Behinderung: Kulturwissenschaftliches Handbuch [1. Aufl.] 9783476057372, 9783476057389

Das Phänomen ‚Behinderung‘ erfährt spätestens seit der 2006 verabschiedeten UN-Behindertenrechtskonvention verstärkt int

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Behinderung: Kulturwissenschaftliches Handbuch [1. Aufl.]
 9783476057372, 9783476057389

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-VIII
Gegenstand und Aufbau des Handbuchs (Susanne Hartwig)....Pages 1-6
Front Matter ....Pages 7-7
Einleitung: Vorstellungen von Behinderung in Praxis und Theorie (Susanne Hartwig)....Pages 9-12
Definitionen und Klassifikationen (Marianne Hirschberg)....Pages 13-18
Disability Studies als kritische kulturwissenschaftliche Perspektive (Kerstin Rathgeb)....Pages 19-27
Soziologie, Kulturwissenschaften, Behinderung (Jörg Michael Kastl)....Pages 28-38
Barrierefreiheit (Christiane Maaß, Isabel Rink)....Pages 39-43
Bildung (Raphael Zahnd, Michelle Proyer)....Pages 44-48
Arbeitswelt (Dieter Kulke)....Pages 49-54
Familie und Partnerschaft (Birgit Behrisch)....Pages 55-58
Lebenswelt (Iris Beck)....Pages 59-62
Soziale Identität (Reinhard Markowetz)....Pages 63-69
Eugenik (Britta-Marie Schenk)....Pages 70-73
Prothesen und Cyborgs (Moritz Ingwersen)....Pages 74-78
Sport (Sebastian Schlund)....Pages 79-83
Separation/Segregation (Robert Schneider-Reisinger)....Pages 84-86
Teilhabe und Inklusion (Dieter Kulke)....Pages 87-93
Literatur in einfacher Sprache (Cornelia Rosebrock)....Pages 94-99
Deutung in den Religionen (Matthias Heesch)....Pages 100-106
Lebensschutz (Monika Bobbert)....Pages 107-113
Gerechtigkeit (Franziska Felder)....Pages 114-118
Selbstsorge und Fürsorge (Elisabeth Conradi)....Pages 119-124
Das gute Leben (Jörn Müller)....Pages 125-131
Front Matter ....Pages 133-133
Einleitung: Geschichte der Vorstellungen von Behinderung (Susanne Hartwig)....Pages 135-137
Griechisch-römische Antike (Lukas Thommen)....Pages 138-140
Mittelalter, Frühe Neuzeit (Bianca Frohne)....Pages 141-144
Zeitalter der Aufklärung (Patrick Schmidt)....Pages 145-148
Industrialisierung (Johannes Schädler)....Pages 149-154
Ende des 19. Jahrhunderts bis Mitte des 20. Jahrhunderts (Ulrike Winkler)....Pages 155-160
Behindertenbewegungen ab den 1960er Jahren (Gabriele Lingelbach)....Pages 161-165
Gegenwart (Dieter Kulke)....Pages 166-171
Indigene Kulturen Lateinamerikas (Anna Meiser)....Pages 172-176
China und Japan (Sven Degenhardt, Wiebke Gewinn, Hisae Tsuda-Miyauchi, Yuexin Zhang)....Pages 177-181
Kanada (Joachim Schroeder)....Pages 182-186
Behinderung im Globalen Süden (Michael Boecker)....Pages 187-190
Deaf History: Klöster im 16. Und 17. Jahrhundert (Agnes Villwock)....Pages 191-194
Blindheit (Matthias Reiß)....Pages 195-200
Geistige Behinderung (Oliver Musenberg)....Pages 201-204
Bewegung der Psychiatrieerfahrenen (c/s/x-movement) (Burkhart Brückner)....Pages 205-209
Kriegsbeschädigte in Deutschland im 20. Jahrhundert (Klaus-Dieter Thomann)....Pages 210-215
Front Matter ....Pages 217-217
Einleitung: Kulturelle Perspektiven (Susanne Hartwig)....Pages 219-221
Schmerz, Körper, Materialität (Markus Dederich)....Pages 222-228
Normalität, Alterität und Anerkennung (Simone Danz)....Pages 229-236
Stereotype und Imaginationen (Frank Asbrock)....Pages 237-240
Ambivalenz und Kontingenz (Susanne Hartwig)....Pages 241-247
Komik und Behinderung (Jörg Michael Kastl)....Pages 248-254
Intersektionalität und Diversität (Margrit E. Kaufmann)....Pages 255-258
Behinderung und Geschlecht (Mechthild Bereswill)....Pages 259-264
Behinderung und Armut/Unterentwicklung (Dieter Kulke)....Pages 265-268
Behinderung und Alter (Dagmar Gramshammer-Hohl)....Pages 269-276
Behinderung, Migration und Flucht (Donja Amirpur)....Pages 277-281
Stigma, Tabu und Behindertenfeindlichkeit am Beispiel der Medien (Alexander Röhm, Ute Ritterfeld)....Pages 282-288
Soziale Medien und Netzwerke (Anne Haage)....Pages 289-296
Kontaktzonen (Fabian van Essen)....Pages 297-301
Werbung (Miriam Becker)....Pages 302-304
Front Matter ....Pages 305-305
Einleitung: Behinderung in Kunst und Literatur (Susanne Hartwig)....Pages 307-312
Malerei und bildende Kunst (Georg Theunissen)....Pages 313-317
Dis/ability Art, Art about Dis/ability (Nina Eckhoff-Heindl)....Pages 318-320
Fotografie (Anna Grebe)....Pages 321-325
Comics, Graphic Novels, Graphic Memoirs (Christina Maria Koch, Daniel Stein, Lukas Etter)....Pages 326-333
Roman (Urte Helduser)....Pages 334-342
Märchen und andere Volkserzählungen (Hans-Jörg Uther)....Pages 343-346
Schwankerzählungen (Sonja Kerth)....Pages 347-351
Kinder- und Jugendliteratur (Gabriele von Glasenapp)....Pages 352-356
(Auto-)Biographie und Erfahrungsbericht (Berit Callsen)....Pages 357-364
Lyrik und Lied (Sonja Klimek)....Pages 365-373
Musik (Laura Blauth, Thomas Wosch)....Pages 374-379
Gebärdensprachpoesie (Tomas Vollhaber)....Pages 380-382
Theater und Performance (Benjamin Wihstutz)....Pages 383-392
Spielfilm (Christian von Tschilschke)....Pages 393-403
Dokumentarfilm (Susanne Hartwig)....Pages 404-414
Fernsehserien (Herbert Schwaab)....Pages 415-422
Künstlerische Videoarbeiten (Robert Stock)....Pages 423-428
Rezeption (Matei Chihaia)....Pages 429-433
Back Matter ....Pages 435-444

Citation preview

Susanne Hartwig (Hg.)

Behinderung Kulturwissenschaftliches Handbuch

Susanne Hartwig (Hg.)

Behinderung

Kulturwissenschaftliches Handbuch

J. B. Metzler Verlag

Die Herausgeberin

Susanne Hartwig ist Professorin für Romanische Literaturund Kulturwissenschaft an der Universität Passau.

ISBN 978-3-476-05737-2 ISBN 978-3-476-05738-9 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten.

Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Umschlagabbildung: © dieKleinert / Thure Röttger / mauritius images J. B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Inhalt

Vorwort  VII

1 Gegenstand und Aufbau des Handbuchs  Susanne Hartwig  1 I Vorstellungen von ­Behinderung in Praxis und Theorie 2 Einleitung: Vorstellungen von Behinderung in Praxis und Theorie  Susanne Hartwig  9 A Definitionen und Konzepte

3 Definitionen und Klassifikationen  Marianne Hirschberg 13 4 Disability Studies als kritische kulturwissenschaftliche Perspektive  Kerstin Rathgeb  19 5 Soziologie, Kulturwissenschaften, Behinderung  Jörg Michael Kastl  28 B Allgemeine soziale Praxis

6 Barrierefreiheit  Christiane Maaß /  Isabel Rink  39 7 Bildung  Raphael Zahnd / Michelle Proyer  44 8 Arbeitswelt  Dieter Kulke  49 9 Familie und Partnerschaft  Birgit Behrisch  55 10 Lebenswelt  Iris Beck  59 11 Soziale Identität  Reinhard Markowetz  63 C Gesellschaftlicher Umgang mit Behinderung

12 Eugenik  Britta-Marie Schenk  70 13 Prothesen und Cyborgs  Moritz Ingwersen  74 14 Sport  Sebastian Schlund  79 15 Separation/Segregation  Robert Schneider-Reisinger  84 16 Teilhabe und Inklusion  Dieter Kulke  87 17 Literatur in einfacher Sprache  Cornelia Rosebrock  94

D Normative Vorstellungen von Behinderung

18 Deutung in den Religionen  Matthias Heesch  100 19 Lebensschutz  Monika Bobbert  107 20 Gerechtigkeit  Franziska Felder  114 21 Selbstsorge und Fürsorge  Elisabeth Conradi  119 22 Das gute Leben  Jörn Müller  125 II Geschichte der ­Vorstellungen von Behinderung

23 Einleitung: Geschichte der Vorstellungen von Behinderung  Susanne Hartwig  135 A Konzepte von Behinderung in Europa und in den USA

24 Griechisch-römische Antike  Lukas Thommen  138 25 Mittelalter, Frühe Neuzeit  Bianca Frohne  141 26 Zeitalter der Aufklärung  Patrick Schmidt  145 27 Industrialisierung  Johannes Schädler  149 28 Ende des 19. Jahrhunderts bis Mitte des 20. Jahrhunderts  Ulrike Winkler  155 29 Behindertenbewegungen ab den 1960er Jahren  Gabriele Lingelbach  161 30 Gegenwart  Dieter Kulke  166 B Konzepte von Behinderung außerhalb Europas und der USA

31 Indigene Kulturen Lateinamerikas  Anna Meiser  172 32 China und Japan  Sven Degenhardt /  Wiebke Gewinn / Hisae Tsuda-Miyauchi /  Yuexin Zhang  177 33 Kanada  Joachim Schroeder  182 34 Behinderung im Globalen Süden  Michael Boecker  187

VI

Inhalt

C Geschichte spezifischer Behinderungen

35 Deaf History: Klöster im 16. und 17. Jahrhundert  Agnes Villwock  191 36 Blindheit  Matthias Reiß  195 37 Geistige Behinderung  Oliver Musenberg  201 38 Bewegung der Psychiatrieerfahrenen (c/s/x-movement)  Burkhart Brückner  205 39 Kriegsbeschädigte in Deutschland im 20.  Jahrhundert  Klaus-Dieter Thomann  210 III Kulturwissenschaftliche Themenfelder 40 Einleitung: Kulturelle Perspektiven  Susanne Hartwig  219 A Bezugsrahmen

41 Schmerz, Körper, Materialität  Markus Dederich  222 42 Normalität, Alterität und Anerkennung  Simone Danz  229 43 Stereotype und Imaginationen  Frank Asbrock  237 44 Ambivalenz und Kontingenz  Susanne Hartwig  241 45 Komik und Behinderung  Jörg Michael Kastl  248 B Überschneidungsbereiche

46 Intersektionalität und Diversität  Margrit E. Kaufmann  255 47 Behinderung und Geschlecht  Mechthild Bereswill  259 48 Behinderung und Armut/Unterentwicklung  Dieter Kulke  265 49 Behinderung und Alter  Dagmar Gramshammer-Hohl  269 50 Behinderung, Migration und Flucht  Donja Amirpur  277 C Inklusion und Exklusion

51 Stigma, Tabu und Behindertenfeindlichkeit am Beispiel der Medien  Alexander Röhm /  Ute Ritterfeld  282

52 Soziale Medien und Netzwerke  Anne Haage  289 53 Kontaktzonen  Fabian van Essen  297 54 Werbung  Miriam Becker  302 IV Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur 55 Einleitung: Behinderung in Kunst und Literatur  Susanne Hartwig  307 56 Malerei und bildende Kunst  Georg Theunissen  313 57 Dis/ability Art, Art about Dis/ability  Nina Eckhoff-Heindl  318 58 Fotografie  Anna Grebe  321 59 Comics, Graphic Novels, Graphic Memoirs  Christina Maria Koch / Daniel Stein /  Lukas Etter  326 60 Roman  Urte Helduser  334 61 Märchen und andere Volkserzählungen  Hans-Jörg Uther  343 62 Schwankerzählungen  Sonja Kerth  347 63 Kinder- und Jugendliteratur  Gabriele von Glasenapp  352 64 (Auto-)Biographie und Erfahrungsbericht  Berit Callsen  357 65 Lyrik und Lied  Sonja Klimek  365 66 Musik  Laura Blauth / Thomas Wosch  374 67 Gebärdensprachpoesie  Tomas Vollhaber  380 68 Theater und Performance  Benjamin Wihstutz  383 69 Spielfilm  Christian von Tschilschke  393 70 Dokumentarfilm  Susanne Hartwig  404 71 Fernsehserien  Herbert Schwaab  415 72 Künstlerische Videoarbeiten  Robert Stock  423 73 Rezeption  Matei Chihaia  429 Anhang Autorinnen und Autoren  437 Personenregister  440

Vorwort Am 21. März 2019 – am Welt-Down-Syndrom-Tag – erscheint in Die Zeit ein Artikel zum Pränataltest (NIPD) (»Im Blut der Mutter«; die Autoren sind Ulrich Bahnsen und Martin Spiewak; https://www.zeit. de/2019/13/trisomie-21-praenataldiagnostik-schwan gerschaft-krankenkassen), in dem von einer »Fahndung nach kranken Kindern im Mutterleib – konkret: nach Babys mit Down-Syndrom« die Rede ist und der (in der Print-Ausgabe) in einem Kasten über »Krankheitssymptome« des Down-Syndroms informiert. Weiter heißt es, es gebe »keine Zweifel« am »Nutzen des Tests« und dass sich »die Betroffenen« (womit nicht die Menschen mit Down-Syndrom, sondern deren Eltern gemeint sind) die Frage stellen müssen: »Welches Leben ist für uns lebenswert?« Symptomatisch für Vorstellungsbilder von Behinderung ist an diesem Artikel vieles: zunächst die Vermischung von Behinderung und Krankheit und die damit einhergehende Pathologisierung eines Lebens mit Behinderung; dann die Übernahme der Perspektive Nicht-Behinderter (denn für Menschen mit DownSyndrom gibt es durchaus Zweifel am Nutzen des Tests); schließlich die Gleichsetzung von Behinderung mit Leid (auf die sich die Frage nach dem »lebenswerten Leben« bezieht). Kurzum: Behinderung ist a priori ein Problem und nicht vielmehr – unspektakulär – die körperlich-geistige Voraussetzung eines Kindes, die spezifische Anforderungen an seine Umwelt stellt. Der Artikel vertuscht zudem einen gewichtigen Unterschied, auf den Neubert/Cloerkes in ihrem immer noch aktuellen Kulturvergleich von 1987 hinweisen: der zwischen Behinderung als abstraktem Sachverhalt und Behinderung als Besonderheit eines konkreten Menschen (Dieter Neubert/Günther Cloerkes: Behinderung und Behinderte in verschiedenen Kulturen. Eine vergleichende Analyse ethnologischer Studien. Heidelberg 1987, 92–93). Von besonders subtiler Wirkung ist des Weiteren die implizit bleibende Behauptung des Zeit-Artikels, dass das ›Problem Down-Syndrom‹ den Eltern zugerechnet werden muss: Diese sollen (und können das of-

fensichtlich auch) entscheiden (und tragen das Risiko dieser Entscheidung) über ein ›lebenswertes Leben‹. Nirgends wird von Verantwortung gesprochen, die auch die Gesellschaft für ihre Mitglieder mit DownSyndrom übernehmen könnte – und das im Jahr 13 nach der Verabschiedung der »UN Behindertenrechtskonvention«, der ersten Menschenrechtskonvention des 21. Jahrhunderts. Für eine kulturwissenschaftliche Perspektive aufschlussreich ist an dem Zeit-Artikel schließlich auch die seltsam unerklärt bleibende Ambivalenz, die das Zusammenspiel von Text und Bebilderung erzeugt (die für Darstellungen von Behinderung im öffentlichen Diskurs allerdings typisch ist): Über dem Artikel mit seiner selbstsicher auf Selbstbestimmung der Eltern abzielenden Wortwahl prangt überraschend das an Madonnen-Ikonographie erinnernde Foto einer Mutter, die liebevoll-zärtlich ihr Baby mit DownSyndrom auf dem Arm hält, so als bemühten sich die Autoren, auf jeden Fall auch die sozial geforderte Akzeptanz von Menschen mit Behinderung zu bedienen – freilich ohne sie im Artikel aufzunehmen. Der ZeitArtikel zeigt, wie viele andere Texte z. B. in Debatten um Pränataldiagnostik oder Inklusion, dass eine Darstellung der Vorstellungsbilder von Behinderung bzw. der Entstehungskontexte und Konsequenzen derselben dringend geboten ist. Angesichts aktueller technischer und medizinischer Fortschritte gewinnen solche Vorstellungsbilder nämlich eine neuartige Brisanz, wenn sie z. B. Heuristiken für komplexe Entscheidungsfindungen liefern. Für weitergehende Forschungen zu Vorstellungsbildern von Behinderung möchte das vorliegende Handbuch eine systematische Grundlage liefern, die speziell für den deutschsprachigen Raum überfällig ist. Kompakt stellt es unterschiedliche Thematisierungen von Behinderung und damit unterschiedliche kulturelle und disziplinäre Kontexte vor. Aufgrund zeitlicher und räumlicher Grenzen musste es bereits in seiner Anlage Kompromisse schließen, z. B. gut strukturierte neben schwächer strukturierte Forschungsfelder stel-

VIII

Vorwort

len oder allgemeine neben spezifische Ansätze, die mitunter sehr eng auf Einzeldisziplinen oder wenige Weltregionen zugeschnitten sind. Das Handbuch beschreibt ein Forschungsfeld, das bislang ungleichmäßig intensiv bearbeitet wurde, so dass in einigen Bereichen erst wenige Einzelanalysen vorliegen, während andere auf umfassendere Studien aufbauen können. Speziell für kulturwissenschaftliche Fragestellungen existieren bislang kaum disziplinenübergreifende Theorien und Modelle, die auf die Thematik ›Behinderung‹ zugeschnitten sind. Das Handbuch richtet sich an Literatur- und Kulturwissenschaftler*innen sowie an Menschen, die in der Behindertenarbeit tätig sind. Es kann sowohl als Einführung in Einzelaspekte als auch zur Vertiefung kulturwissenschaftlicher Ansätze zur Beschreibung des Phänomens ›Behinderung‹ genutzt werden. Die Interdisziplinarität war eine besondere Herausforderung. Anders als bei der Präsentation eines einzigen disziplinären Feldes muss das vorliegende Handbuch unterschiedliche Perspektiven und Schwerpunktsetzungen sichtbar machen, wobei jede Disziplin diese auf ihre eigene Weise hierarchisiert und systematisiert. Einzelbeiträge können daher nicht alle disziplinären Unterscheidungen gleichermaßen detailliert zur Darstellung bringen und bleiben bis zu einem gewissen Grad durch die eigene disziplinäre Sichtweise

begrenzt. Von seinem Ansatz her ist das Handbuch aus der Perspektive der Literatur-, Theater- und Filmwissenschaften gedacht, die infolge ihrer intensiven Beschäftigung mit (v. a. fiktionalen) Möglichkeitswelten beständig Metaperspektiven einnehmen müssen, um das Bestehende – auch die eigene bestehende wissenschaftliche Überzeugung – zu hinterfragen und ggf. zu revidieren. Es lädt ein, sich auf fremde Perspektiven einzulassen, d. h. auf das komplizierte, an Missverständnissen reiche, aber doch kreative Tagesgeschäft der Interdisziplinarität. Ich danke allen Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge und für eine oft Geduld erfordernde Zusammenarbeit. Besonderen Dank schulde ich meinem Kollegen Dieter Kulke (Würzburg-Schweinfurt) für zahlreiche erhellende Gespräche sowie dafür, dass er die Mühe einer kritischen Lektüre aller Einleitungskapitel auf sich genommen hat. Besonders herzlich bedanke ich mich bei meiner Lektorin vom MetzlerVerlag, Ute Hechtfischer, die mich von der Idee bis zum fertigen Buch engagiert unterstützt und beraten hat. Des Weiteren gebührt Petra Millies-Bald und Alexandra Schäfer Dank für Mithilfe bei der Endredaktion. Ein herzlicher Dank geht schließlich an alle, die mir Zeit und Raum für das Projekt gewährt haben und es inspirierten, in erster Linie an meinen Mann Norbert Rump und meine beiden Kinder.

1 Gegenstand und Aufbau des Handbuchs 1.1 Perspektive des Handbuchs »Annahmen zu entdecken, die unsere Meinungen untermauern« – dies bezeichnet die Leiterin des Einstein Forums in Potsdam, Susan Neiman, als die Aufgabe der Philosophie (Neiman 2017, 51) – es ist auch die Kernaufgabe der Kulturwissenschaften. Gerade dort, wo sie sehr versteckt sind, wirken implizite Überzeugungen besonders natürlich. Dass dies konkrete Folgen haben kann für Menschen, die landläufig als ›behindert‹ bezeichnet werden, zeigt sich z. B. beim Ausbruch der Corona-Pandemie im Jahr 2020. In ihrem März-Newsletter 2020 prangert die Initiative ›Inklusions-Pegel‹ des Vereins ›mittendrin‹ an, dass Informationsangebote der Bundesregierung gehörlosen Menschen zunächst nicht zugänglich waren, dass das komplexe Konstrukt von Behinderten-WGs bei Bedarfsermittlungen nicht wahrgenommen wurde und dass Förderschulen in einigen Bundesländern nicht zusammen mit Regelschulen schlossen. Die Angstvorstellung, die diese Vernachlässigung schürt, ist, dass wirkmächtige Vorstellungen das Leben von Menschen mit Behinderung immer noch als minderwertig ansehen: »[Solche Bilder] beeinflussen menschliche Entscheidungen und mischen auch dort immer mit, wo vorgeblich völlig rational gehandelt wird. Menschen mit Behinderung kennen diesen Mechanismus und er macht ihnen Angst. Denn wenn Ärzte in Extremsituationen unter Zeitdruck komplizierte und belastende Entscheidungen treffen müssen, ist das gesellschaftliche Bild vom Leid der Behinderung immer präsent. Es kann der letzte Anstoß sein, einem Patienten mit Behinderung knappe Behandlungsressourcen vorzuenthalten und sie statt dessen einem anderen Patienten zuzuteilen.« (»Eule«)

Vorstellungsbilder von Behinderung haben Auswirkungen auf Handlungsoptionen von Individuen, auf die soziale Organisation und auf gesellschaftliche Entscheidungen.

Seit der Verabschiedung der »UN Convention on the Rights of Persons with Disabilities« aus dem Jahr 2006 erfährt das Phänomen Behinderung verstärkt gesellschaftliche Aufmerksamkeit. Weltweit wird insbesondere anhand des Schlagwortes ›Inklusion‹ über den Umgang mit stigmatisierter Abweichung diskutiert. Der Begriff ›Behinderung‹ und die mit ihm verbundenen Konzepte sind dabei umstritten wie nie zuvor, was als Zeichen für einen Umbruch in Wahrnehmungs- und Denkmustern gewertet werden kann. Das vorliegende Handbuch zeichnet aus zahlreichen disziplinären Perspektiven nach, wie die Unterscheidung ›behindert‹/›nicht behindert‹ in verschiedenen Kulturen hergestellt wird: durch Sprache und Kommunikation, Handlungen, Repräsentationen und wissenschaftliche Forschung, aber auch durch Verschweigen und Tabuisieren, über Diskurse genauso wie über »praktisch vollzogene, körperlich und situativ materialisierte sowie institutionell geronnene ›RealEssentialisierungen‹«, wie Hirschauer (2014, 188) allgemein über Humandifferenzierungen schreibt. Die Beiträge des Handbuchs folgen also einem bedeutungsorientierten, sozialkonstruktivistischen, kulturwissenschaftlichen Verständnis von Behinderung, bei dem es immer um beides, sowohl um Diskurse als auch um Praktiken, sowohl um Strukturen als auch um Subjekte geht (zu diesen kulturtheoretischen Optionen vgl. Reckwitz 2004). Das Konzept ›Behinderung‹ steht in engem Zusammenhang mit kulturellen Ordnungsmustern, die Wahrnehmungs-, Interpretations- und Handlungsfolien bereitstellen (vgl. Dederich 2009, 37). Es ist an historische, juristische, wirtschaftliche usw., an strukturelle, aber auch an individuelle Kontexte gebunden. Abweichungen von erwartetem menschlichen Aussehen oder Verhalten, die nur schwer oder überhaupt nicht in die gewohnten sozialen Kommunikationsund Handlungsabläufe integriert werden können, fordern soziale Gemeinschaften dazu heraus, den Umgang mit ihnen zu regeln, d. h. sie praktisch und symbolisch mit Bedeutung zu versehen. Neben kulturspezifischen Varianten gibt es dabei auch kulturübergreifende Konstanten. Kulturelle Bedeutungen von Behinderung und Strategien zu ihrer Bewältigung lassen Rückschlüsse allgemeinerer Art zu, etwa wie das Verhältnis »von Natur

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_1

2

1  Gegenstand und Aufbau des Handbuchs

und Kultur, von Realismus und Konstruktivismus, von Individuum und Gesellschaft, von Körper und Leib oder von Materie und Diskurs« (Musenberg 2013, 14) aufgefasst wird. Mit ihren grundlegenden Fragen zur Konstruktion des Eigenen und des Fremden, zu sozialen Ein- und Ausschlussmechanismen, zur Funktion kultureller Normierungen oder, noch allgemeiner: zur Konzeption des Menschen – Behinderung als »a critical resource for thinking about what a human being is« (Siebers 2010, 3) –, erarbeiten kulturwissenschaftliche Studien zu Behinderung Grundlagenwissen für die unterschiedlichsten Einzeldisziplinen und profitieren ihrerseits von deren bereichsspezifischen Erkenntnissen. Johnson/McRuer (2014) sprechen von cripistemology, also der Konzeption von Behinderung als kritischem Werkzeug zur Erforschung einer Kultur im Allgemeinen. In der Bundesrepublik Deutschland etabliert sich etwa der Begriff ›Behinderung‹ als Kategorie erst 1961 im Sozialrecht und entwickelt sich durch Ulrich Bleidicks Kompendium Pädagogik der Behinderten, das 1972 erscheint (Moser 2009, 174). Bis zum Ersten Weltkrieg waren hingegen Bezeichnungen für spezifische Behinderungen gebräuchlich, wie ›Krüppel‹ und ›Idioten‹ (vgl. Musenberg 2013, 11). Aktuell ist in der deutschen Sprache ›behindert‹ in bestimmten sozialen Kreisen (vor allem bei Kindern und Jugendlichen) ein Schimpfwort, das synonym zu ›blöd‹ benutzt wird. Diese Beobachtungen lassen Rückschlüsse auf Eigen- und Fremdbilder betroffener und nichtbetroffener Menschen bzw. auf allgemeine kulturelle Vorstellungsbilder zu. Die Kulturwissenschaften entstehen als Forschungsfeld in den 1980er Jahren, die spezifische Beschäftigung mit dem Thema ›Behinderung‹ beginnt etwa ein Jahrzehnt später mit sozialkonstruktivistischen Ansätzen, für die die Aspekte der Identität, Repräsentation und Normalität zentral sind (Renggli 2004, 18). Eine erste Kulturgeschichte von Behinderung legt der Franzose Henri-Jacques Stiker 1982 vor unter dem Titel Corps infirmes et sociétés. Als Initialzündung der Disability Studies im deutschsprachigen Raum gilt die Sonderausstellung »Der (im)perfekte Mensch« des Deutschen Hygiene-Museums Dresden und der ›Aktion Mensch e. V.‹ 2001, aus der verschiedene Tagungen, die Gründung einer Arbeitsgemeinschaft sowie eine Sommeruniversität hervorgehen (Renggli 2004, 20; vgl. die Publikation Lutz/ Macho/Staupe 2003). Dass die kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit Behinderung im deutschsprachigen Raum dennoch bis heute weitgehend disziplinspezifisch und nur

punktuell interdisziplinär arbeitet sowie stark an einzelne theoretische Ansätze gebunden bleibt (z. B. einen dominant machtanalytischen bzw. diskurstheoretischen Ansatz in der Soziologie oder motivgeschichtliche Untersuchungen bzw. Stereotypenforschung in den Literaturwissenschaften), hat auch damit zu tun, dass die Begriffe ›Kultur‹ und ›Kulturwissenschaft‹ disziplinär höchst unterschiedlich interpretiert werden. Zwar ist den Ansätzen gemeinsam, dass sie Behinderung in Abhängigkeit von Symbolisierungspraktiken sehen, von medialen Repräsentationen, kulturellen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmustern – doch besteht keine Einigung bezüglich übergreifender Methoden. So werden grundlegende Fragen zum disziplinenübergreifenden Arbeiten erst ansatzweise angegangen, z. B. wie die in den Sozialwissenschaften geltenden Ansätze auf die Geschichtswissenschaft übertragen werden können, wie Text- und Fiktionstheorien der Literatur-, Theater-, Film- und Medienwissenschaften mit den Disability Studies zu verbinden sind oder welches der Beitrag der Bildwissenschaften oder der Kunstgeschichte zu pädagogischen Ansätzen sein könnte. ›Symbol‹ und ›Interpretation‹ scheinen vielversprechende verbindende Grundbegriffe zu sein, wären allerdings erst noch transdisziplinär zu definieren. Die Disability Studies bieten bislang die komplexesten und ausdifferenziertesten Theorien an, die allerdings primär auf die Fragestellungen und Interessen von Soziologie und (Heil-)Pädagogik ausgerichtet sind. Schrittmacher in der Forschung sind vornehmlich angelsächsische Institutionen, die ab den 1980er Jahren entstehen (zu einem Forschungsüberblick vgl. Schneider/Waldschmidt 2012). Die ältesten und heute noch etablierten Publikationsorgane sind in Großbritannien und den USA angesiedelt, z. B. die 1986 in Leeds gegründete Zeitschrift Disability, Handicap and Society (ab 1993 Disability & Society) bzw. der etwas später gegründete Verlag Disability Press (Renggli 2004, 19). In Deutschland sind Studien zu Behinderung – sofern sie nicht in den medizinischen Bereich fallen – traditionell in der Soziologie als Stammdisziplin verankert, wo die Forschung verhältnismäßig differenziert ist, und bei der aus der Schul- und Medizingeschichte hervorgegangenen (Sonder-)Pädagogik (Weisser 2004, 27; vgl. auch Cloerkes 2007; Kastl 2017; Dederich 2009 und die dort angeführte Literatur). Handbücher spiegeln diese disziplinäre Ausrichtung wider. So gehen englischsprachige Handbücher insbesondere auf die Theorien, Konzepte und Methoden der soziologisch geprägten Disability Studies ein:

1  Gegenstand und Aufbau des Handbuchs

das von Gary Albrecht, Katherine Seelman und Michael Bury herausgegebene Handbook of Disability Studies (2001) oder das Routledge Handbook of Disability Studies (Watson/Roulstone/Thomas 2012; 2. Aufl. Watson/Vehmas 2019). Mehr als Lesebuch versteht sich Lennard J. Davis’ The Disability Studies Reader (5. Aufl. 2017). Darüber hinaus können Handbücher zur Geschichte der Behinderung wie The Oxford Handbook of Disability History (Rembis/Kudlick/ Nielsen 2018) oder The Routledge History of Disability (Hanes/Brown/Hansen 2018) sowie umfangreiche Enzyklopädien wie die Encyclopedia of Disability (Albrecht 2005) genannt werden. Schließlich sei auf das zehnbändige Handbuch Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik (2009–2014; Gesamtherausgeber ist Wolfgang Jantzen) hingewiesen, besonders auf den Teilband Behinderung und Anerkennung (2009 herausgegeben von Markus Dederich und Wolfgang Jantzen), sowie auf die seit 2007 herausgegebene Buchreihe »Disability Studies. Körper – Macht – Differenz« (Bielefeld; Gesamtherausgeberin ist Anne Waldschmidt). Anzuführen sind darüber hinaus Handbücher zu Teilbereichen, wie eine Dis/ability History der Vormoderne (Nolte/Frohne/Halle u. a. 2017), das Handbuch Behinderung und Sport (Wegner/Scheid/Knoll 2015), ein Handbuch zum Disability Activism (Berghs/Chataika/El-Lahib u. a. 2019), ein weiteres Handbuch zu Disability Arts, Culture, and Media (Hadley/McDonald 2018) sowie Handbücher mit Fokus auf Behinderung im südlichen Afrika (Chataika 2018) bzw. im Globalen Süden (Watermeyer/ McKenzie/Swartz 2019). Insgesamt ist das Thema Behinderung auf kulturwissenschaftlicher Theorie- und Analyseebene für andere Disziplinen als Soziologie und (Heil-)Pädagogik noch wenig erschlossen. Insbesondere in den literatur-, medien-, film- und theaterwissenschaftlich orientierten Kulturwissenschaften bzw. in Disziplinen wie der deutschsprachigen Hispanistik, Germanistik, Anglistik usw. handelt es sich um ein noch im Entstehen befindliches Forschungsgebiet. Im Bereich von Kunst, Theater, Film und fiktionaler Literatur fehlen Überblicksdarstellungen, die eine differenzierte Grundlage für weiterführende Studien bilden könnten. Eine Bestandsaufnahme geben Clare Barker und Stuart Murray in The Cambridge companion to literature and disability (2018). Im deutschsprachigen Raum fehlt eine Darstellung von Behinderung aus kulturwissenschaftlicher Perspektive mit Fokus auf Kunst und Literatur.

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Das Handbuch Behinderung erschließt daher erstmals das komplexe Forschungsfeld schwerpunktmäßig aus der Perspektive der Kulturwissenschaften und der ästhetischen (nicht-pragmatischen) Darstellungs- und Ausdrucksformen und dies aus historischer und systematischer Perspektive. Es versteht sich als komplementär zu den soziologisch geprägten Darstellungen der Disability Studies. Mit Bedacht wurde der Titel Behinderung (und nicht Disability Studies) gewählt, denn die Beiträge legen den Fokus nicht allein auf die Disability Studies und deren Theorien und Modelle, sondern stellen allgemeiner noch Vorstellungsbilder von Behinderung aus der Sicht unterschiedlicher Disziplinen mit ihrer Vielfalt an komplementären und konkurrierenden Diskursen ins Zentrum. Die Mischung der Ansätze aus Soziologie, (Heil-)Pädagogik, Geschichtswissenschaft, Kultur-, Literatur-, Film-, Medien-, Theater-, Kulturwissenschaften, Philosophie und Theologie spiegelt dabei nicht nur den heterogenen, bruchstückhaften Stand der Forschung wider, sondern auch den unterschiedlichen Komplexitätsgrad in der theoretischen Ausdifferenzierung des Gegenstandsbereiches in den einzelnen Disziplinen. Diese haben sehr verschiedene Wege zurückgelegt und das nicht zuletzt, weil sie in unterschiedlicher Weise Theorie und Praxis miteinander verbinden (müssen). Wer z. B. Handlungsempfehlungen zum Ziel hat (wie in der Pädagogik), setzt anders an als Historiker*innen oder Filmwissenschaftler*innen, die mit viel offeneren Fragestellungen operieren können. Ansatzweise soll dabei auch der Heterogenität der Vorstellungsbilder verschiedener Weltregionen Rechnung getragen werden. Während beispielsweise in den USA und etwas später auch in europäischen Ländern zum disability pride aufgerufen wird (z. B. in den seit 1990 veranstalteten Disability Pride Parades), sind Behinderungen insbesondere im Globalen Süden als Folge von Armut, Krieg und fehlender Bildung alles andere als ein Grund, stolz zu sein; aus der Sicht des Globalen Südens erscheinen Konzepte von ›Behinderung‹ des Nordens vielfach als ›imperiales‹ Konzept, das der Region z. B. über die WHO von außen aufgedrängt wird. Diese Asymmetrie weist auf die fundamentale Tatsache hin, dass bestimmte Voraussetzungen (wie Frieden, Rechtssicherheit, sichergestellte Versorgung von Grundbedürfnissen u. Ä.) erfüllt sein müssen, ehe Gesellschaften anfangen (können), über Behinderung als Identitätsmerkmal oder über die Auflösung der Differenz zwischen Normalität und Anderssein nachzudenken.

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1  Gegenstand und Aufbau des Handbuchs

Es ist ein besonderes Desiderat der Forschungen zu Behinderung, dass möglichst viele Disziplinen miteinander kommunizieren. Entsprechend setzt sich das vorliegende Handbuch zum Ziel, einen Dialog anzuregen, indem es ein unebenes, mehrschichtiges, komplexes Terrain existenter und möglicher Forschungsfelder kartographiert. Es stellt daher – im Bewusstsein der Gefahr einer solchen Vorgehensweise – schon gut ausdifferenzierte neben noch im Entstehen begriffene Forschungsfelder (mit je aktuellen Forschungsfragen und dominanten Problemstellungen), soziologische neben erziehungswissenschaftliche, philosophische neben literaturwissenschaftliche, theater-, film- und medienwissenschaftliche neben philosophische oder theologische Ansätze. Die Kapitel wechseln den disziplinären Fokus, unterscheiden sich in Terminologie, Systematik, Methoden, Modellen und theoretischen Ansätzen. Auch die Prioritäten sind unterschiedlich und können stärker praktischer, theoretischer oder ethischer Natur sein. Bei der Vielfalt der Herangehensweisen an das Thema wäre ein klarer Fokus in der Theoriebildung ein Zeichen für Festgefahrensein, denn keine Disziplin spricht stellvertretend für alle anderen. Es gilt vielmehr, Pluralität und Differenzen als Chance anzuerkennen, als »Diskurs- und Reflexionsarena« (Dederich 2013, 56) ohne übergeordnetes Zentrum: Wissenschaft als Prozess der (mühevollen) Auseinandersetzung mit heterogenen Zugriffen auf ein noch wenig ausbuchstabiertes Forschungsfeld. Vier Voraussetzungen für Vorstellungsbilder von Behinderung gliedern das Handbuch und bieten Lektüreachsen mit folgenden Schwerpunkten: • Kapitel I zeigt, wie verschiedene Disziplinen vorgehen, um Vorstellungen von Behinderung in Diskurs und Praxis zu analysieren. Es zeigt sich dabei, wie sich das Konzept ›Behinderung‹ in Abhängigkeit von spezialisierten (Kommunikations-)Kontexten jeweils unterschiedlich darstellen lässt – im Forschungsfeld der Disability Studies, in der sozialen Praxis bzw. in der Theologie und der Philosophie – wobei sowohl die Herstellung der Unterscheidung ›behindert‹/›nicht behindert‹ eine Rolle spielt als auch deren Gebrauch in sozialen Prozessen. Die Spezialdiskurse der Medizin, der Neurowissenschaften oder der Jurisprudenz fließen in die Kapitel ein. • Kapitel II macht darauf aufmerksam, dass das Phänomen Behinderung zum einen historisch unterschiedliche Ausprägungen hat, zum anderen selbst in ein und demselben Zeitraum in unter-

schiedlichen Weltregionen verschiedene kulturelle Vorstellungen widerspiegeln kann. Die Geschichte der Vorstellungen von Behinderung wird, dem Forschungsstand im deutschsprachigen Raum geschuldet, vor allem für die sogenannte ›westliche Welt‹ (in vielen Fällen dominant sogar nur für Deutschland) skizziert und nur ansatzweise kann durch einige Ausblicke auf andere Weltregionen ein Kulturvergleich erfolgen. Den Abschluss bildet ein Unterkapitel zu besonders markanten Beeinträchtigungen, die in kurzen Einzelgeschichten vorgestellt werden. • Kapitel III ist das heterogenste. Es widmet sich zentralen Themenfeldern, die in den Kulturwissenschaften im Zusammenhang mit dem Konzept ›Behinderung‹ diskutiert werden und die sich in erster Linie auf kulturelle Vorstellungen von Behinderung beziehen. Die Unterteilung in »Bezugsrahmen« (prominente Vorstellungsbilder), »Überschneidungsbereiche« (intersektionale Vorstellungsbilder) und »Inklusion und Exklusion« (praktischer Umgang mit Vorstellungsbildern) gibt dabei eine grobe Orientierung. • Im abschließenden Kapitel IV erfolgt ein Überblick über Darstellungs- und Ausdrucksformen von Vorstellungen über Behinderung in nichtpragmatischen Zusammenhängen, kurz als ›Kunst und Literatur‹ bezeichnet. Im Zentrum stehen (semi-)fiktionale und ästhetisch gestaltete Texte im weitesten Sinne (also auch szenische, audiovisuelle und virtuelle Texte) in verschiedenen Medien und in Bezug auf unterschiedliche Akteure. Dabei geht es um Vorstellungen von Behinderung auf Produktions-, Werk- und Rezeptionsebene. Zwei Hinweise seien für ein Handbuch mit dem Titel Behinderung abschließend noch gegeben: Zum einen enthalten viele Beiträge Bezeichnungen, die in einigen Kontexten als unkorrekt empfunden werden könnten, etwa ›Behinderte‹ oder ›geistig behindert‹. Allen Beiträger*innen wurde die Terminologie weitestgehend selbst überlassen. Dies ist dadurch gerechtfertigt, dass das Handbuch kulturelle Kontexte erforscht, in denen all diese Wörter – also sowohl ›politisch korrekte‹ als auch ›politisch nicht korrekte‹ – eine Rolle spielen, und gerade hinter ›politisch nicht korrekten‹ Ausdrücken finden sich häufig kulturwissenschaftlich aufschlussreiche Konzepte, die von ›korrekten‹ Ausdrücken verschleiert würden. Zudem gehen auch unter Forschenden die Auffassungen über den Gebrauch einiger Wörter auseinander, beispielsweise bei dem Wort ›Autist‹, das mitunter peinlich vermieden wird,

1  Gegenstand und Aufbau des Handbuchs

da es auch als Schimpfwort gebräuchlich ist, von den Betroffenen aber offensichtlich gar nicht als anstößig empfunden wird (vgl. z. B. https://leidmedien. de/begriffe/ oder https://autisticadvocacy.org/aboutasan/identity-first-language/ beide mit Zugriffsdatum 15. April 2020). Hinzu kommt, dass gerade abwertend gemeinte Wörter zu ›Kampfbegriffen‹ im Sinne des Empowerments der Betroffenen verwandelt werden können und dann als Mittel der Bewusstseinsbildung dienen, wie z. B. das Wort ›Krüppel‹ in der sogenannten Krüppelbewegung (s. Kap. 29). Zum anderen erschien es für dieses Handbuch nicht nötig, explizit Autor*innen auszuwählen, die zur Gruppe der Menschen mit Behinderung gehören. Denn das Handbuch bewegt sich auf der Ebene der Bilder und Vorstellungen; es geht nicht darum, über Menschen mit Behinderung zu reden oder gar über Erfahrungen mit Behinderung, sondern – auf einer Metaebene – über kulturelle Vorstellungen und Bilder von (Menschen mit) Behinderung und was diese über ihre Kontexte verraten. Hier aber können Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen wissenschaftlich fundierte Studien beisteuern. Literatur

Albrecht, Gary L. (Hg.): Encyclopedia of Disability. 5 Bde. Thousand Oaks 2005. Albrecht, Gary L./Seelman, Katherine D./Bury, Michael (Hg.): Handbook of Disability Studies. Thousand Oaks 2001. Barker, Clare/Murray, Stuart (Hg.): The Cambridge companion to literature and disability. Cambridge/New York 2018. Berghs, Maria/Chataika, Tsitsi/El-Lahib, Yahya/Dube, Kudakwashe (Hg.): The Routledge Handbook of Disability Activism. London 2019. Chataika, Tsitsi (Hg.): The Routledge Handbook of Disability in Southern Africa. London 2018. Cloerkes, Günther: Einstellung und Verhalten gegenüber Körperbehinderten. Eine Bestandsaufnahme der Ergebnisse internationaler Forschung. Berlin 1979. Cloerkes, Günther (Hg.): Wie man behindert wird. Texte zur Konstruktion einer sozialen Rolle und zur Lebenssituation betroffener Menschen. Heidelberg 2003. Cloerkes, Günther: Soziologie der Behinderten. Eine Einführung. Heidelberg 32007. Davis, Lennard J. (Hg.): The Disability Studies Reader. New York/London 52017. Dederich, Markus: Menschen mit Behinderung zwischen Ausschluss und Anerkennung. Bad Heilbrunn 2001. Dederich, Markus: Behinderung als sozial- und kulturwissenschaftliche Kategorie. In: Markus Dederich/Wolfgang Jantzen (Hg.): Behinderung und Anerkennung. Stuttgart 2009, 15–39. Dederich, Markus: Heilpädagogik als Kulturwissenschaft. In: Oliver Musenberg (Hg.): Kultur – Geschichte – Behin-

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derung. Die kulturwissenschaftliche Historisierung von Behinderung. Oberhausen 2013, 43–66. Dederich, Markus/Jantzen, Wolfgang (Hg.): Behinderung und Anerkennung. Stuttgart 2009. »Eule«: Die Eule spricht. In: Inklusionspegel. Der Newsletter zu inklusiver Bildung in Deutschland (31.3.2020), https:// www.inklusions-pegel.de/maerz_2020 (31.03.2020). Felkendorff, Kai: Ausweitung der Behinderungszone: Neuere Behinderungsbegriffe und ihre Folgen. In: Cloerkes 2003, 25–52. Hadley, Bree/McDonald, Donna (Hg.): The Routledge Handbook of Disability Arts, Culture, and Media. London 2018. Hanes, Roy/Brown, Ivan/Hansen, Nancy E.: The Routledge History of Disability. London/New York 2018. Hirschauer, Stefan: Un/doing Differences. Die Kontingenz sozialer Zugehörigkeiten. In: Zeitschrift für Soziologie 43/3 (2014), 170–191. Johnson, Merri Lisa/McRuer, Robert: Cripistemologies. Introduction. In: Journal of literary and cultural disability studies 8/2 (2014), 127–147. Kastl, Jörg: Einführung in die Soziologie der Behinderung. Wiesbaden ²2017. Lutz, Petra/Macho, Thomas/Staupe, Gisela/Zirden, Heike (Hg.): Der (im)perfekte Mensch. Metamorphosen von Normalität und Abweichung. Köln 2003. Mogk, Marja Evelyn: Introduction. In: Dies. (Hg.): Different Bodies. Essays on Disability in Film and Television. Jefferson/London 2013, 1–16. Moser, Vera: Legitimations- und Kontingenzprobleme. In: Markus Dederich/Wolfgang Jantzen (Hg.): Behinderung und Anerkennung. Stuttgart 2009, 170–176. Murphy, Robert F.: The body silent. New York/London 2001. Musenberg, Oliver: Kultur – Geschichte – Behinderung: Zur Einleitung. In: Ders. (Hg.): Kultur – Geschichte – Behinderung. Die kulturwissenschaftliche Historisierung von Behinderung. Oberhausen 2013, 11–25. Neiman, Susan: Widerstand der Vernunft. Ein Manifest in postfaktischen Zeiten. Salzburg/München 2017. Nolte, Cordula/Frohne, Bianca/Halle, Uta/Kerth, Sonja (Hg.): Dis/ability History der Vormoderne. Ein Handbuch – Premodern Dis/ability History. A Companion. Affalterbach 2017. Reckwitz, Andreas: Die Kontingenzperspektive der ›Kultur‹. Kulturbegriffe, Kulturtheorien und das kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm. In: Friedrich Jaeger/ Jörn Rüsen (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 3: Themen und Tendenzen. Stuttgart/Weimar 2004, 1–20. Rembis, Michael/Kudlick, Catherine J./Nielsen, Kim (Hg.): The Oxford Handbook of Disability History. Oxford 2018. Renggli, Cornelia: Disability Studies – ein historischer Überblick. In: Jan Weisser/Cornelia Renggli (Hg.): Disability Studies. Ein Lesebuch. Biel 2004, 15–26. Schneider, Werner/Waldschmidt, Anne: Disability Studies. (Nicht-)Behinderung anders denken. In: Stephan Moebius (Hg.): Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies. Eine Einführung. Bielefeld 2012, 128–150. Siebers, Tobin: Disability Aesthetics. Ann Arbor 2010. Snyder, Sharon L./Mitchell, David T.: Language of disability.

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1  Gegenstand und Aufbau des Handbuchs

In: Gary L. Albrecht (Hg.): Encyclopedia of disability. Thousand Oaks/London/New Delhi 2006, 1018–1024. Stiker, Henri-Jacques: Corps infirmes et sociétés. Paris 1982. Watermeyer, Brian/McKenzie, Judith/Swartz, Leslie (Hg.): The Palgrave Handbook of Disability and Citizenship in the Global South. Cham 2019. Watson, Nick/Roulstone, Alan/Thomas, Carol (Hg.): Routledge Handbook of Disability Studies. London/New York 2012.

Watson, Nick/Vehmas, Simo (Hg.): Routledge Handbook of Disability Studies. London 22019. Wegner, Manfred/Scheid, Volker/Knoll, Michaela (Hg.): Handbuch Behinderung und Sport. Schorndorf 2015. Weisser, Jan: Disability Studies und die Sonderpädagogik. In: Ders./Cornelia Renggli (Hg.): Disability Studies. Ein Lesebuch. Biel 2004, 27–30.

Susanne Hartwig

I Vorstellungen von ­ Behinderung in Praxis und Theorie

2 Einleitung: Vorstellungen von Behinderung in Praxis und Theorie

nen: Die Bezeichnung disabled ruft beispielsweise andere Vorstellungsbilder auf als die Bezeichnung subnormal.

»Disablement is [...] a process set in motion by somatic causes but given definition and meaning by society«, schreibt Robert Murphy (2001, 195) – das Konzept ›Behinderung‹ betrifft den Menschen als körperliches und als soziales Wesen und ist entsprechend deskriptiv, evaluativ und normativ. Unabhängig vom (individuellen, sozialen, politischen, ökonomischen usw.) Blickwinkel wird bei der kritischen Reflexion des Konzeptes stets das gesellschaftlich konstruierte Verhältnis zwischen Sein und Sollen erkennbar. Selbst das subjektive Erleben der Betroffenen ist davon geprägt. Bereits der Begriff ›Behinderung‹ hat deskriptive und normative Implikationen. Als Synonyme nennt Dederich ›Krankheit‹, ›Schädigung‹, ›Beeinträchtigung‹, ›Gefährdung‹, ›Benachteiligung‹ oder ›Störung‹; als sinnverwandt ›Hindernis‹, ›Erschwernis‹, ›Barriere‹, ›Hemmung‹, ›Hürde‹, ›Einschränkung‹ oder ›Engpass‹ (Dederich 2009, 15). All diese Begriffe sind negativ konnotiert. Immer klingt an, dass etwas (außerhalb spezialisierter Bereiche) gängigen Erwartungen widerspricht oder nicht reibungslos abläuft, was u. U. auch auf behebbare Hindernisse zurückgeführt werden kann (zu Definitionen von Behinderung vgl. Felkendorff 2003). In anderen Sprachen ist das Phänomen ›Behinderung‹ durch entsprechende Wörter vorstrukturiert: disability (im Englischen) bzw. discapacidad (im Spanischen) verweist auf fehlende Fähigkeiten (auf das Primat der Leistungsorientierung und Funktionstüchtigkeit, laut Frohne 2017, 53), während handicap (im Französischen) an den sozialen Ausgleich (für Benachteiligung bei einem Wettkampf) denken lässt und etwa das russische Wort invalidnosti (von lat. invalidus, das auf valere zurückgeht, was u. a. ›gelten, wert sein‹ bedeutet) eine Bewertung hinzufügt. An Letztere lassen auch die spanischen (heutzutage nicht mehr als korrekt empfundenen) Bezeichnungen für einen Menschen mit Behinderung als minusválido (wörtlich: ›weniger wert‹) und subnormal (wörtlich: ›unternormal‹) denken. Diese unterschiedlichen Begriffe erzeugen Schieflagen in der interkulturellen Kommunikation, denn sie haben nicht die gleichen Konnotatio-

»Im deutschsprachigen Raum löst ›Behinderung‹ andere Assoziationen aus als ›dis/ability‹, und tatsächlich sind wohl häufig bewusst unterschiedliche Dinge gemeint. Zugleich sind aber die Bezeichnungen ›behindert‹ und ›disabled‹ nicht kongruent [...]. So hat das Wort ›Behinderung‹ mit ›Nichtbehinderung‹ einen anderen Gegenbegriff als ›disability‹ im Verhältnis zu ›ability‹. [...] wird das Wort ›ability‹ eher mit einer großen Bandbreite von unterschiedlichen Formen und Kombinationen von ›abilities‹ in Verbindung gebracht: ›disability‹ schließt immer ›ability‹ in sich ein. Mit der Schreibweise ›dis/ability‹ wird diese Komplexität zum Ausdruck gebracht.« (Frohne 2017, 52–53)

Gemeinsam ist allen Begriffen die negative Konnotation (eines Nachteils, Defizits, Problems). Entsprechend gibt es Argumente gegen ihre Verwendung (zu ›Behinderung‹ vgl. Felkendorff 2003, 25–26). ›Behindert‹ kann im strengen Wortsinn keine Eigenschaft sein (›behindert‹ also kein Adjektiv), weil ein Mensch nur in einer konkreten raumzeitlichen Situation behindert sein oder werden kann (›behindert‹ als Partizip): Selbst ein bewegungsunfähiger und stark kognitiv beeinträchtigter Mensch ist beim Hören von Musik u. U. überhaupt nicht behindert. Das bedeutet, dass Kontextfaktoren darüber bestimmen, ob es zu einer Behinderung kommt und wie stark diese sich auswirkt; bedeutend sind dabei z. B. das ökonomische Potential (Kurzsichtigkeit kann z. B. in einigen Teilen der Welt zu starker Behinderung führen, während sie in anderen Teilen der Welt als normal angesehen wird), das gesellschaftliche Umfeld und die konkreten Vorgaben einer Kultur (in einer schriftlosen Kultur gibt es z. B. keine Legasthenie) sowie der soziale Status (›soziales Kapital‹) der Betroffenen (je nach Rang eines Gesellschaftsmitglieds kann z. B. Blindheit zu einer besonderen Gabe werden) (vgl. dazu Brumlik 2013, 29). Auch der Lebenszeitpunkt spielt eine Rolle. Beispielsweise werden Beeinträchtigungen im Alter gewöhnlich nicht als Behinderung bezeichnet, da sie der Norm entsprechen (Mogk 2013, 10), obwohl sich eine Sehschwäche im Alter im medizinischen Sinne nicht

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_2

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I  Vorstellungen von ­Behinderung in Praxis und Theorie

von einer angeborenen Sehschwäche unterscheidet. Der Ausprägungsgrad des Merkmals ›Behinderung‹ im Sinne von Cloerkes (2003) kann beeinflusst werden, z. B. durch endogene Entwicklungsprozesse der merkmalstragenden Person, durch Überwechseln in einen sozialen Kontext mit anderen Normalitätserwartungen (s. Kap. 42), durch therapeutische, technische, pädagogische Eingriffe (Felkendorff 2003, 43) oder durch Wandel merkmalsbezogener Normen und Normalitätserwartungen innerhalb eines gegebenen Kontexts (ebd., 44). Je nach Einschätzung – Beeinträchtigung oder Behinderung – werden aber sehr unterschiedliche soziale Reaktionen (vom Versuch der Heilung über Akzeptanz der Abweichung bis hin zu Stigmatisierung und Tötung) als sozial angemessen betrachtet. Großen Einfluss auf Vorstellungen von Behinderung hat zudem eine allgegenwärtige, in den verschiedensten Kulturen auftretende metaphorische Benutzung von Begriffen für Behinderungen – Mogk (2013, 2) nennt ›blindsided‹, »she was deaf to his pleas« und »I was left without a leg to stand on« – und Snyder/Mitchell urteilen: »Economies are crippled, excuses are lame, a city council is blind to the consequences of some decision. Disability metaphors add combustion and intensity to commentary in any context; they take an expression of concern up a notch in the registers of rhetorical hyperbole.« (Snyder/Mitchell 2006, 1019)

Das Metaphorische festigt nicht nur die mit Behinderung(en) verbundene Stigmatisierung, sondern verstellt auch den Blick auf die gelebte Realität der betroffenen Menschen. Reaktionen auf stigmatisierende Behinderungsbegriffe sind u. a. die Substitution (z. B. die Ersetzung von ›Behinderung‹/disability durch ›Beeinträchtigung‹/impairment, im Französischen handicap durch personne en situation de handicap (PSH) usw.) bzw. die ersatzlose Aufhebung (Dekategorisierung; vgl. zu beiden Felkendorff 2003, 27; Dederich 2001, 91). Im Jahr 2005 wird als korrekte Bezeichnung im Spanischen das Wort diversidad funcional (›funktionale Diversität‹) eingeführt (vgl. Romañach/Lobato 2005): Behinderung erscheint mit diesem Begriff als eine Diversitätskategorie unter vielen, was den Vorteil hat, dass sofort Parallelen zu anderen identity markers (wie race, class und gender) und damit Gemeinsamkeiten z. B. kulturwissenschaftlicher Theorien, Modelle und Methoden sichtbar werden. Doch liegt hierin auch

wieder die Gefahr, die Besonderheiten der ›Diversität Behinderung‹ zu übersehen – z. B. dass sie potentiell jeden Menschen jederzeit betreffen kann (vgl. den Ausdruck ›temporarily abled‹), was Hall (2016, 6) »a democratisation of disability« nennt – oder ihre Wechselwirkung mit anderen Diversitätskategorien nicht in den Blick zu bekommen: Behinderung ist eine überaus vereinnahmende Kategorie und überstrahlt oft andere Diversitäten. Neue Begriffe ändern bekanntlich nicht automatisch auch die symbolischen und institutionellen Praktiken, in die sie eingebettet sind, und auch nicht die hinter ihnen stehenden kulturellen Konzepte. Was Behinderung in einem kulturellen Kontext konkret bedeutet, wird zwar in Diskursen erkennbar, aber vor allem auch in der Praxis, wo sich Bedeutungen z. B. über Verhaltens- und Wahrnehmungserwartungen sowie über schwer oder gar nicht kontrollierbare existentielle Erfahrungen mit körperlichen oder kognitiven Abweichungen konstituieren. Diskurs und Praxis determinieren sich dabei nicht einseitig nur in eine Richtung, denn »Wissen über eine Praxis steht zu dieser niemals nur in einem Verhältnis der Produktion und Steuerung« (Kastl 2014, 162). ›Behinderung‹ nimmt Bezug auf eine soziale Praxis und prägt diese gleichzeitig mit (zur Konstruktion der sozialen Rolle ›Behinderter‹ bzw. ›Behinderung‹ vgl. Cloerkes 2003). Verwaltung oder Politik als offizielle diskursprägende Instanzen stellen dabei eine spezielle, besonders einflussreiche Form einer sozialen Praxis dar. Begriffe haben »eine polarisierende Vorderseite und eine homogenisierende Kehrseite und grenzen sich von einem ausgeschlossenen Dritten ab«, schreibt Hirschauer (2014, 174). Bezüglich des Begriffs ›Behinderung‹ wäre also zu fragen, (1) welches seine Gegenbegriffe sind, (2) welche Homogenisierungen durch ihn erfolgen und (3) was durch ihn ausgeschlossen wird. 1. Bei den Gegenbegriffen fällt auf, wie diffus sie sind. Sehr häufig werden ›Krankheit‹ und ›Beeinträchtigung‹ (impairment) ›Behinderung‹ entgegengesetzt, etwa im Diskurs der Disability Studies (medizinisches vs. soziales Modell, s. Kap. 4). ›Normalität‹ als Gegenbegriff zu benutzen, wird als ableism gebrandmarkt, d. h. als behindertenfeindliche Handlung/Haltung (s. Kap. 51). 2. Beeinträchtigungen können angeboren oder erworben, degenerativ oder gleichbleibend, den Alltag störend oder in den Alltag integrierbar, mit oder ohne Schmerz erfahrbar, sichtbar oder unsichtbar etc. sein. Gemeinsam sind diesen unter-

2  Einleitung: Vorstellungen von Behinderung in Praxis und Theorie

schiedlichen Erscheinungsformen von Behinderung lediglich die Einschränkung der Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe bzw. die Stigmatisierung. Die immense Heterogenität dessen, was der Begriff ›Behinderung‹ umfasst, macht es schwierig, Methoden, Theorien und Konzepte aus ihm zu entwickeln. Viele Argumentationen erzeugen Schieflagen, da sie an nur ein Segment aus dem Spektrum ›Behinderung‹ angepasst sind. Beispielsweise eignen sich manche Behinderungen vortrefflich zur Illustrierung des sozialen Modells: Von einem Menschen im Rollstuhl kann man sich gut vorstellen, dass eine nicht ausreichend barrierefreie Umwelt ihn behindert; bei stark pflegebedürftigen Menschen, solchen mit starker kognitiver Abweichung oder bei äußerst schmerzhaften Beeinträchtigungen müsste das soziale Modell allerdings erheblich differenziert werden, denn in diesen Fällen ist es nicht so offensichtlich, welche umweltbedingte Behinderung überhaupt beho­ ben werden kann. Dieses Beispiel macht auch auf eine weitere Schieflage in der Theoriebildung aufmerksam: Kognitive Beeinträchtigung wird bei allgemeinen Modellen zur Behinderung oft vernachlässigt, ebenso wie schwere Mehrfachbehinderungen, bei denen die Betroffenen gerade auf eine besonders hohe soziale Unterstützung angewiesen sind. 3. Das durch den Begriff ›Behinderung‹ und seine Gegenbegriffe ausgeschlossene Dritte wäre z. B. anhand der Frage zu ermitteln, wozu eine Kultur überhaupt die Unterscheidung ›behindert‹ vs. ›nicht behindert‹ braucht und was sich ändert, wenn diese aufgelöst wird. Die Kategorie ›Behinderung‹ zeigt z. B. an, wo welche Art von Unterstützung angebracht ist, und sichert in einigen Regionen der Welt Rechtsansprüche und Chancen. Der Wegfall eines Begriffs bzw. einer Kategorie ›Behinderung‹ würde es erschweren, »sich über [...] Tatbestände [z. B. einen Mangel an Chancengleichheit; Anm. S. H.] zu verständigen, sich mit den Betroffenen zu solidarisieren und für eine Veränderung der Situation einzutreten« (Dederich 2001, 91). In einigen Kontexten hingegen ist die Funktion der Unterscheidung die Sicherung der Machtposition nicht betroffener Menschen. Behinderung als soziale Differenzierung aufzugeben, könnte dann größere soziale Gerechtigkeit ermöglichen (vgl. Felkendorff 2003, 38). Jede Disziplin formt ihren Begriff von Behinderung durch ihre Fragestellungen, Theorien, Modelle und

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Methoden. So braucht beispielsweise die Heilpädagogik normative Leitvorstellungen (Bildungsideale, Erziehungsziele, Förderkonzepte etc.) (Musenberg 2013, 16), um Behinderung in Bezug auf Lern- und Entwicklungskontexte betrachten zu können (Dederich 2013, 44). Den unterschiedlichen Vorstellungen von Behinderung je nach disziplinärer Perspektive widmet sich Kapitel I, das primär auf den deutschsprachigen Raum ausgerichtet ist. Zunächst werden Konzepte der Disability Studies und deren Bezug zu den Kulturwissenschaften vorgestellt (Unterkapitel A), im Anschluss daran ausgewählte Bereiche der sozialen Praxis beleuchtet, die Aufschluss über den evaluativen und normativen Umgang mit Behinderung geben (Unterkapitel B). Das dritte Unterkapitel beleuchtet den Umgang mit Behinderung in einzelnen gesellschaftlichen Bereichen im Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion sowie die daraus ableitbaren Konzepte von Behinderung (Unterkapitel C). Den Abschluss bilden normative Konzepte aus Religion und Philosophie, die sich auf spezifisch mit Behinderung verbundene Fragestellungen beziehen (Unterkapitel D). Literatur

Brumlik, Micha: Kulturwissenschaftliche Betrachtung von ›Behinderung‹. In: Oliver Musenberg (Hg.): Kultur – Geschichte – Behinderung. Die kulturwissenschaftliche Historisierung von Behinderung. Oberhausen 2013, 27–41. Cloerkes, Günther (Hg.): Wie man behindert wird. Texte zur Konstruktion einer sozialen Rolle und zur Lebenssituation betroffener Menschen. Heidelberg 2003. Cloerkes, Günther: Die Problematik widersprüchlicher Normen in der sozialen Reaktion auf Behinderte [1984]. In: Jörg Michael Kastl/Kai Felkendorff (Hg.): Behinderung, Soziologie und gesellschaftliche Erfahrung. Wiesbaden 2014, 121–140. Dederich, Markus: Menschen mit Behinderung zwischen Ausschluss und Anerkennung. Bad Heilbrunn 2001. Dederich, Markus: Behinderung als sozial- und kulturwissenschaftliche Kategorie. In: Ders./Wolfgang Jantzen (Hg.): Behinderung und Anerkennung. Stuttgart 2009, 15–39. Dederich, Markus: Heilpädagogik als Kulturwissenschaft. In: Oliver Musenberg (Hg.): Kultur – Geschichte – Behinderung. Die kulturwissenschaftliche Historisierung von Behinderung. Oberhausen 2013, 43–66. Felkendorff, Kai: Ausweitung der Behinderungszone. Neuere Behinderungsbegriffe und ihre Folgen. In: Cloerkes 2003, 25–52. Frohne, Bianca: Moderne Begriffe und Definitionen – so unentbehrlich wie problematisch. In: Cordula Nolte/ Bianca Frohne/Uta Halle/Sonja Kerth (Hg.): Dis/ability History der Vormoderne. Ein Handbuch – Premodern Dis/ability History. A Companion. Affalterbach 2017, 52–58.

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I  Vorstellungen von ­Behinderung in Praxis und Theorie

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Susanne Hartwig

A Definitionen und Konzepte 3 Definitionen und Klassifikationen Akteur*innen und Disziplinen bzw. Professionen haben – je nach Handlungskontext – Konstrukte von Behinderung entwickelt, mit denen unterschiedliche Interessen verfolgt werden. Anhand unterschiedlicher Modelle, Klassifikationen und Gesetzesnormen wird in diesem Beitrag analysiert, wie Behinderung und Nichtbehinderung konzeptualisiert werden. Dies wird exemplarisch erörtert: an der aktuellen Behinderungsklassifikation der Weltgesundheitsorganisation, der Behinderungs-Definition des Sozialgesetzbuches IX in der Neufassung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG), der Bestimmung von Behinderung in der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) als einfachem deutschen Recht sowie an den Definitionen, die im Sozialen Modell der britischen Disability Studies bedeutsam sind. Abschließend wird die Bedeutung von Definitionen und Klassifikationen reflektiert und kurz resümiert.

3.1 Wie und wozu Konstruktionen? Gesellschaftliche Phänomene existieren nur durch ihre und in ihrer gesellschaftlichen Konstruktion. Etwas ›Natürliches‹ besteht nicht an sich, sondern immer nur in Beobachtung durch Menschen oder durch von Menschen konstruierte Maschinen (wie Kameras, Drohnen u. a.). Traditionell wird klassifiziert, was im öffentlichen oder im Fachdiskurs als ungewöhnlich oder auch problematisch beurteilt wird. Dies wird als besonderes Phänomen zum Forschungsgegenstand gemacht. Es sind zumeist Phänomene, die nicht dem herrschenden Maßstab, dem formulierten oder unbewusst verfolgten Ideal entsprechen. Seit Jahrhunderten sind dies körperliche, seelische und geistige Phänomene, je nach Ort und Zeit wurde Unterschiedliches hierzu gezählt. Mit der Entstehung internationaler Fachgesellschaften im 19. Jahrhundert und deren Interesse an

international gültigen Regelwerken hat sich der Fokus auf Störungen und Abweichungen von dem als normal oder gewöhnlich konstruierten Phänomen verschärft (vgl. Hirschberg 2009, 32–61). Während in früheren Jahrhunderten regional große Unterschiede vorherrschten, wie mit körperlichen, seelischen und geistigen Phänomenen, die auch als Beeinträchtigungen verstanden wurden, umgegangen wurde, hat sich seit der Neuzeit die Orientierung am wirtschaftlich funktions- und leistungsfähigen, verwertbaren Körper verstärkt (vgl. Foucault 1968, 104; Dörner 2017, 692–700). Mit dieser Orientierung verbunden ist die angestrebte internationale Vereinheitlichung von Diagnosen und Klassifizierungsordnungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Weltge­ sundheitsorganisation (WHO) als Folgeorganisation des internationalen statistischen Kongresses gegründet und hat dessen Entwicklung internationaler Klassifikationen von Krankheiten (ab 1980 von Behinderungen) übernommen (vgl. Hirschberg 2009, 35). Stetig wurden diese Diagnosekataloge ausgeweitet bzw. gesellschaftlichen Vorstellungen angepasst, wie besonders an der Klassifizierung von Homosexualität als Störung im Diagnostic Statistical Manual II (DSM-II) und deren späterer Aufhebung im DSM-IV deutlich wird. Die Macht, Normalität und Abweichung zu determinieren, verweist auf das darunterliegende Bedürfnis, Ordnungen herzustellen oder zu sichern, das speziell vor dem Hintergrund der leistungsorientierten gesellschaftlichen Matrix zu begreifen ist. Konstruktionen von Abweichungen sind als Störung oder Beeinträchtigung grundsätzlich räumlich und zeitlich verortet; universale, örtlich und räumlich unabhängige Störungen oder Beeinträchtigungen gibt es nicht. Sie haben, wie Foucault für Geisteskrankheiten analysiert, »ihre Wirklichkeit und ihren Wert als Krankheit nur innerhalb einer Kultur, die sie als solche erkennt« (Foucault 1968, 93). Kurz zusammengefasst gibt es Phänomene, die als Störung oder Beeinträchtigung bezeichnet, diagnosti-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_3

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I  Vorstellungen von ­Behinderung in Praxis und Theorie  –  A  Definitionen und Konzepte

ziert und klassifiziert werden. Diese Beurteilungen werden von medizinischen oder auch psychiatrischen Fachpersonen vorgenommen und können somit nur als zu einem bestimmten Zeitpunkt (selbst unter dem Anspruch der internationalen Gültigkeit) und mit räumlichem Bezug geltende Perspektive erachtet werden. Auch wenn es sich immer um ein Konstrukt und nicht um einen natürlichen Gegenstand handelt, sind diese Konstruktionen von Störungen oder Abweichungen aufgrund ihres verbreiteten Einsatzes in den Feldern Medizin, Psychiatrie, Rechtswesen, Pädagogik und allen humanwissenschaftlichen Disziplinen machtvoll.

3.2 Konstruktion von Behinderung als Abweichung Nicht nur die Weltgesundheitsorganisation, auch andere Akteur*innen haben Behinderung konstruiert und machtvolle Definitionen erstellt. Sie versuchen, diese Definitionen zu verbreiten, ihre Perspektive auf Behinderung wirkmächtig werden zu lassen. Hierbei ist jedoch zu unterscheiden, ob die Autor*innen von Behinderungskonstruktionen gesellschaftlich anerkannte Akteur*innen sind oder nicht. Seit der Neuzeit sind die Disziplinen Medizin, Psychiatrie (und ihre Nachbarwissenschaften) vorherrschend in der Konstruktion des Abweichenden: Krankheit als Abweichung von Gesundheit oder Behinderung als Abweichung von Funktionsfähigkeit. Die Durchsetzung der Interessen gesellschaftlicher Akteur*innen lässt sich auch daran erkennen, dass Behinderung bis 1980 mit der Krankheitsklassifikation (ICD) beurteilt wurde. Erst seit 1980 wird Behinderung eigenständig klassifiziert und nicht mehr unter den Krankheitsbegriff subsumiert (vgl. WHO 1980; Hirschberg 2009, 46–57). Durch Klassifikationen spricht die anerkannte Profession, die in der historischen Abfolge der Entwicklung von Klassifikationsinstrumenten wiederkehrend hierzu beauftragt ist, vor dem Hintergrund der gesellschaftlich dominanten Diskurse und der herrschenden Verhältnisse. Dies waren mehrheitlich die Professionen der Medizin und der Psychiatrie – im Anschluss an die Entwicklung der botanischen Klassifikationen (Carl von Linné), aufbauend auf den medizinischen Systematisierungen durch Thomas Sydenham im 17. Jahrhundert, deren Einfluss im Rahmen der Perspektive der (ehemaligen imperialistischen) dem Völkerbund angehörigen Staaten zu verorten ist (vgl. Hirschberg 2009, 28–38).

Klaus Dörner veranschaulicht die Entstehungsgeschichte von Psychiatrien auch an der Unterscheidung, wer nicht als arbeitsfähig und vernünftig galt (vgl. Dörner 2017, 692–695). Wer spricht, wer entscheidet, was wie klassifiziert wird? Dies sind diejenigen, die Positionen erworben haben, in denen ihnen die Entscheidungsmacht zugesprochen wird, Syndrome oder Phänomene als behindert oder nichtbehindert zu klassifizieren. Gesellschaftliche Konstruktionen sind mit dem Zugang zu Ressourcen verbunden (vgl. Gregory 1997). Die jeweils als bedeutsam anerkannte Konstruktion funktioniert somit als Instrument, das zur Durchsetzung von Interessen und gesellschaftlichen Ordnungen genutzt werden kann. Die konstruierten Definitionen werden als Instrument gebraucht, um mit ihnen unterschiedliche Interessen zu verfolgen. Sie bieten einen Einblick »into the nature of the ›powers-that-be‹ who make and then use definitions to build, maintain, and advance their position in society« (Gregory 1997, 487). Definitionen können dazu genutzt werden, die gesellschaftliche Position und den eigenen Einflussbereich aufzubauen, aufrecht zu erhalten oder sogar zu erweitern. Hierbei ist entscheidend, was definiert wird und was nicht. Das traditionell herrschende Modell konstruiert Behinderung aus medizinischer, defizitorientierter Perspektive. Diese Perspektive lässt sich auf die seit der Neuzeit vorherrschenden gesellschaftlichen Interessen an einer produktivitätsorientierten Verwertung der Körper zurückführen. Sie ist auch durch eine ontologische Betrachtung auf Körper begründet, diese auf ihr Sosein und durch die Produktivitätsorientierung auf ihre Leistungsfähigkeit zu reduzieren. Mit der auf die Ausbeutung der Arbeitskraft fokussierten Industrialisierung wurde die Aufgabe von Medizin und Psychiatrie umso differenzierter, als Kriterien für die Arbeitsfähigkeit bei Krankheiten wie beispielsweise die Festlegung der Normaltemperatur entwickelt wurden (vgl. Hess 1999, 224; zur Analyse des ärztlichen Blicks in den entstandenen Kliniken Foucault 1973) (s. Kap. 42). Machtanalytisch gefasst wurden die Körper normiert, abweichende Entwicklungen sanktioniert und die Ausführungs- und Leistungsfähigkeit überprüft, um dann passend zur bestmöglichen Ausnutzung der individuellen Fähigkeiten zur Arbeit eingesetzt zu werden (vgl. Foucault 1994, 241–248). Festzuhalten ist, dass das medizinische, auf das Individuum ausgerichtete Modell von Behinderung nicht nur im Kontext von Medizin und Psychiatrie,

3  Definitionen und Klassifikationen

sondern auch im Rahmen der wirtschaftlichen Interessen seit der Neuzeit reflektiert werden muss (s. Kap. 4). Durch die Bismarckschen Sozialgesetze Ende des 19. Jahrhunderts, die Kranken-, Unfall, Renten- und Angestellten-/Arbeitslosenversicherung, wurde der Erhalt oder die Wiederherstellung der Leistungs- und Arbeitsfähigkeit nicht nur angestrebt, sondern auch (wenn auch nicht umfassend) abgesichert. Mit diesen Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates wurde die definierte, konstruierte Feststellung einer Behinderung mit einem individuellen Leistungsanspruch verbunden. Eine Behinderung gilt als »naturbedingter Nachteil«, aufgrund dessen die jeweilige Person einen Nachteilsausgleich erhält (vgl. Hirschberg 2009, 263–267; in ihrer Bedeutung für Rehabilitation und Teilhabe Welti 2005). Die gesellschaftlichen Partizipationschancen sind stark an die Erwerbstätigkeit eines Menschen gekoppelt (vgl. aus intersektionaler Perspektive LibudaKöster/Schildmann 2016). Auch das gesellschaftliche Bewusstsein ist an Nützlichkeit und Leistungsfähigkeit orientiert, und weniger an einer wahrgenommenen Bandbreite von Nicht_behinderung oder an den gesellschaftlichen Benachteiligungsstrukturen, die im sozialen Modell von Behinderung fokussiert werden (s. u.).

