auf Einschaltquoten, Besucherstatistiken, Absatzzahlen und Bestenlisten ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass innerhalb der Logik der kapitalistischen Mediengesellschaft auch die Bindung der Aufmerksamkeit des Subjekts auf ein symbolisches Angebot innerhalb der Freizeit ›Werthaftigkeit‹ und ›Tauschbarkeit‹ hat (vgl. auch Winkler 2004: 54ff.).16 Wenn also symbolische Produkte Tauschwert haben, dann wäre im nächsten

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Schritt zu fragen, wie und wo diese Produkte in Zirkulation gesetzt werden – grundsätzlich natürlich nicht durch das Subjekt selbst (also eben nicht mehr ›handwerklich‹), sondern durch arbeitsteilige (›entfremdete‹) Produktion. Der Ausgangspunkt der Herstellung lässt sich idealisiert zweifach motiviert darstellen: Weil der Rezipient das Produkt will (»upstream«) oder weil der Enunziator ein Äußerungsinteresse hat (»downstream«) (ebd.: 61ff.). Pragmatisch aber werden symbolische Produkte aus einer Mischform dieser beiden Ausgangslagen hergestellt, weil selten genau das vom Rezipienten gewünscht wird, was das Produkt bietet, und weil häufiger für die Hoffnung (auf Unterhaltung) als für die Befriedigung (des Unterhaltungswunsches) bezahlt wird. Daraus resultieren aber zwei absolut entscheidende Punkte zum Verständnis von Video als symbolischer Ware. Wenn dieses System im Sinne der Logik der Kapitalakkumulation funktional bleiben soll, dann darf es zum einen nicht zur Logik des Geschenks kommen, also zu symbolischen Tauschakten, die keine Gegenwertäquivalenz haben.17 Das heißt beispielsweise, der Enunziator muss sich der Institution bedienen, um die Regeln des Tausches und der (symbolischen) Ökonomie aufrecht zu erhalten. Und zweitens: Wenn der Wert einer Ware gesteigert werden soll, dann bedarf es einschneidend der Verknappung der Ware. Nur was knapp ist, kann Wert haben. Wenn wir das Video zunächst als eine Möglichkeit zur Aufzeichnung eigener symbolischer Angebote verstehen, so müsste die Logik der Werttheorie hier insofern eingreifen, als den selbstproduzierten (und somit in nichtentfremdeter Arbeit hergestellten) symbolischen Angeboten der Wert innerhalb einer Tauschgesellschaft entzogen werden muss, um die Funktionalität des Systems selbst nicht infrage zu stellen. Dies scheint so auch innerhalb der Mediengesellschaft zu funktionieren: Selbstgemachte (Urlaubs-)Videos haben so gut wie keinen Tauschwert (sie erfahren nur eine höchst verminderte Aufmerksamkeit); die ursprüngliche Funktion der Aufschreibung des Privaten wird von anderen institutionalisierten Enunziatoren übernommen. Der Dokumentarfilm, die Doku-Soap, das ›wahre Leben‹ des Big Brothers oder der ›Amateurporno‹ in der Videothek etc. machen ein Gegenangebot, das ›funktionaler‹ rezipierbar erscheint als das nicht-entfremdet hergestellte Video. Wenn wir demgegenüber Video als ein System der Speicherung von symbolischen Waren verstehen (das Aufzeichnen und zeitversetzte Rezipieren von Fernsehangeboten oder Kinofilmen), so rückt viel verstärkter eine zweite Funktion des Tauschwerts des Symbolischen in den Blick. So wird beispielsweise die Ware Fernsehen18 durch die Aufzeichnung in ihrem Tauschwertcharakter ›verlängert‹. Was sich im Fernsehen in Zeiten vor der Speicherungsmöglichkeit der Aufmerksamkeit (und damit dem Tausch) des arbeitenden Menschen entzog, wird durch die Möglichkeit des zeitversetzten Konsumierens nunmehr in seinem Wert potenziert. Ein symbolisches Angebot, das sich nicht mehr an der Funktion seiner Echtzeitlichkeit orientieren muss, ge-

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winnt somit an Wert: Es steht über der Möglichkeit seiner (kurzfristig oder mittelfristigen)19 Konservierung. Damit ist die symbolische Ware in ihrer werthaftigen Tauschbarkeit grundsätzlich ihrer zeitgebundenen Konsumierbarkeit entkleidet. Sie ist kein Produkt mit Verfallscharakter, sondern nunmehr ein potenziell ›lange‹ haltbares Produkt. Und damit stiftet der Videorekorder eine Möglichkeit, den Tausch der symbolischen Ware vor allem in die Freizeit hin zu verlängern. Und damit nimmt der Videorekorder (und jedes Speichermedium) einen Markt in Angriff, der innerhalb einer spätkapitalistischen Gesellschaft zunehmend an Bedeutung gewinnt: den Freizeitmarkt und dessen ökonomische Durchdringung.20 Dass diese Verschiebung aber eben nicht nur eine Verschiebung des Ökonomischen in die Freizeit, sondern auch eine veritable Umgestaltung des Kommunikationsbegriffes selbst darstellt, hat schon Günther Anders am Übergang vom Massenmedium Kino mit seinem Massenzuschauer zum ›Heimmedium‹ Fernsehen zeigen können: »Geht der Konsum ›gestreut‹ vor sich, so die Produktion des Massenmenschen gleichfalls. Und zwar eben überall dort, wo der Konsum stattfindet: vor jedem Rundfunkgerät; vor jedem Fernsehapparat. Jedermann ist gewissermaßen als Heimarbeiter angestellt und beschäftigt. Freilich als Heimarbeiter höchst ungewöhnlicher Art. Denn er leistet ja seine Arbeit: die Verwandlung seiner selbst in einen Massenmenschen, durch den Konsum der Massenware, also durch Muße. – Während der klassische Heimarbeiter Produkte hergestellt hatte, um sich das Minimum an Konsumgütern und an Muße zu sichern, konsumiert nun der heutige ein Maximum an Mußeprodukten, um den Massenmenschen mitzuproduzieren.« (1956: 103)

Paradoxerweise aber wird der Konsument eben für diese Heimarbeit nun nicht mehr entlohnt, sondern muss zugleich zu der Arbeit der Herstellung der ›phatischen Gemeinschaft‹ des Massenpublikums auch noch die Produktionsmittel (also den Fernseher und eben den Videorecorder) selbst bezahlen – mit Geld und mit Aufmerksamkeit. In den ›Grundrissen der politischen Ökonomie‹ hat Karl Marx grundsätzlich differenziert in die verfügbare Zeit, die Arbeitszeit und die Freizeit einer Gesellschaft. Speziell die Arbeitszeit differenziert er in eine »notwenige Arbeitszeit« und eine »überflüssige, disponible Arbeitszeit«. »Das Verhältnis der notwendigen Arbeitszeit zur überflüssigen (so zunächst ist sie vom Standpunkt der notwendigen Arbeit aus) ändert sich auf den verschiednen [sic!] Stufen aufgrund der Entwicklung der Produktivkräfte. Auf den produktivern [sic!] Stufen des Austauschs tauschen die Menschen nichts aus als ihre überflüssige Arbeitszeit; sie ist das Maß des Austauschs, der sich daher auch nur auf überflüssige Produkte erstreckt.

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In der auf dem Kapital beruhnden [sic!] Produktion ist die Existenz der notwendigen Arbeitszeit bedingt durch Schaffen überflüssiger Arbeitszeit.« (Marx 1953: 301/302)

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Eine Konsequenz daraus ist das Fallen der Löhne, da das Kapital die überflüssige Arbeit benutzt um so viel wie möglich Menschen in Arbeit zu bekommen; das Überangebot an Arbeit (also an überflüssiger Arbeit) verringert den Wert der notwendigen Arbeit; das Kapital muss für die notwendige Arbeit weniger Löhne zahlen als vorher und somit steigt der Mehrwert der Waren, die in der notwendigen Arbeit produziert werden. Eine zweite Konsequenz ist, dass, getreu der kapitalistischen Logik, die Gewinnmarge eines Gutes am höchsten ist, wenn die Arbeitszeit am niedrigsten ist. Daher ergibt sich ein fundamentaler Widerspruch des Kapitalismus darin, dass er einerseits versucht, die notwendige Arbeitszeit immer weiter zu drücken und gleichzeitig die überflüssige Arbeitszeit unendlich zu steigern. »Marx hat daraus gleichzeitig den ungeheure produktiven und ungeheuer destruktiven, ungeheuer schöpferischen und ungeheuer vergeudenden Charakter der kapitalistischen Produktionsweise gefolgert« (Mandel 1968: 105).21 Wenn wir nun das Symbolische als die Ware und die Aufmerksamkeit als das Tauschgut beschreiben und somit wieder auf das Feld der Medien zurückwechseln, so würde dies bedeuten, dass die Schaffung überflüssiger Arbeit zunächst eine quantitative Steigerung der mediengebundenen Zeit hervorzubringen in der Lage wäre, um die Aufmerksamkeit zu verbreitern. Es gäbe dann also eine ›überflüssige Aufmerksamkeit‹, die die Ware der eigentlichen Aufmerksamkeit ausbauen würde. Videorecorder würden somit ›überflüssige Aufmerksamkeit‹ dadurch herstellen können, insofern sie die Angebotspalette der aufmerksamkeitskoppelbaren Medienangebote verbreitern würden.22 In dieser – zugegeben sehr spekulativen – Perspektivierung würde jedes Speichermedium dann in seiner Adressierung der überflüssigen Arbeitszeit (vulgo: Freizeit) auch darauf verweisen, dass sich der Begriff der Arbeit selbst verändert: weg vom (entfremdeten) Produzieren von Gütern hin zu einer Bedeutungs- und Aufmerksamkeitsarbeit, einem Produzieren von ideologischen Beständen, Diskursen und Praxen in einer Dialektik von notwendiger und überflüssiger Aufmerksamkeitsarbeit. Anmerkungen 1 Zur exakten Konturierung des Begriffs »Phänomen Video« als historisch, ästhetisch und rezeptiv charakterisiertem Feld vgl. Adelmann/ Hoffmann/Nohr (2002). 2 Das eine solche Betrachtung nicht nur für den Videorecorder aufgeht,

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sondern auch für andere Mediensysteme und -implemente zeigt beispielsweise die Debatte um den Gebrauch der Technik des digitalen Bezahlfernsehens (immer neue Decoderfunktionen, Differenz zwischen Angebot und Nachfrage etc., vgl. Stauff 2004) oder die Wahrnehmung von Computersoftware (Schwierigkeiten der Installation, Rüstungsspirale zwischen den Anforderungen von Hard- und Software; vgl. Nohr 2005). Darüber hinaus ist mit dem Begriff der ›Wunschproduktion‹ auch das Feld der imaginären und affektiven Arbeit als antikapitalistische Strategie bzw. wiederum als Grundlage der Funktionalität der kapitalistischen Arbeitskonzepte angesprochen. Vgl. dazu auch Hardt (2003). Siehe auch den Beitrag von Gilles Deleuze/Felix Guattari in diesem Band. »Die Technologie enthüllt nicht nur die ökonomischen Momente; sie enthüllt vielmehr alle Momente gesellschaftlicher Praxis, nämlich die technischen, ökonomischen, sozialen und geistigen Aktivitäten der Menschheit, konstituiert sie aber nicht, sondern ist nur ihr Niederschlag wie fossile Offensichtlichkeit, die enthüllt was dieses Verhältnis war oder ist« (Müller 1981: CXVII). So zum Beispiel in der Lomographischen Bewegung der 80er Jahre, in der einer ›fremden‹ Bilderflut eine eigene entgegen gesetzt werden soll (vgl. Albers 1997). »Ich habe die große Hoffnung, dass durch diese kleinen 8mm Videokameras, die es jetzt gibt, Leute, die normalerweise keine Filme machen, plötzlich welche drehen – und dass ein kleines dickes Mädchen aus Ohio der neue Mozart sein wird und mit der kleinen Kamera ihres Vaters einen wunderschönen Film dreht. Und dann wäre endlich der so genannte Professionalismus beim Film für immer zerstört« (Francis Ford Coppola in Hearts of Darkness: A Filmmakers Apocalypse, USA 1991, R: Eleneor Coppola). Zivile AktivistInnen, die z.B. im Rahmen von Demonstrationen von der Videokamera Gebrauch machen, um hiermit angenommene polizeiliche Übergriffe zu verhindern oder dokumentieren. Vgl. Projekte wie hybrid video tracks (www.hybridvideotracks.org). »Aus der marxistischen Sicht eröffnet die Digitalvideokamera im Bereich des Filmemachens eine neue Epoche: Menschen, denen die finanziellen Mittel fehlen, haben jetzt eine Möglichkeit, sich filmisch auszudrücken, und zwar nicht nur im Rahmen der kooperativen Produktion, sondern auch im Rahmen der Promotion und Aufführung. Zahlreichen Skeptikern, die behaupten, dass solche Versuche keine revolutionäre Änderung in der spätkapitalistischen Gesellschaft mit sich bringen würden, kann dabei GNU/Linux als ein gutes Beispiel für den Erfolg einer solchen Idee entgegengehalten werden. Hatte sich anfangs niemand

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vorstellen können, dass hier eine Gegenmacht gegen den ›Riesen‹ Microsoft wachsen könnte, erscheint es auch nicht utopisch, dass auch Digitalfilmemacher eine Gegenmacht gegen den kommerziellen Film à la Hollywood etablieren können« (Kang 2002: 179). »Aktuell dominieren Debatten zur Überwachung, Digitalität und Videoformaten im Internet. In der historischen Dimension von Video als medialem Phänomen seit Ende des 19. Jahrhunderts zeigt sich nicht zuletzt eine enorme philosophisch-politische Heterogenität, die sich als widersprüchliches Spannungsverhältnis zwischen Hegemonie und Autonomie perspektivieren lässt. Ebenso kann Video aber auch in eine archäologische Reihung von Aufschreibungspraktiken und ihren Diskursen gesetzt werden, die das VHS-Band als Praxis zwischen Palimpsest und Intertext verortet« (Adelmann/Hoffmann/Nohr 2002: 10). Das diese Idee des Authentisch-Privaten natürlich im Projekt des Pornografischen kulminiert ist nahe liegend. Weniger im Sinne der Apparatusdebatte als vielmehr analog dem von Hickethier (1995) vorgeschlagenen Dispositivbegriffs für das Fernsehen. Inwieweit Video auch einer dialektischen Betrachtung anheim fallen muss, zeigte sich ja schon an der Gegenübersetzung von Überwachung und Gegenöffentlichkeit, an der Differenz von Speichern und Programmieren; es zeigt sich aber auch in der Frage des Zeitmanagements durch Video. Hier ist der Übertrag von der marxistischen Theorie insofern sinnvoll, als Marx die Grundannahme kulminiert (bzw. zu Teilen auch von vorgängigen ökonomischen Theorien übernimmt), dass der Wert einer Ware sich nicht primär über die Geldwertigkeit bemessen lässt. Bekanntermaßen ist innerhalb der Marx’schen Ökonomie die aufgewandte Arbeitszeit ein primärer Wertbemessungsfaktor. Eine Betrachtungsweise, die für Medien nur an bestimmten Stellen sinnvoll ist (bspw. Pay-TV, Fernsehgebühren, Kinobesuch, Videothekengebühren etc.). In John Fiskes (1989) medienökonomischer Darlegung fungiert innerhalb einer finanziellen Ökonomie das institutionell hergestellte Programm wie auch das durch das Programm gebundene Publikum als Ware, wohingegen innerhalb der kulturellen Ökonomie das Vergnügen der Rezipierenden die Warenhaftigkeit darstellt. Diese Betrachtungsweise kann aber durch ihre Geschlossenheit (Rezipienten produzieren Vergnügen, welches sie selbst konsumieren) im Sinne einer Tauschlogik kaum überzeugen. Es entspricht der Logik der marxistischen Ökonomie, dass der Tausch das Getauschte zur Ware überformt. Die Warenhaftigkeit verändert aber das Getauschte. Im Bezug auf Medienkommunikation ist also die Konzeptualisierung des Medieninhalts als tauschbare Ware auch ein Finger-

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zeig darauf, den Medieninhalt als Getauschtes, als verändert zu begreifen: »Jede Ware tendiert dazu, so zu sein, dass sie bei Verwendung handlich, auf Bedürfnis, Lebensstil und -Standart zugeschnitten, mundoder augengerecht ist. […] Da nun auch die Sendung eine Ware ist, muß auch sie in augen- und ohrengerechte, in einem optimal genußbereiten, entfremdeten, entkernten, assimilierbaren Zustande serviert werden; also so, dass sie uns als unser Simile, nach unserem Maße Zugeschnittenes, als unsereins anspricht« (Anders 1956: 122). Solche Tauschhandlungen gefährden die Logik des kapitalakkumulierten Systems: als Stichwort sei auf die Diskussionen um P2P, open source oder Wandzeitung verwiesen. Aber eben auch die Ware Kinofilm, die in der Videothek ausleihbar ist. Also die Möglichkeit ein symbolisches Angebot entweder zum »Einmalgebrauch« aufzuzeichnen und wieder zu überschreiben oder aber in der Möglichkeit es innerhalb der eigenen Videosammlung zu konservieren. »Nicht mehr die Arbeitszeit, sondern die ›disposable time‹ (Marx) wird nun zum Maß des Reichtums einer Gesellschaft« (Bammé 1997: 173). Gleichzeitig ist eine zweite Konsequenz aus der überflüssigen Arbeit eine Konsequenz für das Individuum. Die überflüssige Arbeit anderer ist Quelle für Genuss und Reichtum des Individuums – weil »[e]in Individuum […] gezwungen wird mehr zu arbeiten als zur Befriedigung seiner Not nötig – weil Surplusarbeit auf der Einen [sic!] Seite –, wird Nichtarbeit und Surplusreichtum auf der andren [sic!] gesetzt« (Marx 1953: 305 FN). So lässt sich nicht nur weibliche Hausarbeit erklären, sondern natürlich auch die Klassendifferenz. Denn die Konsequenz aus einer solchen Perspektive ist: Die Entfaltung der Dialektik in notwendiger Arbeitszeit ergibt einerseits Mehrarbeitszeit (Arbeiterklasse/Medienkonsument) und Freizeit (Kapitalist/Enunziator). Eine Betrachtungsweise, die übrigens mit den Thesen Guy Debords analog geht: »Zweifellos läßt sich das im modernen Konsum aufgezwungene Pseudobedürfnis keinem echten Bedürfnis oder Begehren entgegensetzen, das nicht selbst durch die Gesellschaft und ihre Geschichte geformt wäre. Aber die Ware im Überfluß existiert als der absolute Bruch einer organischen Entwicklung der gesellschaftlichen Bedürfnisse. Ihre mechanische Akkumulation macht ein unbeschränktes Künstliches frei, angesichts dessen die lebendige Begierde entwaffnet ist. Die kumulative Macht eines unabhängigen Künstlichen zieht überall die Verfälschung des gesellschaftlichen Lebens nach sich« (Debord 1978: § 68).

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Rolf F. Nohr ➔ 19 Video

Dank an Tobias Conradi für Recherchearbeiten

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Dietmar Dath



20 Proudhons Nadel springt aus der Rille – Sechsmal Erbauliches über Platten, Tapes, Kristallspeicher und Materialismus

Dietmar Dath Erstens: Mittel und Zwecke Dass ›das Wesen der Technik ganz und gar nichts Technisches‹ sei, auf diese hübsche Einsicht bilden sich die Schüler Martin Heideggers fünfzig Jahre nach ihrer Enthüllung durch denselben immer noch gewaltig viel ein. Das passiert ihnen deshalb, weil sie nicht wissen, in welchem Umfang schon Marx nicht nur eben dies, sondern darüber hinaus auch noch gewusst und erklärt hat, was genau das Wesen der Technik tatsächlich ist, wenn denn schon nichts Technisches – etwas Gesellschaftliches nämlich, genauer: das sozial gesetzte Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit, von Zweck und Mittel, in der Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens. Lassen wir das so richtig stehen, wie es fraglos ist, dann fragt sich als nächstes: Wie genau misst Technik den gesellschaftlichen Zweck und das gesellschaftliche Mittel aneinander? Im Jahr 1998 hat der linksradikale Plattenproduzent, Bearbeiter und Interpret elektronischer Musik Terre Thaemlitz ein Album namens Means from an End veröffentlicht, das genau diese Frage vom theoretischen Analyseproblem zum praktischen Kunstproblem umwidmet. Die Coverabbildung des Albums schmückt ein Band, auf dem statt des Markennamens ›Maxell‹ an der dafür vorgesehenen Stelle in der bekannten einschlägigen Typographie das Wort ›Marx‹ steht. Eine Abbildung auf dem Beiblatt zeigt die aufgeschlagenen ersten Seiten einer englischen Ausgabe der Marx’schen Ökonomischen und philosophischen Manuskripte von 1844. Beides, der Namenswitz auf dem Tape wie das abgebildete Buch, meint nicht bloße Koketterie oder eine öd provokante Geste. Man hat es hier vielmehr tatsächlich mit einem Kunstwerk zu tun, dass seine ästhetischen Regeln aus der Operationalisierung einer explizit marxistischen Auffassung von einerseits dem Stand der Produktivkräfte und andererseits der Gestalt der Produktionsverhältnisse in der Musikwirtschaft gewinnt. Es geht auf Means from an End darum, mittels Computern verschiedene vorformatierte Klangquellen zu analysieren und zu resynthetisieren. So wird beispielsweise ein Kontrollfilter aus der Wellenanalyse politischer Gespräche oder populärer Mediengeräusche erstellt und dann ein zehn Sekunden langer Auszug aus einer Jazztrio-Aufnahme durch diesen Filter gejagt; oder ein infantiler, politisch regressiver Popsong wird elektronisch bearbeitet, digital durchgesiebt und neu synthetisiert, um auf diesem Wege eine

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Media Marx. Ein Handbuch 298 Medien nach Marx

akustische Phantasie über das Thema ›Widerstand gegen Veränderung‹ zu gewinnen. Gemeinsam haben alle von Thaemlitz versammelten gegenständlichen Demonstrationen der Angreifbarkeit und Verwandlungsgeeignetheit von Klangdaten auf Platten, Tapes oder anderen Speichermedien, dass sie aus Waren, aus vorgefertigten Soundartefakten, die der Zweck eines Produktionsprozesses gewesen sind, nachträglich neue Produktionsmittel machen. Means from an End heißt genau dies: ›Mittel aus einem Zweck‹, und soll verweisen auf die in den Schriften der marxistischen Klassiker zu findende Überzeugung, die geschichtsbildende statt bloß die stete Reproduktion der Gattung erlaubende Macht der menschlichen Arbeit bestehe darin, dass bei beschleunigter Entwicklung und Verwissenschaftlichung der Produktion langfristig immer weniger gesellschaftlich verfügbare Arbeitszeit dazu gebraucht werde, Güter des Verbrauchs anzufertigen, und immer mehr dazu zur Verfügung stehe, stattdessen Güter herzustellen, die den sozialen Reichtum vergrößern, weil sie selbst geeignet sind, Reichtum zu produzieren statt nur als Warenmenge darzustellen. Zweitens: Speicher und Lager Was ist eine Platte, was ist ein Tape, was ist ein Speichermedium für Klang? Im Kapitalismus sind derlei Dinge die abstrakteste gerade noch dingförmige Variante der ökonomischen Kategorie ›Warenvorrat‹. Ein abstrakteres Gut als eine Tonfolge ist auch im Zeitalter der Handy-Klingelmelodien schwer vorstellbar, ein konkreteres, fetischistischeres als eine Platte aber ebenso wenig. Das Dasein des musikalischen Materials auf Tonträgern ist nun selbst dann eines in dem ›Intervall zwischen dem Produktionsprozeß, aus dem es herauskommt, und dem Konsumtionsprozeß, in den es eingeht‹ (Marx, Kapital II), wenn der jeweilige Tonträger schon verkauft und gekauft ist. Was an diesen Waren Fetisch ist, also vergegenständlichtes gesellschaftliches Verhältnis, das zur Verehrung einlädt, dürfte zuletzt wohl ihr gleichnishaftes Bezogensein auf die Idee von ›Vorratsbildung überhaupt‹ (Marx) sein. Dass Kunst und ganz besonders Musik tendenziell nicht so leicht verbraucht oder verschlissen wird wie ein Schokoriegel oder billige Möbel, ist dem Fabrikanten in der Warenwirtschaft ein konstantes Ärgernis, dem nur die Mode abhelfen kann. Gäbe es das Bedürfnis nicht, ab und zu auch mal was neues zu hören, der Kapitalismus hätte es erfinden müssen (was er zum Teil auch getan hat; gerade das gehört im Gegensatz zu allem, was Progressive-Rock-Fans, Jazztheologen und andere Kunstpfaffen so denken und verbreiten, definitiv zu seinen besseren, fortschrittsträchtigeren Effekten). ›Stellen wir uns auf den Standpunkt des prozessierenden Kapitalwerts, der sich in Warenprodukt verwandelt hat und nun verkauft oder in Geld rück-

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Dietmar Dath

verwandelt werden muß, der also jetzt als Warenkapital auf dem Markt fungiert, so ist der Zustand, worin es Vorrat bildet, ein zweckwidriger unfreiwilliger Aufenthalt auf dem Markt‹, schreibt Marx im zweiten Band des ›Kapitals‹. Der Plattenladen, der ›gut sortiert‹ ist, widerspricht also eigentlich dem Sinn des Plattenhandels – und wird deshalb derzeit zügiger abgeschafft als etwa die gut sortierte Buchhandlung, die jedenfalls bei uns im beschaulichen Deutschland einstweilen noch durch allerlei gesetzliche und ideologisch-kulturelle Vorrichtungen, von der Buchpreisbindung bis zum Schullektüren-Kanon und dem Bildungsideal, regelrecht zur Vorratsbildung angehalten ist. Das sind freilich Relikte und Rudimente, um die sich der Markt zuverlässig kümmern wird. Drittens: Was heisst ›Material‹? Der – sit venia verbo – marxistische Begriff von Aufnahme- und Tonträgertechnik ist jedem positivistischen, nur das Technische am Technischen wahrnehmenden überlegen, weil er die Analyse nicht wie jener dazu zwingt, den Stand der musikalischen Kunst vulgärdeterministisch aus den vorhandenen technischen Speicher-, Bearbeitungs- und Wiedergabetechniken abzuleiten. Wo Anhänger von Friedrich Kittler am liebsten die ganze moderne Literatur aus der Schreibmaschine herauslesen wollen und, hypnotisiert vom Dogma ›es gibt keine Software‹, so tun, als hätte ihre Theorie von der Unhintergehbarkeit der materiellen Dispositive der Kunst für jede ästhetische Auseinandersetzung mit dieser endlich den festen Boden unterm Trockeneisnebel der wabernden Phänomene gefunden, wissen Marxisten, was in diesem Bild nicht vorkommt – zum Beispiel, dass ›innerhalb des Berings der Kunst selbst gewisse bedeutende Gestaltungen derselben nur auf einer unentwickelten Stufe der Kunstentwicklung möglich sind‹ (Marx, Einleitung zu den Grundrissen) – das heißt: Wer von dem handeln will, wovon das Epos handelt, kann nicht einfach auf ›höherer Stufe‹ einen Roman schreiben, wenn die Epenzeit vorbei ist, sondern bleibt aufs Epos verwiesen wie der Scratcher aufs Scratching auch nach der Ablösung des Vinylstandards. Der Fortschritt der Produktivkräfte ist nicht das Mittel, das die Stetigkeit sonstigen Fortschritts (etwa des ästhetischen) garantiert. ›Materialismus‹ bedeutet für Marxisten also keineswegs, borniert auf dem Standpunkt ›Sachen statt Ideen‹ oder ›Essenzen statt Relationen‹ herumzureiten. Das ›Material‹, auf das jenes Wort bezogen ist, meint nicht irgendwelche Apparate, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse – das Tonstudio ist in dieser Perspektive interessant als Fokus und Schauplatz von Arbeitsteilung, nicht als irgend so ein Raum mit Armaturen und blinkenden Lichtern.

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Viertens: Arbeitsteilung Platten und Tapes sind von Anfang an zugleich Arbeitsmittel und geronnene, vergegenständlichte Arbeit. Sie werden tendenziell massenhaft hergestellt, deshalb ›verschwindet‹ an ihnen ebenso tendenziell stets ›jede Beziehung auf das unmittelbare Bedürfnis des Produzenten und daher auf den unmittelbaren Gebrauchswert‹ (Marx). Bearbeitungsfähige Zwischenspeichermedien auf dem Weg zwischen Aufnahme und Wiedergabe, Produzentin und Konsumentin, Rapperin und Tänzerin, die eine derart abstrakte Form angenommen haben, schubsen einerseits die Arbeitsteilung auf eine höhere Stufe, weil es dank ihnen mehr und neue diskrete Bearbeitungsschritte im laut irgendwelchen rückständigen Hippies angeblich kosmisch klangverbundenen kontinuierlichen Höruniversum gibt. Für diese Schritte können sich unterschiedliche Leute begeistern – nicht jede schneidet so gern, wie sie sampelt, und umgekehrt. Solche Medien heben vorhandene Arbeitsteilung aber andererseits im berühmten hegelschen Sinn auch auf, insofern an ihnen nämlich aufscheint, dass die jeweiligen Rollen (Produzentin, Rapperin etc.) im Produktions- und Bearbeitungsprozess nicht gottgegeben, sondern den Menschen von Produktionsverhältnissen ermöglicht oder versperrt sind, also veränderbar, weil historisch irgendwann auch mal nicht dagewesen: ›Ursprünglich unterscheidet sich ein Lastträger weniger von einem Philosophen als ein Kettenhund von einem Windhund. Es ist die Arbeitsteilung, welche einen Abgrund zwischen beiden aufgetan hat‹, schreibt Marx in seiner Proudhon-Kritik. Und weiter daselbst: ›Die Erfindung der Maschinen hat die Trennung der Manufakturindustrie von der Agrikulturindustrie vollendet. Weber und Spinner, früher in einer Familie vereinigt, wurden durch die Maschine getrennt. Dank der Maschine kann der Spinner in England wohnen, während der Weber gleichzeitig in Ostindien lebt.‹ In der Musik der Zeit, in der Marx gelebt hat, war noch nichts dergleichen der Fall. Die Tendenz aber, die heute die Im- und Exportbeziehungen der Branche bestimmt, und vor deren Hintergrund alles Gerede über ›Weltmusik‹ wie nostalgisches Ethnologengebrummel wirkt, ist in dem Zitat unmissdeutbar richtig benannt. Fünftens: Irgendwas kann jeder Marx hat aus dem zitierten Befund dankenswerterweise nicht abgeleitet, was Anarchisten und sonstige Romantiker daraus abzuleiten pflegen. Er will nicht sagen, dass die Arbeitsteilung der Fluch der Moderne ist, der uns arme Menschen voneinander trennt, und dass es deshalb das Beste wäre, sie undialektisch wieder abzuschaffen. Vielmehr ergießt er schärfsten Spott über Prou-

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Dietmar Dath

dhon, denn dieser Wicht, lacht Marx, ›schlägt dem Arbeiter vor, nicht lediglich den zwölften Teil einer Nadel, sondern nach und nach alle zwölf Teile anzufertigen. Der Arbeiter würde so zu der Wissenschaft und dem Bewußtsein der Nadel gelangen‹, und das klingt nicht zufällig so, wie heute handgemachte Rockmusik ausgespielt wird gegen Overdubbing, gegen Sampling oder Scratchen. Kein Marxist, der auf sich hält, kann wünschen, dass die einzelnen Erlebnisse der Plattennadel von irgendeinem schmierigen Ganzheitsideal wieder in ein und dieselbe hausbackene Rille gezwungen werden, statt digital zerlegt springen zu dürfen. Analogspinner sind eben Proudhonisten, und Proudhons größte Schande war laut Marx, dass er jenes ›Ideal des Kleinbürgers‹ gepredigt hat, das der Welt weismachen will, es sei möglich, die Entfremdung per Dekret zu beseitigen. Wer so predigt, will, so Marx im Elend der Philosophie, ›zum Handwerksgesellen oder höchstens zum Handwerksmeister des Mittelalters zurück‹. Marx dagegen sieht den mit der Industrialisierung erreichten Stand der Produktivkräfte als nie vorher dagewesene Gelegenheit zur Wahl, als phantastische Chance zur durch Optionenvielfalt erweiterten Selbstbestimmung der Produzenten – ›Irgendwas kann jeder‹, sagt ganz in diesem Sinne der Marxist Peter Hacks, und antwortet damit realistisch optimistisch auf den ebenfalls völlig realistischen, aber pessimistisch instrumentalisierten Befund zahlreicher Antikommunisten, dass doch wohl nicht jeder alles kann.

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Sechstens: Kulturindustrie und Sozialismus Der Marxismus verdankt seine hartnäckige Attraktivität der Klarsicht, mit der seine Begründer den Scheideweg identifizierten, an dem sich die Menschheit seit Anbruch der Moderne befindet: Entweder man gibt die große Industrie auf oder das Privateigentum. Entweder man schafft die Platten, Tapes, die Minidiscs, Kleinrechner und holographischen Kristallspeicher der Zukunft irgendwann wieder ab, zugunsten der Hausmusik, oder das Copyright muss fallen – und zwar das der Monopole, die damit als enteignete Enteigner der Musikproduzenten unabsichtlich genau diejenige Industrie geschaffen und zentralisiert hätten, die erst im Sozialismus den ersten Wortbestandteil ihres Namens, des zusammengesetzten Hauptworts ›Kulturindustrie‹, verdienen kann. Rosa Luxemburg in Die Akkumulation des Kapitals: ›Je höher die Produktivität der menschlichen Arbeit, um so kürzer die Zeit, in der sie ein gegebenes Quantum Produktionsmittel in fertige Produkte verwandelt. Das ist ein allgemeines Gesetz der menschlichen Arbeit, das ebenso gut unter allen vorkapitalistischen Produktionsformen Geltung hatte, wie es in der Zukunft in der sozialistischen Gesellschaftsordnung gelten wird. Ausgedrückt in der sachlichen Gebrauchsgestalt des gesellschaftlichen Gesamtprodukts, muß sich dieses Gesetz äußern in einer immer

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Media Marx. Ein Handbuch Medien nach Marx größeren Verwendung der gesellschaftlichen Arbeitszeit auf Herstellung von Produktionsmitteln im Vergleich zur Herstellung von Konsummitteln.‹

Die Platten, Tapes – und was immer es zusätzlich dazu sonst im Sozialismus an kombinierten Speicher-, Wiedergabe und Bearbeitungsmedien geben wird – werden immer weniger zum Musikhören und immer mehr zum Musikmachen da sein. Erreicht wird dieser Zustand allerdings nicht, wie noch sein rein ästhetischer Vorschein bei Leuten wie Terre Thaemlitz, mit künstlerischen, oder, wie bei den Plattentauschbörsen und ihren Sammler- und DJ-Kunden, auf kleinkrämerischem Weg, sondern langfristig und gesamtgesellschaftlich nur dann, wenn man ihn politisch durchsetzt und seine historisch-analytische Wahrheit zu einer sozial-gegenständlichen, synthetischen macht. Wer DJ sagt, muss auch KP sagen.

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Jens Schröter



21 Simulation (Marx und Heidegger)

Jens Schröter Am 27.6.1957, mitten im Kalten Krieg und dem bezeichnend so genannten ›Wirtschaftswunder‹, bemerkte der namhafte deutsche Philosoph Martin Heidegger in einem Festvortrag: »Unser ganzes Dasein findet sich überall – bald spielend, bald drangvoll, bald gehetzt, bald geschoben –, herausgefordert, sich auf das Planen und Berechnen von allem zu verlegen« (Heidegger 1957: 26/27). Für diesen Zustand reservierte Heidegger das eigentümliche Wort ›Ge-Stell‹: »Das Ge-Stell ist, falls wir jetzt noch so sprechen dürfen, seiender denn alle Atomenergien und alles Maschinenwesen, seiender als die Wucht der Organisation, Information und Automatisierung« (ebd.: 28). Das Ge-Stell ist der »Anspruch des Seins, der im Wesen der Technik spricht« (ebd.: 26).1 Bekanntlich trat der Philosoph aus der Berghütte in Todtnauberg (Schwarzwald) der »technische[n] Welt« (ebd.: 25) und dem damit verbundenen »Rechnen […], das heute überall her an unserem Denken zerrt« (ebd.: 34) mit einer gewissen Skepsis entgegen.2 Aber wie dem auch sei: Heidegger benennt mit seiner Kennzeichnung der Moderne – zumindest der nach 1945 – als einer Zeit der Berechnung und Planung einen zentralen Punkt. Denn mit dem Aufkommen der »Denkmaschine« (ebd.: 34), also des Computers, konnten ab 1945 Berechnungen in zunehmend gesteigerten Geschwindigkeiten und für immer komplexere Probleme angegangen werden. Und damit eröffnete sich die neuartige Möglichkeit der Simulation, die Heidegger nicht explizit nennt, die aber von zentraler Rolle gerade für das beginnende »Atomzeitalter« (ebd.: 25) ist (s.u.). Heidegger nimmt an, dass das »Sein unter der Herausforderung [steht], das Seiende im Gesichtskreis der Berechenbarkeit erscheinen zu lassen« (ebd.: 27). Mit anderen Worten: Das Aufkommen des Planens und Berechnens, der »Funktionalisierung, Perfektion, Automatisation, Bürokratisierung, Information« (ebd.: 48)3 sind ein unvordenkliches Verhängnis der Seinsgeschichte, eben der Lichtung des Seins in der Weise des Ge-Stells. Mag sein. Max Weber hatte allerdings schon 1904/05 explizit geschrieben:

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Computer 1: Simulation

➔ 21 Simulation (Marx und Heidegger)

»Der spezifisch okzidentale Kapitalismus nun ist zunächst offenkundig in starkem Maße durch Entwicklungen von technischen Möglichkeiten mitbestimmt. Seine Rationalität ist heute wesenhaft bedingt durch Berechenbarkeit der technisch entscheidenden Faktoren: der Unterlagen exakter Kalkulation. Das heißt aber in Wahrheit: durch die Eigenart der abendländischen Wissenschaft, insbesondere der mathematisch und experimentell exakt und rational fundamentierten Naturwissenschaften.« (Weber 1920: 10)

In der Tat: Sehr häufig sind in den Texten von Marx (und Engels) die Wörter rechnen, berechnen und Berechnung zu finden: »Die Existenzbedingungen der

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Media Marx. Ein Handbuch 304 Medien nach Marx

Bourgeoisie zwingen sie, zu rechnen« (MEW, Bd. 6: 416).4 Ob nun der okzidentale Kapitalismus eine Folge der seinsgeschichtlichen Lichtung ist, durch die »der Mensch herausgefordert, d.h. gestellt [ist], das ihn angehende Seiende als den Bestand seines Planen und Rechnens sicherzustellen« (Heidegger 1957: 27), oder umgekehrt das alltägliche Dasein Heideggers im westeuropäischen und näherhin ›rheinischen‹ Kapitalismus ihn auf die Idee brachte, das Ge-Stell so zu denken, wie er es tat, sei dahingestellt.5 Auf jeden Fall scheinen sich das Ge-Stell Heideggers und Marx’ Beschreibung des Werts als »automatische[m] Subjekt« (MEW, Bd. 23: 168/169; vgl. Kurz 2004), bei dessen unaufhörlicher und immer rasenderer Selbstverwertung alles der Wertform unterworfen wird (oder doch zumindest werden soll), nicht unähnlich zu sein. Ist das so abwegig? Immerhin zollte Heidegger in seinem ›Brief über den Humanismus‹ an Jean Beaufret vom 10.11.1946 Marx Respekt, als er bemerkte, dass »die marxistische Anschauung von der Geschichte aller übrigen Historie überlegen« sei (Heidegger 1947: 87).6 Könnte also nicht die zentrale (oder zumindest im 20. Jahrhundert so auffällige) Rolle der Berechnung in der Selbstbewegung des Werts, welche die Quantifizierung aller Objekte und d.h. ihre Unterwerfung unter die Formalisierung des Warentauschs erzwingt, begründet sein? Ist es nicht gerade die vollkommene Durchsetzung der Ware/Geld-Beziehung – genauer: des Geldes als »Rechengeld« (MEW, Bd. 13: 57 und passim; Bd. 23: 115 und passim; Bd. 24: 65 und passim) –, welche das Sein einer mathematischen Quantifizierung und Formalisierung unterwirft? Die Formalisierung bleibt keineswegs ausschließlich auf den Bereich der Naturwissenschaften beschränkt.7 So verwendet man heute ganz alltäglich Redewendungen wie: ›Die Getränke können sie gesondert berechnen‹ oder ›Dies und jenes rechnet sich nicht‹ oder ›Sie ist eine berechnende Person‹. Oder: Die überall aufgeklebten Preisschildchen sind die Formalisierung selbst: So ist z.B. ein Kilo Tomaten keine Ansammlung von Tomaten, sondern gegenwärtig eben 1,99 €. Nichts anderes sagt doch Heideggers schöner Satz: »Was im Sinne des Bestandes steht, steht uns nicht mehr als Gegenstand gegenüber« (Heidegger 1962: 16). ›Bestand‹ und ›Ware‹ könnten verwandte Begriffe sein. Marx schreibt: »Das Geld, indem es die Eigenschaft besitzt, alles zu kaufen, indem es die Eigenschaft besitzt, alle Gegenstände sich anzueignen, ist also der Gegenstand im eminenten Sinn« (MEW, Bd. 40: 566). Und der ›Gegenstand im eminenten Sinn‹ ist eben kein auf den Gebrauchswert bezogener Gegenstand mehr, sondern das Medium, welches jeden Gegenstand in Bestand – Ware, die dem Tauschwert unterliegt – umformt. So scheint auch Heidegger – trotz des bis zu den Vorsokratikern zurückreichenden ontologischen Anspruchs – das Ge-Stell, welches den Menschen zwingt, das Seiende als bloßen ›Bestand‹ zu entbergen, in der Linie der Wertform bzw. des Geldes zu denken. Er schreibt:

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Jens Schröter

»Der Forstwart, der im Wald das geschlagene Holz vermißt [!] und dem Anschein nach wie sein Großvater in der gleichen Weise dieselben Waldwege begeht, ist heute von der Holzverwertungsindustrie [!] bestellt, ob er es weiß oder nicht. Er ist in die Bestellbarkeit von Zellulose bestellt, die ihrerseits durch den Bedarf [!] an Papier herausgefordert ist, das den Zeitungen und illustrierten Magazinen zugestellt wird.« (Heidegger 1962: 17/18)

Ähnlich heißt es schon bei Engels: »Nicht nur untergrub ihre Konkurrenz [die zwischen Industrie und Naturalwirtschaft, J. S.] die häusliche industrielle Produktion des Bauern für den eignen Bedarf, sie nahm auch seiner für den Verkauf bestimmten Handarbeit den Markt weg oder stellte sie, im günstigsten Fall, unter die Botmäßigkeit des kapitalistischen ›Verlegers‹ oder, was

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Computer 1: Simulation

➔ 21 Simulation (Marx und Heidegger)

noch schlimmer, seines Mittelsmanns.« (MEW, Bd. 22: 391)

Ganz in seinem Dasein von der »durchschnittlichen Alltäglichkeit« (Heidegger 1986: 50 FN) des agrarischen Todtnauberg oder Meßkirch der 50er Jahre von der Marktwirtschaft mit ihrem Bedarf und ihren Industrien – er erwähnt auch die bis heute gerne in den Schwarzwald hineinreichende »Urlaubsindustrie« (Heidegger 1962: 16) – gestellt, beschreibt Heidegger, ohne es explizit zu sagen, genau die immer weitergehende Unterwerfung alles und jeden unter die Imperative einer ökonomischen Rationalisierung. Das gilt letztlich auch für das »Menschenmaterial« (ebd.: 17) am, wie Otto Pöggeler (1990: 246) zu präzisieren weiß, Arbeitsmarkt, auf dem sich das Dasein – in der Bundesrepublik Deutschland spätestens seit Hartz IV – ›bald drangvoll, bald gehetzt, bald geschoben‹ behaupten muss. Als Heidegger 1949 erstmals den Vortrag hielt, in der er die Gegenwart als vom Ge-Stell geprägte beschrieb,8 würde es nur noch ein, zwei Jahre dauern, bevor die von ihm genannte Industrie – vorwiegend Strom-, Rüstungsund Versicherungsindustrie – sich der ersten kommerziell verfügbaren Großcomputer, Modell UNIVAC, zu bedienen begann (vgl. Ceruzzi 2000: 28). Dass die Formalisierung des Sozialen und der durch den Konkurrenzkampf – die ›Existenzbedingungen der Bourgeoisie‹ – ständig steigende Druck die Berechnungen zu beschleunigen, den Einsatz und die Entwicklung von Rechenmaschinen bzw. mathematischen Modellierungen begünstigen, scheint nahe liegend. Computerpionier Vannevar Bush bemerkte 1969 im Rückblick: »The great digital machines of today have had their exciting proliferation because they could vitally aid business, because they could increase profits« (Bush 1969: 81). Thesen jedoch, die den Computer allzu direkt aus ökonomischen Imperativen einer beschleunigten Berechnung hervorgehen ließen, verfehlen, dass

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der Aufwand dafür zunächst selbst unökonomisch hoch war und mithin nur in einem noch größeren Notstand – dem des Krieges – eine solche Aufgabe angegangen werden konnte und musste (vgl. Janco/Furjot 1972; Manacorda 1976; differenziert und sehr überzeugend allerdings Beniger 1986). So wurde der erste amerikanische Digitalcomputer, der ENIAC, unter immensem Druck im Zweiten Weltkrieg zur Berechnung ballistischer Tabellen herbeigeforscht (vgl. MacCartney 1999), konnte aber erst 1946 fertig gestellt werden, sodass dieser ursprüngliche Zweck keine Rolle mehr spielte. Schnell jedoch fand sich ein neuer: Da im Bereich der Kernfusion – bis heute – kaum kontrollierte Laborexperimente möglich sind, anders als übrigens bei der Kernspaltung,9 wurde der ENIAC für stochastische Simulationen, so genannte ›Monte Carlos‹, eingesetzt. Nur so war die Konstruktion der H-Bombe möglich (vgl. Galison 1997: 694). Simulationen sind mithin, neben der Kryptoanalyse, das erste Einsatzgebiet digitaler Rechenmaschinen. Und wohl auch das wichtigste: Nicht nur das Militär, sondern vor allem die Ökonomie sowie die Politik haben sich nach 1945 in stets steigendem Maß auf Simulationen gestützt, um überhaupt Daten und Theorien zu erhalten, Vorhersagen und Strategien entwerfen zu können (vgl. Starbuck/Dutton 1971). Heidegger bemerkte schon 1938: »Die Forschung verfügt über das Seiende, wenn es dieses entweder in seinem künftigen Verlauf vorausberechnen oder als Vergangenes nachrechnen kann« (Heidegger 1994: 86/87). 1967 dann bezeichnete der Informatiker J. C. R. Licklider (1967: 289) die Entstehung rechnergestützter Simulationen als das wichtigste Ereignis für Wissenschaft und Technologie seit der Erfindung des Schreibens. Bei Simulationen wird ein operational definierter »reale[r] Prozeß […] in Mathematik abgebildet […], um dann mittels Algorithmen im Rechner simuliert werden zu können« (Neunzert 1995: 44). Auf der Basis von gesammelten oder abgetasteten Daten verschiedener Art kann man Gesetz- oder wenigstens Regelmäßigkeiten des Verhaltens eines Objekts oder Prozesses, eine Theorie (›base model‹), ableiten. Das Basismodell wird dann in ein vereinfachtes, rechnerausführbares mathematisches Modell übersetzt (›lumped model‹). Dieses formalisierte Modell muss dann, im Abgleich mit experimentellen Daten oder den Ergebnissen vorheriger und alternativer Simulationen, validiert werden (vgl. Winsberg 1999). Die mathematischen Modelle können genutzt werden, um zukünftige und/oder alternative Zustände des Phänomens zu erzeugen. Entweder lässt man – geleitet von theoretischen Extrapolationen – das Modell sich relativ ›eigenständig‹ entwickeln, was im Übrigen auch erhebliche Zeitkompressionen erlaubt, um zu sehen, wie das modellierte Phänomen mutmaßlich sein wird. Oder es werden von Anfang an bestimmte Parameter modifiziert, etwa um zu prüfen, wie sich das Phänomen unter anderen Bedingungen verhalten würde. Solche Modellierungen sind – wie

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gesagt – für viele Wissensbereiche heute völlig unverzichtbar geworden, denn nur mit Hilfe von Simulationen sind angesichts der enormen Komplexität nationaler oder globaler militärischer, ökonomischer und politischer Prozesse überhaupt noch Entscheidungen möglich. In dieser Hinsicht basieren Simulationen auf einer viel älteren Tradition etwa der Kriegsspiele und anderer ›scientific gaming‹-Verfahren (vgl. Raser 1969: 45-65). Die rasche Ausbreitung von Simulationen nach 1945 hatte also gute und mithin die schlimmsten Gründe: Zwischen Mitte der 50er und Mitte der 60er Jahre eskalierte der Kalte Krieg (Sputnik-Schock, Berliner Mauer, Kubakrise). Die Komplexität der Probleme und das Risiko bei Fehlentscheidungen – entweder vom feindlichen System überrannt oder gleich nuklear ausgelöscht zu werden – waren einfach zu groß (vgl. De Sola Pool/Kessler 1965). Angetrieben von der Systemkonkurrenz versuchten beide Blöcke ihre Entscheidungsund Planungsprozesse zu optimieren. So wie die Konkurrenz am Markt die Produktivkraftentwicklung antreibt, so hat auch die Systemkonkurrenz die Entwicklung ständig neuer Hochrisikotechnologien (Kernkraft, Hochgeschwindigkeitszüge, Flugzeuge, Raumfahrt etc.) vorangetrieben. Diese rasante Entwicklung erzwingt geradezu die parallele Bereitstellung von Simulatoren, die durch Training Menschen zu funktionalen Bestandteilen, Bedienern dieser Maschinen machen – sonst drohen technologische Großkatastrophen.10 Aber auch ökonomisch bestand der Systemkonflikt, schließlich wollte jede Seite der anderen beweisen, das überlegene Gesellschaftssystem zu sein. Folglich war eine der treibenden Kräfte bei der Weiterentwicklung der Computersimulation und ihrer Visualisierungen in den 60er Jahren General Motors (vgl. Krull 1994). Denn Simulationen erleichtern das Produktdesign, also die Erzeugung von Modellen, aus denen dann reale Produkte für den Markt generiert werden. 1957, in dem Jahr als der Sputnik-Schock (4.10.1957) die USA an der Überlegenheit ihres Gesellschaftssystems zweifeln ließ, wurde die erste Simulationsstudie des amerikanischen Wirtschaftssystems in Auftrag gegeben – man hoffte auf Voraussagen und damit mögliche Optimierungen (vgl. Orcutt et al. 1961).11 Ist es ein Zufall, dass Heidegger gerade in diesem Jahr (allerdings vor Sputnik), kritisch das ›Planen‹ zum Kennzeichen des ›Ge-Stells‹ erhob? Denn der Westen und also auch Meßkirch oder Todtnauberg setzten ihre ›freie‹ Marktwirtschaft ja emphatisch der zentralistischen Planung der Wirtschaft im Osten entgegen. Obwohl von sowjetischen Wissenschaftlern schon früh als zentrales Prognose- und Steuerungsinstrument gerade auch für eine Planwirtschaft erkannt, wurde die Kybernetik (und mit ihr mathematische Modellierungsverfahren) bis zur um 1956 und 1961 endlich einsetzenden Entstalinisierung verdammt (vgl. Apokin 2001: 78; Gerovitch 2002). Aber selbst nach dieser Wende und dem dann geradezu groteske Ausmaße annehmenden Kult um die Kybernetik im Ostblock, besonders in der DDR Ulbrichts (vgl. Werner 1977), fehlte es sowohl an hinreichend

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leistungsfähigen Computern als auch an Zuverlässigkeit der ökonomischen und demographischen Daten. Simulationen können nur durch immer verfeinerte Rückkopplungen auf ihre Ergebnisse verbessert werden – und autoritäre Systeme wie die ehemalige DDR hatten eben zuwenig Rückkoppelung. Diese Unfähigkeit, effiziente Simulationen, ja, wenigstens nur Modelle des eigenen Zustands zu entwickeln, mithin das soziale Feld dem ›Berechnen und Planen‹ zu unterwerfen, dürfte ein Grund für die Niederlage der bürokratischen und autoritären UdSSR im ›Kampf der Systeme‹ gewesen sein (vgl. Castells 2003: 27-39). Im Feld der amerikanischen Innenpolitik erregten Computersimulationen hingegen bereits 1961 große Aufmerksamkeit, als in Zusammenhang mit der Präsidentschaftswahl in den USA das so genannte Simulmatics-Project in Angriff genommen wurde. Ithiel de Sola Pool und sein Team sammelten Daten über die Verhaltensmuster von verschiedenen Wählertypen, und die von ihm erstellte Computersimulation sagte das tatsächliche Wahlergebnis genauer voraus als jede andere Prognose (De Sola Pool/Abelson 1961). Man war daher an solchen Verfahren höchst interessiert – schon deswegen, weil sich durch Veränderung der Modelle möglicherweise ableiten lässt, wie das Wahlergebnis z.B. bei anders gewichteten Wahlkampfthemen ausgefallen wäre, was letztlich eine beunruhigende Perspektive eröffnet: »[I]ssues could be so androitly selected and presented as to achieve mass persuasion more discriminating and potent than anything Goebbels ever imagined« (Raser 1969: 92). So werden auch die Wähler zum Bestand, die von einer Meinungsindustrie bestellt werden – und offenkundig gilt das (mit Ausnahmen) noch bis heute. Heideggers ›Man‹ scheint seitdem mit seiner eigenen Simulation zusammenzufallen. In indirekterer Form zeigt sich ähnliches an Simulationen, mit deren Hilfe die Strukturen von Unternehmen oder Einkaufszentren etc. geplant werden. Ausgehend von reichem Datenmaterial über Informationsund Kommunikationsflüsse, Verhaltensmuster etc. sollen die Architekturen, Besucherströme und Informationsflüsse optimiert und so die scheinbar zwanglose Lenkung und Optimierung von Subjekten ermöglicht werden – nicht zufällig wählte Gordon (1962) als Beispiel für seine wichtige generelle Simulatorsprache das so genannte Supermarkt-Problem: Wie optimiert man den Verkauf? In der Moderne wird das Seiende Bestand – sagt Heidegger. Die Behandlung des Supermarkt-Problems und seine Lösungen, die uns heute in der Architektur jeder Shopping Mall begegnen, macht Menschen zum Bestand, die von einer Konsumindustrie zum Kaufen bestellt werden. Die Simulation als performative Verselbstständigung des Rechnens, als recht eigentlicher ›Zahlenfetisch‹,12 ist die Apotheose der Formalisierung der Welt. Wenn sich die so genannte Wirklichkeit zunehmend nach den mathematischen Modellen, in denen sie operativ dargestellt wird, richten soll oder muss,

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ist die höchste Form des Ge-Stells erreicht. Und wieder scheint es hier eine tiefe Ähnlichkeit zu Marx’ Begriff des Werts bzw. des Geldes zu geben, der/ das offenbar ebenso wenig wie das Ge-Stell von Menschen gemacht wird: »Das Geld – als das äußere, nicht aus dem Menschen als Menschen und nicht von der menschlichen Gesellschaft als Gesellschaft herkommende allgemeine – Mittel und Vermögen, die Vorstellung in die Wirklichkeit und die Wirklichkeit zu einer bloßen Vorstellung zu machen verwandelt ebensosehr die wirklichen menschlichen und natürlichen Wesenskräfte in bloß abstrakte Vorstellungen und darum Unvollkommenheiten, qualvolle Hirngespinste, wie es andrerseits die wirklichen Unvollkommenheiten und Hirngespinste, die wirklich ohnmächtigen, nur in der Einbildung des Individuums existierenden Wesenskräfte desselben zu wirklichen Wesenskräften und Vermögen verwandelt.« (MEW, Bd. 40: 566)

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Kinofilme wie The Matrix zeigen mithin nichts anderes als das Leben in der durch das Ge-Stell Geld entwirklichten Wirklichkeit – eben ›qualvolle Hirngespinste‹. Die Entgrenzung der Formalisierung führt nach der neoliberalen Wende ab ca. 197313 letztlich zum Herumrechnen mit Geld, dem keine reale Produktion mehr entspricht. Rotman (2000: 143-154) spricht vom Übergang zum ›Xenogeld‹, bei welchem sich der formale Geldwert abgelöst von irgendeiner Bindung an eine Materie – z.B. Gold – selbstreferentiell nur mehr auf sich selbst bezieht, darin in gewisser Weise den performativen Simulationen ähnelnd.14 Zwar ist die Beschleunigung und Virtualisierung der Finanzmärkte eher den sich ausbreitenden Datennetzen als der Simulation geschuldet – dennoch gleicht die Tendenz, Zahlen an die Stelle eines (wie auch immer definierten) Realen zu setzen, der Simulation. Heute sind nur noch ca. 3 Prozent der gigantischen Bewegungen an den Finanzmärkten auf der Realakkumulation gegründet – der Rest sind reine Operationen auf Zahlen, auch mit der Folge immer schneller platzender Finanzblasen (Stichwort: New Economy): »Mit der Entwicklung des zinstragenden Kapitals und des Kreditsystems scheint sich alles Kapital zu verdoppeln und stellenweis zu verdreifachen durch die verschiedne Weise, worin dasselbe Kapital oder auch nur dieselbe Schuldforderung in verschiednen Händen unter verschiednen Formen erscheint. Der größte Teil dieses ›Geldkapitals‹ ist rein fiktiv.« (MEW, Bd. 25: 488).

So wurde dann in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts – einer Zeit intensiver Finanzblasen – ›Simulation‹ über seine ursprüngliche Bedeutung hinaus zum Schlagwort ›postmoderner‹ Soziologien, die glaubten die Realität des Realen ad acta legen zu können. So behauptete Baudrillard 1984 ausgerechnet in Berlin, in »den kommunistischen Regimen [stehe] […] die Geschichte endgültig [still]« (1990: 27; vgl. Kurz 1995). Doch als 1989/90 die, sich auf Computersi-

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mulationen, Datennetze und andere Formen von Computertechnologie stützende, USA den Kalten Krieg gewonnen hatte und die pseudo-marxistischen Diktaturen des Ostblocks wieder aus der Lichtung des Seins verschwunden waren, lichtete die neoliberale Wende unter dem Schlagwort Globalisierung den postmodernen Nebel und schlug so erst richtig zu. Überraschend bewahrheitete sich denn McLuhans frühe These, dass mit »dem Computer […] die Gesellschaft, die Politik und Erziehung als Ganzes […] zur Kalkulationseinheit geworden« (1994: 539) seien. Und die Finanzblasen platzten trotzdem weiter. Die Substanzlosigkeit der Blasen des fiktiven Kapitals, welche in jüngerer Vergangenheit ohne Computer in diesem Ausmaß und in dieser Geschwindigkeit schlicht nicht existierten, hat Heidegger ebenfalls bereits erahnt, denn er bemerkte, dass die »Beziehungen«, die die »Denkmaschine […] errechnet […] trotz ihres technischen Nutzens wesenlos« (Heidegger 1957: 34) seien. Wesen- und substanzlos wie die New Economy. Doch gerade die Wesenlosigkeit des Binärcodes, der für alles stehen kann, was sich überhaupt berechnen lässt, ist seine Macht – ebenso verhält es sich beim Geld, das gerade wegen dieser Wesenlosigkeit für jede Ware stehen kann. Es ist das »universelle […] Tauschmittel« (MEW, Bd. 4: 113; vgl. Vief 1991). In dieser nihilistischen Leere liegt alles: »Die Universalität seiner [des Geldes, J. S.] Eigenschaft ist die Allmacht seines Wesens; es gilt daher als allmächtiges Wesen […]« (MEW, Bd. 40: 563). Die von Heidegger gelegentlich erhoffte Ankunft eines Gottes ist in gewisser Weise längst geschehen – im »fremde[n] Gott« (MEW, Bd. 23: 782) des Kapitals, der im Kapitalismus allmächtig werdenden Zahl, ihrer Rechenmaschinen und der dadurch ermöglichten Apotheose des Rechengeldes.15 Anmerkungen 1 Oder andernorts: »Ge-stell heißt die Weise der Entbergens, die im Wesen der modernen Technik waltet und selber nichts Technisches ist« (Heidegger 1962: 20). 2 Vgl. Thomä (2003: 154), der detailliert nachzeichnet, inwiefern Heideggers »Feier der ›Arbeit‹ 1933/34 sogar eine – etwas unbeholfene Wertschätzung der ›Technik‹« noch einschloss, während erst der Heidegger der Nachkriegszeit begann die Technik ins Problematische zu wenden. 3 Während die zuvor gegebenen Zitate aus dem Text »Der Satz der Identität« stammen, ist dieses Zitat aus dem Text »Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik«, der 1957 zusammen mit dem ersten Text in dem hier zitierten Bändchen Identität und Differenz publiziert worden war.

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4 Den soziologistischen Begriff der ›Bourgeoisie‹ habe ich bereits in meinem Beitrag zur Telegraphie kritisiert. 5 Vgl. eine Bemerkung Sohn-Rethels in seiner Studie Warenform und Denkform: »Der ökonomische Wertbegriff läßt keine andre als die quantitative Verschiedenheit zu. Die quantitative Bestimmtheit ist wiederum ein Erzeugnis der Tauschabstraktion […]. [I]hre Grundlage ist die Gleichung« (1978: 122). 6 Vgl. Kittsteiner (2004: 128-139). Zum Verhältnis von Marx und Heidegger vgl. generell Axelos (1966) und Demmerling (2003). 7 Vgl. zum mathematischen Grundriss der Naturwissenschaften Heidegger (1994). Heideggers Charakterisierung des mathematischen Grundrisses der modernen Wissenschaften geht mindestens bis zu seiner im Wintersemester 1935/1936 in Freiburg gehaltenen Vorlesung »Grundfragen der Metaphysik« zurück. Die Vorlesung wurde 1962 unter dem Titel Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen als Bd. 41 der Gesamtausgabe veröffentlicht. 8 Am 1.12.1949 hielt Heidegger in Bremen vier Vorträge, von denen der zweite »Das Gestell« hieß. Er wurde in erweiterter Form am 18.11.1955 unter dem Titel »Die Frage nach der Technik« erneut gehalten. Diese Fassung liegt der hier zitierten Publikation von 1962 zugrunde. 9 Dem Bau der Atombombe gingen ab etwa 1942 Fermis Versuche mit dem ersten Atomreaktor voraus. 10 Diese geschehen allerdings immer noch und wieder, was auf die Grenzen der Simulation – und sei es schlichtes ›menschliches Versagen‹ – verweist. 11 Vgl. als Beispiel aus der nachgerade unüberschaubaren Literatur Naylor (1971: 12): »As a tool for testing the effects of alternative managerial or governmental policies on the behaviour of particular economic systems, simulation has achieved a noteworthy record in only a short period of time.« 12 Zur Performativität der Simulation vgl. Licklider (1967: 281). Zum Fetischcharakter vgl. den Beitrag von Claus Peter Ortlieb in diesem Band. 13 1971 ist das Jahr, in dem die USA die Goldbindung des Dollars aufhoben. 1973 unterstützte sie in Chile jene Militärjunta, die zum ersten Mal an lebenden Menschen das Experiment ›Neoliberalismus‹ exekutierte. Die theoretischen Grundlagen des Neoliberalismus etwa bei Friedrich von Hayek reichen freilich schon viel weiter zurück. 14 Siehe dazu auch den Beitrag von Nadja Gernalzick. 15 Dass zumindest der ›Geist des Kapitalismus‹ und das protestantische Christentum viel miteinander zu tun haben, hat bekanntlich Max Weber (1920) herausgearbeitet.

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22 Der Fetischcharakter der Computerspielwaren und sein medienmorphologisches Geheimnis

Jochen Venus »Alle […] Erscheinungen der kapitalistischen Produktion auf diesem Gebiet [der Zeichenproduktion, J. V.] sind so unbedeutend, verglichen mit dem Ganzen der Produktion, dass sie gänzlich unberücksichtigt bleiben können.« Karl Marx »Es gibt keine Medientheorie.« Jean Baudrillard

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➔ 22 Der Fetischcharakter der Computerspielwaren

1 Die Computerspielindustrie ist in den letzten Jahrzehnten bekanntlich zu einem der wichtigsten Zweige der Unterhaltungsindustrie geworden. Die technische Materialität und die ästhetische Anmutung der Spiele haben eine ökonomisch außerordentlich lukrative Steigerungsdynamik entfesselt, die das Feld für eine kapitalismustheoretische Perspektivierung zu prädestinieren scheint. Allerdings liegt der Zusammenhang zwischen dem technologischen Fortschritt, der Erweiterung illusionistischer Effekte und den ästhetischen Präferenzen der relevanten Zielgruppen derart auf der Hand und ist zugleich so stark gekoppelt an die Kontingenzen der Technikentwicklung, dass sich allenfalls historiographisch ausbuchstabieren ließe, was Henry Jenkins folgendermaßen konstatiert hat: »Over the past three decades, computer and video games have progressed from the primitive two-paddles-and-a-ball Pong to the sophistication of Final Fantasy, a participatory story with cinema-quality graphics that unfolds over nearly 100 hours of game play, or Black and White, an ambitious moral tale where the player’s god-like choices between good and evil leave tangible marks on the landscape. The computer game has been a killer app for the home PC, increasing consumer demand for vivid graphics, rapid processing, greater memory and better sound. One could make the case that games have been to the PC what NASA was to the mainframe – the thing that pushes forward innovation and experimentation. The release of the Sony Playstation 2, the Microsoft X-Box, and the Nintendo Game Cube signals a dramatic increase in the resources available to game designers.« (Jenkins 2005)

Im Folgenden soll demgegenüber ein Zusammenhang diskutiert werden, der

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von diesen Evidenzen eher verdeckt wird, nämlich das Verhältnis zwischen den besonderen Formeigenschaften des Computerspiels und dem kapitalistischen Profitmotiv der Medienproduktion. In einem weiteren Zusammenhang geht es um die exemplarische Diskussion materialistischer Motive der Medienreflexion, die in der Geschichte der Medientheorie auf ebenso heterogene wie fruchtbare Weise artikuliert worden sind. Zunächst möchte ich skizzieren, was eine materialistische Perspektive im Bereich des Medialen überhaupt bedeuten könnte, da doch das Mediale vor allem durch seine Zeichenhaftigkeit bestimmt ist. Zeichen sind hinsichtlich ihrer Bedeutung prinzipiell als substratneutral aufzufassen. In einem streng empirischen Sinne lässt sich das Bedeutungsmoment des Zeichens weder nachvollziehen noch implementieren. Das Zeichen hat hinsichtlich seiner materiellen Wirklichkeit ein unauflöslich spekulatives Moment. Wie wäre unter diesen Umständen das Mediale materialistisch zu reflektieren? Der sich daran anschließende Abschnitt entwickelt einen dialektischen Gegensatz zwischen ›medialen Produktivkräften‹ (den Medientechnologien einschließlich der Medienkompetenzen von Produzenten und Nutzern) und ›medialen Produktionsverhältnissen‹ (den ökonomisch-institutionell standardisierten Medienformaten, als deren Exemplare Medienangebote gehandelt werden). Das Computerspiel ist mit Blick auf diese Unterscheidung als ein ›revolutionäres‹ Medienformat aufzufassen. Sodann versuche ich, durch eine Konfrontation mediensemiotischer und kapitalistischer Gesichtspunkte die objektiven Entwicklungsmotive des neuen Medienformats ›Computerspiel‹ zu modellieren. Der letzte Abschnitt schließlich nennt einige mediale Effekte, die über die genannten Entwicklungsmotive und medialen Funktionslogiken hinausgehen und auf die Offenheit der Medienentwicklung verweisen. Die Überlegungen schließen in gewisser Weise an den medienhistorischen Befund Jean Baudrillards an, dass sich die Zeichenproduktion im Medienzeitalter auf paradoxe Weise von semantischen Maßgaben gelöst hat (vgl. Baudrillard 1991). Baudrillards Simulationstheorie, die die Referenzlosigkeit der Zeichen in allen kulturellen Bereichen (Wirtschaft, Mode, Kunst etc.) durchdekliniert, überschätzt allerdings grandios die gesellschaftliche Reichweite dieses Befunds. Nach Baudrillards Auffassung sind nicht nur die Massenmedien, sondern alle gesellschaftlich relevanten Zeichenprozesse semantisch entkoppelt, und nicht nur das: Die gesamte Warenökonomie habe ihre Bestimmung durchs Wertgesetz verloren. Diese Übergeneralisierung verstellt den Blick für die Logik, nach der sich die ›strukturale Revolution des Werts‹ (vgl. ebd.: 17ff.) vollzogen hat. Diese Logik lässt sich einer impliziten Formbestimmung medialer Waren in der Marx’schen Kapitalismusanalyse entnehmen, nach der diese Waren hinsichtlich ihrer Zeichenlogik zur Mehrwertbildung relativ untauglich sind. Mediale Waren, so kann man mit Marx’-

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scher Logik und Baudrillard’scher Sensibilität für mediale Entwicklungen schließen, funktionieren im Rahmen kapitalistischer Kalküle nicht auf der Basis ihrer Zeichenlogik, sondern auf der Basis ihrer Formlogik.1 Der Gebrauchswert eines Medienprodukts als Zeichen ist für den kommerziellen Erfolg relativ unerheblich, ja dieser semantische Gebrauchswert kann medial geradezu subvertiert werden, wenn die kommerziellen Erfolgsbedingungen dies nahe legen. Mit dem Computerspiel wird die semantische Entkoppelung medialer Formen zu Gunsten einer Aufmerksamkeits- und Verführungsökonomie, durch die sich die kapitalistische Produktionsweise von Medienangeboten generell auszeichnet, auf ein technisch neues Niveau gehoben. Motiviert durch das kapitalistische Profitinteresse werden im Computerspiel die grammatischen Grundlagen der Ideologievermittlung, Erzählung und Spiel, in ihrer überkommenen Form destruiert und in der Gestalt erzählerisch verschalteter Spiel- und spielerisch getakteter Erzählfragmente rekonfiguriert. Offenbar entdeckt die Kulturindustrie im Rahmen ihres Programms, den Überbau zu kapitalisieren, im Zeitalter der Digitalität das ökonomische Potenzial der semantisch unspezifischen, aber aufmerksamkeitsträchtigen medialen Formen. Zugleich schießt aber die technologische Implementierung dieses kapitalistischen Motivs über die objektive Absicht hinaus und schafft ein mediales Dispositiv, das jenseits der kapitalistischen Logik funktionalisiert werden kann.

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2 »Die Voraussetzungen mit denen wir beginnen, sind keine willkürlichen, keine Dogmen, es sind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in der Einbildung abstrahieren kann. Es sind die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie die durch ihre eigne Aktion erzeugten. Diese Voraussetzungen sind also auf rein empirischem Wege konstatierbar.« (MEW, Bd. 3: 20)

Die Voraussetzungen, mit denen in diesem Sinne ein medienwissenschaftlicher Materialismus zu beginnen hätte, ist die empirische Dimension einer Medienpraxis, die von den Leuten vorgefunden und ›in eigner Aktion‹ erzeugt wird, nämlich das kulturspezifische Ensemble der Geräte und Methoden, mit denen Bild- und Klanggestalten sowie konventionalisierte Symbolsysteme und ihre informationshaltigen Selektionen produziert, archiviert, rekonfiguriert, distribuiert und rezipiert werden, kurz: die Dimension der Medientechnologie. Historisch unterliegt die medientechnologische Entwicklung aber einer sich selbst verstärkenden Dynamik, die sich der Reichweite wirklichkeitsna-

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her Modellbildungen mehr und mehr entzieht. Der empirisch gut belegbare Zusammenhang: »In immer kürzerer Zeit entstehen immer mehr Medien und umgekehrt: Je mehr Medien entstehen, umso schneller entstehen noch mehr Medien« (Merten 1994: 153), impliziert, dass die theoretische Modellierung, die ja ihrerseits Zeit braucht, irgendwann hinter der Medienentwicklung zurückbleibt. Schon heute setzt das Verständnis der Medientechnologien und ihrer sozialen Implikationen eine Verbindung von Spezialkompetenzen voraus, die nicht einmal in Grundzügen durch ein medienwissenschaftliches Curriculum abzubilden wäre. So hat das Projekt einer theoretischen Integration der Medien mit guten materialistischen Gründen an Überzeugungskraft verloren. Der ›informationstheoretische Materialismus‹ (vgl. Kittler 1993: 182) übt sich derweil in der narrativen Verschaltung des historischen Materials: gunpowder, treason, and plot, die Kriegs- und Intrigengeschichte der Medien … »Mehr und mehr Datenströme, vormals aus Büchern und später aus Platten oder Filmen verschwinden in den schwarzen Löchern oder Kästen, die als künstliche Intelligenzen von uns Abschied nehmen, zu namenlosen Oberkommandos unterwegs. In dieser Lage bleiben nur Rückblicke und das heißt Erzählungen. Wie es dazu kam, was in keinem Buch steht, ist für Bücher gerade noch aufschreibbar. Dann entstehen, wie an der Schnittfläche von zwei optischen Medien auch, Raster und Moirés: Mythen, Wissenschaftsfiktionen, Orakel.« (Kittler 1986: 3f.)