3.3 Klassifikationen, Modelle, Gesetzesnormen: Unterschiedliche Perspektiven auf Behinderung Mit der humanwissenschaftlichen Konstruktion von Behinderung als Forschungsgegenstand in Medizin, Psychologie, Pädagogik und weiteren Disziplinen wird auf den Hilfebedarf, die Abhängigkeit von anderen, die Linderung oder auch Verhinderung von Beeinträchtigung fokussiert. Behinderte Menschen sollen in ihren Fähigkeiten gefördert und an die nichtbehinderte Gesellschaft angepasst werden. Aus dieser Perspektive sind medizinische Klassifikationen und juristische Konstruktionen konstruiert. Sie stellen Behinderung in den Vordergrund, Nichtbehinderung wird entweder nicht oder nur indirekt thematisiert. Aufgrund des Bestrebens von Rehabilitationsfachkräften und anderen Akteur*innen, Krankheit und Behinderung zu unterscheiden, hat die Weltgesundheitsorganisation in den 1970er Jahren die erste Klassifikation von Behinderung entwickelt, die »International Classification of Impairment, Disability, and Handicap« (ICIDH). Diese differenzierte in Bezug auf

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• die körperliche Ursache (oder Folge einer Krankheit): impairment • die individuellen Folgen für die eigene Handlungsfähigkeit: disability • die Auswirkungen hinsichtlich der gesellschaftlichen Rollenperformanz: handicap. Als zu linear und kausal kritisiert, wurde die Behinderungsklassifikation von einer Vielzahl von Akteur*innen und daraufhin von verschiedenen Gesundheitsfachleuten weiterentwickelt, wobei ein interaktives Verhältnis mehrerer Komponenten den früheren kausalen Ansatz ersetzen sollte. Die zweite Behinderungsklassifikation, die »International Classification of Functioning, Disability, and Health« (ICF) wurde von der Vollversammlung der Weltgesundheitsorganisation 2001 verabschiedet. In der Weiterentwicklung von der ersten zur zweiten Behinderungsklassifikation zeigt sich, dass mit dieser nicht nur Behinderung definiert, kategorisiert und klassifiziert wird, sondern Behinderung auch von einem Pendant, Funktionsfähigkeit, begleitet wird. Der dritte Oberbegriff, Gesundheit, bildet allerdings keinen beide umspannenden Rahmen, sondern verdoppelt in gewisser Weise die Bedeutung von Funktionsfähigkeit als Orientierung, als das Eine, von dem Behinderung als abweichend gemessen wird (vgl. Hirschberg 2009, 202–207). Definiert wird Behinderung in der ICF in zweierlei Hinsichten. Behinderung bildet erstens den Oberbegriff von drei Komponenten und wird zweitens als Ergebnis des Wechselverhältnisses mehrerer Komponenten gefasst: »Disability is an umbrella term for impairments, activity limitations and participation restrictions. It denotes the negative aspects of the interaction between an individual (with a health condition) and that individual’s contextual factors (environmental and personal factors).« (WHO 2001, 213)

Die Definition von Funktionsfähigkeit ist parallel zu der von Behinderung mit positiven Komponenten konstruiert, jedoch werden nur die Komponenten von Behinderung klassifiziert. Funktionsfähigkeit fungiert gleichermaßen als Normalitätswert, als Maßstab für Behinderung, von dem diese (in ihren unterschiedlichen Komponenten) als graduelle Abweichung beurteilt wird (vgl. Hirschberg 2009, 240–243). Mit der neuen Komponente der Kontextfaktoren, in der besonders die Umweltfaktoren (differenziert in Barrieren oder Unterstützungsfaktoren) hervorzuheben sind,

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I  Vorstellungen von ­Behinderung in Praxis und Theorie  –  A  Definitionen und Konzepte

wird zwar die gesellschaftliche Dimension von Behinderung betont – dies verändert jedoch nicht die generelle Konstruktion von Behinderung als Abweichung von Funktionsfähigkeit bzw. Nichtbehinderung. Insgesamt ist diskursanalytisch herauszustellen, dass Behinderung und Normalität in der ICF zwar variabel und flexibel konstruiert sind, jedoch auf einer protonormalistischen Grundlage, die in der Gegenüberstellung und der einseitigen negativen Beurteilung von Behinderung begründet ist (vgl. Hirschberg 2009, 299–308; zur Normalismustheorie Link 2009). Aus der Diskursanalyse lässt sich zudem folgern, wie Klassifikationen als gesellschaftlich geronnene Diskurse und Praktiken Behinderung produzieren und konstruieren: doing disability. Mit der Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes im Dezember 2016 wird das Sozialgesetzbuch IX mit dem Titel »Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen« (2001) reformiert, es tritt in Stufen bis 2020 in Kraft. Es fasst Behinderung in § 2 SGB IX – geltend seit dem 01.01.2018 – wie folgt: »(1) Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. (2) Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. (3) Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist.«

Auch die Neufassung des SGB IX von 2018 charakterisiert Behinderung als Abweichung der individuellen Funktion, Fähigkeit oder Gesundheit vom für das Lebensalter eines Menschen typischen, als normal angesehenen Zustand. Sie nutzt zwei weitere Kriterien: die Alterstypik sowie die hohe Wahrscheinlichkeit, mit der eine Beeinträchtigung länger als ein halbes Jahr von der für das jeweilige Lebensalter erwarteten Typik abweicht. Diese Normalitätsorientierung – gekennzeichnet durch die drei Merkmale der Wahrscheinlichkeit, der Abweichung und der Alterstypik – grenzt die Bestimmung von Behinderung entscheidend ein. Somit orientiert sich diese Behinderungsdefinition, trotz des Aufgreifens der Wechselwirkung von Beeinträchtigungen mit Barrieren, noch stark an einem individualistischen Verständnis von Behinderung. Das

Kriterium der Dauer von sechs Monaten bietet nicht mehr als einen Anhaltspunkt, da chronische Erkrankungen aufgrund intensiverer oder schwächerer Schübe unterschiedlich lange dauern können. Chronische Erkrankungen lassen sich daher über das Kriterium der Dauer nicht adäquat erfassen. Das Alterskriterium erscheint nur plausibel für jüngere Altersgruppen, für Menschen höheren Alters nicht. Ältere Menschen sind häufig gebrechlich und pflegebedürftig; in dieser Altersgruppe ist es dementsprechend sogar typisch, beeinträchtigt zu sein. Die Beschreibung des Alters verweist daher eher auf die Abgrenzung zwischen Eingliederungshilfe und Pflege, also auf unterschiedliche finanzielle Budgets und deren Begründungen. Die seit 2018 anteilig an der BRK ausgerichtete Definition ist leitend für die Bewilligung von Leistungen für behinderte Menschen. Wie das gesamte deutsche Recht soll auch das SGB IX (BTHG) und hiermit auch diese Definition im Licht der am 26. März 2009 in Deutschland als einfaches Recht in Kraft getretenen UN-BRK gelesen werden. Inwiefern dies vollzogen wird, ist an der Rechtsprechung nicht einheitlich zu erkennen, sondern vielschichtig (vgl. http://www. reha-recht.de/ Aufruf vom 9. Dezember 2019).

3.4 Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen Auch wenn die vorher verabschiedeten Menschenrechtsverträge für alle Menschen und folglich auch für behinderte Menschen gelten, wurde beschlossen, die Rechte behinderter Menschen noch einmal explizit herauszustellen und deren Rechtsausübungsmöglichkeiten zu stärken (vgl. Degener 2009). Die UN-BRK ist eine Antwort auf die systematische und strukturelle Benachteiligung behinderter Menschen weltweit. Mit der UN-BRK sind die Staaten, die die Konvention unterzeichnet und ratifiziert haben, verpflichtet, das Ziel zu verfolgen, »den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern« (Art. 1 Abs. 1 BRK). Definiert wird nicht Behinderung, sondern die Gruppe behinderter Menschen: »Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der

3  Definitionen und Klassifikationen vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.« (BRK, Art. 1 Abs. 2; vgl. Hirschberg 2011)

Im Gegensatz zur Definition des SGB IX (BTHG 2018) wird Behinderung hier – ähnlich wie in der ICF – als Ergebnis der Wechselwirkung von Beeinträchtigungen und Barrieren konstruiert. Diese Definition ist hinsichtlich des zeitlichen Kriteriums offener als die SGB IX-Definition (in der BTHG-Fassung). In der UN-BRK wird herausgestellt, dass Barrieren die Teilhabe behinderter Menschen einschränken. Jeder Vertragsstaat muss behinderten Menschen den Zugang zu allen Lebensbereichen ermöglichen, damit sie ihre Rechte ausführen und genießen können. Mit dem häufig verwendeten Begriff ›gleichberechtigt‹ wird verdeutlicht, dass behinderte Menschen aus Menschenrechtsperspektive gleichberechtigt mit nichtbehinderten Menschen sind.

3.5 Die Konstruktion von Behinderung aus Perspektive der Disability Studies Die Kontroverse zwischen medizinischem und sozialem Modell von Behinderung lässt sich auch als Kampf um die Definitionsmacht bezeichnen, ob Behinderung als durch individuelle Beeinträchtigungen oder gesellschaftliche Benachteiligung verursacht wird. Das soziale Modell von Behinderung wurde von der britischen Behindertenbewegung seit den 1970er Jahren entwickelt, ähnlich auch das US-amerikanische Minderheitenmodell (vgl. Hirschberg/Köbsell 2016). Der Fokus liegt auf gesellschaftlichen Barrieren und Ausschlussprozessen, durch die beeinträchtigte Menschen von der nichtbehinderten Mehrheitsgesellschaft benachteiligt werden (s. u.). Michael Oliver, einer der britischen Begründer der Disability Studies, fasst zusammen, wie Behinderung in den letzten 100 Jahren konstruiert wurde: zum einen als medizinisches Problem, das möglichst geheilt oder gelindert, und zum zweiten als soziales Problem, das sozial versorgt werden soll: »In the past 100 years or so, industrial societies have produced disability first as a medical problem requiring medical intervention and second as a social problem requiring social provision. Research, on the whole, has operated within these frameworks and sought to classify, clarify, map and measure their dimensions.« (Oliver 1992, 101)

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In den britischen Disability Studies wurden Beeinträchtigung und Behinderung in den Prinzipien der Union of the Physically Impaired Against Segregation (UPIAS) definiert, und zwar: impairment als »lacking all or part of a limb, or having a defective limb, organ or mechanism of the body« und disability als »[...] the disadvantage or restriction of activity caused by a contemporary social organisation which takes no or little account of people who have physical impairments and thus excludes them from participation in the mainstream of social activities.« (UPIAS 1975)

Diese grundlegende Definition analysiert die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer Wirkung für beeinträchtigte Menschen, die gesellschaftlich benachteiligt und behindert werden.

3.6 Fazit Die Analyse der machtvollen Konstruktion von Behinderung und Nichtbehinderung in den anerkannten sozialrechtlichen Konstruktionen und Klassifikationen ebenso wie in der UPIAS-Definition von Behinderung zeigt, dass Behinderung in Abgrenzung zu Nichtbehinderung, auch als Funktionsfähigkeit bezeichnet, konzeptualisiert wird. Ebenfalls wird deutlich, dass Gesellschaften von Aushandlungspraxen geprägt sind, was besonders den Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen bzw. die Erlangung von Chancen betrifft. Definitionen und Klassifikationen haben keinen Selbstzweck, sondern werden in Aushandlungsprozessen mit unterschiedlichen Zielen eingesetzt. Aus Perspektive der Disability Studies ist es entscheidend, diese unterschiedlichen Interessen und Praxen transparent zu machen und Definitionen und Klassifikationen für das Ziel gleichberechtigter gesellschaftlicher Teilhabe aller behinderten Menschen einzusetzen. Literatur

Degener, Theresia: Menschenrechte und Behinderung. In: Markus Dederich/Wolfgang Jantzen (Hg.): Behinderung und Anerkennung. Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik. Stuttgart 2009, 160–169. Dörner, Klaus: Wege der Psychiatrie (Psychiatriegeschichte). In: Klaus Dörner/Ursula Plog/Thomas Bock/Peter Brieger/Andreas Heinz/Frank Wendt (Hg.): Irren ist menschlich. Lehrbuch der Psychiatrie und Psychotherapie. Köln 2017, 687–714.

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Libuda-Köster, Astrid/Schildmann, Ulrike: Institutionelle Übergänge im Erwachsenenalter (18–64 Jahre). Eine statistische Analyse der Verhältnisse zwischen Behinderung und Geschlecht. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 85/1 (2016), 7–24. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Wiesbaden 32009. Oliver, Michael: Changing the Social Relations of Research Production? In: Disability, Handicap & Society 7/2 (1992), 101–114. Union of the Physically Impaired Against Segregation (UPIAS): Fundamental principles of Disability. London 1975. Welti, Felix: Behinderung und Rehabilitation im sozialen Rechtsstaat – Freiheit, Gleichheit und Teilhabe behinderter Menschen. Tübingen 2005. WHO/World Health Organisation: The International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps. Genf 1980. World Health Organisation: The International Classification of Functioning, Disability and Health. Genf 2001.

Marianne Hirschberg

4  Disability Studies als kritische kulturwissenschaftliche Perspektive

4 Disability Studies als kritische kulturwissenschaftliche Perspektive Die Besonderheiten der Disability Studies in Deutschland können über die Darstellung ihrer Anfänge in Großbritannien und den USA aufgezeigt werden. Dies soll erläutern, weshalb gerade für sie die Forderung wesentlich ist, mehr Energie in die Theorieentwicklung zu verwenden. Für die Weiterentwicklung der Disability Studies könnte insbesondere eine kritisch kulturwissenschaftliche Perspektive hilfreich sein, um Theorien von Behinderung im Sinne der Sozialwissenschaften zu generieren. Ebenso wichtig erscheint das Ziel, die Perspektive der Disability Studies breiter in den Hochschulen interdisziplinär zu institutionalisieren. In Anlehnung an die Disability Studies Deutschland soll im Folgenden von ›behinderten Menschen‹ die Rede sein. Auch wenn dabei die bestehende dichotome Logik von ›behindert‹/›nicht-behindert‹ beibehalten wird, erscheint es notwendig, auf die Diskriminierung und soziale Ausschließung entlang dieser kategorialen Zuschreibung aufmerksam zu machen.

4.1 Entwicklung der Diskurse In den 1970er Jahren formierte sich eine Bewegung betroffener (in der Regel körperlich behinderter) Menschen. Diese kamen zusammen und forderten gemeinsam gleiche Rechte und Chancen für behinderte wie nichtbehinderte Menschen. Ihre öffentlichen Statements und Aktionen machten auf viele Missstände aufmerksam. So empörten sie sich u. a. über Rechtsprechungen, etwa darüber, dass 1980 eine Urlauberin Schadensersatz zugesprochen bekam, weil sie im Urlaub »die Anwesenheit einer Gruppe von 25 geistig und körperlich Schwerstbehinderten« im selben Hotel zu ›ertragen‹ hatte und dies »eine Beeinträchtigung des Urlaubsgenusses darstellen kann«, so damals das Landgericht Frankfurt (Landgericht Frankfurt, 25.2.1980; zit. nach Christoph 1983, 92). Die damalige Haltung gegenüber behinderten Menschen steht in einer langen Tradition der Diskriminierung, die ihren schrecklichen Höhepunkt in der Zeit des Nationalsozialismus gefunden hatte (s. Kap. 28), die jedoch keinesfalls mit Kriegsende aufhörte. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Vernichtung behinderter Menschen während des Nationalsozialis-

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mus war das Bild von Behinderung in der Gesellschaft ein überaus widersprüchliches. Aus einer zutiefst eugenischen Haltung (s. Kap. 12), orientiert an dem Streben nach einem ›gesunden Volkskörper‹ und der Entwicklung einer reinen, ›fehlerfreien Herrenrasse‹, wurde während des Nationalsozialismus ›behindertes‹ Leben als ›unwert‹ deklariert, was zur Tötung Behinderter führte. Allein durch die ›Aktion T4‹ (benannt nach der leitenden Zentraldienststelle T4 in Berlin, die in der Tiergartenstraße 4 ihren Sitz hatte, waren es zwischen 1940 und 1941 bereits 70.000 Menschen; bis 1945 fielen über 200.000 Menschen der Euthanasie zum Opfer. Der Versuch, Behinderung fast komplett aus der alltäglichen Sichtbarkeit herauszuschneiden, gelang jedoch keinesfalls, da vor allem mit fortschreitender Kriegserfahrung immer mehr Menschen, Soldaten wie Zivilisten, durch den Krieg Schädigungen erfahren hatten. So waren die ersten Interessenverbände der Nachkriegszeit die der Kriegsversehrten, in welchen auch sogenannte Zivilbeschädigte vertreten wurden (vgl. Fandrey 1990, 261–262) (s. Kap. 39). Der Umgang mit der Historie war ebenso zweifelhaft und ungenügend wie die Schaffung eines angemessenen Sozialwesens. So gründeten Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre Eltern behinderter Kinder eine Vielzahl an Initiativen wie den Elternverein ›Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind‹. Wenngleich diese Initiativen insofern erfolgreich waren, dass Kinder mit einer Beeinträchtigung überhaupt einen Schulplatz erhielten, so war dies keinesfalls gleichzusetzen mit einem Platz im Regelschulsystem. Vielmehr wurden dadurch verstärkt Sondereinrichtungen geschaffen. Es entstanden überwiegend teilstationäre Angebote wie Sonderkindergärten, Sonderschulen oder auch Behindertenwerkstätten, die durchaus als Kritik an den bestehenden totalen Großeinrichtungen, die das gesamte Leben betrafen (Wohnen, Arbeiten, Freizeit), und deren Zuständen verstanden wurden. Auch die kritische Auseinandersetzung der sogenannten Psychiatrie-Enquête (Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland) von 1975, die auf menschenunwürdige Zustände aufmerksam machte, kann als Teil bzw. Ergebnis einer sich als Antipsychiatriebewegung (s. Kap. 38) formierenden, durch Wissenschaftler initiierten sozialen Bewegung dieser Zeit verstanden werden. Viele der damaligen, sich neu formierenden Hilfen orientierten sich an dem sogenannten Normalisierungsprinzip (s. Kap. 42), das zum Ziel hatte, Menschen mit Beeinträchtigung in die Gesellschaft zu integrieren. Kritisiert wurden jedoch die normierende

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_4

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I  Vorstellungen von ­Behinderung in Praxis und Theorie  –  A  Definitionen und Konzepte

Funktion der diesen Hilfen zugrundeliegenden Konzepte und deren unkritische Nutzung eines Norm-Begriffs. In den Sondereinrichtungen weitete sich das Angebot zu einer kompletten Versorgung aus: Wohnen, Arbeit, Erholung und Freizeit (vgl. Brück 2010). Da die Eltern der Menschen mit Behinderung als Gründer*innen von Vereinen häufig selbst die Funktion der Träger*innen dieser ersten Einrichtungen einnahmen, waren die Nutzer*innen von ihnen besonders abhängig. Aus dieser diskriminierenden Situation heraus entwickelte sich in Deutschland die Krüppelbewegung, angeregt und ermutigt durch die sogenannte ›Unabhängig Leben-Bewegung‹ der 1970er Jahre in den USA und durch die zeitgleiche Initiative in Großbritannien, die aus den Bürgerrechtsbewegungen der späten 1960er Jahre hervorging. »In Deutschland hat es eine durchaus parallele Entwicklung zur US-amerikanischen Independent Living Bewegung gegeben. Sie reicht zurück in die späten 60er Jahre, als in kritischer Distanz zur Behindertenarbeit der traditionellen Wohlfahrtsverbände und einiger Elternselbsthilfevereinigungen der Club 68 als ›Vorläufer der Clubs der Behinderten und ihrer Freunde‹ [...] entstand. Wenige Jahre später gab es dann erste politische Aktionen körper-, seh- und mehrfachbehinderter Menschen, die sich in einem selbstorganisierten Zusammenschluss einer ›Krüppelbewegung‹ gegen Diskriminierung, Benachteiligung und Unterbringung in Pflegeheimen, Behindertenanstalten oder auch Psychiatrien wandten.« (Theunissen 2001)

Zentrale Person war in den USA der Soziologe Irving Kenneth Zola (1994), auf welchen 1982 die Gründung der Society for the Study of Chronic Illness, Impairment and Disability (SSCIID) und der Zusammenschluss behinderter Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen zurückgeführt wird. 1986 benannte diese sich in ›Society for Disability Studies‹ (SDS) um. In Großbritannien formierte sich um die gleiche Zeit eine Gruppe um den Soziologen Mike Oliver, die als ›Disability Research Unit‹ an der University of Leeds (DRU) bekannt wurde. Diese war 1990 das erste Institut für Disability Studies in Europa, heute bekannt als Centre for Disability Studies (CDS) (vgl. http://www. disabilitystudies.de/studies.html#woher). Anders als in den USA und in Großbritannien, wo die Disability Studies von kritischen betroffenen Wissenschaftler*innen ausgingen und von Beginn an ei-

ne universitäre, wissenschaftlich orientierte soziale Bewegung waren, die auch politisch Einfluss nahm, generierte sich die deutsche Behindertenbewegung zunächst vordringlich über politische Aktionen Betroffener als sogenannte Krüppelbewegung. Als Disability Studies formierten sich Betroffene erst 2001 und stellten damit auch vergleichsweise spät die Forderung nach akademischer bzw. wissenschaftlicher Anerkennung als interdisziplinäre theoretische Perspektive in den Vordergrund. Bis heute sind vergleichsweise wenige Professuren, Lehrstühle etc. für Disability Studies ausgewiesen. Vielmehr hat sich über die Organisation der Behindertenhilfe auch akademisch eine gesonderte Disziplin etabliert: die Sonder- und Heilpädagogik. Insgesamt wird das Hilfesystem auch von Sonder-Experten getragen. Insofern ist die Abwehr bzw. Einschränkung der Disability Studies quasi systemerhaltend für die bestehende Behindertenhilfe in Deutschland. Die Krüppelbewegung war zuerst vor allem eine politische Protestbewegung, die auf Missstände hinwies und aus diesen politische Forderungen ableitete. Dabei griffen ihre Anhänger*innen auf konkrete, eigene Erfahrungen zurück. Sie eigneten sich die Bezeichnung ›Krüppel‹ als Symbol des Protestes an und deuteten sie provokant um. Damit begehrten sie auf gegen gesellschaftliches Mitleid einerseits, das in überzogener und damit entmündigender Fürsorge endete, und andererseits gegen die herrschende gesellschaftliche und soziale Diskriminierung, die ihnen Gleichberechtigung vorenthielt (vgl. Sierck 2012, 31–33). Die Aktivist*innen der Krüppelbewegung bestanden darauf, Expert*innen ihrer selbst zu sein und deshalb bessere kollektive Hilfen entwickeln zu können. Dazu war es notwendig, sich als politische Macht zu organisieren und initiativ zu werden. Vorrangige Ziele waren die Deprofessionalisierung, Deinstitutionalisierung und Entmedikalisierung einerseits und die Hervorhebung der Peers, d. h. die von der Diagnose unabhängige Beachtung und Einbeziehung der Betroffenen in ihre Lebensplanung, also Selbstpräsentation und die Chance eigenständiger Entscheidungsmöglichkeiten (vgl. Theunissen 2001). Das Ziel war also eher die akute Abwehr der bisherigen Professionellen und nach und nach deren dauerhafte Verdrängung. Im Zuge des offiziellen Jahres der Behinderten 1981 fand in Dortmund das ›Krüppeltribunal‹ statt, welches die nach Selbstlob heischenden Veranstaltungen der traditionellen Wohlfahrtsverbände und Hilfsorganisationen entlarven sollte, auf die bestehenden massiven Menschenrechtsverletzungen hinwies und

4  Disability Studies als kritische kulturwissenschaftliche Perspektive

»Freiheitsberaubung, Zwangsbehandlungen, Zwangsmedikation oder Zwangssterilisation« anprangerte (Theunissen 2001). Den Entschluss, die AG Disability Studies in Deutschland zu entwickeln, wurde im Anschluss an die Tagung im Rahmen der Ausstellung »Der Imperfekte Mensch« in Dresden 2001 vorangetrieben. Initiatorinnen waren u. a. Anne Waldschmidt und Theresia Degener. Die AG gründete sich dann offiziell im April 2002 an der Universität Dortmund (vgl. AG Disability Studies in Deutschland, http://www. disabilitystudies.de/). Sie erhebt den Anspruch, auf wissenschaftliche Einzeldisziplinen Einfluss zu nehmen. Zentrales Ziel ist ein Perspektivenwechsel. Studien zur Behinderung sollen nicht die Beeinträchtigung als solche, »sondern die Bedeutung, die diese auf gesellschaftlicher, politischer und kultureller Ebene sowie für die Betroffenen hat«, ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellen (vgl. http://www.disability studies.de/studies.html). Oder anders ausgedrückt: Es werden nicht individuelle Schädigungen, sondern »die gesellschaftlichen, ideologischen und diskursiven Bedingungen« erforscht, die als Fundament stabiler Normen und einer defizitären Betrachtungsweise aller davon Abweichenden zu betrachten sind. Dies folgt der Idee des sozialen Modells von Behinderung in Abgrenzung zum medizinischen Modell. Das medizinische Modell gilt als das hegemoniale Modell in unserer Gesellschaft, es bezieht sein Wissen vorrangig aus den Wissenschaften, die die medizinische Diagnostik zugrunde legen, d. h. die von einem gesellschaftlichen Normalzustand der Körper, der Psyche und der kognitiven Fähigkeiten ausgehen und Behinderungen als davon abweichend begreifen, gar »die Norm einer erwünschten Biologie zur Grundlage sozialer Bewertung« machen (Rommelspacher 1995, 56). Die Disability Studies kritisierten die gesellschaftlich hegemoniale Naturalisierung von Behinderung und stellten sich von Beginn an vehement gegen sie, da Behinderung dadurch auf einen (biologischen) Tatbestand reduziert und nur verkürzt betrachtet werde (vgl. http://www.disabilitystudies.de/studies.html). Entsprechend sind die zentralen Grundprinzipien der Disability Studies nach Hermes (vgl. 2006, 21–23): • Behinderung wird als ein ›sozial verliehener Status‹ betrachtet. • Gegenstand der Disability Studies ist das Phänomen ›Behinderung‹. • Die Disability Studies begreifen sich als parteiisch. Entsprechend ihrer Grundannahme, dass behin-

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derte Menschen diskriminiert und unterdrückt werden, untersuchen sie die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie leben. • Die Disability Studies arbeiten behinderungsübergreifend. • Die Disability Studies verstehen sich als interdisziplinär und erforschen die Konstruktion ›Behinderung‹ aus den unterschiedlichsten Disziplinen. • Die Disability Studies vollziehen einen grundlegenden Perspektivwechsel, wonach aus der Sicht der Minderheit der behinderten Menschen die Mehrheitsgesellschaft untersucht wird. • Durch die Erforschung von Diskriminierung bzw. der Art und Weise, wie diskriminiert wird, soll gleichzeitig auf die Gruppe behinderter Menschen aufmerksam gemacht werden. Dazu werden die Betroffenen aktiv in die Forschungsprozesse einbezogen. Durch diesen veränderten Blick und die Erzeugung eines anderen Wissens über ›Behinderung‹ sollte erstens politisch ein spürbares Ergebnis im Alltag der Betroffenen ankommen und zweitens eine tiefere Erkenntnis von Behinderung erzeugt werden. Bezüglich des ersten Punktes wurde seither manches erreicht, wenngleich längst nicht genug; übergriffige Hilfe wurden beispielsweise nicht abgeschafft. Dennoch wird Behinderung, entsprechend der UNBehindertenrechtskonvention aus dem Jahr 2006, zumindest über veränderte bauliche Maßnahmen für Barrierefreiheit sichtbarer; auch eine autonomere Lebensführung behinderter Menschen wird in Teilbereichen möglich. Das Konzept der Inklusion bzw. dessen Umsetzung wird diskutiert (s. Kap. 16). Behinderteneinrichtungen werden hinterfragt und dezentralisiert. Leider wird bis dato die Perspektive der Betroffenen nach wie vor umgangen und das Ziel der Selbstbestimmung nur sehr unzureichend erfüllt. Vieles hängt immer noch an einer Rechtslogik, die von einem medizinischen Blick ausgeht, der die Unterstützung bemisst und Abhängigkeitsverhältnisse festschreibt. Nach wie vor ist das allgemeine gesellschaftliche (vermeintliche) Wissen über Behinderung in erster Linie eines aus einer medizinischen Perspektive, ein diagnostisches Wissen über ›Behinderte‹. Die akademische Verortung an Hochschulen blieb bisher, bis auf wenige Ausnahmen, im Vergleich zu den etablierten Wissensproduzent*innen dieses Feldes gering. Die Kritik an dieser Ausrichtung und die Forderung nach weiterer Theoriearbeit aus den Disability Studies, wie sie vor allem Anne Waldschmidt vertritt, sind logisch und längst fällig.

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I  Vorstellungen von ­Behinderung in Praxis und Theorie  –  A  Definitionen und Konzepte

4.2 Der Diskurs um Entwicklungen: Modelle und Theorien zu Behinderung Ausgehend von dem Vortrag »Jenseits der Modelle ...« auf der Disability Studies-Konferenz in Berlin (19.10.– 21.10.2018) sollen im Folgenden skizzenhaft die Diskurslandschaft in den Disability Studies und deren theoretische Bezüge aufgezeigt werden. Gehalten wurde der Vortrag von Anne Waldschmidt, einer der Initiatorinnen der deutschsprachigen Disability Studies und Inhaberin des ersten so denominierten Lehrstuhls in Deutschland, die in ganz besonderer Weise für die theoretische Weiterentwicklung der Disability Studies steht. Waldschmidt beginnt mit einem Zitat des Literatur- und Kulturwissenschaftlers Lennard Davis, der seine Doktorarbeit bei einem der Mitbegründer der Postcolonial Studies, Edward Said, verfasst hat: »When it comes to disability, ›normal‹ people are quite willing to volunteer solutions, present anecdotes, recall from a vast array of films instances they take for fact. No one would dare to make such a leap into Heideggerian philosophy for example or the art of the Renaissance. But disability seems so obvious – a missing limb, blindness, deafness. What could be simpler to understand? One simply has to imagine the loss of the limb, the absent sense, and one is half-way there.« (Davis 2006, xvi)

An diesem Zitat verdeutlicht Waldschmidt, dass (nach wie vor) alle ›normalen‹ Menschen beim Thema Behinderung annehmen, sie wüssten Bescheid und könnten mitreden. Und wenn es um die Behandlung von Behinderung und Behinderten gehe, dann bedürfe es der Expert*innen, die wiederum keine Betroffenen sind. Das sei quasi Alltagswissen. Aber um genau dies zu hinterfragen, haben sich die Disability Studies konstituiert. Damit unterscheiden sie sich diametral von Wissenschaften wie beispielsweise den Heil- und Sonderpädagogik(en). Seit der Entstehung der Disability Studies wird, so Waldschmidt (2018), über Modelle diskutiert, und ihr Anliegen sei, den Stellenwert von Theoriearbeit hervorzuheben. Hierzu stellt Waldschmied sechs »Modelle der Behinderung« vor und orientiert sich dabei an Dan Goodleys Einführung in die Disability Studies (2011): das individuelle, das gesellschaftsorientierte (hier führt sie drei verschiedene Untermodelle an), das relationale, das soziale Modell, das Randgruppenmodell sowie das kulturelle und das menschenrechtliche Modell.

• Das individuelle Modell ist, wie bereits zuvor dargelegt, eng verknüpft mit einer medizinischen Perspektive. Es ist das hegemoniale Modell, an welchem sich im Prinzip unser Hilfesystem ausrichtet und das auch bedeutenden Einfluss auf ein Alltagsverständnis von Behinderung gefunden hat. Dadurch gilt es als das Kontrastmodell der Disability Studies. • Das relationale Modell ist eng verknüpft mit dem Normalisierungsprinzip. In den 1950er Jahren wurde es zunächst von dem Dänen Niels Erik Bank-Mikkelsen entwickelt. Als konsequenten Integrationsansatz arbeitete der Schwede Bengt Nirje es anschließend für acht Lebensbereiche aus, die von ›Tagesrhythmus‹ über ›sexuelle Lebensmuster‹ bis hin zu ›ökonomische Bedingungen‹ reichen (vgl. Nirje 1994, 13). Wenngleich dieses Modell zu ersten Veränderungen des Versorgungssystems führte und zu Konzepten der Integration, rief es dennoch in den Reihen der internationalen Disability Studies Kritik hervor, z. B. von Michael Oliver, da es zu wenig gesellschaftskritisch und zu sehr an Expert*innen orientiert sei. • Das soziale Modell bezeichnet Waldschmidt in ihrem Vortrag als »ein waschechtes Modell der Disability Studies« (Waldschmidt 2019). Es inspirierte und unterstützte »im Kampf um politische und rechtliche Gleichstellung« und »kulturelle Anerkennung« (ebd.). Trotz seiner breiten Nutzung in den Disability Studies wurde es von Beginn an auch kritisch rezipiert. Aus Waldschmidts Sicht ist insbesondere die Ignoranz des Körpers zu bemängeln und die zu schlichte Dichotomie von impairment und disability oder ›Natur‹ und ›Kultur‹, die ihm zugrunde liegt. Das körpertheoretische Gegenargument sei, dass ›behindert sein‹ und ›behindert werden‹ keine trennscharfen Kategorien sind, weshalb ein kritischer Begriff von Beeinträchtigung nötig sei, um keinem naiven Naturalismus aufzusitzen. Gleichwohl biete das soziale Modell eine Heuristik, die von unterschiedlichen Theorieansätzen gefüllt werden könne. Daher sei dieses Modell in den Disability Studies nach wie vor wesentlich und impulsgebend. Es sei eher britischer Prägung, während das Randgruppenmodell aus den USA stamme. • Das Randgruppenmodell geht davon aus, dass Menschen aufgrund eines Merkmals, d. h. einer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe jenseits von Schichten- und Klassenzugehörigkeit diskriminiert werden und Benachteiligungen er-

4  Disability Studies als kritische kulturwissenschaftliche Perspektive

fahren, die sie aus der Gesellschaft ausschließen bzw. außerhalb der Gesellschaft positionieren. Gerade dieser Aspekt des ›Außerhalb-Seins‹ wird kritisiert, weil er außer Acht lässt, dass diese Diskriminierungen und Benachteiligungen ein integraler Teil des bürgerlichen, gesellschaftlichen Verständnisses sind (vgl. Bauman 1999). • Das menschenrechtliche Modell steht für einen von der Behindertenrechtskonvention ausgehenden Paradigmenwechsel. Waldschmidt gesteht diesem Modell durchaus einige Stärken zu, sieht jedoch auch Schwächen wie z. B. die Frontstellung gegen das soziale Modell. Theresia Degener ist hingegen eine der Hauptverfechterinnen des menschenrechtlichen Modells. Nach Waldschmidt ist dieses Modell jedoch zu wenig anregend für die Entwicklung von Theorien. Zudem sei es ein affirmatives Modell, das die Auseinandersetzung mit Stärken und Schwächen der Menschenrechtspolitik nicht berücksichtige, konkret Theorien zur sozialen Gerechtigkeit wie beispielsweise jene von Nancy Fraser (2001). Waldschmidt drängt darauf, auch »Menschenrechte [...] ebenso wie Behinderung als historische, soziale und kulturelle Konstruktionen« zu begreifen (Waldschmidt 2018) und sie z. B. im Kontext der Postcolonial Studies zu reflektieren. • Das kulturelle Modell setzt sich mit kulturwissenschaftlichen Theorien und Methoden im Kontext von Behinderung auseinander, wurde in den 1980er Jahren im US-amerikanischen Raum entwickelt und etabliert sich anschließend auch in anderen Ländern. Waldschmidt selbst zählt zu den Vertreter*innen dieses Modells und beansprucht für sich ein kritisch reflexives Denken von Behinderung, Fähigkeiten und Beeinträchtigung. Das kulturelle Modell trüge auch zu Debatten der Gender, Queer oder Postcolonial Studies bei (Waldschmidt 2018), die ebenso wie die Disability Studies die Normen und Werte des hegemonialen Mainstreams in Frage stellen (vgl. Köbsell 2010). Dabei besteht, laut Waldschmidt (2018), die Gefahr, sich auf Kultur nur im engeren Sinn und dabei zu oft nur auf Symbole, Werte etc. zu beziehen und zu selten Materielles, Dinge und konkrete Objektivation von Kultur zu analysieren. Laut Waldschmidt geht es immer auch um das »Zusammenspiel von Kultur und Gesellschaft« (ebd.) und damit um Machtverhältnisse und Probleme von Herrschaft, Gewalt und Ungleichheit, die oft im kulturellen Modell aus dem Blick geraten.

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Waldschmidt entwickelt in ihrem Vortrag das Argument, dass die Disability Studies, wenn sie als Forschungsperspektive ernst genommen werden wollen, weder bei der Modelldiskussion noch bei der Begriffsarbeit stehen bleiben sollten. Sie zeigt z. B. Bezüge des kulturellen Modells zu Theorien der Gender, Queer und Postcolonial Studies auf. Insgesamt macht Waldschmidts kritische Auseinandersetzung mit den Modellen deutlich, wie wichtig das kulturelle Modell ist und weshalb sich die Disability Studies als interund transdisziplinäre Wissenschaft verstehen (vgl. Raab 2007).

4.3 Weiterentwicklung einer kritischen kulturtheoretischen Perspektive Es fehlen weniger die Theorien, denn die Auseinandersetzung mit diesen und deren Weiterentwicklung. Dies gilt vor allem vor dem Hintergrund, dass Theorien die Brille darstellen, mit der Wirklichkeit beobachtet und erfahren wird. Gerade deshalb ist der Streit um eine angemessene Theorie so wichtig. In den aktuellen kritischen Sozialwissenschaften begrenzt sich die theoretische Diskussion häufig auf Identitäts(politiken), während der body turn, also der Fokus auf das Leibliche, so wenig ernst genommen wird wie Materialitäten, Objektivierungen oder Vergesellschaftungsweisen sowie deren Zusammenhang mit anderen Individual- und Strukturmerkmalen. Die Herausforderung ist, all dies zusammen zu denken. Hier wird der Begriff ableism/›Ableism(us)‹ (s. Kap. 51) zentral. In der deutschsprachigen Debatte um den Begriff ableism ist Rebecca Maskos zu nennen, u. a. neben Schneider/Waldschmidt 2012. Maskos sieht den Körper und die ihm zugeschriebenen Fähigkeiten als kontextabhängig und gesellschaftlich bedingt an. Die Beurteilung der Menschen nach ihren Fähigkeiten, wie es aktuell der Fall sei, reduziere sie auf das, was sie können oder nicht können im Raster einer Norm (Maskos 2011). Dies entspreche einer Biologisierung, die so tue, als sei eine solche Beurteilung natürlich und damit nicht hinterfragbar. »Ableism ist die Beurteilung von Körper und Geist anhand von Fähigkeiten – die Bewertung eines Menschen entscheidet sich dabei danach, was sie oder er ›kann‹ oder ›nicht kann‹. Damit ist auch Ableism eine Form des Biologismus, ein Bewertungsmuster anhand einer erwünschten biologischen (körperlichen oder

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I  Vorstellungen von ­Behinderung in Praxis und Theorie  –  A  Definitionen und Konzepte geistigen) Norm. Der Mensch wird reduziert auf und gemessen an seiner körperlichen oder geistigen Verfassung: Sie bestimmt ihn als ganzen Menschen, ›macht ihn aus‹. In diesem Denken tun behinderte Menschen dann zum Beispiel immer etwas nur ›trotz‹ oder ›wegen‹ ihrer Behinderung.« (Maskos 2011)

Biologismen suggerieren, dass ›Natur‹ (Biologie) etwas anders als ›Kultur‹ und damit Dichotomien (z. B. ›behindert‹/›nicht behindert‹)weder sozial erzeugt noch wandelbar sind. Selbst wenn dabei beiden Polen etwas Positives zugeschrieben wird – so dass z. B. die ›Behinderten‹ weniger defizitär erscheinen –, wird an der Dichotomie an sich doch nicht gerüttelt. Durch die ›Aufwertung‹ der eigentlich negativ konnotierten Seite der Dichotomie wird vielmehr die grundlegende Diskriminierung verschleiert. Ein bekanntes Beispiel dafür liefert der sogenannte positive Rassismus, der US-Bürger*innen mit afroamerikanischem Hintergrund zugesteht, besonders gute Jazz-Musiker*innen zu sein, weil sie ›Rhythmus im Blut‹ haben (sog. ›Jim Crow-Effekt‹). Zwar entwickeln bestimmte soziale Gruppen aufgrund ihrer Sozialisation durchaus differente Fähigkeiten, doch sind diese wohl kaum biologisch festgelegt. Maskos (2011) formuliert ihre Ableismus-Kritik auch als Kritik an kapitalistischen Gesellschaften und deren Logik, nach der nur Menschen anerkannt werden, die etwas leisten und (ökonomischen) Gewinn erzeugen, wobei Hausarbeit oder Substitutionswirtschaft keine Leistungen seien. Hier verbindet sich also die Diskussion um Ableismus und geschlechtsspezifische Arbeitsteilung auf deutliche Weise. Da in kapitalistischen Gesellschaften die auf Warenwert und Tauschverhältnissen basierende Ökonomie als unhintergehbare Größe gilt und es zentral ist, Profit und Mehrwert zu produzieren, positioniert die Erwerbsarbeit einen Menschen in der Gesellschaft, sorgt für eine konstante Wettbewerbssituation um Positionen, Arbeitsplätze, höhere Preise, bessere Standortfaktoren etc. und macht die Mitglieder der Gesellschaft immer auch zu Konkurrent*innen. »Marx und andere Autor_innen, die sich auf ihn beziehen, meinen damit nicht nur die Konkurrenz von Unternehmer_innen um Marktanteile oder die Konkurrenz der Arbeiter_innen und Angestellten um Jobs. Sondern auch jenen Wettbewerb, der sich in die Sphäre der Reproduktion [...], also der Erholung von der Arbeit und in die Privatheit hinein verlängert.« (Maskos 2011)

Nun hat die Bearbeitung der Sozialen Frage bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts für eine Milderung zu großer Härten in den westlichen Industrienationen gesorgt, mal mehr, mal weniger erfolgreich (s. Kap. 27). Zentral dabei ist, dass dieses Abfedern sehr eng damit verbunden war, wie Menschen kategorisiert und welche Merkmale und Fähigkeiten damit festgeschrieben wurden, und damit auch, welche Ansprüche, Bedarfe und Bedürfnisse bzw. wie viel Eigensinn ihnen zugestanden wurden. Maskos spricht von einem »ökonomischen Zwangsverhältnis«: »[Wir] konkurrieren um gute Lebensbedingungen, Sicherheit und Aner­ kennung« (Maskos 2011). In dieser Logik wird ›Leistung‹ als die Größe dargestellt, die Rechte und Güter gerecht zu verteilen ermöglicht. »Um in der Konkurrenz mithalten zu können ist der funktionierende Körper und Geist von elementarer Bedeutung. Die Erwartungen an Körper und Geist sind hoch, manchmal erbarmungslos, und treten jedem gegenüber, erstmal unabhängig von Alter und Körper.« (Maskos 2011)

Entlang der Auseinandersetzung um Ableismus werden die gesellschaftliche Positioniertheit des Individuums, seine Identitätsentwicklung anhand gesellschaftlicher Zuschreibungen und eine damit einhergehende soziale Ungleichheit zentraler Bestandteil kritischer Sozialwissenschaften. Insofern sollte eine kritische Behinderungswissenschaft Theorien entwickeln, die die Gesellschaft als komplexes Ganzes im Blick haben. Und hier erscheinen die Cultural Studies in Verbindung mit einem materialistischen herrschaftskritischen Ansatz, wie er im Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) in Birmingham verfolgt wurde, ein enormes Potential zu haben. Dieser betrachtet das Phänomen Behinderung als Politik des Kulturellen, als Politik der Behinderungen (vgl. Hall 2000b, 141). Insgesamt sind die Cultural Studies in Großbritannien nicht ohne dieses CCCS denkbar, das Richard Hoggart 1964 ins Leben rief und als dessen bekanntester Vertreter und Kopf Stuart Hall gehandelt wird. Die Cultural Studies befassen sich mit Kultur im weitesten Sinn, denn sie brechen mit der Idee von ›hoher‹ oder ›niederer‹ Kultur. Stuart Hall erforscht insbesondere Phänomene der Populärkultur, wie vor ihm schon Antonio Gramsci oder der Kreis der Chicago School in den USA. Deren zentrales Forschungsfeld war das urbane Leben, das durch die Industrialisierung und die Einwanderung geprägt war, wie z. B. eine

4  Disability Studies als kritische kulturwissenschaftliche Perspektive

Studie von William I. Thomas und Florian Znaniecki über eingewanderte polnische Bauern. Durch die theoretische Perspektive des Pragmatismus ermöglichte Stadtforschung nun einen Einblick in Alltagskulturen, die bis dahin unbekannt waren, vor allem in Bereichen der Devianz- und Kriminalsoziologie. Einer der wesentlichen Beiträge der Chicago School ist die Betrachtung der Gesellschaft als ein Zusammenspiel strukturell ausdifferenzierter sozialer und kultureller Ordnungen und deren subjektive Deutung sowie der Handlungsweisen der Individuen. In The Child in America (1928) entwickeln William I. Thomas und seine Ehefrau Dorothy Swaine Thomas das sogenannte Thomas-Theorem, das da lautet: »Wenn die Menschen Situationen als real definieren, so sind auch ihre Folgen real« (Thomas/Thomas 1973, 334). In diesem Sinne sind individuell gemachte Erfahrungen und Deutungen ernst zu nehmen, was in gewisser Weise einen demokratisierenden Blick erlaubt. Für Stuart Hall ist Kultur nichts Elitäres, sondern etwas Gewöhnliches, Alltägliches: »Ich glaube, die Frage der Politik des Kulturellen oder der Kultur des Politischen kommt dem Begriff sehr nahe oder steht im Zentrum der Cultural Studies« (Hall 2000b, 141). Halls Vorstellung, die kulturelle und die politische Dimension zu verknüpfen, lassen Kultur, Macht und Identität nur zusammen denken. Besonders in den Blick geraten die Medien und deren Einfluss auf den Alltagsverstand, da sie in besonderer Weise an der Produktion sozialen Wissens beteiligt sind. Hall spricht in diesem Zusammenhang von Signifikationspolitik. Es geht ihm darum, Kommunikation und deren Struktur durch Kodieren bzw. Dekodieren aus einer kulturellpolitischen Perspektive zu erforschen (vgl. Hall 2004, 82). Insbesondere in der Sprache und deren Semantik bündeln sich Kultur und Politik und deren gesellschaftliche Repräsentation, also das hegemoniale Denken, d. h. die Haltung, die hinter Kommunikation steht. Im Zentrum der Kritik steht entsprechend die binäre hegemoniale Logik, die gesellschaftliche Zugehörigkeiten und Herrschaftsverhältnisse festschreibt, beispielsweise ›behindert‹ und ›nicht behindert‹. Hall will diese Logiken entkoppeln; hierbei werden die als natürlich erscheinenden Festlegungen dekodiert und die Biologismen sichtbar. Hall ist der Auffassung, dass »[...] wir alle von einer bestimmten gesellschaftlichen Position aus sprechen, aus einer bestimmten Geschichte heraus, aus einer bestimmten Erfahrung, einer bestimmten Kultur [...]. In diesem Sinne sind wir alle ethnisch verortet, unsere ethnischen Identitäten

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sind für unsere subjektive Auffassung darüber, wer wir sind, entscheidend.« (Hall 2000a, 23)

Aktuell ist die Herausforderung für sämtliche Theorieperspektiven, die aus sozialen Bewegungen entstanden sind (Gender, Queer oder Postcolonial Studies), sich einerseits mit Identitätsarbeit zu befassen und diese andererseits nicht auf ein Merkmal zu reduzieren. Vielmehr ist es nötig, strukturelle Ungleichheit, also Diskriminierungsverhältnisse, Lebenslagen, Klassenlagen, Lebenssituationen und Identitätsentwicklung sowie die Bedeutung von Wissen zu hinterfragen. Dabei gilt es, auch die empirische Forschung nicht zu vergessen. Theorieentwicklung findet in erster Linie durch Forschung i. d. R. an Universitäten und Hochschulen statt, also dort, wo bisher die Disability Studies, also die Betroffenenperspektive der Menschen mit Behinderung, nicht zur Regel gehörte, sondern in der diese ankämpfen musste gegen Expert*innenwissen vornehmlich der Medizin, der Psychologie, der Sonderpädagogik. Doch sollte sich die empirische Forschung durch bestehendes hegemoniales Wissen nicht den Blick vernebeln lassen. Dieses Denken entspricht auch der Grounded Theory nach Anselm L. Strauss (1998), einem sozialwissenschaftlichen Ansatz zur systematischen Generierung und Auswertung vorwiegend qualitativer Daten zum Zweck der Theoriebildung sogenannter mittlerer Reichweite. Will Forschung kritisch sein, erfordert dies eine auf Theorie bezogene und gleichzeitig naive Forschung, die auch die in Identitätspolitiken verstrickten Subjekte betrachtet. Waldschmidt spricht vom Ausgangspunkt des »Nichtwissens« (Waldschmidt 2018), das auch bisher unbekannte Betrachtungsweisen ermöglicht. Hierzu nur zwei Beispiele: Simone Danz (2014, 69) wendet sich in ihren Forschungen gegen bestehende »phantasmatische Vollkommenheitsvorstellungen« (Danz 2014, 69) und sucht danach, wie sich Subjekte in sozialen wie sprachlichen Bedeutungssystemen konstituieren. Dabei entwirft sie ein Subjekt, das generell verletzlich ist, und entlarvt damit einerseits bisher unbemerkte Diskreditierungen von Menschen und Lebensweisen und stellt andererseits neue Formen der Anerkennung heraus. In der Anerkennung, dass wir alle verletzlich sind oder unser Leben immer prekär ist, muss jedoch auch immer mitgedacht werden, dass dieser Status eben nicht gleich ist, weil er immer sowohl von individuellen als auch von strukturellen Ressourcen und Qualitäten bestimmt wird. Hier verschmelzen die (Selbst-)Einschätzungen, Vorstellungen und Zuschreibungen vom Körper mit den

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I  Vorstellungen von ­Behinderung in Praxis und Theorie  –  A  Definitionen und Konzepte

strukturellen Bedingungen und Normierungen zu einem komplexen Konstrukt. Einen weiteren instruktiven Zugang verfolgt Friedemann Affolderbach (2014). Er hat beispielsweise versucht, unterschiedliche Erfahrungswelten in einem Bildungsprojekt aufzugreifen und durch die Memorierung und Reflexion des Projektes neue Erkenntnisse zu gewinnen. Menschen mit einer kognitiven Einschränkung wurden in einem medienpädagogischen Projekt weitergebildet; dabei trat vor allem die im Verhältnis zu ihrer Klientel hierarchisch höhergestellte Position der Professionellen deutlich zutage, der Expert*innen sowohl der Bildungseinrichtung wie auch der Betreuenden, der Heimleitung. Immerhin, das ist ihnen zugute zu halten, ließen die Expert*innen das Projekt zu, obwohl sie davon ausgingen, dass die Klientel, die Behinderten, für derartige Bildungsangebote nicht geeignet sind (vgl. Affolderbach 2014, 76–77).

4.4 Fazit Es bedarf solcher Forschung, die die Behinderungen (der Gesellschaft) entlarvt und neue Einblicke in Lebenssituationen von Menschen ermöglicht, was für die Weiterentwicklung der Theorien zu Behinderung unabdingbar ist. Solche Forschungen erweitern das Spektrum der Möglichkeiten von Selbstbestimmung und machen weitere eigensinnige Lebensentwürfe denkbar und lebbar. Es bedarf außerdem einer Ausweitung kritischer theoriegeleiteter Forschung zum Alltag der (behinderten wie nicht behinderten) Menschen mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten, aber auch Zwängen. In der Wechselwirkung von Theorie und Praxis entsteht neues Wissen. Das gelingt jedoch nur dann, wenn Forschende auch immer wieder zu Lernenden werden. Vor diesem Hintergrund sollten alle Disziplinen kritischen Perspektiven wie denen der Disability Studies einen regulären Platz einräumen, so dass sich die (Sozial-)Wissenschaften insgesamt weiterentwickeln können und sie ihrem Auftrag, soziale Wirklichkeit zu untersuchen, gerecht werden. Dazu gehört wahrzu­ nehmen, welche blinden Flecken nach wie vor vorhanden sind, und die Theorie im Sinne demokratischer, emanzipatorischer gesellschaftlicher Entwicklung weiter voran zu bringen. Das bedeutet, die Disability Studies müssen Bestandteil der regulären Architektur, der Biologie, der Medizin, der Rechtswissenschaft werden. Denn nur, wenn ein anderes Selbstverständnis erzeugt

wird, können die Disability Studies tatsächlich kulturpolitisch wirkmächtig werden. Literatur

Affolderbach, Friedemann: Zur Frage von Bildung und »geistiger Behinderung« – Die Praxisreflexion eines medienpädagogischen Projektes mit theoriegestützten Impulsen. In: Widersprüche 133/34, 3 (2014), 75–91. Bauman, Zygmunt: Das Unbehagen in der Postmoderne. Hamburg 1999. Brück, Markus: Krüppelbewegung – Geschichte der Behinderung (2010), https://sonderpaedagoge.quibbling.de/ geschichte/wiki/index.php?title=Kr%C3 %BCppelbewegu ng&oldid= 478 (18.02.2020). Christoph, Franz: Krüppelschläge. Gegen die Gewalt der Menschlichkeit. Reinbek bei Hamburg 1983. Danz, Simone: Anerkennung von Verletzlichkeit und Angewiesen-Sein. In: Widersprüche 133/34, 3 (2014), 61–73. Davis, Lennard (Hg.): The Disability Studies Reader. New York 22006. Fandrey, Walter: Krüppel, Idioten, Irre. Zur Sozialgeschichte behinderter Menschen in Deutschland. Stuttgart 1990. Fraser, Nancy: Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe des postindustriellen Sozialstaates. Frankfurt a. M. 2001. Goodley, Dan: Disability studies. An interdisciplinary introduction. Los Angeles/London/New Delhi/Singapore/ Washington DC 2011. Hall, Stuart [2000a]: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hg. Ulrich Mehlem. Hamburg 2000. Hall, Stuart [2000b]: Cultural Studies. Ein politisches Theorieprojekt. Ausgewählte Schriften 3. Hg. Nora Räthzel. Hamburg 2000. Hall, Stuart: Ideologie Identität Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4. Hg. Juha Koivisto/Andreas Merkens. Hamburg 2004. Hermes, Gisela: Der Wissenschaftsansatz der Disability Studies – neue Erkenntnisgewinne über Behinderung? In: Gisela Hermes/Eckhard Rohrmann (Hg.): »Nichts über uns – ohne uns!«. Neu-Ulm 2006, 15–30. Köbsell, Swantje: Gendering Disability: Behinderung, Geschlecht und Körper. In: Jutta Jacob/Swantje Köbsell/ Eske Wollrad (Hg.): Gendering Disability. Intersektionale Aspekte von Behinderung und Geschlecht. Bielefeld 2010, 17–33. Maskos, Rebecca: »Bist Du behindert oder was?!« Behinderung, Ableism und souveräne Bürger_innen. Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung »Jenseits der Geschlechtergrenzen« der AG Queer Studies und der Ringvorlesung »Behinderung ohne Behinderte!? Perspektiven der Disability Studies«, Universität Hamburg (14.12.2011), https://www.zedis-ev-hochschule-hh.de/files/ maskos_14122011.pdf (22.04.2020). Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie [1890]. Berlin 1979. Nirje, Bengt: Das Normalisierungsprinzip – 25 Jahre danach. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 1 (1994), 12–32. Raab, Heike: Intersektionalität in den Disability Studies. Zur

4  Disability Studies als kritische kulturwissenschaftliche Perspektive Interdependenz von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht. In: Anne Waldschmidt/Werner Schneider (Hg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Bielefeld 2007, 127–148. Rommelspacher, Birgit: Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin 1995. Schneider, Werner/Waldschmidt, Anne: Disability Studies. In: Stephan Moebius (Hg.): Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies. Eine Einführung. Bielefeld 2012, 128–159. Sierck, Udo: Selbstbestimmung statt Bevormundung: Anmerkungen zur Entstehung der Disability Studies. In: Kerstin Rathgeb (Hg.): Disability Studies. Kritische Perspektiven für die Arbeit am Sozialen. Wiesbaden 2012, 31–37. Strauss, Anselm L.: Grundlagen qualitativer Sozialforschung: Datenanalyse und Theoriebildung in der empirischen und soziologischen Forschung. München 1998. Theunissen, Georg: Die Independent Living Bewegung.

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Empowerment-Bewegungen machen mobil (I). In: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft 3/4 (2001), 13–20, http://bidok.uibk.ac.at/library/beh3–4-01theunissen-independent.rtf.html (18.02.2020). Thomas, William I./Thomas, Dorothy S.: Die Definition der Situation. In: Heinz Steinert (Hg.): Symbolische Interaktion. Arbeiten zu einer reflexiven Soziologie. Stuttgart 1973, 333–335. Waldschmidt, Anne: Jenseits der Modelle: Theoretische Perspektiven der Disability Studies. Vortrag auf der Disability Studies Konferenz 2018, https://disko18.de/videos/ (30.03.2020). Zola, Kenneth Irving: Irving Kenneth Zola Dies at 59; Sociologist Aided the Disabled. In: The New York Times, Section B, 22 (8.12.1994), https://www.nytimes. com/1994/12/08/obituaries/irving-kenneth-zola-dies-at59-sociologist-aided-the-disabled.html (01.04.2020).

Kerstin Rathgeb

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I  Vorstellungen von ­Behinderung in Praxis und Theorie  –  A  Definitionen und Konzepte

5 Soziologie, Kulturwissenschaften, Behinderung 5.1 Kultur, Gesellschaft, Behinderung im disziplinären Spannungsfeld Es entspricht einer etablierten Diskussionslage in den Disability Studies (Tremain 2002; Shakespeare 2014; Waldschmidt 2017), dass das Thema ›Behinderung und Kultur‹ mit weitreichenden epistemologischen, ontologischen und methodologischen Implikationen aufgeladen wird. Damit verbunden ist eine Verschiebung von einem ›sozialen‹ zu einem ›kulturellen‹ Modell von Behinderung, die auch die Frage nach der disziplinären Lagerung eines kulturtheoretischen Zugangs im Spannungsfeld von Soziologie und Kulturwissenschaften aufwirft (s. Kap. 4). Diese Frage soll hier aufgegriffen und zu dem Problem des epistemologischen und ontologischen Status von Behinderung innerhalb des sowohl die Sozial- wie die Kulturwissenschaften betreffenden performative turn in Beziehung gesetzt werden. Mit dem Themenkomplex ›Behinderung und Kultur‹ bewegt man sich im Spannungsfeld von Soziologie und den verschiedenen Kulturwissenschaften. Dazu gehören die alten und neuen Philologien, die auf ästhetische Produktion bezogenen Wissenschaften (Kunst-, Film-, Theater-, Literatur-, Medienwissenschaften u. a. m.), aber ebenso Ethnologie bzw. Kulturanthropologie sowie teilweise die Geschichtswissenschaften. Die verbreitete Rede vom ›sozialen‹ und ›kulturellen‹ Modell ›der‹ Behinderung (Oliver 1996; Devlieger 2005; Waldschmidt 2005; 2006; 2011; 2017; Shakespeare 2014, 47–49) könnte nahelegen, diese Modelle auch im Sinne einer disziplinären Zuordnung zu interpretieren. Das würde eine auf den ersten Blick elegant erscheinende Sortierung disziplinärer Zuständigkeiten ermöglichen. Die Soziologie wäre für ›das Soziale‹, die Gesellschaft, zuständig – im Sinne von Themen des strukturellen Behindert-Seins und Behindert-Werdens in der gesellschaftlichen Praxis. Die Kulturwissenschaften würden sich spartenbezogen mit diskursiven, symbolischen, (alltags-) ästhetischen, sprachlichen, medialen Aspekten von Behinderung und Behinderungserfahrungen befassen. Soziologie hätte es dann mit ›Strukturen‹ und Praxis (Doings) zu tun, Kulturwissenschaften dagegen mit ›Bedeutungen‹, Diskursen und symbolisch-ästhetischen Objektivationen (Sayings). Gegen diese Version der Dinge – hier Kultur, dort

Gesellschaft – sprechen aber gewichtige systematische und disziplingeschichtliche Argumente. Gesellschaftliche Praxis gibt es nicht bedeutungs- und symbolfrei und Kultur, in welcher Realisierungsform auch immer, kommt nicht gelöst von gesellschaftlicher Praxis vor. Es gibt praktische Diskurse und diskursive Praktiken. Geteilte Bedeutungen und Symbolisierungen sind bereits soziale Strukturen und umgekehrt gibt es keine bedeutungsfreie soziale Ordnung. Soziales Handeln, soziale Beziehungen, ›Gesellschaft‹ können in diesem Sinn nicht ohne ›Kultur‹ starten, und umgekehrt gibt es ›Kultur‹ nicht ohne soziale Beziehungen, soziales Handeln und Gesellschaft. In dieser Verwobenheit liegt geradezu ein Gründungsimpuls des Faches Soziologie und ein Leitmotiv nahezu aller Grundlagentexte und Theorien der Soziologie des 20. Jahrhunderts. Die amerikanische pragmatistischinteraktionistische Tradition (John Dewey, George H. Mead, Erving Goffman u. A.), ebenso wie die eher kulturanthropologische französische Soziologie (Marcel Mauss, Émile Durkheim bis zu Pierre Bourdieu) und insbesondere die deutsche ›verstehende Soziologie‹ im Gefolge Georg Simmels, Max Webers und Alfred Schützs rekonstruieren sie zwar mit jeweils eigenen Akzentuierungen und in unterschiedlichen konzeptuellen Konfigurationen. Aber über diese ›soziokulturelle Generalhypothese‹ einer Komplementarität von gesellschaftlicher Praxis und Semiogenese als solcher besteht ein Grundkonsens quer über alle wichtigen sozial- und kulturtheoretischen Positionen hinweg. Mit den Begriffen ›Kultur‹ und ›Gesellschaft‹ »beziehen wir uns eher auf verschiedene Aspekte der gleichen Erscheinungen als auf real getrennte Bereiche« (Tenbruck in Prisching 2019, 10). Gegen eine zu strikte disziplinäre Abgrenzung von Soziologie und Kulturwissenschaften spricht auch der Umstand, dass es nahezu keinen sogenannten Turn (Bachmann-Medick 2014) in den Sozial- oder Kulturwissenschaften gibt, der nur eine der beiden Fächergruppen erfasst hätte. Das betrifft insbesondere den sogenannten performativen Turn (ebd., 104–143), der auf eine gewisse Weise frühere Turns bündelt und aufeinander bezieht. Seinen namensgebenden Ausgangspunkt bildete die klassische Sprechakttheorie John Austins und John Searles, die den Handlungscharakter von Sprechen herausstellten. Performative Äußerungen schaffen institutionelle Tatsachen (Searle 2017, 153–207). Zu dieser Annahme der durch die Sprechakttheorie Austins und Searles entwickelten »generalisierten Performativität« (Reckwitz 2012, 707) kommt als weiterer

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_5

5  Soziologie, Kulturwissenschaften, Behinderung

Baustein des performativen Turns ein »Element der Materialität und der Implizitheit des Wissens« hinzu (ebd., 707). Searles späte sozialontologische Arbeiten beinhalten dieses Element ebenso wie Bourdieus ›Logik der Praxis‹ und Theorie des Habitus als eines zugleich individuellen wie sozialen Dispositionensystems körperlicher Geschicklichkeiten und Fertigkeiten. In das heutige Verständnis des performativen Turns geht darüber hinaus die Figur einer poststrukturalistischen Dynamisierung des Strukturbegriffs ein, die sich ebenso in Bourdieus Sozialtheorie aufzeigen lässt. Zeichenverwendung, Ausdrucksverhalten und die Etablierung symbolischer Ordnungen erscheinen somit als komplexe, iterative Prozesse, die sozial geteilte Bedeutungen einer steten Rekontextualisierung und ›Verschiebung‹ aussetzen (ebd., 712). Um diesen verschiedenen von Reckwitz genannten Quellen gerecht zu werden, möchte ich hier die Bezeichnung ›performativ-praxeologischer Turn‹ (PPT) vorschlagen. Die Genealogie des performativ-praxeologischen Turns ist mit Reckwitz’ Hinweisen nicht vollständig beschrieben. So bleibt beispielsweise der pragmatistische Einfluss (Dewey, Mead) unerwähnt, ebenso wie die Schlüsselrolle des Werkes von Merleau-Ponty. Merleau-Ponty entwickelt seine philosophischen Kernkonzepte entlang einer Analyse von Behinderungsphänomenen, nämlich des berühmten »Fall Schneider« von Kurt Goldstein (Merleau-Ponty 1966, bes. Teil 1). Das macht ihn als ›Ahnherren‹ des PPT ebenso interessant wie als Bezugsautor einer Kulturtheorie der Behinderung. Auch seine kulturtheoretisch hochrelevanten ausdrucks-, sprach- und strukturtheoretischen Arbeiten der 1950er Jahre sowie seine Vorlesungen (MerleauPonty 2000; 2007; 2011; 2015) werden in den Sozialund Kulturwissenschaften und im Bereich der sogenannten Studies bislang kaum zur Kenntnis genommen. Gerade die Vorlesungen sind aber das eigentliche Medium eines unterschätzten, implizit bleibenden Einflusses auf eine große Zahl vor allem französischer (post-)strukturalistischer Autor*innen sowie auf die Sozialtheorie Bourdieus. Die Beziehungen zu Merleau-Ponty bleiben aber – oft für die Autor*innen selbst – unausgewiesen. Das ist auch eine Folge des fragmentarischen Charakters des Merleau-Pontyschen Denkens und seiner durch den überraschenden Tod 1961 unterbrochenen Ausarbeitung. Sein Werk wurde faktisch als Ruine behandelt, aus dem sich Bausteine und Bruchstücke nach Belieben herauslösen lassen, ohne Rücksicht auf die Konfigurationen des Materials zu nehmen, in die sie der Autor eingefügt hatte.

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Eine wesentliche Folge dieser Umstände ist eine dominierende konstruktivistische Vereinseitigung und Umdeutung körpernaher Themen in den ›Studies‹ und vielen aktuellen Kulturtheorien, paradoxerweise teilweise unter Berufung auf den ›exoterischen‹ Merleau-Ponty. Die Folgen dieser Vereinseitigung reichen insbesondere auch in die Arbeiten hinein, die sich am ›kulturellen Modell‹ von Behinderung orientieren. In den Disability Studies bestimmen implizit oder explizit (radikal) konstruktivistische, konstitutionstheoretische Konzepte von Behinderung das Bild. Davon abweichende alternative epistemologische Perspektiven, wie etwa der von Tom Shakespeare seit der Wiederauflage seines Buches Disability Rights and Wrongs (überarb. 2014) postulierte ›kritische Realismus‹, die sich durchaus auf Merleau-Ponty stützen könnten, verfallen sehr schnell einem pauschalen Naturalismus- und damit Ideologieverdacht (Waldschmidt 2011, 91).

5.2 Was bedeutet ›soziale‹ oder ›kulturelle‹ Konstruktion von Behinderung? Die Redeweise von einem ›sozialen Modell von Behinderung‹ geht bekanntlich auf den 2019 verstorbenen britischen Soziologen Mike Oliver zurück. Oliver versteht ›Konstruktion‹ von Behinderung vor allem von seinem Konzept sozialer Barrieren her. Dabei kann es sich einerseits um soziophysische Barrieren handeln, also materielle Implikationen einer bestimmten sozialen Praxis (die beispielsweise Normen über die Zumutbarkeit vertikaler Abstände von Tritten bei Treppen und damit einen sozialen ›Standardkörper‹ unterstellt). Solche soziophysischen Normsetzungen sind keineswegs ablösbar von bedeutungsbezogenen Aspekten, mithin von Kultur. Auch die Gestaltung von Möbeln, Gebrauchsgegenständen, Wegen, Straßen, Fahrzeugen, Treppen lassen sich einem Begriff materieller Kultur subsumieren. Andererseits können für Oliver auch Einstellungen, Stereotypen und Stigmatisierungskategorien sowie symbolisch artikulierte Anforderungen Barrieren darstellen. Praktiken und damit verbundenen Anforderungen weisen für Oliver normative, symbolisch-semantische und in diesem Sinne kulturelle Implikationen auf. Das wird deutlich in seiner Analyse der semiotischen und kulturellen Valenz des Gehens, hinter der er eine »ideology of normality« am Werk sieht mit Auswirkungen bis hinein in die Rehabilitationspraxen und Deutungen professioneller Helfer (Oliver 1996, 109).

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I  Vorstellungen von ­Behinderung in Praxis und Theorie  –  A  Definitionen und Konzepte

Insofern könnte man bereits seine Melodie »People are disabled by society, not by their bodies« umstandslos in die Tonart ›Culture‹ transponieren. Auch der Erfinder des sozialen Modells argumentiert also unausgesprochen bereits kulturtheoretisch. Im deutschsprachigen Raum ist es vor allem Anne Waldschmidt, die das soziale Modell durch ein ›kulturelles Modell‹ ergänzen will (Waldschmidt 2005; 2011; 2017). Dieses soll zwar das soziale Modell nicht ersetzen (Waldschmidt 2017, 23). Aber das kulturelle Modell hat den Anspruch, theoretisch grundlegender zu sein. Es arbeitet die Sinnstrukturen von Behinderung und Normalität, von disability und ability, in ihrer Interdependenz heraus. Das ›eigentliche‹ Konstruktionsgeschehen wird in einem prozessual verstandenen Tiefendiskurs verankert, in symbolischen (Macht-)Ordnungen, Dispositiven und deren performativer Aufrechterhaltung (ebd., 25). Auch medizinische Kategorien und Wissen über vermeintliche »objektive Schädigungen« haben ihre »soziale Geschichte, ihre kulturelle Bedeutung, ihren sozialen Konstruktionsmodus« (Waldschmidt 2006, 88). Behinderung, Schädigung, Körper schlechthin »sind nicht a priori als einfache Naturtatsachen vorhanden, sondern werden durch Diskurse und in Diskursen konstruiert« (Waldschmidt 2011, 94). Gerade ihr naturalisierter Erfahrungscharakter erweise sich dann als durch »Machtdiskurse« »hergestellt« (ebd., 98). In dieser Argumentation scheint für Waldschmidt die eigentliche Errungenschaft des kulturellen Modells der Behinderung und zugleich die entscheidende produktive Perspektive für die Disability Studies zu liegen. Waldschmidt knüpft dabei eng an fast gleichlautende Überlegungen etwa Shelley Tremains an, in der diese die Dichotomie von impairment/disability (die für Oliver noch maßgeblich war) auflöst: »Impairment has been disability all along. Disciplinary practices in which the subject is inducted and divided from others produce the illusion of impairment as their pre-discursive antecendent in order to multiply, divide and expand their regulatory effects.« (Tremain 2002, 42; auch zit. bei Shakespeare 2014, 57)

Auch Gugutzer/Schneider rufen in ihrem programmatischen körpersoziologischen Beitrag diese antiontologisch und anti-naturalistisch argumentierende Epistemologie auf. Es gehe darum, Körper- wie Behinderungskonzepten »Ontologisierungsbestrebungen« zu entziehen:

»Der Körper erscheint nicht mehr als etwas Vorgängiges, als natürlich Gegebenes mit bestimmten objektiven Kennzeichen, an denen dann gegebenenfalls soziale Bewertungen als Bewertungen, Stigmatisierungen, Benachteiligungen, anschließen. Vielmehr sind [...] Körper und Körperlichkeit selbst gesellschaftliche Produkte im Sinne diskursiver Effekte der je herrschenden, für-wahr-genommenen Deutungsrahmen von körperlicher Normalität und Abweichung.« (Gugutzer/ Schneider 2007, 38)

Doch was ist hierbei mit ›Ontologisierung‹ und ›Deontologisierung‹ gemeint? Dass Interpretationen, Deutungen, Erfahrungsformen von Körperlichkeit oder auch bestimmte Ausgestaltungen körperlicher Aktivitäten und Verhaltensweisen aus ihren soziokulturellen Kontexten heraus verstanden werden müssen, versteht sich. Aber werden deshalb wahrnehmbare Körper und Dinge als solche zu ›gesellschaftlichen Produkten‹? Gugutzer/Schneider präsupponieren in ihrem Wortspiel der »für-wahr-genommenen Deutungsschemata« einen Kurzschluss von Wahrnehmung und propositionalem Für-Wahr-Nehmen, und wollen dadurch irgendwie plausibel machen, Erstere werde durch Letztere konstituiert oder zumindest beeinflusst. Aber auch das ist eine – wenngleich uneingestandene – ontologische These. Nun greift Waldschmidts bzw. Tremains Formel, nicht nur die Behinderung sei Ergebnis sozialer (bzw. kultureller) Konstruktionsprozesse, sondern auch die Schädigung, fast wortgleich Formulierungen Judith Butlers auf. Diese hatte der Dichotomie von biologischem und sozialem Geschlecht der älteren feministischen Theorie die These einer diskursiven, kulturellen Produktion der »angeblich natürlichen Sachverhalte des Geschlechts (sex)« entgegengestellt (Butler 1991, 24): »Wenn man den unveränderlichen Charakter des Geschlechts (sex) bestreitet, erweist sich dieses Konstrukt namens ›Geschlecht‹ (sex) vielleicht als ebenso kulturell hervorgebracht wie die Geschlechtsidentität (gender). Ja, möglicherweise ist das Geschlecht (sex) immer schon Geschlechtsidentität (gender) gewesen, so dass sich herausstellt, dass die Unterscheidung zwischen Geschlecht (sex) und Geschlechtsidentität (gender) letztlich gar keine Unterscheidung ist.« (Butler 1991, 24)

Aus dem »vielleicht« und »möglicherweise« wird in der weiteren Argumentation ohne weitere Begrün-

5  Soziologie, Kulturwissenschaften, Behinderung

dung die dezidierte These, sex sei schon immer gender gewesen. »Indeed, sex, by definition, will be shown to have been gender all along«, lautet Butlers Formulierung im englischen Original (Butler 1990, 8). Sie wird wörtlich von Tremain in Bezug auf impairment aufgegriffen (s. o.). Diese Stelle und andere Formulierungen wie etwa die einer ›Hervorbringung‹ durch ein »epistemisch/ ontologisches Regime«, oder, dass Machtdiskurse das, was sie nur zu repräsentieren vorgäben, zugleich auch »produzieren« (Butler 1991, 8, vgl. 16), haben sich mittlerweile innerhalb des PPT trotz ihres offensichtlichen Postulatcharakters verselbstständigt. Butler hat in ihrem Buch Körper von Gewicht (Butler 1997) das Konzept einer iterativen Performativität entfaltet, innerhalb derer sowohl das biologische Geschlecht wie auch sein (nur vermeintlich) naturaler Charakter hervorgebracht werden: »als die sedimentierte Wirkung einer andauernd wiederholenden Praxis« (ebd., 32– 33). Nun ist dieses Motiv der Wiederholung nicht Butlers Erfindung, sondern stellt eine Art Gemeingut dar, das sich bereits in Bergsons (2015) Theorie des Bewegungsgedächtnisses und der Gewohnheit findet, in Saussures strukturalistischer Sprachtheorie oder auch in Berger/Luckmanns Theorie der Alltagskonversation als »unablässig ratternder Konversationsmaschine« (Berger/Luckmann 2004, 163). Von Merleau-Ponty wurden diese Motive sinngemäß im Rahmen einer phänomenologischen Zeittheorie aufgegriffen, synthetisiert und insbesondere in seiner Sprach- und Ausdruckstheorie um eben jene Komponenten erweitert, die den dynamischen (post-strukturalistischen) Strukturbegriff vorwegnehmen (Merleau-Ponty 1966; 2007; 2011). Aber alle diese Autoren gehen von einem Körper aus, der kulturell konstruiert wird und zugleich ein Ensemble anatomisch-funktionaler Gegebenheiten ist; sie hätten die Vorstellung einer »Hervorbringung« durch Zwang (Butler 1997, 139) oder einer »Materialisierung« durch »regulierende Normen« (ebd., 21) als ›idealistisch‹ zurückgewiesen. Butler räumt zwar eine »Unbestreitbarkeit« der Materialität des Körpers ein (Butler 1997, 33). Aber umgehend unterzieht sie diese eingeräumte Unbestreitbarkeit einem Ideologieverdacht. Dieser wird dadurch wiederum zu einer – freilich recht schwachen – Stütze ihres Ausgangsarguments einer »Materialisierung« des Körpers durch performative Diskursmacht umgedeutet: »Ist nicht der Diskurs, in dem und durch den dieses Zugeständnis erfolgt – und zu diesem Zugeständnis kommt es ja unweigerlich – selbst formierend für genau das Phänomen, das er einräumt?«

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(ebd., 33). Das ist ein rein politisches Argument: Weil es einem Diskurs nützen könnte, den man nicht will, weil es einem ›falschen Interesse‹ folgt, muss es falsch sein. Letztlich landet Butler, und mit ihr alle Semantiken der diskursiven ›Produktion‹ körperlicher Merkmale, bei einer (idealistischen) Konstitutionssemantik. Was bei Hegel die dialektische ›Aufhebung‹ war, ist für Butler die Metalepse (griech. ›Vertauschung, Verwechslung‹). Das vermeintlich vorgängige biologische Geschlecht (sex) sei in Wahrheit das nachträglich dem sozialen Geschlecht (gender) als dessen vermeintliche Ursache Unterschobene. Wo liegt das eigentliche Problem? Butlers ›Zugeständnis‹ an die Materialität der Körper bleibt rein deklaratorisch. Es gibt im konstitutionistisch-konstruktivistisch argumentierenden Poststrukturalismus ein Unbehagen mit dem eigenen Idealismus, aber keinerlei systematische Stelle für ›körperliche Materialität‹. Selbstverständlich trifft das Argument zu, dass keine kulturfreie Erfahrung möglich sei. Erfahrung beinhaltet aber nicht nur Wissen, sondern ist zugleich nicht ohne Wahrnehmung vorstellbar. Die Welt von Butlers Theorie aber ist eine Welt, in der Wahrnehmung nicht vorkommt. Oder, was auf das Gleiche hinausläuft, eine Welt, in der Wahrnehmung auf ein (und sei es implizites) Wissen reduziert wird, damit aber als Korrektiv für Wissen (ob implizit oder explizit) entfällt. Die Denkfigur der Metalepse ernst nehmen, hieße, dass wir nur wahrnehmen (sehen, hören, riechen, tasten, schmecken, interorezeptiv empfinden), was wir wissen, nur wahrnehmen, was wir letztlich in der Performativität der Diskurse ›eintrainiert‹ haben. Dass aber Wahrnehmung jederzeit Quelle, Korrektiv, Irritation, Widerlegung von Wissen sein kann, dass sie, wie Merleau-Ponty formuliert, »nicht unser Urteil abwartet, um seltsamste Phänomene sich einzuverleiben, noch so wahrscheinliche Phantasien aber zurückzuweisen« (Merleau-Ponty 1966, 7) – das ist in dieser Epistemologie nicht vorgesehen. Der Preis dieser idealistischen Axiomatik liegt in ihrer empirischen Belanglosigkeit. Das Bekenntnis dazu bleibt eine rein politische Figur. Für die im Gefolge des Butlerschen Ansatzes oder ähnlicher Ansätze in den Gender und Queer Studies geltend gemachte These, unsere Überzeugung, es gäbe zwei und nur zwei Geschlechter (sex), entspringe einer kulturell kontingenten ›Ideologie der Zweigeschlechtlichkeit‹, gibt es keine empirische Evidenz. Selbst die (wenigen) Studien über Kulturen mit mehr als zwei Geschlechtern belegen durchweg die Prävalenz des binären Schemas, wie etwa die in diesem Zusammenhang im-

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I  Vorstellungen von ­Behinderung in Praxis und Theorie  –  A  Definitionen und Konzepte

mer wieder – aber fälschlich – als Beleg angeführte Studie Rösings zu den »zehn Geschlechtern« von Amarete in Bolivien (Rösing 2008, 630–631). Ähnliches gilt für die These einer kulturellen Hervorbringung von Schädigungen im Fall der Disability Studies. Es gibt – unabhängig von der Frage der jeweils zugrunde gelegten kategorialen Taxonomien und der unbestreitbaren soziokulturellen Varianz der Umgangsweisen mit Schädigungen – ein erhebliches Maß an Generalität der Wahrnehmung körperlicher Fähigkeiten (abilities) und der signifikanten Abweichungen davon (disabilities). Dazu gehören Abweichungen vom optischen Körperschema, Sinnesbeeinträchtigungen (Blindheit/Gehörlosigkeit) und unmittelbar wahrnehmbare (visible) Verhaltensbeeinträchtigungen. Schädigungen, die eine hohen Grad unmittelbarer Wahrnehmbarkeit haben, werden kulturübergreifend auch als solche bemerkt, in der Folge irgendwie bezeichnet und interpretiert (in sehr unterschiedlichen Varianten und mit sehr unterschiedlichen Theorien der Schädigungsursachen) (Neubert/ Cloerkes 2001, 88). Der hervorstechende Befund ist – ebenso wie bei der binären Geschlechterdifferenz – nicht die kulturelle Varianz, sondern ein sehr hohes Maß an kulturübergreifender Übereinstimmung (ebd.; Safilios-Rothschild 1970, 4–12, 126–130; Ingstad/Whyte 1995; Müller 1996; Sagner 2001; Gardou 2010). Die kulturalistische Idee einer diskursiven kulturellen ›Hervorbringung‹ des Körpers, sei es als ›sexuierten‹, ›geschädigten‹ oder ›behinderten‹, überzeugt weder theoretisch, noch hält sie den empirischen Fakten stand. Die Konsequenz muss meines Erachtens sein, die Disability Studies und die kulturwissenschaftliche und kulturtheoretische Erschließung des Themas Behinderung insgesamt aus der zu einseitigen Umklammerung der poststrukturalistischen Fassung des performative turn zu lösen. In den Disability Studies sind durchaus auch noch andere epistemologische und methodologische Positionen vertreten. Dazu gehört die des 2019 verstorbenen Mike Oliver selbst, der sich immer auch als Materialist verstanden hat und immerhin der erste Lehrstuhlinhaber für Disability Studies in Großbritannien war. Dazu gehört die amerikanische Tradition der Disability Studies, die sich, wie etwa Gary Albrecht, vom Pragmatismus und Symbolischen Interaktionismus ableitet (vgl. dazu Albrecht 2002). Dazu gehört ganz sicher Tom Shakespeares Position eines »critical realism« und die von ihm dargestellten Spielarten (Shakespeare 2014, 72–74).

Ein solches kritisch-realistisches Verständnis von Kultur, der Verzicht auf einen Kulturalismus, ist nicht gleichbedeutend mit Naturalismus. Das zu sehen würde die Disability Studies sowie die kulturwissenschaftliche und kultursoziologische Erschließung des Themenfelds Behinderung (wieder) gegenüber differenzierteren kulturtheoretischen Positionen öffnen, wie etwa den schon genannten pragmatistischen Positionen, Merleau-Pontys ›phänomenologischem Strukturalismus‹, aber auch der Sozialontologie John Searles (2017) sowie der Sozial- und Kulturtheorie Norbert Elias’ (2001).

5.3 Kultur und Behinderung Andreas Reckwitz hat in seinem 2002 erstmals erschienenen und 2006 neu aufgelegten Buch Die Transformation der Kulturtheorien eine Typologie der Verwendungen des Begriffes ›Kultur‹ entworfen (Reckwitz 2012, Kap. 2). Er unterscheidet dabei die in der linken Spalte von Tabelle 1 aufgeführten Kulturbegriffe. Diese Typologie soll hier aufgegriffen und zu einer Heuristik möglicher gegenstandsbezogener Perspektiven auf kulturelle Phänomene umformuliert werden. Als solche kann sie dann auch auf den Gegenstandsbereich ›Behinderung und Kultur‹ projiziert werden. Diese Perspektiven sind nicht zu verstehen als Theorien, sie stehen auch nicht in einer inhaltlichen, methodischen oder methodologischen Konkurrenz zueinander. Sie sind vielmehr als unterscheidbare, aber inhaltlich zusammenhängende Aspekte dessen, was als ›Kultur‹ bezeichnet wird, zu verstehen. Sie sind untereinander kombinierbar und werden in materiaTypologie der Kulturbegriffe

gegenstandsbezogene Perspektiven

normativer Kulturbegriff (Reckwitz 2012, 65–71)

normative Perspektive

totalitätsorientierter Kulturbegriff (ebd., 72–78)

konfigurativ-holistische Perspektive

differenzierungstheoretischer Kulturbegriff (ebd., 79–83)

differenzierungstheoretische Perspektive

bedeutungs- und wissens­ orientierter Kulturbegriff (ebd., 84–90)

semiotische Perspektive

praxistheoretischer Kulturbegriff (ebd., 55–564, vgl. 707–728)

performativ-praxeolo­ gische Perspektive

Tab. 5.1  Typologie der Kulturbegriffe (Reckwitz 2012) und gegenstandsbezogener Perspektiven

5  Soziologie, Kulturwissenschaften, Behinderung

len Arbeiten auch faktisch miteinander kombiniert. Gegenüber dem Reckwitzschen Schema schlage ich für diese Zwecke geringfügige terminologische Modifikationen vor; sie sind der rechten Spalte der Tabelle zu entnehmen. Vorauszuschicken wäre, dass die Semantik des Wortes ›Kultur‹, wie sie sich aus der Etymologie aus dem Lateinischen (nämlich aus colo, cultus, cultura) ergibt, eine übergreifende inhaltliche Klammer bildet. Kultur kann jeder Aspekt sozialer Wirklichkeit sein, insofern er unter dem Aspekt eines Pflegens, Ausarbeitens, Bearbeitens, Betreibens und Bewahrens betrachtbar ist. Das trifft natürlich umso prägnanter zu, je expliziter und intendierter eine soziale Praxis aus sich heraus darauf ausgerichtet und spezialisiert ist. Aber auch der bloße Umstand, dass es überhaupt sozial geteilte, reproduzierbare Bedeutungen, Verhaltensweisen, Praktiken gibt, auf die man faktisch ›zurück‹-greift und ›zurück‹-kommt, die als anschlussfähig und insofern als (bewahrens)›wert‹ behandelt werden, kann ein kulturelles Phänomen sein, auch wenn dieser Wert- und Pflegebezug nicht bewusst oder reflexiv intendiert ist. Das erklärt die Bedeutungsspanne des Begriffes ›Kultur‹ als bloßem Synonym für Semiose und Semantik bis hin zur Bezeichnung spezialisierter, intentionalisierter Praktiken der Produktion, Distribution und Rezeption von Kulturgütern. Damit zu den Perspektiven im Einzelnen. Semiotische Perspektive Die semiotische Perspektive auf kulturelle Phänomene lenkt den Blick auf die Ebene der Sinn- und Semiogenese, die Produktion und Reproduktion der soziohistorisch situierten Wissensbestände einer Gesellschaft, die inhaltliche Verfasstheit semantischer und symbolischer Muster und ihrer Zusammenhänge sowie auf die Rolle der dabei involvierten Diskurse und Praktiken, einschließlich der dabei implizierten wirksamen Ressourcen- bzw. Kapitaldimensionen (Macht, ökonomisches und soziales Kapital u. A.). Methodisch gesehen stehen dabei Diskurs- und Deutungsmusteranalysen im Zentrum, es geht um die Analyse von Sinnlogiken, Semantiken, Narrativen, Selbstbeschreibungen, um ›Wissen‹ im Sinne Schützs und Berger/ Luckmanns in allen seinen mehr oder weniger institutionalisierten, mehr oder weniger legitimen, aggregierten Formen. In Bezug auf das Phänomen Behinderung geht es hier um die semantische Ebene sozialer Konstruktio-

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nen von Behinderung in unterschiedlichen sozialen, ästhetischen, biographischen, ideologischen Kontexten, einschließlich der Diskurse und Dispositive, in deren Rahmen Behinderung(en) und damit zusammenhängende Körperkonstruktionen thematisch und bedeutsam werden. Beispiele hierfür sind Studien, die soziale Deutungen und Konstruktionen von ›Behinderungen‹ oder ›Schädigungen‹ in unterschiedlichen sozialen, soziobiographischen oder historischen Kontexten zum Thema machen (z. B. Bogdan 1988; Müller 1996; Bruner 2005; Freitag 2005; Schmuhl 2010; Pfahl 2011). Das entspricht in weitem Umfang dem, was Anne Waldschmidt als Forschungsgegenstand im Rahmen des von ihr postulierten kulturellen Modells vorschwebt. Als Konsequenz der soziokulturellen Generalhypothese gilt dabei, Praxis und Diskurs, Doings und Sayings, sind ineinander verschränkt, letztlich nur analytisch unterscheidbar. Aber sie fallen auch nicht zusammen, sondern behalten wechselseitig gegeneinander Kontingenz- und Bedeutungsspielräume (s. Kap. 44) – welche, ist nur im Einzelfall bestimmbar. Es gibt schon deshalb keinerlei konstitutionstheoretischen oder kausalen Vorrang des einen oder anderen. Praxen erzeugen nicht einfach Diskurse und Diskurse erzeugen nicht einfach Praxen. Es ist nicht a priori auszumachen, ob Diskurse über Behinderung eine bestimmte gesellschaftliche Praxis des Umgangs mit Behinderung widerspiegeln, rechtfertigen, verdecken, strukturieren, totalisieren, verstellen, beschönigen, idealisieren, erzeugen, hervorrufen, über sie hinwegtäuschen, sie verändern, zu ihrer Verkennung beitragen oder alles zusammen. Diskursanalyse und Praxisanalyse müssen also komplementär betrieben werden. Normative Perspektive Eine normativ-evaluative Komponente der Kategorie Kultur ergibt sich, wie bereits angedeutet, bereits aus der bloßen Etymologie und Semantik von ›Kultur‹ aus dem bzw. im Lateinischen. Bekanntlich bezeichnet cultura als Ableitung von colere (›pflegen, bebauen, bearbeiten‹, auch ›Sorge tragen, schmücken, wahren, hochhalten, schätzen, verehren‹) einen generalisierten Aspekt des ›Gepflegten‹ und ›Geschätzten‹, das vom Landbau bis zu allen Aspekten des sozialen Lebens reichen kann, die man einer Pflege, Bewahrung und Wertschätzung für wert hält. Eine normative Perspektive greift man dann auf, wenn man soziale Semantiken und Praktiken in den Vordergrund

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I  Vorstellungen von ­Behinderung in Praxis und Theorie  –  A  Definitionen und Konzepte

stellt, in denen dieser Aspekt nicht nur eine Implikation des Umstandes ist, dass diese faktisch bewahrt bzw. reproduziert werden, sondern wenn dieser Wertaspekt ausdrücklich und dezidiert in ihre Sinngebung eingeht. Auch eine kulturwissenschaftliche Analyse, die für sich selbst ein Postulat der Werturteilsfreiheit in Anspruch nimmt (altbekannt Weber), hat insofern mit einer normativen Dimension von Kultur zu tun, als sich die Semantiken oder Praktiken, die sie untersucht, als auf Erhaltung angelegte, positiv bewertete ›gepflegte Semantiken‹ oder ›gepflegte Praxen‹, insofern als Kulturgüter darstellen. Dabei muss gerade eine kritische kulturtheoretische Perspektive keine eigenen Standards von ›gepflegt‹ bzw. ›kultiviert‹ zugrunde legen. Sie kann dies vielmehr ihrem Gegenstand überlassen. In den Blick kommen dann insbesondere rituelle, mediale, auf Textsorten oder allgemeine Genres bezogene ästhetische Praktiken und Produkte der ›Pflege‹, der Elaboration, der künstlerischen Realisierung von körper- und behinderungsbezogenen Inhalten, Deutungen oder Darstellungen. Das ist der Fall, wenn sich Henri Stiker mit Darstellungen von Behinderung in der bildenden Kunst und Malerei auseinandersetzt (Blanc/ Stiker 2002; Stiker 2008) oder Tilmann Kleinau mit der Darstellung behinderter Figuren in der französischen Literatur des 17.–19. Jahrhunderts (Kleinau 1990). Auch das vorliegende Handbuch entfaltet eine ganze Palette von Genres, Medien, Textsorten (s. Kap. IV). Es können dann aber auch alltagsästhetische oder kulturelle Standards der hegemonialen high culture unterlaufende Praktiken und Produkte in den Blick kommen. Ein gutes Beispiel für einen Analysegegenstand, der sich erst in den letzten Jahren entwickelt hat, wären beispielsweise YouTube-Clips. In diesem Genre bzw. Medium werden zunehmend auch Themen und Inhalte aufgegriffen, die etwas mit Behinderung zu tun haben. So erlangte innerhalb des Jahres 2019 etwa der YouTube-Kanal »Tourette – Gewitter im Kopf« der beiden YouTuber Jan Zimmermann und Tim Lehmann eine hohe Prominenz (https://www. youtube.com/channel/UCh2Nc3OwjSwuXrUdFNXq FbQ) (s. Kap. 45, 65). In den Videos der beiden jungen Männer werden Symptome und Auswirkungen des Tourette-Syndroms eines der beiden Protagonisten gezielt in Alltagssituationen inszeniert und exemplarisch vorgeführt. Solche ästhetischen Praxen haben längst ihre eigenen Formstandards, kommunikativen Techniken und Kriterien darüber ausgebildet, ob und

wie sie ›gut gemacht‹ sind, einschließlich Authentizitätsstandards, Formen der (Herstellung von) Prominenz und der Organisation kultureller Wertschätzung und Wertschöpfung. Gegenüber der semiotischen Perspektive liegt der Schwerpunkt hier auf der Analyse der jeweils zum Tragen kommenden (alltags-)ästhetischen Standards, expliziten und impliziten Gütekriterien, Ausdrucks-, medialen oder rituellen Logiken und Sprachen, Textsorten bzw. Genres. Dennoch bleibt stets ein Konnex zu der semiotischen Perspektive möglich, insofern es hier ja um explizit intendierte, gestaltete (cultus!) und als solche positiv und bewahrenswert bewertete Semiosen geht. Differenzierungstheoretische Perspektive Eng verbunden mit dem vorher Ausgeführten ist eine differenzierungstheoretische, ›sektorale‹ Sichtweise auf Kultur. Kultur erscheint hier unter dem Gesichtspunkt, ob und in welcher Weise es um ausdifferenzierte soziale Felder, Subsysteme, gesellschaftliche Teilbereiche geht, die mit der intentionalisierten, reflexiven Produktion, Distribution/Dispersion und Rezeption von kulturellen Produkten und Praktiken befasst sind – sowohl im Sinne der intendierten Semiose (Sinnproduktion) wie auch im Sinne der normativen Perspektive (›gepflegte‹, ›ausgearbeitete‹ Semantik oder Praktik). In diesem Sinne wird beispielsweise ›Kultur‹ verwendet, wenn man vom ›Kulturbetrieb‹ spricht, Kultur als spezifische Sparte gesellschaftlicher Aktivitäten bzw. Ereignisse in den Blick kommt (wie etwa im Kulturteil einer Zeitung, in dem es dann zumeist um Theater, Kunstausstellungen, Medienaktivitäten, Buchveröffentlichungen u. A. geht). Für eine kulturtheoretische Erschließung und Forschung im Zusammenhang mit Behinderung können hier beispielsweise auch Fragestellungen der Inklusion, Integration und Teilhabe behinderter Akteur*innen in kulturelle Praxen, Berufe, Organisationen, Veranstaltungen von Interesse sein. Das berührt etwa das Thema der Zugänge und der Teilhabe behinderter Menschen (s. Kap. 16) an künstlerischen Ausbildungen und Studiengängen. Es beinhaltet auch die Auseinandersetzung mit den Paradoxien inklusiver Kulturarbeit bzw. mit Spezialisierungen und Segregationen (s. Kap. 15) von Kultur und kulturellen Praktiken von und durch behinderte Menschen und den damit wiederum verbundenen Barrieren und Möglichkeiten sowie um die Beschreibung und Analyse künstlerischer Aktivitäten von Menschen mit Behinderung in

5  Soziologie, Kulturwissenschaften, Behinderung

den verschiedensten Bereichen wie Musik, Theater, Literatur, bildende Kunst. Konfigurativ-holistische Perspektive Reckwitz hatte mit den von ihm als ›totalitätstheoretisch‹ bezeichneten Kulturkonzepten Kulturbegriffe im Gefolge des Herderschen Verständnis von Kultur als einer Gesamtgestalt im Blick, die jeweils eine innere Einheit aufweist und die ihre je eigenen Konsistenzkriterien entwickelt. Wie er selbst andeutet, ist diese Vorstellung (womöglich mit Annahmen über ›Volksgeister‹ verknüpft) heute problematisch geworden. Einerseits wird damit die »interne Heterogenität von Kulturen« unterschätzt (Nünning 2005, 112), andererseits das Ausmaß verkannt, in dem Kulturen das Resultat »gegenseitiger Beeinflussungen, Beziehungen, Übernahmen [...] und Überschneidungen« sind (Beer 2003, 67). Dennoch bleibt die Frage, ob kulturelle Produkte und Praxen Konsistenzmerkmale aufweisen bzw. Muster, Gestalten, Stile bilden, in Bezug auf sehr unterschiedliche soziale Aggregate durchaus sinnvoll. Dabei kann es sich ebenso um soziale Einheiten wie bestimmte soziale, religiöse, regionale, familiale Gruppen oder Subkulturen, soziale Milieus handeln wie um soziohistorische Phasen oder Epochen, Generationenlagen, Sprachgemeinschaften, Regionalkulturen, Stammesgesellschaften oder Organisationskulturen. Im Bereich der Disability Studies wäre als etabliertes Forschungsfeld hier auch an kulturvergleichende, ethnologische Frage­ stellungen zu denken oder an die Untersuchung von in diesem Sinne kulturspezifischen Semantiken, Umgangsstilen und Taxonomien von Behinderung (z. B. Ingstad/Whyte 1995; Müller 1996; Neubert/Cloerkes 2001; Gardou 2010). Ein bislang unterbelichtetes Forschungsfeld wären milieubezogene Kulturen des Umgangs und der sozialen Konstruktion von Behinderungen. Insgesamt würde ich anstelle von Reckwitz’ ›Totalitätsorientierung‹ etwas vorsichtiger von einer ›konfigurativ-holistischen‹ Perspektive sprechen (vgl. Elias 1987, 47–49; 1997, 70–71). Ob und wie sehr kulturelle Phänomene ›Totalitäten‹, Gestalten, Konfigurationen bilden und mit welchem Grad der relativen Geschlossenheit oder Offenheit dies geschieht, ist eine empirische Frage, die im jeweiligen Fall zu klären ist. Eine solche Perspektive kommt jedenfalls immer dann ins Spiel, wenn es darum geht, die relative innere Konsistenz, Konfiguration und Kohäsion bestimmter kultureller Objektivationen oder Praktiken zu betrachten.

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Praxistheoretisch-performative Perspektive Über den praxistheoretisch-performativen Zugang wurde bereits in den vorangegangenen Abschnitten einiges gesagt, so dass ich mich hier kurz halten kann. Diese Perspektive kommt dann ins Spiel, wenn die Prozessualität und Sequentialität konkreter performativer Praktiken thematisch wird: als inkorporierte bzw. inkorporierbare (z. B. sprachliche, mediale, ästhetische, motorische, künstlerische) Fertigkeiten, als gelingende, misslingende, innovative, reproduzierende, rekontextualisierende usw. ›Aufführungen‹ und ›Vorführungen‹, ggf. auch in ihrer Interaktionsdynamik. Hierbei kann es sowohl um alltägliche, beiläufige Praxen des »Doing Disability« (Köbsell 2016) gehen, als auch im Sinne der normativen und differenzierungstheoretischen Perspektive um deklariert ästhetische, künstlerische, kulturelle Praxen, die Behinderungen zum Thema machen oder aber auch spezifische kulturelle Praktiken behinderter Menschen darstellen bzw. mit Behinderungen direkt in Zusammenhang stehen (wie z. B. Gebärdensprach-Poesie, s. Kap. 67). Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen dabei nicht primär die objektivierten bzw. sedimentierten Inhalte und symbolischen Konstruktionen, sondern die Praktiken ihrer Erzeugung und deren jeweiliger Fertigkeitencharakter, (Selbst-)Inszenierungslogiken sowie Gesichtspunkte, die etwa Randall Collins unter dem Stichwort »Interaktionsrituale« bzw. »Interaction Ritual Chains« behandelt (Collins 2004).

5.4 Folgen des performatorischpraxeologischen Paradigmas für Perspektiven auf Behinderung Was ergibt sich insgesamt nun für die eingangs gestellte Frage nach den Unterschieden und dem Zusammenhang soziologischer und kulturwissenschaftlicher Zugänge zum Thema Behinderung? Disziplinäre Differenzierungen ergeben sich, wie dargestellt, nicht entlang einer Dichotomie von Kultur und Gesellschaft, sondern über gegenstandsbezogene Spezialisierungen innerhalb der eben dargestellten Perspektiven. Beispielsweise können sich im Kontext einer normativen und differenzierungstheoretischen Perspektive fachliche und disziplinäre Spezialisierungen in Bezug auf ästhetische, medien-, genre-, textsortenspezifische Kriterien ergeben, in Bezug auf verschiedene Bereiche kultureller Produktion (Literatur, Theater, Film, Fernsehen, Fotografie) – einfach weil diese Be-

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I  Vorstellungen von ­Behinderung in Praxis und Theorie  –  A  Definitionen und Konzepte

reiche gerade in ihren performativ-praxeologischen Hinsichten so komplex sind, dass sie in hohem Umfang Spezialkenntnisse erfordern. Darauf reagieren i. d. R. disziplinäre Fokussierungen innerhalb der verschiedenen Kulturwissenschaften, einschließlich der Kultursoziologie(n). Das bedeutet aber nicht, dass deshalb gesellschaftliche bzw. gesellschaftstheoretische Fragestellungen ausgeschlossen würden, sondern nur, dass deren Bearbeitung ohne eine vertiefte und disziplinär abgesicherte Fachkompetenz nicht sinnvoll ist. Ein Soziologe, der sich mit der sozialen Konstruktion von Autismus im Film oder in Fernsehserien befasst, wird das umgekehrt nicht kompetent tun können, ohne einen Konnex zu Film- und Medienwissenschaften herzustellen. Dasselbe gilt in Bezug auf disziplinäre Differenzierungen im Rahmen konfigurationstheoretischer Perspektiven. Eine Vielzahl von Kulturwissenschaften beziehen ihre disziplinären Abgrenzungskriterien aus der Beschränkung auf Sprache, durch regionale, geographische, ethnische, historische, religiöse Kriterien bestimmte kulturelle Konfigurationen. Beispiele hierfür sind die alten und neuen Philologien und Kulturgeographien, Ethnologie und ihre Unterbereiche, spezifische historische/archäologische Fächer (Ägyptologie, Assyrologie o. Ä.), religionswissenschaftliche Fächer (Judaistik, Islamwissenschaften u. A.). Alle diese disziplinären Differenzierungen lassen sich selbstverständlich auch auf das Thema Behinderung hin befragen und haben dazu etwas beizutragen. Hier stehen wir eher am Anfang der Diskussionen und Forschungen als an einem Punkt, an dem man bereits umfangreiche Bilanzierungen vornehmen könnte. Alle diese als ›kulturwissenschaftliche‹ bezeichneten Disziplinen haben im Rahmen ihrer thematischen Reichweite zugleich soziologische und gesellschaftstheoretische Relevanz, betreiben insofern zugleich (allgemeine) Soziologie und benötigen in dem Maße, wie sie das im Auge haben, auch Kenntnisse der allgemeinen Soziolo­ gie. Umgekehrt müssen Soziolog*innen, die sich über Themen äußern, die Gegenstand spezifischer Kulturwissenschaften sind, immer auch selbstverständlich über deren nötige spezielle ›performative‹ Sachkenntnis (z. B. Sprach-, Medien-, Genre-, Textkenntnisse) verfügen. Das ist zwar in der einen wie in der anderen Richtung faktisch leider nicht immer gegeben. Aber genau deshalb sind Kooperationen zwischen Sozialund Kulturwissenschaften ebenso wie Doppelqualifikationen hochgradig sinnvoll. Die disziplinären Differenzierungslinien der Kulturwissenschaften sind durchweg in besonderer Weise

auf komplexe performativ-praxeologische Differenzierungen bezogen (Sprache, Praktiken, Medien, Genres, Kunstformen und damit korrelierte Standards und Kompetenzen). Das ist aber zugleich ein bisher eher unterschätzter Grund, warum die Frage des epistemischen Status von Behinderung in der Tat eng mit dem Thema Kultur verknüpft ist. Dass jedes soziokulturelle Phänomen (also auch Behinderung) zugleich eine semantische wie eine performativ-praxeologische Dimension hat, beinhaltet gerade ein deutliches Argument gegen eine kulturalistisch-konstruktivistische Verkürzung des Phänomens Behinderung. Nicht nur unterhält der performativ-praxeologische Ansatz einen besonderen Bezug zur Materialität vom Körper und seiner Behinderung, von Abilities und Disabilities, schlechthin. Darüber hinaus stellen sich gerade im Feld dezidiert kultureller Praktiken (im Sinne der normativen Perspektive) in besonderer Weise Fragen des performativen Gelingens und Misslingens von Handlungen, Fragen nach zugrundeliegenden Kompetenzen und Inkompetenzen, der Geschicklichkeiten und Ungeschicklichkeiten, der Authentizität und des Unauthentischen, mithin auch von: Abilities und Disabilities. Dann kommen aber eben auch gerade aus kulturwissenschaftlicher und kultursoziologischer Sicht körperliche Fertigkeiten, Dispositionen und die materialen, medialen, technischen und dinglichen Ressourcen, Artefakte usw., derer sie sich bedienen, in den Blick. Auch und gerade kulturelle Praktiken und Praxen beinhalten einen spezifischen Anforderungs- und Fähigkeitsindex (d. h. eine spezifische Konstellation körpergebundener Fertigkeiten). Dies gilt unabhängig von deren diskursiver ReKonstruktion und von der empirischen (nicht nur behinderungsbedingten) Varianz faktischer Befähigungen wie etwa Fußballspielen, Straßenbahnfahren, einen Zahnarzt besuchen, YouTube-Clips über Tourette produzieren, Theater spielen, den Behinderungsbegriff kritisieren. Sie sind sozial und historisch strukturiert, aber zugleich in jeder Hinsicht und in jedem Moment an nicht-soziale, nicht-menschengemachte kontingente Strukturen rückgebunden. Nicht Menschen, nicht Gesellschaft, nicht Kultur haben die kontingenten Struktur(ierungs)vorgaben für Menschen, Gesellschaft, Kultur produziert, die z. B. beinhalten, dass und wie und in welchem Spektrum wir uns zu Sichtbarem, Hörbarem, Greifbarem verhalten, Laute oder Gebärden artikulieren können, über propriozeptive und taktile Qualitäten sowie über etwas verfügen, was wir ›Angst‹ nennen, oder ständig dieses seltsame ›Gefühl‹ haben, das wir ›Denken‹ nennen. Aber Ge-

5  Soziologie, Kulturwissenschaften, Behinderung

sellschaft und Kultur arbeiten beständig mit diesen Kontingenzen, bearbeiten sie, arbeiten sie aus. Dass Schädigungen und Beeinträchtigungen weder sozial noch ontologisch neutral sind, wird gerade im Bereich manifester kultureller Praktiken überdeutlich. Wer andere mit einem Hörspiel erreichen will, das den ›Optozentrismus‹ der Gesellschaft an den Pranger stellt, muss unterstellen, dass diese Anderen hören können. Wer Musik mit Gebärdensprache machen will, muss unterstellen, dass die Teilnehmer*innen die dazu erforderlichen motorischen Fertigkeiten haben und die Gebärden wahrnehmen und verstehen können. Ist dies alles nicht der Fall, ist eine Inklusion in diese spezielle kulturelle Praxis unmöglich. Diese wie immer relationale Ontologie ist unvermeidlich und kann nicht einfach weg-deontologisiert werden. Abilities und Disabilities haben selbst in den ›kultiviertesten‹ Kontexten immer zugleich eine Naturseite, eine Dimension, die nicht disponibel ist, auf die soziale Praxis und kulturelle Ordnung schon selbstverständlich zurückgreifen, eine nicht konstruierte, nicht hergestellte und zugleich kontingente »Generalität des Körpers«, wie Merleau-Ponty (1994, 153; 2000, 305; 2007, 21) es ausdrückt. Natur konstruiert Kultur, Kultur konstruiert Natur. Und es ist oft genau das, was in ästhetischen und kulturellen Artikulationen von Behinderung gestaltet wird: als Angst, als Horror, als Fatalismus, als Faszination, als – je nachdem – beunruhigende oder tröstliche, ebenso komische wie kosmische Wahrnehmung des Ineinander natürlicher und soziokultureller Kontingenzen von Körperlichkeit und des Verlusts oder des Gewinns neuer, anderer Erfahrungsmöglichkeiten – mit und ohne Behinderung, wie man so schön sagt. Literatur

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Jörg Michael Kastl

B Allgemeine soziale Praxis 6 Barrierefreiheit Barrieren verhindern den Zugang zu Räumen, Inhalten und Diskursen. Entsprechend können sie physischer, kommunikativer oder auch diskursiver Art sein. Barrierefreiheit meint die Abwesenheit solcher Zugangsbarrieren, insbesondere im Kontext von Behinderung. Hier sind Barrierefreiheit und Inklusion (s. Kap. 6, 16) zentrale Konzepte, die jedoch nicht deckungsgleich sind. Während Barrierefreiheit die Möglichkeit des Zugangs zu Räumen und Inhalten impliziert, eröffnet Inklusion »Raum und Rückhalt für persönliche Lebensgestaltung« (Bielefeldt 2009, 11; vgl. auch NAP 2.0 2016, 4), u. a. mit Wahlmöglichkeiten bezüglich des persönlichen Umfelds und der Partizipation am Arbeitsmarkt zum Bestreiten des eigenen Lebensunterhalts. Inklusion meint folglich die gleichwertige Nutzung aller Ressourcen für Menschen mit diversen Voraussetzungen, d. h. konkret für Menschen mit und ohne Behinderungen. Barrierefreiheit beschränkt sich auf die Möglichkeit des Zugangs (der englische Begriff für ›Barrierefreiheit‹ ist accessibility), Gleichwertigkeit der Nutzung ist nicht impliziert (zum Unterschied zwischen Barrierefreiheit und Inklusion vgl. Mälzer/ Wünsche 2019a).

6.1 Rechtliche Lage Mit dem Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes (BGG, erste Fassung 2002, aktuelle Fassung 2018) und seinen Umsetzungen in Landesrecht hat Deutschland inzwischen eine solide Grundlage für die Schaffung von Barrierefreiheit (Lang 2019). Das BGG definiert Barrierefreiheit wie folgt: »Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationsein-

richtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind. Hier ist die Nutzung behinderungsbedingt notwendiger Hilfsmittel zulässig.« (BGG § 4)

Der Paragraph 4 des BGG deckt sowohl physische als auch kommunikative Barrierefreiheit ab; zur Art möglicher Hilfsmittel, die zur Herstellung physischer und kommunikativer Barrierefreiheit zum Einsatz kommen (für die kommunikative Barrierefreiheit z. B. Gebärdensprache oder Leichte Sprache), finden sich Bestimmungen im BGG selbst sowie in den zu seiner Durchsetzung erlassenen Verordnungen. Exemplarisch sei die BITV genannt, die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung, die in ihrer zweiten Fassung von 2011 (»BITV 2.0«) Ausführungen zu Art und Umfang der Maßnahmen für barrierefreie Online-Kommunikation staatlicher Stellen enthält. Die darüber deutlich hinausgehende Forderung nach Inklusion in allen Lebensbereichen wird auf Bundesebene über den Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung (NAP 1.0: 2011, NAP 2.0: 2016) zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK; Kerkmann 2015) in Maßnahmen umgesetzt. Die UN-BRK ist ein Menschenrechtsvertrag der Vereinten Nationen zur Inklusion von Menschen mit Behinderung, der inzwischen von 180 Ländern ratifiziert worden ist und der die Belange der Menschen mit Behinderungen stärkt. Dabei ist durchaus eine Diskrepanz zwischen den Setzungen der UNBRK und den tatsächlichen Umsetzungen in deutsches Recht und in die Praxis des Umgangs mit Menschen mit Behinderung zu sehen. Die UN-BRK fordert eine Neukonzeptualisierung der Wahrnehmung von Behinderung als Diversität in einer pluralistischen Gesellschaft, d. h. der Fokus liegt auf der Anpassung der Gesellschaft, die Inklusion in einem sehr weiten Sinne ermöglichen soll. Die deutsche Recht-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_6

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I  Vorstellungen von ­Behinderung in Praxis und Theorie  –  B  Allgemeine soziale Praxis

setzung ist dagegen vorrangig auf die Herstellung von Barrierefreiheit ausgerichtet, d. h. auf formalen Zugang zu verschiedenen Lebensbereichen, verbunden mit den dafür erforderlichen Ressourcen und Hilfsmitteln. Dabei ist zu konstatieren, dass weder Inklusion noch Barrierefreiheit für alle Personen umstandslos herstellbar ist, schon weil sich die Bedarfe der unterschiedlichen Behinderungsarten, aber auch der unterschiedlichen Gruppenprofile, z. B. mit Bezug auf den Faktor Alter, widersprechen: Personen im Rollstuhl oder mit Rollator benötigen abgesenkte Bordsteine, um in der Stadt mobil zu sein, während Personen mit Sehbehinderung auf eine klare, haptisch wahrnehmbare Abgrenzung zwischen Fußgängerbereich und Straße angewiesen sind, die für mobilitätseingeschränkte Nutzer*innen wiederum potentiell eine Barriere darstellt. Selbst innerhalb derselben Behinderungsart sind die Anforderungen nicht einheitlich: Personen mit bestimmten Formen von Sehschädigung benötigen klare Kontraste, die für Personen mit anderen Formen von Sehbehinderungen zu einer Beeinträchtigung durch Blenden führen können. Bislang weitgehend unberücksichtigt ist der Bereich der Diskursbarrieren; hier bestehen Desiderate sowohl in der Forschung als auch in der praktischen Implementierung.

6.2 Physische Barrieren Ist eine Barriere physisch, so bezieht sich die Unzugänglichkeit auf den Raum: Wohnen, Kita, Schule, Ausbildungsstätte, Arbeitsplatz, Behörde, Kulturoder Freizeitangebote sind für Personen, die notwendig auf physische Barrierefreiheit angewiesen sind, häufig nicht ohne Anpassungen oder nur eingeschränkt nutzbar. Wenn der physische Zugang nicht gewährleistet ist, dann können Personen mit Behinderungen diese Einrichtungen deshalb nicht nutzen. Barrierefreiheit impliziert in diesem Bereich die Möglichkeit des Zugangs zu den genannten Einrichtungen bzw. die Bewegung im öffentlichen Raum (Nutzung von Straßen, öffentlichen Verkehrsmitteln etc.). Zur barrierefreien Gestaltung des öffentlichen Raumes gelten in Deutschland Normen des Deutschen Instituts für Normung: Die DIN 18024 für die barrierefreie Gestaltung von Straßen, Plätzen, Wegen, öffentlichen Verkehrs- und Grünanlagen sowie Spielplätzen; die DIN 18040 für barrierefreies Bauen im öffentlichen Raum (Holfeld 2011).

6.3 Kommunikationsbarrieren Nicht nur Räume, sondern auch Kommunikationsangebote können Barrieren bergen. In unserer pluralistischen und hochspezialisierten Gesellschaft ist Zugang zu Information die Voraussetzung für Teilhabe. Rink (2019, 29–32; Rink 2020, 135–169) führt in Anschluss an Schubert (2016) und Jekat/Jüngst/Schubert u. a. (2014) Typen von Kommunikationsbarrieren aus, die übereinzelsprachlich und textsortenübergreifend bestehen und den Zugriff auf Inhalte erschweren oder unmöglich machen können. Kommunikationsangebote können in folgender Weise Barrieren darstellen: • eine Wahrnehmungsbarriere, wenn das Kommunikationsangebot über Sinnesmodalitäten aufgenommen werden müsste, die nicht zur Verfügung stehen • eine Kognitionsbarriere, wenn die Komplexität der Inhalte die Verarbeitungsmöglichkeiten der Nutzer*innen übersteigt • eine Motorikbarriere, wenn physisch nicht auf das Kommunikationsangebot zugegriffen werden kann (etwa weil ein Buch nicht geöffnet oder wegen zu dünner Seiten nicht geblättert werden kann) • eine Sprachbarriere, wenn die Inhalte in einer von den Nutzer*innen nicht beherrschten Sprachform gehalten sind • eine Kulturbarriere, wenn ein Kommunikationsangebot kulturelles Wissen voraussetzt, das bei den Nutzer*innen nicht vorhanden ist (z. B. bezüglich Textsortenkonventionen) • eine Fachbarriere, wenn ein Kommunikationsangebot nicht vorhandenes fachliches Wissen voraussetzt (insbesondere im Bereich ExpertenLaien-Kommunikation) • eine Fachsprachenbarriere, wenn die sprachliche Umsetzung unangemessen fachsprachlich gehalten ist, obwohl sich das Kommunikationsangebot an fachliche Laien richtet • eine Medienbarriere, wenn das Kommunikationsangebot in einer medialen Form vorliegt, zu der die Nutzer*innen keinen Zugang haben Diese Kommunikationsbarrieren korrelieren mit verschiedenen Formen von Beeinträchtigung; so stellt ein ausschließlich als Audio realisierter Text für eine Person mit Sehschädigung keine Zugangsbarriere dar, während für eine Person mit ausgeprägter Hörschädigung hier eine Wahrnehmungsbarriere vorliegt. Der Inhalt kann nicht rezipiert werden. Häufig enthalten Kommunikationsangebote selbst für Personen mit nur einer Form von Behinderung nicht nur eine, sondern

6 Barrierefreiheit

mehrere Barrieren: Ein Aushang mit einer juristischadministrativen Information in einem Schaukasten hinter Glas stellt für eine Person mit Sehbeeinträchtigung potentiell eine Wahrnehmungs-, eine Fach-, eine Fachsprachen- und eine Medienbarriere dar. Hinzu kommt, dass Personen mit Behinderung oft von mehr als einer Art von Einschränkung betroffen sind: Personen mit Sehbeeinträchtigung können zusätzlich hörbeeinträchtigt und mobilitätseingeschränkt sein, etwa durch eine beginnende Demenz eine verminderte Aufmerksamkeitsspanne haben und zusätzlich ausgeprägte mediale Präferenzen aufweisen (z. B. indem sie keinen Zugang zu Online-Kommunikation haben). Es zeigt sich, dass der Faktor Alter bezüglich der Kommunikationsbarrieren ein besonders ausgeprägtes Profil aufweist; die Möglichkeit angemessener barrierefreier Kommunikationsangebote für Senioren in fortgeschrittenem Alter zu erforschen und diese herzustellen ist aktuell eines der herausragenden Desiderate der Forschung und Praxis barrierefreier Kommunikation. Barrierefreiheit in der Kommunikation kann hergestellt werden, indem die bestehenden Kommunikationsbarrieren systematisch aus dem Textangebot entfernt werden. Dafür stehen unterschiedliche Formen der Barrierefreien Kommunikation zur Verfügung, die wiederum mehr oder weniger ausgeprägt mit unterschiedlichen Behinderungsarten korrelieren: • Übersetzen und Dolmetschen in Leichte und Einfache Sprache: Dabei werden fach- und/oder standardsprachliche Texte in eine verständlichkeitsoptimierte Variante des Deutschen übersetzt, die auffindbar, gut wahrnehmbar, verständlich, akzeptabel und handlungsleitend ist (Bredel/Maaß 2016; Maaß 2015; Maaß/Rink 2019) (s. Kap. 17). • Gebärdensprachdolmetschen: Prälingual Gehörlose, d. h. Menschen, die gehörlos geboren sind oder ihr Gehör noch vor dem Spracherwerb verloren haben, nutzen als Kommunikationsmittel die Gebärdensprache. Gebärdensprachdolmetscher kommen zum Einsatz, um zwischen deutscher Lautsprache und Gebärdensprache zu vermitteln (Benner/Herrmann 2019). • Schriftdolmetschen: Das gesprochene Wort wird als schriftlicher Text realisiert. So können Menschen mit Hörschädigung an Veranstaltungen teilnehmen (öffentliche Veranstaltungen, Behördenkontakte oder Unterricht im Bereich Schule, Berufsausbildung, Universität) (Witzel 2019). • Audiodeskription: Die visuellen Anteile in audiovisuellen Medien werden hörbar gemacht, indem

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sie über die Audiospur beschrieben werden (Benecke 2019). • Textalternativen für Grafiken: Visuelle Informationen wie z. B. Bilder oder Tabellen werden sprachlich beschrieben, um Personen mit Sehschädigung Information zugänglich zu machen (Schütt 2019). • Untertitelung für Hörgeschädigte: Hierbei wird hörbare Information in Filmen oder sonstigen audiovisuellen Formaten (Dialoge, Geräusche) visuell wahrnehmbar gemacht, indem sie im Untertitel unter dem bewegten Bild erscheint (Mälzer/ Wünsche 2019b, Kurch 2019). • Unterstützte Kommunikation: Diese Kommunikationsform kommt bei Personen zum Einsatz, deren »verbalsprachliche Fähigkeiten dauerhaft fehlen oder vorübergehend eingeschränkt sind« (Musenberg 2019, 364). Hierunter fallen alle Formen der Kommunikation unterhalb der Textebene, auch unter Rückgriff auf unterschiedliche Sinneskanäle (visuelle, auditive, haptische, olfaktorische und gustatorische Informationen je nach Verfügbarkeit des jeweiligen Kanals bei den Rezipient*innen). • Apparategestützte Kommunikations- und Feedbacksysteme: Hiermit sind assistive Technologien gemeint, mit deren Hilfe Personen mit besonders ausgeprägten Behinderungen in kommunikativen Austausch mit ihrer Umwelt treten können, etwa über Eyetracking oder EEG-Systeme (FoltaSchoofs 2019). Bis auf die Unterstützte und die Apparategestützte Kommunikation, die insbesondere im Umgang mit schwer mehrfach behinderten Personen i. d. R. auf zentrale nähesprachliche Themen begrenzt sind, werden die anderen Formen Barrierefreier Kommunikation dazu eingesetzt, potentiell alle möglichen Inhalte barrierefrei zugänglich zu machen und damit Teilhabe zu ermöglichen. Dabei zeigt sich aktuell eine Profilierung: primär zugänglich gemacht werden Texte im Bereich politische Bildung, Film und Fernsehen, Nachrichten, juristisch-administrative Kommunikation, Live-Events und Kultur (Museum, Sightseeing). Auf dem Vormarsch ist der Bereich Medizinkommunikation (vgl. Wort & Bild Verlag: Medizinische Ratgebertexte in Einfacher Sprache). Im Vergleich zum europäischen Ausland relativ gering ausgeprägt ist der Bereich Literatur – anders als in Nordeuropa gibt es in Deutschland hier keine systematische Förderung für eine barrierefreie Aufbereitung. Im Bereich Instruktion (Schule, Ausbildung, Fortbil-

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I  Vorstellungen von ­Behinderung in Praxis und Theorie  –  B  Allgemeine soziale Praxis

dung) dominieren mündliche Formen für bestimmte Behinderungsarten (Schriftdolmetschen, Gebärdensprachverdolmetschung), während schriftliche Formen (z. B. Unterrichtsmaterial in Leichter Sprache) in der inklusiven Schule und in der Berufsausbildung noch kaum zum Einsatz kommen.

6.4 Diskursbarrieren Eine Bundeskanzlerin mit prälingualer Hörschädigung? Ein Chirurg im Rollstuhl? Eine Rezeptionistin mit geistiger Behinderung in einem großen Hotel? Für viele Menschen ist das schwer vorstellbar, nicht zuletzt, weil Personen mit Behinderung i. d. R. Kompetenz und Status für das Ausfüllen einer solchen Rolle abgesprochen wird (zur Konstruktion von Outgroups und der Zuweisung von Status und Kompetenz vgl. Fiske/Cuddy/Glick u. a. 2002). Personen mit Behinderungen treffen häufig auf Diskursbarrieren. Sie werden dann unabhängig von ihren tatsächlichen physischen oder kommunikativen Möglichkeiten exkludiert, weil Personen mit Behinderungen bisher in bestimmten Rollen nicht aufgetreten sind und die Mehrheitsgesellschaft sie deshalb in diesen Rollen bisher auch nicht konzeptualisiert hat. Eine Ursache hierfür liegt jenseits der behinderungsbedingten Einschränkung selbst in den Möglichkeiten, die Menschen mit Behinderungen eröffnet wurden und werden. Inklusion beinhaltet, dass Personen mit Behinderung ihre Potentiale entfalten; durch bestehende Diskursbarrieren ist die Gesellschaft aktuell noch immer weit davon entfernt. Die Abschaffung von Diskursbarrieren korreliert daher mit der Umsetzung der inklusiven Gesellschaft im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention.

6.5 Behinderung im Alter Das Desiderat der Erforschung von Kommunikationsbarrieren in Korrelation mit dem Faktor Alter wurde bereits angesprochen. Der größte Einzelfaktor für Behinderung ist nämlich Alter: Laut einer WHOStudie von 2004 liegt das Risiko, im Alter von 80 Jahren an einer mittelschwer bis schwer ausgeprägten Behinderung zu leiden, bei fast 50 %, während es bis zum Alter von ca. 30 Jahren unter 10 % bleibt. Im Bereich physische Zugänglichkeit wird der Faktor Alter inzwischen durchaus berücksichtigt, man denke an Einkaufswagen mit Lupe, Treppenlifte oder Plätze für Se-

nioren in Verkehrsmitteln nahe der Tür. Für die Kommunikationsbarrieren gilt dies aber nicht in gleichem Maße. Ein erheblicher Teil der Senior*innen ist auf Barrierefreie Kommunikation angewiesen; laut Mollenkopf/Doh (2002, 394) sind viele ältere Menschen in ausgeprägtem Maße informationsbedürftig. Die Kommunikationspräferenzen alter Menschen weichen mit Bezug auf Medialität, Gerätenutzung und präferierte Zugangswege häufig erheblich von denen der jüngeren Nutzergruppen ab. Die Textpraxis hat sich allerdings bislang kaum auf diesen Bedarf eingestellt. Das korreliert mit einer unzureichenden Thematisierung von Behinderung im Alter in den behinderungsbezogenen Diskursen. Diese fokussieren aktuell vorrangig angeborene oder in frühem Alter erworbene Behinderung und nehmen die massiv steigenden Fallzahlen im höheren Lebensalter noch nicht in angemessener Weise zur Kenntnis.

6.6 Barrierefreiheit jenseits von Behinderung Das Konzept der Barrierefreiheit ist nicht auf den Bereich Behinderung beschränkt, sondern bezieht sich auf die Möglichkeit des Zugangs und der Nutzung von physischen oder informationellen Ressourcen durch Personen mit diversem Anforderungsprofil. Treppen stellen beispielsweise nicht nur für Rollstuhlfahrer, sondern auch für Eltern mit Kinderwagen eine Zugangsbarriere dar. Entsprechend führt eine Umsetzung von Barrierefreiheit auch zu mehr Zugang für Personen ohne Behinderung. Hier liegt eine Chance für Inklusion: Wenn die Lebenswelt durch Ressourcen, die im Rahmen der Behindertengesetzgebung zur Verfügung gestellt werden, barrierefrei gemacht wird, profitieren davon auch Personen jenseits der ursprünglich adressierten Gruppen: Eltern mit Kinderwagen oder Skateboard-Fahrer von Rollstuhlrampen, juristische Laien von Behördenkommunikation in Leichter Sprache, Nutzer in lauten öffentlichen Räumen von Untertiteln. Die Nutzung dieser Ressourcen ist nicht zwangsläufig mit Behinderung assoziiert, sondern mit gesellschaftlicher Diversität. Inklusion wird möglich durch die Anpassung der Lebenswelt an eine Vielzahl von Bedarfen mit unterschiedlichen Ursachen in den verschiedenen Lebenssituationen und -phasen auch jenseits von Behinderung im engeren Sinne. Hier erfolgt potentiell eine Annäherung an die diskursive Barrierefreiheit. Dem steht allerdings aktuell die Verankerung der

6 Barrierefreiheit

Maßnahmen zur Herstellung einer barrierefreien Lebenswelt ausschließlich in der Behindertengesetzgebung entgegen. Literatur

Benecke, Bernd: Audiodeskription – Methoden und Techniken der Filmbeschreibung. In: Maaß/Rink 2019, 455– 470. Benner, Uta/Herrmann, Annika: Gebärdensprachdolmetschen. In: Maaß/Rink 2019, 381–402. Bielefeldt, Heiner: Zum Innovationspotenzial der UNBehindertenrechts-konvention. Berlin 2009. Bredel, Ursula/Maaß, Christiane: Leichte Sprache. Theoretische Grundlagen – Orientierung für die Praxis. Berlin 2016. Fiske, Susan T./Cuddy, Amy J. C./Glick, Peter/Xu, Jun: A Model of (Often Mixed) Stereotype Content. In: Journal of Personality and Social Psychology 82 (2002), 878–902. Folta-Schoofs, Kristian: Apparategestützte Kommunikations- und Feedbacksysteme. In: Maaß/Rink 2019, 345– 359. Holfeldt, Monika: Barrierefreie Lebensräume. Bauen und Wohnen ohne Hindernisse. 2., überarb. Aufl. Berlin 2011. Kerkmann, Friederike: Der rechtliche Rahmen – Ein Überblick über Gesetze, Verordnungen, Richtlinien und Normen zu barrierefreier Information und Kommunikation. In: Friederike Kerkmann/Dirk Lewandowski (Hg.): Barrierefreie Informationssysteme. Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderung in Theorie und Praxis. Berlin/ New York 2015, 11–48. Kurch, Alexander: Produktionsprozesse der Hörgeschädigten-Untertitelungen und Audiodeskription: Potenziale teilautomatisierter Prozessbeschleunigung mittels (Sprach-)Technologien. In: Maaß/Rink 2019, 437–453. Jekat, Susanne J./Jüngst, Heike Elisabeth/Schubert, Klaus/ Villiger, Claudia: Barrieren abbauen. Einleitung. In: Dies. (Hg.): Sprache barrierefrei gestalten. Perspektiven aus der Angewandten Linguistik. Berlin 2014, 7–16. Lang, Katrin: Die rechtliche Lage zu Barrierefreier Kommunikation in Deutschland. In: Maaß/Rink 2019, 67–93. Maaß, Christiane: Leichte Sprache. Das Regelbuch. Münster 2015.

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Christiane Maaß / Isabel Rink

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I  Vorstellungen von ­Behinderung in Praxis und Theorie  –  B  Allgemeine soziale Praxis

7 Bildung Das akademische Feld, das sich explizit kritisch mit der Frage auseinandersetzt, welche Kulturen der Behinderung – im Sinne von behindernden Praktiken, Haltungen oder symbolischen Ordnungen – in Bildungseinrichtungen anzutreffen sind und was diese beeinflusst, bezeichnet sich als Disability Studies in Education (DSE) (Buchner 2018, 56). Als Teilgebiet der Disability Studies verstehen die DSE Bildung von Schüler*innen mit Behinderung zunächst als politisch verortetes Thema und erst sekundär als »technisches Problem« (Pfahl 2014; Slee/Corcoran/Best 2019). Die DSE haben eine noch relativ junge Geschichte (Connor/Gabel/Gallagher u. a. 2008) und sind im deutschen Sprachraum bislang wenig bekannt (Köbsell 2015). Allerdings gibt es auch weitere akademische Disziplinen, die sich mit dem Zusammenhang Kultur und Behinderung, wenn auch seltener im Kontext Bildung, auseinandersetzen und als relevant einführen, z. B. die Soziologie (Cloerkes/ Neubert 2001), die Anthropologie (Grut/Ingstad 2006) oder die international vergleichende Sonderpädagogik (Albrecht/Bürli/Erdélyi 2006; Hedderich/ Zahnd 2016). Die unterschiedlichen wissenschaftlichen Zugänge haben zur Konsequenz, dass ›Kultur‹ im Bereich Bildung theoretisch nicht einheitlich verstanden wird und als ›Kulturraum‹ unterschiedlich große Gebiete gefasst werden (z. B. Kulturen lokaler Schulen oder die spezifische Kultur einer Gesellschaft) (Biewer/Kremsner/Proyer 2019, 82–84). Für die nachfolgenden Ausführungen wird deshalb von einem Kulturverständnis ausgegangen, das diese als »all jene Praktiken, Haltungen und symbolischen Ordnungen [versteht], die als Ergebnis bestimmter Formen der Institutionalisierung von ›Behinderung‹ offene oder geschlossene Lebenswelten prägen« (Weisser 2005, 64). Die nachfolgenden Ausführungen implizieren damit Skalierbarkeit des Kulturbegriffs und fokussieren, jeweils anhand exemplarischer Beispiele, zunächst die globale Analyseebene, danach die Länderebene und abschließend lokale Schulkulturen.

7.1 Inklusion: Rahmung auf globaler Ebene Wer sich mit Blick auf unterschiedliche Kulturen mit der Frage beschäftigen möchte, welche Repräsentationen von Behinderung sich in Bildungsinstitutionen finden, muss dies zwingend vor dem Hinter-

grund globaler Entwicklungen reflektieren. Zentral gilt es dabei zu beachten, dass dominierende wissenschaftliche Perspektiven auf Behinderung und damit auch kulturübergreifende Vergleiche eine starke Verzerrung durch die Perspektive des Globalen Nordens aufweisen. Dies trifft auch auf die im Rahmen internationaler Organisationen verabschiedeten Policies zu (Biermann/Graf/Proyer u. a. 2014; Ingstad/Whyte 1995, 7). Aktuell gilt es für die Analyse lokaler Schulkulturen zu berücksichtigen, dass auf globaler Ebene zahlreiche Dokumente die inklusive Gestaltung von Schulen einfordern. Dazu gehören beispielsweise die Behindertenrechtskonvention oder das Sustainable Development Goal 4 der Agenda 2030. Diese Dokumente könnten letztendlich als Teil einer (Schul-) Weltkultur (Meyer/Ramirez 2007) angesehen werden und sind als Ausdruck einer Entwicklung zu verstehen, die sich mit Rechten von Menschen mit Behinderung auseinandersetzt und eng mit der Frage verbunden ist, was eigentlich eine Behinderung ist (Zahnd 2017). Dies lässt sich exemplarisch anhand von Entwicklungen auf Ebene der Vereinten Nationen nachzeichnen. Die Vereinten Nationen beginnen ab den 1970er Jahren, das Thema Menschenrechte auch spezifisch auf Menschen mit Behinderung zu beziehen. Diese Bestrebungen erfolgen aufgrund des Drucks (inter-) nationaler Behindertenrechtsbewegungen, die auf eine stärkere Partizipation in der Gesellschaft drängen (Metts 2000, 19) (s. Kap. 16). Im gleichen Jahrzehnt formuliert die Union of Physically Impaired Against Segregation (UPIAS) auch das soziale Modell der Behinderung, eine radikale Kritik an einem medizinischen Behinderungsverständnis, und definiert Behinderung als gesellschaftliches Unterdrückungsmoment (UPIAS/Disability Alliance 1975). Auf Ebene der Vereinten Nationen wird im Rahmen der »Declaration on the Rights of Mentally Retarded Persons« (1971) und der »Declaration on the Rights of Disabled Persons« (UN/United Nations 1975) zum ersten Mal festgehalten, dass auch Menschen mit Behinderung ein Recht auf Bildung (jedoch noch nicht inklusive Bildung) haben. Die Vorstellung davon, was Behinderung ist, basiert allerdings noch auf einem medizinischen Verständnis. So gilt als behindert, wer eine »deficiency, either congenital or not, in his or her physical or mental capabilities« (ebd., Abs. 1) hat (s. Kap. 3). Die weiteren Entwicklungen verweisen dann auf Wurzeln in den 1960er Jahren. Damals wies Saad Nagi darauf hin, dass eine körperliche Schädigung

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_7

7 Bildung

nicht zwingend zu einer Limitierung auf Ebene der gesamten Körperlichkeit führen muss, weil auch Kontextfaktoren mit zu berücksichtigen seien: »For example, the loss of a finger, which could be severely limiting to a pianist, may not be as limiting, if at all, to a teacher. On this basis, it can be said that not every impairment results in functional limitations« (Nagi 1965, 102). Nagis Arbeit wird später von der Weltgesundheitsorganisation für ihr erstes globales Modell von Behinderung aufgegriffen, das auf kulturvergleichenden Überlegungen basiert, die »International Classification of Impairments, Disabilities, and Handicaps« (ICIDH) (Linker 2013; Üstün/Chatterji/Bickenbach 2001). Diese fragmentierten Hinweise mit Blick auf die Verschiebungen in der Definition von Behinderung in Richtung auf Funktionsfähigkeit und Kontextualisierung sind wichtig, weil sie von den Vereinten Nationen aufgegriffen werden. Diese proklamieren 1981 als International Year of Disabled Persons unter dem Motto »full participation and equality« (UN/United Nations o. J.) und verabschieden ein Jahr später das »World Programme of Action Concerning Disabled Persons«. In diesem wird die Logik der ICIDH aufgegriffen und damit auch der Aspekt, dass Kontextfaktoren für Behinderung eine Rolle spielen können. Damit ist geklärt, dass sich auch im ›Kontext‹ etwas verändern muss. Dies hat für das Thema Bildung zur Konsequenz, dass sich im »World Programme« die Forderung findet, die Beschulung von Kindern mit Behinderung soweit wie möglich im allgemeinen Schulsystem zu vollziehen. Im Jahr 1994 veröffentlichen die Vereinten Nationen die »Standard Rules on the Equalization of Opportunities for Disabled Persons«. Die bereits früher zaghaft aufgegriffene Relevanz der Kontextfaktoren ist nun unbestritten: »Current terminology recognizes the necessity of addressing both the individual needs (such as rehabilitation and technical aids) and the shortcomings of the society (various obstacles for participation)« (UN/United Nations 1994, 7). Damit einher geht die Forderung, dass Bildung auf allen Stufen in »integrated settings« (ebd., 15) erfolgen soll. Die in den »Standard Rules« festgelegten Entwicklungen im Hinblick auf die Schule werden dann auf Ebene der Vereinten Nationen mit der Verabschiedung der Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) bestätig und gestärkt. Im Gegensatz zu den vorausgehenden Dokumenten ist diese im Sinne internationalen Rechts bindend und fordert hochqualitative inklusive Bildung für alle.

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7.2 Brüche zwischen globalen und lokalen Kulturen Aus einer historischen Perspektive lässt sich mit Blick auf die Länder des Globalen Nordens festhalten, dass der schulische Umgang mit Behinderung grundsätzlich von einer Kultur des Ausschlusses geprägt war bzw. immer noch ist. Dies führte teilweise zur Konstruktion von stark differenzierten Sonderschulsystemen (z. B. Powell 2010). Obwohl die UN-BRK zumindest auf diskursiver Ebene international wirkmächtig zu sein scheint und damit einen Einfluss auf die Frage hat, wie in Nationalstaaten über Behinderung verhandelt wird, kann sie die lokalen, kulturell geprägten Zugänge (und die vorherrschenden segregativen Schulsysteme) nicht umgehend aussetzen oder nachhaltig verändern (s. Kap. 7, 15). Dies lässt sich statistisch zeigen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass auch die Definition von Behinderung je nach Land variiert, wobei kulturelle Unterschiede eine wichtige Rolle spielen (World Health Organization/The World Bank 2011, 209). Obwohl die Daten deshalb nur bedingt vergleichbar sind, deuten die Zahlen der European Agency for Special Needs and Inclusive Education (EASIE) darauf hin, dass es unterschiedliche Kulturen im Umgang mit dem Thema Behinderung gibt. Beispielsweise schwankt der Anteil an Kindern, die in komplett exkludierenden Settings unterrichtet werden, zwischen 0,55 % (Kroatien) und 5,88 % (Slowakei) (EASIE 2018, 46). Auch für den Globalen Süden existieren vergleichbare Daten, allerdings stellt sich die Frage der Beschulung von Kindern mit Behinderung nochmals auf anderer Ebene, da der Zugang zu Bildung komplett verwehrt sein kann. So zeigt der »World Report on Disability« (World Health Organization/The World Bank 2011, 206–208) exemplarisch an einigen Staaten, dass der Anteil von Kindern mit Behinderung, die überhaupt eine Schule besuchen dürfen, sehr unterschiedlich ist. Während in Indien die Chance auf einen Schulbesuch für Kinder mit Behinderung z. B. 10 Prozentpunkte tiefer liegt als diejenige anderer Kinder, ist sie in Indonesien 60 Prozentpunkte tiefer. Mit Blick auf die statistischen Hinweise auf Kulturen des Ausschlusses, die durch gesellschaftliche Vorstellungen, historisch geformte Tradierung oder medial geprägte Einstellungen beeinflusst sind, muss zwar festgehalten werden, dass sich in vielen Ländern des Globalen Nordens ab den 1970er/1980er Jahren erste Schulversuche zur Inklusion (bzw. damals Integration) finden und diese ab den 1990er Jahren vie-

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I  Vorstellungen von ­Behinderung in Praxis und Theorie  –  B  Allgemeine soziale Praxis

lerorts definitiv im Schulsystem verankert werden (UNESCO 1996; Zahnd 2017). Dies führt aber nicht dazu, dass die exkludierenden Strukturen aufgelöst werden. Das bedeutet, dass sich weder die Ausgestaltung der Schule in einem inklusiven Sinne noch das damit in Verbindung stehende gewandelte Verständnis von Behinderung bisher auf Ebene der einzelnen Länder komplett durchsetzen konnte. Teilweise wird das bestehende Sonderschulangebot nicht im Widerspruch zur Forderung einer inklusiven Bildung gesehen. Dies führte wiederum dazu, dass das Comitee on the Rights of Persons with Disabilities zehn Jahre nach Verabschiedung der UN-BRK den »General Comment No 4« zu Artikel 24 (Education) verfasste. In diesem werden die bisher mangelnde Umsetzung inklusiver Bildung sowie die teilweise eigensinnige Interpretation kritisiert: »Barriers that impede access to inclusive education for persons with disabilities can be attributed to multiple factors, including: a) the failure to understand or implement the human rights model of disability, in which barriers within the community and society, rather than personal impairments, exclude persons with disabilities; b) persistent discrimination against persons with disabilities, compounded by the isolation of those still living in long-term residential institutions, and low expectations about those in mainstream settings, allowing prejudices and fear to escalate and remain unchallenged [...].« (UN/Committee 2016, 1–6/Absatz 4)

Aus dem exemplarischen Zitat wird klar, dass nicht nur das in vielen staatlichen Schulsystemen vorherrschende und fest verankerte Behinderungsverständnis Gegenstand der Kritik sind, sondern auch die damit zusammenhängenden (kulturellen) Praktiken. Mit Nachdruck wird deshalb eine »transformation in culture, policy and practice in all formal and informal educational environments« (ebd., 2/Absatz 9) gefordert.

7.3 Lokale Kulturen Die aufgezeigten Widersprüche zwischen den global geprägten Diskursen und den aktuellen Gegebenheiten in den meisten Ländern lassen sich letztendlich nur verstehen, wenn man lokale Kulturen genauer analysiert, um kulturelle Setzungen und Bedingthei-

ten zu verstehen. Dies kann sich sowohl auf die Kulturen einzelner Länder beziehen, als auch auf Schulkulturen in einem spezifischen Schulhaus bzw. auch Praktiken einzelner Lehrpersonen (transkulturelle Praktiken nach Aldridge/Kilgo/Christensen 2014). Dabei zeigt sich, dass ein Verständnis von Behinderung, die in lokale Kulturen eingebettet wird, äußerst interessant, aber auch komplex ist. Die nachfolgenden Ausführungen sind denn auch bloß als exemplarische Beispiele dessen zu verstehen, was dabei fokussiert werden kann. Im Rahmen der Disability Studies in Education wird im Hinblick auf die Frage der Kultur beispielsweise der sogenannte Ableism (s. Kap. 51) thematisiert, d. h. (kulturelle) Setzungen, die eine Aussage darüber machen, über welche Fähigkeiten und welche Körper Menschen verfügen sollen. Im Hinblick auf Schulkulturen werden aus dieser Perspektive die »eingelagerten ableistischen Normen inspiziert« (Buchner 2018, 56). Die Debatte über Ableism wird im Rahmen der (Critical) Disability Studies darüber hinaus allgemein im Kontext aktueller gesellschaftlicher Bedingungen diskutiert, beispielsweise in Bezug auf die Frage, welche Form des Ableism der Neoliberalismus mit sich bringt (Goodley/Lawthom 2019). Das Problem wird auf die Schule übertragen, indem die im Neoliberalismus eingelagerte und in den Ländern des Globalen Nordens beobachtbare ›Optimierung‹ der Schüler*innen im Hinblick auf einen engen Leistungsfokus und auch Performancevergleiche (z. B. TIMMS, PISA) analysiert werden. Für das Thema Behinderung ist das relevant, weil diese Entwicklungen ein Spannungsverhältnis erzeugen, wenn es darum geht, Schulen inklusiv auszugestalten und damit eine Kultur zu schaffen, die Vielfalt willkommen heißt (Larsen/Holloway/Hamre 2019). Eine andere, bedeutsame Analyseperspektive bezieht sich auf Haltungen und Einstellungen von Personen. Sind diese gegenüber Menschen mit Behinderung negativ, wird dies als eines der zentralen Probleme von Schulkulturen gesehen, die Schüler*innen mit Behinderung als nicht gleichwertig – vor allem hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit – betrachten (Werning 2014; World Health Organization/The World Bank 2011). Die Frage der Einstellung und Haltungen ist wiederum eng mit lokalen Kulturen verbunden. So zeigt sich z. B. in Thailand auf Policy-Ebene eine Entwicklung, die sich an jene des internationalen Diskurses anlehnt (Zahnd/Kremsner/Proyer 2016). Fokussiert man aber die Situation in Schulen, dann liegt sie weit entfernt von dem, was in den Poli-

7 Bildung

cies vorgegeben ist. Für den konkreten bildungsbezogenen Umgang mit und die Sichtweise auf Behinderung sind oft Religion und Tradition zentraler als die eigentlichen politischen Vorgaben. Beispielsweise werden in Interviews mit lokalen Akteur*innen Erklärungsmuster sichtbar, die Behinderung auf der Basis von Karma erklären (Proyer 2014; 2015).

7.4 Schluss Ausgehend von einem Kulturverständnis, das »Praktiken, Haltungen und symbolisch[e] Ordnungen [...] als Ergebnis bestimmter Formen der Institutionalisierung von ›Behinderung‹« (Weisser 2005, 64) in den Blick nehmen möchte, zeigt sich, dass die Schule als Ort konfligierender Kulturen verstanden werden kann. Lokale Praktiken, Haltungen und symbolische Ordnungen stehen (teilweise) in einem Widerspruch zu dem, was auf globaler Ebene als Kultur der Behinderung zu vermitteln versucht wird. Allerdings zeigen sich bereits auf globaler Ebene, z. B. mit Blick auf neoliberale Entwicklungen, Spannungsverhältnisse, die Teil einer Kultur sind, die Gefahr läuft, Menschen mit Behinderung (weiterhin) auszuschließen. Die Auseinandersetzung mit dem Themenfeld Kultur und Behinderung im Rahmen von Bildung ist zwar insgesamt noch wenig bearbeitet, die obigen Ausführungen mögen aber aufgezeigt haben, dass es sich um ein äußerst komplexes Themenfeld handelt. Eine Auseinandersetzung mit den kulturellen Bedingungen des schulischen Umgangs mit Behinderung vermag den analytischen Blick auf die Schule und insbesondere auf Kulturen des Ein- und Ausschlusses von Menschen mit Behinderung sicherlich zu schärfen. Abschließend muss aber darauf hingewiesen werden, dass für die Weiterentwicklung des Themenfelds unbedingt ein reflexiver Umgang mit den Disparitäten zwischen Globalem Norden und Globalem Süden berücksichtigt werden muss. Literatur

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»nationalen und Grenzen überschreitenden europäischen Heil- und Sonderpädagogik« und darüber hinaus. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 83/3 (2014), 259–263. Biewer, Gottfried/Kremsner, Gertraud/Proyer, Michelle: Inklusive Schule und Vielfalt. Stuttgart 2019. Buchner, Tobias: Die Subjekte der Integration. Schule, Biographie und Behinderung. Bad Heilbrunn 2018. Cloerkes, Günther/Neubert, Dieter: Behinderung und Behinderte in verschiedenen Kulturen. Eine vergleichende Analyse ethnologischer Studien. Heidelberg 2001. Connor, David J./Gabel, Susan L./Gallagher, Deborah J./ Morton, Missy: Disability studies and inclusive education — implications for theory, research, and practice. International Journal of Inclusive Education 12/5–6 (2008), 441– 457. EASIE/European Agency Statistics on Inclusive Education: 2016 Dataset Cross-Country Report. Hg. von Joacim Ramberg, András Lénárt und Amanda Watkins. Odense 2018. Goodley, Dan/Lawthom, Rebecca: Critical disability studies, Brexit and Trump: A time of neoliberal–ableism. Rethinking History 23/2 (2019), 233–251. Grut, Lisbet/Ingstad, Benedicte: This is my life – Living with a disability in Yemen. SINTEF Health Research 2006. Hedderich, Ingeborg/Zahnd, Raphael (Hg.): Teilhabe und Vielfalt: Herausforderungen einer Weltgesellschaft. Bad Heilbrunn 2016. Ingstad, Benedicte/Whyte, Susan Reynolds (Hg.): Disability and Culture. Berkeley/London 1995. Köbsell, Swantje: Disability Studies in Education. Zeitschrift für Inklusion 2 (2015), https://www.inklusion-online.net/ index.php/inklusion-online/article/view/275 (03.01.2020). Larsen, Tobias Colling/Holloway, Jessica/Hamre, Bjørn: How is an inclusive agenda possible in an excluding education system? Revisiting the Danish Dilemma. International Journal of Inclusive Education 23/10 (2019), 1049– 1064. Linker, Beth: On the Borderland of Medical and Disability History: A Survey of the Fields. Bulletin of the History of Medicine 87/4 (2013), 499–535. Metts, Robert L.: Disability Issues, Trends and Recommendations for the World Bank. The World Bank 2000. Meyer, John W./Ramirez, Francisco O.: The World Institutionalization of Education. In: Eigene und fremde Welten. Repräsentationen sozialer Ordnung im Vergleich. Bd. 2. Weltkultur und kulturelle Bedeutungswelten. Zur Globalisierung von Bildungsdiskursen. Frankfurt a. M. 2007, 279–297. Nagi, Saad Z.: Some Conceptual Issues in Disability and Rehabilitation. In: Marvin B. Sussman (Hg.): Sociology and Rehabilitation. Washington DC 1965, 110–113. Pfahl, Lisa: Techniken der Behinderung: der deutsche Lernbehinderungsdiskurs, die Sonderschule und ihre Auswirkungen auf Bildungsbiografien. Bielefeld 2014. Powell, Justin J. W.: Change in Disability Classification: Redrawing Categorical Boundaries in Special Education in the United States and Germany, 1920–2005. Compara-

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I  Vorstellungen von ­Behinderung in Praxis und Theorie  –  B  Allgemeine soziale Praxis

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Raphael Zahnd / Michelle Proyer

8 Arbeitswelt

8 Arbeitswelt 8.1 Einleitung Arbeit ist elementarer Aspekt menschlicher Lebensführung und stellt einen zentralen Lebensbereich dar. In modernen Gesellschaften ist Arbeit im Wesentlichen durch die Gesellschaft gestaltet und wird von anderen Tätigkeiten wie dem Spiel abgegrenzt. Arbeit kann grundlegend als zweckgerichtete Tätigkeit, die der Befriedigung materieller und immaterieller Bedürfnisse dient, bestimmt werden (Mikl-Horke 2017). Fokussiert auf Erwerbsarbeit ist das Verhältnis von Behinderung und Arbeit historisch aus einem Gegensatz erwachsen, galt doch lange Zeit die ›Minderung der Erwerbsfähigkeit‹ als Kriterium von Behinderung. Daher wurde es immer wichtiger, durch ein verändertes, menschenrechtsbasiertes Verständnis von Behinderung und entsprechende (sozial-)politische Interventionen, diesen Widerspruch aufzulösen. Dementsprechend wird mittlerweile der Zusammenhang zwischen Arbeit, Behinderung und Inklusion (s. Kap. 16) breiter diskutiert (z. B. Wansing/Welti/Schäfers 2018; Misselhorn/Behrendt 2017; Becker/Wacker/Banafsche 2015).

8.2 Begriff und Funktionen von Arbeit Der Begriff ›Arbeit‹ kann je nach Diskurs und Disziplin ganz verschiedene Bedeutungen haben und sehr unterschiedlich verwendet werden. Ein weites Verständnis definiert Arbeit allgemein als Tätigkeit, die unternommen wird, »wenn ein bestimmter Zustand oder eine Gegebenheit in der Welt als unbefriedigend oder mangelhaft erlebt wird, oder wenn sich Ressourcen [...] als knapp erweisen« (Füllsack 2009, 8). Wir arbeiteten, so Füllsack (ebd.), »um unsere Welt und unser Dasein so zu gestalten, wie wir es für sinnvoll erachten. Wir gestalten arbeitend unsere Welt«. Da allgemeingültige Definitionen schwierig sind, ist es hilfreich, die Funktionen von Arbeit zu fokussieren, wie etwa in Anlehnung an und in teilweiser Erweiterung von Doose (2016, 448–449) und Fischer/ Heger (2011, 29–30): • Arbeit dient der Sicherung der Existenz. Die meisten Menschen müssen arbeiten, um sich ihre Existenz zu sichern; in Subsistenzwirtschaft dient die Arbeit unmittelbar der Erwirtschaftung der Mittel zur Lebensführung; Erwerbsarbeit ermöglicht die

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Befriedigung verschiedener Bedürfnisse wie Wohnen, Freizeit oder Erholung. • Arbeit schafft Werte. Diese werden von anderen Menschen genutzt oder zur Grundlage für weitere produktive Prozesse. • Arbeit schafft Sicherheit. Ein Arbeitsverhältnis findet in einem konkreten rechtlichen und organisatorischen Rahmen statt, der Rechte und Pflichten beinhaltet. In bestimmten Arbeitsformen werden auch Ansprüche, z. B. sozialrechtlicher Art, erworben, die über das Arbeits- bzw. Erwerbsleben hinausweisen. • Arbeit hat eine soziale Funktion. In Arbeitsprozessen muss mit anderen Menschen kommuniziert und kooperiert werden. Sie ermöglichen ein breites Spektrum sozialer Erfahrungen, das Erlernen und Ausüben verschiedener sozialer Rollen sowie soziale Anerkennung. • Arbeit verbindet mit der Gesellschaft. In arbeitsteiligen Gesellschaften wird sie zum einen reguliert, zum anderen wird ihr Ergebnis – das Produkt oder die Dienstleistung – von anderen Menschen weiterverarbeitet oder genutzt. • Arbeit schafft Sinn und Identität. Sie ist zielgerichtet und produziert damit Ergebnisse. Dies stiftet Sinn und ermöglicht auch, dass man sich als selbstwirksam erfährt. Insbesondere qualifizierte Arbeit in Ausübung eines Berufes vermittelt eine professionelle Identität. • Arbeit strukturiert den Alltag. In den meisten Arbeitszusammenhängen erfolgt die Arbeit nach bestimmten zeitlichen Vorgaben. Diese Funktion ist gerade für Menschen mit stärkeren vor allem geistigen oder psychischen Beeinträchtigungen wesentlich, weswegen entsprechende Angebote oft ›tagesstrukturierende Maßnahmen‹ genannt werden. • Arbeit ist körperliche und geistige Aktivität. In den meisten Arbeitsprozessen sind Menschen körperlich tätig. Dadurch leistet Arbeit auch einen wichtigen Beitrag nicht nur zur psychischen, sondern auch zur körperlichen Gesundheit. In modernen Gesellschaften wird Arbeit oft mit Erwerbsarbeit gleichgesetzt. Dies stellt aber eine unzulässige Verkürzung dar, da z. B. viele der genannten Funktionen auch in anderen Formen von Arbeit wie Sorgearbeit, Reproduktionsarbeit oder ehrenamtlichem Engagement erfüllt werden.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_8

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I  Vorstellungen von ­Behinderung in Praxis und Theorie  –  B  Allgemeine soziale Praxis

8.3 Wandel der Arbeitswelt Während in der Antike Arbeit insgesamt oft geringgeschätzt wurde, wurde sie bereits früh im christlich-jüdischen Denken positiv umgedeutet. In der Neuzeit wurde Arbeit als für Menschen aller Stände wesentlich angesehen und nahm später als Dienst an Gott und dann als Pflicht gegenüber der Gemeinschaft eine bedeutende Rolle im Leben der Menschen ein. Untrennbar damit verbunden ist die Entstehung von Arbeitshäusern als disziplinierendes Moment der aufziehenden Moderne. Durch die Konnotation mit einer Berufung wird Arbeit im Protestantismus als Berufsarbeit stark aufgewertet. Im Zuge der Aufklärung und einer intensiveren Arbeitsteilung behielt Arbeit ihre grundlegende Bedeutung als wertschöpfende und Gleichheit schaffende Kraft. Mit der Industrialisierung treten die ordnenden und disziplinierenden Aspekte stärker hervor. Aus einer kritischen Perspektive ist die Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung eng mit der Entwicklung des Kapitalismus verbunden (Roulstone 2012, 218), und es steht außer Frage, dass das Fabriksystem weniger Möglichkeiten zu Arbeit für Menschen mit Behinderung bot als frühere Formen wie die Arbeit in der Landwirtschaft oder im Handwerk in kleineren, familiäreren Gemeinschaften (Oliver/Barnes 2012). Zu Beginn des 21. Jahrhunderts treten die Widersprüche der Bedeutung von Arbeit immer deutlicher hervor, wenn einerseits Arbeit zum Bestreiten des Lebensunterhalts immer wichtiger wird, aber andererseits viele Menschen davon ausgeschlossen sind. Dies führt dazu, dass radikale Lösungen wie die Befreiung vom Zwang zu Erwerbsarbeit durch eine bedarfsorientierte Grundsicherung als Ausweg aus den Widersprüchen der Erwerbsarbeit in marktliberalen Gesellschaften diskutiert werden. Aktuell befinden sich die industrialisierten Länder in einem Wandel der Arbeitswelt, der dem durch die Industrialisierung angestoßenen an Ausmaß und Folgen vergleichbar sein dürfte. Liberalisierung von Arbeits- und Produktmärkten, intensivierte Globalisierung sowie Digitalisierung haben immense Auswirkungen. Mit Senghaas-Knobloch (2017) lassen sich folgende Trends ausmachen: • Durch Rationalisierung, Automatisierung und Auslagerungen geht der Anteil der Industriebeschäftigten kontinuierlich zurück; parallel steigen die Bedeutung des Dienstleistungssektors und der Anteil an Frauenerwerbsarbeit. • Der Rückbau der sozialen Sicherungssysteme und der Wandel von welfare zu workfare bringt neue

Flexibilitätserfordernisse für Arbeitnehmer*innen. Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses mit Zunahme atypischer Beschäftigungsverhältnisse und abnehmender Tarifbindung führen zu erhöhten Risiken mit Blick auf Einkommen, soziale Absicherung und Arbeitsbedingungen. • Die Digitalisierung geht ebenfalls mit neuen Anforderungen an Beschäftigte einher: Neue Arbeitsprozesse mit mehr Flexibilität und neue Formen wie Telearbeit stellen neue Anforderungen. • Im Zuge der Globalisierung und internationaler Arbeitsteilung setzen sich in den Unternehmen neue Managementstrategien durch. Innerbetrieblich entstehen mehr Wettbewerb und mehr (Selbst-)Kontrolle bei einzelnen Tätigkeiten. Der Typus des ›Arbeitskraftunternehmers‹ (Voß/Pongratz) verlangt eine hohe Kompetenz der Selbststeuerung und des unternehmerischen Handelns in Bezug auf die eigene Person. Sind die Auswirkungen dieser Entwicklungen schon allgemein schwer zu bewerten, so ist dies im Hinblick auf Menschen mit Behinderung ungleich komplizierter. Zunächst ist festzuhalten, dass die Veränderungen der Arbeitswelt mit einer Zunahme psychischer Erkrankungen einhergehen und diese über Chronifizierungen zu einer Behinderung werden können. Dem entspricht auch der wachsende Anteil an Menschen mit seelischen Beeinträchtigungen unter den Empfängern von Teilhabeleistungen. Wenn für Menschen mit vor allem geistigen und psychischen Beeinträchtigungen eher regelmäßige, plan- und überschaubare Tätigkeiten von Vorteil waren, so stellt sich nun die Frage, wie Tätigkeiten, die höhere Selbstkompetenzen und Flexibilität voraussetzen, von ihnen bewältigt werden können. Auch Dienstleistungsarbeit verlangt eine höhere soziale Kompetenz als manuelle Arbeit und könnte daher vor allem psychisch beeinträchtigte Menschen vor neue Herausforderungen stellen. Positive Beispiele wie IT-Unternehmen, die bevorzugt Menschen mit Autismus einstellen, oder sehbehinderte Menschen in der taktilen Diagnostik (›discovering hands‹) stellen keine generelle Lösung dar.