So wie aber der Gebrauchswert medientheoretischer Modelle vor dem Hintergrund der Mediendynamik zweifelhaft ist, so bleibt auch der Tauschwert der Medienwissenschaft-als-Action-Adventure-Strategy-Verschaltung hinter dem der neuen künstlichen Intelligenzen zurück, die das gleiche Geschäft betreiben. Die materialistische Konsequenz aus der medienhistorischen ›Lage‹ bestünde demgegenüber zunächst in einer Zurücknahme materialistischer Protoexistenzen als einheitsstiftende Prinzipien, seien sie anthropologischer (»die Existenz lebendiger menschlicher Individuen«, MEW Bd. 3: 20) oder informationstheoretischer Art (»Nur was schaltbar ist, ist überhaupt«, Kittler 1993: 182). Medienwissenschaftlicher Materialismus hieße zunächst, die empirischen Voraussetzungen der Medienwirklichkeit nicht zu verdinglichen. Das menschliche Sehen, Hören und Verstehen und der materiell verfügbare Gegenstand dieser Kompetenzen, das physische Substrat von Bildern, Klängen und Texten, sind zweifellos elementare Sachverhalte der Medienwirklichkeit, und die technologisch normalisierten Zirkulationsformen von Bildern, Klängen und Texten sind ebenso zweifellos die entscheidenden Kriterien des gesellschaftlichen Einflusses der Medien; – gleichwohl bilden weder die menschlichen Kompetenzen (bzw. Inkompetenzen; vgl. die Denkfigur von

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den Medien als Prothesen des ›Mängelwesens‹ Mensch) noch die technologischen Dispositive die Substanz des Mediensystems, aus der alles Weitere abzuleiten wäre. Vielmehr stellen umgekehrt die Medienpragmatik der Individuen und die Funktionalität der Mediendispositive einen relativ kontingenten, erklärungsbedürftigen Zusammenhang dar. So weit reichend die Folgen der individuellen Medienpragmatik und ihrer technologischen Möglichkeitsbedingungen sein mögen, sie sind durch und durch gesellschaftliches Produkt und in der kulturellen und historischen Besonderheit ihrer Wechselbeziehungen unwahrscheinlich und problematisch. Die Verdinglichung der Medienwirklichkeit in Form des technologischen und/oder sinnesphysiologischen Determinismus wird vor allem durch eine mentalistische oder quasi-mentalistische Auffassung des Zeichenbegriffs befördert, die mit den beiden entscheidenden Diskursbegründungen der modernen Zeichentheorie – der Linguistik durch Ferdinand de Saussure und der Semiotik durch Charles S. Peirce – zur impliziten Grundannahme aller Medienreflexion geworden ist. Sei es als dyadisch integriertes System (de Saussure) oder als triadisch entfalteter Prozess (Peirce) – entscheidend für Zeichenphänomene ist demnach ein innerlich gegebener, nicht äußerlich-materiell aufzufassender Bedeutungsaspekt:

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»[…] sie [die Sprache, J. V.] bildet ein System von Zeichen, in dem einzig die Verbindung von Sinn und Lautzeichen wesentlich ist und in dem die beiden Seiten des Zeichens gleichermaßen psychisch sind.« (de Saussure 1967: 18) »There are three kinds of interest we may take in a thing. First, we may have a primary interest in it for itself. Second, we may have a secondary interest in it, on account of its reactions with other things. Third, we may have a mediatory interest in it, in so far as it conveys to a mind an idea about a thing. In so far it does this, it is a sign, or representation.« (Peirce 1998a: 5 und 10) »[…] the entire universe, – not merely the universe of the existents as a part, but all that wider universe, embracing the universe of existents as a part, the universe which we all accustomed to refer to as ›the truth‹, – […] all this universe is perfused with signs, if it is not composed exclusively of signs.« (Peirce 1998b: 394)

Diese Auffassung lässt das Verhältnis zwischen den Zeichen und einer Welt vor und jenseits der Zeichen offen (de Saussure) bzw. schließt die wirkliche Gegebenheit eines Nichtzeichenhaften konzeptuell aus (Peirce). Indem die Medienwissenschaften diese Auffassung vom Zeichen übernommen haben, konnten sie die materialistische Intuition, dass mentale Evidenzen und allgemeine Verweisungsstrukturen unabhängig von einem materiellen Substrat keine Wirklichkeit haben, nicht mehr hinreichend zur Geltung bringen. Die Medien wurden in komplementärer Ergänzung zum Strukturalismus Saussure’scher Prägung und in Spannung zur Peirce’schen Semiotik als materiel-

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les Supplement eines immateriellen Zeichengeschehens modelliert, als technisch-sinnesphysiologischer Ermöglichungszusammenhang des immateriellen Bedeutungsgeschehens. Ein konsequent durchgeführter Materialismus des Zeichens und der Medien würde diese Trennung zwischen einer medialen Materialität und einer semiologischen Immaterialität problematisieren und konstatieren, dass die abstrakte, allein denkmögliche Referenz eines Zeichens, ihre materielle Versinnlichung in einem Zeichenkörper und die im Zuge der Zeichenrezeption wirklich gedachte und im Handeln funktionalisierte Interpretation des Zeichens einen unauflöslichen Zusammenhang bilden, in dem keines der drei Momente ontologisch vorgängig ist oder unabhängig von den je anderen Momenten konstatiert werden kann. Die empirische Einheit des Zeichenkörpers hat ihr integrales Moment in der Interpretation, ebenso wie das Einheitsmoment der Interpretation im empirischen Zusammenhang der Organe des Zeichenkörpers liegt. Das regulative Ideal dieses Wechselspiels zwischen den empirischen und nichtempirischen Momenten der Materialität des Zeichens liegt in der denkmöglichen Zeichenreferenz, die für sich keine Relevanz hat, es sei denn, sie zeigt sich an nachvollziehbaren Strukturen der beobachtbaren Verwendung von Zeichenkörpern. Zwischen den technologischsinnesphysiologischen Gegebenheiten und den interpretativen Funktionalisierungen von Zeichengestalten besteht ein Kontinuum wechselseitiger Vermittlung, kein Apriori-Aposteriori-Verhältnis. Physisch-technische, phänomenologisch-sinnliche und semiotisch-abstrakte Aspekte der Medien sind voneinander nicht zu trennen. Wenn schon nicht das physisch-technische und das phänomenologisch-sinnliche, so impliziert spätestens das semiotischabstrakte Konstitutionsmoment des Medialen, dass eine in sich geschlossene materialistische Theorie der Medien weder auf der Basis des vermeintlich isolierbaren materiellen Aspekts des Zeichens noch hinsichtlich des Zeichenganzen konstruiert werden kann. Die Unmöglichkeit einer technologisch voll informierten, die Medienwirklichkeit umfassend rekonstruierenden materialistischen Medientheorie ist aber nicht gleichbedeutend mit der Unmöglichkeit eines begrifflich gehaltvollen medienwissenschaftlichen Materialismus bzw. mit der Legitimität technikhistorischer Mythopoetik. Allerdings sind die Gründe zu reflektieren, warum man die begriffliche Rekonstruktion der empirischen Voraussetzungen nicht in alle Einzelheiten verfolgt. Grundsätzlich sind die technologischen Einzelheiten der Medienwirklichkeit nur hinsichtlich ihrer medienspezifischen Leistungsmerkmale interessant, also hinsichtlich der Rationalisierung der Zirkulation von Bildern, Klängen und Texten bzw. deren Subversion. Zunächst ist beispielsweise nur wichtig zu wissen, dass die Entwicklungen im Bereich der Computergraphik in den 1990er Jahren ermöglicht haben, auf den Bildschirmen von Privathaushalten ganz neuartige Raumerfahrungen zu

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inszenieren; Räume, die filmisch anmuten, aber nicht fotografiert sind, in denen Ereignisse stattfinden, die aber wählbar und nach offenbar konventionellen Regeln revozierbar sind. Zu wissen, wie dies technologisch möglich ist, trägt zum Verständnis des ästhetischen Effekts und seiner medialen Implikationen wenig bei. Im Gegenteil: Das technologische Wie wird überhaupt erst zum (re)konstruierbaren Sachverhalt, wenn sein funktionaler Effekt als Moment einer ökonomisch fungiblen medialen Rezeptionseinheit, etwa eines Computerspiels, gesehen werden kann; und dann erscheint die technologische Lösung schon vor dem Hintergrund virtueller funktionaler Äquivalente und Rationalisierungspotenziale. Daher ist die evolutionäre Drift der technologischen Entwicklung ein nicht unmittelbar maßgeblicher Umstand der Mediengeschichte. Erst vor dem Hintergrund medialer Formate und Formen, die der technologischen Evolution einerseits unterworfen sind und ihr andererseits als Attraktoren dienen, werden technologische Gegebenheiten interessant. Ähnlich der Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, stehen die empirischen Voraussetzungen der Medien und die Medienformate in einem Spannungsverhältnis, das sich mit der Zeit zuspitzen und ›revolutionär‹ entladen kann. Der ›evolutionären‹ Entwicklung der Medientechnologie stehen ›revolutionäre‹ Entwicklungen der Medienformate gegenüber. Im Unterschied aber zur Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen betrifft die Dialektik von Medientechnologien und Medienformaten nicht die ökonomische Struktur als gesellschaftlicher Totalität, sondern findet im Rahmen der herrschenden ökonomischen Verhältnisse statt. ›Medienrevolutionen‹ sind ästhetisch mitunter spektakulär und laden zur apokalyptischen Projektion ein. Ihre gesellschaftliche Relevanz bleibt aber begrenzt. Man kann dies deutlich an der sich aktuell vollziehenden ›Medienrevolution‹ beobachten, die in der Etablierung des Computerspiels als Massenmedium ihren prägnantesten Ausdruck findet.

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3 Erst langsam allerdings entwickelt sich ein Bewusstsein für diesen medienhistorischen Schnitt. Diese Langsamkeit hat systematische Gründe. Historische Erstmaligkeiten zeigen sich nicht en bloc. Die Ungleichzeitigkeiten ökonomischer und diskursiver Entwicklungsprozesse ergeben keinen einheitlichen Stand der gesellschaftlichen Dinge, der von irgendwelchen datierbaren Neuheiten irritiert werden könnte; die Ungleichzeitigkeit der Prozesse konstituiert vielmehr Zeitzonen zutreffender Urteile, durch die sich historisch und kulturräumlich mehr oder weniger unscharf begrenzte Gegenwartslagen voneinander unterscheiden lassen. Dass eine bestimmte diskursive Figur, eine bestimmte Gegenwartsdiagnose an der Zeit ist und die gesellschaftlichen Ge-

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gebenheiten in ihrer Aktualität und Neuartigkeit fasst, dessen kann man sich aktualhistorisch nicht versichern; retro- und prospektiv ist aber die Möglichkeit, mit den Gedanken besser oder schlechter an der Zeit zu sein, unabweisbar. Medienhistorische Gegenwartsdiagnosen haben unscharfe Ränder und können erst relativ lange nach ihrem historischen Termin formuliert werden. Dafür weisen sie, wenn sie an der Zeit sind, auch in die Zukunft, da die Gegenwartsstrukturen länger verbindlich bleiben als die tagesaktuelle Empirie. Mit Blick auf den Film ist dieser Zusammenhang prototypisch von Walter Benjamin formuliert worden: »Die Umwälzung des Überbaus, die viel langsamer als die des Unterbaus vor sich geht, hat mehr als ein halbes Jahrhundert gebraucht, um auf allen Kulturgebieten die Veränderung der Produktionsbedingungen zur Geltung zu bringen. In welcher Gestalt das geschah, lässt sich erst heute angeben. An diese Angaben sind gewisse prognostische Anforderungen zu stellen.« (Benjamin 1990: 9)

Mit einem gegebenen Repertoire von Allgemeinbegriffen lässt sich das spezifisch Neue des Neuen – jenseits der Konstatierung einer kontingenten Verwirklichung vorgegebener Kombinationsmöglichkeiten – nur schwer vermitteln. Das Neue tritt daher auch nicht als Begriffenes auf, sondern als Unbegriffenes, von dem nur gewisse schwach zusammenhängende Gegebenheitskriterien bekannt sind, dessen historische Erstmaligkeit gleichwohl von einer schlagenden, nicht weiter begründungsbedürftigen Evidenz ist. Die revolutionäre Form des Computerspiels zeigt sich in einer solchen diskursiven Unbestimmtheit. Mit jeweils nachvollziehbaren Gründen wird vom »Videospiel« (vgl. Neitzel 2002: 9) oder vom »Computerspiel« (vgl. Pias 2002: 3ff.) gesprochen, ohne dass damit unterschiedliche Gegenstände oder Genres gemeint wären. Unklar ist heute vor allem, wie das Verhältnis der spielerischen und narrativen Evidenzen der Video- und Computerspiele zu konzeptualisieren wäre: Dass man unter Handlungsdruck mit Spielzeug umgehen muss; dass man aber zugleich auch Handlungen audiovisuell präsentiert bekommt, wird in seiner Kopräsenz selten thematisiert, sondern als Aspektkonkurrenz verhandelt (ich komme weiter unten auf die erstaunlich erbittert geführte narratologisch-ludologische Debatte über das Computerspiel zurück). Unklar ist auch der Status unterschiedlicher Präsentationsformen des Materials: Je nachdem, auf welcher Hardware ein Spiel läuft (verschiedene Konsolen bzw. PC), ergeben sich z.T. gravierende Anmutungsdifferenzen. Unklar ist außerdem die Nutzerreferenz: Während ungleiche rezeptionspragmatische Voraussetzungen medienanalytisch bisher zumeist vernachlässigt wurden, ist im Bereich des Computerspiels sehr deutlich, dass sich dasselbe Spiel für den hedonistischen Gelegenheitsspieler, für den kenntnisreichen ›gamer‹ und schließlich für den passionierten und ambitio-

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nierten ›eSportler‹ sehr unterschiedlich darstellt. Darüber hinaus ist unklar, ob der singleplayer-Modus eines Computerspiels lediglich eine Vorstufe der funktionalen Entfaltung ist, die erst im multiplayer-Modus realisiert wird, oder ob umgekehrt der multiplayer-Modus lediglich als akzidentielle Nutzungsform eines im Wesentlichen auf Alleinnutzung angelegten Angebots zu behandeln ist. Unklar ist schließlich auch das Verhältnis zwischen der ›Originalversion‹ eines Computerspiels und seiner Erweiterung bzw. Subversion (in Gestalt von add-ons bzw. mods). Zunächst sieht man dem ersten ökonomisch relevanten Computerspielparadigma, dem Bildschirmspiel-Automaten, das ›medienrevolutionäre‹ Potenzial kaum an, und es zeigt sich auch nicht in einem unschlüssigen Diskurs. Ähnlich wie der frühe Film modifiziert das Computerspiel bis in die 1990er Jahre hinein lediglich das System der ›niederen‹, gesellschaftlich kaum reflektierten und gering geschätzten Unterhaltungskünste. Und selbst in diesem Rahmen trivialer Unterhaltung erscheinen die auf Hand-Auge-Koordination zielenden Geschicklichkeitsaufgaben, die mit der Steuerung relativ abstrakter Bildelemente gestellt werden, wenig raffiniert. Verglichen mit den etablierten Möglichkeiten von Sport und Gesellschaftsspiel, die eigene performative Geschicklichkeit zu beweisen, in spielerischen territorialen Auseinandersetzungen strategisches Vermögen einzusetzen und logisch-ästhetische Herausforderungen mittels kombinatorischer Intelligenz zu lösen, konstituieren die neuen Computerspiele lediglich ein neues gadget, ein hinsichtlich des spielerischen Gebrauchswerts im Grunde überflüssiges, technisches Faszinosum. Ein erstes Wetterleuchten, dass mit dem Computerspiel mediensystematisch mehr auf dem Spiel stehen könnte, vermittelt 1976 das Spiel Death Race, in dem das vom Spieler steuerbare Bildelement als Auto dargestellt ist. Das Spielziel besteht darin, andere Bildelemente zu ›überfahren‹, die ihrerseits als sich bewegende Strichmännchen ausgeführt sind.

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»Pete came up with a game called Death Race. It’s very tame by today’s standards, but in those days it caused a big controversy. The player was asked to drive over running gremlins. They called them gremlins; the rest of the world thought they were stick people, real people, and the idea of the game, of course, was to kill them. Every time you made a hit, a little cross would appear on the monitor, signifying a grave. Nice game. Fun. Bottom line, the game really took off, when TV stations started to get some complaints from irate parents that this was a terrible example set for children. The industry got a lot of coast-to-coast coverage during news programs. The end result was that Exidy sales doubled or quadrupled. – Eddie Adlum.« (Zit. n. Kent 2001: 91)

Der Skandalerfolg von Death Race weist auf das Potenzial des Computerspiels hin, performativ orientierte Spiel-und normativ orientierte Erzählmomente

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auf eine Art zu verbinden, die die konstitutiven Leerstellen beider Medienformen aufhebt; denn im Grunde beruht die erzählerische Vermittlung von Normen (und Normverletzungen) auf einer Aussetzung von Performanz, während die spielerische Vermittlung von Performanz voraussetzt, dass die sonst geltenden Normen des Sozialverhaltens zugunsten der Spielregel suspendiert werden. Als Erzählmomente lassen sich in einem idealtypischen Sinn alle diejenigen Formen eines Medienangebots auffassen, die außermediale Sachverhalte gut erkennbar darzustellen scheinen (deskriptive Formen bilden demnach eine Teilmenge der narrativen Formen). Medienangebote sind als Erzählungen anzusprechen, wenn sie überwiegend aus solchen Formen bestehen und wenn auf der Basis der mit den Formen vermittelten referentiellen Momente ihre kohärente motivationslogische Verknüpfung abduziert werden kann. Ein Medienangebot verweist dann im Ganzen gut erkennbar auf ein einheitliches Geschehen. Zur Möglichkeitsbedingung einer solchen identifikatorischen Plotvermittlung gehört, dass die Performanz der Rezeption dem dargestellten Geschehen äußerlich bleibt; die Anschaulichkeit des Geschehens korrespondiert mit der Rolle des distanzierten Beobachters, wie heftig auch die innere, emotionale Anteilnahme in der Rezeption sein mag. Spiele beziehen dagegen den Rezipienten ins dargestellte Geschehen ein. Als Spieler wird der Rezipient zu einem Handlungsträger des dargestellten Geschehens, indem er zu einem Träger der Darstellungshandlung wird. Damit aber das derart referenzialisierte Geschehen noch dargestelltes, medial vermitteltes bleibt, muss es phänomenologisch deutlich von wirklichkeitsbezogenem Handeln abgehoben sein (dadurch unterscheidet sich das moderne, ›semiotisch aufgeklärte‹ Spiel von ›Sozialspielen‹ in der Liebe, der Wirtschaft, der Kunst, der Politik usw., von Ritualen, die auf einer magischen Vorstellung des Zeichens beruhen, und von spielerisch aktualisierten Atavismen wie dem Russischen Roulette). Das Spiel hat sein besonderes mediales Funktionsmoment darin, die Mechanik und Motorik eines Geschehens nachvollziehbar zu machen; allerdings um den Preis, dass von individuellen, wirklichkeitshaltigen Zügen des Geschehens, und damit von lebensweltlich-realistischen normativen Orientierungen abstrahiert wird. Die immersive Vermittlung von Verhaltensformen im Spiel korrespondiert mit einer betonten Artifizialität der szenischen Umstände des Verhaltens. Vor diesem Hintergrund erscheint das medienfunktionale Potenzial von Computerspielen, die die spielerische Performanz mit medienspezifischen Erzählformen (vor allem des Comics und des Films) verknüpfen, als wechselseitige Problematisierung spielerischer und narrativer Darstellungsgrenzen. Die spielzeugbezogene Immersion, wie sie sich im Spielfluss einstellen kann, und die figurenbezogener Identifikation, wie sie etwa für die filmische Narration typisch ist, wird in einen funktionalen Zusammenhang höherer Ordnung

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gebracht, indem ein artifizielles Verhaltenssetting mit ikonischer Anschaulichkeit verschaltet wird: Mittels definierter Tastenbelegungen bzw. mittels besonderer Interfaces werden Bildelemente auf regelgeleitete Weise manipuliert, die sich im Bildraum analog zu Gegenständen der audiovisuell erfahrbaren (Medien-)Wirklichkeit verhalten. Immersive und identifikatorische Offerten bilden zwei Seiten eines rezeptiven Vollzugs. Das identifikatorische Angebot wird allerdings durch seine mehr oder weniger tief greifende Manipulierbarkeit zum Teil gebrochen. Avatare des Spielers sowie NPCs (Non-Player-Characters), die ikonisch auf Figuren aus narrativen Genres verweisen, fungieren qua Spiellogik eben nicht als fiktionales Identifikationsangebot, sondern als Spielfiguren mit regelgeleiteten Eigenschaften. Diese Erfahrung färbt dann wiederum auch die Rezeption filmisch erzählter Figuren. Durch die Ausstellung von Charakteren als Spielfiguren und von fiktionalen Handlungsketten als Spielverläufen generiert das Computerspiel stärker als alle klischeehaft erzählenden B-Movies ein implizites Wissen über die Grammatik des Erzählens. Ebenso verliert aber auch die immersive Herausforderung durch ihre ornamentale Anschaulichkeit den performativen Ernst wirklich ausgetragener Spiele. Mit nahezu denselben spielerischen Skills kann man in Computerspielen Panzer, Schnellboote, Flugzeuge lenken, in allen möglichen Sportarten auf Profiniveau brillieren, Unternehmen der unterschiedlichsten Branchen zum Erfolg führen, Elf, Ork oder Gott sein. Das bildlich und klanglich virtuell aufgeladene Spielzeug fungiert qua Erzähllogik nicht als fiktionales Immersionsangebot, sondern als Motor einer Zeichenkörperschaft, der, einmal in Betrieb genommen, identifikatorisch interessante Effekte produziert. Das Computerspiel vollzieht auf diese Weise eine Art technische Ideologiekritik, indem sich in ihm die erzählerischen und spielerischen Techniken der Vermittlung von Werten und Kompetenzen in ihren medienmorphologischen Konstruktionsprinzipien wechselseitig ausstellen. Diese ›Ideologiekritik‹ schwingt sich zu einer Ideologie 2. Ordnung auf, indem das industriell betriebene Spieldesign den medienmorphologischen Bruch zwischen der Spielbedienung und dem im Bildraum dargestellten Geschehen zu überspielen versucht. Je flüssiger die erzählerische Verschaltung von Spiel- und die spielerische Taktung von Erzählfragmenten gelingt, desto stärker bildet sich ein computerspielspezifisches Formenrepertoire heraus, das die Konstruktionsprinzipien von Spiel und Erzählung wieder ins implizite Wissen zurücktreten lässt. Seit den späten 1990er Jahren, seit die im Computerspiel verwendeten Erzählpartikel hinsichtlich ihrer identifikatorisch relevanten Merkmale über kindlich-komische Hüpf- und Rennaufträge und jugendlich-pathetische Ballereien und Quests hinausweisen und an genre- und darstellungstechnischer Differenziertheit gewinnen, zeichnet sich dieser medienmorphologische Zu-

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sammenhang ab und beginnt morphologisch produktiv zu werden. Die formalen Brüche zwischen Spiel und Erzählung und die Notwendigkeiten, diese Brüche gestalterisch zu kitten, führen zu einem neuen Set medialer Formen, die an die Formexperimente der klassischen Avantgarde erinnern, allerdings durch die entsublimierte Versinnlichung (›eye-candy‹; Simulakren eigenen Durchsetzungsvermögens in abenteuerlichen Welten) nicht mehr wie noch die Avantgardekunst als Frustration kontemplativer Bemühungen wirksam werden. Die neuen medialen Formen erscheinen als Kontraktionen von Spiel- und Erzählelementen. So lässt sich beispielsweise beobachten, dass sich im Computerspiel das fakultative Erzählelement der Rahmenhandlung und das in gewissem Sinn vergleichbare Spielelement der Spielauswahl zusammenzieht zur neuen Form des Portals, an dem sich verschiedene Spieloptionen und Erzählwege verzweigen. In ähnlicher Weise ließe sich eine Kontraktion der Backstory und des Trainings zur neuen Form des Tutorials beschreiben. Ein drittes Beispiel wäre die Überblendung von erzählerischer Schlussformel und spielerischer Stoppregel zur neuen Form der Resetformel. Dass diese Formen nicht lediglich technische Implikationen des Computerspiels sind, zeigt sich an den intermedialen Effekten dieser Entwicklung. Auch das Mainstream- und Genrekino zeigt sich an solchen Formenspielen interessiert, wie etwa narrative Portale in Sliding doors (UK/USA 1998), Tutorials in The Matrix (USA 1999) und Resetformeln in Lola Rennt (D 1998) belegen. Zwar wird die medienübergreifende Wirksamkeit der Spiel- und Erzählhybridisierung im Computerspiel durchaus bemerkt. Im Bereich der Computerspielforschung wird auf die gleichsam spiegelbildlichen Entwicklungen in Computerspiel und Spielfilm hingewiesen; die spielaffinen Erzählweisen im Gegenwartskino werden auf die spielerisch-erzählerische Phänomenologie des Computerspiels bezogen, und es werden verschiedene Integrations- und Koppelungsformen von Spiel und Erzählung in Film und Computerspiel herausgearbeitet (vgl. z.B. Walther 2004). Umgekehrt wird in filmwissenschaftlichen Studien zum Gegenwartskino die Beobachtung artikuliert, dass etwa im Action-Kino die »räumlich-zeitliche Gliederung oft dem Muster von Videound Computerspielen folgt« (Reicher/Robnik 2002: 246). Weder der Computerspiel-, noch der Filmdiskurs kommen aber zu dem Schluss, dass es sich bei den neuartigen Phänomenen nicht lediglich um Koppelungen von Spiel und Erzählung, sondern um motivierte Kontraktionen handelt. Eine Übersetzung des impliziten Formwissens in explizite Begriffe wird derzeit vor allem durch pädagogische und wissenschaftsdisziplinäre Rahmenbedingungen verzögert. Dem Computerspiel werden immer noch, wie einstmals dem Film, dem Comic und der Popmusik, alle möglichen verrohenden und desintegrierenden Effekte zugeschrieben. Titel wie Counterstrike, Manhunt und GTA werden immer noch als gewalthaltige und kriminelle Bild-

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schirmszenarien problematisiert und als Motivgeber wirklichen Verhaltens diskutiert, obwohl die gleichen Szenarien in anderer semiotischer und medialer Rahmung kaum mehr als Problem wahrgenommen werden. Noch immer werden Fälle, in denen der Tod von Menschen in einem irgendwie gearteten Zusammenhang mit Computerspielen steht, zur gruseligen Bilanz aufsummiert (vgl. z.B. Wildermann 2005: 22). Ebenso dauert die wissenschaftliche Diskussion über grundlegende Formateigenschaften des Computerspiels an. Die Hauptlinie des Richtungsstreits ist vor allem disziplinenpolitisch begründet: Die Mehrzahl der eher sporadischen Diskursbeiträger rekonstruiert den Gegenstand mit den Mitteln ihrer Herkunftsdisziplin, insbesondere mit literatur-, film- und allgemein medienwissenschaftlichen Begriffen; eine Reihe von Wissenschaftlern, die sich besonders intensiv mit dem Gegenstand auseinander setzen, versuchen demgegenüber – z.T. im Zeichen des Programmbegriffs »Ludologie« – die Neuartigkeit und Besonderheit des Gegenstands zum Ansatzpunkt einer disziplinären Ausdifferenzierung zu machen. Dabei sind beide Positionen gut begründet. Espen Aarseth, einer der Protagonisten der zuletzt genannten Gruppe, schreibt etwa:

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»[…] [Computer, J. V.] games, unlike traditional games or sports, consist of non-ephemeral, artistic content (stored words, sounds and images), which places the games much closer to the ideal object of the Humanities, the work of art. Thus, they become visible and textualizable for the aesthetic observer, in a way the previous phenomena were not. However, this sudden visibility, probably also caused by the tremendous economic and cultural success of computer games, produces certain blind spots in the aesthetic observer, especially if he/she is trained in textual/visual analysis, as is usually the case. Instead of treating the new phenomena carefully, and as objects of a study for which no methodology yet exists, they are analyzed willy-nilly, with tools that happen to be at hand, such as film theory or narratology, from Aristotle onwards. The cautious search for a methodology, which we should have reason to expect of reflective practitioners in any new field, is suspiciously absent from most current aesthetic analyses of games.« (Aarseth 2003: 1)

Ebenso nachvollziehbar sind aber auch die Argumente, die einen multidisziplinären Ansatz motivieren, wie er exemplarisch in einer Aufsatzsammlung zu dem Computerspiel Silent Hill vertreten wird: »Gegenwärtig teilen sie [die game studies, J. V.] ihren Forschungsgegenstand entlang der etablierten Fachdisziplinen auf. Das Ergebnis ist eine primär multidisziplinäre Perspektive – in diesem Band mit deutlichem Schwerpunkt auf den medienwissenschaftlichen Fächern, die jedoch ergänzt werden um pädagogische, historische, informationstheoretische und wirtschaftswissenschaftliche Ansätze. […] Zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Entwicklung besteht wissenschaftstheoretisch betrachtet sicherlich auch die

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Media Marx. Ein Handbuch Medien nach Marx Gefahr, die Verhandlung über zu etablierende game studies zur einer Verhandlung von Deutungskompetenzen, Institutionspolitiken oder exklusiver und exkludierender Paradigmatiken ›verkommen‹ zu lassen.« (Neitzel/Bopp/Nohr 2004: 8)

Beide Positionen, die eines disziplinären und methodologischen Pluralismus und die der forcierten Disziplinierung, weisen spezifische Problemstellen auf. Der Methodenpluralismus ist in Gefahr seinen Gegenstand zu verfehlen, wenn die Methoden zu zwar in sich stimmigen, aber untereinander widersprüchlichen Gegenstandskonstruktionen führen. Im Grunde bedürfte es eines umfassenden Methodenverständnisses, um feststellen zu können, ob die terminologischen Verbindungslinien zwischen den Analysen auch jeweils inhaltlich-begriffliche sind; dieses umfassende Verständnis relevanter Methoden konstituierte dann aber schon eine Zugriffsweise, die kaum mehr als multidisziplinär zu bezeichnen wäre. Andererseits führt der Legitimationsbedarf akademischer Ressourcen im Blick auf eine zukünftige, methodologisch durchargumentierte Disziplin im Sinne Aarseths fast zwangsläufig zu einer Ontologisierung des Gegenstands, zu seiner Herauslösung aus sozioökonomischen Bezügen. Wenn Aarseth etwa schreibt: »Making room for a new field usually means reducing the resources of the existing ones, and the existing fields will also often respond by trying to contain the new area as a subfield. Games are not a kind of cinema, or literature, but colonising attempts from both these fields have already happened, and no doubt will happen again. And again, until computer game studies emerges as a clearly self-sustained academic field. […] Computer games are perhaps the richest cultural genre we have yet seen.« (Aarseth 2001: 2)

– dann vollzieht er eine Diskursstrategie, die im Zuge der Etablierung eines neuen Mediums regelmäßig zu beobachten ist: Auf die Marginalisierungsund Kolonisierungsinteressen der älteren Paradigmen und Bewertungsschemata antwortet ein Diskurs der Wesensbehauptung und der kulturellen Aufwertung. Offenbar ist es für die Orientierungsfunktionen von Einzelmedientheorien und -philologien unvermeidlich, den eigenen Gegenstand zu idealisieren und zu purifizieren. So sind etwa Markku Esklinen und Jesper Juul daran interessiert, das spezifisch Spielerische in den Mittelpunkt der Reflexion zu stellen: »In this scenario stories are just uninteresting ornaments or gift-wrappings to games, and laying any emphasis on studying these kinds of marketing tools is just a waste of time and energy.« (Eskelinen 2001) »But computer games are not narratives. Obviously many computer games do include narration or narrative elements in some form. But first of all, the narrative part is

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not what makes them computer games, rather the narrative tends be isolated from or even work against the computer-game-ness of the game. I’ll briefly try to isolate that gameness, and to sketch a way of saying something meaningful about a computer game.« (Juul 1998)

Wenn man aber glaubt, das Spielspezifische des Computerspiels ins Zentrum rücken zu müssen, weil doch nun einmal das Computerspiel ein Spiel sei (und keine Erzählung), dann wird ironischerweise das Neue des Computerspiels, sein ›revolutionäres‹ Potenzial, verdeckt. Eskelinens abschätzige Rede über die ökonomisch induzierten Merkmale des Computerspiels (s.o.) verweist negativ auf den funktionalen Zusammenhang, dem nachzugehen wäre. Wenn die falsche Idealisierung des Computerspiels darin besteht, von den ökonomischen Motiven des Computerspieldesigns zu abstrahieren, dann müsste eine Reflexion dieser Motive etwas zum Verständnis der Form des Computerspiels beitragen können.

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4 Freilich lassen sich die ökonomischen Gegebenheiten der Medien auf sehr unterschiedliche Weise beschreiben. Das heute maßgebliche Paradigma, die neoklassische Theorie, erklärt das Wirtschaftsgeschehen bekanntlich aus der Perspektive subjektiver Bedürfnisse und als Problem der Ressourcenallokation (also unter dem Gesichtspunkt von Handlungsalternativen und Knappheit). Prinzipiell anders setzt die Marx’sche Erklärung des materiellen Reichtums und seiner ungleichen Verteilung an: Marx argumentiert in seiner Kapitalismusanalyse die Form des monetär vermittelten Äquivalententauschs als Erpressung wirtschaftlicher Akteure, die nur ein Produkt, nämlich Arbeitskraft, zum Tausch anbieten können (sie argumentiert also unter dem Gesichtspunkt des Handlungszwangs und des Überflusses). Wie immer man den wissenschaftlichen bzw. ideologischen Gebrauchswert der unterschiedlichen Perspektiven und ihrer blinden Flecke beurteilt, – unter dem Gesichtspunkt der Medienökonomie wird ein Differenzierungsvermögen des Marx’schen Materialismus deutlich, das mit neoklassischen Mitteln nicht realisiert werden kann: Während die neoklassische Theorie alles über den einen Kamm des subjektiven Bedürfnisses und der subjektiven Handlungsrationalität schert, geht Marx von der Objektgebundenheit des Werts aus; da nun aber die Zeichenbedeutung keine spezifische Beziehung zur empirischen Bestimmung des materiellen Substrats des Zeichenkörpers hat, stellen Zeichenkörper qua ihres Bedeutungspotenzials keinen ökonomisch rationalisierbaren Gebrauchswert dar. »Die Ware ist zunächst ein äußerer Gegenstand, ein Ding, das durch seine Eigenschaf-

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Media Marx. Ein Handbuch Medien nach Marx ten menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art befriedigt. […] Die Nützlichkeit eines Dings macht es zum Gebrauchswert. Aber diese Nützlichkeit schwebt nicht in der Luft. Durch die Eigenschaften des Warenkörpers bedingt, existiert sie nicht ohne denselben.« (MEW Bd. 23: 49f., Herv. J. V.)