8.4 Arbeit und Behinderung in supranationaler Perspektive Die große Bedeutung von Arbeit zeigt sich auch auf supranationaler Ebene. Ein Recht auf Arbeit findet sich in Artikel 23 der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« von 1948. Weitere Positionen zu

8 Arbeitswelt

Arbeit hat die Internationale Arbeitsorganisation erarbeitet und 1999 eine Agenda zu »Decent Work Worldwide« verabschiedet, die u. a. eine existenzsichernde Beschäftigung und Arbeitnehmerrechte postuliert. Diese Aspekte flossen als Ziel 8 »Decent Work and Economic Growth« in die »Sustainable Development Goals« der Vereinten Nationen von 2015 ein und finden sich gedanklich auch in der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UNBRK) von 2006 wieder. Die UN-BRK ist zweifellos der wichtigste Impuls für die Entwicklung der Lebensverhältnisse von Menschen mit Behinderung. Sie trat 2009 in Deutschland in Kraft. In Artikel 27 werden speziell Rechte in Bezug auf Arbeit bestimmt, gleichwohl sind die Artikel 8 (Bewusstseinsbildung), 9 (Zugänglichkeit) und 26 (Habilitation und Rehabilitation) für die Teilhabechancen an Arbeit ebenso relevant, sei es z. B. im Hinblick auf die Aufklärung von Arbeitgebern, auf die Erreichbarkeit eines Arbeitsplatzes oder auf berufliche Förderung. Die große Bedeutung des Themas Arbeit zeigt sich darin, dass der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen in seiner Resolution 22/3 »The work and employment of persons with disabilities« die Forderungen der UN-BRK bekräftigte. Nach dem konkret auf Arbeit zielenden Artikel 27 (1) der UN-BRK anerkennen die Vertragsstaaten »das gleiche Recht von Menschen mit Behinderungen auf Arbeit«. Nach Trenk-Hinterberger (2015, 105) lassen sich aus Artikel 27 die folgenden drei Leitlinien ableiten: • »so wenig Sonderwelten wie möglich« • »wenn schon Sonderarbeitswelten, dann so normal wie möglich« • »Verwirklichung eines inklusiven Arbeitsmarktes«.

8.5 Teilhabe an Arbeit Inwieweit die Leitlinien der UN-BRK umgesetzt werden und Menschen mit Beeinträchtigungen an Arbeit teilhaben, hängt im Wesentlichen von Rechten, der sozialen und rechtlichen Organisation von Arbeit und von Leistungen der Sozialpolitik eines Landes ab. Zunächst ist zu konstatieren, dass weltweit und auch in Deutschland eine Behinderung die Teilhabe an Arbeit mehr oder weniger einschränkt, der allgemeine Arbeitsmarkt also nicht hinreichend inklusiv ist. Zwar ist seit dem In-Kraft-Treten der UN-BRK vor allem aufgrund einer zeitlich damit zusammenfallenden positiven Arbeitsmarktentwicklung die Beschäftigung

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schwerbehinderter Menschen in Deutschland gestiegen, der Unterschied zu Menschen ohne Behinderung ist aber immer noch deutlich. Im Inklusionsbarometer Arbeit (Aktion Mensch 2019) wird dies an vielen Indikatoren deutlich: Die Arbeitslosenquote der Menschen mit Behinderung lag im Jahr 2018 mit 11,2 % deutlich über der von Menschen ohne Behinderung (5,2 %); sie sind aufgrund geringerer Abgangsraten aus Arbeitslosigkeit häufiger langzeitarbeitslos. Zudem scheiden insbesondere behinderte Ältere häufig durch Verrentung aus dem Erwerbsleben aus. Daher sagt die Erwerbsquote am meisten über die tatsächliche Teilhabe an Erwerbsarbeit aus: Sie lag nach Daten des Mikrozensus 2017 bei 49,0 % für Menschen mit und 78,2 % für Menschen ohne Behinderung (Bundesagentur für Arbeit 2019, 7). Als Gründe für die Diskriminierung werden häufig Minderleistung, Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung, wenig barrierefreie Arbeitsstätten sowie unpassende und zu wenig auf den Einzelfall zugeschnittene soziale Leistungen genannt. Daher hat sich in den meisten Ländern ein differenziertes Rechts- und Leistungssystem zur Unterstützung der Teilhabe von Menschen mit Behinderung entwickelt. Zur Förderung der Teilhabe an Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt es in Deutschland ein breites Instrumentarium. Zur Verhinderung von Diskriminierung sind die Vorschriften des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes relevant. Diskriminierungen sind generell nicht selten, bei Menschen mit Behinderungen aber häufiger. So berichten 26 % der Befragten mit einer Schwerbehinderung von Diskriminierungserfahrungen innerhalb der letzten 24 Monate gegenüber 16 % aller Befragten (Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2019). In Deutschland wird die Antidiskriminierung durch breitenwirksame Kampagnen des Bundesarbeitsministeriums unterstützt. Sozialpolitisch ist ein wichtiges Förderungsinstrument die Ausgleichsabgabe, deren Vorgabe von 5 % Beschäftigungsquote bei Unternehmen mit über 20 Mitarbeitenden mit 4,6 % (2017; Aktion Mensch 2019, 11) aber nicht erfüllt ist. Weitere sozialpolitische Maßnahmen sind die Unterstützung durch Inklusionsbetriebe und Integrationsfachdienste; Letztere sind zuständig für die Vermittlung von Menschen mit Behinderung in Arbeit und ihre Begleitung. Unterstützung kann z. B. in Form der Unterstützten Beschäftigung (supported employment) erfolgen, bei der über Erprobung, Einarbeitung, gegebenenfalls Qualifizierung am Arbeitsplatz bis hin zur dauerhaften Berufsbegleitung eine Unterstützung besteht. Bei einer Arbeitsassistenz er-

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I  Vorstellungen von ­Behinderung in Praxis und Theorie  –  B  Allgemeine soziale Praxis

folgt die Unterstützung am Arbeitsplatz z. B. durch Assistenz für körperlich beeinträchtigte Menschen oder Gebärdensprachdolmetscher. Eine weitere, neue Leistungsform ist das Budget für Arbeit, das durch einen Lohnkostenzuschuss und begleitende Leistungen eine Minderleistung ausgleichen soll. In den letzten Jahren wurde die Palette an Unterstützungsformen deutlich erweitert, wobei auch rehabilitationswissenschaftlichen Kenntnissen stärker Rechnung getragen wird, z. B. durch die Anwendung des Grundsatzes »Erst platzieren, dann trainieren.« Die Effektivität dieser Instrumente wird aber immer wieder kritisch hinterfragt. So wird von der Monitoring-Stelle gefordert, die Anreizund Regulierungsstrukturen weiterzuentwickeln und z. B. die Ausgleichsabgabe zu erhöhen (MonitoringStelle 2019, 44). Für den Personenkreis der Menschen mit schwerer Behinderung, die weniger als drei Stunden täglich arbeiten können und daher dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen, gibt es Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM). Vergleichbare Angebote gibt es in den allermeisten Ländern (sheltered employment). Seit der Gründung der ersten WfbM in Deutschland entwickeln sich diese weiter und bieten heute ein breites Spektrum von Tätigkeiten an, die von einfachen Industrie- und Montagearbeiten über naturnahe Arbeit bis hin zu Arbeit im Kulturbereich reichen. So hat sich z. B. aus WfbM eine eigene rege Theaterszene mit weitestgehender Beteiligung von Menschen mit Behinderungen an der gesamten Produktion entwickelt. Zur Einschätzung der Eignung und anschließend für die berufliche Bildung gibt es in den WfbM einen Eingangs- und Berufsbildungsbereich. Darauf erfolgt in der Regel ein Wechsel in den Arbeitsbereich. 2017 arbeiteten ca. 276.000 Menschen mit Behinderungen in Arbeitsbereichen von WfbM. Durch Arbeitsformen wie Außenarbeitsgruppen oder sozialraumorientierte Arbeitsplätze wird zunehmend versucht, die Teilhabe an der Gesellschaft zu stärken und die ›Sonderwelt‹ WfbM zu durchbrechen. Das rechtlich verankerte Ziel der Vermittlung von Beschäftigten auf den allgemeinen Arbeitsmarkt wird aber so gut wie nicht erreicht, auch aufgrund einer Systemlogik, die es für die WfbM nicht attraktiv macht, gerade die leistungsfähigsten Beschäftigten zu vermitteln. Sozial- und arbeitsrechtlich sind WfbM keine Erwerbsbetriebe, sondern dienen der Rehabilitation. Die Beschäftigten sind keine Arbeitnehmer*innen, sondern Rehabilitanden und als solche von Arbeitnehmerrechten ausgeschlossen. Sie werden z. B. nicht nach Mindestlohn bezahlt – das Durchschnittseinkommen

in den Arbeitsbereichen liegt unter 200 € – und haben kein Streikrecht. Damit erfüllt eine Beschäftigung in einer WfbM nicht die Voraussetzungen menschenwürdiger Beschäftigung. Auch unter den Aspekten von Würde, Autonomie, Partizipation, Nicht-Diskriminierung sowie Anerkennung von Differenz erfahren WfbM-Beschäftigte Benachteiligungen (Fiala 2018). Unter einer Menschenrechtsperspektive sind die WfbM in der jetzigen Form obsolet und sollten künftig »in einem inklusiven Arbeitsmarkt voll aufgehen können« (Monitoring-Stelle 2019, 43). Nicht nur vom Erwerbsleben, sondern auch von Arbeit weitestgehend ausgeschlossen sind diejenigen Menschen mit schwerer oder mehrfacher Behinderung, die nach Sozialgesetzbuch IX nicht in der Lage sind, »ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung« (Sozialgesetzbuch IX § 219, Abs. 2) zu erbringen und daher nicht in einer WfbM arbeiten können. Dieser Kreis – in Deutschland ca. 36.000 Personen – erhält in Tagesförderstätten oder Förder- und Betreuungsbereichen tagesstrukturierende Angebote. Das Ziel des Übergangs in eine WfbM wird aber nur in den seltensten Fällen erreicht. Dementsprechend werden verstärkt ›arbeitsweltorientierte Angebote‹ für diesen Personenkreis vorgeschlagen (Sansour 2018). Gelungene, aber sehr seltene Beispiele zeigen, dass die Rehabilitation in einer Tagesförderstätte aber auch mit positiven Aspekten von Arbeit verbunden sein kann. So werden in dem Kulturprojekt »barner 16« der Evangelischen Stiftung Alsterdorf Musikprojekte mit Musiker*innen und Künstler*innen aus dem Tagesförderbereich gemeinsam mit WfbM-Beschäftigten und den Betreuer*innen durchgeführt. Bei den öffentlichen Auftritten dieser Projekte werden zweifelsohne viele der oben angegebenen Aspekte von Arbeit für alle Mitwirkenden erfüllt. Teilhabe an Arbeit weist aber auch über Erwerbsarbeit hinaus. So kann ein Ehrenamt oder Bürgerschaftliches Engagement viele positive Funktionen von Arbeit erfüllen; hinzu kommt dabei der Aspekt der Tätigkeit als Bürger für das in der Regel lokale Gemeinwesen. Für diese Form der gesellschaftlichen Partizipation hauptsächlich durch Menschen mit geistiger Behinderung hat sich der Begriff ›Teilgabe‹ durchgesetzt. Die häufig damit verbundene Deutung, dass beeinträchtigte Menschen für Ihren Bezug von Sozialleistungen der Gesellschaft etwas zurückgeben wollen, ist unter einer menschen- und leistungsrechtlichen Perspektive nicht haltbar. Wie bei vielen Aspekten im Zusammenhang mit Behinderung muss auch bei Arbeit und Erwerbsleben

8 Arbeitswelt

die Intersektionalität mit anderen Merkmalen gesehen werden (s. Kap. 46). Für die Kategorie Geschlecht ist die doppelte Diskriminierung vielfach nachgewiesen, sie gilt auch für die Teilhabe an Arbeit und wird international bestätigt (UN 2019). Weitere Kategorien wie Alter oder Migrationserfahrungen, die schon für sich Einschränkungen der Teilhabe an der Arbeitswelt zur Folge haben, können in Verbindung mit Behinderung zu je eigenen Benachteiligungsmechanismen führen.

8.6 Behinderung und Arbeit in globaler Perspektive Einen Meilenstein für eine globale Perspektive auf Behinderung und Arbeit stellt der »World Report on Disability« der Weltgesundheitsorganisation und der Weltbank dar (World Health Organization 2011). Daraus wird deutlich, dass die Beschäftigungsquote von Menschen mit Behinderung im internationalen Vergleich sehr variiert und deutlich unter denen der Gesamtbevölkerung liegt. In den Extremfällen Südafrika und Polen beträgt sie nur ein Drittel der Beschäftigungsquote der Gesamtbevölkerung. Dabei ist die Ausgrenzung aus dem Erwerbsleben für Menschen mit psychischen und kognitiven sowie sehr schweren Beeinträchtigungen besonders groß (ebd., 237–238). Bei aller Verschiedenheit werden viele sozialpolitische Gemeinsamkeiten deutlich, wie z. B. die weite Verbreitung von Vorgaben an Betriebe von einem Mindestanteil von Menschen mit Behinderung an den Beschäftigten (UN 2019, 11), die aber kaum eingehalten werden. Die Differenz der Beschäftigungsquoten von Menschen mit und ohne Behinderung schwankt zwischen 18 und 39 Prozentpunkten (UN 2019, 152). Dabei werden zur Stärkung der Teilhabe an Arbeit lokale Aspekte immer wichtiger, ob im Globalen Süden als community based rehabilitation oder in Deutschland als sozialraumorientierte Angebote. Eine globale Perspektive muss auch die globalisierte internationale Arbeitsteilung berücksichtigen. Allein aufgrund der starken Bedeutung des primären Sektors in den Ländern des Globalen Südens ist dort das Risiko von Unfällen und als Folge davon von Behinderung größer als in den industrialisierten Ländern. Aber auch andere Aspekte der globalen Ökonomie wie Müllexporte oder die Produktion von Konsumgütern unter menschenunwürdigen Bedingungen und ohne zureichende Arbeitssicherheitsmaßnahmen für die Märkte der industrialisierten Länder werfen

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die Frage auf, ob durch die internationale Arbeitsteilung nicht auch Krankheits- und Behinderungsrisiken in arme Länder ›exportiert‹ werden (Meekosha 2011).

8.7 Fazit Insgesamt ist festzuhalten, dass sich mit der UN-BRK als wirkmächtiger Rechtsgrundlage zwar die Beteiligung an der Arbeitswelt für Menschen mit Behinderung verbessert hat, diese gleichwohl aber noch vielfach benachteiligt sind, sowohl auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt als auch in den ›Sonderwelten‹. Dabei wirken viele Leistungen im Sinne eines individuellen Modells von Behinderung (s. Kap. 4), wenn sie durch Förderung und Training eine bessere Anpassung der Menschen mit Behinderung an vorhandene Strukturen der Arbeit ermöglichen. Im Sinne eines sozialen Modells von Behinderung wäre hingegen zu fragen, wie sich die Arbeitswelt an die vielfältigen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen anpassen kann (vgl. Trenk-Hinterberger 2015, 113). Inwieweit dies in einem Wirtschaftssystem, das selber maßgeblich zur Herausbildung eines auf Ausgrenzung aus Arbeit fokussierenden Behinderungsverständnisses beitrug und das laufend weitere Exklusion produziert, gelingen kann, muss die Zukunft zeigen. Insofern könnte aber die Diskussion um die Inklusion von Menschen mit Behinderung in Arbeit geeignet sein, grundsätzliche Fragen nach der Bedeutung und Organisation von Arbeit und insbesondere Erwerbsarbeit in kapitalistischwettbewerbsorientierten Gesellschaften aufzuwerfen. Literatur

Aktion Mensch (Hg.): Inklusionsbarometer Arbeit. Ein Instrument zur Messung von Fortschritten bei der Inklusion von Menschen mit Behinderung auf dem deutschen Arbeitsmarkt. 7. Jahrgang (2019). Bonn 2019. Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hg.): Jahresbericht 2018. Berlin 2019. Becker, Ulrich/Wacker, Elisabeth/Banafsche, Minou (Hg.): Homo faber disabilis? Teilhabe am Erwerbsleben. BadenBaden 2015. Bundesagentur für Arbeit: Situation schwerbehinderter Menschen. Nürnberg 2019. Doose, Stefan: Arbeit. In: Ingeborg Hedderich/Gottfried Biewer/Judith Hollenweger/Reinhard Markowetz (Hg.): Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik. Bad Heilbrunn 2016, 448–453. Fiala, Elisa: A Brave New World of Work through the Lens of Disability. In: Societies 8/27 (2018), https://doi. org/10.3390/soc8020027 (16.01.2020). Fischer, Erhard/Heger, Manuela: Berufliche Teilhabe und Integration von Menschen mit geistiger Behinderung.

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I  Vorstellungen von ­Behinderung in Praxis und Theorie  –  B  Allgemeine soziale Praxis

Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung zum Projekt »Übergang Förderschule-Beruf«. Oberhausen 2011. Füllsack, Manfred: Arbeit. Wien 2009. Meekosha, Helen: Decolonising disability: thinking and acting globally. In: Disability & Society 26/6 (2011), 667– 682. Mikl-Horke, Gertraude: Arbeit. In: Hartmut Hirsch-Kreinsen/Heiner Minssen (Hg.): Lexikon der Arbeits- und Industriesoziologie. Baden-Baden 22017, 24–29. Misselhorn, Catrin/Behrendt, Hauke (Hg.): Arbeit, Gerechtigkeit und Inklusion. Wege zu gleichberechtigter gesellschaftlicher Teilhabe. Stuttgart 2017. Monitoring-Stelle/Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention: Wer Inklusion will, sucht Wege. Zehn Jahre UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland. Berlin 2019. Oliver, Michael/Barnes, Colin: The new politics of disablement. Houndmills UK 2012. Roulstone, Alan: Disabled People, Work and Employment: A Global Perspective. In: Nick Watson/Alan Roulstone/ Carol Thomas (Hg.): Routledge Handbook of Disability Studies. London 2012, 211–224. Sansour, Teresa: Zwischen Leistung und Sinnstiftung – arbeitsweltorientierte Angebote für Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung. In: Wolfgang Lamers (Hg.): Teilhabe von Menschen mit schwerer und mehr-

facher Behinderung an Alltag/Arbeit/Kultur. Oberhausen 2018, 83–94. Senghaas-Knobloch, Eva: Gerechte Teilhabe durch Arbeit? Die Decent Work Agenda für eine weltweit inklusive gesellschaftliche Entwicklung. In: Catrin Misselhorn/ Hauke Behrendt (Hg.): Arbeit, Gerechtigkeit und Inklusion. Stuttgart 2017, 211–228. Trenk-Hinterberger, Peter: Arbeit, Beschäftigung und Ausbildung. In: Theresia Degener/Elke Diehl (Hg.): Handbuch der Behindertenrechtskonvention. Teilhabe als Menschenrecht – Inklusion als gesellschaftliche Aufgabe. Bonn 2015, 105–117. UN/United Nations: Disability and Development Report. Realizing the Sustainable Development Goals by, for and with persons with disabilities. 2018. New York 2019. Voß, G. Günter: Was ist Arbeit? In: Fritz Böhle/Gerd Günter Voß/Günther Wachtler (Hg.): Handbuch Arbeitssoziologie. Wiesbaden 2018, 15–84. Wansing, Gudrun/Welti, Felix/Schäfers, Markus (Hg.): Das Recht auf Arbeit für Menschen mit Behinderungen. Internationale Perspektiven. Das Recht auf Arbeit für Menschen mit Behinderungen – Internationale Perspektiven. Baden-Baden 2018. World Health Organization (Hg.): World Report on Disability. Genf 2011.

Dieter Kulke

9  Familie und Partnerschaft

9 Familie und Partnerschaft In der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema Familie/Partnerschaft im Zusammenhang mit der Perspektive Behinderung steht man vor einem doppelten und vergleichbaren Begriffsproblem: In der genaueren Beschreibung, was unter Familie/ Partnerschaft einerseits und Behinderung andererseits zu verstehen ist, kann entweder auf ein vorwissenschaftliches, implizites Wissen zurückgegriffen werden oder die Begriffe werden erst seitens des Forschungszugangs im Sinne einer Normaldefinition hervorgebracht (vgl. Lenz 2013). Beide Themenfelder werden zudem von verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen bearbeitet, welche gemäß ihren jeweiligen Erkenntnisinteressen die Lebenssituationen von Familie/Partnerschaft und Behinderung unterschiedlich bestimmen. Dabei werden beide Begriffsfelder auch immer in einem gesellschaftlichen Spannungsfeld zwischen normativen Leitbildern und sozialpolitischer Bearbeitung ausgedeutet. Und möglicherweise steht die jeweilige Begriffsfassung dann nur in loser Verbindung zu sozialen Gebilden in der Gesellschaft, welche sich als Familie/Partnerschaft auffassen oder sich in Bezug auf Behinderung selbst kategorisieren. Letztendlich entsteht so ein Thematisierungsproblem in Bezug auf Familie/Partnerschaft und Behinderung mit den Fragen, welche Lebenssituationen welcher Gruppen von Menschen beforscht werden (oder aus dem Diskurs fallen) und unter welchem wissenschaftlichen Blickwinkel auf die jeweiligen Phänomene dies erfolgt. Die begriffliche Fassung von Familie und Partnerschaft kann von einer Minimalfassung als Eltern-Kind-­ Dyade bis hin zu einer weiten Definition, welche den Familienbegriff in einem Verstehen persönlicher Beziehungen auflöst, erfolgen. Zudem unterliegt der Familienbegriff gesellschaftlicher Veränderung, was sich seit einiger Zeit in der Abkehr von der bürgerlichen Kernfamilie niederschlägt, wenn auf bisherige Grundelemente der wissenschaftlichen Definition wie die Rechtsform Ehe, die Anwesenheit zweier Eltern oder eines heterosexuellen Elternpaares verzichtet wird (Burkart 2014). Damit wird neben biologischen Zusammenhängen auch eine soziale Verwandtschaft im Familienbegriff thematisiert. Ebenso wird die bislang vorgenommene Haushaltsfixierung kritisiert und nicht länger als selbstverständlich angenommen, dass ein Haushalt als sozioökonomische Wohn- und Wirtschaftseinheit mit dem Familiensystem identisch sei. Zusammengenommen existieren damit eine Varianz

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an Familienformen, Familiensystemen und -typen und verschiedene Konstruktionen von familiärer Mitgliedschaft. Ähnliches kann über den Begriff der Partnerschaft gesagt werden, welcher ähnlichen Enttraditionalisierungstendenzen unterliegt und zur Begrifflichkeit ›Zweierbeziehung‹ führt. Damit wird eine dyadische Beziehung beschrieben, welche sich durch einen hohen Grad an Verbindlichkeit und Zuwendung auszeichnet und die Praxis sexueller Interaktion einschließen kann (Lenz 2006, 41). Familie und Zweierbeziehung als Grundelemente sozialer Beziehungen lassen sich durch ihre wissenschaftliche Befragung aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen heraus multifunktional beschreiben. Beide können soziologisch als soziale Institution gefasst werden, welche bestimmte Leistungen für die Gesamtgesellschaft erbringt, wohingegen die Psychologie auf die psychosoziale Einbindung von Nähe, Beziehung und Wohlbefinden fokussiert. In der spezifischen Binnenstruktur von Familie und Partnerschaft geraten vorrangig die Kooperations- und Solidaritätsprinzipien in den Blick. Die wissenschaftliche Betrachtung unterliegt dabei mehrheitlich einem methodologischen Individualismus, d. h. Paare und Familien werden häufig als Kooperationseinheiten von mehr oder weniger rationalen Individuen, die ihre Interessen individuell verfolgen, und weniger als Einheit der Vergemeinschaftung angesehen (Burkart 2014, 87). Familie/Zweierbeziehung stärker in ihrer Relationalität von Individuen in Beziehungen und deren wechselseitige Verflechtung zu fassen, ermöglicht der noch jüngere Ansatz des practical turn als ›doing family‹. Familie wird hierbei als Herstellungsleistung analysiert und nimmt stärker die Vielfalt der Akteure im Prozess der (durchaus auch konflikthaften) Gemeinschaftskonstruktion in den Blick (Jurczyk 2014). Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bestimmt mit der »Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF)« Behinderung seit 2001 als komplexes Wechselgeschehen von Gesundheitsstörung, Aktivitäten/Partizipation und Kontextfaktoren (s. Kap. 16). Die gesellschaftlich vorwiegend negative Bewertung von Behinderung kann als »geradezu zwangsläufige Konsequenz der ausschließlichen Orientierung unserer Gesellschaft am Gesunden und Vollhandlungsfähigen« (Cloerkes 2007, 103) angesehen werden. Behinderung als relationales Geschehen ist über die Bedeutungsproduktion von (Körper-)Normalität mit verschiedenen weitergehenden Kategorisierungen von Abhängigkeit/Unabhängigkeit, Vollkommenheit/Un-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_9

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I  Vorstellungen von ­Behinderung in Praxis und Theorie  –  B  Allgemeine soziale Praxis

vollkommenheit, Gleichheit/Ungleichheit und Ästhetik verbunden (Tervooren 2003). Die wissenschaftliche Besprechung der Lebenssituation behinderter Menschen in familialen Zusammenhängen wird bislang kaum als Thema der Familienforschung angesehen oder für die Theoriebildung herangezogen. Allerdings wird die Bearbeitung der Schnittstelle Natur/Kultur im Austausch zwischen Soziologie/Kulturwissenschaft und Biologie/Lebenswissenschaft, zu welchem auch die Themen von Gesundheit, Krankheit und Behinderung gehören, als Zukunftsaufgabe angesehen (Burkart 2010). Bislang jedoch liegt die Definitions- und Deutungsmacht der Begrifflichkeit ›Behinderung‹ stark im Bereich von Medizin, Recht und Sozialpolitik, womit auch Familien- und Partnerschaftsthemen vorrangig aus dieser Perspektive besprochen werden. Jedoch greifen nicht alle wissenschaftlichen Disziplinen, welche sich im engeren oder weiteren Sinne mit der Lebenssituation behinderter Menschen in familiären Zusammenhängen beschäftigen, auf den Begriff von Behinderung zurück und thematisieren auch nicht alle Lebens- und Familienphasen gleichermaßen. Der Behinderungsbegriff in Heil-/Sonderpädagogik und Erziehungswissenschaft fokussiert überwiegend auf die Lebenssituation von Familien mit behinderten Kindern und Jugendlichen. Wenige Arbeiten liegen hingegen zu weiteren Familienkonstellationen wie zur Situation von Geschwistern behinderter Kinder, von Kindern behinderter Eltern oder von Eltern mit Behinderung vor. Die Rehabilitationswissenschaften orientieren sich am Behinderungsmodell der ICF, allerdings verläuft die Besprechung wie in Psychologie, Medizin, Therapie und Gesundheitswissenschaften entlang der je spezifischen Symptomatik von chronischer Erkrankung oder physischer/physiologischer Schädigung. Hierbei wird vorrangig die Lebenssituation im Zusammenhang mit im Lebenslauf erworbener Behinderung thematisiert. Die Pflegewissenschaft wendet sich mit Konzepten der Pflegebedürftigkeit speziell der Phase des Alters zu und rahmt das Thema Behinderung als alterstypischen fortschreitenden Funktionsverlust. Bevor verschiedene wissenschaftliche Zugänge zu Lebenssituationen von Familie/Partnerschaft im Zusammenhang mit Behinderung vorgestellt werden, ist es unabdingbar, darauf aufmerksam zu machen, dass die Kategorie Behinderung und die gesellschaftliche Umgangsweise mit Behinderung dazu führt, Leben in der Familie oder als Familie zu erschweren. Dies betrifft zum einen die »vergessene Minderheit« (Thimm/

Wachtel 2002) von Kindern und Jugendlichen mit schwerer Behinderung und hohem Unterstützungsbedarf, welche in Einrichtungen ohne ihre Eltern und ggf. auch ohne Geschwister aufwachsen. Zum anderen sehen sich behinderte Erwachsene unter Umständen aufgrund ihrer Beeinträchtigung Problemen bezüglich Partnerwahl und Familiengründung gegenüber. Generell erleben behinderte Menschen, besonders Frauen, auch heutzutage, dass ihr Wunsch nach einer eigenen Familie und nach Kindern oder dann die gelebte Elternschaft von ihrer Umwelt aufgrund zugeschriebener Kompetenzdefizite weniger respektiert wird als dies bei nichtbehinderten Menschen der Fall ist (vgl. Hermes 2004). In besonderem Maße sind Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung betroffen. Diese wohnen oft im stationären Setting, in welchem den Themen Sexualität, Partnerschaft und eigene Familie wenig Raum gegeben wird oder diese ganz unterbunden werden. Aufgrund dieser Befundlage benennt die UN-Behindertenrechtskonvention in Artikel 23 explizit die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Fragen der Ehe, Familie, Elternschaft und Partnerschaft. Die wissenschaftliche Betrachtung über verschiedene Disziplinen hinweg legt ihren Schwerpunkt auf die Rahmung von Behinderung als kritisches, außergewöhnlich belastendes Lebensereignis jenseits des Normalgeschehens. Familie und Partnerschaft werden damit oftmals defizitorientiert als ›gefährdet‹, ›überfordert‹ und ›besonders‹ charakterisiert, obwohl die Frage nach den zur Verfügung stehenden Ressourcen wesentlich ergiebiger wäre (Engelbert 2012). Ausgelöst durch die Verschiebung des Behinderungsbegriffs von der Perspektive einer individuellen Problemlage hin zur Inblicknahme behindernder gesellschaftlicher und sozialer Umstände (s. Kap. 4), verändern sich auch die analytischen Konzepte hin zu gesellschaftlicher Teilhabe und Partizipation. Inwieweit sich dies methodologisch in der (empirischen) Besprechung zu Familie/Partnerschaft und Behinderung auswirkt, ist eine noch offene Frage. Der Forschungsstand fokussiert überwiegend auf Konzepte von Stress, Coping und Bewältigung. Grundlage bilden Familien-Stresstheorien wie das ABCXFamilienkrisen-Modell nach Hill von 1949 oder das Familienanpassungsmodell nach Patterson von 1988 (vgl. Retzlaff 2010). Der Blick richtet sich dabei auf Risikofaktoren und Belastungen, mit welchen das Familiensystem auf Stressereignisse reagiert, und wie mittels mobilisierter Ressourcen verschiedener Art und Copingstrategien wieder ein Zustand von Balance er-

9  Familie und Partnerschaft

reicht werden kann. Diese Perspektive wird dahingehend kritisiert, »besonders auf die schwierigen und nicht gelingenden Bewältigungsprozesse zu fokussieren und Unterstützungsbedarfe zu konstruieren, wo keine sind bzw. vorhandene Problemsituationen der Familie zu überschätzen« (Heckmann 2004, 44). Das weniger verbreitete Konzept der Familien-Resilienz hingegen fasst die Situation unter Behinderung weniger als kritische Ausnahme denn als Widrigkeit, welche zum Leben dazu gehört. Damit verschiebt sich der Fokus auf familiale Prozesse des organisatorischen und kommunikativen Umgangs sowie geteilter Überzeugungen im Umgang mit belastenden Situationen (vgl. Retzlaff 2010). Während in diesen Konzeptionen Familien als eigene Systeme relativ frei von sozialen Kontexten gefasst werden, bringt die soziologische Betrachtung die Rolle sozialer Unterstützung und sozialpolitischer Leistungen ins Spiel und fokussiert auf die Merkmale familialer sozialer Netzwerke und die Bedeutung staatlicher Unterstützungsleistungen und -angebote für den Prozess von Bewältigung und Bearbeitung (z. B. Heckmann 2004). Damit geraten »›Co-Produktionsverhältnisse‹ zwischen dem informellen Hilfesystem Familie und dem formellen Hilfesystem Sozialpolitik« (Engelbert 1999, 273) und das Problem unzureichender gesellschaftlicher Unterstützung in den Blick. Nicht zuletzt differenziert sich die Lebenssituation von Familien untereinander auch über eine Schicht- und Bildungsabhängigkeit (ebd.) sowie durch strukturelle migrationsspezifische Barrieren und rassistische Diskriminierungen (Amirpur 2016) in der Nutzung sozialpolitischer Leistungen (s. Kap. 50). In Ansätzen, welche auf biographische Narrationen fokussieren, schlägt Hildenbrand (2009) vor, Situationen von Beeinträchtigung weniger unter der Perspektive von Bewältigung, sondern als Neuordnung und als Transformation biographischer Familienentscheidungen und daraus resultierender Handlungskonsequenzen aufzufassen. Dieser Ansatz geht auf Studien von Corbin und Strauss (2004) zurück, in denen Bewältigung als aktive Arbeitsleistung und Umsetzung individueller und partnerschaftlicher Handlungspläne im Rahmen biographischer, sozialer und verlaufskurvenförmiger Prozesse der Beeinträchtigung sowie unter Berücksichtigung von Ressourcen verstanden wird. Über die verschiedenen Disziplinen hinweg ist der wissenschaftliche Erkenntnisstand zum Themenfeld Familie/Partnerschaft und Behinderung recht überschaubar. Dabei produziert die Familien- und Behin-

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derungsforschung jeweils gegenseitig blinde Flecken, wenn verschiedene Familienkonstellationen oder die Situation bestimmter Familienmitglieder im Zusammenhang mit Behinderung überhaupt nicht oder kaum thematisiert werden oder Behinderung nicht als Lebensnormalität von Familien und Partnerschaften in den Blick gerät. Problematisch ist der bereits in der Familienforschung kritisierte methodologische Individualismus, der vielen Studien zugrunde liegt und durch den Familien/Paare entweder als Kooperationseinheiten mit gemeinschaftlicher Bewältigungsgeschichte dargestellt werden oder Studien das Thema allein aus einer individuellen Perspektive beleuchten. Mehrheitlich meint dies die Darstellung aus der Sicht der sogenannten Angehörigen wie Eltern behinderter Kinder, Partner*innen oder Kinder behinderter Menschen, die in ihren Belastungen und gleichzeitig als Ressource zur Bearbeitung der familialen/partnerschaftlichen Lage im Zusammenhang mit Behinderung adressiert werden. Wichtig wäre zukünftig eine größere Breite und Tiefe an zu bearbeitenden Themen, damit weniger singuläre Besprechungen erfolgen und eher ein methodisch abgesicherter Erkenntnisstand erarbeitet wird, was verstärkt für Geschwister behinderter Kinder, behinderte Eltern oder auch Pflegefamilien gilt. Dabei erscheinen methodologische Ansätze vielversprechend, welche den relationalen Charakter sowohl der Familien-/Partnerschafts- als auch der Behinderungskonzeption ernst nehmen und den Prozess der Herstellung von (auch konflikthafter) Gemeinsamkeit thematisieren. Bislang sind Studien dieser Art selten. Zu nennen sind hier eine Arbeit zu biographischen (stellvertretenden) Entscheidungsprozessen in Familien von Eltern mit ihren als geistig behindert bezeichneten erwachsenen Kindern (Mangione 2018) sowie eine Studie, welche den Eintritt einer Beeinträchtigung in einer Paarbeziehung als gemeinsame und individuelle Interpretationsarbeit des Paares über die Selbsttätigkeit des Partners/der Partnerin mit Beeinträchtigung bzw. der Verfügbarkeit des anderen Partners konstruiert (Behrisch 2014). Weiterhin wäre es wichtig, Familien/Partnerschaften aus der singulären Inblicknahme auf Behinderung herauszuholen und Gemeinsamkeiten zwischen Familien in verschiedenen herausfordernden Lebenssituationen zu analysieren, wie z. B. die Studien von Karrer (2015), in denen Generationenbeziehungen erwerbsloser Kinder, die bei ihren Eltern leben, mit denen erwerbsloser Kinder, die sich um alte und kranke Eltern kümmern, verglichen werden. Mit derartigen Herangehensweisen gelingt es zu-

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I  Vorstellungen von ­Behinderung in Praxis und Theorie  –  B  Allgemeine soziale Praxis

dem, empirische Arbeiten stärker für die Theoriebildung zu den Phänomenen Familie/Partnerschaft und/ oder Behinderung heranzuziehen und damit genauere Aussagen zum eingangs beschriebenen doppelten und vergleichbaren Begriffsproblem zu generieren. Literatur

Amirpur, Donja: Migrationsbedingt behindert? Familien im Hilfesystem: eine intersektionale Perspektive. Bielefeld 2016. Behrisch, Birgit: »Ein Stück normale Beziehung«. Zum Alltag mit Körperbehinderung in Paarbeziehungen. Bielefeld 2014. Burkart, Günther: Familiensoziologie. In: Georg Kneer/ Markus Schroer (Hg.): Handbuch spezielle Soziologien. Wiesbaden 2010, 123–144. Burkart, Günther: Herausforderungen für die Theoriebildung in der Familiensoziologie. In: Marina Rupp/Olaf Kapella/Norbert F. Schneider (Hg.): Die Zukunft der Familie. Opladen/Berlin/Toronto 2014. Cloerkes, Günther: Soziologie der Behinderten. Heidelberg 32007. Corbin, Juliet M./Strauss, Anselm L.: Weiterleben lernen. Verlauf und Bewältigung chronischer Krankheit. Bern/ Göttingen/Toronto/Seattle 2004. Engelbert, Angelika: Familien im Hilfenetz. Weinheim/ München 1999. Engelbert, Angelika: Familie. In: Iris Beck/Heinrich Greving (Hg.): Lebenslage und Lebensbewältigung. Stuttgart 2012, 96–104. Heckmann, Christoph: Die Belastungssituation von Familien mit behinderten Kindern. Soziales Netzwerk und professionelle Dienste als Bedingungen für die Bewältigung. Heidelberg 2004.

Hermes, Gisela: Behinderung und Elternschaft leben – Kein Widerspruch. Eine Studie zum Unterstützungsbedarf körper- und sinnesbehinderter Eltern in Deutschland. Neu Ulm 2004. Hildenbrand, Bruno: Die ›Bewältigung‹ chronischer Krankheit in der Familie – Resilienz und professionelles Handeln. In: Doris Schaeffer (Hg.): Bewältigung chronischer Krankheit im Lebenslauf. Bern 2009, 133–155. Jurczyk, Karin: Doing Familiy – der Practical Turn der Familienwissenschaft. In: Anja Steinbach/Marina Henning/Oliver Arránz Becker (Hg.): Familie im Fokus der Wissenschaft. Wiesbaden 2014, 117–138. Karrer, Dieter: Familie und belastende Generationsbeziehungen. Wiesbaden 2015. Lenz, Karl: Soziologie der Zweierbeziehung. Wiesbaden 32006. Lenz, Karl: Was ist eine Familie? Konturen eines universalen Familienbegriffs. In: Dorothea Christa Krüger/Holger Herma/Anja Schierbaum (Hg.): Familie(n) heute. Weinheim/Basel 2013, 104–125. Mangione, Cosimo: Familien mit ›geistig behinderten‹ Angehörigen. Stellvertretende biographische Arbeit, Handlungsparadoxien und -dilemmata. Opladen/Berlin/ Toronto 2018. Retzlaff, Rüdiger: Familien-Stärken. Behinderung, Resilienz und systemische Therapie. Stuttgart 2010. Tervooren, Anja: Der verletzliche Körper. In: Anne Waldschmidt (Hg.): Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies. Kassel 2003, 37–48. Thimm, Walter/Wachtel, Grit: Familien mit behinderten Kindern. Weinheim/München 2002.

Birgit Behrisch

10 Lebenswelt

10 Lebenswelt 10.1 Lebenswelt als methodologische Grundkategorie Der Begriff der Lebenswelt nimmt eine konstitutive Funktion für ein Wissenschaftsverständnis ein, im dem die Welt als eine immer schon sozial und kulturell geformte und interpretierte den Ausgangspunkt des Erkenntnisprozesses bildet. Erkenntnis kann, so betrachtet, nie objektiv und unmittelbar, sondern immer nur vermittelt durch und gebunden an Sprache und Handlung, also innerhalb der Lebens- im Gegensatz zur natürlichen Welt, stattfinden. Naturwissenschaftliche Methoden – die im Übrigen auch nicht frei von Vorannahmen sind – lassen sich demnach nicht nahtlos auf sozial-, kultur- und geisteswissenschaftliche Probleme übertragen. Vielmehr stellt das Verstehen den genuinen Zugang zum Gegenstand in den Geisteswissenschaften dar. Der Gefahr einer »Verselbstständigung des wissenschaftlichen Diskurses« und dem »Ignorieren der kommunikativen Grundstruktur wissenschaftlichen Wissens« wird nach Knoblauch (1996, 101) durch die lebensweltliche Perspektive begegnet, indem sie »1. von den vorwissenschaftlichen Erfahrungs- und Handlungsstrukturen ihren Ausgang nimmt; 2. von dort aus methodisch beobachtet und erklärende Modelle konstruiert, die 3. unter Berücksichtigung des Beobachterproblems 4. auf lebensweltliche Evidenzen zurückbezogen werden sollen. Dabei sollte 5. methodologisch dem Umstand besonders Rechnung getragen werden, dass wissenschaftliche Erkenntnis ein Ergebnis kommunikativer Prozeduren ist.« (Knoblauch 1996, 101)

Der Blick nimmt von der Lebensführung als Ganzes seinen Ausgang und richtet sich auch immer auf strukturelle Bedingungen. So wird der »Zweiteilung der gesellschaftlichen Wirklichkeit in ›Mikro- und ›Makrostrukturen‹« (Knoblauch 1996, 94) entgegengewirkt. Den Gegenstand lebensweltlicher Forschung bildet entsprechend die konkrete, sich historisch-kulturell wandelnde Alltagswelt, in der auf bestehende Bedeutungen und auf Strukturen zurückgegriffen wird und wo sich der soziale Sinn mit dem subjektiven Sinn vermittelt. Denk- und Handlungsweisen, Normen, Werte und Einstellungen werden dabei nicht als wesen- oder naturhaft gegeben vorausgesetzt. Ihre Interpretation

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deckt vielmehr ihre Bedeutung für das aktuelle Handeln und ihre soziale und historische Genese auf. Lebensweltliche Theorie- und Forschungsansätze entwickelten sich wesentlich aus den Ansätzen der Phänomenologie nach Edmund Husserl und Alfred Schütz sowie aus dem Symbolischen Interaktionismus (George Herbert Mead und Herbert Blumer; vgl. Beck/Greving 2012 zur Begriffsgeschichte und als Basis zentraler hier skizzierter Gedanken). Es sind, kurz gefasst, drei Kategorien, auf denen lebensweltliche Ansätze aufruhen und die das ›interpretative Paradigma‹ als eigenes methodologisches Programm kennzeichnen: • Interpretation (als wissenschaftliche Methode) • Interaktion (als Basis des Aufbaus der sozialen und kulturellen Welt) • Intersubjektivität (als Prämisse der Erkenntnis, die nie vollkommen objektiv geschieht). Im normativen oder ätiologischen Paradigma, zu dessen Vertretern man u. a. Talcott Parsons rechnen kann, werden die Handelnden als in ein System gemeinsamer Erwartungen eingebunden gesehen, die Abweichungen des tatsächlichen Handelns von den Erwartungen klar angeben: die Verfehlung gesellschaftlicher oder institutioneller Ziele, der Rollenübernahme und von Normen. Das interpretative Paradigma hingegen hinterfragt die ›Natürlichkeit‹ und Zwangsläufigkeit der sozialen Rollenübernahme und die Erklärung abweichenden Verhaltens mit individuellen Wesenseigenschaften. Ihm geht es eher darum, die symbolische Vermittlung, Relativität, Dynamik und historisch-kulturelle Gebundenheit dieser Prozesse aufzudecken und die aktive Rolle des Subjekts zu betonen. Von ähnlichen Strömungen geprägte wissenschaftliche Auseinandersetzungen lassen sich für den Kulturbegriff in der Entwicklung von einem (frühen) normativen hin zu einem wissens- und bedeutungsorientierten Verständnis feststellen (Plikat 2017, 45–61 unter Bezug auf und in Kritik an den Kategorien des Kulturverständnisses von Reckwitz 2004). Die Ablösung des normativen durch das interpretative Paradigma in den Sozial- und Geisteswissenschaften mit den zentralen Fragen nach dem Umgang mit und den Vorstellungen von Norm und Abweichung sowie nach Normalitätskonstruktionen und Institutionalisierungsprozessen hat nicht nur die wissenschaftlichen Betrachtungs- und Vorgehensweisen verändert. Da die genannten Fragen unmittelbar die Lebenschancen von Menschen betreffen, wird der Lebensweltbegriff weit über den engen Forschungskontext der Pädagogik hinaus auch in anderen theoreti-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_10

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I  Vorstellungen von ­Behinderung in Praxis und Theorie  –  B  Allgemeine soziale Praxis

schen und praktischen Kontexten rezipiert. So fungiert der Begriff u. a. in Feldern der Bildung und Erziehung und der Sozialen Arbeit als zentrale Leitperspektive, als Grundlage für die Entwicklung von Handlungsansätzen und findet sich zudem als übergreifendes Leitziel in der bildungs- und sozialpolitischen Programmatik. Die Bedeutung des Lebensweltbegriffes für Denk- und Handlungsweisen angesichts von Behinderung lässt sich exemplarisch an den Arbeiten von Alfred Schütz (1932), Erving Goffman (1961 und 1963), Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1980/1966) sowie von Jürgen Habermas (1981) verdeutlichen.

10.2 Lebenswelt als Grundkategorie der Lebensführung und Lebensbewältigung Nach Schütz stellt Lebenswelt als empirische Alltagswelt den Gesamtinbegriff der für Menschen subjektiv erfahrbaren, interpretierten und erfahrenen Wirklichkeit dar. Alltag ist das vertraute und gewohnte, und hierin liegt die Handlungssicherheit; das Unvertraute ist das Andere, Fremde, das die gewohnten Erwartungen in Frage stellt. Alltägliche Lebensführung zu verstehen, heißt aber, ihren Sinn gerade nicht vorauszusetzen, sondern zu entschlüsseln, das Gewohnte als etwas Fremdes zu betrachten. Wie Unvertrautes wahrgenommen wird, dafür sind wiederum Einstellungen wesentlich, deren Funktionen die Reduktion von Unsicherheit und die Stabilisierung der Identität sind. Die Basis der Entwicklung von Einstellungen zu zentralen Konzepten der Lebensführung wie Normalität und Abweichung, Gesundheit und Krankheit, Neuem oder Fremdem wird in der Kindheit gelegt. Insbesondere die engen, vertrauten Bindungen, die frühen Erfahrungen kultureller Praktiken und die Erziehungsstile sind dafür von großer Bedeutung. Die Biographie stellt sich so als eine Geschichte von subjektiv Erlebtem dar, von Wissen und Erfahrungen, die mit Bedeutung versehen oder verworfen werden, und die gleichzeitig geprägt ist von den Strukturen, in denen sich der Lebenslauf vollzieht. Die wissenssoziologische Perspektive von Berger/ Luckmann (1980; erstmals 1966) rückt dann das Verhältnis zwischen Bewusstseins- und institutionellen Strukturen in den Blick, das Aufschluss gibt, warum ein bestimmtes Wissen zur gesellschaftlich etablierten Wirklichkeit wird und warum es so schwer ist, Institutionen zu verändern. Von besonderer Bedeutung ist

dabei das Phänomen der Ontologisierung: Gesellschaft, Institutionen, Organisationen, soziale Rollen erscheinen dem Einzelnen oft wie äußere Zwänge, denen man sich gegenübersieht. Dabei kommt Institutionen als Regelwerken für zentrale Fragen des Zusammenlebens eine entscheidende Rolle zu (Berger/ Luckmann 1980/1966, 57). Ontologisierung ist der Prozess, der die soziale Konstruktion von Institutionen verschleiert und den Lauf der Dinge als wesenhaft erscheinen lässt. Ordnungen werden aber nur dann kritisier- und veränderbar, wenn sie reflexiv, also nicht als naturhaft gegeben begriffen werden. Auch Goffmans ›Leitmotiv‹ war die Interaktionsordnung, das Regelwerk des Alltagshandelns in sozialen Situationen. Mit dem Bild von der ›Vorder‹- und der ›Hinterbühne‹ hat er den Charakter der Interaktion als Inszenierung beschrieben und die Komplexität von Rollenstrukturen und deren individueller Interpretation verdeutlicht. Es waren aber vor allem seine Analysen der Repressivität sozialer Phänomene wie der ›totalen Institution‹ (Goffman 1961) und von Stigmatisierungsprozessen (Goffman 1963), die international eine enorme Wirkung in Theorie und Praxis für das Aufbrechen verdinglichender, dehumanisierender sozialer Praktiken und Zwänge entfalteten. Mit Habermas’ Fassung von Gesellschaft als ›System‹ und ›Lebenswelt‹ (1981) schließlich wird Lebenswelt als Hintergrund von Wissen und Erfahrung zum Ort des kommunikativen, verständigungsorientierten Handelns. Die den anderen Ansätzen unterliegende Fassung von Lebenswelt als einem Ort, der auch Belastung, Enge und Zwang bedeuten kann, tritt zurück gegenüber den Hauptfunktionen, die Habermas dem verständigungsorientierten Handeln und damit der Lebenswelt zuweist: kulturelle Reproduktion, soziale Integration, Sozialisation und Persönlichkeitsentwicklung mit der Produktion von Sinn, Solidarität und Handlungsfähigkeit als Ergebnis. Zweckrationales Handeln hingegen ist typisch für gesellschaftliche Teilsysteme wie Wirtschaft, Politik, Recht, seine Steuerungsmedien zur Handlungskoordinierung sind Geld und Recht. System und Lebenswelt können sich ergänzen, das zweckrationale Handeln sogar das lebensweltliche entlasten. Aber wenn Systeme auf Lebenswelt so zugreifen, dass deren Reproduktionsfunktionen gestört oder untergeordnet werden, z. B. durch die Verrechtlichung oder Monetarisierung von Sozialbeziehungen, kann dies gravierende Folgen für die lebensweltlichen Funktionen haben. Die These von der ›Kolonialisierung‹ der Lebenswelt ist wegen ihrer Implikationen für die gesellschaftliche Praxis zu

10 Lebenswelt

einem zentralen Bezugspunkt der Rezeption des Habermasschen Lebensweltbegriffes geworden: Verständigungsorientiertes Handeln basiert auf Partizipation und demokratischen Diskursen, und die Funktionen der Lebenswelt rücken die Lebenslagen der Subjekte, ihre Bedürfnisse in den Blick. Es gilt, Lebenswelt gegen Systemübergriffe zu schützen; dabei stellt die Analyse »Kriterien zur Kritik an Institutionen und Strukturen« (Grunwald/Thiersch 2006, 144) bereit.

10.3 Lebenswelt und Behinderung Soziale Distanz gegenüber Behinderung und deren Stigmatisierung können sich auf die soziale Integration, die Identität sowie auf die Lebensführung als Ganzes von Menschen mit Beeinträchtigungen auswirken. Ein Stigma (s. Kap. 51), so Goffman, liegt im Auge des Betrachters, es ist eine Perspektive, die von außen angelegt wird und die Identität des Anderen schädigt. Dass Menschen produktiv diese Angriffe zu bewältigen suchen und eine Behinderung gerade nicht bedeutet, zwangsläufig selbst eine Identitätsschädigung zu ›haben‹, dieses Denken brach sich trotz der relativ frühen Rezeption der ›Stigma-Identitätsthese‹ in der Soziologie (u. a. Thimm 1972; 1975) nur langsam Bahn. In ähnlicher Weise bedeutet ›The making of blind man‹ (Scott 1969) die soziale Konstruktion des ›Blinden‹ über Stereotype, anhand derer sein ganzes Verhalten gedeutet und ihm keine andere Rolle zugestanden wird. Ontologisierung im Sinne von Berger/Luckmann reduziert Behinderung auf ›Schicksal-‹ oder ›Naturhaftigkeit‹; dem entsprechen Institutionalisierungsprozesse, die sich historisch unterschiedlichen Denkund Handlungsmodellen zuordnen lassen wie dem der Absonderung, der Verwahrung, der Rehabilitation oder der Fürsorge (exemplarisch: Wolfensberger 1969). Mit Goffmans Begriff der ›totalen Institution‹ verbindet sich in diesem Zusammenhang der Verlust einer eigenständigen Lebensführung bis hin zur Verwehrung auch elementarer Bedürfnisse. Das interpretative Paradigma macht klar, dass Behinderungen nicht kausal aus einer Schädigung hervorgehen, sondern relational, situativ, multifaktoriell verursacht und mehrdimensional zu verstehen sind. Sie entstehen durch negative Wechselwirkungen zwischen Menschen mit funktionalen Beeinträchtigungen und ihrem Umfeld. Eines der international wichtigsten Leitprinzipien für Reformprozesse, das Ende der 1950er Jahre in Skandinavien als Antwort auf un-

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würdige, ausgrenzende Lebensbedingungen entstandene Normalisierungsprinzip, wurde in seinen konzeptionellen Begründungen maßgeblich durch Analysen von Goffman beeinflusst (Beck 1996). Die wichtigsten Forderungen sind kurz gefasst die nach einer alltäglichen individuellen Lebensführung im Gemeinwesen, nach gleichberechtigten Kommunikationsstrukturen, nach Respektierung der individuellen Würde und nach systematischer Partizipation. Zentrale Vertreter des Prinzips hoben dabei immer wieder heraus, dass ›ein Leben so normal wie möglich‹ gerade keine Anpassung an, sondern eine kritische Hinterfragung von Lebensverhältnissen auf ihre Entwicklungsförderlichkeit bedeutet. Lebensweltlich basiert im Sinne der verstehenden Methodologie sind mittlerweile zahlreiche Studien; nachfolgend werden deshalb nur exemplarische Hinweise auf im engeren Sinn den hier skizzierten Theorielinien folgende Forschungsstränge gegeben. Neben Studien zur sozialen Reaktion und zu Identität (Cloerkes 2007) lassen sich exemplarisch die ab den 1970er Jahren durchgeführten Untersuchungen zur De-Institutionalisierung nennen (zur deutschen Entwicklung vgl. Franz 2014). Es handelt sich dabei um einen Prozess der Veränderung professioneller Unterstützungsstrukturen in Richtung auf eine Anpassung an individuelle Lebensvollzüge anstelle von entmündigenden, lebensfernen, absondernden, auch gewaltförmigen Strukturen. Die soziale Netzwerkforschung fand seit den 1980er Jahren zunehmend Anwendung mit Blick auf die sozialen Beziehungen behinderter Menschen (z. B. Schiller 1987); Studien zur Bewältigung alltäglicher Belastungen oder von kritischen Lebensereignissen im Zusammenhang mit Behinderung finden sich nicht nur, aber breiter am Beispiel von Familien mit behinderten Kindern (u. a. Heckmann 2012); zur Lebenssituation, u. a. Gewalterfahrungen, von Frauen mit Beeinträchtigungen, auch von in Heimen lebenden Frauen, liegen Studien vor von Schröttle und Hornberg (2013; 2014). Zunehmend wird der soziale Raum als Ort der subjektiven Aneignung und Lebensführung, aber auch als Ort der Situierung im Gefüge von Machtpositionen und als Ort von Exklusionserfahrungen thematisiert (z. B. Wansing 2016). Zur Frage, wie sich das Alltagsleben oder auch das Leben in Institutionen im Gefüge externer und interner Bedingungen vollzieht und wie es bewältigt wird, ist der Forschungsstand aber insgesamt äußerst defizitär. Es fehlen insbesondere qualitative, vor allem narrativbiographische Studien zu individuellen Lebensverläufen, zu Bruch- und Schnittstellen an den Übergängen

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I  Vorstellungen von ­Behinderung in Praxis und Theorie  –  B  Allgemeine soziale Praxis

im Lebenslauf sowie zu spezifischen Gruppen mit besonders hohen oder miteinander verschränkten Exklusionsrisiken oder Belastungen. Literatur

Beck, Iris: Norm, Identität, Interaktion: zur theoretischen Rekonstruktion und Begründung eines pädagogischen und sozialen Reformprozesses. In: Iris Beck/Willi Düe/ Heinz Wieland (Hg.): Normalisierung: Behindertenpädagogische und sozialpolitische Perspektiven eines Reformkonzeptes. Heidelberg 1996, 19–43. Beck, Iris/Greving, Heinrich: Lebenswelt, Lebenslage. In: Iris Beck/Heinrich Greving: Lebenslage, Lebensbewältigung. Stuttgart 2012, 15–59. Berger, Peter/Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie [1966]. Frankfurt a. M. 1980. Cloerkes, Günther: Soziologie der Behinderten. Eine Einführung. Heidelberg ³2007. Franz, Daniel: Anforderungen an MitarbeiterInnen in wohnbezogenen Diensten der Behindertenhilfe. Veränderungen des professionellen Handelns im Wandel von der institutionellen zur personalen Orientierung. Marburg 2014. Goffman, Erving: Asylums. Essays on the Social Situation of Mental Patients and other Inmates. Chicago 1961. Goffman, Erving: Stigma. Notes on the management of spoiled identity. Prentice-Hall/Englewood-Cliffs, N. J. 1963. Grunwald, Klaus/Thiersch, Hans: Lebensweltorientierung in der Behindertenhilfe. Das Reden von Lebensweltorientierung ist ubiquitär. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik 75/2 (2006), 144–147. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1981. Heckmann Christoph: Alltags- und Belastungsbewältigung und soziales Netzwerk. In: Beck/Greving 2012, 15–123. Knoblauch, Hubert: Soziologie als strenge Wissenschaft? Phänomenologie, kommunikative Lebenswelt und soziologische Methodologie. In: Gerhard Preyer/Georg Peter/ Alexander Ulfig (Hg.): Protosoziologie im Kontext. »Lebenswelt« und »System« in Philosophie und Soziologie. Würzburg 1996, 93–103. Plikat Jochen: Fremdsprachliche Diskursbewusstheit als Zielkonstrukt des Fremdsprachenunterrichts. Eine kriti-

sche Auseinandersetzung mit der Interkulturellen Kompetenz. Frankfurt a. M. 2017. Reckwitz, Andreas: Die Kontingenzperspektive der »Kultur«. Kulturbegriffe, Kulturtheorien und das kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm. In: Friedrich Jaeger/ Jörn Rüsen (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Berlin/Heidelberg 2004, 1–20. Schiller, Burkhard: Soziale Netzwerke behinderter Menschen. Das Konzept sozialer Hilfe- und Schutzfaktoren im sonderpädagogischen Kontext. Frankfurt a. M. 1987. Schröttle, Monika/Hornberg, Claudia: Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderungen in Deutschland. Eine repräsentative Studie. Forschungsprojekt des Interdisziplinären Zentrums für Frauen- und Geschlechterforschung (IFF) der Universität Bielefeld im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Berlin 2013. Schröttle, Monika/Hornberg, Claudia: Gewalterfahrungen von in Einrichtungen lebenden Frauen mit Behinderungen. Ausmaß – Risikofaktoren – Prävention. Studie im Auftrag des BMFSFJ. 2014, https://www.bmfsfj.de/blob/93 972/9408bbd715ff80a08af55adf886aac16/ gewalterfahrungen-von-in-einrichtungen-lebendenfrauen-mit-behinderungen-data.pdf (21.01.2020). Schütz, Alfred: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie. Wien 1932. Scott, Robert A.: The Making of Blind Men. A Study of Adult Socialisation. New Brunswick/London 1969. Thimm Walter: Soziologie – Soziologie der Behinderten – Rehabilitation. In: Ders. (Hg.): Soziologie der Behinderten. Neuburgweier 1972, 9–22. Thimm, Walter: Behinderung als Stigma. Überlegung zu einer Paradigma-Alternative. In: Sonderpädagogik 4 (1975), 149–157. Wansing, Gudrun: Soziale Räume als Orte der Lebensführung. Optionen, Beschränkungen und Befähigungen. In: Iris Beck (Hg.): Inklusion im Gemeinwesen. Stuttgart 2016, 239–267. Wolfensberger, Wolf: The Origin and Nature of our Institutional Models. In: Robert B. Kugel/Wolf Wolfensberger (Hg.): Changing Patterns in Residential Services for the Mentally Retarded. Washington 1969, 59–171.

Iris Beck

11  Soziale Identität

11 Soziale Identität 11.1 Vorbemerkung und Problemskizze Wenn von Identität die Rede ist, glaubt jeder zu wissen, was damit gemeint ist, der eine Antwort auf die uns alle bewegende Frage: »Wer bin ich?« geben kann. Naiv betrachtet scheint es dabei so, dass eine Person, die sozial wahrnehmen, denken und handeln kann, eine soziale Identität hat. Identität gibt jedoch noch immer Rätsel auf und ihre genaue Bestimmung erweist sich bis heute als ein Forschungsdesiderat. Es gibt kaum empirische Belege dafür, was Identität heute bestimmt und ausmacht. Stattdessen lassen sich konzeptualisierte Vorstellungen, Modelle und Theorien darüber finden, wie sich Identität verstehen und erklären lässt. Bis heute gehören Menschen mit Behinderungen zweifelsfrei zu den marginalisierten Gruppen unserer Gesellschaft. Noch immer führen sie ein Leben zwischen Integration und Aussonderung, das eines deutlichen Mehrs an Anerkennung, Wertschätzung, Teilhabe an der Gesellschaft und der Aufwertung wie der Perspektiven für ein sozialintegratives Leben in den Städten, Gemeinden, Kommunen und Landkreisen bedarf (s. Kap. 16). Sozialkritische Blicke auf unsere Kultur und darauf, wie die Gesellschaft mit ihren Behinderten historisch und auch im interkulturellen Vergleich (Neubert/Cloerkes 2001) umgegangen ist, lassen Vorurteile, Diskriminierungen und Stigmatisierungen gegenüber Menschen mit Behinderungen erkennen, die bis heute die soziale Distanz und den Grad der gesellschaftlichen Ausgrenzung bestimmen. Solch tiefgreifende Verletzungen der Würde und systematische Ablehnungen bleiben nicht ohne Folgen auf die Psyche und das Selbst behinderter Menschen. Sie gefährden die Identität, stören den sozialen Verkehr und stellen sowohl die Aufnahme wie den Verbleib in sozialen Gruppen und gesellschaftlich institutionalisierten Sozialisationseinrichtungen in Frage (Markowetz 2011). Die Praktische Ethik des Philosophen Peter Singer (2013) weist menschlichen Wesen, die sich ihrer selbst in einem zeitlichen Kontinuum bewusst sind, den Status einer Person zu. Menschen mit Behinderungen, denen dieses Selbstbewusstsein fehlt, drohen rasch als identitätslose Wesen betrachtet und behandelt zu werden, denen im Spiegel dieser präferenzutilitaristischen Position dann schnell menschliche Grundrechte wie das Recht auf Leben und auf Bildung abgesprochen werden können (s. Kap. 7).

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Die Soziologie der Behinderten als Wissenschaft untersucht das Zusammenleben und Zusammenhandeln der Menschen und beschäftigt sich mit den sozialen Reaktionen auf behinderte Menschen und den Folgen auf deren Identität (Cloerkes 2007). Der interaktionistische Zugang zur Identitätsdiskussion, wie er durch die Verstehende Soziologie und die Theorie der Symbolischen Interaktion (Helle 1992) von der Soziologie der Behinderten rezipiert wird, begreift Identität als soziale Konstruktion. Für die Behindertensoziologie ist Identität deshalb keine individuelle Eigenschaft, sondern vor allem eine soziale Beziehung (Markowetz 2007).

11.2 Behinderung und die Theorie der sozialen Identität Die sozialpsychologische Theorie der sozialen Identität, wie sie von Tajfel und Turner (1986) begründet wurde, versucht ganz allgemein, die Zugehörigkeit von Menschen zu einer sozialen Gruppe und das Verhalten zwischen gesellschaftlichen Gruppen zu analysieren und zu erklären. Mit Blick auf die Klärung der Frage, zu welcher sozialen Gruppe denn Menschen mit Behinderungen gehören und welche soziale Identität denn Menschen mit Behinderungen als Mitglieder einer sozialen Gruppe zugeschrieben wird, ist die sogenannte Zwei-Gruppen-Theorie (Wevelsiep 2015) von Bedeutung. Das alles überschattende Merkmal ›Behinderung‹ begründet ein Stigma (s. Kap. 51), das generalisiert wird und als Masterstatus (Goffman 1967, 14–15) in bisweilen scharfer Abgrenzung zur ›Gruppe der Nichtbehinderten‹ die Zugehörigkeit zur ›Gruppe der Behinderten‹ schafft. Selbst wenn es über das Merkmal Behinderung hinaus zwischen Menschen mit und ohne Behinderung mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gibt, sind die Zuordnungen zu bestimmten Gruppen in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts sehr klar. Eine Behinderung wird hier an Merkmalen mit hoher Stimulusqualität festgemacht, die erkennen lassen, dass jemand in unerwünschter Weise anders ist und von den gesellschaftlichen Normen und sozialen Erwartungen abweicht. Dies hat zur Folge, dass eine dauerhafte, sichtbare, aber auch spürbare körperliche, geistige oder seelische Abweichung negativ bewertet wird und dass zudem die soziale Reaktion auf den Träger/die Trägerin solcher Merkmale negativ ist (Cloerkes 2007, 7–9). Auch wenn es gezielt einsetzbare und erfolgssichere Strategien zur Veränderung von Einstellungen und

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_11

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I  Vorstellungen von ­Behinderung in Praxis und Theorie  –  B  Allgemeine soziale Praxis

Verhaltensweisen gegenüber Menschen mit Behinderungen nicht gibt, wecken vor dem Hintergrund der Kontakthypothese (Cloerkes 1982) vor allem die sozialen Kontakte zwischen Menschen mit und ohne Behinderung in verlässlichen inklusiven Handlungs- und Erfahrungsräumen (Krabbelgruppen, Kindergärten, Schulen) die Hoffnung auf eine allmähliche Anerkennung der Vielfalt innerhalb einer Gruppe. Hier scheint eine heterogene Gruppe mit vielen Minderheiten und Mehrheiten gemäß einer Ein-Gruppen-Theorie (Hinz 2002, 359) allmählich umgesetzt zu werden. Dabei ist anzumerken, dass ›die Behinderten‹ keine homogene, sondern selbst eine disperse Gruppe darstellen, innerhalb derer die Mitglieder aufgrund von Art und Schweregrad ein durchaus unterschiedliches gesellschaftliches Ansehen haben. Dieses bewegt sich zwischen vorbehaltloser Akzeptanz über Phasen der Bewunderung mit stabilen wie fragilen Teilanerkennungen, aber auch des Pseudorespekts, bis zur vollständigen Ablehnung. Daher darf nicht verwundern, dass Menschen mit Behinderungen sich selbst mittels behinderungsbedingter Kriterien stark von- und untereinander abgrenzen und vermehrt in Teilgruppen ihresgleichen wiederfinden wollen; oder dass sie sich wünschen, nicht mit allen Behinderten in einen Topf geworfen zu werden, um ihre soziale Identität nicht allgemein als Behinderter, sondern wenn überhaupt, dann als Blinder, Gehörloser, Körperbehinderter usw. zugeschrieben zu bekommen. Die Bildung von Vorurteilen und diskriminierenden Verhaltensweisen ist dabei eine natürliche Folge solcher Abgrenzungen, die nicht nur zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen, sondern in nicht unerheblichem Maße auch unter behinderten Menschen erfolgen. Menschen mit Behinderungen gehören per se einer sozialen Gruppe an, die nicht besonders positiv bewertet wird, was zu einer eher negativen sozialen Identitätszuschreibung führt. Über den sicher unbestrittenen Wert hinaus, den die Mitwirkung in der sozialen Gruppe der Behinderten als Peergruppe hat (z. B. bei Selbsthilfe-Zusammenschlüssen in der Selbstvertretung und bei der Emanzipationsbewegung), wollen Menschen mit Behinderungen aber eben auch in soziale Gruppen hineinwechseln, die gesellschaftlich angesehener sind. Für sie bedeutet diese Mitgliedschaft eine Valorisierung und Normalisierung sowie Perspektiven für ein deutliches Mehr an Anerkennung, Wertschätzung und Teilhabe. Für behinderte Personen sind soziale Gruppen, die sich wirkungsvoll von der Gruppe der Behinderten unterscheiden, von hohem Wert, weil die Mitglieder dieser Gruppen ihnen einen sozialen

Status zuschreiben, der als externer Identitätsaspekt einen nicht unerheblichen Einfluss auf das Selbst als den internen Aspekt von Identität hat. Er geht als Wirkvariable in die alltäglich gerade auch von behinderten Menschen zu leistende Identitätsarbeit ein.

11.3 Definitionen und Verständnis von Identität Der Begriff ›Identität‹ kommt aus dem Lateinischen (idem, eadem, idem: ›derselbe, dieselbe, dasselbe; das nämliche; ein und dasselbe‹). Der Kern der Bedeutung von Identität ist »Nämlichkeit, Sichselbstgleichheit: Ein Gegenstand, ein Begriff, ein Sachverhalt ist in allen Zusammenhängen immer derselbe« (Brockhaus 2004, 466). Dem Wörterbuch für Erziehung und Unterricht (Köck/Ott 1994, 312) ist zu entnehmen, dass mit Identität ein dynamisches Selbstkonzept gemeint ist, das lebenslang in Entwicklung begriffen ist, im Wechselspiel mit dem sozialen Umfeld kontinuierlich Veränderungen und in Form von Identitätskrisen einschneidenden Gefährdungen ausgesetzt ist; und dass die Selbstbewertung des Menschen umso günstiger ausfällt, je geringer die Differenz zwischen Realbild und Idealbild sowie zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung ist. Im Wörterbuch der Soziologie ist zu lesen: »Unter Identität versteht man die subjektive Verarbeitung biographischer Kontinuität/Diskontinuität und ökologischer Konsistenz/Inkonsistenz durch eine Person in Bezug auf Selbstansprüche und soziale Anforderungen« (Endruweit/Trommsdorff 1989, 279). Waterman fasst den Begriff noch enger und subjektorientierter: »Identität bezieht sich auf klar beschriebene Selbstdefinitionen, die jene Ziele, Werte und Überzeugungen enthält, die eine Person für sich persönlich als wichtig erachtet und denen sie sich verpflichtet fühlt« (Waterman 1985, 6). In besonders eindrucksvoller Weise weist bereits Aristoteles darauf hin, »daß die Identität eine Art Einheit des Seins ist – entweder von mehreren Dingen oder von einem, wenn man es als mehrere ansieht, wie etwa, wenn man erklärt, etwas sei mit sich selbst dasselbe. Dann sieht man es wie zwei Dinge an« (Aristoteles 1974, 128). Der Identitätssatz von Leibniz lautet deshalb folgerichtig, dass »jedes Seiende zugleich es selbst ist, als einzig-einmaliges Individuum, wie es das ›principium identitatis indiscernibilium‹, das Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren« (Diemer/Frenzel 1971, 215) zum Ausdruck bringt. Ontologischen Sichtweisen folgend, kann es keinen

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Menschen geben, der keine Identität hat. Identität ist a priori vorhanden. Goffman weist im Kontext seiner Überlegungen zur Identitätspolitik auf den Einfluss von außen auf die Ich-Identität hin: »Wir alle sprechen vom Standpunkt einer Gruppe aus [...]. [D]ieses Ich ist, wie es notwendig sein muß, ein im Gastland wohnender Fremdling, eine Stimme der Gruppe, die für und durch es spricht« (Goffman 1967, 153). Hanselmann (1951, 47) spricht von einem gespaltenen Ich, von einer Spaltung der Persönlichkeit in zwei Lebenshaltungen, das ›geheime Ich-selbst‹ und ein nach außengewendetes ›Verkehrs-Ich‹. Ein solches ›Doppel-Ich‹ existiert in seiner Vorstellung nebeneinander und kann gezielt, also als Identitätsstrategie, eingesetzt werden. Das ›Innen-Ich‹ kann sorgfältig geschützt werden durch die ›Maske der Verstellung‹. Haeberlin (1985, 23) geht davon aus, dass sich Identität alles andere als harmonisch entwickelt, sondern die Verträglichkeit einer sozialbestimmten Identität, als Ergebnis des Hineinwachsens in die Gesellschaft mit der personbestimmten Identität, als Ergebnis einer Entwicklung des individuellen Selbst, stets herzustellen ist. Identität erweist sich als komplexe PersonUmwelt-Interaktion, die von individuellen wie sozialen Dimensionen in ihren Interdependenzen beeinflusst wird. Individuelle Identität und soziale Identität sind zwei fundamentale Säulen und Wirkvariablen, die an der Entstehung und Aufrechterhaltung von Identität aktiv beteiligt sind.

11.4 Identitätskonzepte Die Ausführungen zeigen, dass es eine griffige Definition und ein nachvollziehbares Verständnis von Identität nicht geben kann, ohne auf theoretisch schlüssige Identitätskonzepte zu verweisen. Die wichtigsten soziologischen Identitätskonzepte, wie sie in der Behindertenforschung seit den 1970er Jahren bemüht werden, haben Erving Goffman, Lothar Krappmann, Walter Thimm und Hans-Peter Frey vorgelegt. Sie stehen in der Tradition des Pragmatismus von William James und folgen der Theorie der Symbolischen Interaktion von George Herbert Mead und seinen Begriffen des ›generalisierten Anderen‹ und des ›Selbst‹. In der Behindertensoziologie wird der Identitätsbegriff favorisiert, während Vertreter*innen anderer Sozialwissenschaften, insbesondere vor dem Hintergrund der Erforschung entwicklungspsychologischer Themen, dem verwandten Begriff des Selbst und dem Konstrukt ›Selbstkonzept‹ oder ›Selbstschema‹ als ›in-

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terne Selbstmodelle‹ klar den Vorzug geben (z. B. Oerter 1987, 297). Heute liegen mehrere theoretische Zugänge zu den Identitätstheorien vor. Die Arbeiten der Identitätstheoretiker Erik H. Erikson und James E. Marcia waren hierfür richtungsweisend. Sie mündeten in Forschungen zur Entstehung von Selbstkonzepten und finden ihren Ausdruck in psychoanalytisch orientierten Theorien der Ich-Entwicklung genauso wie in strukturalistischen Entwicklungskonzeptionen (zu den behindertensoziologisch relevanten Identitätskonzepten, wie sie für die Rezeption und Weiterführung des Identitätsmodells von Frey reflektiert wurden, vgl. Markowetz 2007, 681–740).

11.5 Die Stigma-Identitäts-These und das behindertensoziologisch modifizierte Identitätsmodell von Frey Im Spiegel des Anomie-Konzeptes von Durkheim (1893) versetzt eine Behinderung den Menschen in einen anomischen Zustand, der mit sozialer Desintegration einhergeht, Aussonderung legitimiert und dafür sorgt, dass der Mensch sich in die ihm zugewiesene Rolle zu fügen und in die Gruppe der Behinderten einzuordnen hat. In solchen Fällen ist davon auszugehen, dass durch die Summe der Zuschreibungen eine freie Entfaltung der individuellen, persönlichen Identität nicht möglich ist, sondern dass diese praktisch mit der sozialen Identität identisch ist. Im Stigma-Ansatz wird Behinderung als Ergebnis eines Zuschreibungsprozesses mit entsprechenden persönlichen und sozialen Folgen angesehen. Die Grundannahme der klassischen Stigma-IdentitätsThese geht davon aus, dass stigmatisierende Zuschreibungen zwangsläufig zu einer massiven Gefährdung bzw. Veränderung der Identität stigmatisierter Menschen führen. Jede Stigmatisierung stellt eine Bedrohung des Selbst dar und schafft Identitätsprobleme, denen ein Subjekt mit Identitätsstrategien aktiv begegnen kann. Erst wenn diese Abwehrstrategien versagen, und nur dann, kommt es zu einer beschädigten Identität mit weitreichenden Folgen. Folgerichtig favorisiert die Soziologie der Behinderten ein Identitätskonzept, das die Zusammenhänge zwischen Stigma und Identität berücksichtigt. Das im Folgenden skizzierte interaktionistische Identitätsmodell fußt auf dem Modell von Hans-Peter Frey (1983). Dieses ist theoretisch von der pädagogisch-anthropologischen Ich-Theorie von Hildegard

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Macha (1989) sowie von dem Modell der alltäglichen Identitätsarbeit von Keupp/Ahbe/Gmür u. a. (2002) beeinflusst und wurde für die Soziologie der Behinderten und als Grundlage für das Entstigmatisierungskonzept der Dialogischen Validierung identitätsrelevanter Erfahrungen im Kontext von Inklusion weiterentwickelt (Cloerkes 2007; Markowetz 2007, 740–758). Frey unterscheidet drei verschiedene Aspekte von Identität und erachtet Identität als »das Ergebnis externer Typisierungs- und Zuschreibungsprozesse« (externer Aspekt), als »das Ergebnis interner Typisierungs- und Zuschreibungsprozesse« (interner Aspekt) und als »die spezifische Integrationsleistung einer Person« (Integrations- und Balanceaspekt) (Frey 1983, 15). Mit dem externen Aspekt ist der einer Person zugeschriebene Status gemeint. Er umfasst die soziale und persönliche Identifizierung durch andere und entspricht somit weitgehend der von Goffman beschriebenen sozialen und persönlichen Identität (Goffman 1967, 43–45). Zum externen Aspekt gehören sämtliche Erfahrungen und Informationen eines Individuums über seine sachliche und personale Umwelt. Das Hauptaugenmerk in einem interaktionistischen Modell gilt jedoch dem Interaktionspartner. Er schreibt soziale und persönliche Identität zu und hat spezifische Erwartungen. Der interne Aspekt (das Selbst) wird als reflexiver Prozess aufgefasst und entspricht damit der Ich-Identität bei Goffman. Frey unterscheidet zwei Ebenen: das Soziale Selbst und das Private Selbst. Das Soziale Selbst steht für die »interne Ebene der Selbsterfahrung, auf der die Person sich aus der Perspektive ihrer Umwelt definiert« (Frey 1983, 47). Es geht um die Frage, wie die Anderen das Individuum sehen und wie das Individuum dieses vermutete Fremdbild von sich selbst wahrnimmt. Das Soziale Selbst nimmt also Außeninformationen wahr, es wählt wichtige Informationen aus, und auf diese Weise entsteht ein Bild von der Meinung anderer. Das Private Selbst steht für die Selbstinterpretation aus der eigenen privaten Perspektive: »Wie sehe ich mich selbst?« (ebd., 48). Das Private Selbst wird zum »Sediment transsituationaler Erfahrung« (ebd., 70) und bewertet das Soziale Selbst, übernimmt Inhalte des Sozialen Selbst oder weist sie zurück. So entsteht ein privates Bild von sich selbst (Selbstbild). Der Integrations- und Balanceaspekt als dritter Aspekt greift den Entwurf der balancierten Identität auf. Frey spricht von »Identität als Integrationsleistung diskrepanter Selbst-Erfahrung« (1983, 55), einem Prozess intrapersonaler Integration, in dem »divergierende Elemente externer und/oder interner Zuschreibungen

aufgelöst oder ausbalanciert werden« (ebd., 15). Dies geschieht über Informationsverarbeitung und nach außen gerichteten Handlungsstrategien. Frey schlägt vor, den Begriff ›Identität‹ nur auf diesen dritten Aspekt anzuwenden und den Innenaspekt mit Selbst zu bezeichnen. Identität integriert Privates und Soziales Selbst, berücksichtigt auch andere Rahmeninformationen, leitet das Handeln an und bestimmt die Identitätsdarstellung. Auf der Basis der Integrations- und Balanceleistung findet die Präsentation der Identität nach außen hin statt. Diese Selbstdarstellung des Individuums kann durchaus vom Privaten Selbst abweichen. Mit der Integrations- und Balanceleistung bemüht sich das Individuum unter Aktivierung und Einsatz von Identitätsstrategien um Sicherstellung von Kontinuität, Konsistenz und positiver Selbsterfahrung. Kontinuität ist auf die Dimension Zeit gerichtet. Identität des Selbst liegt vor, wenn das Individuum sein »personales und soziales Selbst als zeitlich gleichbleibend erfährt« (Frey 1983, 60). Konsistenz bezieht sich dagegen auf die Teilnahme an mehreren Interaktionssystemen im gleichen Zeitraum. Menschen streben nach einem Ausgleich zwischen widersprüchlichen Anforderungen von außen und dem etablierten Privaten Selbst. Das Ziel einer völlig konsistenten Identität ist kaum zu erreichen, möglich ist jedoch eine Balance zwischen solchen widerstreitenden Anforderungen. Kontinuität und Konsistenz müssen dabei gegeneinander abgewogen werden. Durch die Trennung zwischen Sozialem und Privatem Selbst lässt sich das doppelte Kontinuitäts- und Konsistenzproblem genauer formulieren. Es besteht in der ständigen Anforderung an das Individuum, »die Kontinuität (seiner) privaten Selbsterfahrung zu sichern« und »die Inkonsistenz zwischen sozialer und privater Selbsterfahrung auszugleichen bzw. erträglicher zu halten« (ebd., 71). Kontinuität und Konsistenz behandeln Umweltinformationen nur im Hinblick auf Bestätigung und Nichtbestätigung. Das Individuum unterscheidet schließlich aber auch zwischen angenehmen und unangenehmen Informationen. Es ist deshalb stets um positive Selbsterfahrung bemüht. Mit Hilfe von Identitätsstrategien versucht jede Person, unangenehmen Inkongruenzen aus dem Weg zu gehen. Das Individuum wird sich in solchen Fällen gegen den Druck wehren, das Soziale bzw. Private Selbst den neuen, unangenehmen Informationen anzupassen. Mit Blick auf die Identität von Menschen mit Behinderungen lassen sich die hier skizzierten Zusammenhänge in Abbildung 11.1 zusammenfassen und veranschaulichen.