Die empirischen Eigenschaften von Medienwarenkörpern, die einen möglichen Gebrauchswert konstituieren, werden erst im Prozess der Zeichenverwendung, im Zusammenspiel von empirischen und nichtempirischen Momenten des äußeren Dings, das Zeichenfunktionalität haben soll, erarbeitet. Produktion und Konsumtion sind im Zeichengeschehen nicht in der Weise getrennt, die zur Etablierung des Kapitalverhältnisses unabdingbar ist. Die neoklassische Theorie kann diesen Unterschied und seine medienökonomische Brisanz nicht sehen. So schreibt etwa Jürgen Heinrich mit Blick auf den Journalismus in seiner Medienökonomie: »Wichtig ist, aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht zu betonen, daß die journalistische Aussagenproduktion in Massenmedien selbstverständlich ein Wirtschaftsgut ist, weil sie knappe Ressourcen verbraucht und daß eine durchgehende Trennung zwischen stofflichen Trägern und geistigen Inhalten nicht durchführbar ist und ökonomisch keinen Sinn ergibt.« (Heinrich 1994: 20)

Nimmt man die Marx’sche Perspektive ein, ist die gesamte kommerzialisierte Mediensphäre von jeher ein absonderliches Phänomen, sind doch semantisch funktionale Medienwaren wegen des nichtempirischen Moments ihrer Konstitution im Grunde nicht kapitalisierbar: »Bei der nichtmateriellen Produktion, selbst wenn sie rein für den Austausch betrieben wird, also Waren produziert, ist zweierlei möglich: 1. Sie resultiert in Waren, Gebrauchswerten, die eine von den Produzenten und Konsumenten verschiedne selbständige Gestalt besitzen, also einem Intervall zwischen Produktion und Konsumtion bestehn können, als verkäufliche Waren in diesem Intervall zirkulieren können, wie bei Büchern, Gemälden, kurz, allen Kunstprodukten, die von der Kunstleistung des exekutierenden Künstlers verschieden sind. Hier ist kapitalistische Produktion nur in sehr beschränktem Maße anwendbar, soweit z.B. ein Schriftsteller zu einem gemeinschaftlichen Werk – Enzyklopädie z.B. – eine Masse andrer als Handlanger exploitiert. […] 2. Die Produktion ist nicht trennbar von dem Akt des Produzierens, wie bei allen exekutiven Künstlern, Rednern, Schauspielern, Lehrern, Ärzten, Pfaffen etc. Auch hier findet kapitalistische Produktionsweise nur in geringem Umfang statt und kann der Natur der Sache nach nur in einigen Sphären stattfinden. Alle diese Erscheinungen der kapitalistischen Produktion auf diesem Gebiet sind so unbedeutend, verglichen mit dem Ganzen der Produktion, dass sie gänzlich unberücksichtigt bleiben können.« (MEW Bd. 26.1: 386)

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So wie die lesenden, hörenden und schauenden Individuen den Rezeptionsgegenstand formal strukturieren, muss deren Strukturierungsleistung in der materiellen Produktion des Zeichenkörpers antizipiert werden, damit von einer einheitlichen Medienware gesprochen werden kann. Die in diesem Sinn funktionale Medienware muss also auch von einem Individuum verantwortet sein. Je mehr Wert auf ein durchgearbeitetes, interpretativ schlüssiges Angebot gelegt wird, desto weniger bieten sich Möglichkeiten, die Produktion arbeitsteilig zu rationalisieren. Die traditionelle, auf solche Funktionalität geeichte mediale Produktionsweise ist entsprechend unscheinbar: »Der Aufwand, den die Künstler bei der Erzeugung treiben, [ist, J. V.] wenig eindrucksvoll. Man trifft da auf bescheidenste Verhältnisse. Ein Dichter hat ein Zimmer mit einem Schreibtisch und Wörterbüchern. Ein Komponist hat ein Zimmer mit einem Schreibtisch und einem Klavier. Ein Maler hat ein großes Zimmer mit einem großen Nordfenster. Die Ausstattung eines Bildhauers ist im Vergleich ansehnlich. Er bewohnt

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eine Art Scheune, in der ein Werkzeugbord und ein paar Sackkarren und Flaschenzüge sich befinden; es geht schon fast so stattlich her wie bei einem Hufschmied.« (Hacks 1996: 695)

Semantisch funktionale Medialität, wie Marx und Hacks sie im Blick haben, ist konstitutiv vorindustriell. Das Motiv, im Industriezeitalter Medien zu produzieren, muss außer- bzw. metaökonomisch sein. Funktionale Medialität verfolgt und bedient in diesem Sinne ideologische, kritische und analytische Interessen, sie produziert aber keinen (verlässlichen) Mehrwert. So blind sich aber die neoklassische Wirtschaftstheorie für die Besonderheiten des Mediensektors gezeigt hat, so wenig konnte die marxistische Tradition sehen, dass die sachlogischen Bestimmungen der nichtmateriellen Produktion, die Marx konstatiert hat, eine deutliche Direktive für die kapitalistischen Umgangsweise mit den Medienformen Erzählung und Spiel formulieren. Heute, nachdem die Sachzwänge der Kapitalakkumulation keine Rücksichten mehr auf ideologische Interessen selbst der eigenen Programmatik nehmen können, liegt die verblüffende Logik klar vor Augen: Um sich im Feld der Medien zu realisieren, destruiert die kapitalistische Produktionsweise der Medien die subjektiv zu erfüllenden identifikatorischen Momente von Erzählungen und die immersiven Momente von Spielen zu Gunsten objektiv, zeichenkörperhaft determinierter Anschlusserwartungen. Unabhängig von individuell vermittelter Identifikationsbereitschaft, die sich in intensiven Empfindungen von Sympathie und Antipathie äußern will, und unabhängig von individuell vermittelten Fähigkeiten, die nach intensiven Immersionserfahrungen suchen, erzeugt die kapitalistische Medienproduktionsweise Angebotsfor-

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men, angesichts derer man allein wissen will, wie es weitergeht, auf welche Weise der erwartbare Zeichenanschluss formästhetisch ausgeführt ist. Es geht allein um die Produktion semantisch redundanter, kontrollierter Varianz. Es geht um die überraschende Ausführung des Erwartbaren. Die ökonomisch erfolgreichsten Medienangebote verhandeln im Medienzeitalter weder die Identifikations- und Immersionsinteressen von Rezipienten, noch ihre ideologische Zurichtung im Sinne der herrschenden Produktionsverhältnisse; produziert werden ›interessante‹ Effekte, im besten Fall brillantes Kunsthandwerk ohne weitere Bedeutung. Das muss heftige innere und äußere Bewegung keineswegs ausschließen; sie wird aber als ichfremd erfahren (wo noch ein prägnantes Ichbewusstsein ausgebildet ist) bzw. reflexionsfrei als Wechselbad eines sachlich gelösten Empfindungsgeschehens genossen. Das Computerspiel realisiert dies auf nie da gewesene Weise, indem in ihm die suggestive Verschaltung spielerisch und narrativ entkoppelter Medienformen Programm geworden ist. Es bricht technologisch unabweisbar mit den Prinzipien ichsyntonen Erzählens und Spielens und inszeniert eine Symbiologie von Menschen- und Zeichenkörpern, die das Subjekt überspringt. An ihm wird schlagartig deutlich, was immer schon das Funktionsprinzip kommerziell erfolgreicher Medialität war. Schon der massenattraktive Spielfilm funktionierte im Wesentlichen über ein medial vermitteltes Wechselbad diffuser Stimmungslagen und die Anreizung stereotyper Anschlusserwartungen. Der paradigmatische Status dieser Entwicklung wird drastisch durch die kommerzielle Aufwertung der Spielform markiert. Traditionell ist das Spiel noch weniger kapitalisierbar als die Erzählung. Zwar lassen sich einzelne Spielverläufe (Sportveranstaltungen etwa) kommerzialisieren; das Spiel im Sinne eines vom Rezipienten zu funktionalisierenden Regelsets lässt sich demgegenüber kaum zur Ware machen. Die klassischen Geschicklichkeitsparadigmen des Sports, die strategischen Herausforderungen von Brett- und Kartenspielen, die kombinatorisch zu lösenden Rätselaufgaben sind allesamt durch einen materiellen Minimalismus und eine erstaunlich nachhaltige Faszinationskraft gekennzeichnet: der Reiz von Spielen teilt sich vor allem durch mehrfaches Spielen und einen damit einhergehenden Kompetenzzuwachs mit. Dass die Computerspielindustrie unterdessen die Filmindustrie hinsichtlich ihrer ökonomischen Bedeutung zu überbieten scheint, indiziert, dass es sich bei den dominant zirkulierenden Computerspielmustern nicht mehr um Spiele im klassischen Sinn handelt. Zwar findet sich, wie Claus Pias überzeugend gezeigt hat, in den dominanten Genres des Computerspiels – Action, Strategy, Adventure – eine klassische Trias spielerischer Herausforderungen wieder (Pias 2003); gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass die Herausforderungsintensität im Vergleich mit den vordigitalen Klassikern schwächer ausgeprägt ist, und die Entwicklung immer stärker zu einer Genrevermischung

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tendiert, um die kunsthandwerkliche Expertise bei der Verschaltung medialer Formen noch verblüffender unter Beweis zu stellen. Der Fluchtpunkt der Computerspielentwicklung liegt nicht in triadisch purifizierten Spielprinzipien, sondern in deren Aufhebung. 5 Allerdings ist zuzugestehen, dass dieses Argument mit der ceteris-paribusBedingung eines konstanten Computerspiel-Dispositivs operiert. Die technologische Entwicklung im Bereich der spielrelevanten Eingabegeräte führt zu einer Ausdifferenzierung des Computerspielzeugs, die den Trend relativiert. Darüber hinaus ist mit nichtkapitalistisch organisierten Produktionsnischen und antikapitalistisch motivierten Produktionszusammenhängen zu rechnen, die gegenüber den Tendenzen des medialen Mainstreams, die entlang der Baudrillard’schen Simulationsthese beschrieben werden können, inhaltlichreferentiell orientierte medienästhetische Strategien vermitteln. Besonders interessant scheinen dabei Produktionen, die am und im Computerspiel die kapitalistische Medienproduktionsweise konterkarieren, ohne aber auf die gleichsam klassische Systemalternative ›Kunst‹ auszuweichen. Dabei lassen sich Strategien, die an den Spielelementen ansetzen und sie von der narrativen Konditionierung emanzipieren wollen, von Strategien unterscheiden, die umgekehrt die Erzählmomente in einen nicht durch Spielelemente irritierten Erzählzusammenhang bringen. Die Erzählelemente geben dem Spielfluss von Computerspielen eine Taktung der dargestellten Handlungsvollzüge vor, die oft hinter den Möglichkeiten, durch geschickte Spielzüge das Spielziel zu erreichen, zurückbleibt. In den letzten Jahren hat sich auf der Basis der populären Spieltitel eine Spielkultur 2. Ordnung entwickelt: Es gilt, die narrativ verschalteten Herausforderungen der gängigen Computerspiele in möglichst kurzer Zeit und ohne Rücksicht auf die dramaturgische und narrative Logik unter Ausnutzung aller möglichen Abkürzungen durchzuspielen. Videostream-Dokumentationen solcher ›Speedruns‹ werden in Internet-Foren gesammelt und bewertet (vgl. etwa http://www.superplayers.de/Speedruns.htm). Nicht nur die ›Geschwindigkeitsüberschreitung‹ der vom Spiel vorgesehenen Verhaltensmuster wird kultiviert. Darüber hinaus werden bestimmte im Spiel eigentlich nicht vorgesehene und gegen die Regeln der fiktionalen Welt verstoßende Spielherausforderungen entdeckt und in der Fan-Szene kommunikativ stabilisiert. Die Spieleindustrie reagiert ihrerseits auf diese Subversionen des ursprünglichen Arrangements und baut sie in Folgeversionen ein:

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»Der aufmerksame Spieler wird irgendwann im Verlauf von ›GTA 3‹ festgestellt haben: Wer mit voller Lebensenergie von einem sehr hohen Bauwerk springt, stirbt nicht. […]

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Media Marx. Ein Handbuch Medien nach Marx Die kreativen Suizidanwärter verlegten sich aufs Zielspringen von Hochhäusern, und wem das noch nicht genug war, der versuchte, beim Absprung aus einem in Maximalhöhe fliegenden Hubschrauber ein bestimmtes Ziel zu treffen. In ›GTA San Andreas‹ schließlich wurden von den Entwicklern Fallschirme eingeführt und damit das Basejumping von der subversiven in eine vorgesehene Spielaktion verwandelt. […] Andere ›GTA‹-Fans schlossen sich zusammen, um ›GTA Vice City‹ wie ›Tony Hawk’s Pro Skater‹ zu spielen – mit den Autos als Skateboards: 720s über Swimmingpool oder Wallrides an Hochhäusern waren plötzlich viel interessanter als eine knallharte Gangsterkarriere.« (Kringiel 2005: 44)

Dass es sich bei diesen, das Spiel wieder ins Zentrum rückenden Formen um eine Strategie handelt, die die kapitalistische Medienproduktionsweise konterkariert, teilt sich den Spielern durchaus mit: »Also Spieler, benutzt Eure Fantasie und übernehmt die Kontrolle, anstatt immer nach der Pfeife der Entwickler zu tanzen! Setzt den Schiri ab, übersprüht die Feldlinien mit euren eigenen Zeichen, und baut euch eigene Tore aus ein paar geklauten Bretten, Nägeln – und Brot! ¡Viva la revolución!« (Ebd.: 47)

Bei solchen Sprüchen handelt es sich nicht nur um kokette Stilisierungen. Zwischen den Computerspiel-Publishern und ihren ›Kunden‹ existiert seit jeher ein scharfer Antagonismus. Die medientechnologische Basis widerspricht schon lange dem Medienproduktionsverhältnissen und seiner rechtsförmigen Codifizierung; längst ist zwischen Medienproduktion und -rezeption nicht mehr so bündig zu unterscheiden wie im Zeitalter der analogen Medien: »Das Cracken von Computerspielen hat eine lange Tradition und ist in entsprechenden Szenen mit viel Prestige verbunden. Es erhielt 1993 eine neue Dimension, als der EgoShooter Doom auf den Markt kam. Alsbald fanden die Fans heraus, wie sie die dem Spiel zugrunde liegenden Daten manipulieren konnten, wodurch sie so das Spiel selbst verändern konnten. Viele Spieler machten es sich zur selbst gewählten Aufgabe, von nun an die Maps (Umgebungen), die Skins (Avatare), ihre Waffen und Werkzeuge neu zu entwerfen und kreierten Tausende an personalisierten Levels und Mods (Modifikationen) und verbreiteten diese über Computernetzwerke. Die besten ›Lords‹ mit Namen wie Dr. Sleep, Paradox und Cranium wurden zu Stars und erhielten begehrte Designer-Jobs in der aufstrebenden Computerspiel-Branche.« (Wehn 2004)

Die subversiven Strategien, die dagegen an den Erzählmomenten des Computerspiels ansetzen, werden so intensiv und nachhaltig verfolgt, dass sich mittlerweile eine neue Mediengattung entwickelt hat – Machinima, auf der Basis von Computerspiel-Engines produzierte ›Spielfilme‹.

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»Die Liaison zwischen Computerspielen und Filmen gewann eine neue Qualität, als es 1996 Uwe Girlich, einem Leipziger Programmierer, gelang, die Struktur der von Quake erstellten Demo-Dateien zu analysieren. […] Mit Quake und Girlichs Software konnten von nun an Spieler die Kamera frei bewegen, alle Komponenten des Originalspiels austauschen, schneiden und Untertitel hinzufügen. Damit waren alle Voraussetzungen für die Filmproduktion gegeben.« (Ebd.)

Eine etwas weniger anspruchsvolle, aber im Ergebnis ähnliche Strategie wird von der Gamics-Szene verfolgt: Computerspiel-Screenshots werden als Ausgangsmaterial für die Konstruktion von Comics verwendet (vgl. Knoke 2005). Dass das Publikum auf diese Weise gegen die Vorgaben der Computerspielwaren das eigene Spiel zu spielen und sich den eigenen Film zu drehen beginnt, weist auf die Widersprüche in der Logik der kapitalistischen Medienproduktion hin. Spiel und Erzählung sind problematische Waren. Ihre kapitalistische Entproblematisierung führt zur Entkoppelung medialer Formen aus einem zeichenökonomisch schlüssigen Spiel- und Erzählzusammenhang. Der kommerzielle Erfolg dieser Medienwaren bricht sich funktional an den beharrlichen Spiel- und Erzählinteressen der Leute. Medienmorphologisch steht heute das kommerzielle, massenattraktive Computerspiel im Zentrum dieser Widersprüche.

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Anmerkung 1 Der Begriff einer medialen Formlogik ist zweifellos nicht unproblematisch: Es gibt heute weder eine allgemeinverbindliche Gattungstypologie der Medien, noch systematisch geschlossene Aufarbeitungen der Formensprache einzelner Genres und Formate. Mit Blick auf die Dynamik medienästhetischer Entwicklungen scheinen solche Unternehmungen auch relativ aussichtslos zu sein. Gleichwohl drängt sich die Frage nach den semiotisch polyfunktionalen, vor allem phänomenologisch zu identifizierenden Formen von Medienangeboten auf, wie nicht nur die diskursive Beharrlichkeit ›wilder‹, systematisch ungeklärter Gattungsund Genrebegriffe belegt, sondern auch die medienwissenschaftliche Rezeption der Medium/Form-Unterscheidung Niklas Luhmanns. Der Begriff der ›medialen Form‹, wie er im Rahmen dieses Aufsatzes benutzt wird, steht allerdings quer zur Luhmann’schen Unterscheidung, nach der Medien als Zusammenhang von hoher Plastizität zu verstehen sind, der sich im Wandel spezifischer Formen zeigt, die mit und in ihm gebildet werden können (vgl. Luhmann 1997: 190-202). Für Medienanalysen, die den Gegenstand in den Blick nehmen, der vorwissenschaftlich als ›die Medien‹ bezeichnet wird, und der näherungsweise als Pluraletantum der historisch emergenten und veränderlichen Produktionsweisen von

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Bildern, Klängen, Texten und ihren Kombinationsformen konzeptualisiert werden könnte, ist diese Unterscheidung unterkomplex. Gerade die Sachverhalte, durch die sich moderne Medialität vielleicht am deutlichsten auszeichnet, die medialen ›Halbfertigprodukte‹ und ihre Kombinatorik – Stereotype des Erzählens, Genremuster, Textbausteine, bildliche und klangliche Anmutungsformen, die mit entsprechenden digitalen Bearbeitungsroutinen hergestellt werden können, – kurz: die ›mittleren Größen‹ zwischen Einzelwerk und formalästhetischen Merkmalen (vgl. Leschke 2004) verschwinden im Schnitt der Luhmann’schen Unterscheidung. Auf sie zielt der Begriff der medialen Form. Mediale Formen, die sozial gelernten und leicht identifizierbaren Primär-Eindrücke in der Medienrezeption sind die Momente von Medienangeboten, die den Rezeptionsvorgang (re)motivieren, bevor sich auf der Basis einer abgeschlossenen Gesamtwahrnehmung des Angebots ihr interpretativer Gebrauchswert semantisch realisiert. Mediale Formen sind im Rahmen kommerzieller Kalküle der Zirkulation von Medienwaren der dominante Produktionshorizont. Literatur Aarseth, Espen (2001): »Computer Game Studies, Year One«. http://www. gamestudies.org/0101/editorial.html, November 2005. Aarseth, Espen (2003): »Playing Research: Methodological Approaches to Game Analysis«. http://hypertext.rmit.edu.au/dac/papers/Aarseth.pdf, November 2005. Baudrillard, Jean (1991): Der symbolische Tausch und der Tod [1976], München. Benjamin, Walter (1990): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [1936], Frankfurt/Main. de Saussure, Ferdinand (1967): Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft [1916], Berlin. Eskelinen, Markku (2001): »The Gaming Situation«. http://www.gamestudies. org/0101/eskelinen/, November 2005. Hacks, Peter (1996): »Schöne Wirtschaft. Ästhetisch-ökonomische Fragmente« [1988]. In: ders., Die Maßgaben der Kunst. Gesammelte Aufsätze 19591994, Hamburg, S. 693-781. Heinrich, Jürgen (1994): Medienökonomie. Bd.1: Mediensystem, Zeitung, Zeitschrift, Anzeigenblatt, Opladen. Jenkins, Henry (2005): »Games. The New Lively Art«. http://web.mit.edu/cms/ People/henry3/GamesNewLively.html, November 2005. Juul, Jesper (1998): »A Clash between Game and Narrative«. http://www.jesper juul.net/text/clash_between_game_and_narrative.html, November 2005.

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Jens Schröter Kaum ein ›Neues Medium‹ bekam nach 1989/90 ein derartiges Gewicht wie das Internet – und zwar auf zwei parallelen Ebenen gleichzeitig: Erstens wurde und ist das Netz zentrales Mittel der transnationalen Ökonomie, zweitens rankten sich nachgerade mythische Erzählungen um die neue Technologie: »Kaum war die gesellschaftliche Utopie verdrängt, schwelgten die bürgerlichen Medien in ungesellschaftlichen Technikutopien« (Haug 2003: 68; vgl. Schröter 2004a). Die Lösung aller Probleme in einem dank Internet ›reibungslosen Kapitalismus‹ (Bill Gates) schien nach dem Kalten Krieg zwischen östlichem Stalinismus und westlichem – bis dahin, entgegen allen früheren Behauptungen, offenbar noch reibungsbehaftetem – Kapitalismus die nächste Stufe der Geschichte zu sein. Schon 1981 hatte Lyotard bemerkt, dass »[s]ogar der Kapitalismus, der liberale oder neo-liberale Diskurs […] in der heutigen Situation wenig glaubwürdig« seien, was daran liege, »daß er nicht mehr weiß, wie er sich legitimieren soll«. Doch: Mit den »Informationstechnologien« könne der Kapitalismus »die Gesellschaft als Ganze durchdringen. […] Genau das ist heute die kapitalistische Perspektive; und es ist klar, dass der Kapitalismus mit ihrer Hilfe aus der Krise herauskommen wird« (Lyotard 1986: 98/99). Ganz selbstverständlich geht Lyotard davon aus, dass die Informationstechnologien die diagnostizierte Krise lösen können – statt sie etwa zu verschärfen … Doch gab es zu dieser Zeit ›das Internet‹ noch gar nicht – nur einige Vorläufernetze, und diese wurden praktisch nicht durch Unternehmen genutzt. Das Arpanet, der Vorläufer des Internets, ist ursprünglich aus einer Überlagerung militärischer (einer auch im Fall des thermonuklearen Krieges funktionierende Kommunikation) und akademischer (Teilung der zu dieser Zeit knappen Computerressourcen) diskursiver Praktiken entstanden und wurde lange Zeit dezidiert als nicht-kommerzielles, nicht-ökonomisches Medium verstanden (vgl. Abbate 1999; Schröter 2004a: 20-148). Erst in den 90er Jahren kam es, insbesondere nach der Aufhebung des Verbots kommerzieller Aktivitäten 1991 und Freigabe des WWW 1994, zu einer breiteren Nutzung des Netzes. Und heute, 2005, scheint es buchstäblich das »Netz des Weltmarkts« (MEW, Bd. 23: 790) geworden zu sein … Das Internet ist ein gutes Beispiel dafür, wie Techniken keineswegs allein und von selbst gesellschaftliche Verschiebungen anstoßen, sondern wie Techniken, wenn sie denn von hegemonialen diskursiven Praktiken1 – einem schon seit 1973, aber erst recht nach 1989/90 zunehmend ›neoliberal‹ dominierendem Kapitalismus – ›umgewidmet‹ werden, diesen Praktiken erst Durchschlagskraft verleihen. Weder also sind die Produktionsverhältnisse

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noch die Produktivkräfte allein als Verursacher zu denken, sondern stets nur in ihrer komplexen Wechselwirkung. So beschleunigte, ja allererst ermöglichte das vom hegemonialen kapitalistischen Diskurs zunehmend eingebundene Netz die ›transnationale Betriebswirtschaft‹, also die sich heute immer mehr ausbreitende Tendenz zum Outsourcing ganzer Unternehmensteile: »Was bisher unter dem Namen der Betriebswirtschaft als örtliche, organisatorische, institutionelle und juristische Einheit gefasst war, zersetzt sich, wird zerlegt und zerstreut. Betriebswirtschaft ist jetzt nur noch ein virtueller Körper […]« (Kurz 2005: 88). Genau diese ›Molekularisierung‹ der betriebswirtschaftlichen Einheiten kann nur funktionieren durch einen »unmittelbar globalen Informationsfluß in Echtzeit« (ebd.: 89). Man könnte noch zahlreiche weitere Ebenen aufzählen, wie das Netz in die Strukturen des neoliberalen Kapitalismus eingefügt wurde und dadurch dessen globale Dislozierung erst ermöglichte: z.B. wie die E-Mail-Kommunikation die permanente Adressierbarkeit der Individuen ermöglicht, wie neue Formen von Telearbeit und Scheinselbstständigkeit möglich werden, wie neue Distributionswege sich eröffnen, ja, vor allem wie der gigantische und entsubstanzialisierte Finanzmarkt erst durch die Datennetze zu diesem Ausmaß anwachsen konnte (vgl. ebd.: 220298). Dieser komplexe Prozess ist keineswegs widerspruchsfrei, doch können hier die vielfältigen Aspekte nicht en detail beachtet werden (vgl. Haug 2003: 67-96). Vielmehr bleibt zu fragen, ob nicht das Netz zugleich und paradoxerweise auch exemplarisches Beispiel für die »Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse« (MEW, Bd. 4: 467) darstellt. Anders formuliert: Das Netz könnte ein Beispiel dafür sein, wie hegemoniale kapitalistische diskursive Praktiken eine neue und zunächst noch unterbestimmte Technik zu einer hegemonial operativen Technik zu transformieren suchen,2 aber andererseits genau an diesem Versuch ihre eigene Schranke finden, denn die »wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst« (MEW, Bd. 25: 252). Oder anders formuliert: Die initiale Euphorie über die Potenziale des Netzes und die damit verbundene (oder versuchte) Sedimentation hegemonialer Strukturen in dasselbe kann auch an der Widerständigkeit des Netzes scheitern. Es gibt zwar hegemoniale ›Zurechtmachungen‹ (Nietzsche) neuer Medien, aber nichts verbürgt deren Erfolg. Im Folgenden sollen zunächst einige der Diskurse über das Internet, wie sie sich in den 90er Jahren entwickelten, dargestellt werden. Es geht um jene Diskurse, die das Internet, kaum dass es durch die ›benutzerfreundliche‹ Oberfläche des World Wide Web populär wurde, zum Mittel – ›Medium‹ – der globalen und neoliberalen Ökonomie zu transformieren suchten.

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Vom reibungslosen Kapitalismus Erst 1991 wurde das Internet für kommerzielle Aktivitäten freigegeben und begann sich bald danach – durch die Verbreitung des WWW und der Browser ab 1994 – rasch auszudehnen. Schnell reagierte die Politik. Schon 1994 hält US-Vizepräsident Al Gore (1994) seine Rede Building the Information Superhighway, in welcher er die Metapher des information superhighway prägt. Gore beschwört das schon mit den ersten Voranfängen des Internets einhergehende utopische Muster des ›universellen Archivs‹: »We now have a huge quantity of information available with respect to any conceivable problem, that is presented.« Und diese Information – das macht der Vizepräsident klar – sollte vor allem den »business people« zu Verfügung stehen, damit diese ihre Aufgaben bewältigen können. Doch das Problem ist, wie man sich in der großen Informationsmenge zurechtfinden kann: »As we confront this huge quantity of information, we see the appearance of these new devices that can sort through it quickly, organize it, and apply it«. Die ›new devices‹ sind natürlich die sich ab Anfang der 90er Jahre rasch ausbreitenden Personalcomputer. Sie können gute Dienste für das ökonomische problem-solving erfüllen, was übrigens auch für die Politik gilt: »Probably 90 percent of the work I do when I’m in my office in the West Wing of the White House is on a computer terminal.« Aber damit auch tatsächlich alle Informationen verfügbar sind, müssen die Maschinen vernetzt werden. Gore betont, dass die Weiterentwicklung der National Information Infrastructure – obwohl die Entwicklung der Datennetze über Jahrzehnte vorwiegend vom Militär und den Universitäten, also aus staatlichen Mitteln gefördert worden war – vorrangig eine Aufgabe der freien Wirtschaft sei. In Europa wollte man nicht hinter den USA zurückbleiben. Der von der EU-Kommission verfasste »Bangemann-Report« mit dem Titel Europa und die globale Informationsgesellschaft rekurriert zwar nur am Rande auf die von Gore geprägte Verkehrsmetaphorik, ist dafür aber noch optimistischer: »Die Informationsgesellschaft verfügt über das notwendige Potential, um die Lebensqualität der europäischen Bürger und die Effizienz unserer Gesellschaft und Wirtschaftsorganisation zu verbessern sowie den europäischen Zusammenhalt zu stärken« (Bangemann et al. 1998: 274). Nicht nur wird also fünf Jahre nach dem Kollaps des Ostblocks, gegen den die westliche Welt immer zusammenhielt, in den Netzen ein neues Mittel sozialer Kohäsion3 gesehen, sondern auch die Effizienz kann gesteigert werden. Doch: »Es besteht die Gefahr, dass einzelne die neue Informationskultur und ihre Instrumente ablehnen« (ebd.: 275). Trotz der sonst wiederholt beschworenen »Meinungsvielfalt« (ebd.: 285) sind solche Abweichler, die offenbar der »Inflexibilität, Trägheit und [dem] Gruppendenken [!]« nachhängen nicht akzeptabel – es müssen »[g]roße Anstrengungen« unternommen werden, »damit die neuen Tech-

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nologien eine breite Akzeptanz in der Öffentlichkeit finden« (ebd.: 275). Denn die »vom Markt angetriebene Revolution« – wie bei Al Gore ist eine marktideologische Verdrängung des hochsubventionierten Charakters der Datennetzentwicklung an Universitäten und im Militär unübersehbar – fordert und fördert einen »unbeschränkten Wettbewerb«, woraus tautologisch abgeleitet wird: »Da die Informationsinfrastruktur in einem offenen Markt keine Grenzen kennt, ist die Informationsgesellschaft ihrem Wesen nach global« (ebd.: 280, 281, 284). Der Weltmarkt ist als Apriori vorausgesetzt, dem sich das neue Medium dienlich anschmiegen soll. Und es ging immer weiter mit den – für programmierbare Maschinen wie vernetzte Computer durchaus folgerichtig4 – programmatischen Erklärungen. 1994 wurde auch die Magna Charta for the Knowledge Age veröffentlicht. Dieses Manifest von konservativen Intellektuellen aus dem Umfeld des damaligen US-republikanischen Parteiführers Newt Gingrich fordert immer wieder »universal access« zum Cyberspace, dem »bioelectronic environment that is literally universal« (Dyson et al. 1994: 27). Obwohl einerseits – unter offenkundiger Absehung von großen Teilen der Erde – verkündet wird: »Today we have, in effect, universal access to personal computing« (ebd.: 33/ 34), heißt es andererseits: »Creating the conditions for universal access to interactive multimedia will require a fundamental rethinking of government policy« (ebd.: 34). Der Widerspruch zwischen der Behauptung, alle seien schon vernetzt, und der Forderung, alle sollten vernetzt werden, macht deutlich, dass es in der Charta mit einem klaren Konzept für die Informationsgesellschaft nicht so weit her ist. Vielmehr geht es – passend zur sich verändernden Rolle des Staates beim Übergang zum neoliberalen Kapitalismus (vgl. Kurz 1999: 642-667) – in dem Manifest um klassisch liberale Forderungen in neuem Gewand. Man fordert gebetsmühlenartig einen, von allen (sozial)staatlichen Kontrollen befreiten »cyberspace marketplace« (Dyson et al. 1994: 31), zu dem jeder access haben soll: Wegen dieser Skepsis gegenüber Regierungen wird von den Verfassern übrigens auch die Metapher des information superhighway – Highways sind (oft) staatlich gebaute Gebilde – abgelehnt. Und die in der Magna Charta implizierte Utopie des universellen Zugriffs bezieht sich keineswegs auf Information als solche, sondern auf vermarktbare Information. Das Manifest fordert: »The meaning of freedom, structures of selfgovernment, definition of property, nature of competition, conditions for cooperation, sense of community and nature of progress will each be redefined for the Knowledge Age« (ebd.: 26/27). Diese Begriffe müssten unter dem Druck der digitalen Medien in der Tat neu definiert werden: So zeigen Phänomene wie die (ehemalige) Musiktauschbörse Napster oder auch das schlichte Kopieren von Musik-CDs mit handelsüblichen CD-Brennern, dass der digitale Code den traditionellen Begriff des geistigen Eigentums oder des

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Urheberrechts (›definition of property‹) mindestens zu unterlaufen droht. Die Autoren schreiben selbst: »Information […] can be replicated at almost no cost – so every individual can (in theory) consume society’s entire output« (ebd.: 28). Doch damit diese Theorie nicht wahr wird, fordern die Autoren der Magna Charta unter Berufung auf einen eher traditionellen Eigentumsbegriff hartes Durchgreifen des ansonsten in neoliberalen Diskursen geschmähten Staates: »Clear and enforceable property rights are essential for markets to work. Defining them is a central function of government« (ebd.: 29). Die Verwendung digitaler Netztechnologie in Tauschbörsen wie Napster wurde inzwischen polizeilich auf eine Kompatibilität mit den Imperativen der Musikindustrie (›clear and enforceable property rights‹) zurechtgestutzt.5 Gerade an diesem Beispiel sieht man deutlich, dass stets zumindest Versuche unternommen werden, neue Medien bzw. die von ihnen eröffneten Gebrauchsweisen an die bestehenden sozialen Strukturen anzupassen – wenn es sein muss mit nackter Polizeigewalt.6 In diesem Sinne ist es schlicht ein absurder Zynismus, andauernd von ›digitaler Revolution‹ zu reden7 – weil der Revolutionsbegriff, ob nun zum Guten oder Schlechten, historisch stets an die Idee gebunden war, die bestehenden sozialen Strukturen zu verändern. Jedenfalls läuft die in den 90er Jahren proliferierende Verkündung der Perspektiven des Knowledge Age, der angeblich kommenden ›Wissensgesellschaft‹, auf eine Wiederholung der üblichen neoliberalen Forderungen heraus: Rückzug des Staates, Expansion eines Marktes »characterized by dynamic competition consisting of easy access and low barriers to entry« (ebd.: 30), woraus – wie die ständige Insistenz auf dem ›universal access‹ suggeriert – bald die Pflicht zur Marktteilnahme wird. Die besondere Pointe ist nur, dass der Cyberspace (gerade mal vier Jahre nach der Freigabe für den kommerziellen Verkehr) als »prototypical competitive market« (ebd.: 34) erscheint, der letztlich eines verspricht: »[T]he renaissance of American business and technological leadership« (ebd.: 30). Derartiger Cyber-Liberalismus mit tiefen antistaatlichen Affekten ist auch unter dem Schlagwort ›kalifornische Ideologie‹ bekannt geworden (vgl. Barbrook/Cameron 1996). In den Dunstkreis dieser Ideologie gehört auch John Perry Barlows Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace (vgl. Barlow 1996, alle folgenden Zitate sind aus dem Text), die sich an die Jefferson’sche Unabhängigkeitserklärung der USA anlehnt und ebenfalls – wenn auch ohne explizite Berufung auf ein liberales Marktverständnis8 – jede staatliche Einmischung in den Cyberspace zurückweist. Die »Regierungen der industriellen Welt«, die »müden Giganten aus Fleisch und Stahl« sollen sich aus dem von Barlow proklamierten »globalen sozialen Raum«, dem Cyberspace, zurückziehen. In wessen Namen spricht der Autor, wenn er verkündet, dass »wir [...] uns über den gesamten Planeten ausbreiten« werden? Jedenfalls spricht aus seinem Text wieder ein Zug zum Expansiven und Totalen. Man kann den Text als ver-

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schobene Repräsentation des zu Ende gegangenen Kalten Krieges lesen, denn die ›müden Giganten aus Fleisch und Stahl‹ – die Regierungen –, die »Wachposten an den Grenzen des Cyberspace« postieren, erinnern doch auffällig an die zuletzt sehr müden, realsozialistischen Diktaturen und ihren immer bröckeliger werdenden eisernen Vorhang: »Sie [= die ›müden Giganten‹] werden die Seuche für eine Weile eindämmen können, aber sie werden ohnmächtig sein in einer Welt, die schon bald von digitalen Medien umspannt sein wird.« Abgesehen von dem hier wieder ganz selbstverständlichen global-expansiven Zug der digitalen Medien, könnte der Satz – ersetzt man ›digitale Medien‹ versuchsweise durch ›der freien Marktwirtschaft‹ – aus der Phase um 1989/90 und auf den erst schleichenden, dann rasenden Zerfall des morschen Realsozialismus gemünzt sein. In fast allen hier erwähnten Texten wird ein Abbau von Monopolen gefordert, was angesichts der Rolle, die Intel und insbesondere Microsoft auf dem heutigen Computermarkt spielen, absurd erscheint. Zwar weist auch Bill Gates, Gründer und ehemaliger CEO von Microsoft, die Metapher vom information superhighway zurück, da die »bildhafte Formulierung Highway auf die Infrastruktur abstellt und nicht auf die Anwendungen« (Gates 1997: 27), aber wie schon die Bezugnahme auf die Anwendungen zeigt, lehnt Gates die Metapher wohl vornehmlich deswegen ab, weil die Highway-Metaphorik noch nicht kommerziell genug ist. Denn bei Gates taucht eine nur mehr utopisch zu nennende Vorstellung auf: »Das interaktive Netz wird der Markt in seiner vollkommensten Gestalt sein« (ebd.). Er führt aus: »Wenn jeder Käufer die Preise jeden Verkäufers kennen würde und jeder Verkäufer wüßte, was jeder Käufer zu zahlen bereit wäre, dann könnte jeder ›Marktteilnehmer‹ vollkommen begründete Entscheidungen treffen, und die Ressourcen der Gesellschaft würden optimal verteilt werden. Bislang haben wir Smiths9 Ideal noch nicht verwirklicht, weil potentielle Käufer und potentielle Verkäufer selten so gründlich übereinander informiert sind. […] Das Internet wird den elektronischen Markt ausweiten und ihn zum entscheidenden Mittler, zum allgegenwärtigen Makler machen. […] Es wird ein Paradies für Konsumenten sein.« (Ebd.: 252/253)