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Abb.  11.1  Identität – eine prozessual-­ dynamische, ­ situative und transsituative Integrationsund Balance­ leistung

11.6 Fazit und Ausblick Die in diesem Beitrag aufgefalteten Aspekte zur Identität belegen, dass Stigmatisierungen zwar die Identität von Menschen mit Behinderungen gefährden, aber in Abhängigkeit von Sichtbarkeit, Art und

Schweregrad einer Behinderung nicht zwangsläufig zu einer beschädigten Identität führen. Es bleibt deshalb abzuwarten, ob sich im Zuge der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) die Zwei-Gruppen-Theorie zugunsten der Theorie einer heterogenen Gruppe mit vielen Minderheiten und

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Mehrheiten auflösen und folgerichtig die soziale Rolle und die soziale Identität behinderter Menschen positiv verändern werden. Das aus dem Modell von Frey für die Forschungsarbeit in der Soziologie der Behinderten adaptierte und vorgestellte interaktionistische Identitätsmodell dient als Ausgangspunkt, um die Konturen eines identitätsstiftenden Konzepts zur Entstigmatisierung von Menschen mit Behinderungen zu schärfen und die These der Entstigmatisierung durch Inklusion (Cloerkes 2007) diskutieren zu können. Der daraus entwickelte Entwurf der ›Dialogischen Validierung identitätsrelevanter Erfahrungen‹ (Markowetz 2006; 2007) beschäftigt sich mit der Identität und Identitätsentwicklung der an Inklusion beteiligten Subjekte. Von Bedeutung ist die Frage, ob die gelebten Kontakte und der soziale Verkehr zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen Auswirkungen auf deren Identität haben und welche. Eine weitere Frage ist, wie die Interagierenden ihre identitätsrelevanten Erfahrungen kommunizieren, damit gegenseitige Vorbehalte und Vorurteile abgebaut werden, soziale Nähe und Kohäsion entstehen und sich eine tragfähige »Grammatik des sozialen Umgangs« (Kobi 1993, 415) entwickeln kann. Letztere kann einen den Selbstwert steigernden Einfluss auf die soziale Identität bislang marginalisierter Individuen und Gruppen haben. Mit Keupp/Ahbe/Gmür u. a. (2002, 278) können wir das Programm Inklusion als soziale Ressource und als menschliche Fähigkeit auffassen, die das Gelingen von Identität befördern. Gezielt einsetzbare und erfolgssichere Strategien zur Veränderung der Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderungen, Beeinträchtigungen, Lernschwierigkeiten und sozialen Benachteiligungen gibt es nicht, und die empirische Überprüfung von Akzeptanz und sozialer Kohäsion ist ausgesprochen schwer. Die soziale Reaktion gegenüber Menschen mit Behinderungen dürfte sich durch sorgfältig inklusionspädagogisch geförderte und gelebte soziale Kontakte nachhaltig verbessern, wie sie in allen Sozialisationsfeldern und inklusiven Handlungsfeldern als Domänen der egalitären Teilhabe am gesellschaftlichen Leben möglich sind und von der UN-BRK auch eingefordert werden (Degener/Diehl 2015). Eine Pädagogik für alle kann aus soziologischer Perspektive deshalb nur eine identitätsstiftende Pädagogik sein, von der insbesondere in den sozialen Mikrosystemen, letztlich aber auch auf der gesellschaftlichen Makroebene eine deutlich spürbare entstigmatisierende Kraft ausgeht.

Literatur

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11  Soziale Identität Markowetz, Reinhard: Inklusion im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung – Inklusive Bildung als inklusiver und exklusiver Unterricht. In: Holger Schäfer (Hg.): Handbuch Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Grundlagen, Spezifika, Fachorientierung, Lernfelder. Weinheim 2019, 209–233. Neubert, Dieter/Cloerkes, Günther: Behinderung und Behinderte in verschiedenen Kulturen. Eine vergleichende Analyse ethnologischer Studien. Heidelberg 32001. Oerter, Rolf: Jugendalter. In: Rolf Oerter/Leo Montada (Hg.): Entwicklungspsychologie. Ein Lehrbuch. München/Weinheim 1987, 265–338.

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Singer, Peter: Praktische Ethik. Stuttgart 2013. Tajfel, Henri/Turner, John C.: Die Theorie der sozialen Identität des Verhaltens zwischen Gruppen. In: Stephen Worchel/William G. Austin (Hg.): Psychologie der Beziehungen zwischen Gruppen. Chicago 21986, 7–24. Waterman, Alan S: Identity in adolescence. Processes and contents. San Francisco 1985. Wevelsiep, Christian: Überwindung der Zwei-GruppenTheorie? Pädagogische Professionalität und Inklusive Pädagogik. In: Zeitschrift für Pädagogik 61/4 (2015), 565– 579.

Reinhard Markowetz

C Gesellschaftlicher Umgang mit Behinderung 12 Eugenik Inspiriert von Charles Darwins Evolutionstheorie und Gregor Mendels Vererbungslehre definierte der britische Anthropologe und Naturphilosoph Francis Galton 1883 Eugenik als »science of human improvement« (Galton 1883). Von Großbritannien aus formierte sich eine internationale eugenische Bewegung, in der Galtons Idee verbreitet wurde. Konkret bedeutete diese, die Fortpflanzung von vermeintlich höherwertigen Personen zu fördern, diejenige von für die Gesellschaft als ›untauglich‹ befundenen Individuen hingegen zu verhindern. Diese eugenische Idee ließ sich vielfältig ausdeuten und damit auch sehr unterschiedlich in die Praxis umsetzen. So existierten sowohl freiwillige Programme als auch Zwangsmaßnahmen im sozial- und bevölkerungspolitischen Kontext. Seine extremste Ausprägung fand eine solche Politik im nationalsozialistischen Deutschland, wo, gestützt auf eugenische Vorstellungen, in kurzer Zeit eine sehr große Anzahl an Personen zwangssterilisiert wurde und im Rahmen der sogenannten ›Aktion T4‹ Menschen ermordet wurden, die als ›unwert‹ galten. Trotz der beispiellosen politischen Umsetzung unter dem NS-Regime sind eugenische Vorstellungen und Praktiken ein internationales Phänomen, das es auch in demokratischen Staaten sowohl vor 1933 als auch nach 1945 gegeben hat (Bashford/Levine 2010). Für welche unterschiedlichen Akteure Eugenik eine attraktive »Sozialtechnologie« (Argast 2012, 455) darstellte, skizziert Jakob Tanner treffend: »It was propagated by defenders of a superior race, reactionary critics of human rights, socially engaged scientists, progressive anarchists, revolutionary Bolsheviks and reform-oriented Social Democrats« (Tanner 2012, 475). Diese differierenden sozialen Akteursgruppen und politischen Kontexte, in denen Eugenik propagiert und angewendet wurde, teilten die Grundannahme, dass sich Menschen mit körperlichen, mentalen, psychischen und sozialen Andersheiten nicht fortpflan-

zen sollten und es den Kreis dieser Personen möglichst kleinzuhalten gilt. Teilweise äußerte sich diese Annahme sogar in der Forderung, die avisierte Gruppe vollständig zu eliminieren (Rembis 2018, 93). Dies betraf Menschen mit Behinderungen in besonderer Weise, denn sie wurden unter Rückgriff auf eugenische Vorstellungen oftmals von der Mehrheitsgesellschaft separiert, sterilisiert und z. T. getötet. Zweifellos waren diese Praktiken vor der Mitte des 20. Jahrhunderts verbreitet, wie aber verhielt es sich mit eugenischen Konzepten ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts? Man könnte annehmen, dass sich diese durch die Erfahrung des Nationalsozialismus komplett diskreditiert hätten. Doch da Eugenik international bereits vor und während des Nationalsozialismus auch in demokratischen Staaten Anklang fand und auch in diesen Sterilisationsgesetze und andere eugenisch motivierte Programme existierten, erfolgte nur eine Teildistanzierung. Als weltweites wissenschaftliches Konzept bzw. als Sozialtechnologie, die beide von der Annahme ausgingen, eine ›Degeneration‹ der Menschen sei nur durch ›Selektion‹ zu verhindern und somit dem Individuum genetische Wertigkeiten zuschrieben, war Eugenik auch nach 1945 weiter en vogue (Argast 2012, 453). Allerdings waren bereits in den 1930er Jahren in Großbritannien Forderungen laut geworden, Eugenik stärker mit freiwilligen Angeboten zu verknüpfen (Kevles 1995, 164– 176). Der Rekurs auf Freiwilligkeit blieb ein stets bemühter Topos von Eugeniker*innen während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Freiwilligkeit war zwar als Topos durchaus auch diskursbestimmend, wenn es um eugenische Praktiken gegenüber Menschen mit Behinderungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging, aber dieser Begriff wurde entweder derart gedehnt, dass seine Bedeutung fraglich wurde oder es trafen Freiwilligkeiten unterschiedlicher Akteursgruppen aufeinander, die sich unversöhnlich gegenüberstanden. Dies soll nun exemplarisch an drei Themenfeldern aufgezeigt werden, deren Bedeutung bis in unsere Gegenwart hi-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_12

12 Eugenik

neinreicht: Sterilisation, humangenetische Beratung und Pränataldiagnostik in Verbindung mit Abtreibung. Alle drei Themen tangierten Menschen mit Behinderungen in besonderem Maße, weshalb sie von der in den 1970er Jahren aufkommenden Behindertenbewegung international aufgegriffen wurden. Während Frauen ohne Behinderung eine Sterilisation bis in die 1980er Jahre hinein noch oft verwehrt wurde, legten Ärzt*innen sie Frauen mit Behinderung häufig nahe (Ewinkel/Hermes/Boll u. a. 1986, 95). Frauen mit körperlichen Behinderungen konnten über ihre Sterilisation selbst entscheiden, obschon sie unter erhöhtem gesellschaftlichen Druck standen, sich nicht fortzupflanzen. Mädchen und Frauen mit geistigen Behinderungen hingegen wurde eine solche Entscheidung ebenso wenig zugetraut, wie sich um ein eigenes Kind zu kümmern. Lebten viele Mädchen und Frauen mit geistigen Behinderungen bis in die 1960er Jahre hinein weitestgehend abgeschirmt von der Außenwelt in ihren Familien oder in geschlossenen Heimen, in denen eine strikte Geschlechtertrennung galt, änderte sich dies in den 1970er Jahren. Die sexuelle Liberalisierung hatte zur Folge, dass ab diesem Zeitpunkt auch Menschen mit Behinderungen sukzessive ein Recht auf Sexualitätsausübung zugestanden wurde, in Behindertenwerkstätten Menschen mit Behinderungen beiderlei Geschlechts arbeiteten, Freizeitfahrten in Sonderschulen auch gemischtgeschlechtlich erfolgten und zunehmend eine Anpassung behinderter Menschen an das Leben der Mehrheitsgesellschaft gefordert wurde (Schenk 2013, 445). Da die Fortpflanzung dieser Gruppe aber weiterhin kritisch gesehen wurde, stieg im Zuge der Liberalisierungsprozesse die Anzahl der Sterilisationen von Mädchen und Frauen mit geistigen Behinderungen, da diese als sicherer galt als etwa die Pille. Oftmals geschah dies, ohne dass die Betroffenen davon wussten, ihr Wille wurde meist nicht einmal eruiert. Dies hing damit zusammen, dass die betroffenen Frauen und Mädchen als nicht-einwilligungsfähig galten und deshalb de facto Dritte über ihre Sterilisation entschieden, also Eltern oder der Vormund. Mithilfe einer Einwilligung der regionalen Ärztekammer und der ausführenden Gynäkolog*innen wurden dann Sterilisationen vorgenommen. Zwar war die Sterilisation in der Bundesrepublik über den Paragraphen 226a des Strafgesetzbuches als Körperverletzung verboten, sofern sie gegen die ›guten Sitten‹ verstieß. Ganz offensichtlich verstieß eine Sterilisation von Frauen und sogar Mädchen mit geistigen Behinderungen nicht gegen diese äußerst deu-

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tungsoffene Norm. Während sich die sterilisierenden Ärzt*innen anfangs noch in einer rechtlichen Grauzone bewegten, änderte sich dies 1970, zumindest insofern als die eugenische Sterilisation nun in der ärztlichen Standesordnung verankert wurde: »Sterilisationen sind zulässig, wenn sie aus medizinischen, genetischen oder schwerwiegenden sozialen Gründen indiziert sind« (Hahn 2000, 117). Auch in den 1970er Jahren äußerten renommierte Genetiker*innen noch öffentlich ihre eugenischen Absichten (Zerbin-Rüdin 1973, 3589). Angepasst an die gesellschaftlichen Veränderungen argumentierten aber im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts sukzessive immer mehr Ärzt*innen und Humangenetiker*innen weniger offen eugenisch. Vielmehr rekurrierten sie auf das Kindeswohl. Eine geistig behinderte Mutter könne ihr Kind nicht selbstständig versorgen und erziehen, hieß es – ein Argument, das auch vielen Eltern von Betroffenen einleuchtete, befürchteten sie doch, sich neben ihrer Tochter mit Behinderungen auch noch um ein Enkelkind kümmern oder aber das Kind zur Adoption freigegeben zu müssen (Schenk 2016, 285–303). Erst 1990 wurde die Sterilisation von Minderjährigen gesetzlich verboten, was u. a. eine Reaktion auf die lauter werdende Kritik in den 1980er Jahren an der nun öffentlich gewordenen Sterilisationspraxis darstellte. In anderen demokratischen Staaten wie etwa den skandinavischen Ländern und den USA waren eugenisch motivierte Sterilisationen bis in die 1970er Jahre hinein erlaubt. Auch in Staaten, in denen es keine Sterilisationsgesetze gab, wurden rechtliche Grauzonen genutzt, um solche Sterilisationen zum Teil bis in die 2000er Jahre hinein durchzuführen, wie z. B. in Österreich. Hauptbetroffen waren Frauen und Mädchen mit geistigen Behinderungen, wie etwa ansonsten kaum vorhandene Zahlen aus Belgien und Frankreich zeigen (Ernst 2009, 255–256). Insofern kann von einer Verengung von Sterilisationen ohne eigene Einwilligung auf diese Betroffenengruppe nach 1945 ausgegangen werden. Praktiken einer sogenannten ›negativen‹ Eugenik in westlichen Staaten nach 1945 wiesen also sowohl eine geschlechts- wie eine behindertenspezifische Komponente auf. Die Geburt von Kindern mit Behinderungen zu verhindern, darauf zielte auch eine Institution ab, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts etablierte: die humangenetische Beratung. Dort konnten sich Menschen informieren, wenn in ihrer Familie als vererbbar angesehene Krankheiten vorlagen. Zum einen ermittelten Humangenetiker*innen, wie hoch die

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I  Vorstellungen in Praxis und Theorie  –  C  Umgang mit Behinderung

Disposition für solche Krankheiten bei den Ratsuchenden war, zum anderen wandten sich auch potentielle Eltern an die genetische Beratung, um herauszufinden, ob sie möglicherweise ein Kind mit Behinderungen erwarteten. Darüber hinaus betrieben Humangenetiker*innen Diagnose und Ursachenforschung geistiger Behinderungen. In diesem Rahmen vergaben sie Sterilisationsempfehlungen, vor allem für die oben beschriebene Gruppe. Bis in die 1980er Jahre hinein spielten in der Humangenetik weiterhin eugenische Überlegungen eine Rolle. Zwar waren viele Humangenetiker*innen nach 1945 bemüht, sich von »autoritären Durchsetzungsformen« zu distanzieren, setzten aber nach wie vor auf das »Prinzip einer eugenisch motivierten Auslese« (Cottebrune 2012, 518). Statt einer auf das Individuum bezogenen Eugenik traten populationsgenetische Überlegungen in den Vordergrund, die mit KostenNutzen-Rechnungen verbunden wurden. In diesen wurde beispielsweise die These verfolgt, dass die Verhinderung der Geburt von behinderten Kindern dafür sorgen könne, genügend Ressourcen für die bereits in der Gesellschaft vorhandenen Menschen mit Behinderung zu schaffen. Diese Überlegungen kritisierte die Behindertenbewegung ab den 1970er Jahren und forderte die Schließung aller humangenetischen Beratungsstellen (Sierck/Radtke 1984, 46–47; Bradish/Feyerabend 1989, 282). Ein sich daran anschließendes Thema stellte die Pränataldiagnostik (PND) dar (s. Kap. 19), denn mit ihrer Hilfe war es möglich, Behinderungen bereits beim Ungeborenen zu erkennen. Insbesondere die nach PND erfolgenden Schwangerschaftsabbrüche erregten die Kritik der Behindertenbewegung. Diese Diskussion begann bereits in den 1980er und 1990er Jahren und wird bis heute weltweit weitergeführt. Im Kern geht es dabei um die Frage, ob eine Abtreibung nach einer pränatalen Diagnose behindertenfeindlich oder gar eugenisch sei. Das Recht auf Abtreibung, für das sich Feministinnen seit den 1970er Jahren einsetzten, steht dem Recht auf Leben von Menschen mit Behinderungen zum Teil unversöhnlich gegenüber, wie diverse Diskussionen zwischen Vertreter*innen der Frauenbewegung und der Behindertenbewegung zeigen (Schenk 2019, 82–85). Beide Seiten heben auf Selbstbestimmungsrechte ab: Frauen wollen selbst entscheiden, ob sie sich ein Leben mit einem Kind mit Behinderungen vorstellen können, Menschen mit Behinderungen sehen in der PND eine Selektionstechnik, die das Lebensrecht Ungeborener mit Behinderungen gefährde (Achtelik 2015). In der Tat hatten negative

Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderung die Erweiterung von Abtreibungsrechten in den 1960er und 1970er Jahren erleichtert. Warfen Behindertenrechtsaktivist*innen den Feministinnen, die sich für selbstbestimmte Reproduktionsentscheidungen von Frauen einsetzten, in den 1980er und 1990er Jahren bisweilen vor, eugenische Praktiken zu fördern wie sie im Nationalsozialismus eingesetzt worden seien, verhinderte ihre Kritik jedoch nicht, dass sich die PND ausbreitete und mittlerweile zum Standardrepertoire in gynäkologischen Praxen gehört. Seit den 2000er Jahren ist jedoch eine Trendwende zu erkennen: Europäische Regierungen sowie die EUKommission verankerten Rechte von Menschen mit Behinderung in ihrer Gesetzgebung. Daraus folgte eine Sensibilisierung für eugenische Tendenzen gegenüber Menschen mit Behinderungen und eine vielfach restriktiver gehandhabte Abtreibungsgesetzgebung. Mittlerweile ist jedoch auch zu beobachten, dass sich konservative Lebensschützer die Argumentation der Behindertenbewegung zu eigen machen und diese für ihre Zwecke vereinnahmen (Herzog 2018, 32–41). Wie sich das Recht auf selbstbestimmte Abtreibungsentscheidungen und zugleich die Verhinderung eugenischer Praktiken gegenüber Menschen mit Behinderungen in Einklang bringen lassen, ist eine noch offene ethische Frage (Achtelik 2018, 75–94). Sicher ist aber, dass Eugenik auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch eine zentrale Rolle in Wissenschaft, Politik und Alltagsleben gespielt hat und dies in besonderer Weise Menschen mit Behinderungen betraf. Die kulturelle bzw. gesellschaftliche Verbindung von Leid, Krankheit und Behinderung trug dazu bei, eugenische Ideen auch in demokratischen Staaten anschlussfähig an Liberalisierungsund Demokratisierungsprozesse zu machen. Mittlerweile existieren aber gesellschaftliche Bereiche und Gruppen, in denen Behinderung nicht mehr (allein) als Defizit wahrgenommen wird. Welche Anpassungsprozesse eugenische Vorstellungen vor diesem Hintergrund durchlaufen oder ob sie sich nun auf andere gesellschaftliche Gruppen konzentrieren, ist eine der kulturwissenschaftlichen Zukunftsfragen der langen gemeinsamen Geschichte von Eugenik und Behinderung. Literatur

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Britta-Marie Schenk

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I  Vorstellungen in Praxis und Theorie  –  C  Umgang mit Behinderung

13 Prothesen und Cyborgs »If cyborg enunciations are the future avant-garde, then what are real cyborgs? Do we have to be avant or can we be ourselves?« (Jilian Weise, Cyborg Detective) »the prostheticized body is the rule, not the exception« (David Mitchell and Sharon Snyder, Narrative Prosthesis)

Für einen kulturwissenschaftlichen Zugang zum Phänomen Behinderung ist es unausweichlich, die Prothese gleichzeitig als am Körper materialisierte Technologie wie auch als produktive kulturelle Metapher zu verstehen, anhand derer sich wandelnde Konzeptionen von Verletzlichkeit, Rehabilitation und Autonomie nachvollziehen lassen, die in Disziplinen von Biologie und Medizin bis Ökonomie und Philosophie zum Teil sehr unterschiedlich verhandelt werden (vgl. Wills 1995; Jain 1999; Ott/Serlin/Mihm 2002; Serlin 2006; Harrasser 2016). Durch die Denkfigur des Cyborgs ist der prothesenunterstützte Körper seit spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts zu einem kulturellen Allgemeingut an der Schnittstelle von Science-Fiction und sozialer Realität avanciert, dessen Deutungsrahmen jedoch selten über das Stereotyp von technology as cure hinausgeht, und der für einen emanzipatorischen Zugriff auf ›Behinderung‹ sowohl Chancen als auch Tücken birgt (vgl. Cheyne 2013; Hollinger 2009; Allan 2013; Allan/al-Ayad 2015). Theoretisierungen prothetischer Körperlichkeit sind im abendländischen Denken tief verwurzelt und reichen von der cartesianischen Vorstellung des Körpers als ursprüngliche Prothese des Geistes zu Freuds ikonischem Prothesengott (1981/1930), Arnold Gehlens Mängelwesen-Theorie (2004/1940), Marshall McLuhans Medientheorie der technologischen Erweiterung (1964) und Donna Haraways »Cyborg Manifesto« (1991/1985). In seinem teilweise autobiographischen und theorieaffinen Standardwerk Prosthesis (1995) verzeichnet David Wills den Ursprung des medizinischen Sinnes von Prothesen in einem Wörterbuch aus dem Jahr 1704, wo erstmalig prosthesis als »replacement of a missing part of the body with an artificial one« registriert wird (Wills 1995, 218). Kulturhistorisch changiert der Prothesenbegriff zwischen den Modalitäten von Ersatz, Erweiterung und Verschränkung, durch die respektive ein Mangel, Mehrwert oder Netzwerk akzentuiert wird. Innerhalb der Disability Studies wird vor diesem Hintergrund eine

Konstruktion von Identität verhandelt, die naturalisierte Grenzziehungen zwischen Innen und Außen, Körper und Fremdkörper in Frage stellt und in Bezug auf das Phänomen Behinderung ambivalente soziale Mechanismen der Partizipation und Ausgrenzung impliziert.

13.1 Ersatz Eine Genealogie der Prothese als Schlüsselfigur einer »lädierten Moderne«, wie sie Karin Harrasser kulturtheoretisch umfassend erarbeitet hat, führt zum Beginn der industriellen Massenanfertigung von Prothesen im Amerika des späten 19. Jahrhunderts (Harrasser 2016). Angeführt durch die Entwickler A. A. Marks und Benjamin F. Palmer wurde die Prothese nicht nur zum Konsumgut und beliebten Vorzeigeobjekt des spät-viktorianischen Ingenieurwesens, sondern im Kontext des amerikanischen Bürgerkriegs auch zum Sinnbild eines sich rekonstruierenden Sozialkörpers. Anders als im Fall der künstlichen Glieder vorheriger Jahrhunderte, zielten Innovationen in der Prothesentechnik zu dieser Zeit erstmalig auf eine ästhetische wie auch physiologische Nachahmung der Mobilität des fehlenden Körperteils. Im Zuge der zunehmenden Urbanisierung und einer wachsenden Mittelklasse wurde demnach ein Wunsch Kriegs- und Industrieversehrter nach social passing bedient, speziell nach der Wahrung von Ansehen in einem sozialen Milieu, in dem das äußere Erscheinungsbild zusehends als Zeichen des inneren Charakters gelesen wurde (vgl. Mihm 2002). Verknüpft mit der zeitgleichen Entstehung der Dispositive von ›Behinderung‹ und ›Norm‹ (vgl. Davis 2006), war die Prothese als ein biopolitisches Instrument der Normalisierung in ein ambivalentes Regime der Sichtbarkeit eingebettet. Während Prothesen und ihre Träger*innen in den Katalogen, Patentanmeldungen und Weltausstellungsschaukästen zahlreicher Hersteller allgegenwärtig waren, zielte die neue Technik auf das optische Verschwinden amputierter Körper aus dem öffentlichen Raum und zementierte ein Narrativ der Wiederherstellung, das bis heute den biomedizinischen Diskurs prothetischer Körperlichkeit dominiert (vgl. Mihm 2002; Harrasser 2016). So hat die frühe Prothesentechnik zwar das Maß an sozialer Teilhabe für Menschen mit Amputationen gesteigert, eine höhere Akzeptanz körperlicher Differenz ging damit jedoch nicht zwangsläufig einher. Im Laufe des Ersten Weltkriegs entwickelte sich die

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_13

13  Prothesen und Cyborgs

Prothetik zu einem wegweisenden Forschungsfeld und erfolgte insbesondere in Deutschland im Zeichen der Wiedereingliederung Kriegsversehrter in den nationalen Produktionsapparat (s. Kap. 39). Exemplarisch ist hier die Arbeit von Georg Schlesinger an der 1915 eingerichteten Prüfstelle für Ersatzglieder. Wie Harrasser erläutert, war das Ziel der Prothetik Schlesingers »ein Armersatz, nicht ein Ersatzarm«, d. h. die Entwicklung von funktionalen Ansatzstücken, die den Stumpf des Handwerkers unmittelbar mit der zu bedienenden industriellen Maschine verbinden (Harrasser 2016, 122). Wenngleich nur eine von vielen Umsetzungen, nimmt diese Entkopplung der Prothetik vom biolog(ist)ischen Körperbild eine Hybridisierung von Mensch und Maschine vorweg, die besonders auch durch ihren Einfluss auf die Kunst des frühen 20. Jahrhunderts die Ästhetik des postmodernen Cyborgs antizipiert (vgl. Biro 1994; Harrasser 2016, 171–168). Exemplarisch sind hier die Zergliederungen und Prothesenkörper in den dadaistischen Collagen Raoul Haussmanns oder die Verschmelzung von Mensch und Kriegsmaschinerie in den Bildern der italienischen Futuristen.

13.2 Erweiterung Untersuchungen von Prothesen als Erweiterung führen abseits der konkreten Anwendung u. a. zur Gestalttheorie von David Katz und der Phänomenologie Merleau-Pontys, durch die das Augenmerk auf die subjektive Wahrnehmung und sensorische Projektion von Körpergrenzen gelenkt wird (vgl. Harrasser 2016, 226–237; Shildrick 2013; Barad 2007, 153–161). Ein oft zitiertes Fallbeispiel ist die Verlängerung des Tastsinns durch den Blindenstock, das in Karen Barads Interpretation von Merleau-Ponty eine Aufweichung vermeintlich selbstevidenter Trennlinien zwischen Körper und Umwelt signalisiert (Barad 2007, 157), eine Schlussfolgerung, die in Erfahrungsberichten von Prothesenträger*innen und Rollstuhlnutzer*innen nicht selten ist (vgl. Diedrich 2001; Sobchack 2006; Nelson/ Shew/Stevens 2019). Die zentrale Frage in Donna Haraways »A Cyborg Manifesto«: »Why should our bodies end at the skin?« (Haraway 1991/1985, 178) greift auf Überlegungen zurück, die zeitgleich zur Hochphase der Gestaltpsychologie um 1944 auch die Kybernetik — nach Norbert Wiener die Studie der Regelung und Kommunikation im Lebewesen und in der Maschine — beschäftigten. Wie Katherine Hayles erklärt, war eine der verstörendsten und potentiell revolutio-

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närsten Konsequenzen der Wienerschen Kybernetik »the idea that the boundaries of the human subject are constructed rather than given« (Hayles 1999, 84). Der Weg zum Cyborg — jenem technologisch erweiterten Organismus, der 1960 von Manfred E. Clynes und Nathan S. Kline im Kontext der Weltraummedizin durch die integrierte homöostatische Selbstanpassung an eine variierende Umwelt definiert wurde (vgl. Clynes/Kline 1960) — war bereits in Wieners Populärwerk The Human Use of Human Beings (1954/1950) vorgezeichnet. Sein vorletztes Kapitel widmet sich explizit den Versprechungen der Kybernetik für die Zukunft der Prothesentechnik und antizipiert »machines [that] may be used to make up for the losses of the maimed and of the sensorially deficient, as well as to give new and potentially dangerous powers to the already powerful« (Wiener 1954, 176). Die Verschiebung von Kompensation und Korrektur hin zur Verstärkung der Sinne inauguriert das sowohl von Euphorie als auch von Unbehagen geprägte Narrativ des Cyborgs als prothetischem Übermenschen, in dessen Spiegel die Grenze zwischen Science-Fiction und Realität seit den 1960er Jahren zusehends verschwimmt. Ein einschlägiges und frühes Beispiel für die literarische Verhandlung von Behinderung in expliziter Anlehnung an die Kybernetik liefert Bernard Wolfes dystopischer Roman Limbo (1952), in dem die Selbstermächtigung des Mängelwesens durch freiwillige Amputation und Ausstattung mit leistungssteigernden Prothesen zur Staatsräson erklärt wird. Acht Jahre vor den ersten Paralympischen Spielen 1960 in Rom (s. Kap. 14) evoziert Wolfe in seinem Roman den prothetisch-erweiterten Superathleten als Volkshelden und Symbol des neuen Menschen: »the first real hyphenated Renaissance man« (Wolfe 1952, 155– 156). Während in diesem Fall kaum von einer emanzipatorischen Darstellung von Behinderung gesprochen werden kann, drängen sich jedoch frappierende Parallelen zu den kontrovers geführten Debatten um die Paralympics im frühen 21. Jahrhunderts auf. Die mediale Rhetorik um die ›Cheetah‹-Prothesen von Aimee Mullins und Oscar Pistorius sowie die Inszenierung von Paralympics-Athlet*innen als »superhumans« in der groß angelegten Werbekampagne des britischen Channel 4 aus dem Jahr 2012 (vgl. Harrasser 2013, 35–52; 2017) oszilliert zwischen »cyborg anxiety« (Swartz/Watermeyer 2008) und dem Narrativ des »supercrip« (Schalk 2016). Der Blick auf Behinderung bleibt in diesen oftmals technofetischistischen Zurschaustellungen außergewöhnlicher Körperlichkeit ein exotisierender, der wenig zur Destigmatisierung

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I  Vorstellungen in Praxis und Theorie  –  C  Umgang mit Behinderung

von Menschen mit Behinderung außerhalb des Hochleistungssports beiträgt. Ganz im Gegenteil wird hier ein Ideal der Selbstoptimierung und Überwindung körperlicher Grenzen zelebriert, das nicht zuletzt an den Impuls der Transhumanisten vom Schlage des ehemaligen US-Präsidentschaftskandidaten Zoltan Istvan anknüpft, der 2016 dafür einstand, nicht in barrierefreie Infrastruktur, sondern in Biotechnologie zu investieren, um Behinderung zu »eliminieren« (Istvan 2015). Getragen von Science-Fiction-Visionen des Übermenschen, ausgestattet mit Exoskelett oder gar jeglicher mortaler Leiblichkeit durch mind upload entledigt, wird in transhumanistischen Diskursen seit Ray Kurzweil ein konservatives Bild von Gesundheit und Krankheit perpetuiert, das im Lichte eines »techno-ableist« (Goodley/Lawthom/Runswick-Cole 2014, 351) Fortschrittsdogmas körperliche Beeinträchtigung als Makel abhorresziert und damit exkludierenden Normalisierungsideologien des 19. Jahrhunderts neuen Aufschwung verleiht (vgl. Lohse 2019).

13.3 Verschränkung Haraways Polemik des Cyborgs sollte dezidiert nicht als ein Ruf nach Überwindung des Körpers missverstanden werden. Vielmehr ist sie bestrebt, den immer schon hybridisierten Menschen der maskulin-scientistischen Deutungshoheit zu entreißen und als emanzipatorisches Modell für »fractured identities« produktiv zu machen (Haraway 1991, 155). Ihr Cyborg funktioniert als eine Metapher für das subversive Potential ontologischer Grenzüberschreitungen und neuer Verkopplungsmöglichkeiten jenseits normativer Körperbilder. Innerhalb der Critical Disability Studies spiegelt sich Haraways überschwengliche Rhetorik vor allem in den Schriften Margrit Shildricks wider, die im Rückgriff auf poststrukturalistische Denker wie Deleuze und Derrida den ›behinderten‹ Körper als »a material site of possibility« rekonzeptualisiert (Shildrick 2009, 122; vgl. 2013; 2015; 2017). Als Vorreiterin dessen, was sich in Anlehnung an Critical Posthumanism (vgl. Herbrechter 2009; Wolfe 2010; Braidotti 2013) und New Materialism (vgl. Coole/Frost 2010; Bennett 2010) als Posthuman Disability Studies etabliert hat (vgl. Goodley/Lawthom/Runswick-Cole 2014; Goodley/Lawthom/Liddiard u.  a. 2018; Mitchell/Antebi/Snyder 2019), entgegnet Shildrick humanistischen Idealisierungen von Autonomie mit der Vorstellung von Verkörperung als »assemblage« (Shildrick 2017). Der unterstützungsbedürftige

Körper wird dadurch zum Normalfall und nicht durch Mangel, sondern durch ein spezifisches Netzwerk von Verschränkungen — entanglements (vgl. Barad 2007) — mit seiner materiellen und diskursiven Umwelt definiert. Prothesen — von Holzbein zu Magensonde, Assistenztier und Pflegenetzwerk — sind in den Posthuman Disability Studies weder Ersatz noch Erweiterung eines defizitären statischen Subjekts, sondern Teilnehmende in einem Kollektiv menschlicher und nichtmenschlicher Akteure, durch das agency im Latourschen Sinne aufgeteilt wird (vgl. Latour 1999, 174– 215; Mitchell/Antebi/Snyder 2019; Tarapata 2020). An die Stelle von Autonomie, Unabhängigkeit, Beeinträchtigung und Verbesserung treten »Teilsouveränität« (Harrasser 2013, 112), »relational subject« (Goodley/Lawthom/Runswick-Cole 2014, 352), »transcorporeality« (Shildrick 2017, 144) und »transmobility« (Nelson/Shew/Stevens 2019). An die Stelle von Haraways »Cyborg Manifesto« treten selbstbestimmte Theoretisierungen wie Aimi Hamraies und Kelly Fritschs »Crip Technoscience Manifesto« (2019). Haraway wird in diesen Kontexten produktiv, jedoch durchaus auch kritisch rezipiert (vgl. Siebers 2006, 178; Garland-Thomson 2006, 261; Weise 2016; Mitchell/Antebi/Snyder 2019, 19). Ihre glorifizierten Techno-Chimären, so der berechtigte Einwand, lassen in ihrer universalisierenden Metaphorik wenig Raum für am prothetischen Körper materialisierte Umstände wie Schmerz, Barrieren, Erschöpfung, Stigma und Fragilität und bergen das Risiko, die Lebensrealität von Menschen mit Behinderung zu verschleiern oder gar auszuklammern. Wenngleich in der Reduktion auf Mensch-Technologie-Überschneidungen und Produktivität für die Erfassung von Behinderungserfahrung umstritten, bleibt der Cyborg eine einflussreiche Denkfigur in der intersektional-feministischen Kulturtheorie (s. Kap. 46) und wurde, neben Haraways eigenen Folgewerken, insbesondere durch Stacy Alaimos Bodily Natures (2010) für ökologische und affektive Verschränkungen zwischen Mensch und Umwelt weiterentwickelt. Unter Bezugnahme auf Garland-Thomsons Einsicht, dass alle Körper fundamental von ihrer Umwelt geformt sind, definiert Alaimo »human corporeality as trans-corporeality, in which the human is always intermeshed with the more-than-human world« (Alaimo 2010, 2) und nimmt damit nicht nur Shildricks Mobilisierung des transcorporeality-Begriffs vorweg, sondern leitet auch eine Vernetzung zwischen den Disability Studies und den Environmental Humanities ein, die besonders im Rahmen zeitgenössischer Anthropozän-Diskurse zu-

13  Prothesen und Cyborgs

sehends an Relevanz und kritischer Substanz gewinnt (vgl. Ray/Sibara/Alaimo 2017). Literatur

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Moritz Ingwersen

14 Sport

14 Sport Der Sport von Menschen mit Behinderung wird von einer breiten Öffentlichkeit in Deutschland meist nur anlässlich der paralympischen Winter- oder Sommerspiele beachtet. Abseits dieser jeweils alle vier Jahre im Anschluss an die Olympischen Spiele stattfindenden Events findet der Behindertensport kaum Aufmerksamkeit. Wenngleich sich die Berichterstattung und mithin die medial verbreiteten Bilder von Sport und Behinderung in den letzten Jahren stärker auf die Beachtung der sportlichen Leistungen als auf die Beeinträchtigung der Athletinnen und Athleten konzentrieren, stehen Einzelpersonen und deren Geschichten nach wie vor häufig im Vordergrund. In Deutschland löste etwa der einseitig oberschenkelamputierte Weitspringer Markus Rehm in den letzten Jahren Debatten aus – nicht zuletzt weil er oftmals größere Weiten erzielte als vermeintlich nichtbehinderte Springer. Rehm oder auch der auf zwei Prothesen laufende südafrikanische Leichtathlet Oscar Pistorius warfen – um mit Karin Harrasser zu sprechen – Fragen nach der »technischen Erweiterbarkeit des Menschen« zu einer Art »Körper 2.0« auf. Fernab technikaffiner Utopien zielten die Debatten um Pistorius und Rehm jedoch auch auf zentrale Fragen, die den Sport behinderter Menschen bereits seit Jahrzehnten begleiten: Wo liegen die Grenzen zwischen Nicht-Behinderung und Behinderung, wenn beide Begriffe letzten Endes ein immer wieder neu verhandeltes Konstrukt darstellen? Sollten Menschen mit Behinderung überhaupt Leistungssport betreiben? Was hat der leistungsmäßige Behindertensport noch mit der ursprünglichen Rehabilitationsmaßnahme für Kriegsversehrte zu tun? Und welche Personengruppen konnten und durften Behindertensport zu welchem Zeitpunkt betreiben? Im folgenden Beitrag soll diesen Fragestellungen mit einem Fokus auf Entwicklungen in (West-)Deutschland sowie einem Blick auf die internationale paralympische Bewegung nachgegangen werden.

14.1 Rehabilitation versehrter Soldaten als Impulsgeber In gewisser Hinsicht ist der Behindertensport eine Erfindung des ›modernen‹ Krieges. Denn erstmals experimentierten Ärzte in den Lazaretten des Ersten Weltkriegs mit gezielten turnerischen und sportlichen Übungen, welche die körperliche Leistungs-

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fähigkeit versehrter Soldaten erhalten oder weitestgehend wiederherstellen sollten (s. Kap. 39). In Deutschland überführten zahlreiche medizinische Experten ihre Expertise im Anschluss an den Ersten und insbesondere den Zweiten Weltkrieg in den Aufbau einer durch Vereine getragenen Behindertensportorganisation. Angesichts seiner personellen und sportmedizinischen Wurzeln in Lazaretten zeichneten den Sport behinderter Menschen von Beginn an Narrative der körperlichen Wiederherstellung, aber auch der Schicksalsüberwindung und des Heroismus aus. Noch während des Zweiten Weltkriegs dominierten dabei im deutschen Fall propagandistisch überhöhte Motive der Härte gegen sich selbst, mit der ein physisches Defizit kompensiert werden solle. Idealerweise war ein durch gezielte Maßnahmen so weit als möglich wiederhergestellter Körper freilich erneut den kriegswirtschaftlichen Bedürfnissen zuzuführen. Wenngleich diese Motive nach 1945 obsolet wurden, so fanden einige Elemente der Nutzenorientierung und eine gewisse militärische Tradition Einzug in den bundesrepublikanischen Behindertensport und sollten diesen über Jahrzehnte prägen: Der bis in die 1970er Jahre als staatlich finanzierte Wiedereingliederungsmaßnahme konzipierte ›Versehrtensport‹, wie er zeitgenössisch genannt wurde, richtete sich anfangs nahezu ausschließlich an körperlich beeinträchtigte Veteranen, die wieder fit für die Erwerbsarbeit gemacht werden sollten. Entsprechend hielten ›Versehrtenleibesübungen‹ in den 1950er Jahren Einzug in die Regelungen des Bundesversorgungsgesetzes, welche eine ständige ärztliche Begleitung der Übungsabende sowie den utilitaristischen Charakter des frühen Behindertensports festschrieben. Aus dieser Orientierung resultierte auch eine grundsätzliche Skepsis gegenüber dem Einzug des Wettkampf- und Leistungsprinzips im Sport behinderter Menschen. Ganz im Sinne des zeitgenössischen Verständnisses von Behinderung sollte ein körperlicher ›Schaden‹ durch intensiv betriebenen Sport nicht noch verstärkt werden. ›Versehrtensport‹ galt eher als ›Wettkampf gegen sich selbst‹ und den als individuell und schicksalhaft interpretierten ›Defekt‹. Als Trägerorganisation eines derart verstandenen Behindertensports fungierte ab 1951 die ›Arbeitsgemeinschaft Deutscher Versehrtensport‹ (später ›Deutscher Versehrten-Sportverband‹ DVS), welche auf Funktionärsebene bis in die 1980er Jahre stark von kriegsversehrten Männern und im Krieg sozialisierten Sportmedizinern geprägt bleiben sollte.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_14

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I  Vorstellungen in Praxis und Theorie  –  C  Umgang mit Behinderung

14.2 Integration und Exklusion nach Gender sowie Ursache und Art der Beeinträchtigung Diese Rahmenbedingungen prägten den zunächst vorwiegend homosozialen Raum des ›Versehrtensports‹, der noch mehr als der Sport der Nichtbehinderten in weiten Teilen des 20. Jahrhunderts vor allem eine ›Männersache‹ war. Lange Zeit waren es jedoch nicht nur Männer, sondern explizit kriegsversehrte Männer, die im Behindertensport anzutreffen waren – und in der Bundesrepublik war dieser Zusammenhang von Gender und Ursache der Beeinträchtigung besonders stark ausgeprägt. Für zahlreiche behinderte Veteranen stellten die Übungsabende über ihren funktionellen Nutzen hinaus einen Ort der gemeinsamen Schicksalsbewältigung und der fortgesetzten Kameradschaftlichkeit dar. Mithin waren Vergemeinschaftung in einem weitgehend exklusiven Umfeld und die Kompensation der zeitgenössisch ganz im Sinne des medizinischen Modells von Behinderung (s. Kap. 4) als Defizit verstandenen Beeinträchtigung eng miteinander verknüpft. Wie die australische Soziologin Raewyn Connell betont, steht das Geschlecht auf dem Spiel, wenn Sport etwa aufgrund einer dauerhaften körperlichen Beeinträchtigung nicht mehr betrieben werden kann (Connell 2015, 106). Sich sportlich zu betätigen und zugleich zu ›beweisen‹ konnte somit für viele behinderte Menschen als eine Art Coping-Strategie gelten, die vor allem für Männer eine Demonstration ungebrochener Virilität eröffnete. Für Menschen, deren Beeinträchtigung auf eine Krankheit oder einen Unfall zurückging, für behinderte Frauen und Kinder sowie insbesondere für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung war der Zugang zu Behindertensportangeboten lange Zeit erschwert. Die überwältigende Mehrheit der Vereinsgründungen nach dem Zweiten Weltkrieg ging auf die Initiative kriegsversehrter Männer zurück, die in der Folge das Selbstverständnis des gesamten DVS über Jahrzehnte prägten. Zivilbehinderte Personen waren zwar seit den 1950er Jahren in zahlreichen Vereinen vertreten, doch wurden sie bisweilen von der Mehrheit der Kriegsversehrten nur widerwillig aufgenommen. Dies lag nicht zuletzt an der bis in die 1970er Jahre geltenden rechtlichen und versicherungstechnischen Ungleichbehandlung durch die staatliche Sozial- und Versorgungspolitik: Lediglich der Sport kriegsversehrter Menschen wurde staatlicherseits finanziert, für alle weiteren Gruppen behinderter Menschen erfolgte eine Gleichbehandlung erst nach um-

fassenden Gesetzesinitiativen der sozialliberalen Koalition ab den frühen 1970er Jahren. Behinderte Frauen hatten ferner gegen persistente Vorurteile anzukämpfen, die sich auf eine vermeintliche Zurschaustellung defizitärer Körper im Sport bezogen. Dabei verstärkten sich zeitgenössische Diskriminierungsmechanismen gegenüber Frauen und gegenüber behinderten Menschen gegenseitig: Debatten um den Sport behinderter Frauen kreisten wesentlich stärker um ästhetische Aspekte sowie die Erhaltung eines ansprechenden Äußeren ›trotz‹ körperlicher Beeinträchtigung. Entsprechend wurde bei den ersten Sportveranstaltungen für behinderte Frauen besonderer Wert darauf gelegt, als spezifisch ›weiblich‹ erachtete Wettkampf-, Turn- und Tanzangebote zu schaffen. Behinderte Kinder wurden in Deutschland erst nach den öffentlich diskutierten Folgen des sogenannten Contergan-Skandals Anfang der 1960er Jahre als Zielgruppe behindertensportlicher Angebote ausgemacht. Eine diskursive Hochphase des Alltagslebens behinderter Menschen kulminierte dabei ab Ende der 1960er Jahre in Impulsen aus einer gesteigerten sozialpolitischen und sozialwissenschaftlichen Aufmerksamkeit für die Belange behinderter Menschen. In der Folge wurde der vormals in einem gesellschaftlich kaum beachteten Raum stattfindende Behindertensport für neue Zielgruppen und Inhalte geöffnet: utilitaristischen Motiven der körperlichen Wiederherstellung wurden nun verstärkt selbstbestimmte, spaßbetonte und, sofern gewünscht, auch dezidiert leistungssportlich orientierte Angebote zur Seite gestellt (Tews 1976, 121). Ein Symbol dieses Wandels war die von massiven internen Auseinandersetzungen begleitete Umbenennung des ›Deutschen Versehrtensportverbands‹ in ›Deutscher Behindertensportverband‹ (DBS) 1975. Dass im Zuge dieser Pluralisierungstendenz allerdings nicht alle gruppenhierarchischen Restriktionen verschwanden, beweist die Gruppe geistig beeinträchtigter Personen. Beharrliche Stereotypen (s. Kap. 51) und Berührungsängste vieler körperbehinderter Sportlerinnen und Sportler verhinderten eine flächendeckende Integration geistig beeinträchtigter Menschen in die Behindertensportorganisation. Erst mit der zögerlichen Rezeption der Special-Olympics-Bewegung, die von den USA ausging und sich ab den späten 1960er Jahren global etablierte, fand sich für diese aufgrund der Art ihrer Beeinträchtigung benachteiligte Personengruppe eine vergleichbare Plattform. Einen Meilenstein stellte dabei die Gründung von ›Special Olympics Deutschland‹ im Jahr 1991 dar.

14 Sport

14.3 Genese der internationalen paralympischen Bewegung Auf einen ähnlichen Gründungszusammenhang wie der bundesdeutsche ›Versehrtensport‹ ist die Entstehung der internationalen paralympischen Bewegung zurückzuführen: In der Abteilung für Rückenmarksverletzungen des Stoke Mandeville Hospitals behandelte der als Vater der Paralympics geltende Sportmediziner Ludwig Guttmann kriegsversehrte britische Veteranen. Der Historikerin Julie Anderson zufolge betrachtete Guttmann seine Patienten bisweilen als ›Versuchskaninchen‹ (guinea pigs) und erkannte dabei bald die körperlich und mental günstigen Auswirkungen regelmäßigen Sports (Anderson 2011, 143). Während in der Bundesrepublik in den ersten Nachkriegsjahrzehnten in erster Linie am Turnen orientierte Beweggründe der Gesunderhaltung und körperlichen Ertüchtigung betont wurden, setzte Guttmann schon früh auf eher am britischen Sportbegriff angelehnte Spiel- und Wettkampfformen. Ein etwa zeitgleich zu den Olympischen Spielen in London 1948 ausgetragener Wettkampf im Bogenschießen – mit allerdings nur 16 Teilnehmern des Stoke Mandeville Hospitals – gilt heute als Geburtsstunde der Paralympics. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sollten sich die nationalen und internationalen Strukturen organisatorisch bedeutend transformieren und inhaltlich tiefgreifend erweitern, was zentral mit der Pluralisierung der behindertensportlichen Zielgruppen zusammenhing. Denn während zu Beginn nur rollstuhlfahrende Athletinnen und Athleten an den ›Weltspielen der Gelähmten‹ teilnahmen, wie die Paralympics ursprünglich genannt wurden, kamen nach und nach weitere sogenannte ›Schadensklassen‹ hinzu: 1976 nahmen an den Sommerspielen in Toronto erstmals auch amputierte Sportlerinnen und Sportler sowie sehbehinderte Personen teil. Bei der nächsten Auflage 1980 im niederländischen Arnheim kamen Teilnehmende mit Zerebralparese hinzu, ab 1984 – die Sommerspiele wurden in New York und Stoke Mandeville veranstaltet – wurde die Kategorie ›Les Autres‹ eingeführt. Darin versammelten sich körperbehinderte Starterinnen und Starter, die sich schlichtweg nicht den anderen ›Schadensklassen‹ zuordnen ließen. Menschen mit geistiger Beeinträchtigung nahmen bei den Spielen in Atlanta 1996 zum ersten Mal im Rahmen der Sommerparalympics an Wettbewerben teil. Insgesamt deutet die Entwicklung der Pluralisierung des Teilnehmerfelds auf eine beharrliche Wirkmächtigkeit des medizinischen Modells von Behin-

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derung samt entsprechender Diagnostik und die Notwendigkeit der Unterteilung in vergleichbare Leistungsklassen hin. In gewisser Hinsicht befördert die kompetitive Logik des Leistungssports mithin eine Interpretation von Behinderung, welche die körperliche Funktionalität und nicht die soziale oder kulturelle Perspektive auf Behinderung in den Mittelpunkt rückt. Mittlerweile führt dies zu einer nahezu unüberschaubaren Fülle an Medaillenentscheidungen bei Paralympischen Sommerspielen: In Tokio 2021 werden in 22 Sportarten 540 Wettkämpfe ausgetragen, im Vergleich zu lediglich 339 Entscheidungen in 33 Sportarten bei den kurz zuvor angesetzten Olympischen Sommerspielen. Die erst seit 1976 regelmäßig veranstalteten Winterparalympics umfassten bei ihrer jüngsten Auflage 2018 hingegen die im Vergleich niedrigen Zahlen von 80 Wettkämpfen in sechs Sportarten. Bezeichnend für die allgemeine Geschichte von Menschen mit Behinderung ist das lange Zeit ange­ spannte Verhältnis zwischen den globalen Dachverbänden des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) und des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC). Dies schlug sich in Auseinandersetzungen um die Verwendung des Wortteils ›-lympisch‹ nieder und in der Weigerung einiger Austragungsorte Olympischer Spiele, auch die Wettkämpfe behinderter Menschen zu veranstalten – so u. a. München 1972 und Los Angeles 1984. Die heute selbstverständliche Ausrichtung der Olympischen und der Paralympischen Spiele am selben Ort ist erst seit 1988 (Seoul) obligatorisch. Eine sich parallel dynamisierende Professionalisierung der Organisationsstrukturen des globalen Behindertensports schlug sich in der Folge auch in dessen medialer Repräsentation nieder: Die Wettkämpfe in Südkorea waren die letzten, denen im deutschen Fernsehen lediglich Raum in Gesundheitsmagazinen und nicht in einer dezidierten Sportberichterstattung beigemessen wurde.

14.4 Wandel der Wahrnehmung von Behinderung An der Hinwendung zum Leistungssport und der seit den 1970er Jahren generell einsetzenden Ausdifferenzierung der behindertensportlichen Angebotspalette lässt sich aber auch ein übergeordneter Wandel von rein medizinischen Interpretationen von Behinderung zum sozialen und kulturellen Modell von Behinderung ablesen. Behinderte Menschen selbst die Art und Intensität ihres Sportes wählen zu lassen, po-

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I  Vorstellungen in Praxis und Theorie  –  C  Umgang mit Behinderung

tentiell schädlichen Leistungssport nicht einzuschränken und riskantere, dynamische Sportarten nicht zu verbieten – wie dies in den ersten Nachkriegsjahrzehnten in der Bundesrepublik noch geschah – ist eben auch Anzeichen einer Transformation gesellschaftlicher Wahrnehmungen von Behinderung sowie einer wachsenden sportlichen Selbstbestimmung. Die Gelenke schonendes Schwimmen und spezifische Behindertensportarten wie Sitzball existieren mittlerweile neben Spielen wie Rollstuhlbasketball oder Rollstuhlrugby, die auch bei nichtbehinderten Personen beliebt sind. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten aufgrund des hohen Verletzungsrisikos noch kritisch betrachtete Wintersportarten wie Krückenskilauf profitieren zudem mittlerweile von einer signifikant verbesserten technischen Ausstattung und einer medialen Popularisierung, die auch auf den internationalen Erfolg deutscher Para-Wintersportlerinnen und -sportler zurückzuführen ist. Am längsten hielten sich Vorbehalte gegenüber dem Leistungs- und Wettkampfprinzip im Sport geistig beeinträchtigter Menschen. Debatten darüber, inwiefern geistig beeinträchtigte Personen diese Prinzipien überhaupt verstünden, hielten sich bis deutlich ins 21. Jahrhundert. Hieran zeigt sich erneut, dass Transformationsprozesse in der Wahrnehmung von Behinderung nie alle behinderten Menschen gleichermaßen erfassen und folglich von einer äußerst heterogenen Personengruppe mit höchst unterschiedlichen Selbstbestimmungs- und Gestaltungsmöglichkeiten sowie gesellschaftlich wirkmächtigen ›Lobbies‹ ausgegangen werden muss. Der Sport behinderter Menschen fungiert vor diesem Hintergrund spätestens seit den 1980er Jahren auch als Ort der Integration verschiedener Gruppen behinderter Menschen sowie behinderter und nichtbehinderter Menschen. Dies zeigte sich in zahlreichen Städten der Bundesrepublik beispielhaft an der Gründung von insgesamt etwa 200 sogenannten Integrationssportgruppen, die für alle Gruppen behinderter Menschen unabhängig von der Art oder Ursache der Beeinträchtigung zugänglich waren. Sie zeichneten sich vor allem durch ihre Zielsetzung aus, durch gemeinsamen Sport den Abbau von Vorurteilen und Berührungsängsten voranzutreiben, um somit letztlich einen Beitrag zu einer inklusiveren Gesellschaft zu leisten. Etwa zur gleichen Zeit begannen sich der klassisch rehabilitative, funktional orientierte Behindertensport und Sportangebote für chronisch kranke Personen sowie der sogenannte Seniorensport wechselseitig zu inspirieren. Behindertensportvereine öff-

neten sich etwa zunehmend für ›Koronarsportgruppen‹, die für Menschen mit Herzerkrankungen ins Leben gerufen wurden, oder auch für den Sport mit an Multipler Sklerose erkrankten Menschen. Die signifikante Steigerung der Mitgliederzahlen des Deutschen Behindertensportverbands von etwas über 100.000 Mitgliedern zu Beginn der 1980er Jahre auf heute deutlich über 500.000 Sportlerinnen und Sportler lässt sich maßgeblich auch durch die im Rehabilitations- und Gesundheitssport verwischende Grenzziehung zwischen Behinderung, chronischer Erkrankung und Nichtbehinderung erklären. Gewissermaßen schlug sich hierbei in der Praxis eine Perspektiverweiterung nieder, die seit den 1970er Jahren im Zentrum sozial- und kulturwissenschaftlicher Studien zur Freizeitgestaltung und zur Integration (später Inklusion) (s. Kap. 16) behinderter Menschen sowie zum wandelbaren Konstruktionscharakter von Dis/ability stand. Was allerdings die öffentliche Wahrnehmung des Behindertensports angeht, so dominieren in den letzten Jahren Diskurse über die eingangs angesprochenen, mit High-Tech-Prothesen ausgerüsteten Leistungssportlerinnen und -sportler. Besonders augenfällig zeigte sich dies etwa im Rahmen der Paralympics 2012 in London, als ein britischer TV-Sender offensiv mit behinderten Athletinnen und Athleten als futuristischen ›superhumans‹ warb. Diese lassen nicht nur die Grenzen zwischen Behinderung, Nichtbehinderung und vermeintlich ›übermenschlicher‹ Leistungskapazitäten verschwimmen. Sie werfen auch mehr denn je die Frage auf, wie sich die Notwendigkeit der Einteilung möglichst fairer Leistungsklassen und das historisch äußerst wandlungsfähige Konstrukt Behinderung vereinbaren lassen. Dass die von ständigen Transformationen geprägte Beziehungsgeschichte von Behinderung und Sport zudem auch Neuauflagen überkommen geglaubter Hierarchisierungen erleben kann, beweist die in jüngster Zeit entstandene Initiative der Invictus-Games. Die 2014 zum ersten Mal ausgetragenen Wettkämpfe für körperlich und/oder psychisch beeinträchtigt aus dem Kriegseinsatz zurückgekehrte Soldatinnen und Soldaten erfreuen sich insbesondere im anglo-amerikanischen Kulturraum wachsender Beliebtheit. Da sportlicher Wettkampf, individuelle ›Schicksalsüberwindung‹ und ein gewisser Veteranenkult hierbei jedoch stark miteinander vermengt werden, ruft dieses Revival des exklusiven Kriegsversehrtensports gerade hierzulande auch eher kritische Reaktionen hervor.

14 Sport Literatur

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Sebastian Schlund

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I  Vorstellungen in Praxis und Theorie  –  C  Umgang mit Behinderung

15 Separation/Segregation Separation/Segregation bezeichnet als Wort, seiner lateinischen Herkunft nach, den Vorgang des Trennens (eigentlich: von der Herde). Als Begriff wird damit die Identifizierung einer Differenz bezeichnet und jene soziale Praxis, durch welche der (gemachte/hergestellte) Unterschied markiert wird, d. h. »einen Unterschied macht«, insofern dieser mit sozialen Effekten oder Macht versehen ist (Bourdieu 2015; 2016). Es handelt sich um Differenzen insbesondere in jenen Lebensbereichen/Praxen, in denen die Nutzung von Unterschieden zu Herrschaftsformen stabilisiert wird oder mit Effekten der Marginalisierung und Diskriminierung belegt ist oder kumuliert. Zwar führen die Unterschiede nicht zu Exklusionsprozessen einzelner Akteur*innen des Systems – Separation/Segregation kann als Systemdifferenzierung und damit Verhinderung von Exklusion betrachtet werden –, doch lassen sie auch keine Erfahrungen von Anerkennung (Honneth 2010; Stojanov 2006) oder Resonanz (Rosa 2016; 2019) innerhalb eines sozialen Bezugsnetzes oder Systems zu. Der identifizierte Unterschied wird institutionalisiert, damit eben auch kristallisiert und mit sozialen Folgen belegt, obschon er zumindest indirekte Wertschätzung erfährt. Als Beispiel kann ein äußerlich differenziertes Schulsystem wie etwa in Deutschland oder Österreich genannt werden, das nachweislich formale Bildungsunterschiede tradiert und festigt und damit zugleich eine umfassende und gemeinsame Bildung fragmentiert. Dennoch werden alle Kinder und Jugendlichen in das Schulsystem integriert. Innerhalb der Behindertenpädagogik wird daran anknüpfend von ›indirekter Integration‹ in/durch sonderpädagogische/n Institutionen gesprochen, die tatsächlich Segregationsräume darstellen, allerdings ihrem Selbstverständnis nach Maßnahmen der Eingliederung sind (Speck 2008). Wockens (z. B. 2001) Systematik der »Qualitätsstufen der Behindertenpolitik und -pädagogik« zufolge wird auf der Stufe der Separation wohl das Recht auf Bildung verwirklicht, nicht aber jenes auf gemeinsames Lernen und soziale Teilhabe. Auch wenn mit sozial-segregierender Praxis die Bildsamkeit durch pädagogische Unterstützung Anerkennung erfährt, wird den betroffenen Menschen Solidarität (oder gar die umfassende Verwirklichung von Rechten) nicht zuteil. Eben diese sind aber im Geiste der Menschenrechte notwendig, um Bildung für alle und jede*n zu verwirklichen (CRPD, Art. 24; UDHR, Art. 1, 26), so dass – nach inklusiver Perspektive – Separation gerade nicht ein Weg zu

mehr Gemeinsamkeit und Miteinander ist, sondern ein Hindernis dabei. Diese Vorstellung findet sich auch in dem häufig referierten Prozessmodell von (schulischer) Inklusion (s. Kap. 16): Diesem zufolge ist Inklusion Ziel und Ideal eines Verwirklichungsprozesses von Selbstbestimmung und Teilhabe (konkrete Freiheit = konkrete Ordnung, Bloch 1985), an dessen Beginn deren Auslöschung und Ausschluss stehen, die aber dann über Phasen der Separation und Integration zu einer egalitär pluralistischen Gesellschaft führen (Sander 2004; Hinz 2004). Zwar beschreibt Separation/Segregation einen sozialen Prozess im Sinne von Tätigkeitsrelationen (d. h. Praxis: Benner 2005) oder Systemdifferenzierung (Luhmann 1987), nichtsdestoweniger sind die anthropologische und kulturpädagogische Perspektive besonders aufschlussreich. Das Bedürfnis nach Institutionalisierung ergibt sich dieser zufolge aus der Umprägbarkeit und Unspezifizierbarkeit der Menschen (Mängelwesen, Offenheit, Imperfektibilität), die sie mit kulturellen Praxen in konkreten Aufgaben zu bewältigen versuchen (Landmann 1982). Kultur wird dem Menschen insofern zur ›zweiten Natur‹, die aber anders als seine Natürlichkeit nicht vererbt, sondern für ihn als Bedingung seiner Selbstbestimmung/Persongenese erfahrbar wird. Kultur muss erweiternd erhalten (d. h. tradiert) und insofern als Kulturen erfahren werden. Diese Vorgänge der Konservierung (und adaptiven Aktuierung, d. h. ein In- und Miteinander von Form und Inhalt des Prozesses) werden an gemeinsamen Aufgaben individuell bewältigt, wozu Institutionen als berechenbare und sichere (vertrauensvolle) Ermöglichungsräume eingerichtet werden. Kultur als zweite Natur ›rechnet‹ folglich mit der umfassenden – gar vollständigen – Teilhabe aller Menschen an diesem Prozess der Aufgabenbewältigung. Die von Heller (1981) ins Spiel gebrachte »eigentliche Gattungsmäßigkeit« liegt außerhalb individueller Existenz (stumme Gattungsmäßigkeit) und kann erst über das »Involviert-sein«, d. h. durch Praxis und mithin in »individuellen Verhältnissen« verwirklicht werden. Es ist dies die Marxsche (2005) Forderung nach einem »durchgeführten Naturalismus und Humanismus« der Menschen. Die »begriffene und gewusste Bewegung des Werdens« stellt die praktische Be(s)tätigung Natur des Menschen dar, so dass die klassisch bezeichnete Selbstbildung eine gemeinsam-geteilte ist und Menschen für sich und einander (wieder) Mensch werden. Dieser Lesart nach verstellt Separation/Segregation die Möglichkeit lebendiger, echter Resonanzerfahrungen (Rosa 2016; 2019) und gefährdet das Menschsein an

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_15

15 Separation/Segregation

sich (Entfremdung), weil sie gegen wechselseitige Bestätigung gerichtet ist (Stern 1924; Marx 2012). Zudem wird der Eindruck erweckt, als könne Selbstbestimmung und Teilhabe gegeneinander ausgespielt werden, während – der kulturpädagogischen Lesart nach – Freiheitsausübung immer soziale Praxis meint und nicht deren reduzierte Form in exklusiven Räumen. Die Vorstellung von Humanität, wonach die Menschlichkeit an individuellen Menschen sich verkörpere und so erst die Menschheit verwirklicht werde (Landmann 1982) bzw. Humanität sich in einem dialektischen Prozess individueller Tätigkeiten materialisiert verwirklichen muss (Marx 2005; 2018; Bloch 1985), steht auch im Einklang mit klassischer Bildungstheorie (Humboldt 2010), sofern diese praxeologisch und sozial-transformativ gelesen wird (Wigger 2009; Stojanov 2006; Koller 2009). Das wiederum ist anschlussfähig an eine marxistisch-tätigkeitstheoretische Auffassung von Bildung, insofern das umfassende und vielfältige In-Verbindung-Setzen eines ›Ich‹ mit ›Welt‹ als Selbstverwirklichung und Realisierung von Mensch-Sein verstanden wird, d. h. Bildungsbewegungen keine Aneignungsprozesse von Objekten darstellen, sondern die Untrennbarkeit von Mensch und Welt und damit die beständige Veränderung – auch des Bewusstseins – implizieren (Fromm 2018). Kultur wird so besehen nicht als Sache mechanisch angeeignet, sondern erfahrend erschlossen und erprobt. Dies führt einerseits zu Veränderungen von Kulturen, andererseits aber auch zu Entwicklungsbewegungen der Akteur*innen dieser Praxis. Darin liegen etwa auch die bildungstheoretisch bedeutsamen Momente der Kontingenz (s. Kap. 44) und Bildsamkeit. Segregierende Praxen sind mit dieser kulturpädagogischen Perspektive von Bildung kaum in Einklang zu bringen, es sei denn, es würde die Möglichkeit des offenen und transformatorischen Austausches zwischen den (separierten, aber kommunizierenden) sozialen Räumen in Rechnung gestellt. Diese würden dann aber nicht mehr scharf abgrenzt sein können, sondern eher der attischen Vorstellung von Grenzräumen entsprechen, die es durch Bewegungen zu erhalten gilt. Trotzdem erübrigte sich die Notwendigkeit von Verortungen nicht, die sich aus der Leibgebundenheit von Menschen folgern lässt (Plessner 1975). An dieser Stelle kann mit Bourdieu (1991; 2015; 2016) kritisch ergänzt werden, dass es eben genau diese räumlichen Verortungen sind, die verkörpert werden und als Habitus die Wahrnehmungs-, Geschmacks-, Denk- und Handlungsstrukturen von Menschen vorstrukturieren und damit erneut einen Unterschied

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machen oder diesen verfestigen. So bestehen etwa Wechselwirkungen zwischen Wohnsituationen, Formen des Bewohnens und Raumerschließens oder Institutionalisiert-Seins eben auch mit der Verwertbarkeit von Bildungs- oder Sozialkapital sowie politischen Überzeugungen. Ambivalenzen zeigen sich aber auch in Institutionen, die Kompensation und Illusion versprechen – Orte verbindender Widersprüche. Raumphilosophisch lässt sich die Gleichzeitigkeit unvereinbarer Erwartungen, Ansprüche und offener Notwendigkeiten – jeweils als Totalbestimmung – mit dem Begriff »Heterotopie« (Foucault 2017) beschreiben. Selbst in gemeinsamen sozialen Räumen/Feldern herrschen immer wieder segregierende Praxen, so dass mitunter von der »Integration der Inklusion in die Segregation« (Feuser 2018) gesprochen wird. Institutionelle Segregationen/ Separationen sind zumeist beständig, und entsprechende Reformvorhaben betreffen »nebensächliche Änderung[en]«, was als »reformistisch« (Dussel 2013) bezeichnet wird. Gefordert werden deshalb Transformationen der Institutionen, die mit der Befreiung der Unterdrückten zu beginnen haben (ebd.). So sehr also Sondereinrichtungen die Logik segregierender Praxen fortführen und sichern, so sehr stellen sie auch eine Limitierung von Selbstbestimmung und sozialer Teilhabe sowie eine Fixierung im Sozialraum dar, weil grundlegende Rechte und Anerkennungsformen von dort platzierten Menschen eben nicht realisiert werden können. Separation/Segregation hemmt insofern Bildungsbewegung und Entwicklung und unterliegt der Gefahr, dass die Fragmente an Realitäten für die Wirklichkeit gehalten werden. Entfremdungserfahrungen können sich einstellen, die außerdem Ordnungen als unveränderlich erscheinen lassen und die Verwirklichung »sozialen Singulär-werdens als Involviert-sein« hemmen (Marx 2018; Rosa 2016; Heller 1981). Literatur

Benner, Dietrich: Allgemeine Pädagogik. Eine systematischproblemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns. Weinheim-München 52005. Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung [1959]. Frankfurt a. M. 1985. Bourdieu, Pierre: Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum. In: Martin Wentz (Hg.): Stadt-Räume. Frankfurt a. M./New York 1991, 25–34. Bourdieu, Pierre: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns [1994]. Frankfurt a. M. 92015. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft [1979]. Frankfurt a. M. 252016.

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I  Vorstellungen in Praxis und Theorie  –  C  Umgang mit Behinderung

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Robert Schneider-Reisinger

16  Teilhabe und Inklusion

16 Teilhabe und Inklusion Der Begriff ›Inklusion‹ entstammt der Soziologie, hat seine steile Karriere aber in der Sonderpädagogik und im Anschluss daran in der Behindertenhilfe und -politik erlebt. Große Dynamik entfaltete er durch die UNBehindertenrechtskonvention (UN-BRK) (s. Kap. 30), die am 26. März 2019 in Deutschland in Kraft trat. Dort wird Inklusion allerdings nirgend direkt definiert und auch nur an wenigen Stellen, auf Englisch als inclusion oder inclusive, erwähnt. Dass inclusive in der offiziellen Übersetzung an einigen Stellen mit ›integrativ‹ übersetzt wurde, sorgte für Diskussionen und führte zu einer Übersetzung zivilgesellschaftlicher Organisationen, in der inclusive mit ›inklusiv‹ statt ›integrativ‹ wiedergegeben wird, um eine Abgrenzung von ›Integration‹ deutlich zu machen. Grundlegend für die UN-BRK ist in Artikel 3 die inclusion in society, amtlich übersetzt mit ›Einbeziehung in die Gesellschaft‹. »Es handelt sich um ein universell gültiges menschenrechtliches Prinzip mit dem Ziel, allen Menschen auf der Basis gleicher Rechte ein selbstbestimmtes Leben und die Teilhabe an allen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens zu ermöglichen.« (Wansing 2015, 53)

Diese Aspekte gesellschaftlichen Lebens sind in den Artikeln 19 bis 30 dargestellt. Große Bedeutung erlangten in der Diskussion in Deutschland u. a. die Aspekte unabhängige Lebensführung (s. Kap. 21), Bildung (s. Kap. 7), Arbeit (s. Kap. 8), angemessener Lebensstandard und Teilhabe am politischen und öffentlichen sowie kulturellen Leben. Grüber/Bussenius/Weinert (2019) unterscheiden zwischen einem politischen Inklusions-Begriff, der u. a. bildungspolitisch und zur Abgrenzung von Integration verwendet wird; einem wissenschaftlichen, wertfreien Verständnis mit soziologischen und systemtheoretischen Bezügen; und einer Verwendung von Praktikern in der allgemeinen öffentlichen Diskussion mit handlungsleitender Funktion, großer Heterogenität und inhaltlicher Offenheit.

16.1 Exklusion, Segregation, Integration und Inklusion Weit verbreitet im Behinderungsdiskurs ist ein Verständnis von Inklusion als Endpunkt einer historischen Entwicklung. Diese reicht von Exklusion über Separation bzw. Segregation und Integration bis hin

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zur Inklusion und wird oft bildlich als eine zeitliche Abfolge dargestellt (z. B. Aktion Mensch 2020; Bürli 2016). • Exklusion wäre – am Beispiel Arbeit – die fehlende Teilhabemöglichkeit am Arbeitsleben, z. B. von Menschen mit geistiger Behinderung. Vor der Gründung der ersten Werkstätten für behinderte Menschen waren diese weitgehend von gewerblich organisierter Arbeit ausgeschlossen. • Segregation (s. Kap. 15) bedeutet Trennung von Menschen mit und ohne Behinderung und unterschiedliche Institutionen für beide Gruppen. • In der Phase der Integration werden Versuche unternommen, Menschen mit Behinderung in einem ›normaleren‹ Arbeitsumfeld zu beschäftigen. Organisationsformen im Schulwesen wie Einzelintegration oder Kooperationsklassen finden sich analog im Erwerbsleben wieder als Außenarbeitsgruppen oder sozialraumorientierte Einzelarbeitsplätze, in denen Menschen mit Behinderung zwar noch WfbM-Beschäftigte (Beschäftigte in Werkstätten für behinderte Menschen) bleiben, aber für den Arbeitsalltag ihre Sonderwelt verlassen. • Inklusion schließlich würde – diesem Verständnis nach – bedeuten, dass Menschen mit Behinderungen wie Menschen ohne Behinderungen die gleichen Chancen haben auf ein Regelarbeitsverhältnis auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mit allen damit verbundenen Arbeitnehmerrechten. Diese Stufenfolge ist sehr vereinfachend, weil sie manche Aspekte, wie z. B. die Bedeutung der sozialen Beziehungen der Menschen mit und ohne Behinderung untereinander, vernachlässigt und die verschiedenen Konzepte als völlig getrennte Paradigmen behandelt (Kastl 2017, 212), obwohl sie theoretisch wie praktisch zusammenfallen können.

16.2 Inklusion/Exklusion in den Sozialtheorien In den soziologischen Theorien wurde aufbauend auf den Gedanken von Thomas Marshall zu Staatsbürgerechten das Konzept von Talcott Parsons und später von Niklas Luhmann weiterentwickelt. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Differenzierung moderner Gesellschaften in verschiedene gesellschaftliche Systeme wie z. B. Wirtschaft, Recht, Kunst oder Religion mit je eigenen Funktionen. Die Zugehörigkeit zu einem System entscheidet sich nach Luhmann nach der Differenz Inklusion/Exklusion. Menschen erfahren

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_16

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I  Vorstellungen in Praxis und Theorie  –  C  Umgang mit Behinderung

in funktional differenzierten Gesellschaften keine Voll­inklusion, wie sie z. B. in segmentären Gesellschaften über Inklusion in einen Familienverband erfolgte, sondern sind nur in einzelne Teilsysteme inkludiert. Inklusion kann dabei in einer Gesellschaft verstanden werden als »Chance der sozialen Be­ rücksichtigung von Personen« (Luhmann 1997, 620) oder als »[...] die strukturelle Einbeziehung von Individuen in bestimmte gesellschaftliche Zusammenhänge (Systeme, Teilsysteme, Organisationen, Gruppen, Institutionen). Strukturell ist diese Einbeziehung, insofern sie durch Strukturen, d. h. verlässliche und reziprok erwartbare Vorkehrungen und Dispositionen gewährleistet ist.« (Kastl 2017, 238)

Damit ist Inklusion auch eine Frage struktureller Passungen und der »Erwartungskomplementarität« (Luhmann) zwischen einem Individuum und den Anforderungen des Systems. In der geschichtlichen Entwicklung und der Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Teilsysteme ergab sich eine immer umfassendere Inklusion und Einbeziehung weiterer Bevölkerungskreise z. B. über die Einbeziehung von Frauen in das allgemeine Wahlrecht oder von Kindern mit schwerer Beeinträchtigung in das Schulsystem. Die Annahme, dass man in »den entwickelten westlichen Ländern [...] mittlerweile davon ausgehen [könne], dass Inklusion als universeller Anspruch aller Gesellschaftsmitglieder gegenüber allen Teilsystemen prinzipiell anerkannt« sei (Burzan/Lökenhoff/Schimank u. a. 2008, 26), könnte allerdings von blinden Flecken zeugen, wenn man bedenkt, dass 2008 weder Minderjährige noch Menschen unter Vollbetreuung das allgemeine Wahlrecht besaßen und damit aus dem politischen System weitgehend exkludiert waren. Eine besondere Bedeutung bei dem Zugang zu Funktionssystemen kommt Rechten, Rollen und Ressourcen zu (Kastl 2018). So war z. B. ein ›inklusives‹ Wahlrecht eine wichtige Forderung der UN-BRK, und erst in einem längeren Prozess wurde in Deutschland der Wahlrechtsausschluss von über 80.000 Menschen, die unter Vollbetreuung stehen und der vor allem Menschen mit Behinderungen betraf, 2019 auf Bundesebene aufgehoben (Kulke 2020). Rechte definieren auch Rollen, über die man in ein System inkludiert werden kann. Systemtheoretisch wird hier zwischen Publikumsrollen (z. B. Wähler*innen) und Leitungsrollen (z. B. Politiker*innen) unterschieden.

Die Inklusion von Menschen mit Behinderung kann auch über »Sonderrollen« (Kastl 2017, 230) erfolgen, z. B. bei Kindern mit Schulbegleiter*innen im Unterricht. Und persönliche sowie umweltbezogene Ressourcen sind nötig, um Rechte wahrnehmen und Rollen ausüben zu können. Um das 2019 erhaltene allgemeine Wahlrecht auszuüben, sind nicht nur Kompetenzen zum Treffen einer Wahlentscheidung, sondern auch barrierefreie Zugänge zu den Wahllokalen nötig. Insofern stellt Barrierefreiheit (s. Kap. 6) in der Umwelt der Person und als Aspekt des Teilsystems ein wichtiges Element dar, damit Inklusion auch zu Teilhabe führen kann – denn Inklusion alleine gewährleistet diese noch lange nicht. Zentral ist das Begriffspaar Inklusion/Exklusion in der Ungleichheits- und Armutsforschung (s. Kap. 48), in denen der Begriff ›soziale Exklusion‹ Prozesse unerwünschter sozialer Ungleichheit und sozialer Ausgrenzung beschreibt (Schütte 2018). Der von relativ dauerhafter sozialer Exklusion betroffene Personenkreis wird in der Debatte oft als die ›Überzähligen‹ oder die ›Abgehängten‹ apostrophiert. Systemtheoretisch bedeutet soziale Exklusion den Ausschluss aus einzelnen Teilsystemen, die über eine ›Exklusionsdrift‹ und kumulative und sich gegenseitig verstärkende Exklusionsprozesse zu einer neuen Qualität an Teilhabeeinschränkungen führt. Wichtig ist dabei die Beobachtung, dass die Entwicklung, Beschleunigung und zunehmende Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften ständig neue Exklusionsrisiken produziert. Die Gefahr der sozialen Exklusion wird aber durch die Leistungen der klassischen Behindertenhilfe und ihre ›Sonderwelten‹ reduziert.