D.h. die mit dem Internet gegebene universelle Kommunikation zwischen Käufern und Verkaufenden respektive der universelle Zugriff, den der heimische PC auf alle Warenangebote erlauben soll, verhindert Marktteilnehmer mit »unvollständiger oder begrenzter Information« (ebd.: 252). Durch universelle Kommunikation und Zugriff entsteht der »universelle, harte Wettbewerb« (ebd.: 287). So kann sich der Markt erst wirklich entfalten (real existierende Vorbilder sind für Gates die Börsen als »gutfunktionierende […] elektronische Märkte« – als ob es keine Crashs gäbe …). Dieser universelle Wettbewerb hat mehrere Komponenten: So redet Gates immer wieder von

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der Aufmerksamkeit (vgl. ebd: 255, 268, 270, 277 etc.), die bei potenziellen Kunden im Internet für ein Produkt erzeugt werden muss. Dann betont Gates die mit dem Netz gegebenen Möglichkeiten einer radikal individualisierten Werbung und Produktion: Neben einer (leicht oxymoronischen) individuellen Zeitung, ist es insbesondere die individuelle Maßanfertigung von Kleidungsstücken, die es ihm angetan hat. Wenn jeder »seine Körpermaße elektronisch registrieren lassen« (ebd.: 265) würde, wäre eine Anfertigung sogar über Datennetze möglich. Das Paradies für Konsumenten nimmt klarere Züge an: »In einer wachsenden Zahl von Einzelhandelsgeschäften können sich die Kundinnen für einen Aufpreis von ungefähr zehn Dollar ihre Jeans nach genauen Angaben anferti-

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gen lassen – wobei sie zwischen 8448 [!] verschiedenen Kombinationen auf Hüft- und Taillenmaßen, Beinlängen und Schnitten wählen können.« (Ebd.: 264)

Dies ist eine merkwürdige Vorstellung von ›Freiheit‹, die darin bestehen soll, aus 8448 fast identischen Alternativen wählen zu können, ohne dass überhaupt klar wäre, wie eine solche Fülle von Möglichkeiten zu überblicken ist (vgl. Schröter 2004b). Ein solches Konzept ›passt‹ sehr gut zum WWW, dessen Hauptproblem ja gerade darin besteht, durch die Absenz von Linkverzeichnissen oder irgendwelcher Verdichtungsmechanismen den User vor eine unüberschaubare Fülle möglicher Informationen zu stellen, eine Fülle, die oft als Ausweis der Meinungsvielfalt und des Informationsreichtums gepriesen wird. Aber: »Eine Recherche, die 12.000 Antworten zum Resultat hat, hat nicht Reichtum, sondern weißes Rauschen geliefert« (Winkler 1997: 176). Überdies kommt es bei Gates zu einer beunruhigenden Verschiebung. Es geht nicht mehr nur darum, dass die User auf marktförmige Informationen zugreifen, sondern darum, wie Werbung und Produktion ihrerseits auf die Kunden zugreifen können. Die Konsumenten sollten nämlich nicht nur ihre Körpermaße elektronisch registrieren lassen – vielmehr formuliert Gates als Fernziel, dass »Softwareberater« auch das Unbewusste kommerzialisieren können sollen: »In dem Bestreben, auch ihre unterschwelligen Vorlieben zu erfassen, wird der Fragebogen alle möglichen Bilder präsentieren und sie auffordern ihre Reaktionen zu beschreiben. Kurzweiliger wird das Ganze, wenn ihr Berater Ihnen Rückmeldungen liefert, indem er Ihnen mitteilt, wo Sie von der Norm abweichen und wo nicht.« (Gates 1997: 267)

Diese totalitäre Anordnung – inklusive der Einhämmerung der Norm – erlaubt eine enorme Steigerung der Konsumenteneffizienz, der PC fungiert als Effizienzmaschine nicht nur bei der Arbeit von Al Gore, sondern auch beim Kaufen, ja es scheint möglich den Konsumenten Waren aufzudrängen, von denen

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sie selbst (noch) nicht wissen, dass sie sie wünschen. Die Gedanken sollen über das Web gehen, um auch noch das Innerste dem Wettbewerb auszuliefern, der so wahrlich universell würde. Übrigens scheint Gates auch ganz persönlich permanenter Kontrolle zugeneigt zu sein. Er baut sich seit einiger Zeit ein futuristisches Haus am Lake Washington, Redmond bei Seattle. Jeder Besucher bekommt einen Clip angesteckt, wodurch das Haus jede Person »identifiziert und lokalisiert« (ebd.: 348). In dieser »Techno-Eschatologie« vermengt sich »der Glaube an die unendlich expandierende freie Marktwirtschaft und ein unerschütterliches Vertrauen in die Technik« (Dery 1996: 17). Man könnte noch zahllose weitere, ähnliche Netz-Manifeste aufzählen: So schreibt auch Dertouzos (1997: 9): »It seemed natural and inevitable to me that the future world of computers and networks would be just like the Athens flea market – only instead of physical goods, the commodities would be information goods«. In allen hier diskutierten Texten werden – oft in Berufung auf ein anonymes ›wir‹ oder ›uns‹ – Grenzen niedergerissen, globale Ausdehnungsprozesse (von Märkten) angekündigt, unbeschränkter, universeller Wettbewerb und in eins damit unbeschränkter access zum Netz nicht nur gefordert, sondern quasi befohlen. Dies scheint hervorragend mit der Struktur des WWW zu harmonieren: »Das Protokoll beim Internet ermöglicht die nahezu unendliche Expansion und wird dadurch auch dem Akkumulations- und Expansionszwang des Geldes gerecht« (Altvater 1998: 60; vgl. Schiller 1999). Und so machte um 1999 ein schon etwa Mitte der 90er Jahre ersonnenes Zauberwort die Runde: New Economy. Die ständige Beschwörung des Internets als Medium eines neuen Kapitalismus schien an ihr Ziel gelangt zu sein. Wie von Geisterhand sprangen die Aktienkurse der dot.com-Start Ups in die Höhe, das Internet schien zu einer veritablen Gelderzeugungsmaschine geworden zu sein. Doch bekanntlich platzte die Wahnvorstellung bald mit lautem Knall. Produktivkraft Internet und die Produktionsverhältnisse An den Diskursen der 90er Jahre (und es waren nur einige wenige Beispiele) ist das Pro-Gramm für die programmierbaren Maschinen und ihre Vernetzungen ablesbar. Sie sollen der totalen Expansion des neoliberalen Kapitalismus an jeden Ort der Welt, einschließlich des Inneren der Subjekte, dienen. Mit ebay wird jede Wohnung zum Teil des globalen Marktes und mit jeder privaten Homepage ein Schaufenster der Vermarktung des eigenen Ichs eingerichtet. Paul Treanor hat schon früh bemerkt, dass die in den 90er Jahren proliferierenden neoliberalen Diskurse über das Internet totalitäre Züge tragen: »Die Logik sagt am Ende: ›Niemand ist frei, jenseits des freien Marktes zu bleiben‹ […]

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Der Netizismus will keine Wahl: er will das Netz, ein Netz, ein globales Netz, ein Netz überall, und nichts sonst. Es scheint, wie auch bei der Ideologie des freien Marktes (und des Liberalismus im Allgemeinen), daß es mit dem Netz keine Koexistenz geben kann.« (Treanor 1996)

Doch wie mehrfach angedeutet, gibt es – mit Marx – Gründe daran zu zweifeln, ob diese Umwidmung und Zurechtmachung des Internets so reibungslos aufgeht.10 Das Platzen der New Economy-Blase deutet dies an. Es scheint so, als ob die Ausbreitung der digitalen Medien, die ›dritte industrielle Revolution‹, in Konflikt mit der kapitalistischen Form tritt – die polizeilichen und juristischen Querelen über Tauschbörsen wie Napster und andere Phänomene wie das Brennen von CDs, die illegale Verbreitung von Filmen etc. legen dies nahe.11 An einem der Entstehungsherde der heutigen digitalen Medienkultur gab es bereits diesbezügliche Ahnungen. Norbert Wiener schrieb in seinem 1948 erschienenen Buch zur Kybernetik über die kommenden Potenziale der »modernen, ultraschnellen Rechenmaschinen«:

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»Die automatische Fabrik und das Fließband ohne menschliche Bedienung sind nur so weit von uns entfernt, wie unser Wille fehlt, ein ebenso großes Maß von Anstrengung in ihre Konstruktion zu setzen wie z.B. in die Entwicklung der Radartechnik im Zweiten Weltkrieg. […] Es kann sehr wohl für die Menschheit gut sein, Maschinen zu besitzen, die sie von der Notwendigkeit niedriger und unangenehmer Aufgaben befreien, oder es kann auch nicht gut sein. […] Es kann nicht gut sein, diese neuen Kräfteverhältnisse in Begriffen des Marktes abzuschätzen. […] Es gibt keinen Stundenlohn eines US-Erdarbeiters, der niedrig genug wäre, mit der Arbeit eines Dampfschaufelradbaggers zu konkurrieren. Die moderne industrielle Revolution ist ähnlicher Weise dazu bestimmt, das menschliche Gehirn zu entwerten, wenigstens in seinen einfacheren und mehr routinemäßigen Entscheidungen. […] Wenn man sich […] die zweite [industrielle] Revolution abgeschlossen denkt, hat das durchschnittliche menschliche Wesen mit mittelmäßigen oder noch geringeren Kenntnissen nichts zu verkaufen, was für irgend jemanden das Geld wert wäre.« (Wiener 1963: 59/60)

Marshall McLuhan ließ sich noch 1964 im Kapitel ›Automation‹ seines medientheoretischen Klassikers Understanding Media über die »sinnlose Aufregung über Arbeitslosigkeit« (1994: 527) aus. Schon sechszehn Jahre vorher wusste Wiener offenkundig besser, dass die dritte (er nennt sie zweite) industrielle Revolution eine großflächige, durch die Kostensenkungskonkurrenz – die, wie McLuhan selber sagt: »Konkurrenzwut« (1994: 518) – angetriebene Wegrationalisierung von Arbeit zur Folge hat. Und über hundert Jahre vor McLuhan wusste Marx es ebenfalls: Denn dann, wenn sich der Mensch nur mehr als »Wächter und Regulator zum Produktionsprozeß« verhält, hört (jedenfalls für die meisten) »die Arbeit […] [auf] […] Quelle des Reichtums zu

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sein«. Je weniger die Produktion »von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit, als von der Macht der Agentien [,] […] vom Fortschritt der Technologie« abhängt, desto mehr »bricht die auf dem Tauschwert ruhnde Produktion zusammen« (Marx 1953: 592/593). Das gilt etwa für Industrieroboter, die Millionen von Arbeitskräften, von der Autoindustrie bis zur vollautomatischen Videothek, überflüssig gemacht haben. Die gegenwärtig viel beklagte und trotz ständig weiter sinkender Reallöhne stets ansteigende Massenarbeitslosigkeit mit der Folge eines arg gebremsten Binnenmarktes ist eine direkte Konsequenz daraus. Auch die angeblich kommende ›Dienstleistungsgesellschaft‹, ›Informationsgesellschaft‹ oder ›Wissensgesellschaft‹12 ist wohl keine Lösung, denn gerade in diesem Sektor kann – und damit kommen wir wieder zum Netz zurück – erst recht Arbeit durch digitale Techniken überflüssig gemacht werden: Man kann online Zug- und Flugtickets, Bücher, CDs, Klamotten, Tapeten, Schränke (siehe ebay) etc. kaufen, Banking machen, in zahlreichen Archiven recherchieren und sogar den im Laden um die Ecke probierten Wein billiger bestellen usw. Zahllose Verkäufer und Berater werden dadurch ebenfalls überflüssig: »Wie zuvor die Produktionstätigkeiten mittels Industrierobotern, so werden nun endlich auch die Bürotätigkeiten und Dienstleistungen durch das Internet ausgedünnt oder ganz abrasiert. Schon die erste Welle oder Stufe der mikroelektronischen Revolution hatte weitaus mehr Arbeitskräfte überflüssig gemacht, als durch die Verbilligung der Produkte und die damit mögliche Markterweiterung vom kapitalistischen Verwertungsprozeß wieder absorbiert werden konnten. Hatte also der Kompensationsmechanismus der früheren [industriellen] Revolutionen in der kapitalistischen Produktivkraftentwicklung schon auf der ersten Stufe der mikroelektronischen Umwälzung nicht mehr gegriffen, so greift er auf der zweiten, durch das Internet definierten Stufe erst recht nicht mehr. Das Resultat kann nur ein weiterer großer Schub der strukturellen Massenarbeitslosigkeit sein: In der BRD wird es dann eben nicht mehr bloß vier, sondern acht oder zehn Millionen Arbeitslose geben.« (Kurz 2000)

Wenn erst die derzeit als neueste Errungenschaft gepriesenen RFID-Chips die Produkte im Supermarkt, in Lagerhäusern etc. vernetzen, werden auch noch der größte Teil aller Lagerarbeiter und Supermarkt-Verkäuferinnen auf die Straße gesetzt (und das ist vielmehr als der Datenschutz das Problem der neuen Chips).13 Schon heute bestreiten die 200 weltgrößten Unternehmen mehr als 25 Prozent der globalen Wirtschaftstätigkeit, können damit aber nur noch 0,75 Prozent aller Menschen beschäftigen (vgl. Kurz 2005: 81). Obwohl die Potenzen der Produktivkräfte durch Simulation14, Automatisierung und Vernetzung sprunghaft ansteigen, scheinen immer mehr Menschen aus dem Kreislauf Arbeit – Geldverdienen – Konsum ausgeschlossen zu werden, was letztlich die gesamte marktwirtschaftliche Struktur in eine tiefe Krise stürzt.

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Denn wer keine Arbeit hat, konsumiert nicht und zahlt keine Steuern,15 d.h. weder können die erzeugten Produkte abgesetzt werden (Krise des Binnenmarkts), noch kann der Staat, der die rechtlichen, bildungspolitischen etc. Rahmungen des Marktes ja liefern soll, weiter fungieren – die immer tiefer verschuldeten Haushalte des Bundes und der Länder sind in aller Ohren. Das nahe liegende Gegenargument, die neuen Technologien erzeugten auch neue Industrien und mithin neue Arbeitsplätze (und wenn es die Leute sind, die die bei ebay bestellten Produkte anliefern), verfängt leider nicht. Es werden derzeit viel weniger neue Stellen erzeugt als abgebaut. Die digitalen Technologien könnten mithin keineswegs zum ›reibungslosen Kapitalismus‹ und zum ›Markt in seiner vollkommensten Gestalt‹ (Bill Gates) führen, sondern vielmehr dazu, dass die gegenwärtig als alternativlos eingeschätzte Marktwirtschaft immer weniger funktioniert (eine besonders dezidierte Position dieser Art vertritt Kurz 1999: 602-780; vorsichtiger formuliert Haug 2003: 293, wenn er betont, dass die »Hochtechnologie mit der Leitproduktivkraft des Computers [den Kapitalismus] an seine Grenze geführt hat«; vgl. auch Rifkin 1996). Es tritt also möglicherweise »ein Konflikt zwischen der materiellen Entwicklung der Produktion und ihrer gesellschaftlichen Form ein« (MEW, Bd. 25: 891). Dies zeigt, dass Marx weder einem Technik-16 noch einem Soziodeterminismus das Wort redet – vielmehr geht es um das Verhältnis zwischen den technologischen Produktivkräften und der gesellschaftlichen Form:

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»Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen […]. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.« (MEW, Bd. 13: 9)17

Das ist vielleicht der eigentliche und meistens unbewusst bleibende Sinn des Schlagworts von der ›digitalen Revolution‹. Kybernetik-Vordenker Norbert Wiener scheint auch das geahnt zu haben: »Die Antwort ist natürlich, daß wir eine Gesellschaft haben müssen, die auf menschliche Werte gegründet ist und nicht auf Kaufen und Verkaufen« (1963: 61). Verwunderlich ist, dass der von Wiener erahnte Konflikt zwischen den Potenzialen der Computertechnologien und der kapitalistischen Reproduktionsform der Gesellschaft in der heute aktuellen Beschäftigung mit der Kybernetik in der Medienwissenschaft (vgl. Bergermann 2004) überhaupt nicht auftaucht – wo doch dieser Konflikt wahrscheinlich der wesentliche Effekt der mit dem Wissensfeld der Kybernetik verbundenen programmierbaren Technologien ist. So schreibt z.B. Claus Pias: »Denn in der – durchaus problematischen – Theorie nichtdeterministischer Teleologie

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Media Marx. Ein Handbuch Medien nach Marx verbergen sich enorme politische Implikationen, die sich nicht nur in Vorstellungen davon niederschlagen, wie eine Gesellschaft, in der kybernetische Technologien erst einmal installiert sind, sich gewissermaßen von selbst (aber auf unbestimmtem Weg) in die erwünschte Form bringt und darin stabilisiert. […] Kybernetische Arrangements fangen noch jede Abweichung ein und machen die Unruhe der Devianz für ihre Ziele produktiv. Kybernetik ist eine Regierung, die von der Störung und permanenten Krise lebt, an der sie sich stabilisiert« (2004: 323 und 325).

Die Möglichkeit, dass die kybernetischen Arrangements, ihr Wissen und die mit ihnen verbundenen digitalen Medien auf die marktwirtschaftliche Form der bei Pias unterbestimmten ›Gesellschaft‹ destabilisierend wirken könnten, wird – wie schon in Lyotards grand récit von 1981 – überhaupt nicht in Erwägung gezogen.18 Die »Überflüssigkeit der Utopie« (Pias 2004: 325) kann man entgegen Wiener wohl nur diagnostizieren, wenn man von dieser Destabilisierung noch nicht erfasst ist. Anmerkungen 1 Vgl. zum Begriff der Hegemonie die Ausführungen von Oliver Marchart in diesem Band. 2 Siehe auch meinen Text zur Telegraphie in diesem Band. 3 Im englischen Originalbericht heißt es ›cohesion‹. 4 Die Diskussion um die Frage, ob und wie sich hegemoniale diskursive Praktiken in Technologien einschreiben und diese dadurch zu operationalisieren versuchen, ist besonders relevant für Computer, da diese Technologie ja per definitionem offen und programmierbar ist, also wie ein Schwamm darauf wartet, diskursive Praktiken in Form von ProGrammen aufzusaugen, vgl. dazu Schröter (2004a: 7-17 und 279-292; 2005). Dieser Pro-Grammierungsprozess hat nichts gemein mit einem schlichten und unhaltbaren Instrumentalismus, wie ihn etwa Kellner (2004) in Bezug auf den ›Information Superhighway‹ vertritt. 5 Das Portal gibt es noch (www.napster.com), aber der freie Tausch von Musikfiles ist nicht mehr möglich. 6 Oder mit massiven Drohungen und Einschüchterungen – siehe die entsprechenden Plakat-, Kino- und Fernsehkampagnen, die quasi als Gebrauchsanweisungen die rechte Nutzung von Datennetzen einhämmern sollen. 7 Wie z.B. in pseudo-futurologischen Propagandamachwerken wie Tapscott (1996). 8 Außer, dass vom »Reichtum unserer Marktplätze« im Cyberspace die Rede ist, was offenbar bereits ein Verständnis des Netzes als Markt voraussetzt.

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9 Gates bezieht sich hier auf Adam Smith, einen der Vordenker der Marktwirtschaft. 10 Symptomatisch in diesem Zusammenhang scheint mir, dass die 1995 noch so aufsehenerregende »Magna Charta for the Knowledge Age« im Jahre 2005 nur noch mit großer Mühe im Netz aufzufinden ist. 11 Vgl. Hartmut Winkler, der bemerkt: »Hier stehen sich, fast ist man an den Marx’schen Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erinnert, das technische Potential der technischen Reproduktion und seine gesellschaftliche Verfasstheit – das Copyright – unmittelbar gegenüber« (2004: 29). 12 Schon Marx wusste, inwiefern mit Wissenschaft und Technologie »das allgemeine gesellschaftliche Wissen […] zur unmittelbaren Produktivkraft geworden ist« (1953: 594) – nur finden sich diese Erörterungen eben genau in jenem Abschnitt der Grundrisse, in dem es um den »Widerspruch zwischen der Grundlage der bürgerlichen Produktion (Wertmaß) und ihrer Entwicklung selbst, Maschinen etc.« (ebd.: 592) geht. 13 Vgl. die als reichhaltigste Informationsquelle das RFID-Journal im Netz: http://www.rfidjournal.com, 25.11.05. Zur Einführung in die Technik und ihre Potenziale empfiehlt sich ein Artikel unter folgender Adresse: http: //www.rfidjournal.com/article/articleview/1339/1/129/, 25.11.05. Dort heißt es sehr explizit: »Some auto-ID technologies, such as bar code systems, often require a person to manually scan a label or tag to capture the data. RFID is designed to enable readers to capture data on tags and transmit it to a computer system – without needing a person to be involved.« Wieder ein Arbeitsplatz gestrichen! 14 Siehe meinen Beitrag zur Simulation in diesem Band. 15 Ganz zu schweigen von den transnational molekularisierten Unternehmen, denen vor lauter krampfhafter Standortkonkurrenz zunehmend die Steuern erlassen werden (vgl. Kurz 2005: 135-144). 16 Wie es bei Marx manchmal klingt, z.B. wenn er schreibt: »Die sozialen Verhältnisse sind eng verknüpft mit den Produktivkräften. Mit der Erwerbung neuer Produktivkräfte verändern die Menschen ihre Produktionsweise, und mit der Veränderung der Produktionsweise, der Art, ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, verändern sie alle ihre gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten« (MEW, Bd. 4: 130). 17 In Castoriadis’ bewundernswerter Auseinandersetzung mit Marx scheint dieser Aspekt von Marx’ Analyse fehlinterpretiert zu werden. So behauptet Castoriadis, Marx werfe den kapitalistischen Produktionsverhältnissen die »Verlangsamung der Produktivkraftentwicklung« vor, wo sich diese doch »im Gegenteil in einem Ausmaß beschleunigt hat, das früher

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unvorstellbar war« (1997: 30). Zwar haben die ideologischen Einpeitscher der nachholenden Modernisierung im ehemaligen Ostblock tatsächlich behauptet, ihr so genannter ›Sozialismus‹ befreie die Produktivkraftentwicklung, die Pointe bei Marx – insbesondere in den Grundrissen – ist aber, dass der Kapitalismus die Produktivkräfte in einem unvorstellbaren Ausmaß entwickelt und gerade daran seine Grenze findet – in dem diese Entwicklung nämlich die Arbeit abrasiert, auf der die Wertbildung doch beruht. Im Kommunistischen Manifest heißt es: »Die bürgerlichen Produktions- und Verkehrsverhältnisse, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse, die moderne bürgerliche Gesellschaft, die so gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor« (MEW, Bd. 4: 467). Das klingt nicht nach einer Abbremsung der Produktivkräfte durch die Produktionsverhältnisse, sondern danach das letztere von ersteren in die Bredouille gebracht werden. 18 Obwohl von Pias vage zugestanden wird, dass Kybernetik ›durchaus problematisch‹ sein könnte. Pircher erwähnt nur, dass »in den Marktwirtschaften des Westens die Automatisierung auch als Bedrohung empfunden wurde« (2004: 93) – obwohl sie keineswegs bloß so ›empfunden‹ wurde, sondern für viele Arbeitsplätze tatsächlich eine Bedrohung war und ist. Literatur Abbate, Janet (1999): Inventing the Internet, Cambridge/MA, London. Altvater, Elmar (1998): »Kehrseiten der Globalisierung«. Telepolis. Die Zeitschrift der Netzkultur 4/5, S. 54-61. Bangemann, Martin et al. (1998): »Europa und die globale Informationsgesellschaft«. In: Bollmann, Stefan (Hg.), Kursbuch Neue Medien. Trends in Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur, Reinbek bei Hamburg, S. 271-288. Barbrook, Richard/Cameron, Andy (1996): »Die kalifornische Ideologie. Über den Mythos der virtuellen Klasse«. Telepolis. Die Zeitschrift der Netzkultur 0, S. 51-72. Barlow, John Perry (1996): »Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace«. Telepolis. Die Zeitschrift der Netzkultur 0, S. 85-88. Bergermann, Ulrike (2004): »Von Schiffen und Schotten: Der Auftritt der Kybernetik in der Medienwissenschaft«. Medienwissenschaft Rezensionen 1, S. 28-40. Castoriadis, Cornelius (1997): Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie [1975], Frankfurt/Main.

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➔ Industrien

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) T07_00 RESP Industrien.p 116966861546

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) vak 356.p 116966861554

Gregor Schwering



24 Kulturindustrie

Gregor Schwering Der Begriff ›Kulturindustrie‹ entstammt einer von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno gemeinsam verfassten Schrift, die 1947 unter dem Titel Dialektik der Aufklärung zuerst in Amsterdam erschien. Das Buch wurde von den Autoren 1944 im amerikanischen Exil beendet und gehört zu den Grundlagentexten der ›Kritischen Theorie‹. Das Kapitel über die Kulturindustrie beginnt mit folgender These: »Kultur heute schlägt alles mit Ähnlichkeit« (Horkheimer/Adorno 1996: 128): Mit ihrer massenmedialen Verbreitung avanciert eine Kultur zum Paradigma des modernen Lebens, die, als Lebensstil der Massen, sowohl alles nach ihrer Maßgabe organisiert als auch durchdringt. Dabei ist der Befund wiederholt als ›Antwort‹ der Autoren auf Walter Benjamins Diagnose einer ›Zertrümmerung der Aura‹ im Zeitalter der ›technischen Reproduzierbarkeit‹ von Kunst und Welt gelesen worden.1 Im Gegensatz zu Benjamin, der darin ein primär emanzipatives Moment – Befreiung der Rezeption vom Kult des Unnahbaren, d.h. dem Ritual der Elite- und Hochkultur als Ausdruck und Festschreibung hegemonialer Verhältnisse – erkennt, wenden Horkheimer/Adorno ihren Ansatz unter dem Eindruck des europäischen Faschismus einerseits, der Erfahrung des amerikanischen Kapitalismus andererseits in Richtung seines größten anzunehmenden Unfalls: Die Realität der Kulturindustrie gipfelt, betonen sie, in einer »rücksichtslose[n] Einheit« und »Reproduktion des Immergleichen« (ebd.: 131, 142), einer Alltäglichkeit des »Geschäft[s]« (ebd.: 129), die jede differenzierte bzw. differente Wahrnehmung unmöglich machen. Wo also Karl Marx im Kapital noch zwischen einem Gebrauchswert der Dinge und deren Warenform (Tauschwert) unterschieden hatte, wo er somit von einer Spaltung des Arbeitsprodukts in »nützliches Ding und Wertding« ausgegangen war und von da aus den »Fetischcharakter der Warenwelt« (MEW, Bd. 23: 87) entspringen sah, sehen Horkheimer und Adorno dies im Sog der Kulturindustrie zur Unkenntlichkeit entstellt. Der »Fetischcharakter der Ware«, schreibt Adorno an Benjamin, ist »keine Tatsache des Bewusstseins«, er nistet sich Letzterem nicht erst als Produkt der Warenzirkulation ein, sondern geht ihm voraus, da er »Bewusstsein produziert« (Adorno/Benjamin 1994: 139); die Entfremdung allein ist ursprünglich. In diesem Sinne radikalisiert Adorno die Marx’sche Position, wenn er den Fetischcharakter zum alternativlosen Fundament der Kulturindustrie erklärt. In ihr hat sich, umfassender als je zuvor, jeglicher Gebrauchswert zugunsten des Tauschwerts verflüchtigt. Gleichzeitig und dementsprechend dominiert das »Illusionstheater« (Horkheimer/Adorno 1996: 134) der Massenmedien die Lebenswelt. Beides zusammen verdichtet sich zu jener Dominanz des Immergleichen, die noch ihre Negation nützlich zu integrieren weiß. So werden beispielsweise alle

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»Verstöße gegen die Usancen des Metiers, die Orson Welles begeht«, von der Filmindustrie »verziehen, weil sie als berechnete Unarten die Geltung des Systems um so eifriger bekräftigen« (ebd.: 137). Dabei ist dieses Exempel von den Autoren keineswegs zufällig gewählt: Es zeigt, dass auch die von Horkheimer und Adorno als letzte Ausnahme von den Regelkreisläufen der Sinnstiftung favorisierte Kunst in der Kulturindustrie zerschlagen wird. Zum Schluss dient alles einer totalen »Psychotechnik«, einer Kultur als »Verfahren der Menschenbehandlung« (ebd.: 173), die im Zeichen der Mobilmachung und Automatisierung steht. In der Folge ist für das Verfahren der Kulturindustrie zunächst weniger der Transport einer bestimmten Ideologie oder eines bestimmten (ökonomischen oder sonstigen) Wissens zentral, da sie selbst in den Mechanismen der Kulturindustrie gefangen bleiben. Erstere erwachsen nachträglich aus diesen: Erst die automatisierte, indifferente Wiederholung des Zirkels aus »Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis« (ebd.: 129) schafft jene Illusionen, die versprechen, über die reine Erlebniserregung und -qualität der Sensationsmaschinerie hinauszuweisen, d.h. das darin enthaltene Dilemma radikaler Beliebigkeit zu überbrücken. Indem der Text auf diese Weise und vorerst nicht im Sinne einer spezifischen Kultur- oder Ideologiekritik, sondern allgemein diagnostisch verfährt, stellt er die Strukturen fest, auf deren Basis sich die angepeilten Phänomene als kritisierbare erweisen. Dort können jetzt drei Säulen des Systems unterschieden werden: Verwerfung des Anderen im Medienverbund: Horkheimer und Adorno beschreiben die Kulturindustrie als ein Medienverbundsystem aus Presse, Film und Radio (vgl. ebd.: 129-132) sowie dabei als lückenlose »Übereinstimmung von Wort, Bild und Musik« (ebd.: 132). Von da aus lässt sich die Grundoperation dieser Struktur als eine Exklusion fassen, deren Logik doppelt codiert ist: »[W]as sie als Wahrheit draußen auslöscht, kann sie drinnen als Lüge beliebig reproduzieren« (ebd.: 143). Die vollkommene Nivellierung (Auslöschung) des Außen gestattet den Sieg einer »technologischen Vernunft« (ebd.: 146), die nach innen als Ausprägung von Ideologien auftritt. Als solche entfalten sie ihr sinnstiftendes Potenzial streng strategisch: Insofern sie der alltäglichen Standardisierung einen scheinbaren Sinn verleihen, simulieren sie eine Fremdreferenz (z.B. der ›Naturgesetze‹ der Technik, des Marktes, der ›Rassenlehre‹) und sichern mithin den Fortbestand des Eigenen auf zweifach aggressive Weise. Der Auslöschung des Außen entspricht ein Zwangscharakter des Innen: »Technische Rationalität heute ist die Rationalität der Herrschaft selbst« (ebd.: 129). Folglich liegt diese Rationalität zum einen in der Propagierung jener imaginären Lebenswelt vor, die sich selbst beherrscht, d.h. sich auf Anderes nur im Rahmen der Selbstpanzerung und ihrer Erhaltung einlassen kann. Zum anderen und dem voraus aber ist die in der Kulturindustrie als (psycho-)technische Menschenbehandlung angelegte Macht eine Verwerfung

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des Anderen bis in die letzte Konsequenz: Nicht nur darf keinerlei Differenz aufkommen, sie wird bereits voranfänglich aus dem Verbund entfernt, wenn sie niemals in ihn aufgenommen ward: »Die vollendete Ähnlichkeit ist der absolute Unterschied. Die Identität der Gattung verbietet die der Fälle« (ebd.: 154). Darin ist der Filter der Kulturindustrie total, indem er ein radikal Imaginäres zur Folge hat, das in seiner praktischen Struktur alles – Raum und Zeit – umspannt: »Die ganze Welt wird durch das [sic!] Filter der Kulturindustrie geleitet« (ebd.: 134) sowie: »Immergleichheit regelt auch das Verhältnis zum Vergangenen« (ebd.: 142). ›Aufklärung als Massenbetrug‹: Reklame – Ort und Motor des Totalitären: Gleichzeitig vollstreckt die Rationalität der Herrschaft als Herrschaft technologischer Vernunft das Ideal der Aufklärung auf perverse Art. Während für Immanuel Kant im Zentrum der Aufklärung der ›Ausgang‹ der Menschen aus ihrer ›selbst verschuldeten Unmündigkeit‹ zur Debatte stand, regiert, so Horkheimer/Adorno, in der Kulturindustrie der »Massenbetrug« (ebd.: 128). Denn allein dazu erhebt die Kulturindustrie die Angleichung der Menschen an die Technik des Marktes und die Technik überhaupt zur einzig vernünftigen – aufgeklärten – Sache: »Von Interessenten wird die Kulturindustrie gern technologisch erklärt. Die Teilnahme der Millionen an ihr erzwinge Reproduktionsverfahren, die es wiederum unabwendbar machten, dass an zahllosen Stellen gleiche Bedürfnisse mit Standardgütern beliefert werden« (ebd.: 129). Um diesen Zustand technologischer Vernunft nun maßgeblich auf Dauer zu stellen, bedarf es im Zentrum der Kulturindustrie allerdings eines Trägers, der sowohl Sperre (voranfängliche Ausgrenzung) als auch ›Erträglichkeit‹ dieser Sperre ist, da er den zwanghaften Schein als schönen maskiert, aufrechterhält sowie ihm eine Lebensqualität zuspricht. Dieses Prinzip finden Horkheimer/Adorno in der Reklame: »Der herrschende Geschmack bezieht sein Ideal von der Reklame, der Gebrauchsschönheit« und »Reklame ist heute ein negatives Prinzip, eine Sperrvorrichtung«; parallel dazu ist alles, »was nicht ihren Stempel« trägt, »anrüchig« (ebd.: 165, 171). Damit wird die Reklame zum Hauptfaktor kulturindustrieller Durchdringung der Gesellschaft, weil sie zweifaches erlaubt. Zum einen vermittelt sie den Tauschwert oder Fetischcharakter der Dinge und bewahrt darin die strukturelle Kraft systematischer Selektion aus dem Geiste der Ökonomie; was nicht Ware ist oder werden kann, findet nicht statt. Zum anderen übernimmt die Reklame die in der ursächlichen Verwerfung der Nicht-Identität vakant gewordene Stelle der ästhetischen Funktion. Da sie selbst als Kunstwerk auftritt oder als solches gehandelt wird, neutralisiert sie das Kunstwerk in seinem subversiven Gehalt, seiner experimentellen Denkart und ideellen Unverkäuflichkeit. In genau letzterem aber zeigt sich die Reklame in ihrer perfidesten Seinsweise, da sie von dieser Stelle aus, d.h. als Liquidation der Spur des Unverfügbaren, auf die Politik übergreift: »Reklame wird zur Kunst schlechthin, mit der Goebbels

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ahnungsvoll sie in eins setzte, l’art pour l’art, Reklame für sich selber, reine Darstellung der gesellschaftlichen Macht« (ebd.: 172). Insofern Reklame nicht nur einen ausschließlichen Selbstbezug in Szene setzt, sondern ihn auch praktisch herstellt und perpetuiert, wiederholt sie das Moment der Verwerfung am Grunde der Kulturindustrie in reinster Form. Darin wird sie zum Lebensnerv kulturindustrieller Praxis und ist als Kunst ›aufklärender‹ Unterhaltung bzw. Manipulation nicht Aus-, sondern exakt der Eingang der Menschen in ihre selbstverschuldete Unmündigkeit. So aber steht für die Verfasser der Dialektik am Ende der Verschmelzung eines technischen und eines sozialen Dispositivs die »Führerrede« (ebd.: 168). Sie ist es, auf die alles hinausläuft und sie ist weiterhin das, was in diesem Prozess immer schon drohte und droht. Dabei hängt die diesbezügliche Verzögerung oder ›Inkubationszeit‹ mit der Struktur der Verwerfung selbst zusammen, indem sie vor ihrer totalitären Manifestation (Propaganda) Entdifferenzierung und Rationalisierung ist. Im Falle der Kulturindustrie zeigt sich dies in der dortigen Anpreisung des Technischen, welches in seiner anscheinend besonderen Dynamik das Verfahren der Vereinheitlichung geradezu herbeizitiert. Ist aber der erste Schritt einmal getan, erfolgt der zweite mechanisch. Die anfänglich noch harmlos auftretende Reklame, die vorgibt, den gesteigerten Ansprüchen und Bedürfnissen einer massenmedial verbundenen Gesellschaft Genüge zu tun, befördert strukturell bereits den Kern der Propaganda als zum gegebenen Zeitpunkt fertig hervortretendes Kennzeichen der Diktatur. Mustergültig dafür ist, das notieren Horkheimer und Adorno in einem der kurzen Essays am Ende der Dialektik, die »Lobpreisung der Vitalphänomene« in der Kulturindustrie: Sie »mündet unausweichlich in den Sarongfilm, die Vitamin- und Hautcremeplakate ein, die nur Platzhalter des immanenten Ziels der Reklame sind: des neuen, großen, schönen, edlen Menschentypus: der Führer und ihrer Truppen« (ebd.: 248). Austreibung des Leibes: Demzufolge ist gerade das »Interesse am Körper« (ebd.) niemals unschuldig. Vielmehr transportiert es alle wichtigen Merkmale der Kulturindustrie. Denn eingeschnürt in deren Korsett ist »[d]er Körper« nicht »wieder zurückzuverwandeln in den Leib. Er bleibt die Leiche, auch wenn er noch so sehr ertüchtigt wird« (ebd.). Die hier von Horkheimer und Adorno vorgenommene, nicht allein begriffliche, sondern auch analytische Unterscheidung zwischen Körper und Leib markiert damit wiederum die Differenz, welche die Autoren in ihrem Portrait der Kulturindustrie als verworfene ausmachen.2 Insofern der Körper dort nämlich durchweg als – lebende – Leiche in Erscheinung tritt, ist er zugleich jedweder Eigendynamik beraubt. Er verdinglicht sich zur Statue, zum Reklameabziehbildchen, zur propagandistischen Karikatur und wird darin in seiner leiblichen, d.h. problematischen, vielfältigen Vitalität unmöglich: Zwar hofieren die Spektakel der Kulturindustrie den Körper pausenlos, da sie ihn positiv (als leuchtendes Vorbild) und

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negativ (als abschreckendes Beispiel) zur Schau stellen sowie ihn im Starkult verklären. Doch liegt über der massenhaften Inszenierung eine klinische Friedhofsruhe, wenn es in dieser ohne Ende um »blendend weiße Zähne und Freiheit von Achselschweiß und Emotionen« (ebd.: 176) geht. Damit kreist das Karussell der Kulturindustrie letztlich um ›das Eine‹, indem sie es in seiner dauernden Beschwörung ausschließt: »Gerade weil er nie passieren darf, dreht sich alles um den Koitus« (ebd.: 149). Oder: »Die Serienproduktion des Sexuellen leistet automatisch seine Verdrängung« (ebd.: 148).3 Mit dieser paradoxalen Zuspitzung wäre der Akt der Verwerfung in der Kulturindustrie nochmals zu präzisieren: Dadurch, dass dieser Akt den Leib in seiner Sexualität, seinem diffizilen Begehren, seiner daraus resultierenden Unberechenbarkeit vom Körper abtrennt, bringt er Letzteren erneut und wahnhaft zum Ausdruck. Der kulturindustrielle Entzug des Leibes verknüpft sich mit einer monströsen Renovierung des Körpers, d.h. mit einem Zwang zur Perfektion, dessen Ziel »seit je« das »Töten« (ebd.: 249) ist: Die Faschisten gehen »mit dem Körper um, hantieren mit seinen Gliedern, als wären sie schon abgetrennt« (ebd.: 250). So setzt der mithilfe der Propaganda ge- und durchformte Körper zur Schindung anderer Körper an, weil er sie als leibhaftige Andere weder respektieren kann noch will. Wer sich der – im doppelten Sinne des Wortes – reproduktionstechnischen Zucht des Körpers nicht fügt, weil er ein anderes Begehren verfolgt, fällt der Ächtung, dem Konzentrationslager, dem Todesurteil anheim (vgl. ebd.). Damit ist der Höhepunkt massenhafter Entmündigung für Horkheimer und Adorno in einer Form der Reklame erreicht, die als Propaganda das Programm der Kulturindustrie auf brutale Weise vollstreckt. Hierin schreitet der Wahn omnipotenter (Selbst-)Ermächtigung zu einer Vermessung des Körpers als Verwerfung des individuellen Leibes. Diesbezügliches Indiz ist die Anonymität des Systems und seiner Systematik: »Allen wird etwas aufgewartet« (ebd.: 165). Psychologisch geht es dabei um einen Konsumdruck, der sich im Zuge seiner Automatisierung dermaßen verschärft, dass er zuletzt durchsichtig erscheint, ohne dadurch schwächer zu werden. Solche Erfahrung einer Entfremdung als Auslieferung der Subjekte an »die zugleich durchschauten Kulturwaren« (ebd.: 175) löst einen Schock der Ohnmacht und der Langeweile aus, der nun konstitutiv nicht für einen Widerstand der Verbraucher, sondern für die Stärkung des Betriebs ist. Obwohl es mit den »müden Auge[n]« der Zuschauer in der Tat »fraglich geworden« ist, ob »die Kulturindustrie selbst die Funktion der Ablenkung noch erfüllt« (ebd.: 147), ist jedoch die Angst der im Getriebe Eingeschlossenen vor dem Verlust der einzigen Stütze ihres Universums so groß, dass sie sich vorauseilend in ihr Gewohntes schicken: »Unbeirrbar bestehen sie [die Beherrschten, G. S.] auf der Ideologie, durch die man sie versklavt« (ebd.: 142). Mit dieser ultimativen Perversion des kantschen Diktums ist jede Zurückverwandlung der Konditionen unmög-

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lich geworden. Die »Mimesis« der Konsumenten im Geschäft der Angleichung geht unmittelbar in einen »Triumph der Reklame« über, in dem Technokraten und »totalitäre Reklamechefs« (ebd.: 175f.) die Macht übernehmen. Fazit: In Horkheimers und Adornos Entwurf der Kulturindustrie verdichtet sich all das Misstrauen, das den damals neuen Medien von Anfang an entgegenschlägt, zu einem Bild, das an Düsternis seines Gleichen sucht. In der Folge laufen für Horkheimer/Adorno die Neuerungen des Medienumbruchs um 1900 (Film, Rundfunk) geradewegs auf die Tyrannei des Faschismus oder die Lohnsklaverei des Kapitalismus hinaus. Von Caligari zu Hitler könnte somit ein Teil auch ihres Mottos lauten, unter dem sie noch in Überbietung von Siegfried Kracauers These nun ihrerseits die Medien-/Massenkultur als unterschiedslos bösartig denunzieren: Im Zeichen eines unendlichen Kreislaufs stehend, der zuvorderst allein dem Kalkül des Ereignisses sowie dessen technisch-apparativer Realisierung dient, bereitet sie den Boden für Ideologien, die diesem Umstand sowohl verwachsen als auch unterworfen sind. Mit anderen Worten: In der Kulturindustrie sind die »herrschenden Gedanken« nicht primär, wie Karl Marx und Friedrich Engels in ihrer Deutschen Ideologie vermuten,4 Indiz und Ausdruck der Hegemonie einer Klasse (vgl. MEW, Bd. 3: 46). Es ist nicht (nicht ganz) so, dass die, welche die materielle Produktion steuern, auch die mentale kontrollieren. Vielmehr wiederholt sich dort die Logik des Fetischcharakters in der von Horkheimer und Adorno veranschlagten Aktualisierung: nämlich als Einbettung aller Verhältnisse in einen sich im Grunde autonom ins Werk setzenden Medienprozess, dessen Tendenz nur denen entgegenkommt, die bereit sind, daraus rigoros ökonomischen und/ oder politischen Profit zu schlagen. Gleichzeitig erhält sich die Kulturindustrie in diesem Verlauf und es ist und bleibt mithin eine offene Frage, wie das Räderwerk, ist es einmal in Gang gekommen, zu stoppen sei. Dass Horkheimers und Adornos Kritik ›technologischer Vernunft‹ damit zum einen gefährlich kulturpessimistisch verfährt, zum anderen selbst Elemente einer Ideologie – hier: der bürgerlichen – implementiert, ist später häufig bemerkt und beanstandet worden. Nichtsdestoweniger sieht ihre Abrechnung in vielerlei Hinsicht genau hin und setzt darin in sowohl hellsichtiger als auch kompromissloser Form einen medientheoretischen Trend fort, der den Diskurs über die ›neuen‹ Medien auch nach 1945 maßgeblich bestimmen wird. Denn noch Marshall McLuhan geht zwanzig Jahre nach der Beendigung der Dialektik davon aus, dass »[w]enn wir einmal unsere Sinne und unser Nervensystem der persönlichen Manipulation jener überlassen haben, die unsere Augen und Ohren pachten und Zinsen daraus zu schlagen versuchen« uns »eigentlich keine Rechte mehr [bleiben]« (McLuhan 1994: 113). Demgemäß sieht sich das Publikum mit einem Programm konfrontiert, dass die »Operationen« der »neuen Medien und Techniken […] ohne antiseptische Mittel am Körper der

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Gesellschaft« (ebd.: 107) vornimmt. Trotzdem deutet sich darin bereits ein Umschwung an, der auch die Frage nach einer marxistischen Theorie der Medien neu stellt. Eine der dafür relevanten und provozierenden Positionen ist die von Hans Magnus Enzensberger. Er schreibt: »Von der Produktivkraft der neuen Medien hat er [McLuhan, G. S.] […] im kleinen Finger mehr verspürt als alle ideologischen Kommissionen der KPdSU in ihren endlosen Beschlüssen und Richtlinien« (Enzensberger 1970: 177). Damit ergibt sich für Enzensberger im Anschluss an McLuhans These, dass das Medium die Botschaft ist, dass also dessen Sinn und weiterer Zweck keineswegs von vorneherein feststeht, die folgende Konsequenz:

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»Die neue Linke hat die Entwicklung der Medien auf einen einzigen Begriff gebracht: den der Manipulation. Er war ursprünglich von großem heuristischen Nutzen und hat eine lange Reihe von analytischen Einzeluntersuchungen ermöglicht, droht jedoch zu einem bloßen Schlagwort herunterzukommen, das mehr verbirgt als es aufklären kann, und das deshalb seinerseits einer Analyse bedarf.« (Ebd.: 163)

In diesem Sinne schlägt Enzensberger für eine Medientheorie, die einerseits die marxistische Analyse und Intervention nicht aufgibt, andererseits das bisher »unzulängliche Verständnis [der] Marxisten für die Medien« (ebd.: 177) hinter sich lässt, den Begriff der »Bewusstseins-Industrie« (ebd.: 159) vor. Sie definiert er als »Schrittmacher der sozio-ökonomischen Entwicklung spätindustrieller Gesellschaften« (ebd.) und erneuert dabei, obwohl er Horkheimers und Adornos Untersuchung der ›Nostalgie‹ zeiht, einige zentrale Positionen der Kulturindustrie-Studie. Auch die Bewusstseins-Industrie ist ein Hort der Manipulation, an dem sich die, die dort die Herrschaft anstreben oder sie schon besitzen, dessen Tendenz zur »Selbststeuerung« (ebd.: 162) zu nutze machen. Doch ist damit noch nicht alles gesagt, da die Selbststeuerung des Systems der Bewusstseins-Industrie von einer »Undichtigkeit« (ebd.) zehrt: Weder sind die Massen in jeder Hinsicht auf Medien angewiesen, noch gelingt es den Medien, ihr Publikum überall zu infiltrieren. Auf diese Weise kann dem »repressiven Mediengebrauch« ein »emanzipatorischer« (ebd.: 173) zur Seite treten. Dazu beruft sich Enzensberger auf Benjamins Analysen der technischen Reproduzierbarkeit (Zertrümmerung der Aura) sowie auf Bertolt Brechts Radiotheorie, für die es darauf ankam, den Rundfunk von einem einspurigen ›Distributionsapparat‹ in einen Kanal wechselseitiger Kommunikation zu verwandeln:5 »Es ist falsch«, folgert Enzensberger weiter, »Mediengeräte als bloße Konsumtionsmittel zu betrachten. Sie sind immer zugleich

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Media Marx. Ein Handbuch 364 Industrien Produktionsmittel […]. Der Gegensatz zwischen Produzenten und Konsumenten ist den elektronischen Medien nicht inhärent; er muss vielmehr durch ökonomische und administrative Vorkehrungen künstlich behauptet werden.« (Ebd.: 167f.)

Wenn jedoch die Absicht, das System der Medien willkürlich zu zentralisieren, die eine (repressive) Seite der Mediennutzung ist, dann muss eine andere (emanzipative) Seite die konstitutive Dezentralität oder ›Undichtigkeit‹ desselben in den Vordergrund rücken und sich diesbezüglich zu positionieren und zu organisieren suchen. Dies ist die Chance einer »sozialistische[n] Strategie der Medien«, die »die Isolation der einzelnen Teilnehmer am gesellschaftlichen Lern- und Produktionsprozess aufzuheben trachte[t]« (ebd.: 169). Um dabei allerdings weder in die alten Fehler zu verfallen noch dem Gegner unwillkürlich zu nahe zu kommen (berechenbar zu werden), kommt es darauf an, keine zentrale Organisationen zu bilden, sondern »netzartige Kommunikationsmodelle« (ebd.: 170) zu entwickeln, auf deren Basis dann »Kommunikationsnetze« (ebd.) entstehen können. Indem eine solche Medienpraxis den Medien und der Medienmacht nicht bloß skeptisch gegenübersteht, d.h. sie und ihre Nutzung vor allem dem Gegner überlässt, kann sie »über ihre primäre Funktion hinaus politisch interessante Organisationsmodelle abgeben« (ebd.). Das stellt Enzensberger zur Diskussion. Indem er gegen eine Beschwörung des Misstrauens und des Verdachts auf jene Theoriebildungen setzt, welche die »subversiven Möglichkeiten« (ebd.: 173) der Medien behauptet und zu nutzen vorgeschlagen hatten, schert er aus der Reihe der »fatalistischen Anhänger der Manipulations-These« (ebd.) aus.6 Im selben Zug eröffnet er einer Medientheorie Perspektiven, die zu einer »Verramschung« (ebd.: 177) des Marx’schen Erbes nicht bereit ist. Sie will Enzensberger durch ein Modell bereichern, das angesichts eines repressiven Mediengebrauchs weder Fatalismus noch Abstinenz gelten lässt: Anstatt sich entweder bequem oder demonstrativ abzukehren oder in moralische Empörung zu flüchten, sei es nötig, die strukturelle Komplexität der Medien und ihrer Nutzung gegen deren Verächter und Unterdrücker zu wenden und zu verteidigen. Anmerkungen 1 Vgl. etwa Windrich (1999: 92-111). Für Benjamin vgl. ders. (1991). 2 Vgl. dazu ausführlich Schwering (2001: 296-300). 3 Mit dieser Bestimmung des Verhältnisses von Sexualität und Macht nähern sich Horkheimer/Adorno den späteren Thesen von Michel Foucault (vgl. Foucault 1983: 185) 4 Zu Marx’ Theorie der Ideologie vgl. auch den Artikel ›Camera obscura‹ im vorliegenden Handbuch.

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5 Vgl. zu Letzterem den Artikel ›Radio‹ im vorliegenden Handbuch sowie Brecht (1967: 127-134). 6 Anderer Ansicht ist bekanntlich Baudrillard (1999). Literatur Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max (1996): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/Main. Adorno, Theodor W./Benjamin, Walter (1994): Briefwechsel 1928-1940, Frankfurt/Main. Balke, Friedrich (2000): »Kulturindustrie«. In: Schnell, Ralf (Hg.), Metzler Lexikon Kultur der Gegenwart. Themen und Theorien, Formen und Institutionen seit 1945, Stuttgart/Weimar, S. 270-272. Baudrillard, Jean (1999): »Requiem für die Medien«. In: Pias, Claus et al. (Hg.), Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart, S. 279-299. Behrens, Roger (2004): Kulturindustrie, Bielefeld. Benjamin, Walter (1991): »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« [dritte Fassung]. In: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.2, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main, S. 471-508. Brecht, Bertolt (1967): »Radiotheorie 1927 bis 1932«. In: ders., Gesammelte Werke in 20 Bänden, Bd. 18., Frankfurt/Main, S. 117-134. Enzensberger, Hans Magnus (1970): »Baukasten zu einer Theorie der Medien«. Kursbuch 20, S. 159-186. Foucault, Michel (1983): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit Bd. 1, Frankfurt/Main. McLuhan, Marshall (1994): Die magischen Kanäle, Basel. Schwarz, Richard (2005): »Von der Ökonomisierung der Kultur zur Produktion der Widerspiegelung. Anmerkungen zum Begriff der Kulturindustrie«, http.//www.episteme.de/htmls/Schwarz.html, Mai 2005. Schwering, Gregor (2001): »Werbung und/oder Leibhaftigkeit. Zwei Ansichten zur Reklametechnik aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts«. In: Keck, Annette/Pethes, Nicolas (Hg.), Mediale Anatomien. Menschenbilder als Medienprojektionen, Bielefeld, S. 289-310. Steinert, Heinz (2002): Kulturindustrie, Münster. Windrich, Johannes (1999): »Dialektik des Opfers. Das ›Kulturindustrie‹-Kapitel aus der Dialektik der Aufklärung als Replik auf Walter Benjamins Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«. Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 73, S. 92114.

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25 Medienindustrie – Die »vergessene Theorie« der politischen Ökonomie der Massenkommunikation

Sigrid Baringhorst, Simon Holler Die ökonomische Struktur der Medienproduktion bildet den zentralen Referenzpunkt neo-marxistischer Medienforschung. Grundlegend ist die erkenntnisleitende These, dass Medieninhalte primär durch die ökonomische Basis der Organisationen, in denen sie produziert werden, bestimmt werden. Auch wenn der simple Determinismus zwischen Eigentumsverhältnissen und Inhalten der Medienproduktion in den eher kulturalistischen Ansätzen, wie sie im Kontext der Cultural Studies entwickelt wurden, zugunsten einer komplexen dialektischen Beziehung zwischen sozialem Sein und kollektiven Bewusstsein aufgegeben wurde, spielen Fragen der ökonomischen Basis der Medienproduktion und damit Fragen nach Struktur und Einfluss der Medienindustrie noch immer eine wichtige Rolle in der kritischen Medientheorie und -forschung. Dies gilt insbesondere für die angelsächsische Forschung, in der Ansätze einer Kritik der politischen Ökonomie der Massenkommunikation vor allem im Kontext von Arbeiten zum US-amerikanischen Kulturimperialismus, zur Globalisierung der Medien und zur Kritik der Reform der globalen Informationsordnung weiterentwickelt wurden (vgl. z.B. Mosco 1996; McChesney 2000; Hesmondhalgh 2003). In Deutschland gab es in den frühen 1970er Jahren im Zuge der allgemeinen Renaissance kapitalismuskritischer Analysen zwar auch eine Phase der intensiven kritischen Auseinandersetzung mit der ökonomischen Dimension der Medienproduktion (vgl. Negt/Kluge 1972; Prokop 1974). Doch war die Diskurskonjunktur neo-marxistischer Ansätze in der deutschsprachigen Medien- und Kommunikationswissenschaft recht kurz und bisherige Versuche, sie nach der positivistischen Wende in den Sozial-, Kommunikations- und Medienwissenschaften wiederzubeleben, sind bisher weitgehend gescheitert (vgl. z.B. Knoche 1999; Prokop 2000). Manfred Knoche betrachtet dementsprechend die politische Ökonomie der Massenmedien zu Recht als »eine vergessene Theorie« (Knoche 2001), die in Deutschland noch immer kaum zitierfähig scheint. Zentraler Gegenstand der politökonomischen Medienforschung ist die Analyse von Prozessen der Kapitalisierung der privatwirtschaftlichen Medienindustrie im Kontext allgemeiner Veränderungen des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. Dabei sind folgende Aspekte von besonderer Bedeutung:

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• die veränderte Rolle des Staates im Zuge neoliberaler Reformen, d.h. De-

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• • •



regulierung und Abschied von keynesianistischen Steuerungsprogrammen; Abbau öffentlich-rechtlicher und staatlicher Monopole; Glaube an die Selbstheilungskräfte des Marktes; die Verstärkung internationaler Kapitalkonzentration und Globalisierung der Medienindustrie; Krisen der kapitalisierten Medienindustrie und deren Folgen für Ökonomie und Gesellschaft; ideologische Funktionen der Herrschaftslegitimation und -absicherung; US-Kulturimperialismus und Konsolidierung einer »Kulturideologie des Konsumdenkens« (Sklair 2002: 111); Chancen und Probleme der Herausbildung einer politischen Steuerung der Medien im Sinne der »global media governance« (Siochru/Girard 2002).

Im Folgenden sollen einige zentrale Annahmen der angelsächsischen Kritik der politischen Ökonomie der Medien skizziert und deren Übertragbarkeit auf den europäischen Medienmarkt überprüft werden. Dabei konzentriert sich die Darstellung vor allem auf mediensektorübergreifende internationale Kapitalbewegungen und deren Interpretation als Ausdruck einer zunehmenden Globalisierung und Amerikanisierung der Medienindustrie. Globale Medienindustrie und Kulturimperialismus Neo-marxistische angelsächsische Beiträge zur Politikökonomie der Massenmedien konzentrieren ihre Argumentation – grob vereinfacht dargestellt – auf zwei zentrale Thesen: • Die Transformation der kapitalistischen Medienökonomie im Zeichen der Globalisierung eines deregulierten, ›entfesselten‹ Kapitalismus führt zur fortschreitenden Medienkonzentration und Herausbildung transnationaler mediensektorenübergreifender Medienkonzerne sowie daraus resultierend zur Etablierung stabiler Zentren der globalen Hegemonie ökonomischer Medienmacht. • Ökonomische Medienmacht geht einher mit kultureller Macht. Die Globalisierung der Medienindustrie bedeutet zugleich den Siegeszug einer weltweit sich durchsetzenden »kommerziellen Logik« (Herman/McChesney 1997) und Konsumkultur. Die Durchsetzung globaler kultureller Leitbilder der kapitalistischen Ökonomie wurde in den 1960er und 1970er Jahren häufig mit dem Begriff des Kulturimperialismus belegt. Dabei greifen Vertreter der Kulturimperialismusthese, wie z.B. Herbert I. Schiller (1976), auf Strukturelemente der Weltsystemtheorie (Wallerstein 1974) zurück. Danach ist die Welt infolge von Kolonialis-

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mus und Imperialismus sowie fortdauernder Ausbeutung im globalen Kapitalismus in eine reiche Zone von Staaten des Zentrums, eine verarmende Zone mit weltmarktabhängigen Peripherie-Staaten sowie eine intermediäre Zone aufgeteilt. Die Länder der Peripherie besitzen demnach wenig Chancen, ihre ökonomische und politische Entwicklung autonom zu gestalten. Mit zunehmender Verschuldung und ökonomischer Deregulierung wächst ihre Abhängigkeit von den multi- und transnationalen Konzernen der reichen und mächtigen Länder des Zentrums. Die Globalisierung der Medienindustrie führt, so die Annahme, zu einer kulturellen Globalisierung, die durch eine zunehmende Hegemonie einzelner zentraler Kulturen sowie die weltweite Verbreitung kapitalistischer Werte, Konsumgüter und Lebensstile gekennzeichnet ist. Nach John Tomlinson lassen sich im Diskurs des Kulturimperialismus unterschiedliche, jedoch miteinander verknüpfte Argumentationslinien aufzeigen:

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➔ 25 Medienindustrie – Die »vergessene Theorie«

• wird Kulturimperialismus primär als Diskurs des amerikanischen Empire verstanden, so richtet er sich primär gegen die US-amerikanische Dominanz und Hegemonie; • wird die Argumentation enger auf die Dominanz US-amerikanischer Kommunikationsmedien gerichtet, so wendet sie sich vor allem gegen eine illegitime Überfremdung indigener bzw. lokaler Kulturen durch US-amerikanische Produkte der popular culture; in dem Zusammenhang wird Kulturimperialismus auch als externe Unterdrückung von autonomen Formen lokaler und nationaler Kultur verstanden; • wird Kulturimperialismus primär als Kritik an der politischen und ökonomischen Vorherrschaft des globalen Kapitalismus formuliert, steht der Warencharakter aller kulturellen Artefakte und die Unterwerfung aller Kulturproduktion unter die Gesetze der Profitmaximierung im Zentrum; • im Sinne einer allgemeinen Kritik an der Moderne und Prozessen der kulturellen Homogenisierung richtet sich ein weiterer Strang der kulturimperialistischen Theorien gegen die wachsende Dominanz einer nachfrageorientierten konsumistischen Massenkultur, gegen die Massenmedien als solche sowie weitergehend die gesamte instrumentalistische Rationalität westlichen Denkens (vgl. Tomlinson 1991). Als einer der Hauptvertreter der Kritik am US-amerikanischen Kulturimperialismus gilt Herbert I. Schiller (1969; 1976; 1996; 1998). In seinem grundlegenden Buch Mass Communication and American Empire (1969) wendet er sich gegen die euphemistische McLuhan’sche Betrachtung der medienvermittelten Welt als Weltdorf und skandalisiert die mit der globalen Durchsetzung des Kapitalismus wachsende Monopolmacht einzelner Medienkonzerne. Globalisierung ist demnach nicht als Beginn einer neuen Ära der weltgesell-

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schaftlichen Durchsetzung von Demokratie, Freiheit und Gleichheit für alle zu verstehen, sondern als letzte Ausdrucksform einer langen Geschichte des US-amerikanischen Kulturimperialismus: Während Amerikas imperiale Position, so seine Argumentation, zwar in den letzten Jahrzehnten durch den Aufstieg konkurrierender Wirtschaftsnationen und -regionen geschwächt worden sei, sei die amerikanische kulturelle Hegemonie bis in die Gegenwart ungebrochen und bilde ein Gegenwicht gegen den Abwärtstrend der US-Ökonomie in anderen Bereichen. Die westlichen Medienkonzerne unterminierten durch die kulturelle Invasion der Entwicklungsländer mit amerikanischen Kulturprodukten die kulturelle Autonomie der nicht-westlichen Gesellschaften. Als wesentlicher Ausdruck des US-amerikanischen Kulturimperialismus wird die seit den 1980er Jahren zunehmende Durchdringung lokaler, indigener Kulturen mit US-Importen gewertet. Die kulturelle Anpassung erfolge einerseits durch den direkten Import von US-Produkten, andererseits durch die lokale Adaption US-amerikanischer TV-Stile und Formate. Die kommerziellen Medien gelten dabei – unterstützt durch eine neoliberale Politik der Deregulierung – als Hauptträger und Verantwortliche für den US-amerikanischen Kulturimperialismus. Unter dem demokratietheoretisch aufgeladenen Konzept des »free flow of information« haben westliche Regierungen demnach – allen voran die US-Regierung – die Medienmärkte zunehmend der staatlichen Kontrolle entzogen (Schiller 1996: 94). Nationen könnten ihre distinkte kollektive Identität jedoch nur bewahren, sofern es ihnen gelänge, protektionistisch auf den Marktprozess einzuwirken, sich dem Einfluss des von den großen Medienkonzernen gesteuerten Kulturimperialismus zu entziehen und eine gewisse kulturelle Autonomie zu erhalten. »Global Communication Oligopoly« – Medienimperialismus und globaler Kapitalismus Kulturpolitische Auseinandersetzungen um die Legitimität von unbegrenzten Film- und TV-Importen im Kontext der GATT Runde 1993 lieferten dem Konzept des Kulturimperialismus in den 1990er Jahren neue realpolitische Anknüpfungspunkte. Auch in den Debatten um ein allgemeines Recht auf kulturelle Autonomie und die Gefährdung der kulturellen Autonomie in den Entwicklungsländern durch eine fortschreitende kulturelle Globalisierung (vgl. Goonasekera/Hamelink/Iyer 2003) werden alte Argumente revitalisiert. Vor allem im Windschatten der wachsenden Kritik an den Folgen der ökonomischen Globalisierung gewinnt die Kulturimperialismus-These in den 1990er Jahren in Form einer allgemeinen Kritik an der wachsenden Dominanz transnationaler Medienkonzerne an Aktualität. Werden in traditionellen neo-marxistischen Konzepten kulturelle Prozesse auf ökonomische und politische

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Hegemonialbestrebungen zurückgeführt, so zeichnen sich die neueren Beiträge zur materialistischen Kritik der Medienindustrie dadurch aus, dass statt von Kulturimperialismus eher von »Medienimperialismus« gesprochen wird und der globale Kapitalismus als entscheidende regulative Instanz ins Zentrum ihrer Kritik rückt (Crane 2002: 7). Einflussreich im Rahmen der materialistischen Analyse der transnationalen Medienindustrie sind vor allem die Schriften von Edward Herman und Robert W. McChesney (z.B. 1997). Die Einführung neuer Technologien verbunden mit der zunehmenden Deregulierung der Medienmärkte haben, so Herman und McChesney, zur Herausbildung einer oligopolistischen Struktur des weltweiten Medienmarktes geführt. Danach dominiert eine kleine Zahl von Medienkonzernen die Produktion und globale Distribution von Filmen, TVProgrammen, Popmusik und Büchern. Da mittlerweile die Produktions- und Distributionskosten in die Höhe geschnellt sind, ist das Niveau für Einstiegsinvestitionen so hoch, dass nennenswerte neue Bewerber am Markt nicht zu erwarten sind. Die großen Medienkonglomerate, so die neo-marxistische Kritik, sind durch eine vielfältige vertikale und horizontale Integration charakterisiert. Sie ermöglicht den Konzernen durch den Verkauf eines Medienproduktes in verschiedenen Medien äußert profitable Synergien, an denen die Konkurrenz neuer Wettbewerber in der Regel scheitert. Eine vertikale Integration besteht z.B., wenn innerhalb eines Konzerns ein Film produziert und in Kinos und via Kabelnetz vermittelt wird oder die Vermarktung durch CD-Rom, DVD, Buch oder Comic oder andere Formen des Merchandising erfolgen kann. Da kommerzialisierte Medienmärkte in Ländern und Regionen mit ausgeprägter Kaufkraft größere Gewinne realisieren können, erzeugt die Kommerzialisierung und Deregulierung des Medienmarktes ein »highly uneven worldwide media system« (Herman/McChesney 1997: 64). Die Größe des heimischen US-Marktes ermöglicht es demnach US-Firmen, allein durch die Distribution im eigenen Land höhere Profite zu erzielen als dies Produzenten in Ländern mit kleinem nationalen Publikum möglich ist. Aufgrund der hohen Profitmarge können amerikanische Produzenten teure Filme herstellen. In der Regel sind es wiederum diese teuren Filme, d.h. vor allem Filme, die auf ausgefeilte und innovative technische Effekte setzen, die auch im Ausland die höchsten Gewinne einspielen. Da das Verständnis der Handlung von Actionfilmen keine differenzierten kulturellen Kenntnisse voraussetzt, ist gerade dieses Genre auf dem globalen Filmmarkt besonders profitabel. Auch der weltweite Export US-amerikanischer TV-Programme ist nach Hoskins und Mirus nicht zuletzt auf die heimischen Produktionsbedingungen zurück zu führen: Je größer und reicher das Land der Produktion, desto höher die im Inland zu erzielenden Gewinne. Diese erlaubten es, die Programme zu einem Preis auf dem Weltmarkt anzubieten, den lokale Produzenten etwa bei

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der einheimischen Produktion von vergleichbaren Serien kaum unterbieten können. So liegen nach James Curran weltweit die Kosten für den Import eines amerikanischen TV-Films bei bis zu 10 Prozent der Kosten für eine vergleichbare heimische Produktion (Curran 1998). Entgegen simplen Annahmen, nach denen US-Medienkonzerne ausländische Märkte schlicht mit ihren Medienprodukten überschwemmen, argumentieren neo-marxistische Autoren wie McChesney und Nichols differenzierter: Danach sind die globalen »media player« gezwungen, ihre Medieninhalte zu lokalisieren, d.h. den lokalen Rezeptionsgewohnheiten und Sichtweisen anzupassen. Wenn ein neuer Markt erschlossen werden soll, gehen – so vor allem im Kabel- und Satelliten-TV-Bereich – die großen transnationalen Konzerne in der Regel Partnerschaften mit lokalen Firmen und Investoren ein, um ihre lokale Akzeptanz zu verbessern. Die politikökonomische Kritik an der Globalisierung der Medienindustrie richtet sich nicht nur gegen die strukturelle Ungleichheit und den dominanten Einfluss amerikanischer Konzerne, sondern vor allem auch gegen die mit der fortschreitenden Deregulierung der Medienmärkte verbundene Kommerzialisierung der Medien im Sinne der weltweiten Durchsetzung eines »commercial model of communication« und dessen Ausdehnung auf ehemals staatliche bzw. öffentlich-rechtliche Bereiche wie vor allem die Fernsehkommunikation. Neben der Durchsetzung konsumorientierter Denkmuster folgt das ›kommerzielle Modell‹ einer internen Logik, die, so Herman und McChesney, die öffentliche Sphäre erodiere und eine Kultur der Unterhaltung schaffe, die mit einer demokratischen Ordnung unvereinbar sei (Herman/McChesney 1997: 9). Gegen die optimistische Einschätzung der demokratisierenden Potenziale der neuen Medien, insbesondere des Internet, setzen Herman und Chesney die skeptische Aussicht auf eine auch in den neuen digitalen Medien ungebrochene Dominanz der »Global Communication Oligopoly«. Die Oligopolisierung der Medienindustrie wird sich, so ihre pessimistische Prognose, in den nächsten Jahrzehnten nicht abschwächen, sondern sogar noch verschärfen: Mediengiganten werden sich mit den Giganten der Telekommunikationsindustrie verbünden, so dass am Ende nur eine Handvoll Kommunikationsmonolithen entstehen, die Produkt und Netzwerke der Distribution von »voice, data and video« kontrollieren werden (Herman/McChesney 1997: 134). Neoliberale Reformen der Deregulierung des Medienmarktes werden auch in der Kritik an der oligopolistischen Struktur der globalen Medienindustrie als zentrale Ermöglichungsbedingung für die fortschreitende transnationale, mediensektorübergreifende Kapitalisierung und Konzentrationsbildung kritisiert. Als Motoren des Deregulierung gelten jedoch nicht nur die nationalen Regierungen, sondern zunehmend die internationalen Handelsregime wie WTO, IMF, NAFTA oder auch die EU (McChesney/Nichols 2002).

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Globalisierung, Amerikanisierung oder Europäisierung? Zur Begründung der generellen Thesen zur Deregulierung, Kommerzialisierung und Globalisierung der Medien verweisen angelsächsische Autoren zumeist auf quantitative Daten zu Konzentrationsprozessen auf dem Medienmarkt, zur Entwicklung ausländischer Direktinvestitionen; zur Marktmacht (Einkommen- oder Umsatzdaten) ausgewählter Mediengiganten wie Sony, Disney oder Time Warner oder zu globalen Verkaufszahlen ausgewählter Medienprodukte wie vor allem Hollywoodproduktionen. Wenig untersucht ist jedoch die Frage, inwiefern die allgemeinen Thesen zur Globalisierung der Medienindustrie in den unterschiedlichen Segmenten des Medienmarktes (z.B. Zeitungsauflage, Zuschaueranteil von TV-Kanälen; Filmverkauf, Verkauf von Musik-CDs) und in den unterschiedlichen nationalen und regionalen Ökonomien der Welt gleichermaßen zutreffen. So zeigt eine genauere Untersuchung des Globalisierungsgrades der europäischen Medienindustrie, dass zwar einerseits zentrale Annahmen der medienimperialistischen Kritik bestätigt werden können, andererseits jedoch die empirischen Ergebnisse auch die Notwendigkeit eines differenzierteren, nationale und regionale Besonderheiten berücksichtigenden Blickes nahe legen (vgl. Holler 2005). Im Rahmen der Analyse wurden ausländische Kapitalbeteiligungen an europäischen Medienunternehmen als Indikator gewählt, um grundlegende Trends hinsichtlich des Ausmaßes der Globalisierung der europäischen Medienindustrie identifizieren zu können. Dabei wurden die Kapitaleignerstrukturen der Unternehmen hinter den fünf größten käuflichen Tageszeitungen sowie den jeweils drei größten privaten und kommerziellen Fernseh- und Radiosendern in 15 Ländern Europas auf den Grad der Intensivierung, der Extensivierung und der Stratifikation von Globalisierungsprozessen als zentrale Dimensionen des Globalisierungsgrades hin untersucht (vgl. Held et al. 1999: 20).