16.3 Integration Weniger im Sinne des bildungspolitischen Paradigmas denn als sozialwissenschaftliches Konzept kann Integration sinnvoll an Inklusion anschließen. Wenn Inklusion als Einbeziehung in die Gesellschaft und als Teilhabechance zu verstehen ist, aber noch nichts über die Umsetzung dieser Chancen aussagt, bezeichnet Integration den »Aspekt der Art und des Ausmaßes der Einbindung von Personen/Individuen in soziale Beziehungen bzw. des Zusammenhalts (Kohäsion) sozialer Zusammenhänge« (Kastl 2018, 665). Wichtig ist dabei, dass der Begriff keine positive Wertung besitzt, sondern neutral ist. In einer strengen systemtheoretischen Perspektive ist Integration nichts Anderes als die »Reduktion der Freiheitsgrade

16  Teilhabe und Inklusion

von Teilsystemen« (Luhmann 1997, 603), d. h. dass die Freiheitsgrade bei hochintegrierten, kohäsiven Systemen geringer sind. David Lockwood (1964) unterscheidet zwischen Sozialintegration (Einbeziehung von Individuen in gesellschaftliche und soziale Prozesse) und Systemintegration (Anschlussfähigkeit gesellschaftlicher Teilsysteme untereinander) (vgl. Kastl 2017; Möller 2013). Im Anschluss an Max Weber kann zusätzlich zwischen gesellschaftlicher und gemeinschaftlicher Sozialintegration unterschieden werden (Möller 2013). • Systemintegration bedeutet die Anschlussfähigkeit und Abstimmung verschiedener Teilsysteme. Durch Maßnahmen wie begleitete Praktika von Förderschüler*innen der Oberstufe in Betrieben oder über die Begleitung von Inklusionsfachdiensten wird versucht, die ungenügende Abstimmung zu verbessern und die Übergangsquoten von Förderschulen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu steigern und insbesondere für Schüler*innen aus dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung den ›Automatismus‹ des Übergangs von der Förderschule in eine Werkstatt für behinderte Menschen zu durchbrechen. • Gesellschaftliche Sozialintegration bedeutet die Inklusion und mehr oder weniger erfolgreiche Teilhabe in einem sozialen System bzw. einer sozialen Struktur: Absolvent*innen der Förderschule erhalten über das Budget für Arbeit einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz mit einer bestimmten Position und daran gebundenen Rollenerwartungen. Die Arbeitgeber*innen erhalten für die Minderleistung einen Ausgleich. Die damit verbundene Arbeitsassistenz könnte aber die Absolvent*innen in eine ›Sonderrolle‹ drängen. • Gemeinschaftliche Sozialintegration meint die sozialen Beziehungen der Menschen in einem System untereinander und wieweit diese von Respekt und Wertschätzung geprägt sind: Mitarbeiter*innen sind auf ihrem Arbeitsplatz mehr oder weniger gut sozial eingebunden, machen gemeinsam Pause mit Kolleg*innen und gehören einer betriebseigenen Volleyballgruppe an. Da diese drei Arten von Integration unabhängig voneinander sind, führt die Inklusion in ein Teilsystem also keineswegs auch zu einer gemeinschaftlichen Sozialintegration; dies wird an den zahlreichen Berichten über inklusiv beschulte Kinder deutlich, die in ihren Klassen aufgrund ihrer Beeinträchtigung nicht die Wertschätzung und Anerkennung wie andere Kinder erfahren (z. B. Ewald 2016).

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16.4 Teilhabe – Teilnahme – Partizipation Ein zentraler Begriff sowohl der UN-BRK als auch der Sozialpolitik ist ›Teilhabe‹, womit in der UN-BRK participation übersetzt wurde. Teilhabe findet sich direkt in Artikel 3 als einer der acht Grundsätze der UNBRK: »Full and effective participation and inclusion in society« (Welke 2012, 19). Der Begriff wurde bereits in den 1920er Jahren von Ernst Forsthoff eingeführt und seit dem Jahr 2000 sozialrechtlich immer bedeutender, vielleicht gerade aufgrund seiner inhaltlichen Unbestimmtheit. So bleibt oft unklar, ob damit die Chancen zu einer Handlung, die Handlung selbst oder gar die Folgen einer Handlung gemeint sind. Ebenso wäre zu prüfen, ob Teilhabe immer positiv besetzt ist (Kastl 2017, 236). Geht es bei Teilhabe um den Zugang zu oder die Nutzung von Rechten oder Gütern? Wenn also, um im obigen Beispiel zu bleiben, volle und wirksame Teilhabe auch am politischen Leben (Art. 29 UN-BRK) gefordert wird, ist es hinreichend, dass die Menschen unter Vollbetreuung das Wahlrecht erhalten oder sollen sie davon auch Gebrauch machen? In der politikwissenschaftlichen Diskussion um Partizipation wird hier zwischen Teilhabe als Option und Teilnahme als Umsetzung unterschieden. Und wenn Teilhabe etwas Positives sein sollte, wäre nach der Bewertungsinstanz zu fragen. Sinnvoll erscheint, deutlicher zwischen Teilhabechancen und tatsächlicher Teilhabe als Aktivitäten zu unterscheiden und von Wertungen abzusehen, weil es evident ist, dass z. B. Teilhabe an Arbeit sowohl positiv als auch negativ erlebt werden kann. Ins Zentrum der Diskussion rückte der Begriff 2001, als das Sozialgesetzbuch (SGB) IX ›Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen‹ in Kraft trat, das Teilhabe in enger Beziehung mit Selbstbestimmung und Eigenverantwortung sieht (Seel 2017, 179). Später wurde das Konzept auch in den Armutsdiskurs und die Armutsberichterstattung aufgenommen, so dass das Teilhabe-Konzept zunehmend als bedeutende Dimension bzw. Folge sozialer Ungleichheit und Diskriminierung erscheint und in einem allgemeinen sozialpolitischen Diskurs verortet wird (vgl. Diehl 2017). Anders als in anderen Sozialpolitikfeldern hat Teilhabe im Kontext von Behinderung aber durch die 2001 von der Weltgesundheitsorganisation beschlossene »International Classification of Functioning, Disability, and Health« (ICF) eine umfassende konzeptionelle Fundierung. Bedeutsam ist die ICF, weil sie die Grundlage z. B. für die Ermittlung von Teilhabebedarfen und die Pla-

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I  Vorstellungen in Praxis und Theorie  –  C  Umgang mit Behinderung

Abb. 16.1Teilhabe als Ergebnis von Wechsel­ wirkungen in der ICF (DIMDI 2005, 21)

nung und Erbringung von Teilhabeleistungen nach dem durch das Bundesteilhabegesetz reformierten SGB IX darstellt. In der ICF (Abb. 16.1) ergeben sich ›Aktivitäten und Teilhabe‹ aus einer Wechselwirkung zwischen individuellen Faktoren (›Körperfunktionen‹ und ›Gesundheitsproblemen‹) sowie Kontextfaktoren (›Umweltfaktoren‹ und ›personbezogenen Faktoren‹) und berücksichtigen insofern auch Ideen aus dem sozialen Modell von Behinderung. Teilhabe meint dabei das Einbezogensein in eine bestimmte Lebenssituation. Die ICF unterscheidet für ›Aktivitäten und Teilhabe‹ verschiedene Felder mit typischen Lebenssituationen wie ›Lernen und Wissensanwendung‹, ›Mobilität‹, ›bedeutende Lebensbereiche‹ oder ›Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben‹, deren mehr oder weniger starke Ausprägungen auch durch Umweltfaktoren (wie Einstellungen der sozialen Umwelt) im Einzelfall ermittelt werden können. Damit wird deutlich, dass eine gelingende tatsächliche Teilhabe Teilhabemöglichkeiten als strukturelle und soziale Voraussetzungen und Teilhabefähigkeiten als Kompetenzen des Individuums verlangt (Weiß 2019). Dass Teilhabe und Partizipation oft, so z. B. in der deutschen Fassung der ICF, synonym gebraucht werden, unterschlägt wichtige Aspekte von Partizipation (Beck/Nieß/Silter 2018). Partizipation ist mehr als nur Teilhabe, die auch passiv sein kann, denn sie bedeutet in von Politik- und Sozialarbeitswissenschaft ausgearbeiteten Modellen und Konzepten aktives Mitgestalten, Mitwirken und Mitbestimmen – auch über die Voraussetzungen und Bedingungen von Inklusion, Integration und Teilhabe selber. Praktisch bedeutet dies z. B. auf individueller Ebene Mitbestimmung bei der Teilhabeplanung und auf der strukturellen Ebene Beteiligung von Interessenverbänden an der Gesetzgebung und ihrer Umsetzung. Hier wird deutlich, dass die Konzepte Inklusion, Integration und Teilhabe sowie Partizipation unabhängig voneinander zu denken sind und auch in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen können.

Inklusion in gesellschaftliche Teilsysteme ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung, weder für Teilhabe im Sinne von aktiver Teilnahme an sozialen Prozessen noch für Integration im Sinne von gemeinschaftlicher Sozialintegration (vgl. Kastl 2017, 236–237). Das Teilsystem muss Teilhabemöglichkeiten bieten, und die Individuen müssen die Kompetenzen und die Bereitschaft für eine aktive Teilhabe besitzen, aus der sich dann auch auf der Ebene der sozialen Beziehungen eine gemeinschaftliche Sozialintegration ergeben kann.

16.5 Praktische Umsetzung und empirische Befunde zu Inklusion und Teilhabe Um das Ausmaß von Inklusion und den Erfolg von Messung von Inklusion und Teilhabe zu erfassen und um dem Grundgedanken von Inklusion gerecht zu werden, müssten Inklusion und die Teilhabechancen als Eigenschaft der Institutionen gemessen werden können, die für die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen offen sein sollen. Am bekanntesten ist sicherlich der in England von Tony Booth entwickelte Index für Inklusion, der u. a. im schulischen Bereich, aber auch auf Gemeinwesen angewendet wird. Er dient aber weniger einer kontrollierten wissenschaftlichen Erfassung von Inklusion denn als Anregung zur Umsetzung inklusiver Maßnahmen in Organisationen. Auch zur Messung von Teilhabe (als Teilhabechancen oder konkrete Teilnahme) gibt es inzwischen verschiedene Ansätze (Bartelheimer/Henke 2018). Das Berichtswesen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales wurde mit den Teilhabeberichten der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigung von 2013 und 2016 grundlegend umgestellt. Gaben die Behindertenberichte bis dahin in erster Linie einen Überblick über die politischen Maßnahmen und Leistungen, wurde nun auf wissenschaftlicher Grundlage und umfassend über die Lebenslagen von Menschen mit Behinderung

16  Teilhabe und Inklusion

berichtet (BMAS 2016). Zudem wurde mit dem Teilhabe-Survey eine erste wissenschaftliche Erhebung in Auftrag gegeben, die mit der Befragung von Menschen in Einrichtungen und von Menschen mit schwerwiegenden Kommunikationseinschränkungen auch Bevölkerungsgruppen erfasst, die in anderen auf Bevölkerungsrepräsentativität zielenden Erhebungen ausgeschlossen bleiben. Einen umfassenden Überblick über die mittlerweile rege Forschungstätigkeit gab der 1. Kongress der Teilhabeforschung 2019 in Berlin (Aktionsbündnis Teilhabeforschung 2019). Im zweiten Teilhabebericht des BMAS (BMAS 2016) und dem Bericht des Deutschen Instituts für Menschrechte zu zehn Jahren UN-BRK (MonitoringStelle 2019) werden vielfältige Einschränkungen der Teilhabe und Inklusion von Menschen mit Behinderung deutlich. • Im Teilhabe-Bereich ›Familie und soziales Netz‹ ist z. B. der Anteil der Alleinlebenden unter den Menschen mit Behinderung deutlich höher als bei Menschen ohne Behinderung; bei Letzteren scheint auch die Unterstützung durch das soziale Umfeld deutlich größer zu sein (BMAS 2016, 54–55). • Im Bereich ›Bildung und Ausbildung‹ haben sich zwar in allen Bundesländern die allgemeinbildenden Schulen für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf geöffnet – allerdings scheitert die schulische Inklusion oft an räumlichen und technischen Barrieren und an fehlenden personalen Ressourcen, so dass der Anteil der Schüler*innen an Förderschulen nur langsam zurückgeht (Monitoring-Stelle 2019, 32). • Im Bereich ›Arbeit‹ existiert ein System von Sonderarbeitsplätzen in den Werkstätten für behinderte Menschen, das zwar den Beschäftigten nach SGB IX die Teilhabe an Arbeit sichert, ihnen aber zentrale Arbeitnehmerrechte wie den Mindestlohn oder eine existenzsichernde Beschäftigung vorenthält. • Im Bereich ›Alltägliche Lebensführung und Wohnen‹ ist aktuell der starke Mangel an barrierefreiem Wohnraum gerade in den Ballungszentren ein zentrales Thema, erschwert er doch selbstständiges Wohnen. Beim stationären Wohnen bzw. Wohnen in besonderen Wohnformen ist die Zahl der begleiteten Personen in den letzten Jahren gestiegen; da aber die Zahl der ambulant betreuten Menschen noch stärker zunahm, wird hier ein Trend zu größerer Selbstständigkeit von Menschen mit Teilhabebedarf deutlich (BMAS 2016).

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• Besonderes im Bereich ›Freizeit, Kultur und Sport‹ wird die Ambivalenz (s. Kap. 44) von Inklusion deutlich. Einerseits haben Menschen mit Behinderung deutlich weniger an eigenen oder öffentlichen kulturellen und sportlichen Aktivitäten teil (BMAS 2016, 361–385), andererseits finden zunehmend spezielle Veranstaltungen für Menschen mit Behinderung statt, die, wie die Paralympics, auch ein größeres Medienecho finden (s. Kap. 14). • Im Bereich ›Sicherheit und Schutz der Person‹ werden insbesondere die hohe Zahl an institutionellen Zwangsmaßnahmen und die Viktimisierung von Frauen mit Behinderungen in Einrichtungen kritisiert (BMAS 2016, 413–419). Der empirische Überblick macht deutlich, wie sehr die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen gegenüber Menschen ohne Behinderung eingeschränkt ist. Dabei sind auch Intersektionalitäten, vor allem mit dem Geschlecht und dem Alter, zu berücksichtigen (s. Kap. 49). Alte Menschen sind wesentlich wahrscheinlicher schwerbehindert, so dass sich die Effekte von Alter und Behinderung nicht immer trennen lassen. Und Frauen mit Behinderung sind deutlich häufiger als Männer Opfer von behinderungsspezifischer Gewalt und leben auch seltener in Partnerschaften als Männer mit Behinderung, sind hier also ebenfalls doppelt diskriminiert (BMAS 2016, 410, 64).

16.6 Fazit und Ausblick Teilhabe und Inklusion von Menschen mit Behinderungen haben sich in Deutschland deutlich verbessert. Gleichwohl müssen noch erhebliche Anstrengungen unternommen werden, um Teilhabe von Menschen mit Behinderungen vollumfänglich zu erreichen. Folgende Aspekte sind hervorzuheben: • Inklusion zielt darauf, dass die strukturellen Bedingungen derart gestaltet sind, dass sie den individuellen Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen entsprechen. In Datenerhebung und Analyse müssen mehr Indikatoren auf struktureller Ebene partizipativ erarbeitet werden, um die Inklusion bzw. die ›Inklusivität‹ einer Gesellschaft und ihrer Institutionen abbilden zu können (Weber 2016). • Elementar für Inklusion ist der Wechsel der Perspektive vom Individuum auf die Gesellschaft. Auf der kommunalen Ebene, die durch das SGB IX stärker in den Bick rückte, zeigt sich das in verschiedenen Förderungen und Modellprogram-

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I  Vorstellungen in Praxis und Theorie  –  C  Umgang mit Behinderung

men zu »inklusiven Gemeinwesen« und »inklusiven Sozialräumen« (Plankensteiner/Greißl 2017). • Inklusion bedeutet auch, Chancen auf Teilhabe unabhängig von konkreten Bedarfslagen zu bieten. Dies steht in einem Widerspruch zu verschiedenen Fördersystematiken, bei denen eine Förderung an das Vorliegen individueller Bedarfe gebunden ist. Dies kann in sozialen Interaktionen zu Stigmatisierung führen, wie sie z. B. das EtikettenRessourcen-Dilemma im inklusiven Unterricht beschreibt, wenn ein Kind als ›behindert‹ etikettiert werden muss, um eine Schulbegleitung zu erhalten (Ewald 2016). Es wäre mehr im Sinne von Inklusion, wenn in diesem Beispiel die Klasse unabhängig von den Förderbedarfen einzelner Schüler*innen genügend Personal hätte, um inklusiv arbeiten zu können. • Inklusion und Teilhabe sind unabhängig voneinander. Teilhabe selber ist multidimensional und betrifft verschiedene Teilhabebereiche. Dies kann dazu führen, dass Zielkonflikte zwischen unterschiedlichen Teilhabebereichen vorliegen (vgl. z. B. Speck/Steinhart 2018). Hier muss in der Praxis die Teilhabe in verschiedenen Bereichen gegeneinander abgewogen werden. • ›Sonderinstitutionen‹ werden einerseits als nicht vereinbar mit der UN-BRK angesehen, erscheinen anderseits aber als notwendig und ihr vollständiger Abbau als nicht umsetzbar. Die Konzepte von Inklusion und Teilhabe machen hierzu strenggenommen keine Aussage. Inklusion in das Bildungssystem kann ebenso in Förderschulen erfolgen wie Teilhabe an Arbeit in WfbM (Werkstatt für behinderte Menschen). Mit Hinweis auf eigene kulturelle Identitäten wie z. B. der Gehörlosenkultur oder anthroposophischen Dorfgemeinschaften lassen sich eigene behindertenspezifische Angebote und ›Sonderinstitutionen‹ rechtfertigen. Eine Aufgabe wäre es dann, Sonderinstitutionen so zu gestalten, dass sie mehr Teilhabe ermöglichen. Eine innovative Form ist hier die etwas euphemistisch genannte ›inverse Inklusion‹, wenn in den ›Sonderinstitutionen‹ auch Leistungen für Menschen ohne Behinderung angeboten werden. Dabei dürfte es theoretisch hilfreich sein, Teilhabe und Inklusion als Kontinuum zwischen Sonderinstitutionen, integrativen Institutionen und der vollen Inklusion zu denken (Felder/Schneiders 2016, 25–28). • Insbesondere im Bereich Bildung und Erwerbsleben, aber auch im Alltag wirft Inklusion grund-

sätzliche gesellschaftliche Fragen auf, nämlich wie sie in einer Gesellschaft, die auf Wettbewerb ausgerichtet ist und kontinuierlich neue Exklusionsrisiken produziert, überhaupt gelingen kann (vgl. z. B. Boecker 2018). Inklusion ist eine Leitidee, bei der es darum geht, alle Lebensbereiche strukturell so zu gestalten, dass sie allen Menschen Teilhabemöglichkeiten eröffnet. Adressaten dafür sind in erster Linie die Politik und die intermediären Instanzen mit Einfluss auf die Gestaltung von Teilhabemöglichkeiten. Unter der Perspektive der gemeinschaftlichen Sozialintegration sind es aber auch die Menschen, die in ihren sozialen Interaktionen und Beziehungen einen Beitrag zu einer inklusiven Teilhabegesellschaft leisten können. Literatur

Aktion Mensch: Was ist Inklusion? 2020, http://www. aktion-mensch.de/dafuer-stehen-wir/was-ist-inklusion. html (19.03.2020). Aktionsbündnis Teilhabeforschung: 1. Kongress der Teilhabeforschung. 26. bis 27. September 2019 in Berlin. 2019, https://www.teilhabeforschung2019.de/programm.html (19.03.2020). Bartelheimer, Peter/Henke, Jutta: Vom Leitziel zur Kennzahl. Teilhabe messbar machen. Hg. FGW – Forschungsinstitut für gesellschaftliche Weiterentwicklung e. V. Düsseldorf 2018, http://www.fgw-nrw.de/fileadmin/user_ upload/FGW-Studie-VSP-02-Bartelheimer-2018_09_18komplett-web.pdf (19.03.2020). Beck, Iris/Nieß, Meike/Silter, Katharina: Partizipation als Bedingung von Lebenschancen. In: Gudrun Dobslaw (Hg.): Partizipation – Teilhabe – Mitgestaltung: Interdisziplinäre Zugänge. Opladen 2018, 17–42. Boecker, Michael: Teilhabe von Menschen mit Behinderungen unter neoliberalen Produktionsbedingungen. Eine kritische Reflexion struktureller Exklusion im Rückgriff auf Bourdieus Konstruktion des sozialen Raums. In: Teilhabe 57/2 (2018), 78–84. BMAS/Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Zweiter Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen. Berlin 2016. Bürli, Alois: Inklusion. a) Inklusion historisch: Integration und Inklusion. In: Markus Dederich/Iris Beck/Ulrich Bleidick/Georg Antor (Hg.): Handlexikon der Behindertenpädagogik. Schlüsselbegriffe aus Theorie und Praxis. 3., erw. und überarb. Aufl. Stuttgart 2016, 126–132. Burzan, Nicole/Lökenhoff, Brigitta/Schimank, Uwe/Schöneck, Nadine M.: Das Publikum der Gesellschaft. Inklusionsverhältnisse und Inklusionsprofile in Deutschland. Wiesbaden 2008. DIMDI/Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information: Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF). Berlin 2005. Diehl, Elke (Hg.): Teilhabe für alle?! Bonn 2017. Ewald, Tanja-Maria: Stigmatisierungsprozesse – Sichtwei-

16  Teilhabe und Inklusion sen, Forschungsbelege und Ableitungen für den inklusionsförderlichen Unterricht. In: Potsdamer Zentrum für Inklusionsforschung 6 (2016), 1–12. Felder, Marion/Schneiders, Katrin: Inklusion kontrovers. Herausforderungen für die Soziale Arbeit. Schwalbach, Ts. 2016. Grüber, Katrin/Bussenius, Sean/Weinert, Sebastian: Bericht »Was meinen wir eigentlich, wenn wir Inklusion sagen? Einleitende Überlegungen«. Fachtagung in Berlin »Was wir meinen, wenn wir INKLUSION sagen. Ethische Grundlagen und Praxis«. Eine Kooperationsveranstaltung vom Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW) und der Fürst Donnersmarck-Stiftung, Berlin, 7.11.2019. Berlin 2019. Kastl, Jörg Michael: Einführung in die Soziologie der Behinderung. Wiesbaden ²2017. Kastl, Jörg Michael: Inklusion. In: Hans-Uwe Otto/Hans Thiersch/Rainer Treptow/Holger Ziegler (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit. München 2018, 665–678. Kulke, Dieter: »Wahlrecht für alle?« – Ein Fallbeispiel für die Durchsetzung von Menschenrechten. In: Günter Rieger/ Jens Wurtzbacher (Hg.): Tatort Sozialarbeitspolitik. Weinheim/Basel 2020, 70–84. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1997. Lockwood, David: Social Integration und System Integration. In: George K. Zollschan/Walter Hirsch (Hg.): Social Change. Explorations, Diagnoses and Conjectures. New York 1964, 370–383 (dt.: Soziale Integration und Systemintegration. In: Wolfgang Zapf (Hg.): Theorien des sozialen Wandels. Köln/Berlin 1969, 124–137). Möller, Kurt: Kohäsion? Integration? Inklusion? In: Aus Politik und Zeitgeschichte 13–14 (2013), 44–51.

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Monitoring-Stelle/Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention: Wer Inklusion will, sucht Wege. Zehn Jahre UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland. Hg. Deutsches Institut für Menschrechte. Berlin 2019. Plankensteiner, Annette/Greißl, Kristina: Auf dem Weg in die inklusive Gemeinde: Perspektiven für die Praxis. Freiburg 2017. Schütte, Johannes D.: Soziale Inklusion: Utopie, Vision oder konkreter Gestaltungsauftrag? In: Ernst-Ulrich Huster/ Jürgen Boeckh/Hildegard Mogge-Grotjahn (Hg.): Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung. Wiesbaden 2018, 131–148. Seel, Helga: Der Begriff der Teilhabe. In: Deutscher Sozialgerichtstag e. V. (Hg.): Von der Integration zur Inklusion – Strukturwandel wagen. Stuttgart 2017, 178–190. Speck, Andreas/Steinhart, Ingmar (Hg.): Abgehängt und chancenlos? Köln 2018. Wansing, Gudrun: Was bedeutet Inklusion? Annäherungen an einen vielschichtigen Begriff. In: Theresia Degener/ Elke Diehl (Hg.): Handbuch Behindertenrechtskonvention. Teilhabe als Menschenrecht – Inklusion als gesellschaftliche Aufgabe. Bonn 2015, 53–54. Weber, Harald: Indikatoren für Inklusion. In: Ingeborg Hedderich/Gottfried Biewer/Judith Hollenweger/Reinhard Markowetz (Hg.): Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik. Bad Heilbrunn 2016, 612–617. Weiß, Hans: Teilhabe. In: Sonderpädagogische Förderung heute 1/2 (2019), 8–9. Welke, Antje (Hg.): UN-Behindertenrechtskonvention mit rechtlichen Erläuterungen. Berlin 2012.

Dieter Kulke

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I  Vorstellungen in Praxis und Theorie  –  C  Umgang mit Behinderung

17 Literatur in einfacher Sprache 17.1 Leichte Sprache, einfache Sprache Nicht ausreichend lesen und schreiben zu können ist ein gravierendes Hindernis für die berufliche, soziale, kulturelle und politische Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Sie betrifft viele Menschen: Etwa ein Viertel der Personen zwischen 18 und 64 Jahren in Deutschland zeigt eingeschränkte literale Fähigkeiten. Das sind etwa 20 Millionen Menschen, wie die leo.Studie zu Beginn des Jahrzehnts ergeben hat (Grotlüschen/Riekmann 2012). 13 Millionen von ihnen können lediglich einfache Texte lesen, allerdings nicht korrekt schreiben; und mehr als fünf Millionen aus dieser Gruppe können zwar auf der Satzebene Geschriebenes verstehen, aber Textzusammenhänge nicht erfassen. Nicht mehr als einzelne Wörter entziffern können immer noch etwa zwei Millionen Personen (ebd.). Geschätzte 30–40 % der Menschen mit geistiger Behinderung übertreffen beim Lesen die Satzebene des Verstehens (Bredel/Maaß 2019, 84). Einem großen Teil dieser Menschen könnte eine Sprachverwendung, die hinsichtlich ihrer Verständlichkeit optimiert wurde, entgegenkommen. Ein Konzept für ›Leichte Sprache‹ wird seit etwa 15 Jahren vom ›Netzwerk Leichte Sprache‹ entwickelt und propagiert; seit Kurzem ist das Regelwerk in einem Duden-Band gefasst (Bredel/Maaß 2016). Gegenwärtig gibt es viele praktische Anwendungen von Leichter Sprache: Beispielsweise sendet der Deutschlandfunk wöchentlich Nachrichten in Leichter Sprache, oder der Bundestag hat ein spezielles Übersetzungsbüro, wodurch wichtige Informationen des administrativen und politischen Alltags im Netz oder als Broschüre zugänglicher werden. Einige wesentliche Prinzipien Leichter Sprache sind: • Komposita werden durch den Mediopunkt getrennt (z. B. Rad·weg, Haus·tür). • Nur Hauptsätze. Pro Satz 1 Aussage. Mengenangaben in Ziffern. • Jeder Satz erscheint in einer neuen Zeile. Keine Silbentrennung. Zeilenumbruch nach Sinneinheiten. • Wenig frequente Wörter werden durch üblichere ersetzt oder eigens erklärt. Wortwiederholungen werden angestrebt. • Passiv, Konjunktiv, Nominalstil, Funktionsverbgefüge u. a. werden aufgelöst. • Unterstützende Illustrationen (vgl. das Regelwerk: Maaß 2015)

Texte, die nach einem Übersetzungsprozess in Leichter Sprache vorliegen, haben allerdings auch Nachteile: Der Textumfang wächst erheblich an, wenn die gleichen Inhalte vermittelt werden sollen. Durch die eingeschobenen Erklärungen für ungebräuchliche Wörter oder fachliche, aber unverzichtbare Begriffe wird der Nachvollzug des Textzusammenhangs erschwert, denn dadurch wird die Kohärenz des Textes in Mitleidenschaft gezogen. Orientierende Merkmale von Textsorten gehen durch die Übersetzung weitgehend verloren; damit fehlt auch die wichtige Unterstützung des Leseverstehens, die die Zugehörigkeit zu einer Textsorte bietet. Schließlich wäre die Übersetzung von Texten, deren sprachliche Gestalt ihre Bedeutung wesentlich mitbestimmt – also von Schöner Literatur – ein derart gravierender Eingriff, dass von einer Übersetzung nicht mehr gesprochen werden könnte, sondern eben ein anderer Text geschaffen würde (vgl. Bredel/Maaß 2019). Wenn dieses Regelwerk für Leichte Sprache nicht vollständig zur Anwendung kommt, sondern der Text gegenüber einem Ausgangstext zwar vereinfacht wird, aber wesentliche Momente – welche auch immer – des Ausgangstextes beibehalten werden, spricht man von »Einfacher Sprache« (ebd.; Bock 2015). Texte in vergleichsweise ungeregelter, vereinfachter Sprache, wie sie auch von Verlagen angeboten werden, sind entweder Originale oder unter teilweiser Beachtung der Regeln Leichter Sprache mehr oder weniger vereinfacht worden, meist auch gekürzt. Bei der Vereinfachung eines Ausgangstextes sind also einige Textschwierigkeiten aufgelöst, andere bestehen weiter, sei es, um das Original nicht zu sehr zu beschädigen, sei es, um die Textkomplexität möglichst adaptiv an die Lese- und Verstehenskompetenzen der anvisierten Adressat*innen anzupassen. In welchen Dimensionen können Texte vereinfacht werden? Die Antwort auf diese Frage impliziert einen systematischen Blick auf Textkomplexität: Wie lässt sich diese systematisch bestimmen?

17.2 Was macht Texte einfach, was macht sie schwierig? Was einfach, was komplex zu lesen ist, misst sich natürlich an der Lesekompetenz der Adressat*innen. Die Dimensionen von Textkomplexität lassen sich trotzdem angeben, indem man verschiedene mentale Anforderungen unterscheidet, die das Lesen von Texten an die kognitive Verarbeitung stellt. Die Kogniti-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_17

17  Literatur in einfacher Sprache

onspsychologie differenziert in diese Hinsicht fünf Ebenen von mentalen Leistungen (BMBF 2007, 11), die im folgenden Absatz zunächst benannt und nachfolgend einzeln ausgeführt werden. 1. Erstens müssen beim Lesen natürlich die Wörter und Sätze identifiziert werden. 2. Zweitens muss ein kleinräumiger Zusammenhang zwischen Satzteilen oder Sätzen hergestellt werden, die sogenannte lokale Kohärenz. 3. Parallel dazu muss übergreifende, globale Kohärenz gebildet werden, nämlich eine Vorstellung davon, wie die Textteile zusammenhängen könnten. All das geschieht schon während des Lesens. 4. Das gilt auch für die vierte Dimension von Leseleistungen, nämlich das Erkennen und Verarbeiten von sprachlichen Gestaltungsmitteln des Textes. Dabei kann es sich um kleinräumige handeln wie beispielsweise Metaphern, Ausdrucksweisen wie z. B. Ironie oder übergeordnete Konventionen wie beispielsweise Textsorten. Das mentale Pendant zu diesen Gestaltungskonventionen benennt die Kognitionspsychologie als ›Superstrukturen‹: Leser und Leserinnen, die diese Konventionen kennen, verfügen über solche Strukturen, mittels derer sie die Gestaltungsmittel identifizieren und verarbeiten. 5. Schließlich sollten die Darstellungsintentionen des Textes erkannt werden: Geht es ›zwischen den Zeilen‹ um Information, Agitation, Instruktion? Oder z. B. um die Wahrnehmung oder Erfahrung von Befindlichkeiten, Ereignissen, Zuständen? Entlang dieser fünf Ebenen, auf denen während des Akts des Lesens mentale Verarbeitungsschritte geleistet werden können oder ggf. auch müssen, lassen sich Dimensionen von Textkomplexität bestimmen. 1. Auf der hierarchisch niedrigsten Ebene von Leseleistungen, der Wort- und Satzidentifikation, geht es um den Grad der Schwierigkeit der sprachlichen Oberfläche eines Textes. Dafür werden oft Formeln in Anschlag gebracht, die die Anzahl langer Wörter und die durchschnittliche Satzlänge berücksichtigen, eventuell werden auch Wortwiederholungen, Komposita usw. einbezogen. Im deutschsprachigen Raum ist der sogenannte LIX am ehesten gebräuchlich. Er errechnet aus der durchschnittlichen Satzlänge und dem Anteil von Wörtern, die mehr als sechs Buchstaben haben, einen Wert, der die Schwierigkeit der sprachlichen Oberfläche angibt. Im Netz steht ein LIX-Rechner bereit, in den elektronisch vorhandene Textpassagen kopiert werden können; dort finden sich auch

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Maßstäbe zur Schwierigkeitseinstufung. Die Formel korrespondiert erstaunlich gut mit der holistischen Einschätzung der jeweiligen Textschwierigkeit durch Expert*innen (vgl. Bamberger/Vanecek 1984). Von Kinder- über Jugendbücher bis zur Literatur für Erwachsene wächst der LIX in der Regel an; Sachtexte weisen bei gleichen Adressatengruppen erwartungsgemäß einen höheren LIX auf als literarische, auch er wächst mit den unterstellten Lesekompetenzen der Adressat*innen an bis hin zu anspruchsvollen Fachtexten. Das ist aus linguistischer Perspektive nachvollziehbar: Frequente Wörter einer Sprache sind kürzer als ungebräuchlichere oder Fachbegriffe (Best 2006, 25). Und bei langen Sätzen sind in der Regel die Bestandteile untereinander verknüpft, z. B. durch Konjunktionen, die die Logik des Zusammenhangs angeben und dadurch die Schwierigkeit hinaufsetzen. Der LIX gibt Auskunft zur sogenannten ›Lesbarkeit‹ eines Textes – nicht zur ›Leserlichkeit‹, die die Handschrift oder Schrifttype, die materielle Erscheinungsqualität usw. betrifft. 2. Um Informationen zu realisieren, muss ein Zusammenhang zwischen Wortgruppen, Satzteilen oder Sätzen gebildet, d. h., sogenannte lokale Kohärenz hergestellt werden. Dafür ist bedeutend, wie prominent die Information platziert ist: Als Überschrift oder Anfang eines Satzes ist sie auffällig, ebenfalls dann, wenn sie wiederholt wird. Sprachlich einfache Texte beziehen sich in aufeinanderfolgenden Sätzen nach Möglichkeit auf den gleichen Referenten. Sie wiederholen Begriffe, anstatt sie, wie es die Stillehre wünscht, zu variieren – denn Redundanz vereinfacht Texte. Wenn neue Begriffe eingeführt werden, geschieht dies explizit und nur in begrenzter Anzahl. Schwieriger auf der Ebene der lokalen Kohärenz wird der Text, wenn für die Gewinnung der Information zwei oder mehr Stellen eines längeren Satzes oder von zwei Sätzen zusammengeschlossen werden müssen. Die Textverständlichkeitsforschung hat eine Fülle sprachlicher Mittel isoliert, die Propositionen aneinanderbinden und so die Herstellung lokaler Kohärenz anleiten. Beispielsweise Pronomen, die durch die Wiederholung des Nomens ersetzt werden können, oder auch die Thema-Rhema-Folge: Die bekannte Information (Thema) sollte bei einfachen Texten zunächst genannt, die neue (Rhema) jeweils an sie angebunden werden. Logische Zusammenhänge sind in einfachen Texten explizit formuliert, beispielsweise durch

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I  Vorstellungen in Praxis und Theorie  –  C  Umgang mit Behinderung

Konjunktionen wie ›obwohl‹, ›denn‹, ›indem‹, ›nachdem‹ usw. (vgl. Christmann 2008; BMBF 2007). Einfacher ist die lokale Kohärenz zu erfassen, wenn die Konjunktionen aufgelöst werden oder, wie es nach den Regeln Leichter Sprache erlaubt ist, ein Nebensatz eigenständig gemacht wird, beispielsweise »Ich gehe nicht raus. Weil es regnet.« Diese beiden ersten Ebenen von Textkomplexität – Wort- und Satzidentifikation sowie lokale Kohärenz – sind insbesondere im Blick auf Sachtexte bedeutsam. Literarische Texte nutzen in der Regel ohnehin eine alltagsnähere Sprache und gestalten die lokale Kohärenz weniger komplex als Informationstexte. 3. Dass literarische Erzähltexte bei den beiden ausgeführten hierarchieniedrigen Anforderungen an die Lesekompetenz in der Regel einfacher sind als Sachtexte, dieser Umstand spiegelt sich auch auf der Ebene des Textthemas, das durch die Herstellung globaler Kohärenz leserseitig erreicht wird. Erzähltexte knüpfen mit der Darstellung von Figuren, Ereignissen und Landschaften oft an soziale Alltagserfahrungen an. Beispielsweise schreiben wir fiktionalen Figuren die gleichen Eigenschaften, Reaktionen usw. zu wie tatsächlichen Menschen. Insofern entspricht das Figurenkonzept in solchen Texten im Allgemeinen den mentalen Schemata, die auch im sozialen Leben bestimmend sind. Durch die Simulation von Personen, Gegenständen und Ereignissen in Erzähltexten hat ihr globaler Textzusammenhang an der Logik des Alltags teil. Auch wenn besondere Ereignisse, fremde Zeiten oder Kulturen aufgerufen werden, werden diese dem Gewohnten vermittelt – jedenfalls dann, wenn es sich nicht um avantgardistische Literatur oder um solche handelt, die zu anderen Zeiten oder in fremden Kulturen geschrieben wurde. Insofern ist bei Schöner Literatur im Vergleich zu Sachtexten der globale Textzusammenhang in der Regel einfacher nachzuvollziehen. Das Verständnis von informierenden Sachtexten ist dagegen in hohem Grad von passendem Wissen der Rezipient*innen abhängig. Denn solche Texte folgen gerade nicht der Logik des Alltags. Sie erschließen vielmehr neues Wissen, sie ordnen vorhandenes um bzw. fügen ihm neue Aspekte hinzu. Entsprechend ungewohnt ist ihr Vokabular und/ oder die Art und Weise der Organisation der Informationen, die sogenannte kognitive Gliederung. Trotz des starken Zusammenhangs der Textverständlichkeit mit dem thematischen und struktu-

rellen Vorwissen der Adressat*innen lassen sich Hinweise für verständliche Informationstexte geben: Das globale Thema sollte klar angegeben werden, beispielsweise in der Überschrift. Verständlicher werden informierende Texte, wenn sie ihr Thema sequenziell organisieren, wenn sie also mit dem inklusivsten Konzept beginnen, ggf. als advance organizer, und es im weiteren Verlauf ausdifferenzieren. Verständlicher werden sie auch durch anschauliche Beispiele, durch die Begrenzung der Anzahl neuer Begriffe oder Konzepte und durch deren explizite Setzung und Bestimmung. In Sachtexten, die für Kinder geschrieben sind, oder in populärer Sachliteratur kann man oft sprachlich-konzeptuelle Anleihen an Ausdrucksformen der Erzählliteratur beobachten: Das zu vermittelnde Wissen wird beispielsweise an erzählte Alltagssituationen angebunden und personalisiert (z. B.: »Wenn du mit deinem Hund spazieren gehst, kannst du beobachten, dass er oft mit der Nase am Boden schnüffelt. Hunde orientieren sich wesentlich über ihren Geruchssinn ...«), es werden Metaphern und Analogien, also literatursprachliche Mittel, verstärkt eingesetzt, um den Text zugänglicher zu machen. Bei literarischen Texten wird das globale Thema allerdings oft nicht expliziert, ggf. ist es auch unscharf begrenzt, weil die Bedeutungsräume von Schöner Literatur oft diffus und weiträumig bleiben. Die Orientierung in solchen Texten fällt dann nicht leicht, wenn verdichtete poetische Sprache und womöglich eine regelwidrige Syntax vorliegen, beispielsweise in Lyrik. Solche Texte sind trotzdem zugänglich, wenn ihre metasprachliche Explikation nicht gefordert ist und die Rezipient*innen die Offenheit und Subjektivität der sprachlich entfalteten Erfahrung akzeptieren können (Rosebrock 2016). 4. Die Zugehörigkeit zu einer konventionellen Textsorte bestimmt die globale Ordnung von Textteilen und damit den Aufbau des Textes. Solche den Leser*innen bekannte sprachliche Gestaltungsformen werden als ›Superstrukturen‹ bezeichnet. Texte, die verbreiteten Textsorten angehören – z. B. Zeitungsartikel, Geburtstagsgrüße, Novelle – sind durch entsprechende Konventionen in ihrem Aufbau strukturiert. Auch Erzähltexte folgen narrativen Mustern, die die einzelnen Genres ihrerseits variieren. Sie setzen ggf. auch bestimmte genretypische Elemente oder Figuren ein, beispielsweise den Wunschring, den Gegenspieler, den Detektiv

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_17

17  Literatur in einfacher Sprache

usw. Die Verständlichkeit solcher genretypischen Textelemente und -strukturen ist auch abhängig von Wissen bezüglich literatursprachlicher Gestaltungsmittel. Auch Sachtexte folgen typischen organisatorischen Mustern: Sie beschreiben beispielsweise einen zentralen Gegenstand, sie entwickeln eine zeitliche oder logische Folge, sie entfalten Problem und Lösung oder sie zählen Elemente auf nach dem Muster der Liste usw. Vereinfachend ist, wenn diese ›kognitiven Gliederungen‹ des Inhalts markant erkennbar sind, eventuell explizit benannt werden, so dass die Lesenden sich daran orientieren können, falls sie die Konvention nicht kennen. Von Seiten der strukturalistischen Kinderliteraturforschung sind die Transparenz und Offensichtlichkeit der poetischen Regeln eines Textes als Kriterium ihrer Einfachheit beschrieben worden (vgl. Lypp 1984). Kinderreime oder Lieder präsentieren beispielsweise oft den Endreim ostentativ als Gestaltungsprinzip, das auch sinnlich illustriert werden kann (»Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen ...«). Literarische Texte setzen als Gestaltungsmittel häufig rhetorische Figuren ein, die das Verstehen mehr oder weniger erschweren: Während symbolisches Erzählen oft schon jungen Kindern zugänglich ist (Spinner 2010), gilt das beispielsweise nicht für die Allegorie oder die Ironie, die aus literaturdidaktischer Perspektive als schwierig gelten. Solche Gestaltungsmittel aufzulösen macht Texte verständlicher, greift aber auch gravierend in ihre Bedeutungspotentiale ein. 5. Die Darstellungsintentionen zu erkennen ist bei Informationstexten vergleichsweise einfach: Solche Texte wollen informieren bzw. belehren. Bei agitatorischen Texten, bei Werbung oder politischen Statements wird es schon schwieriger, denn die Botschaft steht meist ›zwischen den Zeilen‹. Um den Text zu vereinfachen, muss sie expliziert werden, was allerdings den manipulativen Absichten widersprechen kann. Für literarische Texte ist bei dieser Dimension von Textkomplexität eine offenere Kategorie als ›Verständlichkeit‹ sinnvoll. Denn die Darstellungsintention eines literarischen Textes zu benennen und argumentativ zu belegen ist nicht notwendig, um im Prozess seiner Rezeption Erfahrungen zu machen. Eher sollte man fragen, was die Darstellungsintentionen literarischer Texte leserseitig zugänglich macht bzw. was ihre Zugänglichkeit erschwert. Auch hier führt die Analyse von erfolg-

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reicher Kinderliteratur weiter: Vertrautheit mit den angesprochenen Themen, straffe Handlungsführung und möglichst wenig Beschreibungen, zeitlich lineares, in kurze Kapitel gegliedertes Erzählen, Nähe der Figuren und Ereignisse zu der Lebenswelt der Adressat*innen und ggf. Explikation der Botschaft kennzeichnet einfache und attraktive Literatur für Leser*innen mit wenig Leseerfahrung und -kompetenz. Im literarischen Feld steht in dieser fünften Kategorie von textseitigen Anforderungen an die Lesekompetenz kulturelles Wissen im Vordergrund, im Unterschied zu Echtweltwissen, das, wie ausgeführt, von hoher Bedeutung für das Verständnis von Sachtexten ist. Jenseits dieser unmittelbar auf den Leseprozess bezogenen Kategorien der Textverständlichkeit spielen noch der Umfang des Textes und seine motivierenden Potentiale eine Rolle. Textlänge ist ein bedeutender Faktor der Textverständlichkeit. Wer eine halbe Seite verstehend lesen kann, schafft noch lange kein Buch. Denn ein ›langer Leseatem‹ erfordert den Aufbau von komplexen, differenziert ausgestalteten Zusammenhängen und seine Aufrechterhaltung über Unterbrechungen hinweg. Wichtig ist auch, ob der Text die Lesemotivation seiner Adressat*innen anspricht. Motivational stimulierend sind Texte, die konkrete Informationsbedürfnisse befriedigen und so Probleme zu lösen helfen oder die – primär im literarischen Feld  – Wunscherfüllung verheißen. Welchen Wünschen kindliche Leserinnen und Leser in Erzähltexten nachgehen, ist Kinderbüchern meist leicht anzusehen. Hinzu kommen Stilmerkmale, die das Lesen attraktiv machen, insbesondere Spannung und Komik. Für Erwachsene lassen sich solche universalen literatursprachlichen Merkmale wie ein gutes Ende, eine starke Figur in einer Gleichaltrigengruppe usw. nicht mehr aufzählen. Denn in der Biographie differenzieren sich die Wünsche aus. Schließlich: Zu leichte Literatur ist langweilig! Texte, die nichts Neues bieten, regen nicht an, und selbst Serienliteratur, die durch die Konstanz ihres Personals und ihrer Struktur eine erhebliche Leseerleichterung bietet, zeigt noch so viel Varianz, dass sie ihren Reiz nicht verliert.

17.3 Vereinfachte literarische Texte Der Buchmarkt hat im vergangenen Jahrzehnt auf die verbreiteten Leseschwierigkeiten reagiert: Einen Überblick über Publikationen in Leichter Sprache stellt das ›Netzwerk Leichte Sprache‹ online zur Ver-

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I  Vorstellungen in Praxis und Theorie  –  C  Umgang mit Behinderung

fügung. Hier werden exemplarisch nur drei Beispiele genannt: Der Spaß am Lesen-Verlag hat neben Originalpublikationen und einer Wochenzeitung in Leichter Sprache auch Unterhaltungsliteratur und moderne Jugendliteratur übersetzt und gekürzt. Die Einstufung in Leseniveaus folgt dabei dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen. Für den schulischen Gebrauch hat der Cornelsen Verlag kanonische literarische Schullektüren und populäre Kinder- und Jugendbücher vereinfacht und unterrichtsbezogen bearbeitet; sie sind in der Regel gekürzt, z. T. illustriert. Bei den Klassikern sind ungebräuchliche Begriffe ersetzt oder erklärt, die Texte sind meist ergänzt durch ein Personenregister, eine Inhaltsangabe, Kurztexte, z. B. zum Entstehungskontext, und Übungsaufgaben für die Schülerschaft. Solche Eingriffe in die kanonische Literatur blieben von philologischen Kritiken natürlich nicht verschont. Und in der Tat sind die Verluste an Differenziertheit und Ästhetik gegenüber den Originalen oft deutlich. Auf der anderen Seite ermöglichen sie auch leseschwachen Menschen einen Zugang zum kulturellen literarischen Erbe, das ihnen ohne solche Hilfestellungen ganz verschlossen wäre (vgl. Rose­ brock 2015). Nicht für den Unterricht geschrieben, aber trotzdem außerordentlich geeignet als einfache literarische Lektüre sind die gelungenen Nacherzählungen von Klassischen Dramen und Erzähltexten in der Reihe Weltliteratur für Kinder (Kindermann-Verlag). Jeweils ein kanonischer Text des literarischen Erbes ist für einen Band auf eine relativ kurze Nacherzählung reduziert. Aber kulturell prominente Passagen wie beispielsweise Hamlets »Sein oder NichtSein« oder die Gretchenfrage an Faust sind erhalten und als Originalzitate kursiv gesetzt. Die Bücher erscheinen in großem Format mit reichhaltigen Illustrationen von renommierten Künstler*innen und eignen sich für erwachsene Leserinnen und Leser. Der Verlag hat in der Reihe Poesie für Kinder auch kanonische Gedichte jeweils als eigenes Buch und aufwendig illustriert herausgegeben; die klassischen Balladen und auch moderne Lyrik sind sprachlich nicht vereinfacht, aber durch die Gestaltung mit außerordentlich wenig Text pro Seite und sprechenden Illustrationen für leseschwache Personen zugänglich.

17.4 Literarisches Lernen im sonderpädagogischen Feld Die Verstehensanforderungen literarischer Texte sind grundsätzlich weniger strikt als die von Sachtexten, wie oben ausgeführt. Das liegt an ihrer in der Regel alltagsnäheren Sprache, an ihrer inhaltlichen Teilhabe an einer ›Logik des Alltags‹ und vor allem an ihrer Bedeutungsoffenheit. Dem Handlungsverlauf beispielsweise eines klassischen Märchens kann mit Vergnügen und Gewinn gefolgt werden, ohne dass die vielfältigen historischen, psychoanalytischen oder soziologischen Interpretationsrichtungen erfasst oder sogar formuliert werden müssten. Eingriffe zur Textvereinfachung sind also durchaus nicht immer notwendig: »Künstlerische Sprachverwendung kann auf verblüffende Weise einfach, allgemein, musterhaft und wertend sein« (Zabka 2008, 192). Wegen dieser Eigenschaften eröffnen literarische Texte als Unterrichtsgegenstand besondere Chancen für das Unterrichten in Gruppen, zu denen auch schwache Leser und Leserinnen oder solche mit kognitiven Beeinträchtigungen oder Lernstörungen gehören (vgl. grundlegend Volz 2005; Wiprächtiger-Geppert 2009; Hennies/Ritter 2014; zuletzt Hochstadt/Olsen 2019). Literatur zu erfahren ist etwas Anderes als sie metasprachlich zusammenzufassen oder zu interpretieren. Erfahren werden kann sie auch durch Zuhören oder Vorlesen, durch Sprechen oder Singen oder durch das Aufführen von Szenen. Mit Literatur handelnd umzugehen macht sie zugänglicher auch für schwache Leser*innen; die Literaturdidaktik kennt mit handlungs- und produktionsorientierten Unterrichtskonzepten Zugangsmöglichkeiten, in denen es nicht um metasprachliche Reflexion, sondern primär um Vertiefung und Ausgestaltung von literarischer Erfahrung geht (Rank/Bräuer 2008). Vereinfachte Ausgaben neben den Originaltexten bieten in der Literaturdidaktik die Möglichkeit, einen gemeinsamen Gegenstand differenziert zu unterrichten. Literatur

Bamberger, Richard/Vanecek, Erich: Lesen – Verstehen, Lernen, Schreiben. Die Schwierigkeitsstufen von Texten in deutscher Sprache. Wien 1984. Best, Karl-Heinz: Sind Wort- und Satzlänge brauchbare Kriterien der Lesbarkeit von Texten? In: Sigurt Wichter/ Albert Busch (Hg.): Wissenstransfer – Erfolgskontrolle und Rückmeldungen aus der Praxis. Frankfurt a. M. 2006, 21–31. BMBF/Bundesministerium für Bildung und Forschung: Expertise. Förderung von Lesekompetenz. Berlin 2007,

17  Literatur in einfacher Sprache https://www.schule.sachsen.de/download/download_ smk/expertise_lesefoerderung_BMBF.pdf (01.10.2019). Bock, Bettina: Barrierefreie Kommunikation als Voraussetzung und Mittel für die Partizipation benachteiligter Gruppen – Ein (polito-)linguistischer Blick auf Probleme und Potenziale von »Leichter« und »einfacher Sprache«. In: Linguistik Online 73/4 (2015), https://doi. org/10.13092/lo.73.2196 (01.10.2019). Bredel, Ursula/Maaß, Christiane: Leichte Sprache – Theoretische Grundlagen, Orientierung für die Praxis. Berlin 2016. Bredel, Ursula/Maaß, Christiane: Leichte Sprache. In: Christiane Hochstadt/Ralph Olsen (Hg.): Handbuch Deutschunterricht und Inklusion. Weinheim/Basel 2019, 80–92. Christmann, Ursula: Rhetorisch-stilistische Aspekte moderner Verstehens- und Verständlichkeitsforschung. In: Ulla Fix/Andreas Gardt/Joachim Knape (Hg.): Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung. Berlin/New York 2008, 1092– 1106. https://epdf.pub/rhetorik-und-stilistik-rhetoricand-stylistics-band-1-volume-1-handbucher-zur-sp.html (01.10.2019). Grotlüschen, Anke/Rieckmann, Wibke (Hg.): Funktionaler Analphabetismus in Deutschland. Ergebnisse der ersten leo. – Level-One Studie. Münster 2012, https://www.ew. uni-hamburg.de/ueber-die-fakultaet/personen/ buddeberg/files/buddeberg-2012-literalitaet-alter-undgeschlecht.pdf (01.10.2019) Hennies, Johannes/Ritter, Michael (Hg.): Deutschunterricht in der Inklusion. Stuttgart 2014. Hochstadt, Christiane/Olsen, Ralph (Hg.): Handbuch Deutschunterricht und Inklusion. Weinheim/Basel 2019. Lypp, Maria: Einfachheit als Kategorie der Kinderliteratur. Frankfurt a. M. 1984. Maaß, Christiane: Leichte Sprache. Das Regelbuch. Berlin 2015, https://www.uni-hildesheim.de/media/fb3/ uebersetzungswissenschaft/Leichte_Sprache_Seite/ Publikationen/Regelbuch_komplett.pdf (01.10.2019).

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Rank, Bernhard/Bräuer, Christoph: Literarische Bildung durch literarische Erfahrung. In: Gerhard Härle/Bernhard Rank (Hg.): »Sich bilden, ist nichts anderes, als frei werden.« Sprachliche und literarische Bildung als Herausforderung für den Deutschunterricht. Baltmannsweiler 2008, 63–87. Rosebrock, Cornelia: Der Mut zur Einfalt – Vereinfachte Klassikerausgaben für den Schulgebrauch. In: Didaktik Deutsch 20/38 (2015), 33–39. Rosebrock, Cornelia: Anforderungen von Sach- und Informationstexten, Anforderungen literarischer Texte. In: Andrea Bertschi-Kaufmann/Tanja Grabner (Hg.): Lesekompetenz – Leseleistung – Leseförderung. Seelze 62016, 58–75. Spinner, Kaspar H.: Symbolisches Verstehen als Kernkompetenz des poetischen Verstehens. In: Iris Winkler/Nicole Masanek/Ulf Abraham (Hg.): Poetisches Verstehen. Literaturdidaktische Positionen – empirische Forschung – Projekte aus dem Deutschunterricht. Baltmannsweiler 2010, 55–65. Volz, Steffen: Literaturerwerb im Bildungskeller – Befunde zur literarischen Sozialisation und zu literarischen Kompetenzen bildungsferner Jugendlicher. Heidelberg 2005, http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/6215 (01.10.2019). Wiprächtiger-Geppert, Maja: Literarisches Lernen in der Förderschule. Eine qualitativ-empirische Studie zur literarischen Rezeptionskompetenz von Förderschülerinnen und -schülern in literarischen Unterrichtsgesprächen. Baltmannsweiler 2009. Zabka, Thomas: Konzepte der Integration sprachlicher und literarischer Bildung. In: Gerhard Härle/Bernhard Rank (Hg.): »Sich bilden, ist nichts anderes, als frei werden.« Sprachliche und literarische Bildung als Herausforderung für den Deutschunterricht. Baltmannsweiler 2008, 183– 197.

Cornelia Rosebrock

D Normative Vorstellungen von Behinderung 18 Deutung in den Religionen 18.1 Vorüberlegungen Behinderung als Phänomenzusammenhang geminderter Teilhabemöglichkeiten bestimmter Menschen mit medizinischen, psychologischen, sozialen, rechtlichen und eben auch religiösen Aspekten ist ein modernes Konzept. Bei älteren Quellen und den sie tragenden Überlieferungen ist davon auszugehen, dass eher einzelne Phänomene und deren angenommene Ursachen im Blickpunkt sind. Hier wären etwa zu unterscheiden chronisch-ansteckende Krankheiten (vielfach Lepra), Behinderungen bzw. Krankheiten, die auf dämonische Besessenheit zurückgeführt werden (etwa Epilepsie, oft auch Taubstummheit), sowie ein Bereich, dessen Wahrnehmung am ehesten neueren Vorstellungen von Behinderung entspricht, insbesondere Blindheit und Lähmungszustände, teilweise sicher auch Zustände von deutlicher Intelligenzminderung. Damit im Zusammenhang steht, dass zunächst die, oft mythologisch beantwortete, Frage nach Entstehung und Bedeutung von Behinderung Beachtung fand. Nicht zuletzt dem Einfluss des Christentums verdankt sich die Aufforderung zu einem von Nächstenliebe geleiteten Umgang mit Menschen mit Behinderung. Als sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die auf Kant folgende Subjektphilosophie in pädagogischen und sozialen Programmen auszuwirken begann, wurde zunehmend die Frage nach Selbstwahrnehmung und subjektiver Eigenart behinderter Menschen gestellt. Moderne Auseinandersetzungen mit Behinderung tendieren dahin, die Frage nach Behinderung (und Nichtbehinderung) als Prägung der Subjektivität und Sozialität bestimmter Menschen zu verstehen. Sie betrachten vor allem die Frage nach angemessener Unterstützung aus dieser Perspektive. Weil die Ätiologie von Behinderung immer auch soziale Aspekte hat, kann diese Frage zumindest teilweise in die subjektund gesellschaftsorientierte Wahrnehmungsrichtung von Behinderung eingestellt werden.

Um jedoch das Phänomen Behinderung nicht mit seiner modernen Wahrnehmung gleichzusetzen, müssen im Folgenden ältere Perspektiven mit eingebunden werden, auch wenn deren Ätiologien als mythologisch angesehen werden können und deren Vorstellungen über Hilfen für Behinderte heute als unzureichend, paternalistisch und bevormundend erscheinen mögen.

18.2 Hebräische Bibel (Altes Testament) und Judentum Im Zusammenhang mit Behinderung kennt das Alte Testament (AT) Schutzvorschriften: »Du sollst einen Tauben nicht verfluchen und einem Blinden kein Hindernis in den Weg stellen« (Lev 19,14, vgl. Dtn 27,18) und auch die Norm positiver Hilfe und Zuwendung. Hiob sagt zu seiner Rechtfertigung von sich: »Auge war ich für den Blinden, dem Lahmen wurde ich zum Fuß« (Ijob 29,15). Hingegen verpflichtet der Aussatz – im Kern sicher die Lepra-Erkrankung, darüber hinaus aber jede andere, offenkundig von innen kommende Minderung des Aussehens von Menschen und auch von Sachen – vor allem zur Abgrenzung, um die Gesundheit und kultische Reinheit potentiell anfälliger Personen zu wahren (Lev 13 – 14 u. ö.). Der kultisch unrein machende Aussatz wird, jedenfalls teilweise, als Strafe Gottes gesehen, so etwa, wenn Mirjam wegen eines Konflikts mit Mose zeitweise aussätzig wird (Num 12,10). Zumindest indirekt gilt das auch von der Blindheit: Die Verfolger Lots in Sodom werden mit Blindheit geschlagen (Gen 19,11). Die Aussagen zum Thema Krankheit und Behinderungen gewinnen im Selbstentwurf der Propheten einen Zusammenhang: Der bei Jesaja verkündigte endzeitliche Prophet, der Gottesknecht, ist »verachtet und von den Menschen gemieden, ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut« (Jes 53,3). Weiter heißt es: »Wir meinten, er sei von Gott geschlagen [...].

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_18

18  Deutung in den Religionen

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Aufgabe, Menschen an ihre Grenzen zu erinnern und so näher zu Gott zu bringen. Paulus schreibt:

Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Vergehen [...]« (ebd., 4–5). Die später auf Jesus Christus gedeuteten Verse lassen ein bestimmtes Bild von Krankheit und Behinderung erkennen: Krankheit und Behinderung sind Ausdruck der Übereinstimmung des Propheten mit Gottes Willen. Dadurch kommt zugleich die Nichtübereinstimmung des Propheten mit den Wertmaßstäben der Menschen zum Ausdruck. Der in älteren Schichten des AT vorausgesetzte Tun-Ergehens-Zusammenhang, der auf Sünde Lebensminderung folgen lässt, wird damit in Frage gestellt. In der Verlängerung solcher Überzeugungen heißt es im Talmud: »Jeder, der sich über Leiden freut, die über ihn kommen, bringt Heil in die Welt; denn es heißt: Durch sie wird die Welt geheilt« (Der Babylonische Talmud, 533, Taanit 8 a; vgl. ebd., 529, Nedarim 40 a u. ö.). Aber Leiden wird nicht durchgängig positiv gewertet oder gar in diesem Sinne absolut gesetzt: Wie an vielen Stellen im AT gilt (unverkürztes) Leben als hohes Gut. Rechttun und Meiden des Bösen sind dessen wichtige Voraussetzungen (etwa: Babylonischer Talmud, 256, Awoda sara 19 b).

Weder bei Paulus noch in den Heilungsberichten der Evangelien gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen Behinderungen wie Blindheit oder Lahmsein mit vorangegangenen Sünden, im Gegenteil, dieser wird bestritten (nochmals: Joh 9,3). Demgegenüber haben Heilungsberichte, in denen die Austreibung von Dämonen im Mittelpunkt steht, einen anderen Charakter: Hier geht es zwar auch um Heilung, vor allem aber um Jesu Herrschaft über die für bestimmte Krankheiten als ursächlich angenommenen bösen Geister (Mk 9,14–29; dazu: Kandler 2000, 40–44).

18.3 Neues Testament

18.4 Koran und Hadithe

Im NT gibt es über chronische Krankheit und Behinderung zwei einander ergänzende Deutungstendenzen, was in gewisser Weise mit der Deutung im Judentum verwandt ist. Jesus antwortet auf die Frage Johannes’ des Täufers: »Bist du der, der kommen soll?«: »Blinde sehen wieder und Lahme gehen; Aussätzige werden rein und Taube hören; Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium verkündet« (Mt 11,3.5). Behinderung (Blindheit, Taubheit, Lahmsein) und chronische Krankheiten, die mit kultischer Unreinheit verbunden sind (Aussatz), sind eindeutig etwas, was nicht sein soll und was in der mit Jesus anbrechenden Gottesherrschaft aufgehoben ist. Auf der anderen Seite ist Behinderung aber in gewisser Weise nachrangig, weil in den Zusammenhang der Offenbarung des endzeitlichen Heils eingebunden. Ihre Aufhebung oder Heilung hat Zeichencharakter: »Damit ihr aber erkennt, dass der Menschensohn die Vollmacht hat, auf der Erde Sünden zu vergeben – sagte er zu dem Gelähmten: Ich sage dir: Steh auf, nimm deine Liege und geh nach Haus!« (Mk 2,10–11). Chronische Krankheit und Behinderung als solche sind nichts Gutes. Aber neben der erwähnten Funktion, in ihrer Heilung Jesu Vollmacht zum Ausdruck zu bringen (vgl. auch noch Joh 9,3: Heilung eines Blindgeborenen), haben sie die

Der Koran kennt eine Verpflichtung zur Unterstützung Hilfsbedürftiger; der Adressatenkreis wird allerdings recht allgemein beschrieben (Bobzin 2015, 183, dort insb. das Koran-Zitat Sure 30,38; vgl. Al-Buḫārī 2015, 189–200) und lässt sich nicht im Sinne der Unterstützung von Menschen mit Behinderung konkretisieren, wenn diese auch zweifellos mitgemeint sind. Im Koran wird nur an relativ wenigen Stellen, teilweise wohl metaphorisch, das Thema Behinderung aufgegriffen, etwa mit der Bemerkung, Gott ließe die Frevler »blind umherirren« (Sure 7,186 nach Weirauch 2015, 61). Krankheit und Behinderung werden zwar nicht als gut angesehen, gelten aber gleichwohl – ebenso wie die dagegen wirksamen Heilmittel – als Gottes Fügung: »Gott hat keine Krankheit auf die Erde herabgesandt, ohne zugleich auch für das entsprechende Heilmittel zu sorgen« (Buḫārī 2015, 396). Dieses Gleichgewicht wirkt sich gegen eine allzu feste Verbindung zwischen Behinderung und der Annahme eines Religionsverstoßes aus: »Weder ein Blinder noch ein Krüppel noch ein Kranker braucht sich Gewissensbisse zu machen [...], noch braucht ihr selbst das zu tun, wenn ihr miteinander in eurem eigenen Haus [...] eine Mahlzeit einnehmt« (Koran, Sure 24,61, nach Der Koran 1985,

»Damit ich mich wegen der einzigartigen Offenbarung nicht überhebe, wurde mir ein Stachel ins Fleisch gestoßen [...]. Deswegen bejahe ich meine Ohnmacht, alle Misshandlungen und Nöte, Verfolgungen und Ängste, die ich für Christus ertrage; denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.« (2. Kor 12,7.10)

102

I  Vorstellungen in Praxis und Theorie  –  D  Normative Vorstellungen

250). Menschen mit Behinderung sind also im religiösen Sinne gemeinschaftsfähig. Die Tötung von neugeborenen Kindern ist verboten, als mögliche Motivation solcher Verbrechen wird die »Furcht vor Armut« genannt und hinzugefügt: »Denn wir versorgen sie wie euch« (Koran, Sure 17,31, nach Bobzin 2015, 200). Dies hat sich als Verbot der in antiken Kulturen vielfach vorkommenden Aussetzung behinderter Kinder ausgewirkt. Deren Schlechterstellung und Abschiebung wird damit in gegenwärtigen islamischen Gesellschaften oft nicht verhindert (Weirauch 2015, 64).

18.5 Buddhismus Wegen der extremen Vielgestaltigkeit dieser Religion ist eine Zusammenfassung schwierig. Die Grundauffassung soll Buddha zu Beginn seiner Wirksamkeit in der Predigt von Benares folgendermaßen formuliert haben: »Dies ist die edle Wahrheit von Leiden: Geburt ist leidvoll, Altern ist leidvoll, Krankheit ist leidvoll, Sterben ist leidvoll. Mit Unlieben vereint sein, ist leidvoll, von Lieben getrennt zu sein ist leidvoll, und wenn man etwas, das man sich wünscht, nicht erlangt, auch das ist leidvoll – kurz die fünf Gruppen von Daseinsfaktoren, die durch den Lebenshang bedingt sind, sind leidvoll.« (Glasenapp 1956, 84)

Diese Haltung des ursprünglichen Buddhismus bietet keine individuelle Perspektive, sondern thematisiert die Welt als einen zu überwindenden Zusammenhang des Leidens (Küng/Bechert 1999, 30–31 u. ö.; Weirauch 2015, 46 u. ö.). Die geforderte Achtsamkeit auf den eigenen Weg und den der Mitmenschen – der sogenannte achtfache edle Pfad (Glasenapp 1956, 92– 94) – dient vor allem der Vermeidung einer zu intensiven Verstrickung in die Leidenssituationen der Welt (Küng/Bechert 1999, 32–38; Weirauch 2015, 45 u. ö.). Der auf bestimmte Ziele, Beziehungswünsche oder auf sich selbst gerichtete Wille ist eine wesentliche Quelle des Leidens: »Wer frei von Trübsal, frei von Leid will werden, / Befreie sich von liebendem Verlangen« (Glasenapp 1956, 88). In späteren Gestalten des Buddhismus bekennt man sich dann ausdrücklich zur Hilfe des Buddha in innerweltlichen Notsituationen. Buddha werden die Worte zugeschrieben: »Schaff durch meine Zauberkünste / Viele Helfer ich hienieden« (Glasenapp 1956, 144). Verschiedentlich wird davor gewarnt, sich auf

wahrgenommene Leidenssituationen zu sehr einzulassen: »Wer einen Alten, Kranken, Toten hat gesehen / Und vor ihm konnte ohne Schauder stehen, / Ist zu beklagen; denn er ist ein Tor, / Ein Blinder gleichsam, der den Weg verlor« (ebd., 155). Behinderung und Krankheit scheinen hier verstanden zu werden als Phänomene, die alle, die sich ihnen zu sehr annähern, in sich hineinziehen. Eine Reihe neuerer Deutungen des Buddhismus öffnet diese Wirklichkeitssicht aber in Richtung auf ein tätiges Helfen angesichts von Leidenssituationen (Weirauch 2015, 48–49), die – auch in ethischer Hinsicht – im Sinne einer Annäherung von christlichen und buddhistischen Konzeptionen interpretierbar sind (Küng/Bechert 1999, 167–221, insb. 217–221).

18.6 Neuzeitliches Christentum, insbesondere Protestantismus Die vielfachen Ermahnungen des Neuen Testaments (NT) zur Bewährung des Glaubens in der Liebe, gerade auch Schwachen gegenüber, haben zu einer Ethik geführt, deren Kern die Überzeugung ist, als im Glauben an Christus erlöste Menschen zur Erbringung von Werken der Nächstenliebe gegenüber Armen und Kranken (unter Einschluss von Menschen mit Behinderung) verpflichtet zu sein. In der Erfüllung dieser Pflicht – vielfach im Rahmen des Ordenslebens – erwirbt man nach Überzeugung des Mittelalters, trotz der im Anschluss an Augustin betonten gnadenhaften Ermöglichung solcher Handlungsweisen, Verdienste vor Gott. Diese bringen den ursprünglich gnadenhaft geschenkten Christenstand in gewisser Weise seiner Vollendung näher (sog. kirchlicher Augustinismus des Mittelalters; Übersicht bei Rohls 1999, 204–239 u. ö.). Die Reformation bestreitet bekanntlich diesen Ansatz. Luther sieht das Gutsein der guten Werke nur darin begründet, dass sie aus dem Glauben an Jesus Christus kommen (Luther 1983, 54). In diesem Glauben »dient (man) Gott lauter und umsonst und begnügt sich damit, daß es Gott gefällt« (Luther 1983, 58). Der Verdienstgedanke ist damit konsequent ausgeschlossen (Luther 1983, 131 u. ö.). Die ethische Gestaltung der Lebenswelt sieht Luther »[...] in den zwei Worten begriffen: Gehorsam und Verantwortlichkeit: Gehorsam gebührt den Untertanen, Verantwortlichkeit den Oberherren, die eifrig bemüht sein sollen, ihre Untertanen gut zu regieren, in Liebe mit ihnen umgehen und alles tun sollen, um ihnen

18  Deutung in den Religionen nützlich und behilflich zu sein.« (Luther 1983, 132; zu Luthers Ethik vgl. noch die Übersicht bei Rohls 1999, 251–265)

Man kann diese und verwandte Äußerungen Luthers so zusammenfassen, dass alle Formen gelingenden Zusammenlebens unterschiedlicher Menschen ein sich Ergänzen von Loyalität und Solidarität darstellen. Wie das dann konkret zu gestalten ist, bestimmt sich nicht zuletzt aus der Situation heraus – und das heißt: angesichts der beteiligten Personen und von deren Möglichkeiten und Grenzen. Es heißt aber zugleich: ohne Ansehen der Person in einem wertenden Sinne. Allen anvertrauten Menschen sind diejenigen, denen sie anvertraut worden sind, gleichermaßen verpflichtet (Luther 2004, 635–637 u. ö.; dazu Rohls 1999 wie oben; ferner: Beyreuther 1962, 24–29). Weil die spätmittelalterlichen Strukturen der Armen- und Krankenpflege institutionell und ideell – vor allem hinsichtlich des Gedankens, sich durch Tätigkeit auf diesen Gebieten Verdienste zu erwerben – im Bereich der Reformation weggebrochen sind, musste die Armen- und Behindertenpflege neu gestaltet werden. Solche Regelungsversuche stellen die reformatorischen Kirchenordnungen dar, etwa die Hamburger Kirchenordnung von 1529, die auf den Reformator Norddeutschlands, Johann Bugenhagen, zurückgeht, der ein persönlicher Schüler und Freund Luthers gewesen ist: Kranke und Behinderte sollen unentgeltlich auf Kosten der (mit der evangelischen Gemeinde personell deckungsgleichen) Stadt mit medizinischer Hilfe und Medikamenten versorgt werden, wobei die einwandfreie Beschaffenheit von Behandlung und Medikamenten ausdrücklich angemahnt wird (Bugenhagen 1985, 86). Aus dem von der Gemeinde unterhaltenen Armenkasten »sollen alle wirklich Armen versorgt werden. [...] Ebenso jene, die durch Krankheit oder körperliche Gebrechen erwerbsunfähig sind« (ebd., 87). Das gilt ausnahmslos für alle: »Für die, die bei uns krank werden, auch wenn es Fremde sind, wollen wir dasselbe tun wie für die, die bei uns gewohnt oder gedient haben. Denn so sehen wir sie an, daß Gott selber sie uns in ihrer Notlage zum Versorgen zuweist. [...] Wir sollen ja die Not dieser von allen verlassenen Leute gerecht und gründlich bedenken.« (Bugenhagen 1985, 88)

Diese Vorgaben sollten, indem sie die Pflege Armer, Kranker und Behinderter der ganzen Gemeinde an-

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vertrauen, einerseits den Gedanken der diesen Menschen geschuldeten Liebe und Unterstützung im Sinne von Luthers zitierten Überlegungen umsetzen. Andererseits sollte dem Wiederaufleben des Bettelwesens, organisiert vor allem durch die Bettelorden, vorgebaut und der damit verbundene Gedanke der Verdienstlichkeit des Almosengebens abgewehrt werden.

18.7 Die Einbindung Behinderter in die ihnen zu leistende Hilfe und Teilhabe als wichtige Aspekte moderner Ansätze seit dem 19. Jahrhundert Aus der Sicht der mit Kant einsetzenden neueren Subjektphilosophie und ihrer sozialpädagogischen Folgegestalten stellt sich der angedeutete Ansatz als korrektur- bzw. ausbaubedürftig dar: Die Hilfsbedürftigen werden hier sehr summarisch in der Perspektive dieser Hilfsbedürftigkeit gesehen. Behinderung, akute oder chronische Krankheit und hierdurch (oder durch andere Widerfahrnisse) verursachte Armut werden als ein Gesamtphänomen wahrgenommen, dessen Einzelaspekte nicht differenziert werden. Außerdem werden die Hilfsbedürftigen ganz wesentlich als Klienten gesehen. Der Gedanke aktivierender Hilfe ist den reformatorischen Kirchenordnungen zwar nicht ganz fremd (Bugenhagen 1985, 87: Hilfen zur Familiengründung und zum Erlernen eines Handwerks). Auf dauerhaft Kranke und Behinderte ist aber die damalige Gestalt aktivierender Hilfe nicht wirklich anwendbar. Damit steht ein weiterer Aspekt in Verbindung: Die institutionalisierte Gestalt der Zuwendung zu Armen, Kranken und Behinderten definiert diese als Versorgungsfälle – was ihrer Wahrnehmung als Individuen tendenziell entgegensteht. Eine solche Wahrnehmung ist aber ein wesentlicher Aspekt von Nächstenliebe. Philipp Jakob Spener, einer der ersten Pietisten, stellt einen Vergleich seiner Zeit mit der Urchristenheit an: »Wie innig war die Liebe untereinander, da sie sich nicht nur mit dem lieben Namen Brüder und Schwestern anredeten, sondern auch recht brüderlich untereinander lebten. So war auch, wo es Not tat, jeder stets bereit, für den anderen zu sterben.« (Spener 1995, 48)

Die christliche Liebe bedarf immer der persönlichen Wahrnehmung und Beziehung, in diesem Sinne besteht sie in der Praxis (Spener 1995, 59), d. h. in der gelebten (und nur unter dem Vorbehalt ihrer Le-

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I  Vorstellungen in Praxis und Theorie  –  D  Normative Vorstellungen

benswirksamkeit auch institutionalisierten) Liebe von Brüdern und Schwestern. Institutionen müssen so aufgebaut sein, dass sie diesen Aspekt einschließen. Die Pietisten und ihre Nachfolger, die überwiegend lutherischen Erweckten des 19. Jahrhunderts, bemühen sich, diesem Anspruch gerecht zu werden. Sie versuchen, ihn in den von ihnen getragenen Einrichtungen für Menschen mit Behinderung zu verwirklichen (ausführlich und zahlreiche Quellen erschließend: Beyreuther 1962, 30–125). In einem Brief an einen gelähmten Verwandten verweist Sören Kierkegaard darauf, dass die Mitte eines menschlichen Lebens in der Gottesbeziehung und nicht in äußeren Handlungsmöglichkeiten und Erfolgen liegt. Diese lenken vielmehr oft von der Erkenntnis ab, dass der individuelle Mensch von Gott bejaht ist und sein Leben im Vertrauen auf Gott führen kann. Die Aufgabe, Menschen mit Behinderung ein Leben in Gemeinschaft zu ermöglichen, gerät hier nur implizit in den Blick. Sie klingt aber in der persönlichen Einladung an, die Kierkegaard am Ende des Briefes ausspricht (Kierkegaard 1964, 63–64). Die frühen Vertreter der institutionalisierten Inneren Mission – überwiegend wie Kierkegaard dem Pietismus nahestehende Lutheraner – sehen diesen gemeinschaftlichen Aspekt demgegenüber deutlicher. Das schließt dann auch »ein(en) neuen Schritt ein, der noch gethan und verfolgt werden muß [...]: Christliche Associationen der Hilfsbedürftigen selbst für deren soziale (Familie, Besitz und Arbeit betreffende) Zwecke zu veranlassen« (Wichern 1889/2010, 138). Hilfsbedürftigkeit kann also nach Auffassung von J. H. Wichern, einem der Pioniere der Inneren Mission, nur überwunden werden, wenn man diejenigen, denen man helfen will, nicht nur als Klienten, sondern als handelnde Subjekte begreift und ihre Stärken mit einbindet. Man muss »das die hilfsbedürftigen Personen selbst associierende Element« sehen und »das darin liegende Prinzip [...] mit derjenigen Tiefe und Energie [begreifen], mit welcher allein der Geist des Evangeliums begabt« (ebd., 148). Hilfsbedürftige Menschen müssen also durch Assoziation mit den ihnen Hilfe leistenden Personen und Einrichtungen in einer Handlungsgemeinschaft verbunden werden. Diese Verbindung selbst ist dann Hilfe, deren assoziierendes (aktivierendes) Element zentrale Bedeutung hat. Modern gesprochen: Menschen mit Behinderung und andere Unterstützungsbedürftige haben eine gewisse Kompetenz im Umgang mit ihrem Lebensschicksal. Jede ihnen zugedachte Hilfe, die dies nicht einbindet, bleibt hinter dem zurück, was sie sein kann

und, mit Wicherns Worten, im Geist des Evangeliums (d. h. christlich gesehen) auch sein soll. In diesem Sinne hat man es in den bis heute bestehenden Betheler Anstalten »als feste Ordnung [betrachtet], daß jeder, auch der Schwächste, mitarbeitet. Eine erfinderische Liebe konnte auch dem Ärmsten noch eine sinnreiche Arbeit vermitteln« (Beyreuther 1962, 145). Mit der Einbindung der Betroffenen – in Bethel vielfach Epileptiker, also chronisch Kranke bzw. Behinderte – als solcher ist natürlich die Überwindung des paternalistischen Ansatzes in der Behindertenarbeit noch nicht geleistet. Wohl aber ist deutlich geworden, dass Menschen mit Behinderung und chronisch Kranke über Möglichkeiten für die Gestaltung ihres Lebens und ihrer Umgebung verfügen. Die Behinderten werden so – in den Anfängen dieses Paradigmenwechsels nur in der Tendenz – als Individuen mit Handlungsmöglichkeiten und eben nicht nur als Empfänger von Zuwendungen wahrgenommen. Dass dies bisher nicht geschehen ist, wird zunehmend als Defizit der bisherigen Arbeit mit Ausgegrenzten und Behinderten gesehen. Im katholischen Bereich, der historisch in mancher Hinsicht für die hier behandelten evangelischen Bestrebungen Vorbildcharakter hat, trägt man dem Rechnung, indem der bis dahin sogenannte Charitas-Verband (gr. charis: ›Huld, Gnade‹) schon 1909 in Caritas-Verband (lat. caritas: ›selbstlose Liebe‹) umbenannt worden ist.