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Grad der Intensivierung Nach den Ergebnissen dieser Untersuchung weisen die europäischen Medienunternehmen insgesamt einen hohen Grad der Intensivierung von Globalisierungsprozessen auf. So befinden sich 69 der berücksichtigten 165 Medien im Besitz von Unternehmen mit ausländischen Kapitalanteilen von über 50 Prozent; durchschnittlich weisen die untersuchten Medienunternehmen ausländische Kapitalanteile in Höhe von knapp 43 Prozent auf. Dabei kann ein signifikantes Ost-West-Gefälle des Globalisierungsgrades beobachtet werden: So haben die untersuchten Unternehmen in den berücksichtigten osteuropäischen Ländern mit einem ausländischen Kapitalanteil von durchschnittlich über 58 Prozent einen mehr als doppelt so hohen Globalisie-

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rungsgrad als die Medienunternehmen in den Länder Westeuropas, bei denen der ausländische Kapitalanteil nur durchschnittlich 28 Prozent beträgt. Das Ost-West-Gefälle in der Intensität der Globalisierung korrespondiert allerdings nicht mit den generellen ausländischen Direktinvestitionen in den osteuropäischen Ländern, so dass die beschriebene Ost-West-Differenz für den Medienbereich spezifisch zu sein scheint. Auf die einzelnen Medienarten bezogen zeigt die Untersuchung, dass unter den jeweils fünf größten Tageszeitungen, Fernseh- und Radiosendern der Bereich der Tageszeitungen am stärksten globalisiert ist. Grad der Extensivierung Mit Blick auf den Grad der Extensivierung geht aus der Untersuchung hervor, dass mit rund zwei Dritteln ein signifikanter Anteil der ausländischen Beteiligungen an den untersuchten Medienunternehmen von europäischen Kapitaleignern gehalten wird und nur ein Drittel der Beteiligungen im Besitz überregionaler Kapitaleigner ist. Mit knapp über 25 Prozent stammt ein bedeutender Anteil der ausländischen Beteiligungen sogar aus den direkten Nachbarländern. Damit wird die von Kenichi Ohmae gegen die allgemeine Globalisierungsthese entwickelte These der Triadisierung bzw. Regionalisierung empirisch bestätigt (vgl. Dicken 2003: 73). Der Trend der Subregionalität unterstreicht über die Regionalisierungsthese hinausgehend die außerordentliche Signifikanz der geografischen Nähe für die europäische Medienindustrie. Annahmen medienimperialistischer Ansätze, die von der Dominanz globaler Strukturen, in Form weltweit agierender Medienkonzerne und/oder in Form von Hegemonien einzelner Länder wie in der Amerikanisierungs- bzw. Verwestlichungsthese ausgehen (vgl. neben Schiller und Herman/McChesney auch Thussu 2000: 119ff.), sind insofern zu relativieren, als zumindest für den untersuchten europäischen Bereich die regionale Nähe den dominanten Trend der Expansion von Medienunternehmen darstellt. Damit finden die stärker nach regionalen Gesichtpunkten differenzierenden und von einer Multizentralität ausgehenden Ansätze im Rahmen medienimperialistischer Ansätze (vgl. Crane 2002: 7f.; Holton 1999: 169f.; Hesmondhalgh 2002: 179f.) eine Bestätigung. Grad der Stratifikation Die Untersuchung zeigt mit Blick auf den Grad der Stratifikation, dass insgesamt eine deutliche Unausgewogenheit der Globalisierungsprozesse in dem untersuchten Bereich vorliegt. So kann unter den ausländischen Kapitalbeteiligungen an den untersuchten Medienunternehmen mit 92 Prozent eine ausgeprägte Dominanz von Kapitalbeteiligungen aus OECD-Staaten beobachtet

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werden, wobei 86 Prozent alleine auf westeuropäische Staaten und die USA entfallen. Diese Dominanz bestätigt die vor allem von medienimperialistischen Ansätzen vorgebrachte These der globalen Hegemonie ›westlicher‹ Industrienationen im Medienbereich. Die empirischen Daten sprechen daneben sowohl für eine gewisse Amerikanisierung wie für die These der regionalen Multizentralität im Prozess der Expansion von Medienunternehmen: Dass über 51 Prozent der erfassten ausländischen Kapitalbeteiligungen an den untersuchten Medienunternehmen in Europa und sogar über 65 Prozent der ausländischen Kapitalbeteiligungen in den berücksichtigten Ländern Osteuropas von westeuropäischen Kapitaleignern gehalten werden, spricht für die These einer sich entwickelnden regionalen Multizentralität. Da neben dem erwähnten großen Anteil regionaler Kapitaleigner aus Europa das übrige Drittel der Kapitalbeteiligungen nahezu vollständig in Händen von Kapitaleignern aus den USA ist, findet aber auch die oben erläuterte These von der globalen Ausbreitung US-amerikanischer Unternehmen eine Bestätigung. Die beschriebene Signifikanz US-amerikanischer Kapitalbeteiligungen bezieht sich besonders auf die westeuropäischen Staaten, während die Dominanz westeuropäischer Kapitalbeteiligungen, wie erwähnt, in West- und Osteuropa deutlich ausgeprägt ist. Damit kann neben einem hohen Anteil von Binnenbeteiligungen in Westeuropa von über 51 Prozent ein signifikanter Zwei-Stufen-Fluss zwischen den einzelnen Regionen festgestellt werden. Danach ist ein signifikanter Anteil von über 42 Prozent der erfassten Kapitalbeteiligungen in Westeuropa in Händen von Kapitaleignern aus den USA. Westeuropäische Unternehmen halten wiederum mit über 65 Prozent einen signifikanten Anteil der Beteiligungen in den berücksichtigten osteuropäischen Ländern. Mit Blick auf den Grad der Stratifikation bedeuten diese signifikanten inter- und intraregionalen Trends zum einen, dass ein hoher Austausch unter den westlichen Ländern vorliegt, da in den berücksichtigten Ländern Westeuropas nahezu sämtliche ausländischen Kapitalbeteiligungen an den untersuchten Medienunternehmen in Händen US-amerikanischer und westeuropäischer Kapitaleigner sind, während in den osteuropäischen Ländern nur ein geringer Anteil der ausländischen Kapitalbeteiligungen im Besitz von Eignern aus Osteuropa ist. Zum anderen kann festgehalten werden, dass zwischen den westlichen Ländern und nicht-westlichen Ländern eine einseitige Austauschbeziehung vorliegt, da in den berücksichtigten osteuropäischen Staaten ein signifikanter Anteil der Kapitalbeteiligungen aus Westeuropa stammt, umgekehrt aber keine der erfassten ausländischen Beteiligungen in Westeuropa von Kapitaleignern aus Osteuropa gehalten wird. Damit finden zentrale Annahmen des Zentrum-Peripherie-Modells Bestätigung, wonach zwar eine reziproke Austauschbeziehung zwischen mehreren Zentren besteht, aber nur einseitige Interaktionsprozesse zwischen Zentrum und Peripherie ablaufen, die ein Abhängigkeitsverhältnis konstituieren (vgl. Blöbaum 1983:

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12; Rullmann 1996: 34ff.). Die signifikante Unausgewogenheit in Form einer deutlichen Konzentration auf westliche Länder und einer einseitigen Interaktion zu anderen Ländern steht zugleich im Widerspruch zu jüngeren Ansätzen der Netzwerkflüsse und Counter-flows, die als Weiterentwicklung medienimperialistischer Annahmen von einer gleichmäßigen oder zumindest ausgewogeneren Verteilung und einer Wechselseitigkeit ausgehen (vgl. Crane 2002: 7f.; Tomlinson 1996: 169f.). Die Ergebnisse der Analyse der europäischen Medienindustrie belegen die von Kritikern allzu verallgemeinerndern und simplifizierenden Amerikanisierungs- und Verwestlichungsthesen geforderte Notwendigkeit, allgemeine Globalisierungsannahmen genauer zu spezifizieren (vgl. z.B. Boyd-Barett 1998: 159f.). Diese Differenzierungsnotwendigkeit bezieht sich auf die Unterscheidung verschiedener Dimensionen der Globalisierung von Medien wie auf die Unterscheidung zwischen verschiedenen Medienarten wie aber auch auf die Schärfung des Blickes für räumliche Unterschiede. Fazit und Ausblick Gegen den aus der Weltsystemtheorie abgeleiteten, monolithischen Zentrum-Peripherie-Dualismus und die Vorstellung von fest etablierten Zentren ökonomischer und kultureller Macht wird in eher postmodernen Ansätzen das Bild eines dezentralisierten Netzwerks entworfen und dabei auf die Bedeutung globaler Interkonnektivitäten und die Entkopplung von Regionen, Städten oder Stadtbezirken aus ihrer allgemeinen Zentrums- und Peripherie-Verortung verwiesen (vgl. Tomlinson 2002). Die Politik der Deregulierung führt, so z.B. Indarjit Banerjee mit Bezug auf die Entwicklung des asiatischen Medienmarktes, nicht nur zur Stärkung globaler Medienkonglomerate, sondern durchaus auch zur Stärkung lokaler und nationaler Medienunternehmen und -märkte (Banerjee 2003: 57). In Latein- und Südamerika wie im asiatischen Raum hat sich in den 1990er Jahren trotz signifikanter Disparitäten in der Bilanz des internationalen Handels mit Kulturgütern eine starke und wachsende Industrie lokaler TV- und Filmproduzenten entwickelt. Auch die Analyse der Entwicklung der europäischen Medienindustrie zwingt, wie oben erläutert, zu gewissen Relativierungen der Gültigkeit eindimensionaler und geografisch ungebundener medienimperialistischer Entwicklungsannahmen. Doch bei aller zugegebenen Fragmentierung und Dezentrierung in Medienproduktion und -rezeption sollten die Grenzen einer ausschließlich die netzwerkähnliche Multizentralität der Medienindustrie und die Multikulturalität der Medienrezeption betonenden Konzeption nicht übersehen werden. Gegen allzu optimistische postmoderne Annahmen eines herrschaftsfreien Multikulturalismus kann eine differenzierte politikökonomische Analyse dazu

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beitragen, ökonomische Macht- und politische Herrschaftsstrukturen aufzudecken und ihre Veränderung als Teil umfassender sozialer Transformationsprozesse zu verstehen. Erfolge regionaler Medienindustrien sollten über den zwar partiell gebrochenen, aber damit ja nicht völlig aufgehobenen Einfluss westlicher Medienunternehmen auf regionalen Medienmärkten nicht hinweg täuschen. Zudem sagen Eigentumsverhältnisse allein noch nichts über die Qualität der Programme aus. So ist der Hinweis auf die Verbreitung nationaler Sender nur dann ein überzeugendes Argument gegen den hegemonialen Einfluss westlicher Medienproduktionen, wenn die in den Sendern dominierenden Unterhaltungsformate deutlich von amerikanischen oder westlichen Formaten abweichen. International vergleichende qualitative Studien sind jedoch bisher noch weitgehend ein Desiderat der kritischen Medienforschung.

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➔ 25 Medienindustrie – Die »vergessene Theorie«

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) vak 380.p 116966861586

➔ Epilog

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) T08_00 RESP epilog.p 116966861594

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) vak 382.p 116966861602

Gilles Deleuze, Félix Guattari ➔ 26 Kapitalismus: Ein sehr spezielles Delirium



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26 Kapitalismus: Ein sehr spezielles Delirium – Ein Gespräch 1

Gilles Deleuze, Félix Guattari Frage: Sie beschreiben den Kapitalismus folgendermaßen: »Kein einziger Aspekt, nicht die kleinste Operation, nicht der winzigste industrielle oder finanzielle Mechanismus, der nicht das Irresein der kapitalistischen Maschine und den pathologischen Charakter ihrer Rationalität offenkundig werden ließe (keineswegs falsche Rationalität, sondern wirkliche Rationalität dieses Pathologischen, dieses Irreseins, ›denn seid gewiss, die Maschine funktioniert‹). Keineswegs setzt sie sich der Gefahr aus, irre zu werden, denn durchweg und von Beginn an ist sie es schon, daraus entspringt ihre Rationalität«.2 Heißt das, dass es nach dieser ›anormalen‹ Gesellschaft – oder außerhalb ihrer – eine ›normale‹ Gesellschaft geben könnte? Gilles Deleuze: Wir verwenden die Begriffe ›normal‹ und ›anormal‹ nicht. Alle Gesellschaften sind zugleich rational und irrational. In ihren Mechanismen, ihrem Räderwerk, ihren Beziehungssystemen und sogar in dem Ort, den sie dem Irrationalen zuweisen, sind sie zwangsläufig rational. Dennoch setzt all dies Codes oder Axiome voraus, die keine Zufallsprodukte sind, die aber auch keine eigentliche Rationalität haben. Es ist wie in der Theologie: sie ist völlig schlüssig, wenn man Sünde, unbefleckte Empfängnis und Inkarnation anerkennt. Vernunft ist immer ein Gebiet, das aus dem Irrationalen herausgeschnitten ist – es ist keineswegs vom Irrationalen abgeschirmt, sondern es ist ein Gebiet, das vom Irrationalen durchquert wird und das einzig durch einen bestimmten Relationstyp zwischen irrationalen Faktoren definiert ist. Im Grunde ist jede Vernunft Delirium, Drift. Alles im Kapitalismus ist vernünftig, außer dem Kapital oder dem Kapitalismus selbst. Ein Vorgang an der Börse ist völlig rational; man kann ihn verstehen, studieren, die Kapitalisten wissen ihn zu nutzen, und dennoch ist er völlig wahnsinnig, er ist irre. In eben diesem Sinne sagen wir: das Rationale ist immer die Rationalität eines Irrationalen. Es gibt etwas in Marx’ Kapital, das noch nicht ausreichend zur Kenntnis genommen worden ist: das Ausmaß, in dem Marx von kapitalistischen Mechanismen fasziniert ist; fasziniert ist, gerade weil das System irre ist und gleichzeitig gut funktioniert. Was ist also in einer Gesellschaft rational? Es ist – da die Interessen im Rahmen dieser Gesellschaft definiert werden – die Art und Weise, auf die Menschen diese Interessen verfolgen, ihre Verwirklichung. Aber unterschwellig gibt es Wünsche, Wunschinvestitionen, die nicht mit Investitionen von Interessen verwechselt werden können, und von denen Interessen in ihrer Richtung und Verteilung abhängen: eine ungeheure Flut, alle möglichen libidinös-unbewussten Strömungen, die das Delirium dieser Gesellschaft bilden. Die wahre Geschichte ist die Geschichte der

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Media Marx. Ein Handbuch Epilog

Wünsche. Ein heutiger Kapitalist oder Technokrat entwickelt Wünsche anders als ein Sklavenhändler oder ein Beamter im alten chinesischen Kaiserreich. Dass vergesellschaftete Menschen Unterdrückung verlangen (anderer und auch ihrer selbst), dass es immer Leute gibt, die andere tyrannisieren wollen und auch dazu Gelegenheit, ja sogar das ›Recht‹ haben – genau das macht das Problem einer untergründigen Verbindung von libidinösem Wunsch und der sozialen Sphäre sichtbar. Eine ›interesselose‹ Liebe zur Unterdrückungsmaschine: Nietzsche hat einige schöne Bemerkungen über diesen permanenten Triumph der Sklaven gemacht – wie die Verbitterten, die Niedergeschlagenen und die Debilen uns allen ihre Lebensweise aufzwingen. Frage: Was ist an all dem spezifisch für den Kapitalismus? Gilles Deleuze: Ist die Distribution von Delirium und Interesse, oder vielmehr Wunsch und Vernunft, im Kapitalismus völlig neu und besonders ›anormal‹? Ich glaube schon. Geld, Kapital sind derartig irre, dass es in der Psychiatrie nur noch eine klinische Entsprechung gibt: das Endstadium. Es wäre zu kompliziert, das hier auszuführen, aber einen Aspekt sollte man erwähnen. In anderen Gesellschaften gibt es Ausbeutung, es gibt auch Skandale und Geheimnisse, aber das ist Teil des ›Codes‹; es gibt sogar ausdrücklich geheime Codes. Im Kapitalismus ist das ganz anders: nichts ist geheim, zumindest im Prinzip und dem Code entsprechend (deshalb ist Kapitalismus ›demokratisch‹ und kann sich ›publik‹ machen, selbst im juristischen Sinne). Und dennoch ist alles schändlich. Legalität selbst ist schändlich. Im Gegensatz zu anderen Gesellschaften herrscht ein Regime des Öffentlichen und zugleich des Schandbaren. Zum Regime des Geldes gehört ein ganz besonderes Delirium. Nehmen Sie beispielsweise das, was man heute Skandal nennt: die Zeitungen reden viel darüber, alle tun so, als würden sie sich verteidigen oder angreifen, aber man fragt vergeblich, was daran nun das Illegale ist – illegal im Sinne des kapitalistischen Regimes. Die Steuerzahlungen von Chaban3, Immobiliengeschäfte, Lobbyisten und die ökonomischen und finanziellen Mechanismen des Kapitals im Allgemeinen – all das ist im Großen und Ganzen legal, abgesehen von kleinen Fehltritten; und außerdem: alles das ist öffentlich und dennoch schändlich. Wenn die Linke ›vernünftig‹ wäre, würde sie sich damit begnügen, ökonomische und finanzielle Mechanismen zu vulgarisieren. Kein Anlass, Privates öffentlich zu machen; man gäbe sich damit zufrieden, das zuzugeben, was bereits öffentlich ist. Man befände sich in einem Zustand des Irreseins, der in den Kliniken keine Entsprechung fände. Stattdessen erzählt man uns etwas von ›Ideologie‹. Aber Ideologie hat nicht die geringste Bedeutung: was zählt, ist nicht die Ideologie, nicht einmal die ›ökonomisch-ideologische‹ Unterscheidung oder Opposition, sondern die Organisation der Macht. Denn die Organisation der Macht, das ist die Art und

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Gilles Deleuze, Félix Guattari ➔ 26 Kapitalismus: Ein sehr spezielles Delirium

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Weise, auf die der Wunsch bereits Teil des Ökonomischen ist, auf welche die Libido das Ökonomische investiert, das Ökonomische heimsucht und politische Formen der Repression nährt. Frage: Ist Ideologie also ein trompe-l’œil? Gilles Deleuze: Keineswegs. »Ideologie ist ein trompe-l’œil«, das ist immer noch die traditionelle These. Man setzt die Basis – das Ökonomische, das Ernste – auf die eine Seite und auf die andere den Überbau, zu dem Ideologie gehört, und so schließt man die Wunschphänomene innerhalb der Ideologie aus. So ignoriert man auf wunderbare Art und Weise, wie Wünsche die Basis gestalten, wie sie die Basis investieren, wie sie an ihr teilhaben, wie sie in dieser Eigenschaft Macht organisieren, wie sich das Repressionssystem organisiert. Wir sagen nicht: die Ideologie ist ein trompe-l’œil (oder ein Begriff, der bestimmte Illusionen bezeichnet). Wir sagen: Es gibt keine Ideologie, das ist ein illusorischer Begriff. Deswegen gefällt er auch der Kommunistischen Partei, dem orthodoxen Marxismus so sehr. Der Marxismus hat dem Thema Ideologien deswegen so viel Bedeutung zugemessen, damit er besser verbergen konnte, was sich in der UdSSR anbahnte: eine neue Organisationsform repressiver Macht. Es gibt keine Ideologie, es gibt nur Organisationsformen von Macht, sobald man zugesteht, dass Machtorganisation die Einheit von Wunsch und ökonomischer Basis ist. Nehmen wir zwei Beispiele. Bildung: im Mai 1968 verlor die Linke eine Menge Zeit mit der Forderung, die Professoren sollten als Agenten der Bourgeoisie öffentliche Selbstkritik üben. Das ist dumm und schmeichelt lediglich den masochistischen Neigungen von Akademikern. Der Kampf gegen wettbewerbsförmige Prüfungen wurde zugunsten dieser Kontroverse, oder zugunsten des großen anti-ideologischen öffentlichen Bekenntnisses, aufgegeben. Unterdessen organisierten die konservativeren Professoren ohne Schwierigkeiten ihre Macht neu. Das Problem der Bildung ist kein ideologisches Problem, sondern ein Problem der Machtorganisation: es ist eben das Besondere an der Bildungsmacht, dass sie wie eine Ideologie aussieht. Aber das ist reine Illusion. In der Grundschule ist es die Macht, die bedeutsam ist; sie wirkt sich auf alle Kinder aus. Zweites Beispiel: Das Christentum. Die Kirche begrüßt es, wenn sie als Ideologie behandelt wird. Sie kann diskutieren, das befördert die Ökumene. Aber das Christentum ist niemals eine Ideologie gewesen; es ist eine sehr ursprüngliche, sehr spezielle Machtorganisation, die seit dem römischen Kaiserreich und dem Mittelalter unterschiedliche Formen entwickelt hat, und es ist ihr gelungen, die Idee internationaler Macht zu erfinden. Das ist wichtiger als Ideologie. Félix Guattari: In traditionellen politischen Strukturen ist es genauso. Überall

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stößt man auf denselben alten Trick: große ideologische Debatte in der Generalversammlung, und Organisationsfragen, die an Sonderkommissionen delegiert werden. Diese Fragen erscheinen sekundär, abhängig von den politischen Optionen. Während im Gegenteil aber die wirklichen Probleme die Organisationsfragen sind, die niemals genau bestimmt oder rational angegangen, sondern nachträglich in ideologische Begriffe gefasst werden. Dort entstehen die eigentlichen Spaltungen: wie man Wunsch und Macht, Investitionen, Gruppen-Ödipen, Gruppen-›Über-Ichs‹, perverse Phänomene usw. behandelt. Und dann bauen sich politische Oppositionen auf: das Individuum bezieht diese Position gegenüber jener, weil es im Schema der Machtorganisation bereits entschieden und seinen verhassten Gegner gewählt hat. Frage: Ihre Analyse ist überzeugend, was den Fall Sowjetunion oder den Kapitalismus betrifft. Aber im Detail? Wenn alle ideologischen Oppositionen per definitionem Konflikte des Begehrens maskieren, wie würden Sie dann zum Beispiel die Divergenzen der drei trotzkistischen Splittergruppen analysieren? Welcher Konflikt des Begehrens liegt ihnen zugrunde? Trotz der politischen Streitigkeiten scheint jede dieser Gruppen dieselbe Funktion gegenüber ihren militanten Mitgliedern zu erfüllen: eine verlässliche Hierarchie, die Wiederherstellung eines kleinformatigen sozialen Milieus, eine endgültige Erklärung der Welt … Mir ist nicht klar, wo der Unterschied liegt. Félix Guattari: Jede Ähnlichkeit mit tatsächlich existierenden Gruppen ist natürlich rein zufällig – man kann sich aber gut vorstellen, dass sich eine dieser Gruppen zunächst über ihre Treue zu den verhärteten Positionen der kommunistischen Linken nach der Dritten Internationalen definiert. Das ist eine vollständige Axiomatik, bis hin zur phonologischen Ebene – die Art und Weise, bestimmte Wörter auszusprechen, die sie begleitende Geste – und dann die Organisationsstrukturen, die Vorstellung davon, welche Arten von Beziehung man mit den Verbündeten, den Zentristen, den Gegnern unterhält … Das mag einer bestimmten Figur der Ödipalisierung entsprechen, ein unfassbares und beruhigendes Universum. Es gleicht dem Universum des Besessenen, der völlig hilflos ist, wenn man die Lage eines einzigen vertrauten Dinges verändert. Es geht darum, durch diese Art der Identifikation mit wiederkehrenden Figuren und Vorbildern eine bestimmte Art von Effizienz zu erlangen, die typisch für den Stalinismus war – ausgenommen freilich seine Ideologie. In anderen Hinsichten behält man den generellen methodischen Rahmen bei, achtet aber darauf, sich anzupassen: »Seht es ein, der Feind ist derselbe, Kameraden, aber die Umstände haben sich verändert«. Dann erhält man eine offenere Splittergruppe. Das ist ein Kompromiss: man hat das erste Vorbild durchgestrichen, während man es dennoch beibehalten und mit anderen Ideen gefüllt hat. Man erhöht die Zahl der Treffen und Übungen, aber

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auch die externen Interventionen. Der begehrende Wille hat, wie Zazie4 sagt, eine ganz eigene Art, Schüler zu triezen, und woanders Militante. Was das Grundproblem angeht, sagen alle diese Splittergruppen im Großen und Ganzen dasselbe. Aber sie unterscheiden sich radikal in ihrem Stil: in der Vorstellung von einem Anführer, von Propaganda, in der Auffassung von Disziplin, Loyalität, Bescheidenheit, und im Asketismus der Militanten. Wie erklärt man diese Polaritäten, ohne in der Wunschökonomie der sozialen Maschine herumzukramen? Das Spektrum zwischen Anarchisten und Maoisten ist sehr groß, sowohl politisch als auch analytisch. Und das, ohne auch nur die Menge der Leute außerhalb der begrenzten Reichweite der Splittergruppen zu berücksichtigen, die nicht genau wissen, ob sie sich für linken Aktivismus, die Attraktivität von Gewerkschaftsaktionen, für Revolte, Abwarten oder Gleichgültigkeit entscheiden sollen … Man müsste die Rolle dieser Wunscherstickungsmaschinen (denn das sind diese Splittergruppen) erklären, diese Schleif- und Siebearbeit. Es ist ein Dilemma: Entweder lässt man sich vom sozialen System brechen oder man integriert sich in die vorgeformten Kader dieser kleinen Religionsgemeinschaften. So gesehen war der Mai 1968 eine erstaunliche Enthüllung. Die Wunschmacht beschleunigte sich dermaßen, dass sie die Splittergruppen sprengte. Sie haben sich später wieder neu formiert; sie nahmen an der Neuordnung gemeinsam mit anderen repressiven Kräften, der CGT, der PC, der CRS oder Edgar Faure teil.5 Ich sage das nicht, um zu provozieren. Natürlich haben die Militanten mutig gegen die Polizei gekämpft. Aber wenn man den Bereich des Interessenkonflikts verlässt, um die Funktion des Wunsches zu berücksichtigen, muss man zur Kenntnis nehmen, dass bestimmte Splittergruppen sich den jungen Leuten im Geiste der Repression näherten: mit dem Ziel, befreite Wünsche einzudämmen und dann umzulenken. Frage: Was ist ein befreiter Wunsch? Ich verstehe natürlich, wie sich das auf die Ebene eines Individuums oder einer kleinen Gruppe übertragen lässt: ein Kunstwerk schaffen, Schaufenster einwerfen, Sachen verbrennen oder auch einfach eine Orgie feiern, oder faul vor sich hin vegetieren. Aber was dann? Was wäre ein kollektiv befreiter Wunsch auf der Ebene einer sozialen Gruppe? Und was bedeutet das in Bezug auf die ›Gesamtheit der Gesellschaft‹, falls Sie diesen Begriff nicht wie Michel Foucault ablehnen? Félix Guattari: Wir sind vom Wunsch in einem seiner kritischsten, akutesten Zustände ausgegangen: dem Wunsch des Schizophrenen. Und zwar desjenigen Schizo, der etwas hervorbringen kann, was jenseits oder diesseits der Möglichkeiten eines medikamentös und sozial unterdrückten Schizos in einer geschlossenen Anstalt liegt. Bestimmte Schizophrene scheinen uns eine direkte Decodierung des Wunsches zum Ausdruck zu bringen. Aber wie denkt

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man eine kollektive Form der Wunschökonomie? Gewiss nicht auf der lokalen Ebene. Ich hätte große Schwierigkeiten, mir eine kleine, befreite Gemeinschaft vorzustellen, die sich gegen die Strömungen der repressiven Gesellschaft behauptet, etwa in Form einer wachsenden Menge von Individuen, die sich eins nach dem anderen emanzipieren. Wenn andererseits der Wunsch die wesentliche Textur der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit konstituiert, inklusive ihrer Reproduktionsmechanismen, kann eine Befreiungsbewegung in der Gesamtheit der Gesellschaft ›kristallisieren‹. Im Mai 1968 pflanzte sich die Erschütterung von den ersten Zündfunken bis zu lokalen Zusammenstößen brutal in die gesamte Gesellschaft fort, einschließlich einiger Gruppen, die weder direkt noch indirekt mit der revolutionären Bewegung zu tun hatten – Ärzte, Rechtsanwälte, Lebensmittelhändler. Dennoch trugen die etablierten Interessen den Sieg davon, aber erst nachdem es schon einen Monat lang gebrannt hatte. Wir bewegen uns auf Explosionen dieser Art zu, nur noch viel grundlegender. Frage: Könnte es in der Geschichte schon eine nachdrückliche und dauerhafte Befreiung des Wunsches gegeben haben, abgesehen von kurzen Perioden bei Festen, Gemetzeln, Kriegen oder revolutionären Umwälzungen? Oder glauben Sie wirklich an ein Ende der Geschichte: nach Jahrtausenden der Entfremdung wird die soziale Evolution plötzlich in einer letzten Revolution umschlagen, die den Wunsch für immer befreit? Félix Guattari: Weder das eine noch das andere. Weder ein letztes Ende der Geschichte noch provisorische Exzesse. Alle Zivilisationen, alle Perioden haben bekanntlich Enden der Geschichte – das belegt nichts und ist nicht notwendigerweise befreiend. Was den Exzess oder Momente des Feierns angeht, sieht es nicht viel erfreulicher aus. Es gibt militante Revolutionäre, die ein Gefühl von Verantwortung verspüren und sagen: Ja, Exzess ›in der ersten revolutionären Phase‹, aber es gibt eine zweite Phase der Organisation, des Normalbetriebs, ernsthafter Angelegenheiten … Denn der Wunsch wird nicht in bloß festlichen Momenten befreit. Ich verweise auf die Diskussion zwischen Victor und Foucault in der Ausgabe der Temps Modernes zu den Maoisten.6 Victor ist mit dem Exzess einverstanden, aber nur in der ›ersten Phase‹. Was den Rest angeht, die eigentliche Sache, verlangt Victor einen neuen Staatsapparat, neue Normen, eine Volksjustiz mit einem Tribunal, eine Instanz außerhalb der Massen, eine dritte Partei, die imstande ist, Widersprüche zwischen den Massen beizulegen. Man findet immer das alte Schema: die Ablösung einer Pseudo-Avantgarde, die imstande ist, Synthesen herzustellen, eine Partei als Embryo eines Staatsapparats zu formieren – Teil einer gut erzogenen und gut ausgebildeten Arbeiterklasse; und der Rest ist ein Überbleibsel, ein Lumpenproletariat, dem man misstrauen sollte (die ewig gleiche

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alte Verdammung des Wunsches). Aber diese Unterscheidungen selbst sind nur eine andere Art und Weise, den Wunsch zum Vorteil einer bürokratischen Kaste in die Falle zu locken. Foucault reagiert darauf, indem er die dritte Partei zurückweist und sagt: wenn schon Volksjustiz, dann nicht Volksjustiz eines Tribunals. Er zeigt sehr gut, dass die Unterscheidung ›Avantgarde – Proletariat – nicht proletarisierter Plebs‹ zuallererst eine Unterscheidung ist, welche die Bourgeoisie in die Massen hineintrug und derer sich die Bourgeoisie bedient, um die Wunschphänomene zu erdrücken, Wünsche zu marginalisieren. Die ganze Frage dreht sich um den Staatsapparat. Es wäre seltsam, auf eine Partei oder einen Staatsapparat zu rechnen, wenn man das Begehren befreien möchte. Eine bessere Justiz verlangen ist, als würde man gute Richter, gute Polizisten, gute Chefs, ein saubereres Frankreich usw. fordern. Und dann sagt man uns: wie würdet ihr die Einzelinitiativen vereinigen – ohne eine Partei? Wie bringt man die Maschine zum Laufen ohne einen Staatsapparat? Es ist offensichtlich, dass eine Revolution eine Kriegsmaschine benötigt, aber eine Kriegsmaschine ist kein Staatsapparat. Gewiss braucht sie auch eine Analyseinstanz, eine Analyse der Wünsche der Massen, aber dennoch ist dies kein Apparat, der außerhalb der Synthesis stünde. Befreite Wünsche, das heißt: die Wünsche entkommen der Sackgasse privater Phantasmen; es geht nicht darum, sie zu adaptieren, sie zu sozialisieren, zu disziplinieren, sondern sie auf eine solche Weise anzuschließen, dass ihre Prozesse im sozialen Körper nicht unterbrochen werden, und dass ihr Ausdruck kollektiv wird. Was zählt, ist nicht autoritäre Vereinheitlichung, sondern eher eine Art unbegrenztes Ausschwärmen: Wünsche in den Schulen, den Fabriken, den Stadtvierteln, Kinderkrippen, Gefängnissen etc. Es geht nicht darum, sie zu frisieren und zu totalisieren, sondern sie so anzuschließen, dass sie Teil eines einzigen Oszillationsplans werden. Solange die Alternativen die machtlose Spontaneität des Anarchismus und die bürokratische und hierarchische Codierung einer Parteiorganisation sind, gibt es keine Befreiung des Wunsches. Frage: War der Kapitalismus in seinen Anfängen imstande, sich der gesellschaftlichen Begehren anzunehmen? Gilles Deleuze: Natürlich war und ist der Kapitalismus eine großartige Wunschmaschine. Der Geldfluss, der Strom der Produktionsmittel, der Arbeitskraft, der neuen Märkte, all das ist der Strom der Wünsche. Es reicht, sich die Gesamtheit der Kontingenzen am Ursprung des Kapitalismus vor Augen zu führen, um einzusehen, in welchem Maße er ein Kreuzungspunkt von Wünschen war, und dass seine Basis, sogar seine Ökonomie von den Wunschphänomenen nicht abzutrennen war. Das gilt auch für den Faschismus – man muss sagen, er ›nahm sich der gesellschaftlichen Wünsche an‹,

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einschließlich der Wünsche nach Unterdrückung und Tod. Die Leute bekamen wegen Hitler Erektionen, wegen der schönen faschistischen Maschine. Aber wenn Ihre Frage bedeutet: war der Kapitalismus in seinen Anfängen revolutionär, fiel die industrielle Revolution jemals mit der sozialen Revolution zusammen? – nein, das glaube ich nicht. Kapitalismus war von Anfang an mit einer grausamen Repressivität gekoppelt; er hatte sofort seine Machtorganisation und seinen Staatsapparat. Ob Kapitalismus die Auflösung älterer sozialer Codes und Mächte einschließt? Sicherlich. Aber er hatte sein Getriebe der Macht bereits in den Rissen der vorangehenden Regimes etabliert, einschließlich seiner Staatsmacht. Es ist immer so: die Dinge sind nicht so fortschrittlich; noch bevor eine soziale Formation sich etabliert, sind ihre Instrumente der Ausbeutung und Repression schon präsent, noch im Leerlauf, aber schon bereit, auf volle Kraft zu gehen. Die ersten Kapitalisten sind wie lauernde Raubvögel. Sie warten auf ihre Begegnung mit dem Arbeiter, demjenigen, der durch die Risse des vorherigen Systems fällt. Das ist sogar in jeder Hinsicht das, was man ursprüngliche Akkumulation nennt. Frage: Ich glaube ganz im Gegenteil, dass die aufsteigende Bourgeoisie ihre Revolution während der gesamten Aufklärung imaginiert und vorbereitet hat. Aus ihrer Perspektive war es eine Klasse, die ›revolutionär bis zum Letzten‹ war, da sie doch das ancien régime erschüttert und sich dann selbst zur Macht emporgeschwungen hatte. Welche parallelen Bewegungen auch immer in der Bauernschaft und in den Vororten stattgefunden haben mögen, die bürgerliche Revolution ist eine Revolution, die von der Bourgeoisie gemacht wurde – diese Bezeichnungen sind kaum unterscheidbar – und sie im Namen der sozialistischen Utopien des 19. oder 20. Jahrhunderts zu bewerten, bedeutet, anachronistisch eine Kategorie einzuführen, die damals nicht existierte. Gilles Deleuze: Was Sie sagen, passt wieder in ein bestimmtes marxistisches Schema. An einem bestimmten Punkt der Geschichte sei das Bürgertum revolutionär, das sei sogar notwendig – notwendig, um durch ein Stadium des Kapitalismus hindurchzugehen, durch eine bürgerlich-revolutionäre Phase. Das ist eine stalinistische Perspektive, aber man kann das nicht ernst nehmen. Wenn eine soziale Formation sich erschöpft und an allen Ecken und Enden undicht wird, decodiert sich alles Mögliche. Alle möglichen unkontrollierten Strömungen brechen hervor, wie die Bauernwanderungen im feudalen Europa, die Phänomene der ›Deterritorialisierung‹. Das Bürgertum setzt einen neuen Code ein, sowohl ökonomisch als auch politisch, so dass man glauben kann, es sei revolutionär gewesen. Das war keineswegs der Fall. Daniel Guérin hat einige grundlegende Dinge zur Revolution von 1789 gesagt. Das Bürgertum hatte niemals irgendwelche falschen Vorstellungen über sei-