18.8 Gegenwärtige Wahrnehmungen und Deutungsversuche im evangelischen Raum; ethische Konsequenzen Ansätze wie die genannten, die Behinderung als Aspekt des übergeordneten Sachverhalts Subjektivität in Gemeinschaft verstehen, bilden die geschichtliche Grundlage der neueren theologisch-ethischen und praktisch-theologischen Diskussion. In gegenwartsorientierten Aneignungen steuern sie wesentliche Aspekte zu heutigen Denkrichtungen für den Umgang mit Behinderung bei. Die Tendenz dabei ist nicht eindeutig. Man hat einerseits festgestellt, dass »diejenigen Interpretationen, die die Normalität des begrenzten und verletzlichen Lebens hervorheben, [...] sich in ihrer Bescheidenheit als angemessen erweisen« (Liedke 2011, 86). Andererseits ist aus der Sicht von Betroffenen zu sagen: »Wir Behinderten leben in einer Welt, die nicht aufgeht. In einer Welt voller Rätsel. [...] Nur ein unpassender Gott passt in unser Leben, in dem es von Unpassendem nur so wimmelt« (Bach bei Liedke

18  Deutung in den Religionen

2011, 86). Beide Wahrnehmungsrichtungen müssen einander ergänzen, auch wenn es schwer ist, sie im strengen Sinne als komplementär zu verstehen (Kandler 2000, 118–119 u. ö.): Behinderung wird, jeweils mit einer gewissen Einseitigkeit, als Fall anthropologischer Normalität gedeutet, die sich damit als offen erweist, aber es wird eben auch, teilweise sehr deutlich, darauf verwiesen, dass Behinderung Aspekte hat, die so von Nichtbehinderten nicht zu tragen und gegebenenfalls auch nicht nachzuvollziehen sind. Das hat theologische Konsequenzen: Wenn man Behinderung in den Kontext eines unpassenden Gottes stellt, stellt man sie in den Kontext der Theodizeefrage. Umgekehrt würde die Deutung von Behinderung als Ausdruck von Vielfalt, die in der Geschöpflichkeit des Menschen begründet ist, diese in den Zusammenhang der Schöpfungstheologie stellen. K. E. Nipkow (2011, 92) verweist im Anschluss an U. Bach darauf, dass sich die Theodizeefrage durch die schöpfungstheologische Deutung von Behinderung verschärft: Es kann nicht darüber hinweggesehen werden, dass viele Behinderungen mit Leidenserfahrungen verbunden sind, die sich durch Respekt, Akzeptanz und kompetente Unterstützung nicht ganz oder überhaupt nicht ausgleichen lassen. Wenn diese im Schöpfungsplan angelegt sind, wirft das die Frage nach der Güte des Schöpfers auf. Theologisch ist allerdings zu sehen, dass Schöpfung keine ungebrochene Kategorie ist, sondern dass ihre Wahrnehmung durch die menschliche Sünde verzerrt ist, an der auch Gott leidet. Am Kreuz Christi hat sich Gott in dieses Leiden hineinbegeben. Der christliche Glaube kennt keinen leidensfernen Gott, wie schon (und vor allem) Luther in seiner Betonung des Kreuzesleidens Christi als Grundlage jeder existentiell tragfähigen Glaubenshaltung immer wieder deutlich gemacht hat (Luther 1983, 31–48). Das ist keine Rationalisierung des Leidens durch Benennung spekulativ erfasster angeblicher Gründe. Es ist lediglich (wiederum mit Luther) das Bekenntnis dazu, dass Gott auch in der durch Leiden gekennzeichneten, weil noch unerlösten, Welt gegenwärtig ist (entsprechend: Nipkow 2011, 93–94). Die schöpfungstheologische Deutung des Leidens bedarf dieser Blickrichtung, wenn sie nicht zu einer unreflektierten Verklärung von Behinderung und anderer Gestalten des Leidens beitragen soll, die dann als Leiden nicht wahrgenommen werden. Andererseits hat der Aspekt der Normalität von Behinderung im Rahmen einer am Leitkonzept einer von Gott gewollten Vielfalt orientierten Anthropolo-

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gie eine wichtige ethische Funktion: Leben mit Behinderung darf nicht mit dem Argument der Leidensvermeidung in Frage gestellt werden (s. Kap. 22). Hinter diesem Argument steht vielfach eine starre Norm gesunden und insofern mit einer Perspektive des Gelingens ausgestatteten Lebens. Ungeborenes oder durch sehr große Abweichung von der Norm nichtbehinderten Lebens gekennzeichnetes Leben steht dann zur – faktisch beliebigen – Disposition. In solche Zusammenhänge, die durch neue Methoden der vorgeburtlichen Diagnose bestimmter Behinderungen Aktualität gewonnen haben (s. Kap. 19), gehört in anderer Weise auch der Umgang mit Behinderungen im Alter, insbesondere mit Demenz: Auch hier kann ein falsches Normdenken, das die faktische Fragmentarität, ja die immer schon gegebene und im Laufe der Biographie anwachsende Beschädigtheit jedes menschlichen Lebens ignoriert, zu inhumanen Konsequenzen führen. Literatur

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I  Vorstellungen in Praxis und Theorie  –  D  Normative Vorstellungen

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Matthias Heesch

19 Lebensschutz

19 Lebensschutz 19.1 Einleitung Beim Lebensschutz, genauer: beim Recht auf Leben und bei der Pflicht, menschliches Leben zu schützen, stellen sich im Hinblick auf die Lebens- und Handlungswelt von Menschen mit einer körperlichen, psychischen oder geistigen Behinderung ethische Fragen teils speziell und teils in bekannter, jedoch verschärfter Weise. Zusätzliche ethische Fragen stellen sich z. B. bei Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, weil diese grundlegende moralische Rechte – insbesondere ihr Recht auf Selbstbestimmung – nicht oder nur partiell wahrnehmen können. Assistenz und Fürsorge erstrecken sich bei ihnen auch auf Bildung, Artikulation und Interpretation des Willens sowie auf Konzepte der Stellvertretung und des mutmaßlichen Willens. Im Unterschied dazu sind Menschen mit einer körperlichen Behinderung zwar von Ausgrenzung und Diskriminierung betroffen, können jedoch ihre grundlegenden Individualrechte in der Regel selbst wahrnehmen. Das Recht auf Leben konkretisiert als ein grundlegendes Menschenrecht die Menschenwürde und ist mit weiteren Menschenrechten inhaltlich verbunden. Systematisch kann diesen Verbindungen hier nicht nachgegangen werden, wohl aber den Gefährdungen und Konfliktkonstellationen, die sich aufgrund der Behinderung eines Menschen ergeben oder verschärfen: Konflikte am Anfang und am Ende des Lebens sowie Krisen im Verlauf des Lebens.

19.2 Leben und Lebensschutz: Grundgut und moralisches Recht Das Leben eines Menschen ist ein grundlegendes Gut, das allen anderen Gütern vorausliegt und auf dem die anderen Güter aufbauen. Denn Leben ermöglicht personale Existenz und Freiheit, zwischenmenschliche Beziehungen und unwiederholbare Geschichte. Das Recht auf Leben ist ein unbedingter moralischer Anspruch, der sich philosophisch z. B. mit Kants Kategorischem Imperativ (1977/1785) oder mit dem Ansatz von Gewirth (1978), der Leben als allgemein notwendige Voraussetzung der Handlungsfähigkeit ausweist, begründen lässt. Das Recht auf Leben ist auch verfassungs- und völkerrechtlich garantiert: im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (1949, Art. 2, Abs. 2): »Jeder hat das

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Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich«; in der EUGrundrechtecharta (2000, Art. 2, Abs. 1): »Jede Person hat das Recht auf Leben«; in der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« (1948, Art. 3): »Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.« Auch die christlich-jüdische Tradition verweist mit dem fünften Gebot des Dekalogs (Ex 20,13; Dtn 5, 17) im Alten Testament auf die elementare moralische Einsicht, Leib und Leben grundsätzlich zu sichern. Die Achtung vor dem Leben gründet in der Menschenwürde und konkretisiert sich in weiteren grundlegenden Individualrechten wie dem Recht auf Freiheit, dem Recht auf physische und psychische Unversehrtheit sowie dem Recht auf Gesundheitsversorgung im Fall von Krankheit, Unfall, Gebrechlichkeit oder Behinderung. Die Verankerung des Rechts auf Leben in der Menschenwürde verbietet es, den Menschen und das menschliche Leben als bloßes Mittel zu gebrauchen, als Objekt zu behandeln. Dem Recht auf Leben als Abwehr von Übergriffen entspricht vice versa das Tötungsverbot. Jede Tötung eines Unschuldigen wurde in allen Zeiten und Kulturen als unerlaubt erachtet. In sehr eng begrenzten Ausnahmesituationen kann bei einer Tötung, die ein gerechtfertigtes Ziel verfolgt, der Tod eines Menschen gerechtfertigt werden, so etwa in einer Notwehrsituation. Alle Menschen haben ein gleiches Recht auf Leben, ungeachtet personenbezogener Merkmale oder der Lebensphase, in der sie sich befinden. Weitergehend wird der Lebensschutz auf ungeborenes Leben ausgedehnt. Insgesamt besteht die Pflicht, jedes menschliche Leben ›ohne Ansehen der Person‹ zu schützen. Dem Recht auf Leben als Anspruchsrecht entsprechen Schutz- und Hilfspflichten, d. h. andere dürfen das Leben eines Menschen nicht gefährden und müssen ihn nach Möglichkeit in einer Lebens- oder Gesundheitskrise retten. In Verbundenheit des Lebensrechts mit der Menschenwürde ist jeder Mensch aufgefordert, sein Leben in Freiheit zu gestalten. Dies erfordert allerdings Unterstützung durch Staat und Gesellschaft. Insbesondere für Menschen mit einer körperlichen, psychischen oder geistigen Behinderung verbindet sich damit die sozialpolitische Forderung nach der Bereitstellung von Bedingungen, die ein gelingendes Leben ermöglichen (s. Kap. 22).

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_19

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I  Vorstellungen in Praxis und Theorie  –  D  Normative Vorstellungen

19.3 Geschichte und aktuelle Situation Nach wie vor sind Menschen mit einer Behinderung in vielen Ländern der Welt, vor allem in solchen ohne Sozialsystem, faktisch an Leib und Leben bedroht – als Ungeborene, als Neugeborene und als Menschen, die mittellos und stigmatisiert sind. Besonders in Kriegsgebieten, nach Naturkatastrophen oder auf der Flucht (s. Kap. 50) sind Menschen mit einer Behinderung in Leben und Gesundheit besonders bedroht, weil sie sich weniger aus eigener Kraft schützen können. Hier mangelt es an Lebensschutz in Form staatlicher und sozialer Unterstützungsleistungen. Übergriffe und Missachtungen des Rechts auf Leben von Menschen mit Behinderung sind aus ethischer und rechtlicher Sicht nicht nur verboten, sondern schwerwiegendes Unrecht, zumal sie sich gegen besonders verletzbare Menschen richten. Schwerste Verbrechen der Menschheitsgeschichte wurden im Nationalsozialismus an Menschen mit Behinderungen begangen (Klee 2010) (s. Kap. 28). Die im Nationalsozialismus verübte sogenannte Euthanasie ging auf eugenische Ideen zurück, die sich bereits um 1900 stärker verbreitet hatten (s. Kap. 12). Eugenik-Gesetze, die in Japan, den USA und Skandinavien teils noch bis in die 1970er Jahre hinein in Kraft waren, zeigen, dass das Diskriminierungsverbot und das Recht auf Fortpflanzung, d. h. auf die Weitergabe des Lebens, auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch keine Selbstverständlichkeit waren (vgl. u. a. Broberg/Roll-Hansen 1996). Weltweit betrachtet sind das Recht von Menschen mit Behinderung auf Weitergabe des Lebens und die Verbote der Zwangssterilisation und des unfreiwilligen Schwangerschaftsab­ bruchs noch heute in zahlreichen Ländern und Regionen nicht umgesetzt. Menschen mit Behinderung können sich also immer noch nicht darauf verlassen, dass ihre Existenzberechtigung nicht angefochten wird.

19.4 Grundfragen zum Recht auf Leben Moralische und rechtliche Grundfragen, die die Menschenwürde und grundlegende Individualrechte betreffen, stellen sich auch in Bezug auf den Lebensschutz.

Wem kommt Lebensschutz zu? Wann beginnt menschliches Leben, und wer fällt in den Schutzbereich des Rechts auf Leben? In der Europäischen Union kommt dem Embryo ab der Kernverschmelzung Lebensschutz zu. In der bioethischen Diskussion wird ein Streit um die Rechte von Menschen mit unterschiedlich entwickelten Personeneigenschaften und um den moralischen Status geführt (ausführlicher vgl. Graumann 2013, bes. 618– 623). Der moralische Status eines Individuums ist durch Eigenschaften gekennzeichnet, aufgrund derer moralische Berücksichtigung erfolgen soll. Normative Ethiktheorien nennen hier ›menschliches Wesen‹, die ›SKIP‹-Kriterien (Spezies, Kontinuität, Identität und Potentialität) oder aber Eigenschaften von Personen wie Schmerzempfinden, Rationalität, Selbstbewusstsein oder Handlungsfähigkeit (zur SKIP-Diskussion vgl. Damschen/Schönecker 2003). Vor allem vier ethische Richtungen, von denen nur d) mit der deutschen Verfassung vereinbar ist, prägen die Auseinandersetzung: a) Utilitaristische Positionen knüpfen den moralischen Status eines Individuums an seine Fähigkeit, auf die Zukunft bezogene Interessen und Wünsche haben zu können. Säuglingen, Kleinkindern und kognitiv stark beeinträchtigten Menschen würde bei einer schmerzfreien Tötung kein Unrecht geschehen, weil sie keine Zukunftsinteressen haben (vgl. z. B. Singer 1994, bes. 177–224; Kuhse/Singer 1985; McMahan 2002). b) Kontraktualistische Positionen gehen von der Kooperationsfähigkeit eines Individuums aus. Sie nehmen fiktive Übereinkünfte aus rationalem Eigeninteresse an, wozu der gegenseitige Verzicht auf Schädigung des Anderen zählt. Da die Anerkennung des Anderen als moralisches Subjekt auf dessen potentieller Bedrohlichkeit und Vertragsfähigkeit basiert, zählen Menschen mit einer kognitiven Behinderung, Kleinkinder und Menschen am Lebensanfang nicht zum Kreis der moralischen Subjekte (vgl. z. B. Mackie 1881; Gauthier 2000; Hoerster 2003). c) Für kommunitaristische Positionen ist die gegenseitige Zuschreibung von Rechten von der Mitgliedschaft in einer bestimmten Gemeinschaft und den darin geltenden moralischen Werten abhängig (vgl. z. B. MacIntyre 2001, bes. 96–116; Walzer 1983, bes. 31–35). d) Für deontologische Positionen gründet die Würde des Menschen in seiner prinzipiellen Ver-

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nunft-, Handlungs- oder Kommunikationsfähigkeit (vgl. z. B. Kant 1977/1797, 578, 600; Gewirth 1978; Steigleder 1992; Apel 1973; Werner 2003). Mit diesen Bedingungen der Möglichkeit verantwortlichen Handelns ist nicht gemeint, dass dann, wenn ein Mensch diese Fähigkeiten faktisch nicht aufweist, Menschenwürde nicht zukommt. Für konkrete ethische Fragen müssen jedoch auch diese ethischen Ansätze Argumentationsbrücken für menschliches Leben am Anfang und am Ende des Lebens sowie für Menschen mit schwersten kognitiven Einschränkungen schaffen (vgl. Steigleder 1992, 278–288; Düwell 2008, bes. 102–106; Beyleveld 1998). Menschenwürde und das Recht auf Leben und Lebensschutz Die Reichweite des (verfassungsrechtlich) garantierten Rechts auf Leben hängt außerdem mit der Verhältnisbestimmung von Menschenwürde und Menschenrechten zusammen, die in der Rechtsphilosophie kontrovers als ›Mitgift-‹ und als ›Leistungskonzeption‹ diskutiert wird (vgl. Nettesheim 2005). Die ›Mitgiftkonzeption‹ geht davon aus, dass Menschenwürde jedem Menschen ab der Geburt zukommt, die ›Leistungskonzeption‹ schreibt Würde erst dann zu, wenn personale Identität ausgebildet ist (ebd.). Bei letztgenannter wäre für Menschen mit einer kognitiven Behinderung, Neugeborene und Kleinkinder der Lebensschutz nicht garantiert. Wo beginnt die Verletzung des Lebensschutzes? Welche Handlungen oder Strukturen können das Leben eines (potentiellen) Menschen verletzen oder auf kürzere oder längere Sicht gefährden? Bei Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung können eine schlechte Gesundheitsversorgung oder mangelhafte Präventionsmaßnahmen lebensgefährlich werden bzw. zu einer erhöhten oder verfrühten Sterblichkeit führen. Nicht nur in Bezug auf die Chancengleichheit beim Zugang zum Gesundheitswesen – etwa durch den Abbau physischer und kommunikativer Barrieren – besteht noch Verbesserungsbedarf, sondern auch in Bezug auf medizinisches und pflegerisches Fachwissen bezüglich spezieller Formen von Behinderung oder chronischer Erkrankung. Wenn der spontane Wille der Betroffenen, etwa im Fall geistiger Behinderung, gegen eine wichtige Behandlung steht, ist sorgfältig zwischen Lebensgefähr-

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dung durch Unterversorgung und der Wahl der Kommunikations- und Überzeugungsmittel abzuwägen. Für das werdende menschliche Leben sowie für Menschen mit einer schweren geistigen Behinderung oder Demenzerkrankung können Diskriminierung und Vernachlässigung den Lebensschutz gefährden. Lebensschutzes im Spannungsfeld mit anderen grundlegenden Rechten Das Recht auf Leben und die Pflicht des Lebensschutzes können mit dem Recht auf physische Integrität und dem Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung in Konflikt geraten (für das Folgende vgl. Werner 2000, bes. 268.) Die Fähigkeit zur Selbstbestimmung und konkrete selbstbestimmte Willensurteile bauen auf verschiedenen Bedingungen auf. Unter diesen Bedingungen kommt dem Leben besondere Bedeutung zu, da sein Verlust irreversibel ist. Wenn sich die faktische Selbstbestimmung eines Menschen gegen sein Leben richtet, wird zum einen die Position vertreten, dass primär die faktische Selbstbestimmung zu achten sei. Zum anderen wird auf die vernünftige Selbstbestimmung rekurriert. Die Idee der vernünftigen Selbstbestimmung weist eine innere Spannung auf, weil sie den je eigenen, subjektiven und situationsbezogenen Selbstentwurf eines unvertretbaren Individuums mit den Maßstäben einer allgemeinen menschlichen Vernunft verbindet, die der individuellen Freiheit Beschränkungen auferlegt – zum Schutze anderer oder zum Schutz des Individuums vor sich selbst. Die Kontroverse darüber, wie sich dieser Idee unter realen Bedingungen so nahe wie möglich kommen lässt, wird anhalten – und sie soll anhalten, weil die Realisierung dieser Idee eine Aufgabe ist, die die Menschenwürdenorm vorgibt. Für Menschen mit einer Behinderung gilt wie für alle Menschen neben dem Recht auf Leben das Recht auf Freiheit und Achtung der Selbstbestimmung. Wenn die Ziele Gesundheit und Lebensschutz in Konflikt geraten, etwa durch einen ungesunden Lebensstil oder die Nichtbefolgung ärztlicher Anweisungen im Krankheitsfall, ist der Wille des/der Betroffenen ausschlaggebend. Zudem darf z. B. einem durch Contergan geschädigten Menschen ›zu seinem Besten‹ eine Prothese oder einem hörbehinderten Menschen ein Cochlea-Implantat nicht aufgezwungen werden. Insbesondere für Menschen mit einer körperlichen oder psychischen Behinderung gestalten sich die Normenkonflikte in gleicher Weise wie für Menschen ohne eine offensichtliche Behinderung. Bei Menschen

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mit einer geistigen Behinderung tritt jedoch – in Abhängigkeit von der Art und Stärke der kognitiven Einschränkung – die Frage nach der Willensbildung und der Selbstbestimmtheit in den Vordergrund. Nicht selten können lebensrettende oder Krankheit abwendende medizinische Behandlungen erforderlich sein, gegen die sich ein Mensch mit geistiger Behinderung wehrt, etwa wenn eine Frau mit schwerem Autismus an Brustkrebs erkrankt und Diagnostik, Operation und Chemotherapie aus Angst und Überforderung mit Gewaltausbrüchen begegnet. Die Mittel und Wege des Überzeugens und Überredens sowie etwaige Zwangsmittel sind hier sehr sorgfältig mit dem Lebensschutz abzuwägen. Dies gilt auch z. B. für Diäten zur Gewichtsreduktion oder die regelmäßige Medikamentengabe bei Diabetes.

19.5 Ausgewählte ethische Problembereiche Vorgeburtliche genetische Diagnostik Pränatale genetische Diagnostik (PND) verfolgt das Ziel, Chromosomen- und Einzelgenabweichungen des Embryos zu identifizieren. Mit einem nicht-invasiven pränatalen Bluttest (NIPT), der bereit ab der 10. Schwangerschaftswoche Aussagen erlaubt, lassen sich embryonale DNA-Bruchstücke aus dem Blut der Schwangeren ›herausfiltern‹ und ›zusammensetzen‹. Derzeit sind neben dem Geschlecht auch Chromosomenanomalien wie Trisomie 21, 18 und 13 erkennbar sowie – in Abhängigkeit vom Bluttest – Fehlverteilungen der Geschlechtschromosomen (z. B. X, XYY). Künftig werden auf diesem Weg auch molekulargenetische Analysen und damit die Identifikation einiger Hundert bekannter Störungen möglich sein, so z. B. Chorea Huntington, Zystische Fibrose, Muskeldystrophien sowie erhöhte Krebs- oder Demenzrisiken. Eine stärker invasive Methode wie z. B. die Amniozentese (Fruchtwasseruntersuchung), die erst ab der 15. Schwangerschaftswoche möglich ist, birgt ein ca. 1 %iges Risiko eines Spontanaborts. Bei einem auffälligen Befund erfolgt im Rahmen der »medizinischen Indikation« (vgl. StGB § 218) in der Mehrzahl der Fälle ein Schwangerschafts(spät)abbruch. Faktisch ist das Recht des Embryos auf Lebensschutz und Nicht-Diskriminierung damit verletzt. Der Einsatz der PND erfordert sozial- und individualethische Verantwortung. Denn durch weiterführende Untersuchungen, die sich durch die Schwangerenvorsorge (›Mutterpass‹) ergeben, entstehen riskan-

te Freiheiten. Für die PND spricht, dass Schwangere durch einen unauffälligen Befund beruhigt sein oder sich im Wissen um die Behinderung ihres Kindes auf die Geburt und die Zeit danach vorbereiten können. Obwohl die Entscheidung zum Abbruch – abgesehen von der Indikationsstellung durch die Ärzt*innen – bei der Frau liegt und ein Gewissensurteil darstellt, muss berücksichtigt werden, dass die psychische Verfassung der Frau und der soziale Druck eine selbstbestimmte Entscheidung verstellen. Häufig steht die betroffene Frau in einem familiären und sozialen Umfeld, das behindertes Leben negativ bewertet, was erahnen lässt, dass Stigmatisierung und Ausgrenzung das Leben des Kindes und seiner Eltern prägen werden. Die gesellschaftliche Verantwortung darf also entsprechend der moralischen Regel »Kein Sollen ohne Können« nicht privatisiert werden. Die in der medizinischen Versorgung üblichen Voraussetzungen der Freiwilligkeit und informierten Zustimmung sollten durch ethische Kompetenz und psychosoziales Erfahrungswissen vor einer genetischen PND und nach einem auffälligen genetischen Befund ergänzt werden (vgl. u. a. Graumann/Koopmann 2019; Haker 2011). Da Frauenarztpraxen professionelle Lebensberatung angesichts mangelnder Zeit und Kompetenz nicht zu leisten vermögen, bedarf es, so die kritischen Stimmen, einer standardmäßigen Begleitung durch Schwangerschaftskonflikts- und Lebensberatungsstellen. Ansonsten steht zu befürchten, dass genetische PND-Diagnostik zunehmend zu einer Schwangerschaft auf Probe und zu Elternschaft unter Konditionen führt. Außerdem sollte der Zugang zu PND durch das ärztliche Attestierten einer Risikoschwangerschaft durch engere und transparente Kriterien geregelt werden. Im Unterschied zur PND ist die Präimplantationsdiagnostik (PID) nur im Rahmen einer künstlichen Befruchtung möglich. Die im Labor befruchteten Embryonen werden vor der Einpflanzung in die Gebärmutter auf genetische Störungen hin untersucht und gegebenenfalls verworfen. Für die PID gibt es unterschiedliche Adressatengruppen: Manche Paare, die auf natürliche Weise ein Kind bekommen könnten, gehen den Weg der medizinisch assistierten Befruchtung, um die Weitergabe einer familiären Erbkrankheit zu vermeiden. In einigen EU-Staaten werden für die große Gruppe der ungewollt kinderlosen Paare PIDs als Möglichkeit der Erfolgsratenverbesserung und der genetischen Überprüfung durchgeführt. In Deutschland muss eine Ethikkommission zur Durchführung einer PID entscheiden, ob eine famili-

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är bedingte schwerwiegende Erbkrankheit vorliegt. Dabei sind immer wieder die Unterscheidung zwischen ›Gesundheit‹, ›Krankheit‹ und ›Behinderung‹ sowie die Bewertung des ›Schweregrads‹ der prognostizierten Beeinträchtigungen strittig (vgl. Bobbert 2012b). Anders als bei einem durch eine auffällige PND bedingten Schwangerschaftskonflikt werden Lebensrecht und Chancengleichheit bei der PID durch gesellschaftliche Entscheidungen (vgl. Kriterien der Zulässigkeit einer PID) und nicht durch individuelle Gewissensentscheidungen der Schwangeren beeinträchtigt. Befürworter*innen verweisen auf die berechtigten Interessen der werdenden Eltern und gehen davon aus, dass die Lebensqualität des ungeborenen Kindes durch die Behinderung beeinträchtigt werde (vgl. u. a. Birnbacher 2013). Zudem wird auf den Unterschied zwischen einem für alle Beteiligten belastenden Spätabbruch und dem Verwerfen eines genetisch auffälligen Embryos verwiesen. Die Auseinandersetzung um PND und PID wird außerdem durch die Frage geprägt, ab welchem Stadium der Embryonalentwicklung menschliches Leben beginnt bzw. zu schützen ist (vgl. Damschen/Schönecker 2003). Gleichwohl bleibt die Kritik, dass das Lebensrecht künftiger Kinder und das Verständnis von Elternschaft als un-bedingter Annahme eines Kindes eingeschränkt werden, wenn Paare, Ärzteschaft und Gesellschaft durch ›Torhüterdiagnostik‹ nicht jedem Embryo ungeachtet seiner Merkmale die gleiche Chance einräumen, geboren zu werden. Organtransplantation bei Menschen mit einer Behinderung Patient*innen mit einem lebensbedrohlichen Organleiden sind oft auf eine Transplantation angewiesen. Die äußerst knappen Spenderorgane werden in Deutschland über EURO-Transplant nach Gerechtigkeitskriterien wie Dringlichkeit, Erfolgsaussicht und teilweise auch Wartezeit zugeteilt. Gleichwohl können bei der Überweisung vom Hausarzt zum Transplantationszentrum, bei der Aufnahme auf die Warteliste und bei der Frage der akuten Operationsfähigkeit Diskriminierungen stattfinden, indem Ärzt*innen implizite Vorentscheidungen treffen, die den Zugang zu einer lebensrettenden Transplantation für Menschen mit Behinderung nicht eröffnen oder erschweren (ausführlicher vgl. Primc 2016). Die Problematik lässt sich z. B. bei Menschen mit Trisomie 21 veranschaulichen, die zu etwa 40 % an einem angeborenen Herzfehler leiden. Je nach Schwere

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der Erkrankung sind eine Herztransplantation oder gar eine kombinierte Herz-Lungen-Transplantation medizinisch indiziert, so dass sie eigentlich Kandidat*innen für eine Organtransplantation wären. In den Transplantationsstatistiken spiegelt sich dieser Bedarf nicht wider, so dass angenommen werden muss, dass Menschen mit einer Behinderung überproportional seltener zur Organtransplantation zugelassen werden und daher bei einem Organversagen versterben. Die Problematik trat 1996 in das öffentliche Bewusstsein, als die damals 34-jährige Sandra Jensen als weltweit erste Patientin mit Down-Syndrom eine kombinierte Herz-Lungen-Transplantation erhielt. Zuvor hatten zwei Transplantationszentren in Kalifornien sie nicht auf die Warteliste gesetzt, weil sie aufgrund ihrer Behinderung weder das komplexe Vorgehen einer Transplantation verstehen noch die postoperativen Therapieanweisungen einhalten könne (vgl. Overby/Fins 2016, 273). Behandlungsbegrenzung bei nicht (mehr) entscheidungsfähigen schwerstkranken Patient*innen Entscheidungsfähige Patient*innen mit einer unheilbaren, fortschreitenden Erkrankung müssen ihre informierte Zustimmung zu Diagnostik und Therapie geben. Durch Aufklärung befähigt, können sie sich zu Verlaufsprognosen verhalten, die selbst bei schlechten Aussichten noch durch Unsicherheit und die Offenheit des Sterbezeitpunkts geprägt sind. Aus ethischer Sicht schwierig sind Fragen der Behandlungsbegrenzung bei nicht mehr entscheidungsfähigen schwerstkranken Patient*innen (ausführlich vgl. Bobbert 2012a, bes. 309–368). Haben diese zudem eine Behinderung, können problematische Lebensqualitätsbewertungen in die ›gemischten‹ Urteile der Ärzt*innen (Diagnose, Prognose, Indikation) einfließen, d. h. solche Urteile, die Sach- und Werturteile beinhalten. Aber auch bei zunächst gesunden Menschen, die im Laufe ihres Lebens durch einen Unfall (z. B. Verbrennungen, durch Sport- und Verkehrsunfälle) eine Behinderung ›erwerben‹ und nicht mehr oder akut nicht entscheidungsfähig sind, können Lebensqualitätsurteile Außenstehender dazu führen, dass (lebensrettende) Behandlungen nicht ausgeführt werden. Den Sozialwissenschaftlern Albrecht und Devlieger (1999) kommt das Verdienst zu, das »Behinderungsparadox«, das auf Unterschiede in der Selbstund Fremdeinschätzung aufmerksam macht, beschrieben zu haben. Die meisten Menschen mit einer

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I  Vorstellungen in Praxis und Theorie  –  D  Normative Vorstellungen

Behinderung berichten von subjektiv guter Lebensqualität, vergleichbar mit den Werten von Menschen ohne Behinderung. Demgegenüber nehmen die Bevölkerung, Ärzt*innen und andere Mitarbeitende des Gesundheitswesens irrtümlich an, dass Schwerstkranke oder Menschen mit einer Behinderung keine zufriedenstellende Lebensqualität haben. Das »Behinderungs-Paradox« lässt sich dadurch erklären, dass Kranke bzw. Menschen mit einer Behinderung offenbar bestimmte Lebensqualitätsaspekte anders gewichten, weshalb also nicht nur medizinische Aspekte und der Grad der Einschränkung relevant sind. Dies lässt sich u. a. dadurch erklären, dass chronisch Kranke und Menschen mit einer (erworbenen) Behinderung Anpassungs- und Bewältigungsprozesse durchlaufen. Wenn es für das Konzept des ›mutmaßlichen Willens‹ wenig zuverlässige Hinweise gibt, wird die Gefahr größer, dass Außenstehende eigene Befürchtungen und Bewertungen in ihre Interpretation des mutmaßlichen Willens des Betroffenen einfließen lassen. Ist ein Patient/eine Patientin in seiner/ihrer Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigt oder nicht mehr urteilsfähig, muss sich der Arzt zunehmend auf die medizinische Sachlage – in Form von Diagnose und Prognose – stützen. Wenn die Chance zur Lebensrettung, Lebensverlängerung oder Heilung besteht, muss jeder kranke oder behinderte Mensch zunächst einmal maximal behandelt werden – in der Annahme, dass er gerettet werden möchte. Angesichts des Lebensschutzes gelten die Vorsichtsregel und die Pflicht, die Prognose bestmöglich abzusichern. Eine Behandlungsbegrenzung im Sinne passiver Sterbehilfe lässt sich nur dann rechtfertigen, wenn große Sicherheit hinsichtlich Diagnose und Prognose besteht. Andernfalls müssen Schritte zur weiteren Absicherung der Prognose unternommen werden, etwa das Hinzuziehen von Kolleg*innen mit langjähriger klinischer Erfahrung, weitere fachärztliche Abklärungen oder ein gezieltes und zeitlich umrissenes ›Zuwarten‹ unter fortgesetzter Therapie. Dementsprechend wäre bei Formen langanhaltender Bewusstlosigkeit ein Behandlungsabbruch nur dann gerechtfertigt, wenn die Irreversibilität der Bewusstlosigkeit mit großer Sicherheit angenommen werden kann. Behinderung und assistierter Suizid Das Recht auf Selbstbestimmung steht bei der Frage des assistierten Suizids oder des Geschehenlassens eines Suizids meist im Vordergrund, so dass der Hinweis auf die Pflicht zum Lebensschutz paternalistisch

oder respektlos erscheint. Gleichwohl ist nicht nur fraglich, inwieweit ein Mensch autonom und nicht aus einer Depression oder sozialer Isolation heraus die Selbsttötung wünscht, sondern auch, welche Zusatzkriterien Außenstehende aufstellen, um einem Wunsch nach Selbsttötung beipflichten zu können: ›unerträgliches Leiden‹, ›Alternativlosigkeit der Situation‹ oder ›terminale Erkrankung‹. Es liegt näher, einem behinderten Menschen in Bezug auf seine subjektive Mitteilung, unerträglich zu leiden, zu folgen als einem Menschen ohne Behinderung. (Bobbert 2017). Auch hier kommen also implizit Lebensqualitätsbewertungen zum Tragen, die als subjektive Äußerungen ernst zu nehmen sind, jedoch nicht ohne Weiteres als objektive Situationsbeschreibung gelten können. Auch wenn Lebensschutz und Selbstbestimmungsrecht in Spannung zueinander stehen, dürfen die beiden Rechte nicht zu rasch gegeneinander ausgespielt werden, indem implizit vermeintlich ›objektive‹ Lebensqualitätsurteile konsentiert werden.

19.6 Sozialethische Fragen Menschen mit einer körperlichen oder psychischen Behinderung finden häufig keine Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt (s. Kap. 8) und müssen daher mit bescheidenen finanziellen Mitteln auskommen. Dies gilt auch für Menschen mit kognitiven Einschränkungen oder einer geistigen Behinderung. Die Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung zeigen ebenso wie internationale Armutsstudien durchgängig eine negative Korrelation zwischen Armut und Lebenserwartung auf. Darüber hinaus sind Menschen mit einer geistigen Behinderung in vielfältiger Weise auf Unterstützung angewiesen, also lebenslang abhängig von Sozialisation und Impulsen professioneller Helfer*innen und Institutionen. Mit der Qualität der sozialstaatlichen Institutionen und deren Mitarbeiter*innen in Bildung, Arbeit und Wohnen steht und fällt der mehr oder weniger gesunde Lebensstil und die Inanspruchnahme der Möglichkeiten der Gesundheitsversorgung. Der Schutz der Gesundheit und damit des Lebens von Menschen mit einer Behinderung ist also abhängig von den sozialen Strukturen und Unterstützungsmöglichkeiten einer Region und eines Staates. Literatur

Albrecht, Gary L./Devlieger, Patrick L.: The disability paradox: high quality of life against all odds. In: Social Science and Medicine 48 (1999), 977–988.

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Monika Bobbert

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I  Vorstellungen in Praxis und Theorie  –  D  Normative Vorstellungen

20 Gerechtigkeit

20.1 Rawls und das Differenzprinzip

Der Begriff der Gerechtigkeit geht bis auf die Antike zurück. Bereits Platon und Aristoteles bezeichneten Zustände dann als gerecht, wenn jeder erhält, was ihm zukommt: lat. suum cuique –  jedem das Seine. Das ist die bis heute gültige formale Definition von Gerechtigkeit (Tugendhat 1993). Unumstritten ist auch, dass Gerechtigkeit ein intersubjektiver Begriff ist, dass es also um Beziehungen zwischen Subjekten geht (Mazouz 2002). Dabei fällt unter eine Gerechtigkeitsforderung erstens das, was verpflichtend gefordert werden kann, also nicht einfach verdienstlich und freiwillig (supererogatorisch) ist. Und zweitens wird angenommen, dass Gerechtigkeit strikte Gegenseitigkeit oder Reziprozität erfordert. Gerade diese zweite (angebliche) Bedingung von Gerechtigkeit ist in den letzten Jahren – nicht nur durch das Thema Behinderung, sondern auch bezüglich unseres Verhältnisses zu nicht-menschlichen Lebewesen, zur Natur oder zu zukünftigen Generationen – in der Gerechtigkeitsliteratur zunehmend unter Beschuss geraten. Wir werden später noch sehen, dass es Gerechtigkeitstheorien gibt, welche die fundamentale Stellung behinderter Menschen, ihr Lebensrecht und ihre Würde, nicht an strikte Bedingungen der Reziprozität knüpfen. Diese Gerechtigkeitstheorien sind, zumindest was die Thematik Behinderung betrifft, deutlich inklusiver als andere. Neuere Beiträge zur Gerechtigkeit betrachten darüber hinaus nicht nur die Regeln einer gerechten Verteilung  von Gütern und Lasten des sozialen Zusammenlebens und verstehen damit Gerechtigkeit nicht nur als Verteilungsgerechtigkeit, sondern beziehen auch Formen gesellschaftlichen Umgangs und insbesondere kulturelle und soziale Marginalisierungsformen als Probleme der Gerechtigkeit mit ein. John Rawls’ 1971 erschienene Theorie der Gerechtigkeit ist unbestritten die einflussreichste neuzeitliche Gerechtigkeitstheorie. Sowohl ihre Kritiker (z. B. Wong 2009; Terzi 2005) wie auch ihre Befürworter (z. B. Stark 2007) beschäftigen sich teilweise mit der Thematik Behinderung und messen Rawls’ Theorie daran, wie sie mit der Herausforderung Behinde­ rung umgeht. Zwei alternative Gerechtigkeitstheorien sind die Capability-Theorie, eine direkte Antwort auf Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit, und Frickers Theorie epistemischer Ungerechtigkeit, die wichtige Aspekte zum Ausdruck bringt, die in den beiden anderen Theorien höchstens marginal Beachtung finden.

Rawls’ Theorie kann ohne Zweifel als ein philosophisches Plädoyer für einen sozialen und demokratischen Rechtsstaat gesehen werden (Rawls 1971). Seiner Ansicht nach verbindet eine gerechte Ordnung Freiheitsrechte mit sozialem Ausgleich. Dabei betont Rawls auf der einen Seite die individuelle Freiheit jedes einzelnen Menschen, ein Leben nach seiner Wahl führen zu können. Auf der anderen Seite möchte er sicherstellen, dass auch die sozial Schwächsten in einer gerechten Ordnung Berücksichtigung finden. Das Postulat der Freiheit ist damit eingeschränkt, und zwar dahingehend, dass allen Menschen Freiheit ermöglicht werden soll, nicht nur den am besten Gestellten in einer Gesellschaft. Rawls schlägt in seiner Theorie nicht nur bestimmte Gerechtigkeitsgrundsätze vor, sondern entwickelt auch ein methodisches Verfahren zu ihrer Ermittlung. Und zwar bedient er sich der Gedankenfigur eines fiktiven Urzustandes (original position), mit deren Hilfe es seiner Ansicht nach möglich sei, unsere wohlüberlegten Einzelurteile und prinzipiellen Überzeugungen über das Gerechte in einen kohärenten, also widerspruchsfreien, Zusammenhang zu bringen. Im fiktiven Urzustand beraten rationale Parteien (Menschen ohne eine kognitive Beeinträchtigung sowie ohne anderweitig höheren Bedarf!) ohne Wissen über ihre eigene Position, also unter einem sogenannten ›Schleier des Nichtwissens‹ (veil of ignorance), über die soziale Grundordnung in der Gesellschaft. Die Kunstfiguren des ›fiktiven Urzustandes‹ sowie des ›Schleiers des Nichtwissens‹ veranschaulichen, was wir unter unparteiischem Urteilen verstehen sollen: ein Urteilen, das nicht vom egozentrischen Suchen der Parteien nach eigenen Vorteilen bestimmt wird, sondern das allen Betroffenen gleichermaßen gerecht zu werden versucht. Hinter dem ›Schleier des Nichtwissens‹ verschwindet jedes konkrete Wissen über Eigenschaften und Stellungen der einzelnen Partner, etwa das Wissen über das eigene monetäre Vermögen oder eine mögliche kognitive Beeinträchtigung. Von diesen spezifischen Bedingungen also abstrahiert, sollen die Eckdaten einer Theorie der Gerechtigkeit ermittelt werden. Alles andere, also auch mögliche Behinderungen, fällt außerhalb der Theorie der Gerechtigkeit in die Anwendungspraxis von Gerechtigkeit. Gegenstand einer gerechten Verteilung sind gemäß Rawls sogenannte Grundgüter (im Original: primary goods), also Güter, die jede rationale Person haben

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_20

20 Gerechtigkeit

möchte, weil sie ganz unterschiedliche Lebenspläne (und somit Freiheit im eigenen Lebensentwurf) ermöglichen. Rawls zählt zu diesen Grundgütern folgende: Grundfreiheiten, Freizügigkeit und freie Berufswahl, soziale (Einfluss-)Positionen, Einkommen und Vermögen sowie die sozialen Grundlagen der Selbstachtung. Durch spieltheoretische Überlegungen glaubt Rawls anschließend zeigen zu können, dass sich die im Verfahren beteiligten Parteien auf zwei Grundsätze der (Verteilungs-)Gerechtigkeit einigen würden, und zwar erstens und vorranging auf ein größtmögliches System von gleichen Grundfreiheiten für alle. Der zweite Grundsatz ist in zwei Teile aufgeteilt. Zum einen verlangt er faire Chancengleichheit hinsichtlich sozialer Stellungen in der Gesellschaft. Zum anderen fordert er, dass Einkommen und Vermögen gleich zu verteilen sind, es sei denn, eine ungleiche Verteilung wäre zum Vorteil aller. Rawls nennt den zweiten Grundsatz das Differenzprinzip, weil er eine zulässige Ungleichbehandlung beschreibt. Rawls’ Theorie wird von verschiedenen Seiten, insbesondere vom Kommunitarismus, kritisiert (z. B. MacIntyre 1985; Sandel 1982; Walzer 1983). Eine andere Linie der Kritik, die sich stellenweise mit der kommunitaristischen Kritik überschnitt, kam vom sogenannten Capability-Ansatz. Dieser wurde maßgeblich von dem indischen Ökonomen und Philosophen Amartya Sen sowie der US-amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum entwickelt. Insbesondere drei vom Capability-Ansatz geäußerte Kritikpunkte sind für den vorliegenden Zusammenhang zentral. Erstens kritisiert Nussbaum (2006) Rawls’ ›schwache Theorie des Guten‹ respektive den Vorrang des Gerechten vor dem Guten und setzt diesem ihre ›dichte vage Theorie des Guten‹ entgegen. Sie kritisiert damit, ähnlich wie die oben genannten Kommunitaristen, dass eine Theorie des Gerechten ohne eine vage Theorie des Guten mit allerdings starken (dichten) Annahmen weder vorstellbar noch wirklich gerecht sein könne. Zweitens kritisieren sowohl Sen (2009) als auch Nussbaum (2006) Rawls’ Minimalkonzeption der Gerechtigkeit als Güterverteilung, indem sie einwerfen, man müsse auch darauf schauen, was Menschen mit Gütern eigentlich tun und sein könnten. Drittens kritisieren beide das methodische Vorgehen (›fiktiver Urzustand‹ und ›Schleier des Nichtwissens‹) der ›Theorie der Gerechtigkeit‹, da Rawls annimmt, dass Menschen rationale Wesen seien und keinerlei körperliche oder kognitive Beeinträchtigung aufweisen. Eine Konsequenz dieses methodischen Vorgehens ist u. a., dass Herausforderungen wie Behin-

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derung nicht auf der Ebene der Gerechtigkeitstheorie Anwendung finden, sondern nur noch auf Ebene der praktischen Anwendung behandelt werden. Bevor diese Kritik weiter ausgeführt wird, müssen die Konturen des Capability-Ansatzes bekannt sein. Im Folgenden sollen also dessen zentrale Annahmen vorgestellt und insbesondere die Frage beantwortet werden, ob und ggf. wie es dem Capability-Ansatz besser gelingt, Behinderung als ein Thema von Gerechtigkeit zu etablieren. Folgt man nämlich Lorella Terzi (2007), dann fordert Behinderung Gerechtigkeitstheorien in zweierlei Hinsicht heraus: erstens unter dem Aspekt, wie wir Behinderung definieren und verstehen, und zweitens unter dem Aspekt, wie Gerechtigkeitstheorien in der Lage sind, die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung zu berücksichtigen und ihnen gleichen Respekt wie anderen Menschen entgegenzubringen.

20.2 Der Capability-Ansatz Anders als Sen, der vorwiegend (und zuerst) an den ökonomischen Grundlagen des Capability-Ansatzes gearbeitet hat, geht es Nussbaum stärker um dessen philosophische Grundlagen. Viel deutlicher als Sen hat sie den Ansatz als Wohlergehensansatz ausgearbeitet und seine tugendethische, insbesondere aristotelische, Verankerung betont. Anders als Sen vertritt Nussbaum eine objektive Theorie des guten Lebens. Sen erachtet dies als weder möglich noch wünschenswert. Darüber hinaus gibt Nussbaum auch – u. a. mit ihrem Buch The Frontiers of Justice (2006) – neue Impulse für die Thematik Behinderung und Gerech­ tigkeit. Statt an einer Auffassung festzuhalten, die Behinderung an persönlichen Defiziten und individueller Benachteiligung festmacht, fordert der CapabilityAnsatz – dem kulturellen und dem sozialen Modell von Behinderung vergleichbar (s. Kap. 4) – dazu auf, die strukturellen Bedingungen einer Gesellschaft als eine bedeutende Ursache von Behinderung ins Auge zu fassen. Der Capability-Ansatz reduziert Gerechtigkeitsansprüche daher auch nicht auf Kompensation für individuelle Schicksalsschläge (sog. brute luck, vgl. Richard Dworkin 2000), wie das bei vielen Gerechtigkeitstheorien der Fall ist. Im Gegenteil: Er achtet auf die gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen und nimmt an, dass Menschen Bedürfnisse haben, die mit ihrem Geschlecht, ihrem Alter, mit einer Krankheit oder Behinderung zu tun haben

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I  Vorstellungen in Praxis und Theorie  –  D  Normative Vorstellungen

und die in der Konsequenz unterschiedliche Maßnahmen (nicht nur Kompensation) erfordern, um sicherzustellen, dass sie nicht unter Ungleichheit und einem schlechten Leben leiden (s. Kap. 22). Mit diesen Annahmen stellt sich der Capability-Ansatz u. a. gegen die von Rawls gewählte methodische Figur des ›Schleiers des Nichtwissens‹ sowie gegen seine grundlegenden kontraktualistischen Annahmen. Das von Rawls gewählte methodische Vorgehen verschleiert nämlich, dass Menschen mit Behinderung deutlich mehr Mittel benötigen als andere, um denselben Grad an Wohlergehen oder dasselbe Maß an Freiheit zu erlangen (Kuklys 2005). Dies hängt mit einer zweiten problematischen Annahme bei Rawls zusammen, nämlich der theoretischen Voraussetzung, dass Menschen gleich, frei und unabhängig sind und nur so Partner in einem sozialen Vertrag sein können. Dieser zentralen vertragstheoretischen Annahme, die Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit zugrunde liegt, setzt der Capability-Ansatz die Theorie zentraler Verbundenheit zwischen Menschen entgegen sowie die damit verbundene Tatsache, dass Menschen auch bedürftige und abhängige Wesen sind, die zentral auf menschliche Fürsorge angewiesen sind. Dabei wird die Abweichung, die eine Schädigung oder eine Behinderung mit sich bringt, nicht bereits im Ansatz negativ bewertet. Die Verschiedenheit von Menschen wird im Verwirklichungschancenansatz vielmehr auf zwei Arten hervorgehoben: Erstens wird die Pluralität von Funktionen betont, die zu einem guten Leben beitragen können. Daher kann das Leben eines Menschen mit Behinderung in einer Hinsicht schlecht sein, in vielen anderen Bereichen – die zudem kompensatorische Wirkungen entfalten können – aber gut. Zweitens werden die Konversionsfaktoren betont, welche die Umwandlung von Ressourcen in Aspekte personalen Wohlergehens behindern oder ermöglichen. Daher liegt im Verwirklichungschancenansatz ein besonderes Augenmerk auf den außerhalb des Individuums liegenden sozialen, kulturellen und strukturellen Bedingungen eines guten Lebens. Nussbaum selbst vertritt (anders als Sen, der eine solche substanzielle Gerechtigkeitstheorie immer abgelehnt hat) eine Schwellenkonzeption der Gerechtigkeit. Dabei unterscheidet sie eine Schwelle in Bezug auf die Fähigkeit zur Ausübung von Tätigkeiten, unterhalb derer ein Leben so verarmt wäre, dass es überhaupt nicht mehr als menschliches Leben gelten könnte, und eine höher anzusetzende Schwelle, unterhalb derer die für den Menschen charakteristischen Tätigkeiten so reduziert ausgeübt werden, dass

das entsprechende Leben zwar als ein menschliches, nicht aber als ein gutes menschliches Leben bezeichnet würde. Die zweite Schwelle ist nach Ansicht Nussbaums die für die Politik entscheidende. Denn es ist nicht wünschenswert, dass die Gesellschaften ihren Bürgern nur eine minimale Ausübung von Tätigkeiten ermöglichen. Was sind nun die zentralen Annahmen des Capability-Ansatzes? Auf einen Satz kondensiert: Gerechtigkeit bedingt, dass Menschen die Befähigungen oder Verwirklichungschancen dafür erhalten, ein gutes Leben nach ihrer Wahl führen zu können. Der Capability-Ansatz nennt diese Wahlfreiheiten oder Chancen capabilities. Obwohl dieser Begriff schwierig auf Deutsch zu übersetzen ist, trifft der Kunstbegriff ›Verwirklichungschancen‹ wohl am besten die eigentliche Bedeutung von capabilities. Denn es geht bei capabilities um Verwirklichung und zentral um Chancen, also um substanzielle Möglichkeiten und Freiheiten. Ein zweiter wichtiger Begriff im Capability-Ansatz ist der der functionings, was man übersetzen kann mit ›Funktionen‹. Diese können unterteilt werden in beings, also Seinszustände, und doings, Tätigkeiten. Es geht also beim Capability-Ansatz darum, was Menschen tun und sein können. Der Unterschied zwischen capabilities und functionings besteht darin, dass Erstere wertvolle Optionen bezeichnen, die effektiven, also nicht nur theoretischen, Möglichkeiten entsprechen, während Letztere das benennen, was erreicht oder realisiert wurde. Das, was nach Ansicht des Capability-Ansatzes eine Gesellschaft ihren Bürgern bereitstellen sollte, sind capabilities, also Wahlfreiheiten, ein gutes Leben nach ihrer Wahl leben zu können. Behinderung kann in diesem Ansatz also als eine Art capability deprivation bezeichnet werden, nämlich als ein Mangel an Chancen, ein gutes Leben führen zu können, bedingt durch eine Wechselwirkung zwischen inneren und äußeren Faktoren, genauer: den personalen, insbesondere den körperlichen, Voraussetzungen eines Menschen und den sozialen, kulturellen und strukturellen Bedingungen einer Gesellschaft, in der er lebt. Dabei können, laut Jonathan Wolff und Avner de Shalit (2007), drei Arten von behinderungsrelevanten Risiken unterschieden werden: • Risiken, die mit spezifischen Funktionen zu tun haben, also z. B. ständige gesundheitliche Probleme, starke Schmerzen usw. • Risiken über bestimmte Ungleichheitskategorien hinweg (sog. cross-category risks). Damit sind z. B. zusätzliche empirische Ungleichheits-Risiken gemeint, denen Menschen mit Behinderung beson-

20 Gerechtigkeit

ders ausgesetzt sind. Ein Beispiel für ein solches cross-category risk ist die Armut. • umgekehrte, über Ungleichheitskategorien hinweggehende Risiken (sog. inverse cross-category risks). Dabei wird ein functioning gesichert, ein anderes aber einem höheren Risiko ausgesetzt. Ein Beispiel dafür wäre, dass jemand mit entstelltem Gesicht das Haus nicht mehr verlässt, um sich selbst vor sozialem Stigma zu schützen, so aber soziale Isolation und Einsamkeit riskiert. Indem die Person also ein Risiko vermeidet, geht sie ein anderes ein. Anders als beim Rawlsschen Güteransatz betont Sen (1990), wie oben bereits erwähnt, dass es in der Evaluation menschlichen Wohlergehens nicht um Güter an und für sich gehe, sondern darum, was Menschen mit den Gütern, die ihnen zur Verfügung stehen, machen können, konkret: wie sie diese Güter in Bestandteile guten Lebens umwandeln können. Diese Umwandlungen bezeichnet man als Konversionen. Dabei kann man nach Ingrid Robeyns (2005) drei Gruppen von Konversionsfaktoren unterscheiden: • persönliche Konversionsfaktoren (beispielsweise Intelligenz oder Körperkraft) • soziale Konversionsfaktoren (beispielsweise soziale Normen und Einstellungen) • umweltbedingte Konversionsfaktoren (beispielsweise Klima oder bauliche Umwelt). Auch an der Stelle zeigt sich wieder, dass Menschen mit Behinderung stärker als andere Menschen Risiken ausgesetzt sind. Zum einen ist auf individueller Ebene ihre persönliche Ausgangslage nachteilig, beispielsweise aufgrund von Schädigungen der Körperfunktionen und -strukturen und den dadurch bedingten Beeinträchtigungen der Aktivität und Partizipation. Zum anderen sind die sozialen und die umweltbedingten, strukturellen Risiken zu betonen. Denn soziale Normen und Vorstellungen, die auch mit Macht verbunden sind, gesellschaftliche Bilder zu prägen, sowie strukturelle Hindernisse wie fehlende Hilfsmittel oder Zugänglichkeit stellen Menschen mit Behinderungen immer wieder in ihren Bemühungen, ein gutes Leben zu führen, vor schwer zu bewältigende Herausforderungen. Mit der Ausrichtung an der Heterogenität menschlicher Bedürfnisse, an menschlicher Verbundenheit sowie an den strukturellen, sozialen und kulturellen Bedingungen und Voraussetzungen von Gerechtigkeit wird nun auch deutlich, dass es bei Gerechtigkeitsforderungen nicht nur um Fragen der Verteilungsgerechtigkeit geht, sondern um weitergehende

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Fragen zwischenmenschlichen Zusammenlebens, von care (also Fürsorge und Empathie), aber auch darum, überhaupt eine Sprache für die Erfahrungen und Erlebnisse von Menschen mit Behinderung zu finden. Genau diesem Punkt widmet sich der zweite Ansatz, der indirekt als kritische Antwort auf die Gerechtigkeitstheorie von Rawls gesehen werden kann.

20.3 Behinderung und epistemische Ungerechtigkeit Das Innovative des Ansatzes, den die englische Philosophin Miranda Fricker (2007) als erste in die Gerechtigkeitsdebatte eingebracht hat, besteht darin, dass er metatheoretische, genauer epistemologische, Fragen nach dem Ort und der Herkunft von Wissen mit genuin inhaltlichen Gerechtigkeitsfragen verbindet. Dabei versteht Fricker ihren Ansatz vorwiegend negativ, d. h. sie ist zunächst einmal daran interessiert, diejenigen Formen von Ungerechtigkeit besser zu verstehen, die zentral mit der Art und Weise zu tun haben, wie Wissen zustande kommt und wer überhaupt und in welcher Weise als Wissende*r oder Unwissende*r bezeichnet wird. Fricker unterscheidet zwei Formen epistemischer Ungerechtigkeit. Die eine Form nennt sie testimonial injustice (etwas sperrig kann das mit ›Zeugnisungerechtigkeit‹ übersetzt werden), die andere, fundamentalere Form hermeneutical injustice (›hermeneutische Ungerechtigkeit‹). Bei der ersten Form, der Zeugnisungerechtigkeit, werden die Aussagen und Sichtweisen von Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe abgewertet. Im Zusammenhang mit Behinderung zeigt sich dies klassischerweise als Behindertenfeindlichkeit oder in anderen Formen von Diskriminierung (s. Kap. 51). Testimonial injustice bezieht sich auf soziale und kulturelle Formen der Abwertung von Erfahrungen behinderter Menschen und ist gut beobachtbar an der Art und Weise, wie das Leben mit Behinderung in Kultur und Medien thematisiert wird. Die zweite, fundamentalere Form der epistemi­ schen Ungerechtigkeit, die hermeneutische Ungerech­ tigkeit, verletzt Menschen wiederum, indem Aspekte ihrer Identität unterdrückt werden. Sie verweist damit auf das, was Menschen von sich selbst verstehen und wissen können, bzw. auf den Sinn, den sie eigenen Erfahrungen über Sprache verleihen können. Aufgrund hermeneutischer Marginalisierung gelingt es Menschen nämlich nicht oder nur schlecht, ihren Erfah-

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I  Vorstellungen in Praxis und Theorie  –  D  Normative Vorstellungen

rungen und Erlebnissen Sinn zu entnehmen, ja diese überhaupt zum Ausdruck zu bringen. Die Ungerechtigkeit besteht, laut Fricker, darin, dass bedeutende Anteile der individuellen sozialen Erfahrungen vom kollektiven Verständnis verdrängt werden, was wiederum eine strukturelle Ungerechtigkeit darstellt. Fundamental ist diese Form der Ungerechtigkeit, weil Betroffene keine Sprache dafür finden, was ihnen geschieht, und in der Folge kein oder zumindest kein detailliertes (und vor allem kein sozial geteiltes) Wissen darüber existiert, dass diese Erfahrung als Ungerechtigkeit angesehen werden könnte. Literatur

Dworkin, Ronald: Sovereign Virtue – the Theory and Practice of Equality. Cambridge MA 2000. Fricker, Miranda: Epistemic Justice: Power and the Ethics of Knowing. Oxford 2007. Kuklys, Wiebke: Amartya Sen’s Capability Approach: Theoretical Insights and Empirical Application. Berlin 2005. MacIntyre, Alasdair: After Virtue: A Study in Moral Theory. London 1985. Mazouz, Nadia. Gerechtigkeit. In: Marcus Düwell/Christoph Hübenthal/Micha H. Werner (Hg.): Handbuch Ethik. Stuttgart 2002, 365–370. Nussbaum, Martha: Frontiers of Justice: Disability, Nationality, Species Membership. Cambridge MA 2006. Rawls, John: A Theory of Justice. Oxford 1971.

Robeyns, Ingrid. The Capability Approach: A Theoretical Survey. In: Journal of Human Development 6/1 (2005), 93–114. Sandel, Michael: Liberalism and the Limits of Justice. Cambridge MA 1982. Sen, Amartya. Justice: Means Versus Freedoms. In: Philosophy and Public Affairs 19/2 (1990), 111–121. Sen, Amartya. The Idea of Justice. London 2009. Stark, Cynthia A.: How to Include the Severely Disabled in a Contractarian Theory of Justice. In: Journal of Political Philosophy 15/2 (2007), 217–245. Terzi, Lorella: A Capability Perspective on Impairment, Disability and Special Needs: Towards Social Justice in Education. In: Theory and Research in Education 3/2 (2005), 197–223. Terzi, Lorella: A Capability Perspective on Impairment, Disability, and Special Needs. In: Randall Curren (Hg.): Philosophy of Education – an Anthology. Malden 2007, 298– 313. Tugendhat, Ernst: Vorlesungen über Ethik. Frankfurt a. M. 1993. Walzer, Michael: Spheres of Justice. New York 1983. Wolff, Jonathan/De-Shalit, Avner: Disadvantage. Oxford 2007. Wong, Sophia Isako: Duties of Justice to Citizens with Cognitive Disabilities. In: Metaphilosophy 40/3–4 (2009), 382–401.

Franziska Felder

21  Selbstsorge und Fürsorge

21 Selbstsorge und Fürsorge 21.1 Selbstverantwortliche Sorge oder selbstkultivierendes Tun Das Verhältnis von Selbstsorge und Fürsorge untersuchen europäische Forschende im Kontext der ethics of care. Die amerikanische Psychologin Carol Gilligan (2014, 89) legt einen empirisch gestützten theoretischen Entwurf vor, wie Menschen im Laufe des Heranwachsens sich sowie ihren Umgang mit alltäglichen Konflikten verändern und dabei allmählich ein differenzierteres Selbstverhältnis entwickeln (1984, 90–95). Gilligan (1977) schreibt, es seien sowohl das Selbst als auch andere zu unterstützen und zu schützen, die Bedürfnisse des Selbst müssten willentlich entdeckt und mit den Bedürfnissen anderer in einem neuen Gleichgewicht ausgelotet werden, um zunehmend verantwortlicher zu handeln. Die amerikanische Politikwissenschaftlerin Joan Tronto (1993, 103) wiederum erwähnt nicht nur ganz allgemein die Mitwelt, sondern benennt ausdrücklich auch die Sorge für die Körper und für ›selves‹. Explizit spricht sie von self-care (Tronto 2013, 20, 146) und interpretiert den Satz »I take good care of myself« als einen Ausdruck dafür, dass Menschen sich als beides zugleich ansehen: als eine fürsorgend tätige Person und als das Gegenüber der Fürsorge (Tronto 2013). Ein zweiter Diskussionsstrang zur ›Selbstsorge‹ bezieht sich auf den französischen Philosophen Michel Foucault (Foucault 1985; 1993). Dieser legt seine Überlegungen unter Bezugnahme auf den antiken Begriff dar: »Epimeleia heautou, das ist die Sorge um sich selbst, das Sich-um-sich-Kümmern, das Sich-umsich-Sorgen, das Sich-selbst-Aufmerksamkeit-Zuwenden« (Foucault 2009, 16). Foucault (1989) erläutert die Sorge um sich (souci de soi) und meint damit ein selbsterkennendes und kultivierendes Tun, in dem das Individuum einen Prozess der Subjektivierung erlebt. Foucault thematisiert ›Selbstsorge‹ als richtige Ausübung bzw. Umwandlung der Macht, als eine Art ›Selbstbemeisterung‹ (maîtrise de soi) (Dietschi/Reichenbach 2014, 583) und versteht sie als eine Möglichkeit, »Macht über sich selbst zu gewinnen und diese Macht ins Spiel zu bringen gegen die Bevormundung durch eine herrschende Macht« (Schmid 1995, 534). Auch wenn das Verhältnis von Selbstsorge und Fürsorge bei Foucault und in seiner Rezeption keineswegs im Zentrum steht, so legt Wilhelm Schmid, der die »Sorge für sich selbst« (Schmid 2018, 39) unter dem Oberbegriff der ›Selbstfreundschaft‹ fasst, doch

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dar, eine wiederholte und eingehende Beschäftigung mit sich selbst könne durchaus ein größeres Verständnis und damit auch mehr Einfühlung im Sinne der »Selbstempathie« hervorbringen, wodurch auch Einfühlung in und das Verständnis für andere zunehmen mögen (ebd., 36). Hingegen erwähnen Günter Gödde und Jörg Zirfas (2018, 335) »Sorgebeziehungen, die mit der Selbstsorge verbunden sind – aber zugleich über diese hinausgehen, wie die Sorge um die Anderen und die Sorge um die Welt« eher unter negativem Vorzeichen, indem sie fürsorgende Beziehungen im Rahmen der Kritik an einer Moral der ›Selbstlosigkeit‹ und ›Selbstverleugnung‹ thematisieren. Sie benennen in diesem Zusammenhang – zwar berechtigt, jedoch allzu einseitig – auch sozialberuflich Tätige und »die unentbehrlichen Ehefrauen und Mütter, die mit ihrer altruistischen Haltung an der Grenze der Selbstüberforderung leben« (Gödde/Zirfas 2018, 337). Es klingt fast so, als hätten diese allesamt eine zwanghafte Helferhaltung, die ein besonderes psychisches Risiko darstellt (Schmidbauer 2017). Entsprechend verleihen Gödde und Zirfas der Befürchtung Ausdruck, dass Menschen, die für andere sorgen, »sich in ihrer Helfer-Rolle oft hilflos fühlen und ihre Ohnmacht auf Kosten der Hilfsbedürftigen kompensieren« (Gödde/Zirfas 2018, 337). Als besonderes Problem wird angesehen, wenn helfende Menschen zu wenig Distanz zu ihrer Klientel wahren (ebd.). Gerade das unterscheidet die im Anschluss an Foucault mit der Selbstsorge befassten Forschenden von den im Rahmen der ethics of care Argumentierenden: Wer denkerisch bei der Selbstsorge beginnt, läuft Gefahr, die Fürsorge eher zu streifen, sie gerät nicht umfassend in den Blick. Wenn dagegen die Fürsorge und die mit ihr verbundenen Konflikte den Ausgangspunkt bilden, kann das Verhältnis von Selbstsorge und Fürsorge komplexer analysiert werden.

21.2 Selbstsorge in ethico-politischen Theorien der Fürsorge Mit ›Fürsorge‹ sind zum einen helfende Interaktionen gemeint, die sich als Unterstützung oder Assistenz – aber auch als Versorgung, Beratung, Begleitung, Betreuung – skizzieren lassen. Gelegentlich verweisen erläuternde Attribute auf diejenigen, die andere unterstützen, etwa, wenn von ›elterlicher Fürsorge‹ die Rede ist oder von Kindern, die für Angehörige sorgen (Wihstutz/Schiwarov 2018) und im Englischen als young carer bezeichnet werden.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_21

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I  Vorstellungen in Praxis und Theorie  –  D  Normative Vorstellungen

›Fürsorge‹ besitzt zum anderen eine ethico-politische Dimension, es geht um ihr Gelingen, so dass sie als achtsame Unterstützung, hilfreiche Assistenz, wohltuende Versorgung, zugewandte Beratung, behutsame Begleitung, rücksichtsvolle Betreuung beschrieben werden kann (Timmerman/Baart 2016,195–196). Im Falle des Misslingens der Interaktionen, also bei mangelhafter Fürsorge, stellt sich die Praxis als enttäuschend oder erniedrigend dar: Beteiligte erleben das Tun als übergriffig, gewaltsam, beschämend oder entwürdigend. Die Forschung zur ethico-politischen Dimension wird im deutschsprachigen Raum unter den Begriffen ›Verantwortung‹ (Maihofer 1988, 47), »Care-Ethik« (Pauer-Studer 1996, 44), »Ethik der Achtsamkeit« (Conradi 2001, 24), »sozialethische Theorie der Fürsorge« (Schnabl 2005) oder »Fürsorgeethik« (Dingler 2016, 94) diskutiert. Wenngleich in der europäischen Wissenschaft nach wie vor der amerikanisch geprägte Fachbegriff care Verwendung findet, etwa in Veröffentlichungen in französischer (éthique et politique du care) und spanischer (ética del care) Sprache (Vosman 2016, 34), wurde dennoch ein vielfältiger ethicopolitischer Theorieansatz entwickelt, der hier entlang seiner Schlüsselbegriffe erläutert wird. Ein Ansporn für diese Forschung ist die Kritik an der Tatsache, dass fürsorgliche Praxis eine gesellschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Herabsetzung erfährt. Daher sind ethico-politische Ansätze oftmals transformatorisch inspiriert (Held 2010, 117) und reflektieren über ›Fürsorge‹ ausgehend von einem neuen Bewusstsein der Wertschätzung entsprechender Tätigkeiten und der daran beteiligten Menschen. Im Zuge der wertschätzenden Reflexion fürsorglicher Praxis entsteht der Anspruch, das Besondere der Praxis möge das Allgemeine der Theorie bereichern. Die Theoriebildung bewegt sich nicht vom Abstrakten zum Konkreten, sondern nimmt das Konkrete fürsorglicher Praxis als Anlass zur Abstraktion und Entwicklung einer ethico-politischen Theorie der Fürsorge. Durch eine solche Herangehensweise verändert sich der Horizont der Forschung auf mehrerlei Weise. 1. Die Entwicklung ethico-politischer Ansätze intensiviert sich dadurch, dass nicht mehr in erster Linie frühere Texte berücksichtigt werden, sondern nunmehr der situierende Kontext und die Erfahrung, welche die Fürsorgepraxis eröffnet, ebenfalls eine wichtige Rolle spielen und Eingang in die Theoriebildung finden. 2. In der europäischen ›Fürsorgeethik‹ erhalten Topoi wie »achtsame Zuwendung« (Conradi 2010,

91, 94–95), Präsenz (Timmerman/Baart 2016) und die Übernahme von (auch politischer) Verantwortung (Heier 2016) durch die helfende Person eine besondere Bedeutung. 3. Die glückende Selbstsorge stellt ein relevantes Kriterium des Gelingens fürsorglicher Praxis dar. Wilhelm Schmid (2018, 36) skizziert den Pfad von der »Selbstempathie« zur Einfühlung in andere und meint damit offenbar, auf diese Weise könnten Menschen mit anderen in Beziehung treten. Die ›Fürsorgeethik‹ beschreibt eine Bewegung in die umgekehrte Richtung: Menschen stehen bereits in einer (helfenden) Beziehung. Nun gilt es, von der womöglich exklusiv-unbedingten Sorge für andere den Weg hin zu mehr Aufmerksamkeit für das eigene Selbst zu finden. Dies wird in CareTheorien nicht – wie bei Gödde und Zirfas (2018, 337) – als Problem von zu geringer Distanz (in der helfenden Beziehung) angesehen. Vielmehr rekonstruieren fürsorgeethische Ansätze dies als Problem einer zu spärlichen Aufmerksamkeit und Sorge für das eigene Selbst. ›Selbstsorge‹ bedeutet hier, sich um sich selbst zu kümmern und entsprechend Fürsorge auch sich selbst gegenüber walten zu lassen, Margrit Brückner spricht von »Achtsamkeit gegenüber der eigenen Person als Teil von Sorgeprozessen« (Brückner 2015, 29) sowie überdies davon, auch selbst Hilfe anzunehmen (ebd., 30). Gilligan (1991, 97) erläutert, dass Menschen, die helfend in Interaktionen engagiert sind, leicht ihre eigenen Anliegen vergessen, sofern sie sich intensiv auf die Perspektive anderer einlassen. Das habe auch damit zu tun, dass Fürsorge konventioneller Weise mit Selbstlosigkeit verwechselt werde, und helfende Menschen versäumen, ihre eigenen Bedürfnisse in das Fürsorgehandeln einzubeziehen (ebd.). Die Fürsorgepraxis beschreibt Gilligan im Sinne eines Ideals menschlicher Bezogenheit. Zugleich formuliert sie eine neue Theorie der Entwicklung von Selbst(bewusstsein) (ebd., 86–87) unter feministischen Gesichtspunkten, indem sie die allmähliche Zunahme der Selbstsorge und Selbstverantwortlichkeit als emanzipativen Akt versteht (Gilligan 1983, 144). Gilligan betont, wie wichtig es sei, zu lernen, die eigene Stimme zu erheben und für sich selbst und das eigene Tun Verantwortung zu übernehmen (Gilligan 2014, 102). Neben die in der Ethik bis heute dominanten Vorstellungen von Gerechtigkeit (s. Kap. 20) und Reziprozität (Conradi 2001, 61–70, 132–145) stellt Gilligan die Topoi ›Relationalität‹, Verantwortung

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und Fürsorge. Letztere sieht Gilligan als mindestens ebenso relevant an und lässt sie zum Gegenstand der ethischen Forschung werden. Gerade weil Gilligan ›care‹ in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt, verdeutlicht sie, wie problematisch es ist, »Fürsorge mit Selbstaufopferung« gleichzusetzen und sich damit zugleich einer eigenen Positionierung zu entziehen (Gilligan 1991, 94). Zuwendung und Sorge dürfen sich nicht bloß auf andere richten: Helfende sollten demnach auch sich selbst und ihre eigenen Bedürfnisse wahrnehmen (Kittay 2004). Im Idealfall gehören also die Sorge für andere und die Selbstsorge zusammen (Conradi 2010, 94–95; Eckart 2004, 38). 4. Der Blick der Forschung richtet sich nicht länger überwiegend auf die achtsame Zuwendung der fürsorgend-helfenden Person, in der englischsprachigen Fachliteratur als service provider oder care giver bezeichnet, sondern zunehmend auf die service user oder care receiver genannten Menschen. Auch wenn oft von der Selbstsorge der helfenden Menschen die Rede ist, so sei doch deutlich darauf hingewiesen, dass viele Nehmende auch als Gebende tätig sind, etwa wenn sie selbst Eltern sind oder als Kinder für ihre alternden Eltern sorgen (Shakespeare 2000, 40). Die von der klassischen philosophischen Ethik unparteiisch genannte Position – also die kontextlose Außenperspektive einer beobachtenden Person – erscheint wenig angemessen für die Beurteilung der Fürsorge als gelingend (Vosman 2016, 29). Vielmehr kommt der Einschätzung und Reaktion derjenigen Menschen eine besondere Bedeutung zu (Tronto 1993, 106– 108, 127–137; 2013, 150), die an helfenden Interaktionen mindestens nehmend – idealerweise aber maßgeblich mitbestimmend – beteiligt sind (Barnes 2016, 339). Die Fürsorgeethik rückt entsprechend partizipative Elemente in den Mittelpunkt: Es ist ein Anliegen, die Stimme derjenigen Menschen zu vernehmen, welche sich über Assistenz und Unterstützung aus einer nehmend beteiligten Position äußern. 5. Darüber hinaus lenken die ethico-politischen Theorien der Fürsorge fünftens die Aufmerksamkeit auf das, was im helfend-assistierenden bzw. im nehmend-beteiligten Handeln zwischen den Menschen geschieht (caring interactivities), es ist von Relationalität die Rede. Entsprechend akzentuiert Christina Schües, dass Fürsorgebeziehungen »die aktive Zuwendung beinhalten, aber auch auf der grundsätzlichen Bezogenheit zwischen den Indivi-

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duen beruhen« (Schües 2016). Das Gelingen oder Misslingen fürsorglicher Praxis liegt teils im Ermessen der Menschen, die Unterstützung oder Assistenz erhalten, und hat teils mit der Qualität des Kontakts zwischen hilfesuchendem und helfendem Menschen zu tun (Conradi 2016, 85). Ausgehend von einem Konzept der ›Interrelationalität‹ ist das Ausmaß der Beteiligung (Conradi 2016, 85) von hoher Relevanz für ethico-politische Theorien der Fürsorge: Wie können Bedürfnisse – sofern möglich – auch unter Einbezug derjenigen Menschen erhoben werden, die einen Bedarf an Unterstützung haben? Wie lässt sich der Fürsorgeprozess so gestalten, dass er von den Beteiligten begründet als ›gelingend‹ beurteilt werden kann?

21.3 Profession und Disziplin der Sozialen Arbeit in ihren Anfängen Diskussionen über Formen der Hilfe unter dem Begriff ›Fürsorge‹ hatten im beginnenden 20. Jahrhundert im Kontext der bürgerlichen Frauen(wahlrechts) bewegung Konjunktur. So ist von ›weiblicher Fürsorge‹ im Sinne Sozialer Arbeit die Rede (Pappenheim 1920). Zivilgesellschaftliche Initiatorinnen u. a. aus dem Jüdischen Frauenbund eröffneten Bildungsstätten, in denen sozialberuflich Tätige als ›Fürsorgerinnen‹ ausgebildet wurden. In einer Vielzahl an Schriften dokumentierten beide Gruppierungen ihr Engagement, rechtfertigten die Gründung der Bildungsinstitutionen und gaben Aufschluss über ihr Verständnis des Sozialen sowie der Politik (Salomon 1902; 1912). Damit legten sie und andere einen Grundstein zur Entstehung der Profession Soziale Arbeit und begründeten auf diese Weise zugleich auch eine damals oft als ›Fürsorgewissenschaft‹ bezeichnete akademische Disziplin. Diese zivilgesellschaftlich gegründeten Bildungsinstitutionen im Deutschen Reich erfuhren ab 1933 entweder eine Auflösung oder eine Verstaatlichung und wurden in ›Nationalsozialistische Frauenschulen zur Volkspflege‹ umbenannt (Rauschenbach/Züchner 2004, 70). Im Zuge der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wurden politisch unliebsame Lehrende und Leitungsfiguren von Bildungsstätten, Verbänden und berufsständischen Vereinigungen ihrer Ämter enthoben, etwa Sidonie Wronsky, Gründerin und Herausgeberin der Deutschen Zeitschrift für Wohlfahrtspflege.

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»Einen tatsächlichen Bruch bedeutete der Nationalsozialismus vor allem für die jüdischen Mitglieder, für die Sozialdemokratische und Sozialistische Frauenbewegung und für die Hauptakteurinnen der Bürgerlichen Frauenbewegung. Andere konnten sich z. T. in die NS-Organisationen einpassen. Die Fürsorge oder Wohlfahrtspflege wurde unter rassistischen und biologisch orientierten Maßgaben umgestaltet.« (Wagner/Wenzel 2009, 29)

Die Umsetzung politischer Erlasse schränkte den Aktionsradius der Protagonistinnen extrem ein. Der vorher teilweise für Sozialarbeiterinnen gebräuchliche Ausdruck ›Fürsorgerin‹ oder ›Wohlfahrtspflegerin‹ wurde durch die Bezeichnung ›Volkspflegerin‹ ersetzt. Im Namen der ›Volkspflege‹ wurde in nationalsozialistischen Institutionen die Tötung von Menschen gerechtfertigt. Nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur bis in die späten 1960er Jahre war wieder von einer ›Fürsorgewissenschaft‹ die Rede. Sie knüpfte jedoch nicht an die Theorien der Bildungspionierinnen an.