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nen wirklichen Feind. Sein wirklicher Feind war nicht das vorherige System, sondern das, was der Kontrolle des vorherigen Systems entglitten war, und was das Bürgertum seinerseits zu meistern suchte. Auch das Bürgertum schuldete seine Macht dem Ruin des alten Systems, aber es konnte seine Macht nur in dem Maße ausüben, als es alle Revolutionäre des alten Systems als seine Feinde betrachtete. Das Bürgertum ist niemals revolutionär gewesen. Es hat die Revolution veranlasst. Es manipulierte, kanalisierte und unterdrückte eine ungeheure Welle von Wünschen aus dem Volk. Die Leute sind hingegangen und haben bei Valmy ihre Haut zu Markte getragen. Frage: Sie haben sich auf jeden Fall bei Verdun um die Ecke bringen lassen. Félix Guattari: Genau. Und das ist es, was uns interessiert. Woher kommen diese Eruptionen, diese Aufstände, diese Enthusiasmen, die nicht durch eine gesellschaftliche Rationalität erklärt werden können und die im Augenblick ihres Entstehens von der Macht umgeleitet und vereinnahmt werden? Man kann eine revolutionäre Situation nicht erklären, indem man einfach die zeitgenössischen Interessen analysiert. 1903 debattierte die Russische Sozialdemokratische Partei über die Allianzen und die Organisation des Proletariats, und über die Rolle der Avantgarde. Während sie so tat, als bereite sie die Revolution vor, wurde sie plötzlich von den Ereignissen von 1905 überrollt und musste auf einen fahrenden Zug aufspringen. Es gab eine Kristallisation von Wünschen in größerem sozialen Ausmaß, die durch eine noch nicht erklärbare Situation entstanden war. Dasselbe 1917. Und auch dort sprangen die Politiker auf einen fahrenden Zug auf und schafften es schließlich, ihn unter Kontrolle zu bringen. Dennoch war keine revolutionäre Tendenz imstande oder gewillt, sich des Verlangens nach einer Sowjet-artigen Organisation anzunehmen, die den Massen erlauben konnte, wirklich Verantwortung für ihre Interessen und Begehren zu übernehmen. Stattdessen ließ man Maschinen zirkulieren, politische Organisationen genannt, die nach dem Modell funktionierten, das Dimitrov beim Siebten Kongress der Internationale ausgearbeitet hatte – Wechsel zwischen Volksfronten und sektiererischen Rückzügen – und die zu den immergleichen repressiven Ergebnissen führten. Man sah das 1936, 1945 und 1968. Durch ihre Axiomatik selbst verweigerten diese Massenmaschinen die Freisetzung revolutionärer Energie. Insgeheim eine Politik, die mit der des Präsidenten der Republik oder des Klerus vergleichbar ist, nur mit der roten Fahne in der Hand. Und wir glauben, dass das einer bestimmten Haltung zu den Wünschen entspricht, einer grundlegenden Art und Weise, das Ich, das Individuum, die Familie zu betrachten. Daraus ergibt sich ein einfaches Dilemma: entweder findet man eine neue Art von Strukturen, die letztendlich auf eine Fusion kollektiven Begehrens und revolutionärer Orga-

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nisation zulaufen; oder man bleibt auf dem bisherigen Weg, schreitet von Repression zu Repression fort und bewegt sich auf einen neuen Faschismus zu, der Hitler und Mussolini wie einen Witz aussehen lässt. Frage: Aber wie ist dann dieser tiefe, fundamentale Wunsch beschaffen, der offensichtlich konstitutiv für den Menschen und den sozialen Menschen ist, der sich aber ständig verraten lässt? Warum investiert er sich dauernd in Maschinen, die antinomisch zur dominanten Maschine und ihr doch so ähnlich sind? Könnte das bedeuten, dass Wünsche dazu verdammt sind, entweder ohne Folgen in einer bloßen Explosion zu verpuffen oder ewig betrogen zu werden? Ich muss noch einmal nachhaken: kann es jemals, eines schönen Tages in der Geschichte, einen kollektiven und dauerhaften Ausdruck befreiten Begehrens geben, und wie? Gilles Deleuze: Wenn man das wüsste, würde man nicht darüber sprechen, man würde es tun. Ohnehin hat Félix es gerade gesagt: eine revolutionäre Organisation muss die Organisationsform einer Kriegsmaschine haben und nicht eines Staatsapparates; die einer Wunschanalyse und nicht einer externen Synthesis. In jedem sozialen System hat es immer Fluchtlinien gegeben und auch Verhärtungen, die diese Fluchten verhindern, oder natürlich (was nicht dasselbe ist) embryonische Apparate, die sie integrieren, ablenken oder sie in einem neuen, in Vorbereitung befindlichen System arretieren. Man sollte die Kreuzzüge aus dieser Perspektive analysieren. Aber der Kapitalismus hat in jeder Hinsicht einen sehr besonderen Charakter: seine Fluchtlinien sind nicht einfach Schwierigkeiten, auf die er trifft, sie sind die Bedingungen seines eigenen Operierens. Der Kapitalismus hat sich durch ein generalisiertes Decodieren aller Strömungen, Reichtumsfluktuationen, Arbeitsfluktuationen, Sprachfluktuationen, Kunstfluktuationen usw. konstituiert. Er hat keinen eigenen Code an diese Stelle gesetzt, er etablierte eine Art Buchführung, eine Axiomatik decodierter Ströme als Basis seiner Ökonomie. Er bindet die Fluchtpunkte ab und strebt vorwärts. Er weitet seine eigentlichen Grenzen endlos aus und muss an jeder neuen Grenze neue undichte Stellen stopfen. Er hat keines seiner fundamentalen Probleme gelöst, er kann noch nicht einmal den Zuwachs der Geldmenge in einem einzigen Jahr voraussehen. Er überschreitet unaufhörlich seine eigenen Limitationen, die etwas weiter neu auftauchen. Er bringt sich selbst in alarmierende Situationen: in seiner eigenen Produktion, seinem Sozialleben, seiner Demographie, seiner Peripherie in der Dritten Welt, seinen Binnenregionen usw. Seine Lücken sind allgegenwärtig und bringen die sich ständig verlagernden Grenzen des Kapitalismus hervor. Und zweifellos ist der revolutionäre Ausweg (der aktive Ausweg, von dem Jackson sprach, als er sagte: »Ich höre nicht auf zu laufen, aber während ich laufe, suche ich nach Waffen«) keineswegs dasselbe wie andere Arten der

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Flucht, die Schizo-Flucht, die Drogen-Flucht. Aber sicherlich ist genau dies das Problem der Marginalisierten: alle diese Fluchtlinien an ein revolutionäres Plateau anzuschließen. Im Kapitalismus nehmen diese Linien also einen neuen Charakter an, und auch ein neuartiges revolutionäres Potenzial. Es gibt also Hoffnung, nicht wahr? Frage: Sie haben gerade die Kreuzzüge erwähnt. Für Sie sind das einige der ersten Manifestationen kollektiver Schizophrenie im Westen … Félix Guattari: Es war in der Tat eine außergewöhnliche schizophrene Bewegung. In einer bereits schismatischen und gestörten Gesellschaft hatten Tausende und Abertausende von Leuten plötzlich ganz einfach das Leben satt, das sie führten. Laienprediger tauchten auf, ganze Dörfer wurden verlassen. Erst später versuchte das schockierte Papsttum, der Bewegung ein Ziel zu geben, indem es sie ins Heilige Land umlenkte. Ein doppelter Vorteil: man wurde die herumstreifenden Banden los und verstärkte die christlichen Vorposten im Nahen Osten, die von den Türken bedroht wurden. Das funktionierte nicht immer: der venezianische Kreuzzug fand sich in Konstantinopel wieder, der Kinderkreuzzug wandte sich nach Südfrankreich und erregte sehr schnell keinerlei Mitgefühl mehr. Ganze Dörfer wurden von diesen Kindern, die ›überkreuz‹ zur Gesellschaft standen, eingenommen und niedergebrannt, und die regulären Armeen löschten sie schließlich aus. Sie wurden getötet oder in die Sklaverei verkauft … Frage: Kann man Parallelen zu zeitgenössischen Bewegungen finden – Kommunen und die Landstraße als Fluchtwege aus Fabrik und Büro? Und gäbe es irgendeinen Papst, der sie attraktiv finden würde? Eine Jesus-Revolution? Félix Guattari: Die ›Bergung‹ dieser Bewegungen durch das Christentum ist nicht undenkbar. Das ist in gewissem Maße schon in den Vereinigten Staaten Realität, aber sehr viel weniger in Europa oder in Frankreich. Aber es gibt bereits eine latente Wiederkehr in Form einer Tendenz zur Naturverbundenheit, der Vorstellung, man könne sich von der Produktion zurückziehen und eine kleine, zurückgezogene Gesellschaft rekonstruieren, so als wäre man nicht vom kapitalistischen System gebrandmarkt und eingehegt. Frage: Welche Rolle spielt Ihrer Ansicht nach die Kirche noch in einem Land wie unserem? Die Kirche stand bis ins 18. Jahrhundert im Zentrum der Macht westlicher Zivilisationen, sie war bis zur Entstehung des Nationalstaats Bindekraft und Struktur der sozialen Maschine. Heute, da sie ihrer wesentlichen Funktion durch die Technokratie beraubt ist, scheint sie ins Treiben geraten zu sein, gespalten und ohne Ankerpunkt. Man kann sich nur fragen, ob die

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Kirche unter dem Druck des katholischen Progressivismus nicht vielleicht weniger konfessionell werden wird als bestimmte politische Organisationen. Félix Guattari: Und die Ökumene? Ist das nicht eine Art und Weise, auf die Füße zu fallen? Die Kirche ist nie stärker gewesen. Es gibt keinen Grund, Kirche und Technokratie einander gegenüberzustellen, es gibt die Technokratie der Kirche. Historisch gesehen sind Positivismus und Christentum immer gute Partner gewesen. Die Entwicklung der positiven Wissenschaften hat einen christlichen Antrieb. Man kann auch nicht sagen, dass der Psychiater den Priester ersetzt hat. Noch kann man sagen, der Polizist habe den Priester ersetzt. In der Unterdrückung wird immer jeder gebraucht. Was am Christentum gealtert ist, ist seine Ideologie, nicht seine Machtorganisation. Frage: Wenden wir uns diesem anderen Aspekt Ihres Buches zu: die Kritik der Psychiatrie. Kann man sagen, dass Frankreich bereits von der Psychiatrie der Sektorisierung durchdrungen ist – und wie weit erstreckt sich dieser Einfluss? Félix Guattari: Die Struktur psychiatrischer Kliniken ist wesentlich staatlich und die Psychiater sind die Beamten. Lange Zeit hat sich der Staat mit einer Politik des Zwanges begnügt und tat beinahe ein Jahrhundert lang gar nichts. Man musste auf die Befreiung nach dem 2. Weltkrieg warten, bis Unruhe aufkam: die erste psychiatrische Revolution, die Öffnung der Hospitäler, kostenlose Behandlung, institutionelle Psychotherapie. All dies hat zu der großen utopischen Politik der ›Sektorisierung‹ geführt, die darin bestand, die Anzahl der Internierungen zu begrenzen und Psychiaterteams in die Bevölkerung hinauszuschicken wie Missionare in den Busch. Weil Glaubwürdigkeit und guter Wille fehlten, blieb die Reform stecken: einige Modelleinrichtungen für offizielle Besuche, und hier oder dort ein Krankenhaus in den unterentwickeltsten Regionen. Wir bewegen uns jetzt auf eine größere Krise zu, in ihrem Ausmaß vergleichbar mit der Krise der Universität, eine Katastrophe auf allen Ebenen: Einrichtungen, Personalausbildung, Therapie usw. Der Einrichtung eines institutionellen Kontrollnetzes der Kindheit nimmt man sich dagegen viel erfolgreicher an. In diesem Fall ist die Initiative dem staatlichen Rahmen und der staatlichen Finanzierung entschlüpft und liegt wieder bei allen möglichen Vereinigungen – Kinderschutz oder Elternverbände … Diese von der Sozialversicherung subventionierten Einrichtungen sind zahlreicher geworden. Ein Netzwerk von Psychologen kümmert sich sofort um das Kind, es wird im Alter von drei Jahren mit einem Etikett versehen und ein Leben lang begleitet. Man kann Lösungen dieser Art auch für die Erwachsenenpsychiatrie erwarten. Angesichts des gegenwärtigen Engpasses wird der Staat versuchen, Institutionen zu reprivatisieren – zugunsten anderer Institutionen nach dem Gesetz von 1901,7 die mit Sicherheit von politischen

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Kräften und reaktionären Familien manipuliert werden. Wir bewegen uns in der Tat auf eine psychiatrische Überwachung Frankreichs zu, wenn die gegenwärtigen Krisen ihr revolutionäres Potenzial nicht mobilisieren können. Überall steht die konservativste Ideologie in voller Blüte, eine platte Übertragung der Vorstellungen des Ödipalismus. In den Einrichtungen für Kinder nennt man den Leiter ›Onkel‹, die Kinderschwester ›Mama‹. Ich habe sogar von Unterscheidungen wie der folgenden gehört: Gruppenspiele unterliegen einem mütterlichen Prinzip, die Arbeitsgemeinschaften einem väterlichen. Die Psychiatrie der Sektorisierung scheint progressiv zu sein, weil sie die Klinik öffnet. Aber wenn das dann bedeutet, Wohnviertel mit einem Raster zu versehen, werden wir den geschlossenen Anstalten von gestern bald nachtrauern. Es ist wie die Psychoanalyse, es funktioniert ganz offen und ist daher eine noch schlimmere repressive Kraft. Gilles Deleuze: Ein Fallbeispiel. Eine Frau kommt zur Beratung. Sie erklärt, dass sie Beruhigungsmittel nimmt. Sie bittet um ein Glas Wasser. Dann spricht sie: »Sehen Sie, ich bin recht kultiviert, ich habe studiert, ich lese gern, und da haben Sie’s: Jetzt weine ich die ganze Zeit. Ich halte die U-Bahn nicht mehr aus … Und sobald ich etwas lese, fange ich an zu weinen … Ich sehe fern; Bilder aus Vietnam. Ich halte das nicht aus …« Der Arzt sagt nicht viel. Die Frau fährt fort: »Ich war in der Résistance … ein wenig. Ich war ›Briefkasten‹«. Der Arzt bittet sie, das näher zu erklären. »Na, verstehen Sie nicht, Herr Doktor? Ich ging in ein Café und fragte zum Beispiel: ist irgendetwas für René gekommen? Man gab mir dann einen Brief, um ihn weiterzuleiten …«. Der Arzt hört ›René‹; er wacht auf: »Warum sagen Sie ›René‹?« Zum ersten Mal stellt er eine Frage. Bis jetzt hat sie über die Metro gesprochen, Hiroshima, Vietnam, über die Auswirkungen, die das alles auf ihren Körper hatte, dass sie deswegen weinen musste. Aber der Arzt fragt nur: »Warten Sie, warten Sie, ›René‹ … was bedeutet ›René‹ für Sie?« René – ›jemand, der wiedergeboren ist‹? Wiedergeburt? Die Résistance bedeutet dem Arzt nichts; aber Wiedergeburt, das passt in ein universelles Schema, das ist ein Archetyp: »Sie möchten wiedergeboren werden«. Der Arzt findet den Faden wieder, er ist endlich auf seinem Terrain. Und er bringt sie dazu, von ihrer Mutter und ihrem Vater zu erzählen. Das ist ein wesentlicher Aspekt unseres Buches, und er ist sehr konkret. Die Psychiater und Psychoanalytiker haben dem Delirium niemals Beachtung geschenkt. Es reicht, jemandem zuzuhören, der deliriert: Es sind die Russen, die ihn beunruhigen, die Chinesen; mein Mund ist trocken; jemand hat mich in der Metro von hinten gefickt; überall wimmelt es von Keimen und Spermatozoen. Es ist Francos Schuld, die Juden sind schuld, die Maoisten: all das ist ein Delirium des sozialen Feldes. Warum sollte das nichts mit der Sexualität des Subjekts tun haben – die Beziehungen, die es zu den Vorstellungen von

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Chinesen, Weißen, Schwarzen hat? Mit der Zivilisation, den Kreuzzügen, der Metro? Psychiater und Psychoanalytiker hören von alldem nichts, sie sind ebenso in der Defensive wie sie nicht zu verteidigen sind. Sie zermalmen den Inhalt des Unbewussten unter vorgefertigten Schablonen: »Sie erzählen mir von Chinesen, aber was ist mit Ihrem Vater? – Nein, er ist kein Chinese. – Haben Sie denn einen chinesischen Liebhaber?« Das ist auf demselben Niveau wie die Unterdrückungsanstrengung des Richters im Fall Angela Davis8, der betonte: »Ihr Verhalten kann nur dadurch erklärt werden, dass sie verliebt ist«. Und was, wenn ganz im Gegenteil Angela Davis’ Libido eine soziale, revolutionäre Libido wäre? Was, wenn sie verliebt wäre, weil sie eine Revolutionärin war? Das ist es, was wir den Psychologen und Psychoanalytikern sagen wollen: Sie wissen nicht, was Delirium ist; sie haben nichts verstanden. Wenn unser Buch eine Bedeutung hat, dann die, dass wir ein Stadium erreicht haben, in dem eine Menge Leute glauben, dass die psychoanalytische Maschine nicht mehr funktioniert, in dem eine ganze Generation die Allzweckschemata satt hat – Ödipus und Kastration, Imaginäres und Symbolisches –, die systematisch den sozialen, politischen und kulturellen Inhalt jeder psychischen Störung auslöschen. Frage: Sie assoziieren Schizophrenie mit Kapitalismus; das ist die Ausgangsthese Ihres Buches. Gibt es in anderen Gesellschaften Fälle von Schizophrenie? Félix Guattari: Schizophrenie ist nicht vom kapitalistischen System abzutrennen, das selbst als primäre Flucht begreifbar ist: eine einzigartige Krankheit. In anderen Gesellschaften nehmen Flucht und Marginalisierung andere Gestalt an. Das asoziale Individuum so genannter primitiver Gesellschaften wird nicht eingesperrt. Gefängnis und Asyl sind junge Begriffe. Man jagt es, es wird an den Rand des Dorfes verbannt und geht daran zugrunde, wenn es nicht in ein Nachbardorf aufgenommen wird. Daneben hat jedes System seine spezifische Krankheit: die Hysterie so genannter primitiver Gesellschaften, die manisch-depressive Paranoia im Empire … Die kapitalistische Ökonomie geht mit Decodierung und Deterritorialisierung vor: sie hat ihre Extremfälle, z.B. Schizophrene, die sich selbst bis zum Äußersten decodieren und deterritorialisieren; aber sie hat auch ihre extremen Konsequenzen – Revolutionäre. Übersetzung aus dem Französischen von Nicola Glaubitz

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Gilles Deleuze, Félix Guattari ➔ 26 Kapitalismus: Ein sehr spezielles Delirium

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Anmerkungen der Übersetzerin 1 Das französische Original erschien unter dem Titel »Gilles Deleuze, Félix Guattari« in: Actuel, Hg. (1973), C’est démain la veille, Paris, S. 137-161. Wir danken Éditions du Seuil für die Übersetzungsrechte. © Éditions du Seuil, 1973. 2 Deleuze, Gilles/Félix Guattari (1997): Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, 8. Aufl., Frankfurt/Main, S. 484 (Originalausgabe: L’Anti-Œdipe. Nouvelle édition augmentée, Paris: Éditions de Minuit, 1972). 3 Premierminister von Frankreich, 1969-72. 4 Anspielung auf die kindliche Heldin in Louis Malles Film Zazie dans le métro, 1960. 5 CGT: Conféderation génerale du travail (Gewerkschaft); PC: Parti communiste (Kommunistische Partei); CRS: Eingreiftruppe der Polizei. 6 Vgl. Foucault, Michel (2002): »Über die Volksjustiz. Eine Auseinandersetzung mit Maoisten«. In: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 2: 1970-1975, hg. v. Daniel Defert/François Ewald, Frankfurt/Main, S. 424-461 (Erstveröffentlichung: »Sur la justice populaire. Débat avec les Maos.« [Gespräch vom 5.2.1972]. In: Les Temps Modernes, Sonderheft »Nouveau Fascisme, Nouvelle Democratie« 27/310, 1972, S. 335-366). 7 Das Gesetz vom 1. Juli 1901 enthält Rahmenbedingungen für nichtprofitable Vereinigungen. 8 Soziologin, Bürgerrechtlerin, Mitglied der KP der USA; verbrachte 1970 wegen vermuteter Verbindungen zu den Black Panthers unschuldig zwei Jahre in Untersuchungshaft.

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Autorinnen und Autoren

Sigrid Baringhorst, Prof. Dr., Universität Siegen, Politikwissenschaft. Forschungsprojekt: »Protest- und Medienkulturen im Umbruch« im FK 615 Medienumbrüche, Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Mediale Konstruktionen von Solidarität, Politik und Konsum, Vergleichende Einwanderungs- und Integrationspolitik. Letzte Veröffentlichungen: zusammen mit Martina Ritter (Hg.), Geschlechterverhältnisse heute. Neue Konstellationen (= SOWI. Das Journal für Geschichte, Politik, Wirtschaft und Kultur, 34/3, 2005); »Soziale Integration durch politische Kampagnen? Gesellschaftssteuerung durch Inszenierung«. In: Lange, Stefan/Schimank, Uwe (Hg.), Governance und gesellschaftliche Integration. Lehrbuch Governance, Bd. 2, Wiesbaden 2004, S. 129-146; www.fb1.uni-siegen.de/polwiss/baringhorst.html. Matthias Bickenbach, Dr. phil., Privatdozent für Literatur- und Medienwissenschaft, Universität Köln. Forschungsschwerpunkte: Medienevolution, Poetik, Fotografietheorie. Letzte Veröffentlichungen: »Der Fälscher als Poetologe und Medientheoretiker. Ein Entwurf im außermoralischen Sinn über Michael Borns und Tom Kummers Werkstattberichte der Fernsehwirklichkeit«. In: Borg, Stefan/Gerhards, Claudia/Lambert, Bettina (Hg.), TV-Skandale, Konstanz 2005, S. 329-354; »Die Unsichtbarkeit des Medienwandels. Soziokulturelle Evolution der Medien am Beispiel der Fotografie«. In: Vosskamp, Wilhelm/Weingart, Brigitte (Hg.), Sichtbares und Sagbares. Text-BildVerhältnisse, Köln 2005, S. 105-140. Redakteur des Onlinemagazins www.ein seitig.info. Alexander Böhnke, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter der Medienwissenschaft an der Universität Konstanz. Letzte Veröffentlichungen: zusammen mit Jens Schröter (Hg.), Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung, Bielefeld 2004; zusammen mit Rembert Hüser/Georg Stanitzek (Hg.), Das Buch zum Vorspann, Berlin 2006; die Publikation der Dissertation Paratexte des Films. Verhandlungen des diegetischen Raums wird vorbereitet. Dietmar Dath, Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeine Zeitung. Letzte Veröffentlichungen: Die salzweißen Augen. Vierzehn Briefe über Drastik und Deutlichkeit, Frankfurt/Main 2005; Für immer in Honig, Berlin 2005. Gilles Deleuze, † 1995, ab 1969 Professor für Philosophie, Paris VIII. Einige der wichtigsten Veröffentlichungen in deutscher Übersetzung sind: Logik des Sinns, Frankfurt/Main 1989; Differenz und Wiederholung, München 1992; zusammen mit Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I,

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Frankfurt/Main 1974; zusammen mit Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin 1992; zusammen mit Félix Guattari: Was ist Philosophie?, Frankfurt/Main 1996. Gen Doy, PhD, Professorin für Geschichte und Theorie der Visual Culture, De Montfort Universität Leicester, GB. Forschungsschwerpunkte: Gender, Klasse und ›Rasse‹ in der Visual Culture von 1789 bis zur Gegenwart. Letzte Veröffentlichungen: Drapery: Classicism and Barbarism in Visual Culture, London 2002; Picturing the Self: Changing Views of the Subject in Visual Culture, London 2005; www.thinkingart.net. Nadja Gernalzick, Dr. phil., Privatdozentin für Amerikanistik an der Johannes Gutenberg Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Autobiographie transmedial, Dekonstruktion und französischer Poststrukturalismus in den U.S.A., Kanadistik. Letzte Veröffentlichungen: »From Classical Dichotomy to Differantial Contract: The Derridean Integration of Monetary Theory«. In: Bracker, Nicole/Herbrechter, Stefan (Hg.), Metaphors of Economy, Amsterdam, New York 2005, S. 55-67. »Gender, Globalisierungsdiskurs, globale Identität? Nordamerikanische filmische Autobiographie von Frauen: Joyce Chopra, Mitch McCabe, Marilú Mallet, Nadine Shamounki«. In: von Bardeleben, Renate/Plummer, Patricia (Hg.), Gender und Globalisierung, Tübingen 2006 (im Druck); www.amerikanistik.uni-mainz.de. Félix Guattari, † 1992, Psychiater und Philosoph und einer der Wortführer der antipsychiatrischen Bewegung. Einige der wichtigsten Veröffentlichungen in deutscher Übersetzung sind: Ästhetik und Maschinismus, hg. v. Henning Schmidgen, Berlin 1995; zusammen mit Gilles Deleuze: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt/Main 1974; zusammen mit Gilles Deleuze: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin 1992; zusammen mit Gilles Deleuze: Was ist Philosophie?, Frankfurt/Main 1996. Niklas Hebing, Studium der Philosophie und Germanistik an den Universitäten Bochum, Duisburg-Essen und Paris. Forschungsschwerpunkte: Klassische Deutsche Philosophie, Ästhetik, Kritische Theorie, Gegenwartsliteratur. Letzte Veröffentlichungen: »Zu den Begriffen Glück und Glückseligkeit in Hegels Rechtsphilosophie«. In: Ohligschläger, Nina/Hebing, Niklas/Scherer, Georg/ Heindrichs, Ursula: Texelgespräche 1, Oberhausen 2004, S. 37-56; »›Wer schreibt von dir ab, Kollege?‹ – Intertextualität in Peter Wawerzineks Roman ›NIX‹«. In: Erb, Andreas (Hg.), Peter Wawerzinek. Von Mecklenburg zum Prenzlauer Berg, Essen 2005, S. 139-158; [email protected].

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Simon Holler, studierte Medienplanung, -entwicklung und -beratung an der Universität Siegen und spezialisierte sich dabei auf den Bereich internationale Medienpolitik und -systeme. Nach einem längeren Auslandsaufenthalt an der University of Manchester und dem erfolgreichen Abschluss des Studiums als Diplom-Medienwirt im September 2005 ist er derzeit als Media Research Associate bei Forrester Research in Amsterdam tätig. Christian Jäger, Dr. phil., Privatdozent für Neuere Deutsche Literatur am Institut für Deutsche Literatur der Humboldt Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Literatur um 1800, Weimarer Republik, Gegenwartsliteratur, Ästhetik und Literaturtheorie. Letzte Veröffentlichungen: Gilles Deleuze – Eine Einführung, München 1997; zusammen mit Erhard Schütz: Städtebilder zwischen Literatur und Journalismus, Wien, Berlin und das Feuilleton der Weimarer Republik, Wiesbaden 1999; Minoritäre Literatur. Das Konzept der kleinen Literatur am Beispiel prager- und sudetendeutscher Werke, Wiesbaden 2005. Klaus Kreimeier, Prof. em. Dr., Medienwissenschaft, Universität Siegen (1997-2004). Forschungsprojekt: »Industrialisierung der Wahrnehmung« im FK 615 Medienumbrüche, Universität Siegen. Letzte Veröffentlichungen: zusammen mit Peter Zimmermann (Hg.), Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland, 3 Bd., Stuttgart 2005; www.kreimeier-online.de. Rainer Leschke, Prof. Dr., Medienwissenschaft, Universität Siegen. Forschungsprojekt: »Mediennarrationen und Medienspiele« im FK 615 Medienumbrüche, Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Medienwissenschaft, Medientheorie, Medienethik, Medienästhetik. Letzte Veröffentlichungen: Einführung in die Medientheorie, München 2003; »Medien als moralische Anstalt«. Quadratur. Kulturbuch 5/1: Medien 2004, S. 38-44; »Negative Repräsentation. Zur Funktion der Metaphern des Ökonomischen in der Ästhetik«. In: Wegmann, Thomas (Hg.), Markt. Literarisch, Bern u.a. 2005, S. 21-42. Oliver Marchart, Dr. phil., PhD, Universität Basel, Institut für Medienwissenschaft. Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Medientheorie, Politische Theorie. Letzte Veröffentlichungen: Techno-Kolonialismus. Theorie und imaginäre Kartographie von Kultur und Medien, Wien 2004; Neu beginnen. Hannah Arendt, die Revolution und die Globalisierung, Wien 2005. Daniel Müller, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter des Teilprojekts »Mediale Integration von ethnischen Minderheiten« im FK 615 Medienumbrüche, Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Massenmedien und ethnische Minderheiten, Sowjetische Nationalitätenpolitik, Pressegeschichte. Letzte Veröffentlichungen: »Die Darstellung ethnischer Minderheiten in deutschen

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Massenmedien«. In: Geißler, Rainer/Pöttker, Horst (Hg.), Massenmedien und die Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland. Problemaufriss – Forschung – Bibliographie, Bielefeld 2005, S. 83-126; »Die Mediennutzung der ethnischen Minderheiten«. In: Geißler, Rainer/Pöttker, Horst (Hg.), Massenmedien und die Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland. Problemaufriss – Forschung – Bibliographie, Bielefeld 2005, S. 359-387; www.journalis tik-dortmund.de/html/personen/mueller/index.htm. Rolf F. Nohr, Dr. phil., Juniorprofessor für Medienkultur an der HBK Braunschweig. Forschungsschwerpunkte: mediale Evidenzverfahren, game studies und instantane Bilder. Herausgeber der Reihe Medien´Welten, Münster. Letzte Veröffentlichungen: (Hg.), Evidenz – das sieht man doch!, Münster 2004; zusammen mit Britta Neitzel/Matthias Bopp (Hg.), ›See? I’m real …‹. Multidisziplinäre Zugänge zum Computerspiel am Beispiel von ›Silent Hill‹, Münster 2005; zusammen mit Meike Kröncke/Barbara Lauterbach (Hg.), Polaroid als Geste – über die Gebrauchsformen einer fotografischen Praxis, Stuttgart 2005; www.nuetzliche-bilder.de. Claus Peter Ortlieb, Prof. Dr., Universität Hamburg, Fachbereich Mathematik. Forschungsschwerpunkte: Mathematische Modellierung und Simulation, Methoden- und Wissenschaftskritik. Letzte Veröffentlichungen: zusammen mit Jörg Ulrich: »Quantenquark: Über ein deutsches Manifest. Eine kritische Stellungnahme zu ›Potsdamer Manifest‹ und ›Potsdamer Denkschrift‹«. Frankfurter Rundschau, 28.10.2005 (gekürzte Fassung), vollständige Fassung unter www.exit-online.org; »Marktmärchen. Zur Kritik der neoklassischen Volkswirtschaftslehre und ihres Gebrauchs mathematischer Modelle«. EXIT! Krise und Kritik der Warengesellschaft, 1, 2004, S. 166-183; »Methodische Probleme und methodische Fehler der mathematischen Modellierung in der Volkswirtschaftslehre«. Mitteilungen der Mathematischen Gesellschaft in Hamburg XXIII/1, 2004, S. 5-28; www.math.uni-hamburg.de/home/ortlieb. Leander Scholz, Dr. phil., Schriftsteller und wissenschaftlicher Mitarbeiter am FK 427 Medien und kulturelle Kommunikation der Universitäten Köln, Bonn, Bochum und Aachen. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Geschichte der Medien und Politische Philosophie. Letzte Veröffentlichungen: Das Archiv der Klugheit. Strategien des Wissens um 1700, Tübingen 2002; zusammen mit Petra Löffler (Hg.), Das Gesicht ist eine starke Organisation, Köln 2004; zusammen mit Albert Kümmel/Eckhard Schumacher (Hg.), Einführung in die Geschichte der Medien, München 2004; »›Heiliger Sokrates, bitte für uns!‹ – Simulation und Buchdruck«. In: Fohrmann, Jürgen (Hg.), Gelehrte Kommunikation. Wissenschaft und Medium zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert, Wien, Köln, Weimar 2005, S. 23-128.

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Jens Schröter, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt »Virtualisierung von Skulptur. Rekonstruktion, Präsentation, Installation« des FK 615 Medienumbrüche, Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Geschichte digitaler Medien, Digitale Kunst, Theorie und Geschichte der Fotografie, Dreidimensionale Bilder, Intermedialität. Letzte Veröffentlichungen: Das Netz und die Virtuelle Realität. Zur Selbstprogrammierung der Gesellschaft durch die universelle Maschine, Bielefeld 2004; zusammen mit Alexander Böhnke (Hg.), Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung, Bielefeld 2004; zusammen mit Gundolf Winter/Christian Spies (Hg.), Skulptur – Zwischen Realität und Virtualität, München 2006; www.theorie-der-medien.de. Gregor Schwering, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter des Teilprojekts »Mediendynamik. Prinzipien und Strategien der Fusion und Differenzierung von Medien« am Forschungskolleg FK 615 Medienumbrüche, Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Literatur- und Medientheorie. Arbeitet derzeit an einem Projekt zu Leiblichkeit und Narration im 18. und 19. Jahrhundert. Letzte Veröffentlichungen: zusammen mit Helmut Schanze/Gebhard Rusch, Theorien der Neuen Medien, München 2006. Urs Stäheli, Prof. Dr., Universität Basel, Institut für Soziologie. Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie, Medien- und Kultursoziologie, Wirtschaftssoziologie, historische Soziologie, visuelle Soziologie, Diskurstheorieund -analyse, politische Theorie. Letzte Veröffentlichungen: Sinnzusammenbrüche. Eine dekonstruktive Lektüre von Niklas Luhmanns Systemtheorie, Weilerswist 2000; Poststrukturalistische Soziologien, Bielefeld 2000. Markus Stauff, Dr. phil., arbeitet am Forschungskolleg FK 427 Medien und kulturelle Kommunikation der Universitäten Köln, Bonn, Bochum und Aachen an einem Teilprojekt zum Thema Gesichterpolitiken/Fernsehsport. Letzte Veröffentlichungen: ›Das neue Fernsehen‹. Machtanalyse, Gouvernementalität und digitale Medien, Münster 2005; zusammen mit Daniel Gethmann (Hg.), Politiken der Medien, Berlin 2005. Sven Strasen, Dr. phil., Institut für Anglistik (Literaturwissenschaft), RWTH Aachen. Forschungsschwerpunkte: Kognitive und pragmatische Rezeptionstheorie, Narratologie, zeitgenössischer britischer und irischer Roman. Letzte Veröffentlichungen: »Zur Analyse der Erzählsituation und der Fokalisierung«. In: Wenzel, Peter (Hg.), Einführung in die Erzähltextanalyse: Kategorien, Modelle, Probleme, Trier 2004, S. 111-140; zusammen mit Peter Wenzel: »Die Detektivgeschichte im 19. und im frühen 20. Jahrhundert«. In: Löffler, Arno/Späth, Eberhard (Hg.), Geschichte der englischen Kurzgeschichte, Tübingen, Basel

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Media Marx. Ein Handbuch 404 Autorinnen und Autoren

2005, S. 84-105; http://www.anglistik.rwth-aachen.de/lang_de/lehrstuehle/ anglistik1/personal/sstrasen.php. Jochen Venus, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt »Mediennarrationen und Medienspiele« des FK 615 Medienumbrüche, Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Analyse medien- und kulturtheoretischer Paradigmen, Medienmorphologie, Tendenzen des Gegenwartskinos und des Computerspiels. Letzte Veröffentlichungen: Masken der Semiose. Zur kritischen Konstitution medialer Grundbegriffe (in Vorbereitung); »Kontrolle und Entgrenzung. Überlegungen zur ästhetischen Kategorie des Experiments«. In: Krause,Marcus/Pethes, Nicolas (Hg.), Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert, Würzburg 2005, S. 19-41. Otto Karl Werckmeister, Prof. em. Dr., langjährige Forschungstätigkeit am Warburg-Institut in London und am Deutschen Archäologischen Institut in Madrid. Seit 1965 an der University of California, Los Angeles und seit 1984 an der Northwestern University in Evanston, Illinois. Lebt seit seiner Emeritierung 2001 in Berlin. Letzte Veröffentlichungen: Das surrealistische Kriegsbild bei Max von Moos, Zürich 2005; Der Medusa Effekt: politische Bildstrategien seit dem 11. September 2001, Berlin 2005; Icons of the Left: Benjamin and Eisenstein, Picasso and Kafka after the Fall of Communism, Chicago u.a. 1999.

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