21.4 Wohlfahrtspluralismus und ­ Sorgedienstleistungen ›Fürsorge‹ meint nicht nur helfende soziale Interaktionen und deren ethico-politische Dimension. Der Begriff verweist außerdem auf Leistungen der Wohlfahrt. Diese können durch öffentliche (Sozialleistungs-)Träger oder frei(gemeinnützig)e Dienste und Einrichtungen erbracht werden. Die Rede von der ›öffentlichen Fürsorge‹ im Sinne der staatlichen und freien Wohlfahrtspflege hat eine normative Dimension, die sich als sozialpolitischer Rechtsanspruch gestaltet. Strittig ist innerhalb der Sozialwissenschaften, wie das Erbringen von Leistungen der Wohlfahrt zwischen Staat und Zivilgesellschaft aufgeteilt sein sollte. Einerseits wird im Hinblick auf die Gesamtheit der Wohlfahrtsleistungen in Schriften zur Konzeption des Bürgerschaftlichen Engagements und der Sozialwirtschaftslehre häufig eine welfare-mix genannte Kombination staatlicher oder zivilgesellschaftlicher Organisationsformen vorgeschlagen und betont, das Gemeinwohl sei im Rahmen eines ›Wohlfahrtspluralismus‹ zu gestalten (Wendt 2019). Andererseits gibt es seit Jahrzehnten Einwände bezüglich der Verteilungsungerechtigkeit, die sowohl die Auswahl der Akteure in der Ausführung versorgender Tätigkeiten als auch deren Inanspruchnahme betrifft. Denn als care work

bezeichnete »Sorgedienstleistungen« (Haubner 2019, 203) werden nach wie vor überwiegend informell-­ zivilgesellschaftlich im Kontext von Haus und Familie verrichtet (Conradi 2020; 2016, 68; Waerness 2000). Christel Eckart resümiert: »Ab den späten 80ern hat die feministische Kritik an der Konstruktion des Wohlfahrtsstaates auf Kosten der Frauen und ihrer unbezahlten Arbeit und fürsorglichen Tätigkeiten noch einmal weit reichende Analysen zu den vergessenen konstitutiven Voraussetzungen sozialstaatlicher Regelungen der Lohnarbeitsgesellschaft hervorgebracht, die in den Geschlechterarrangements zur Verbindung von fürsorglichen Beziehungen, Erziehungs- und Fürsorgearbeit und beruflichen, ökonomischen Strategien der Existenzsicherung liegen.« (Eckart 2004, 24)

›Wohlfahrtspluralismus‹ wird kritisiert, sofern er Geschlechterasymmetrien zementiert (Klinger 2014, 93). Beanstandet wird des Weiteren, dass politische Akteure die Migration von niedrig entlohnt und prekär-informell im Privataushalt beschäftigten Arbeitskräften des Südens in den Norden ignorieren. Sie wurde von Arlie Russell Hochschild (2000) unter dem Begriff global care chains gefasst, wird hierzulande aber auch im Hinblick auf eine Verlagerung der Tätigkeiten von West nach Ost erörtert (Apitzsch/Schmidbauer 2010; Lutz 2015). Literatur

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Elisabeth Conradi

22  Das gute Leben

22 Das gute Leben Die Frage nach dem guten Leben besitzt fundamentalen Charakter für das Projekt der Philosophie (vgl. Wolf 1999), insofern Letztere nach einem rationalen Welt- und Selbstverständnis sucht, das eine Orientierung im eigenen Dasein ermöglicht. Diese ›praktische Grundfrage‹ (Ernst Tugendhat) ist existentiell »in der Verfassung des menschlichen Lebens enthalten« (Wolf 2013, 12), stellt sich allerdings mehrdeutiger und vielschichtiger dar, als sie auf den ersten Anschein wirken mag (Steinfath 1998, 13–17; Wolf 1999, Kap. 3): Sie betrifft – im Gegensatz zur eminent praxisbezogenen Frage: »Was soll ich tun?« – nämlich nicht die Entscheidungsfindung in einzelnen Situationen, sondern das Leben als Ganzes in seiner Komplexität; das Ziel, ein gutes Leben zu führen, kann demnach auch nicht als singulärer Handlungszweck wirksam werden. Zudem weist die Frage mindestens zwei Dimensionen auf (vgl. Steinfath 2013, 13–16): • eine objektive Dimension, die darauf abzielt, wie ein sinnvolles Leben für jeden Menschen aussieht, und die unparteilich aus der Perspektive der dritten Person beurteilt werden kann • eine subjektive Dimension, die auf das vom jeweiligen konkreten Fragesteller für sich selbst erwünschte Wohlergehen und damit auf die Perspektive der ersten Person abhebt. Die Frage geht jeden Menschen als Menschen existentiell selbst an und lässt sich deshalb präzise wie folgt formulieren: »Wie sollte ich leben, sofern ich als Mensch existiere?« (Wolf 1999, 73). Das angedeutete Spannungsverhältnis von subjektiven und objektiven Momenten in dieser Frage ist prägend für die Entwicklung philosophischer Theorien zum guten Leben und wirkt sich auch nachhaltig auf den Themenkomplex der Behinderung aus (s. u.).

22.1 Historische Entwicklung: Glück und gutes Leben Philosophische Theorien des guten Lebens heben mit der erstmals in den platonischen Frühdialogen formulierten ›sokratischen Frage‹ an, »wie man leben soll« (Platon, Politeia I, 352d; vgl. Wolf 2013). In der Antike wird diese Frage zum Schwungrad einer strebensethischen Ausrichtung der praktischen Philosophie, die auf die Realisierung eines höchsten Guts im Rahmen eines zu wählenden menschlichen Lebensentwurfs abzielt (vgl. Annas 1993, 27–46). Schlüssel-

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begriff der Reflexion ist hier das Glück (griech. eudaimonia), verstanden nicht als temporäres Gefühl, sondern im Sinne eines umfassend gelingenden Lebens (lat. beata vita). Die verschiedenen Entwürfe antiker Ethik divergieren zwar erkennbar im Blick auf das jeweils in ihnen identifizierte höchste Gut bzw. den daraus resultierenden Entwurf des Glücks (vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik I, 1095a18–30), aber sie teilen latent eine Prämisse: Glücklich ist, wer ein Leben gemäß der Natur führt (secundum naturam vivere), so dass die philosophische Ethik in engem Zusammenhang steht mit der Erkenntnis der (menschlichen) Natur. Diese naturalistische bzw. essentialistische Fundierung der antiken Ethiken lässt sich am deutlichsten bei Aristoteles ablesen (Kallhoff 2010, 37–115), dessen Theorie des guten Lebens bis in die Gegenwart hinein höchst wirksam ist (s. u.). Aristoteles formuliert dabei eine Reihe von formalen und materialen Kriterien, denen das höchste Gut bzw. ein daran orientiertes gelingendes Leben objektiv genügen sollte (vgl. Müller 2006, 66–83). Seine konsequent anthropologische Fundierung der Ethik gipfelt dann im sogenannten ergon-Argument (Nikomachische Ethik I, 1097b22–1098a20): Eudaimonia wird bestimmt als eine Tätigkeit, in der sich die menschliche Vernunft in höchstem Maße realisiert. Die zugrunde liegende normative Idee ist, dass das beste menschliche Leben ein solches ist, in dem die rationale Natur des Menschen als sein wesenhaftes Selbst komplett entwickelt ist und letztlich alle Lebensvollzüge in Gestalt von charakterlichen und intellektuellen Tugenden durchdringt und anleitet. Deshalb können aus aristotelischer Sicht weder Kinder noch Tiere – und man kann unzweifelhaft ergänzen: auch keine geistig behinderten Menschen – glücklich genannt werden (ebd., 1099b32–1100a5). Während dieses Modell des guten Lebens als gekonnter Aktualisierung wesensmäßig menschlicher Fähigkeiten in Antike und Mittelalter grosso modo durchgängig gültig blieb, geriet es in der Neuzeit und der Moderne systematisch ins Hintertreffen. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Immanuel Kant betrachtete das individuelle Streben nach einer – als Befriedigung aller Neigungen verstandenen – Glückseligkeit als unzureichende Grundlage der philosophischen Moraltheorie (sog. Eudämonismus-Kritik) und plädierte deshalb konsequent für die Trennung von Moral und Glück. Zudem wurde der antike Naturalismus oft als ein pluralitätsverneinender ›Perfektionismus‹ mit paternalistischen Zügen gesehen, wel-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_22

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I  Vorstellungen in Praxis und Theorie  –  D  Normative Vorstellungen

cher der liberalen Idee der individuellen Freiheit tendenziell das Wasser abgräbt. Auch im Zuge der ethnographischen und kulturanthropologischen Forschung entstand eine generelle Skepsis gegenüber der Idee einer kulturinvarianten, für alle Menschen jederzeit und überall gültigen Grundform des guten Lebens. Kurzum: Die Frage nach dem guten und gelingenden Leben wurde letztlich zu einer Art ›Geschmacksfrage‹ der persönlichen Selbstverwirklichung, die nicht mehr in den Kernbereich der normativen Ethik fiel und folgerichtig später in die Psychologie (in Form der empirischen Glücksforschung) oder in die populäre Lebensberatung abgeschoben wurde. In den letzten vier Jahrzehnten ist nun eine nachhaltige Renaissance der philosophischen Frage nach dem guten Leben zu verzeichnen (Steinfath 1998, v. a. 7–12; Fenner 2007, 7–30). Hierfür sind zwei zentrale Trends verantwortlich: 1. Die Unzufriedenheit mit den im 19. und 20. Jahrhundert dominanten Entwürfen normativer Ethik, nämlich dem Utilitarismus und der deontologischen Ethik Kantischen Zuschnitts, führte zu einem Revirement einer bewusst an die Antike anknüpfenden Tugendethik als alternativem Modell (z. B. bei Alasdair MacIntyre), was letztlich auch den Glücksbegriff nachhaltig revitalisierte; zudem gibt es ein beachtliches Revival des ethischen Naturalismus (z. B. bei Philippa Foot), das in dieselbe Richtung weist. 2. In den politischen und philosophischen Diskussionen über Menschen- bzw. Bürgerrechte und Verteilungsgerechtigkeit zeigte sich zunehmend, dass eine hinreichende Spezifikation der zu schützenden Rechte und der zu verteilenden Güter nicht auf eine normativ verbindliche Vorstellung davon verzichten kann, welche allgemeinen Voraussetzungen für ein frei gestaltbares Leben gegeben sein müssen (vgl. z. B. die basic goods in der Theory of Justice von John Rawls) (s. Kap. 20). Dadurch wurde die vorherige Phasentrennung zwischen einer normativen Prinzipienmoral und einer auf die persönliche Lebensführung zielenden Ethik wieder deutlich durchlässiger für die Frage nach dem gelingenden Leben. Hier besaß auch die in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften geführte quality of life-Diskussion, die auf allgemeine Parameter des menschlichen Wohlergehens – insbesondere im Kontext der Entwicklungspolitik – abzielte (vgl. Nussbaum/Sen 1993), eine Schrittmacherrolle für neue (philosophische) Konzeptionen des guten Lebens.

22.2 Systematische Streitpunkte: Objektive versus subjektive Theorien Die Renaissance der Frage nach dem guten Leben beförderte zugleich eine metaethische Reflexion über die paradigmatischen Formen der Antwort auf diese Frage (vgl. Fenner 2007, Kap. 3–5). Vereinfacht lassen sich zwei grundlegende Theorietypen unterscheiden: 1. Vertreter einer objektiven Theorie des guten Lebens (z. B. Schaber 1998, 149–166) gehen davon aus, dass es allgemeine Güter gibt, die für alle Menschen grundsätzlich erstrebenswert sind. Die Qualität ihres Gutseins ist intrinsischer Natur, d. h. sie ist unabhängig davon, ob diese Güter nun von einzelnen Individuen faktisch erstrebt werden oder nicht: Persönliche Neigungen und Wünsche sind bestenfalls ein Wegweiser im Blick auf eine allgemeine menschliche Natur, aber sie sind kein infallibler Indikator für das objektiv Gute, weil Menschen sich in diesem Bereich ebenso subjektiv täuschen können wie im Falle theoretischer Wahrheitsfragen. Das ist im Kern die objektivistische und universalistische Grundposition nahezu aller antiken und mittelalterlichen Entwürfe der Glücksethik (s. o.); in der Gegenwart zielen sogenannte objective list-Theoretiker*innen meistens auf konkrete Listen von basalen Gütern, die auf menschliche Bedürfnisstrukturen oder auf die Entwicklung von – als anthropologisch konstant angenommenen – Fähigkeiten des Menschen abzielen (etwa Martha Nussbaum; s. u.). 2. Die Anhänger einer subjektiven Theorie des guten Lebens (z. B. Seel 1995) hingegen meinen, dass die Qualität eines individuellen Lebens nicht objektiv, sondern nur in Abhängigkeit von den Wünschen, Präferenzen oder Zielsetzungen der jeweiligen Akteure bestimmt werden kann (und lehnen somit das Konzept einer intrinsischen Gutheit ab): »Ein Leben ist demnach ein gutes Leben, wenn es uns das gibt, was wir von einem Leben wollen, oder: wenn es die Anforderungen, die wir an ein Leben stellen, erfüllt. Und weil verschiedene Personen verschiedene Anforderungen stellen, ist ein Leben gut in Hinsicht auf die jeweiligen Anforderungen.« (Stemmer 1998, 59–60)

Das gute Leben ist demnach nicht für alle Menschen dasselbe, sondern für jeden etwas anderes.

22  Das gute Leben

Die grundlegenden Kampflinien dieser Debatte liegen in zwei Bereichen: a) Die Subjektivisten betonen rigoros den Primat der ersten Person in der Bewertung der Qualität des eigenen Lebens. Die Objektivisten bewerten hingegen tendenziell die Perspektive der dritten Person höher, so dass man jemandem ggf. absprechen kann, ein gutes Leben zu führen, auch wenn sie/er genau das Leben führt, das sich diese Person momentan wünscht oder zum Ziel gesetzt hat: Etwas kann für mich schlecht sein, auch wenn ich es wünsche; und etwas kann für mich gut sein, auch wenn ich es nicht wünsche. b) Die Anhänger der subjektiven Theorie reklamieren, dass objektive Theorien – insbesondere solche, die eine Vervollkommnung wesenhafter menschlicher Anlagen und Fähigkeiten anmahnen – eine perfektionistische Blaupause zeichnen, der in letzter Konsequenz jeweils doch nur eine einzige Lebensform (sozusagen das ›optimale‹ Leben) voll gerecht werden kann. Im Vergleich zu dieser Uniformität gewährleiste ihre eigene Theorie eine angemessene Pluralität von Lebensentwürfen, insofern das Konzept des guten Lebens nicht von einer singulären Idealvorstellung des bestmöglichen Lebens für alle Menschen abgeleitet sei. Insgesamt ist mit Holmer Steinfath (1998, 21) festzustellen, dass diese Debatte »nicht primär ein Streit über das [ist], was gut oder schlecht ist, sondern darüber, warum etwas gut oder schlecht ist« – es geht in der Kontroverse zwischen den zwei Positionen mehr um Begründungen und Bewertungsparameter als um die Identifikation konkreter Güter, die für das gute Leben konstitutiv sind (wozu zumindest ein ›einfacher‹ Subjektivismus ja auch nach seinem Selbstverständnis gar nichts Verbindliches sagen kann). Auf theoretischer Ebene muss jede subjektive Theorie des guten Lebens u. a. das Problem lösen, wie mit individuellen Wunschkonflikten und -veränderungen umzugehen ist. Zudem stellt sich die Frage, ob einzelne Personen nicht doch – z. B. unter dem Einfluss gesellschaftlicher Deformation ihrer Präferenzen, wie etwa bei Frauen in Entwicklungsländern (vgl. Nussbaum 2000) – etwas Falsches wollen können, das ihren eigenen Interessen entgegengesetzt ist: Muss nicht das faktische individuelle Wollen selbst in irgendeiner Weise kritisierbar – und damit auch revidierbar – bleiben (nicht zuletzt, insofern blinde oder fehlgeleitete Wünsche nur allzu oft in persönlichen Frustrationen enden)? Die Vertreter einer subjektiven Theorie reagieren auf diese Nachfrage häufig mit einem Konzept des auf-

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geklärten Wunsches (informed desire), für dessen Zustandekommen dann verschiedene Rationalitätskriterien in Anschlag gebracht werden: »Gut ist ein Leben, wenn es uns gibt, was wir von einem Leben in möglichst aufgeklärter Weise wollen, was immer es sei« (Stemmer 1998, 68); dies wird dann noch ergänzt durch einen ›objektivistischen Zusatz‹: »[...] und wenn wir das Glück haben, daß sich das so weit aufgeklärte Wollen mit dem Wollen deckt, das wir hätten, wenn wir alle nötigen Informationen hätten« (ebd., 71). Dieses Konzept aufgeklärter Wünsche, die nicht auf faktisch falschen Überzeugungen oder einem blinden Wollen beruhen, ist Kennmarke eines ›reflektierten Subjektivismus‹, der aber durch die Einführung von solchen Bewertungskriterien in Bezug auf die beiden obigen Streitpunkte tendenziell an Überzeugungskraft verliert: Denn (a) der Primat der ersten Person wird stark relativiert, und (b) die Pluralität der Formen des guten Lebens wird ebenso wie im Objektivismus zumindest restringiert, und zwar auf vernünftig zu rechtfertigende Lebensentwürfe – was im Übrigen auch bei Objektivisten wie Aristoteles keineswegs in eine singulär beste Lebensform einmündet, sondern Raum für verschiedene Ausgestaltungen lässt (vgl. Müller 2006, 83–89, 121–127). So gibt es durchaus vielversprechende Versuche, die zwei meist antagonistisch wahrgenommenen Theoriefamilien miteinander zu versöhnen, indem etwa eine objektive Gütertheorie als Basis- oder Rahmentheorie einer subjektiven Zieltheorie des guten Lebens verstanden wird (vgl. Fenner 2007, 176–178).

22.3 Gutes Leben und Behinderung: Martha Nussbaums Fähigkeitenansatz Behinderung wurde in den ›klassischen‹ Theorien des guten Lebens kaum thematisiert. Dieser blinde Fleck erklärt sich wie folgt: Geht man von einem – mittlerweile umstrittenen – individuumsbezogenen Verständnis aus, das Behinderungen als langfristige und schwere Schädigungen, Beeinträchtigungen oder Minderungen von Funktionen begreift (vgl. Kuhn 2012), die bei ›normalen‹ bzw. ›gesunden‹ Menschen ohne Einschränkungen zur Verfügung stehen, dann handelt es sich um nicht behebbare Defizite, die einem Idealbild des wünschenswerten menschlichen Lebens zuwiderlaufen. Sofern bestimmte essentielle Eigenschaften – z. B. rationale Autonomie – und deren möglichst weitgehende Entwicklung als Grundbedingungen für das Führen eines guten Lebens betrachtet

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I  Vorstellungen in Praxis und Theorie  –  D  Normative Vorstellungen

werden, in dem das Individuum selbstgewählte Zwecke verfolgt, fallen insbesondere Menschen mit multiplen oder schweren kognitiven Behinderungen schlicht aus diesem Rahmen heraus und werden in ihrer Lebensgestaltung potentiell zu Opfern paternalistischer Bevormundung und gewaltförmiger Interventionen (Dederich 2018). Dann stellt sich aber umso pressierender die Frage, ob bzw. wie neuere Theorien des guten Lebens mit den normativen Ansprüchen behinderter Menschen umgehen. Als Beispiel für einen solchen Versuch kann exemplarisch der sogenannte Fähigkeitenansatz (capabilities approach) betrachtet werden, für den ihre führende Vertreterin, Martha Nussbaum, sogar explizit in Anspruch nimmt, im Unterschied zum Utilitarismus und zu kontraktualistischen Konzeptionen egalitärer Gerechtigkeit à la John Rawls eine hinreichende Sensitivität gerade in diesem Bereich entwickelt zu haben (vgl. Nussbaum 2010, 138–309). Nussbaums Version des Fähigkeitenansatzes gehört zu den objektiven Theorien des guten Lebens, insofern sie im Rahmen eines internalistischen Essentialismus die Grundbedingungen der menschlichen Lebensform rekonstruiert und daraus eine »starke vage Konzeption des Guten« entwickelt (Nussbaum 1999, 45–62), die sich deutlich an Aristoteles und den frühen Marx anlehnt. Auf diesem anthropologischen Fundament formuliert sie eine Liste von insgesamt zehn zentralen Fähigkeiten (central human capabilities), deren Entwicklung und tätige Realisierung den Kern eines guten menschlichen Lebens ausmacht; hierzu gehören etwa die Fähigkeiten der vernünftigen Lebensplanung, der Bildung familiärer und sozialer Bindungen oder des Empfindens von Freude. Die Aufgabe des Staates besteht darin, den Menschen die Voraussetzungen zu bieten, ihre Fähigkeiten zu entfalten und sie nach eigenem Belieben im Rahmen einer von ihnen frei gewählten Lebensführung zu aktualisieren (vgl. Nussbaum 1999, 86–87). Das Vorhandensein von solchen Grundfähigkeiten begründet einen menschenrechtlichen Anspruch der Individuen auf deren Entwicklung gegenüber dem Staat (vgl. Nussbaum 2000, 96–101). Nussbaum unterscheidet dabei zwei Schwellen (thresholds) im Blick auf die central human capabilities (vgl. Nussbaum 2000, 71–74): Die erste wird markiert durch das bloße Vorhandensein bestimmter Grundfähigkeiten, deren Fehlen die Zugehörigkeit zur menschlichen Lebensform in Frage stellt oder sogar ausschließt (vgl. Nussbaum 1999, 56–58, 198–199);

die zweite unterscheidet das nackte menschliche (Über-)Leben von einem wirklichen Gedeihen (truly human functioning) im Sinne eines guten Lebens, das in der umfassenden Realisierung entwickelter Fähigkeiten besteht. Zielpunkt staatlicher Verteilungspolitik muss es sein, möglichst vielen Menschen das Überschreiten der zweiten Schwelle zu ermöglichen; die ›Lebensqualität‹ einer Gesellschaft wird letztlich dadurch bestimmt, inwieweit allen in ihr lebenden Menschen die Entfaltung und Ausübung ihrer Fähigkeiten ermöglicht wird. Kritik an dieser Schwellenidee lässt sich mit Blick auf Behinderungen wie folgt formulieren: Ursprünglich hatte Nussbaum schon die erste Schwelle so hoch gelegt, dass ein Ausschluss von behinderten Menschen aus der menschlichen Lebensform und damit aus dem normativen Kern der Theorie drohte (vgl. Müller 2004); aber auch nach einer entsprechenden Kurskorrektur von Nussbaum ist möglicherweise auf der Ebene der zweiten Schwelle immer noch ein Problem gegeben, insofern insbesondere Menschen mit schweren kognitiven Beeinträchtigungen das Erreichen von zentralen Fähigkeiten auf dem von Nussbaum formulierten Niveau grundsätzlich nicht möglich sein könnte, so dass die Gefahr einer normativen Exklusion nicht restlos ausgeräumt ist (vgl. Graumann 2018, 71–75). Demgegenüber betont Nussbaum in ihren jüngeren Arbeiten, dass in ihrer Theorie das normative Prinzip der Menschenwürde als Basis für den moralischen und rechtlichen Anspruch auf Entwicklung aller zentralen Fähigkeiten uneingeschränkt auch für behinderte Menschen gelte; wo Gleichheit der Fähigkeiten nicht realisierbar sei, müsse mindestens Angemessenheit auf der zweiten Schwelle das erstrebte Ziel sein. Hierbei entwirft sie das Konzept einer ›inklusiven Staatsbürgerschaft‹, das auch im Falle von geistig behinderten Menschen gleiche Partizipation am öffentlichen Leben garantiert, etwa in Form der Teilnahme an Wahlen und am Geschworenendienst (was ggf. durch stellvertretende guardians zu gewährleisten ist; vgl. Nussbaum 2018, 35–67), wodurch ihnen ein gutes Leben ermöglicht werde. Nussbaums Theorie hat insgesamt eine Reihe von Entwicklungen durchlaufen, basiert aber im Kern immer noch auf einer universal formulierten Theorie des menschlichen Guten. Das hat ihr bis in die Gegenwart die – standardmäßig gegenüber objektiven Theorien des guten Lebens formulierte – Kritik eingetragen, den speziellen Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung nicht gerecht zu werden, sondern ein one

22  Das gute Leben

size fits all-Modell zu propagieren (vgl. Francis/Silvers 2010, 245–246). Dieser Vorwurf eines mangelnden Respekts für Diversität und Pluralität wird aber der Kontextsensitivität ihres Ansatzes, der von Anfang an die Möglichkeiten lokaler und pluraler Spezifikation betont hat, sowie auch seiner Wahrung liberaler Wahlfreiheit im Blick auf die Aktualisierung von Fähigkeiten letztlich nicht gerecht. Zwar beharrt Nussbaum auf der normativen Funktion der zehn Fähigkeiten und hat diese inhaltlich – trotz einer immer wieder proklamierten Offenheit der Liste – über die Jahre hinweg auch angesichts vielfacher Kritik nur punktuell ausgebessert, aber nicht grundlegend revidiert oder erweitert (womit sie de facto an der Idee einer menschlichen Lebensform über alle kulturellen, geschlechtlichen und sonstigen Unterschiede hinweg festhält). Dennoch ist sie keine Vertreterin einer latenten perfektionistischen Blaupause, die behinderte Menschen in irgendeiner Weise ausschließt, marginalisiert oder bevormundet; vielmehr sollen behinderte Menschen bei der selbstständigen Entwicklung und Nutzung aller ihrer vorhandenen Fähigkeiten so unterstützt werden, dass sie ein möglichst gutes Leben führen können. Auf theoretischer Ebene ist eher zu hinterfragen, ob Nussbaums Versuch, unter Rekurs auf ein transhistorisch und -kulturell geteiltes Selbstverständnis gemeinsame Merkmale des Menschseins als Basis für eine Konzeption des guten Lebens zu finden, nicht doch zwischen den Stühlen von Empirismus und Essentialismus landet (vgl. Scherer 1993, 907–911) und damit den philosophischen Ansprüchen der Frage nach dem guten Leben nicht zu genügen vermag (vgl. Wolf 1998, 32). Hinzu kommt, dass in Nussbaums etwas ungeordnet wirkender Liste trotz der Auszeichnung der praktischen Vernunft und der Soziabilität als sogenannte ›architektonische Fähigkeiten‹ nicht hinreichend zwischen notwendigen und eher ›optionalen‹ Fähigkeiten zum guten Leben unterschieden wird. Außerdem könnte – gerade mit Blick auf Nussbaums zunehmende normative Wendung zu den liberalen Prinzipien von Menschenwürde und -rechten – der Begriff eines menschenwürdigen Lebens, das sozusagen zwischen ihrer ersten und der zweiten Schwelle (also zwischen dem ›bloßen‹ und dem ›guten‹ Leben) angesiedelt ist, besser geeignet sein, um egalitäre Ansprüche von Menschen mit schweren und multiplen Behinderungen zu begründen sowie im Blick auf Fragen der Verteilungsgerechtigkeit konkret zu operationalisieren (vgl. Pollmann 2018, 89–92).

129

22.4 Perspektiven: Philosophie und Sonderpädagogik im Dialog über das gute Leben Die Thematik des guten Lebens hat sich nicht nur in philosophischen Kreisen in den letzten Jahren in neue Richtungen entwickelt und ausdifferenziert (vgl. Hoesch/Muders/Rüther 2013), sondern sie wird auch zunehmend in interdisziplinärer Perspektive verhandelt. Hier hat sich jüngst ein reger Dialog zwischen Philosophie und Sonderpädagogik über Theorie und Praxis des guten Lebens im Blick auf behinderte Menschen entwickelt (vgl. Kittay/Carlson 2010; Moser/ Horster 2012; Bickenbach/Felder/Schmitz 2014; Müller/Lelgemann 2018; Cureton/Wasserman 2018). Die Sonderpädagogik nimmt dabei die Philosophie als Reflexionswissenschaft nicht nur in der Frage nach der theoretischen Fundierung, sondern auch im Blick auf die genaue Artikulierung der politischen Dimension des guten Lebens als eines normativen Anspruchs wahr; umgekehrt sieht die Philosophie die Sonderpädagogik als eine erfahrungsgetränkte korrektive Instanz gegenüber einer fachimmanenten Tendenz zur anthropologischen Verallgemeinerung, durch welche die Heterogenität und Vielfalt menschlicher Lebensformen allzu oft auf hohem Abstraktionsniveau unbotmäßig planiert werden (vgl. Dederich 2013, 22– 29). Deutlich ist – nicht nur in dem in beiden Disziplinen prominent diskutierten Fähigkeitenansatz – der Versuch der Philosophie, behinderte Menschen vollumfänglich in Konzeptionen politischer Gleichheit auf der Basis einer gehaltvollen Vorstellung des guten Lebens einzuschließen; ebenso zeigt sich in der Sonderpädagogik der Trend, Diskussionen über Lebensqualität von behinderten Menschen mit klassischen philosophischen Theorien des guten Lebens anzureichern, die sich nicht auf liberal fundierte Rechtsansprüche reduzieren lassen (vgl. exemplarisch den aristotelischen Ansatz von Hans Reinders 2002; 2014). Eine Schlüsselfrage dürfte mit Blick auf das oben konstatierte Spannungsverhältnis von objektiven und subjektiven Theorien des guten Lebens sein, ob es hierbei möglich ist, objektiv gültige und zugleich aussagekräftige Mindeststandards für ein gelungenes Leben zu formulieren, die auch für behinderte Menschen in Anschlag gebracht werden können, ohne sie zu stigmatisieren. Die vielleicht naheliegende Formulierung alternativer Konzepte des guten Lebens, z. B. für geistig Schwerbehinderte, könnte nämlich durch die so faktisch vollzogene Betonung der radikalen ›Andersheit‹ der Betroffenen dem Ziel ihrer weitgehenden gesell-

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I  Vorstellungen in Praxis und Theorie  –  D  Normative Vorstellungen

schaftlichen Inklusion (s. Kap. 16) tendenziell zuwi­ derlaufen (vgl. Schmitz 2014). Objektivität ist dabei im Übrigen nicht zwangsläufig gleichzusetzen mit unterschiedsloser Universalität, sondern kann durchaus personenrelativ verstanden werden: »Das, was für mich objektiv gut ist, muss nicht für alle anderen Menschen gleichfalls gut sein« (Fenner 2007, 5). Hier ist insbesondere in der Wahrnehmung von Lebensqualität grundsätzlich zu unterscheiden zwischen allgemeinen Parametern und der subjektiven Wertschätzung des eigenen Lebens durch das jeweilige Individuum (vgl. Dederich 2013, 169–173). Dies zeigt besonders deutlich das sogenannte disability paradox (Albrecht/Devlieger 1999): Viele Menschen mit Behinderung nehmen ihre eigene Lebensqualität als gut wahr, obwohl ihnen von den meisten externen Beobachtern – also aus der Perspektive der dritten Person – genau diese Qualität abgesprochen wird. Möglicherweise lässt sich in Bezug auf dieses Paradox ein absoluter Primat der ersten Person im Blick auf die Frage postulieren, was ein lebenswertes Leben ist (so Schmitz 2018, 124–136); mit Blick auf eine adäquate Theorie des guten menschlichen Lebens ist aber eher eine Auslotung bzw. eine Vermittlung objektiver und subjektiver Momente im Blick auf die ganze Lebensführung gefragt. Dabei könnte statt des von Nussbaum favorisierten Konzepts der Fähigkeiten auch die fundamentale Bedeutsamkeit und normative Verbindlichkeit der menschlichen Bedürfnisnatur eine Schlüsselrolle spielen. Hier liegt jedenfalls ein weiterhin fruchtbares Feld für die interdisziplinäre Reflexion von Philosophie, Sonderpädagogik und anderen Humanwissenschaften. Literatur

Albrecht, Gary L./Devlieger, Patrick J.: The disability paradox: high quality of life against all odds. In: Social Science and Medicine 48 (1999), 977–988. Annas, Julia: The Morality of Happiness. New York/Oxford 1993. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übers. und hg. von Ursula Wolf. Reinbek bei Hamburg 2006. Bickenbach, Jerome/Felder, Franziska/Schmitz, Barbara (Hg.): Disability and the Good Human Life. Cambridge 2014. Cureton, Adam/Wasserman, David T. (Hg.): The Oxford Handbook of Philosophy and Disability. Oxford 2018. Dederich, Markus: Philosophie in der Heil- und Sonderpädagogik. Stuttgart 2013. Dederich, Markus: Moralische Verpflichtung, Anerkennung und Gewalt. Eine Problemskizze angesichts von Menschen mit komplexen Behinderungen. In: Müller/Lelgemann 2018, 105–121. Fenner, Dagmar: Das gute Leben. Berlin 2007.

Francis, Leslie P./Silvers, Anita: Thinking about the Good: Reconfiguring Liberal Metaphysics (or Not) for People with Cognitive Disabilities. In: Kittay/Carlson 2010, 237–259. Graumann, Sigrid: Assistierte Autonomie – das Rechte und das Gute für Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen? In: Müller/Lelgemann 2018, 68–82. Hoesch, M./Muders, Sebastian/Rüther, Markus (Hg.): Glück – Werte – Sinn. Metaethische, ethische und theologische Zugänge zur Frage nach dem guten Leben. Berlin/Boston 2013. Kallhoff, Angela: Ethischer Naturalismus nach Aristoteles. Paderborn 2010. Kittay, Eva Feder/Carlson, Licia (Hg.): Cognitive Disability and Its Challenge to Moral Philosophy. Chichester 2010. Kuhn, Andreas: Was ist Behinderung? In: Moser/Horster 2012, 41–58. Moser, Vera/Horster, Detlef (Hg.): Ethik der Behindertenpädagogik. Menschenrechte, Menschenwürde, Behinderung. Eine Grundlegung. Stuttgart 2012. Müller, Jörn: Menschenrechte und Behinderung in Martha Nussbaums Fähigkeitenansatz. In: Klaus-Michael Kodalle (Hg.): Homo Perfectus? Behinderung und menschliche Existenz. Würzburg 2004, 29–41. Müller, Jörn: Physis und Ethos. Das normative Verständnis der menschlichen Natur bei Aristoteles und seine Relevanz für die Ethik. Würzburg 2006. Müller, Jörn/Lelgemann, Reinhard (Hg.): Menschliche Fähigkeiten und komplexe Behinderungen. Philosophie und Sonderpädagogik im Gespräch mit Martha Nussbaum. Darmstadt 2018. Nussbaum, Martha: Gerechtigkeit oder Das gute Leben. Hg. von Herlinde Pauer-Studer. Frankfurt a. M. 1999. Nussbaum, Martha: Women and Human Development. The Capabilities Approach. Cambridge 2000. Nussbaum, Martha: Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit. Frankfurt a. M. 2010. Nussbaum, Martha: Die Fähigkeiten von Menschen mit geistigen Behinderungen. In: Müller/Lelgemann 2018, 35–67. Nussbaum, Martha/Sen, Amartya (Hg.): The Quality of Life. Oxford 1993. Platon: Der Staat (Politeia). Übers. und hg. von Gernot Krapinger. Stuttgart 2017. Pollmann, Arnd: Menschliche Versehrbarkeit und das Recht auf verkörperte Selbstachtung. Eine Kritik der Würdekonzeption Martha Nussbaums im Hinblick auf Menschen mit komplexen Behinderungen. In: Müller/Lelgemann 2018, 83–104. Reinders, Hans S.: The good life for citizens with intellectual disability. In: Journal of Intellectual Disability Research 46/1 (2002), 1–5. Reinders, Hans S.: Disability and Quality of Life: An Aristotelian Discussion. In: Bickenbach/Felder/Schmitz 2014, 199–218. Schaber, Peter: Gründe für eine objektive Theorie des menschlichen Wohls. In: Steinfath 1998, 149–166. Scherer, Christiane: Das menschliche und das gute menschliche Leben. Martha Nussbaum über Essentialismus und

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131

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Jörn Müller

II Geschichte der ­ Vorstellungen von ­ Behinderung

23 Einleitung: Geschichte der Vorstellungen von Behinderung Funde menschlicher Überreste lassen darauf schließen, dass schon in den frühesten Stammesgesellschaften Mitglieder, die in der heutigen Zeit als behindert gelten würden, von der Gemeinschaft angenommen und mitversorgt wurden (vgl. Reisch 1996). Ab wann es allerdings ein Konzept ›Behinderung‹ gibt, das dem heutigen vergleichbar ist, kann durch solche Funde nicht geklärt werden. Denn es handelt sich bei ›Behinderung‹ nicht um einen überzeitlichen Sammelbegriff; Frohne/Nolte halten es beispielsweise für unwahrscheinlich, dass es im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit »ein einziges allgemeingültiges oder ein dominantes Konzept von dis/ability gegeben haben könnte« (Frohne/Nolte 2017, 22). Auch kulturübergreifend ist der Begriff ›Behinderung‹ nicht: Neubert/ Cloerkes betonen beispielsweise, dass es »Andersartigkeiten« gibt, »die in manchen Kulturen als Behinderung gelten, in anderen hingegen nicht einmal Stimulusqualität haben« (Neubert/Cloerkes 1987, 88) und nennen als Beispiele etwa eine unerwünschte Kopfform oder auditive Halluzinationen. Wahrscheinlich fiel ein körperliches Merkmal wie das Fehlen einzelner Gliedmaßen in früheren Zeiten in andere Klassifizierungsraster als die heutigen, wenn es überhaupt gesondert bezeichnet und bewertet wurde. Und umgekehrt sind Begriffe wie infirmitas oder debilitas viel weiter gefasst als der jetzige Behinderungsbegriff (Frohne 2017, 54–55). Vielfach gehen Bereiche ineinander über, die heute anders gegeneinander abgegrenzt werden. Die fehlende Spezifik des Vokabulars erweist sich damit als fundamentales Hindernis für eine Kulturgeschichte der Behinderung. Dies gilt sogar für vergleichsweise einfach festzustellende Beeinträchtigungen wie Blindheit (ebd., 56), und bei kognitiven oder psychischen Beeinträchtigungen wird es noch schwieriger. Es ist nicht klar, wo bloße Abweichung oder ein diffus empfundenes Anders-Sein in regelungsbedürftige Disfunktionalität übergeht, wann also der reibungslose Ablauf in einer (Überlebens-)Gemeinschaft derart beeinträchtigt ist, dass ein »Modus des Umgangs mit dem Phänomen« (Fuchs 2002) nötig wird. Erst mit dieser Vorausset-

zung nämlich entsteht ein Konzept von Behinderung, das dem heutigen ähnelt. Vor grundlegenden methodischen Problemen stehen auch Kulturvergleiche. Unklar ist z. B., wie Reaktionen auf Behinderung einheitlich beschrieben werden könnten, damit etwa sowohl Einschränkungen als auch Privilegien, die mit einer Behinderung einhergehen, zur Geltung kommen (Neubert/Cloerkes 1987, 87). Gravierend ist für Neubert/Cloerkes, »daß nicht streng zwischen der Bewertung von Behinderung und der Reaktion auf Behinderte getrennt« wird (ebd.). Auch der politische, ökonomische, religiöse, juristische usw. Kontext beeinflusst Konzepte von Behinderung. Ingstad/Whyte verweisen z. B. darauf, dass im Globalen Süden (s. Kap. 34) das Konzept ›Behinderung‹ und die Identität ›Behinderter‹ nicht als kulturelles Konstrukt existieren: »The meaning of impairment must be understood in terms of cosmology and values and purposes of social life« (Ingstad/Whyte 1995, 10). Neben Schwankungen zwischen den Kulturen gibt es auch solche innerhalb einer Kultur (vgl. Neubert/Cloerkes 1987). Allgemein ist festzuhalten, dass umfassende Studien zum inter- und intrakulturellen Vergleich von Behinderungskonzepten sowie zu sozialen Reaktionen auf Menschen mit Behinderung immer noch fehlen. Können Beeinträchtigungen und die kulturellen Umgangsformen mit ihnen identifiziert werden, sind Rückschlüsse auf die Bedürfnisse und auf die Organisation dieser Kulturen möglich. So verweist z. B. die Gründung von Anstalten für Menschen mit Beeinträchtigungen im 18. Jahrhundert in Europa auf die Wichtigkeit der Tauglichkeit (utilitas) eines Gesellschaftsmitglieds (vgl. Nolte 2017). In den Anstalten sollen beeinträchtigte Personen entsprechend durch Bildung (wieder) ›nützlich gemacht‹ werden (s. Kap. 26). Dass z. B. im Deutschland des 18./19. Jahrhunderts nicht räumlich zwischen Armen-, Siechen-, Zuchtund Irrenhaus, Waisen- und Altenheim unterschieden wird (Häßler/Häßler 2005, 52), zeigt, dass die fehlende Tauglichkeit das zentrale Differenzkriterium ist und nicht die Art und Weise, wie jemand tauglich ist oder nicht. Im 19. Jahrhundert kommen dann Normalitätskonzepte auf und mit ihnen der Gedanke einer Verbesserung der Gesellschaft (Eugenik; s. Kap. 12). Behinderung wird entsprechend über einen (statistischen)

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_23

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II  Geschichte der ­Vorstellungen von ­Behinderung

Normalitätsbegriff gefasst (s. Kap. 42), denn Normalitätskonzepte implizieren, dass die Mehrheit einer sozialen Gruppe einer Norm entspricht. Normen unterscheiden sich aber von einem Ideal – Vergleichshintergrund z. B. für die Kategorie des ›Grotesken‹ in der Renaissance – dadurch, dass ein Ideal von niemandem realisiert wird und daher in gewissem Sinne jeder Mensch in Bezug auf das Ideal defizitär ist (und daher auch immer mehr oder weniger grotesk; vgl. Davis 1995, 25). Die Bezeichnung ›Krüppel‹ als sozialpolitischer Kampfbegriff – zu einer Zeit, in der auch die Orthopädie und die Krüppelfürsorge entstehen (vgl. Mayer 2001, 12) – hängt eng mit den Folgeerscheinungen der Industriellen Revolution (s. Kap. 27, 13) – Körperschäden, Arbeitsunfälle, Frühinvalidität – zusammen, ebenso wie die Entstehung der ›Kriegskrüppelvorsorge‹ nach dem Ersten Weltkrieg mit der Masse an Kriegsversehrten, deren Zahl wiederum durch Fortschritte in Medizin und Chirurgie ansteigt, da weniger Soldaten sterben (ebd., 12–13). Die Neufassung des Behindertenbegriffs als Teilhabeproblem verweist auf die neue kulturelle Artikulation der Behindertenrechtsbewegungen (als Meilenstein für Behindertenrechte gilt der »Disability Discrimination Act« 1995 in Großbritannien) und auf die Einordnung der Behindertenhilfe in einen sozialpolitischen Kontext, während im 21. Jahrhundert Behinderung gesamtgesellschaftlich über die neuen Möglichkeiten der Pränataldiagnostik, sie schon im Mutterleib zu identifizieren, wieder ein Stück weit in individuelle Verantwortung zurückverlagert und zu einem Risiko wird, das es abzuschätzen gilt. Da ein solcher Mechanismus der ›Privatisierung‹ Schuld und Scham statt politischen Protest erzeugt (vgl. dazu in anderem Zusammenhang Bauman 1992, 319), kann der gegenwärtige Umgang mit Behinderung zumindest im Zusammenhang mit der Pränataldiagnostik als Zurückdrängung der Errungenschaften der Behindertenrechtsbewegungen gewertet werden. Von der Urgeschichte bis zum Zeitalter des Cyborgs hängt das Konzept ›Behinderung‹ immer eng mit wirtschaftlichen Erwägungen, aber auch mit medizinischen und technischen Fortschritten zusammen (vgl. z. B. Groß/Söderfeldt 2017). So können Behinderungen einerseits als Funktionsstörungen in manchen Teilen der Welt vollständig kompensiert werden (z. B. durch eine Brille, eventuell zukünftig durch ein Exoskelett usw.); andererseits entstehen aber auch neue Formen von Behinderung, z. B. im Zusammenhang mit avancierter Medizin (die neue Überlebenschancen

für vormals tödliche Beeinträchtigungen liefert) oder als Zivilisationserscheinung (wie Fettleibigkeit oder bestimmte psychische Störungen, die durch Leistungsdruck und Effizienzstreben entstehen). Neue Hilfsmittel (und damit auch neue Formen von Behinderung für die, die nicht darüber verfügen) werden entwickelt, die nicht einmal als Prothesen erkennbar sind, wie der Computer, Smartphones (vgl. Hall 2016, 12) oder autonomes Fahren, die menschliche Schwächen ausgleichen: Schwächen der Feinmotorik beim Schreiben mittels Tastaturen, Schwächen der Gedächtnisleistung durch ein ›externes Gedächtnis‹ mittels ständigen Internetzugangs oder Schwächen der Reaktionsfähigkeit durch automatisierte Abläufe. Manche ›Behinderungen‹ wiederum verschwinden durch Definition, wie z. B. der Schwachsinn der Frau (vertreten z. B. von Paul Julius Möbius in seinem Buch Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes, 1901) oder Homosexualität. Was eine Beeinträchtigung jeweils bedeutet und welche Reaktionen auf sie angemessen sind (zu Reaktionstypen vgl. Neubert/ Cloerkes 1987, 91), bestimmt der kulturelle Kontext. Einige Vertreter*innen der Disability Studies sehen dis/ability (d. h. das Verhältnis von disability und ability) daher als grundlegende analytische Kategorie zur Erforschung der Gesellschaft an (vgl. z. B. Waldschmidt/Bösl 2017, 40). Ob dis/ability eine zentrale geschichtswissenschaftliche Kategorie ist oder nicht, anhand derer die Menschheitsgeschichte neu aufgerollt werden sollte, ist jedoch umstritten (vgl. Lingelbach/Waldschmidt 2017). Diesen Vorüberlegungen entsprechend fragt Kapitel II danach, in welche Ordnungssysteme körperliche, kognitive und psychische Beeinträchtigungen zu je verschiedenen Zeiten an je verschiedenen Orten eingebettet wurden und welchen Stellenwert sie innerhalb unterschiedlicher kultureller Gemeinschaften haben. Heterogenität der Konzepte und ihr geschichtlicher Wandel machen dabei die Kontingenz des Phänomens greifbar. • Zunächst erfolgen knappe Überblicke über verschiedene Etappen der geschichtlichen Entwicklung eines Konzeptes ›Behinderung‹, die den Fokus auf Deutschland bzw. Europa und die westliche Welt legen. Kernfragen sind dabei, unter welchen historischen Bedingungen sich eine Unterscheidung ›behindert/nicht-behindert‹ ausbildet und wie diese beschaffen ist bzw. welche sozialen Regulierungsmechanismen sie hervorbringt. Zurückgreifen kann die Dis/ability History auf hervorragende systematische Forschungsarbeiten

23  Einleitung: Geschichte der Vorstellungen von Behinderung

insbesondere im Bereich der Vormoderne (Nolte/ Frohne/Halle u. a. 2017), die aber keinen systematischen interkulturellen Vergleich leisten können und sich daher auf das Frankenreich und Nachbarregionen konzentrieren (Unterkapitel A). • Anschließend wird – angesichts der lückenhaften Forschung nur ansatzweise und äußerst eklektisch – ein Kulturvergleich mit Ländern außerhalb Europas, insbesondere auch des Globalen Südens, skizziert (Unterkapitel B). • Das letzte Unterkapitel rollt schließlich den geschichtlichen Überblick anhand spezifischer Beeinträchtigungen auf und zeigt damit die Unterschiedlichkeit nicht nur der Behinderungserfahrungen, sondern auch der gesellschaftlichen Reaktionen auf spezifische Beeinträchtigungen. Damit wird ansatzweise deutlich, dass Einzelgeschichten z. T. stark von Gesamtgeschichten abweichen (Unterkapitel C). Literatur

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Susanne Hartwig

A Konzepte von Behinderung in Europa und in den USA 24 Griechisch-römische Antike In der griechisch-römischen Antike waren körperliche Beeinträchtigungen aufgrund von schwierigen Lebensumständen (Krieg, Mangelernährung, Seuchen, harte Arbeit) weit verbreitet, so dass zahlreiche Arten von Deformitäten und Einschränkungen zur Sprache kamen (Laes 2017, 121–138 [Samama]). Neben physischen Handicaps wurden auch psychische, geistige und sensorische Mängel (Blindheit, Taubheit, Stummheit) thematisiert, wobei die Blindheit von Dichtern und Sehern mit speziellen Fähigkeiten verbunden wurde (Rose 2003, 79–94; Garland 2010, 34, 100–101) (s. Kap. 36). Eine eindeutige Definition für Behinderung existierte nicht und in der Medizin gab es für die ›Heilung‹ von Behinderungen auch kein eigenes Beschäftigungsfeld. Menschen mit Behinderung waren in der Antike keine abgesonderte Minderheit, sondern bildeten im Prinzip einen integralen Teil der Gesellschaft. Sie wurden a priori weder von der Gemeinschaft ausgegrenzt noch aus der Öffentlichkeit entfernt (Laes 2017, 151 [Rose]). Dennoch konnten sie mit verschiedenen Makeln behaftet sein, die Verunglimpfung und Verspottung mit sich brachten oder sogar zur Ächtung führten. Die griechische Bezeichnung teras/terata umfasst Missbildungen und Missgeburten, die einerseits als göttliche Wunderzeichen, andererseits als Ungeheuer (lat. monstrum/monstra) betrachtet wurden (Aristot. gen. an. 767b; Bien 1997, 27). Bereits in den homerischen Epen (um 700 v. Chr.) bildeten körperlich auffällige Völker am Rande der Welt (Pygmäen, Laistrygonen, Kyklopen) einen Gegensatz zum eigenen Gesellschafts- und Körperideal (Hom. Il. 3,5–6; Od. 9,106–107. 187–198; 10,118– 120). Der deformierte Krieger Thersites, der den griechischen Anführer Agamemnon kritisierte, wurde vor dem Heer erniedrigt und lächerlich gemacht (Hom. Il. 2,211–277). Im Mythos wurden körperliche Abwei-

chungen und Gebrechen auf göttliche Figuren und Mischwesen wie Satyrn, Gorgonen, Sphingen, Kentauren und Harpyien übertragen. Der Schmiedegott Hephaistos hatte als hinkender Arbeiter zwar einen Makel, wurde in Verbindung mit Athena aber auch als Beschützer der Handwerker und Künstler verehrt. Bei auserwählten Herrschern und Königen wie Agesilaos von Sparta und Philipp II. von Makedonien (4. Jh. v. Chr.) wurden körperliche Mängel als Zeichen göttlicher Vorsehung oder spezieller Einsatzbereitschaft akzeptiert, so dass sie keine Machteinbußen zur Folge hatten (Laes/Goodey/Rose 2013, 231–248 [Samama]; Laes 2018, 149–151). Angeborene Behinderungen galten bei den Griechen als vererbt oder im Uterus entstanden (Hippokr. genit. 9–10; Aristot. gen. an. 721b; hist. an. 585b). Missgebildete Kinder liefen grundsätzlich Gefahr, von privater oder öffentlicher Seite verstoßen zu werden (Plut. Lyk. 16: Sparta), was auch Philosophen propagierten. Platon empfahl, behinderte Kinder geheim auszusetzen (pol. 460c; Theait. 161a). Aristoteles meinte, dass deformierte Kinder nicht aufgezogen werden sollten (pol. 1335b) und hielt es für angebracht, selbstverschuldet Behinderte auszulachen (NE 1114a). Behinderungen bei Kindern konnten auch auf göttlichen Zorn zurückgeführt werden, so dass die Beseitigung als Opfer zur Besänftigung der Gottheit galt (Stiker 1999, 39–40; Garland 2010, 66– 67). Dennoch waren Eltern immer wieder bereit, behinderte Kinder zu akzeptieren. Körperlich auffällige Personen wie Klein- und Großwüchsige, Verstümmelte und Missgestaltete wurden wiederholt als unglückbringend stigmatisiert und der Verhöhnung ausgesetzt. Sie kamen nicht nur in der Komödie zur Darstellung, sondern traten auch bei tänzerischen Aufführungen zu gesellschaftlichen Anlässen auf, die zur Belustigung und Unterhaltung dienten. Solche Feste konnten im Zusammenhang mit dem Weingott Dionysos stehen und bildeten damit einen

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_24

24  Griechisch-römische Antike

Gegensatz zur bürgerlichen Welt, von der sie letztlich Unglück fernhalten sollten. Daher waren deformierte Figuren mit Buckeln, kurzen Beinen, dicken oder ausgehungerten Leibern und verzerrten Gesichtern (sog. Grylloi) auch als apotropäische Statuetten und Amulette beliebt (Giuliani 1987; Stähli 2009; Garland 2010, 105–122; Laes/Goodey/Rose 2013, 275–297 [Mitchell]; Laes 2017, 182–196 [Mitchell]). Der Buckel konnte sogar als Zeichen von bevorstehendem Glück gelten (Suet. Dom. 23,2; Trentin 2015, 90–92). Die Versorgung von Behinderten war in der Antike grundsätzlich den betroffenen Familien überlassen. Blieb diese Unterstützung aus, bestand die Gefahr, ohne Arbeit in die Randgruppe der Bettler abzusinken. Einzig im Athen der klassischen Zeit ist eine staatliche Rente für bedürftige Kriegsinvalide und körperlich Behinderte überliefert (Aristot. Ath. pol. 49,4; Lys. 24; Plut. Sol. 31; Laes 2017, 140–143 [Rose]. 171–180 [Dillon]), die wie Kriegswaisen mit einem gewissen Mitleid rechnen konnten. Andererseits waren Behinderte in Athen offenbar von der Ausübung politischer Ämter ausgeschlossen (Lys. 24,13. 22). Bei Xenophon (mem. 3,12,6) wird die Ansicht vertreten, dass Körperschwäche negativ auf den Geist einwirken kann. Sokrates soll angeblich der Meinung gewesen sein, dass Rasende körperlich zurückzuhalten bzw. anzuketten sind (Xen. mem. 1,2,49–50). Geisteskranke durften offenbar keine Tempel betreten, so dass sie unter Umständen von dort und weiteren Orten durch Steinwürfe vertrieben wurden (Aristoph. Av. 523– 528; Ach. 1166–1173; Heiberg 1927, 2; Harris 2013, 3). Verrücktheit und Raserei (mania/phrenesis, lat. furor) erhielten in den Mythen und Texten der Griechen und Römer viel Aufmerksamkeit (Cic. Tusc. 3,11), wobei Schicksal und Wahnsinn gerade auch in den Tragödien thematisiert wurden (Laes 2017, 154–166 [Garland]). Psychosen wurden als eine von den Göttern verhängte Strafe betrachtet (Hdt. 6,84: König Kleomenes I. von Sparta), von den Medizinern der hippokratischen Schule aber auch auf natürliche, körperliche Ursachen bzw. krankhafte Veränderungen des Gehirns zurückgeführt (Hippokr. morb. sacr. 2–3: Epilepsie); daher sollten sie durch körperliche Heilverfahren wie Aderlass, Diät und Bäder geheilt werden (Heiberg 1927, 3–5. 9). Auch bei den Römern drohte es missgebildeten Kindern, ausgesetzt oder sogar getötet zu werden (Cic. leg. 3,8,19; Dion. Hal. 2,15,2). Körperliche Mängel wurden aber nicht mit einer schlechten inneren Verfassung in Zusammenhang gebracht und konnten neben Benachteiligungen auch zu Anerkennung füh-

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ren. In der späten Republik (2./1. Jh. v. Chr.) wurden Alterserscheinungen, Narben und Verstümmelungen zum Ausdruck des erprobten Bürgers (Gell. 2,27). Schon zuvor fand die Wertschätzung von Gebrechen in der Namensgebung ihren Niederschlag (Plin. nat. 11,150): Caecus (Blinder), Calvus (Glatzkopf), Cocles (Einäugiger), Crassus (Dicker), Flaccus (Schlappohriger), Luscus (Schielender/Einäugiger), Macer (Dünner), Strabo (Schieler), Varus (O-Beiniger); einem Senator, der sich für den Staat aufopferte, war es trotz gewisser Beeinträchtigungen möglich, seine Karriere fortzusetzen (Thommen 2007, 91–95). Dennoch stellten Behinderungen auch bei den Römern eine Gratwanderung für die Betroffenen dar, da sie die Gefahr von Ausgrenzung, Spott und Verachtung mit sich brachten (Cic. de orat. 2,239. 245–246. 249; Suet. Claud. 4,2; De Libero 2002). Eine rechtliche Bestimmung besagte, dass Taube, Stumme und Geisteskranke nicht Richter werden konnten (Dig. 5,1,12,2) und Blinde nicht zur Magistratur zugelassen wurden (Dig. 3,1,1,5); zudem konnten geistig Behinderte der Aufsicht (curatio) von Verwandten unterstellt werden (12-Tafel-Gesetz 5,7; Laes 2017, 300–306 [Toohey]). Missgebildete und Kleinwüchsige wurden auch bei Gelagen und Festspielen in der Arena zur Unterhaltung vorgeführt (Sen. contr. 10,4,8; Plin. nat. 7,31–34), so dass Sklaven mit Behinderung besonders teuer gehandelt wurden (Plut. mor. 520c; Mart. 8,13; Garland 2010, 46–47). Statuen von körperlich gezeichneten Landleuten und Fischern waren bei römischen Villenbesitzern beliebt (Plin. epist. 3,6) und bildeten einen Gegensatz zum eigenen gesellschaftlichen Erfolg, den es zu bewahren galt (Laubscher 1982; Kunze 2009). Literatur

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II  Geschichte der Vorstellungen  –  A  Konzepte in Europa und den USA

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Lukas Thommen

25  Mittelalter, Frühe Neuzeit

25 Mittelalter, Frühe Neuzeit Disability History fragt danach, wie in unterschiedlichen Kulturen und Gesellschaften Kategorien gesellschaftlicher Differenzierung gebildet wurden, welche Rückgriffe dabei auf den Körper stattfanden und welche Bedeutung diesen Kategorien in unterschiedenen soziokulturellen Kontexten zukam. Das Konzept der ›verkörperten Differenz‹ (embodied difference) basiert auf der Grundannahme der Disability Studies, dass ›Andersheit‹ eine kulturell sowie historisch kontingente Deutungskategorie ist. Es handelt sich bei Behinderung/Disability also nicht um ein vornehmlich biologisches oder soziales, sondern immer auch um ein kulturelles Phänomen, das sich durch Diversität und Fluidität auszeichnet. Gerade vormoderne Epochen eignen sich dazu, diesen Umstand vor Augen zu führen, sei es anhand ungewohnter Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit, grundlegend ›andersartiger‹ Körper- und Weltbilder, schwer verständlicher Zuordnungen, Bezeichnungen und Beschreibungen oder unerwarteter Deutungen. Aus dem Blickwinkel historischer Kategorisierungsprozesse selbst ergeben sich weitreichende Fragen, die nicht nur eine bestimmte Personengruppe, sondern eine historische Gesellschaft als Ganzes in den Blick nehmen. Für die Mediävistik und die Frühneuzeitforschung lassen sich daraus vielversprechende Perspektiven ableiten: Als Analysekategorie stellt Disability neue Möglichkeiten zur Untersuchung von vormodernen Herrschafts- und Machtstrukturen, Handlungsspielräumen und Repräsentationen bereit. Die vielfältigen Gesellschaftsformationen der Vormoderne können dabei, ausgehend vom Körper als Ort und Gegenstand gesellschaftlichen Handelns, daraufhin untersucht werden, welche Rolle Körperlichkeit – in ihren materiellen wie symbolischen Dimensionen, als individuelles Erfahrungsfeld wie als Produkt diskursiver Erzeugung – innerhalb vormoderner Differenzierungs- und Abgrenzungsprozesse, in Organisations- und Repräsentationspraxen spielte. So lässt sich z. B. nach den Bedeutungszuschreibungen fragen, die bei der Herausbildung sozialer Gruppen auf den Bereich des Körperlichen verweisen, nach den Lebens- und Alltagszusammenhängen, in denen Körperlichkeit als Kategorie überhaupt eine Rolle spielte, sowie nach den literarischen, bildlichen und performativen Hervorbringungen, die diese Phänomene und Vorstellungen aufgreifen, neu konturieren oder in völlig andere Sinnbereiche überführen konnten.

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25.1 Disability in der Vormoderne: Herangehensweisen und Verlaufsmodelle in der Forschung Disability als Konzept ist nur schwer in vormodernen Quellen fassbar: Zum einen erweisen sich Begriffe, Konzepte und Wissensordnungen oft als uneinheitlich und stark kontextbezogen. Zum anderen erscheinen Phänomene verkörperter Differenz eher fragmentarisch: nicht als eigenständige, fest umrissene Konzepte mit einheitlichen Bedeutungszuschreibungen, sondern als situativ herangezogene Deutungsangebote. Die Modelle zur Beschreibung von Disability werden daher von Vertreter*innen der Mittelalter- und Frühneuzeitforschung in ganz unterschiedlicher Weise genutzt. Um den vormodernen Begriffen und Systematiken gerecht zu werden, ziehen viele Forscher*innen gezielt das kulturelle Modell heran (s. Kap. 4), da es erlaubt, nicht nur Disability, sondern auch Beeinträchtigungen, Krankheiten etc. als gesellschaftliche und kulturelle Hervorbringungen zu untersuchen (vgl. z. B. Eyler 2010; Singer 2011). Andere bevorzugen weiterhin das soziale Modell, um die gesellschaftlich-kulturellen Überformungen von Behinderung im Hinblick auf ganz spezifische Beeinträchtigungen im historischen Wandel herauszuarbeiten (vgl. Metzler 2006). Hinzu treten Adaptionen oder neugeschaffene Modelle – etwa das ›religious model‹ (Wheatley 2010) oder das vielversprechende ›environmental model‹ (Turner 2017) –, die jedoch in ihrer Anwendung und Umsetzung noch erprobt werden müssen. Die systematische Erforschung von vormodernen Phänomenen verkörperter Differenz aus der Perspektive der Disability Studies hat zudem erst vor wenigen Jahren eingesetzt. Zuvor wurde die Sicht auf die Vormoderne nicht selten durch einseitige, manchmal auch idealisierende Geschichtsvorstellungen überlagert. In ihren Anfängen beschränkte sich auch die Disability History vornehmlich auf die Erforschung moderner und postmoderner Gesellschaften. Dem liegt eine Periodisierung zugrunde, die eine zunehmende Disziplinierung, Rationalisierung und Bürokratisierung des Körpers seit dem Beginn der Aufklärung voraussetzt. Von diesem Modell ausgehend wurden zunächst vor allem die medizinisch-rehabilitativen, psychologischen und sozialmedizinischen Diskurse und Praktiken untersucht, die zur Ausbildung von Behinderung im heutigen Sinne geführt haben. Behinderung wurde demnach als ein der Moderne zugehöriges Phänomen verstanden, das in vormodernen Gesellschaften allenfalls als Vorform zu finden ist. Bereits die ersten Ver-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_25

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II  Geschichte der Vorstellungen  –  A  Konzepte in Europa und den USA

treter*innen der Disability Studies hatten eine ähnliche Periodisierung zugrunde gelegt: Erst in der Moderne sei der Körper anhand seiner ökonomischen ›Verwertbarkeit‹ gemessen und bewertet worden. Für die Vormoderne wurden daher eher starre und ahistorische Bilder von einer Gesellschaft ohne Behinderung entworfen. In den letzten Jahren hat sich die Disability History der Vormoderne jedoch als ein dynamisches und vielversprechendes Forschungsfeld erwiesen, das die theoretischen Grundlagen der Disability Studies systematisch mit quellenkritischen, methodisch geleiteten Studien verbindet. Bis zur Erarbeitung erster Forschungssynthesen ist es zwar noch ein langer Weg. Es zeichnet sich jedoch ab, dass komplexe und vielseitige Phänomene in den Blick genommen werden müssen, von denen sich je nach Quellengrundlage ganz unterschiedliche und teils sogar widersprüchliche Bilder entwerfen lassen. Seither wurden einige Grundannahmen der Disability Studies in Frage gestellt. Dazu gehört die Annahme, dass Praxen lang angelegter, rehabilitativ ausgerichteter Therapien erst im Rahmen der Professionalisierung und Bürokratisierung des Gesundheits- und Fürsorgewesens im 18. und 19. Jahrhundert hervorgebracht wurden und zu grundlegend neuen Auffassungen von Krankheit und Gesundheit, Normalität und Abweichung sowie schließlich zur Gegenüberstellung von Behinderung und Nichtbehinderung führten. Das damit verbundene Theorem der Medikalisierung ist jedoch von der historischen Forschung bereits in vielen Punkten revidiert worden (vgl. Kinzelbach 1995, 14–20). Anhand von Fallstudien zu einzelnen Städten, Familien oder Institutionen wurde zum einen gezeigt, dass kranke Menschen und ihre Familien im vormodernen Gesundheits- und Fürsorgewesen aktive Rollen einnahmen und dass die städtischen Obrigkeiten stark auf Konsensbildung angewiesen waren. Während das Anwachsen der schriftlichen Quellen, die als Beleg eines Medikalisierungsprozesses gedeutet worden waren, durchaus als Folge zunehmender Bürokratisierung erkennbar sind, lässt sich nicht ohne Weiteres ein grundsätzlicher Vorstellungswandel ausmachen. Zum anderen wurde deutlich, dass das Bild, das aus Perspektive der obrigkeitlichen Gesundheitsfürsorge entworfen wird, zu einseitig ist, um der Bandbreite vormoderner Deutungen und Wahrnehmungen gerecht zu werden. So waren auch nicht vorrangig Institutionen und Obrigkeiten, sondern vor allem familiäre und gruppenspezifische Netzwerke zentrale Orte rehabilitativ ausgerichteter Behandlungen und langjähriger

medizinischer Maßnahmen. In diesem Zusammenhang lassen sich zwar epochenspezifische, aber durchaus restriktive Normalisierungsbestrebungen und Anpassungsstrategien bereits im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit finden. Seit dem späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit sind z. B. nicht selten aufwendige, zum Teil schmerzhafte, kosten- und zeitintensive Langzeittherapien nachweisbar. Diese kamen auch im Fall von minderschweren funktionellen Einschränkungen oder bloßen körperlichen Auffälligkeiten zum Tragen. Zudem waren sie durchaus nicht auf wohlhabende Schichten beschränkt, auch wenn diese in den Quellen leichter ausfindig zu machen sind. Verbreitete Sammelbezeichnungen wie ›unrichtig‹, ›ungeschickt‹, ›mangelhaft‹ bzw. ›gebrechenhaft‹ (vgl. Frohne 2014, 17–23) lassen zudem darauf schließen, dass es durchaus Begriffe gab, mittels derer Menschen als abweichend oder defizitär beschrieben werden und einer eigenen Kategorie zugeordnet werden konnten. Allerdings kam keiner dieser Begriffe so übergreifend oder regelhaft zur Anwendung, dass er dem modernen Behinderungsbegriff vergleichbar wäre.

25.2 Vielfalt vormoderner Deutungen und Wissensordnungen Die Disability History der Vormoderne hat zunächst die Aufgabe, überkommene Vorstellungen und Verlaufsmodelle in Frage zu stellen und neue Fragestellungen zu entwickeln. Dies beginnt zunächst bei den allgemeinen Geschichtsbildern, die den Disability Studies teilweise noch zugrunde liegen. Vor allem das Mittelalter erscheint darin als ein statisches, rigides und fest geordnetes Gesellschaftsmodell mit einer einheitlichen, streng kirchlich-religiös geprägten Geisteshaltung. Um Disability History angemessen betreiben zu können, ist es jedoch erforderlich, die Komplexität, Pluralität und Dynamik der zu erforschenden sozialen und kulturellen Phänomene zu berücksichtigen. Für vormoderne Gesellschaften ist ein Nebeneinander von unterschiedlichen, mehr oder weniger stark voneinander abgegrenzten Lebensformen und sozialen Gruppen charakteristisch. Dieses weder auf Einheitlichkeit noch auf Gleichheit angelegte Gesellschaftsmodell stand einheitlichen Deutungen sowie einer systematischen Kategorisierung von Phänomenen im Umfeld von Disability eher entgegen. Stattdessen haben wir es häufig mit ›Einzelfallregelungen‹ zu tun. Neben dem Fehlen eines übergreifenden, in seinen Grundzügen akademisch geprägten und zuneh-

25  Mittelalter, Frühe Neuzeit

mend medial vermittelten Behinderungsdiskurses, wie er in modernen Gesellschaften greifbar wird, sind deshalb auch der hohe Anteil an pragmatischen Verhaltensweisen, die Flexibilität gegenüber Deutungsangeboten und die eher fallweise Nutzung positiver wie negativer Zuschreibungen zu berücksichtigen. Am Beispiel der Blindheit (s. Kap. 36) wird dies besonders gut deutlich: So lässt sich einerseits argumentieren, dass die eingeschränkte Fähigkeit sehbeeinträchtigter Menschen, im Rahmen der Eucharistie die emporgehobene Hostie zu sehen, als so grundlegende spirituelle Benachteiligung aufgefasst worden sei, dass Blindheit im späten Mittelalter als Ausweis von Bösartigkeit, spiritueller Verworfenheit, Geiz und eines übermäßigen Sexualtriebs gesehen worden sei (Wheatley 2010). Es lässt sich aber auch nachweisen, dass Sinnesbeeinträchtigungen, vor allem aber Blindheit, zur selben Zeit als spiritueller Vorzug, als Ausweis von innerer Weitsichtigkeit, Frömmigkeit und Weisheit galten, da sie eine Abkehr von den weltlichen Dingen begünstigten (Singer 2011). Die spezifischen sozialen und kulturellen Kontexte und Umwelten werden so zu einem entscheidenden Faktor, der sich etwa mit Hilfe des ›environmental model‹ (Turner 2017) beschreiben und untersuchen lässt. Auch intersektionale Ansätze (s. Kap. 46) bieten in dieser Hinsicht vielversprechende Perspektiven. Dies gilt auch für kulturelle Instanzen. Die heute am besten bekannten und wiederholt zitierten Quellen aus dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit entstammen vorrangig institutionalisierten oder gelehrten Diskursen. Diesen steht jedoch eine überraschend große Bandbreite stark situationsabhängiger Deutungen, Wahrnehmungen und Thematisierungsformen von Disability im Alltag gegenüber. Zahlreiche gelehrte Symbole und Motive wurden anscheinend eher beiläufig und in illustrierender Absicht verwendet, manchmal jedoch mit so großer Selbstverständlichkeit, dass die Forschung aus ihnen grundlegende gesellschaftliche Haltungen abzuleiten versuchte. Als Beispiel lässt sich das Motiv des ›Narrenschiffs‹ anführen, das irrtümlich zu einer sozialen Praxis umgedeutet wurde (vgl. Bredberg 1999, 195). Auch aus diesem Grund haben Vertreter*innen der Disability History der Vormoderne verstärkt dazu aufgerufen, Unterschiede zwischen Norm und Praxis als maßgebliche Forschungsaufgabe zu berücksichtigen. Gerade in schriftarmen Gesellschaften kommt z. B. Rechtstexten ein stark symbolischer Charakter zu, so dass sie teilweise erst nach langen Zeiträumen geändert oder an die eigentlichen gesellschaftlichen Gegebenheiten

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und Anforderungen angepasst werden. Es ist daher nicht immer auf den ersten Blick erkennbar, inwieweit und auf welche Weise normative Texte in vormodernen Gesellschaften rezipiert wurden und welche Geltung sie hatten. Von zentraler Bedeutung sind daher nicht nur die Inhalte und Bedeutungen, die sich mit bestimmten Begriffen und Konzepten im Umfeld verkörperter Differenz ausfindig machen lassen, sondern auch ihre Reichweiten und Nutzungskontexte. Was im Einzelfall als ›andersartig‹, als ›krank‹, ›mangelhaft‹ oder ›unrichtig‹ galt, konnte demnach situativ verschieden sein und in unterschiedlichen kulturellen oder sozialen Kontexten höchst unterschiedlich bewertet werden (vgl. Frohne 2015, 19–26). Bei der Erforschung dieser Bedeutungszuweisungen und Deutungsweisen müssen zudem epochenspezifische Kategorisierungsund Wissenssysteme in Betracht gezogen werden. Am Beispiel des vormodernen Konzepts des ›Versehens‹ lassen sich etwa Phänomene im Umfeld von Krankheits- und Gesundheitsvorstellungen sowie von Sinnes- und Wahrnehmungstheorien untersuchen. Dem liegt die Vorstellung eines materiell (in Form eines Gehirnventrikels) vorhandenen, bildhaft strukturierten und zugleich emotional gesteuerten Vorstellungsvermögens (imaginatio) zugrunde, das äußere Wahrnehmungen, Anblicke und Eindrücke aufnehmen und ihnen substanziell Form und Gestalt verleihen konnte. So konnte etwa ein schreckenerregender Anblick, dem eine schwangere Frau ausgesetzt war, als eine von vielen möglichen Erklärungen für die Geburt eines ›monströsen‹ Kindes herangezogen werden. Demnach konnte bereits der Gedanke an bestimmte (auch imaginäre) Menschen, Tiere oder andere Erscheinungen in Verbindung mit bestimmten Befindlichkeiten und Gemütszuständen zu einer wundersamen Geburt führen. Dieses Konzept unterliegt sehr deutlich geschlechtsspezifischen Zuschreibungen und Werturteilen (vgl. Ewinkel 1995, 151–185; Jütte 1996). Zudem war es eng verbunden mit Emotionalität – so konnten bezeichnenderweise auch starke Gefühlsaufwallungen, vor allem Wut und Angst oder Sorge, für Fehl- und Wundergeburten verantwortlich gemacht werden. Das Konzept des ›Versehens‹ musste allerdings gezielt aus einer Reihe weiterer Deutungsangebote ausgewählt werden; es wurde keineswegs durchgängig oder konsequent angewandt. Eine detaillierte kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit diesen und anderen Konzepten, ihren vielfältigen Anwendungsbereichen und Nutzungskontexten erscheint daher weiterhin ertragreich und notwendig.

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Literatur

Bredberg, Elizabeth: Writing Disability History. Problems, Perspectives and Sources. In: Disability & Society 14 (1999), 189–201. Ewinkel, Irene: De monstris. Deutung und Funktion von Wundergeburten auf Flugblättern im Deutschland des 16. Jahrhunderts. Tübingen 1995. Eyler, Joshua R.: Introduction. Breaking Boundaries, Building Bridges. In: Ders. (Hg.): Disability in the Middle Ages. Reconsiderations and Reverberations. Farnham, Surrey 2010, 1–8. Frohne, Bianca: Leben mit »kranckhait«. Der gebrechliche Körper in der häuslichen Überlieferung des 15. und 16. Jahrhunderts. Überlegungen zu einer Disability History der Vormoderne. Affalterbach 2014. Frohne, Bianca: Infirmitas. Vorschläge für eine Diskursgeschichte des gebrechlichen Körpers in der Vormoderne. In: WerkstattGeschichte 65 (2015), 9–27. Jütte, Robert: Die Frau, die Kröte und der Spitalmeister. Zur Bedeutung der ethnogra-phischen Methode für eine Sozial- und Kulturgeschichte der Medizin. In: Historische Anthropologie 4/2 (1996), 193–215. Kinzelbach, Annemarie: Gesundbleiben, Krankwerden, Armsein in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Gesunde und Kranke in den Reichsstädten Überlingen und Ulm, 1500–1700. Stuttgart 1995. Kudlick, Catherine J.: Disability History: Why We Need Another »Other«. In: American Historical Review 108/3 (2003), 763–793. Kuuliala, Jenni: Childhood Disability and Social Integration in the Middle Ages. Constructions of Impairments in Thirteenth- and Fourteenth-Century Canonization Processes. Turnhout 2016.

Metzler, Irina: Disability in Medieval Europe. Thinking about Physical Impairment During the High Middle Ages, c. 1100–1400. London/New York 2006. Nolte, Cordula: ›Behindert‹, ›beeinträchtigt‹, ›bresthafftigen leibs‹ im Mittelalter. Bemerkungen zu einem aktuellen Forschungsfeld. In: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 28 (2009), 9–20. Nolte, Cordula/Frohne, Bianca/Halle, Uta/Kerth, Sonja (Hg.): Disability History der Vormoderne. Ein Handbuch / Premodern Dis/ability History. A Companion, Affalterbach 2017. Riha, Ortrun: Chronisch Kranke in der medizinischen Fachliteratur des Mittelalters. In: Cordula Nolte (Hg.): Homo debilis. Behinderte – Kranke – Versehrte in der Gesellschaft des Mittelalters. Korb 2009, 99–120. Schattner, Angela: Zwischen Familie, Heilern und Fürsorge. Das Bewältigungsverhalten von Epileptikern in deutschsprachigen Gebieten des 16.–18. Jahrhunderts. Stuttgart 2012. Singer, Julie: Blindness and Therapy in Late Medieval French and Italian Poetry. Cambridge 2011. Turner, Wendy J. (Hg.): The Treatment of Disabled Persons in Medieval Europe. Examining Disability in the Historical, Legal, Literary, Medical, and Religious Discourses of the Middle Ages. Lewiston 2010. Turner, Wendy J.: The Environmental Model. In: Cordula Nolte/Bianca Frohne/Uta Halle/Sonja Kerth (Hg.): Disability History der Vormoderne. Ein Handbuch / Premodern Dis/ability History. A Companion. Affalterbach 2017, 63–67. Wheatley, Edward: Stumbling Blocks before the Blind. Medieval Constructions of a Disability. Ann Arbor 2010.

Bianca Frohne

26  Zeitalter der Aufklärung

26 Zeitalter der Aufklärung 26.1 Das Zeitalter der Aufklärung als Beginn der Moderne? In der Geschichtswissenschaft und anderen kulturwissenschaftlichen Disziplinen wird das Zeitalter der Aufklärung oft als Schwelle von der Vormoderne zur (westlichen) Moderne interpretiert. Die Epoche kann dementsprechend positiv bewertet werden als Ausgangspunkt von Säkularisierungsprozessen und als Geburtsstunde der Ideen von Menschenrechten und Demokratie. Seit der Veröffentlichung von Theodor Adornos und Max Horkheimers Dialektik der Aufklärung (1944) hat sich indes auch eine Tradition kritischer Deutungen etabliert. Insbesondere Vertreter*innen der Postmoderne problematisieren die Wirkungen der Aufklärungsphilosophie, weil sie die westliche Moderne mit zahlreichen Fehlentwicklungen verbinden (Wilson 2004). Publikationen zur Geschichte von Menschen mit Behinderung spiegeln diese Forschungstendenzen wider. Insbesondere die Autor*innen älterer Werke erblicken im Zeitalter der Aufklärung die Wende zu einem humaneren Umgang mit behinderten Menschen. So schreibt Margaret Winzer: »In the age of enlightenment to come, new hope for all forms of exceptionality would flourish« (Winzer 1997, 106). In neueren Publikationen der Disability Studies herrscht dagegen eine kritische Sicht auf die westliche Moderne vor, aus der sich oftmals eine zumindest skeptische Beurteilung des Zeitalters der Aufklärung ergibt. Das ist insofern logisch, als die Disability Studies von der Philosophie der Postmoderne beeinflusst sind. Insbesondere die Werke Michel Foucaults wurden und werden intensiv rezipiert (Waldschmidt 2007). Seine Studie Wahnsinn und Gesellschaft liefert gleichsam die Blaupause für eine kritische Deutung des Zeitalters der Aufklärung im Blick auf die Geschichte behinderter Menschen. Foucaults These, die Aufklärung mit ihrer Hochschätzung der Rationalität habe zu einer Stigmatisierung und systematischen Isolierung psychisch kranker Menschen geführt, wurde auf den Umgang mit Personen mit allen Arten von Behinderungen übertragen. Die Disability Studies sehen die Einführung der Sammelkategorie ›Behinderung‹, mit der bestimmte Formen körperlicher Alterität etikettiert werden, als einen Sündenfall der westlichen Moderne, weil sie notwendig Ausgrenzung und Bevormundung durch – vor allem medizinische – Expert*innen nach sich ziehe. Dieser Sündenfall wird

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teils im Zeitalter der Aufklärung verortet. So konstatiert Elsbeth Bösl, »dass die Kategorie Behinderung ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaften in Europa seit der Aufklärung ist« (Bösl 2009, 17). Die Debatte über das ambivalente Erbe der Aufklärung wird in den Disability Studies besonders intensiv mit Blick auf die in jener Zeit erstmals im größeren Stil erprobte Blinden- und Gehörlosenbildung geführt (s. Kap. 35–36). Umstritten ist beispielsweise, ob die Pädagogen und Gelehrten primär von dem Wunsch geleitet waren, das individuelle Los blinder und gehörloser Menschen zu bessern oder von utilitaristischen Erwägungen, die auf eine Optimierung des Arbeitskräftepotentials zielten (Hofer-Sieber 2000). Kontrovers diskutiert wird weiterhin die Frage, ob der Unterricht in internatsähnlichen Schulen die Bildung einer Gehörlosen-Community förderte oder ob er Teil eines ›grand enfermement‹ (›große Einschließung‹) im Sinne Foucaults war (Branson/Miller 2002). Die westliche Moderne (und explizit oder implizit mit ihr das Zeitalter der Aufklärung) im Hinblick auf den Umgang mit behinderten Menschen als ausschließlich positiv oder ausschließlich negativ zu charakterisieren, erscheint wenig produktiv. Vielmehr wäre ihre Janusköpfigkeit anzuerkennen, die z. B. Henri-Jacques Stiker (1999, 132–151) herausgearbeitet hat. Darüber hinaus ist (auch im Hinblick auf die Geschichte von Menschen mit Behinderung) zu fragen, inwiefern das Zeitalter der Aufklärung tatsächlich – im Guten wie im Bösen – den Beginn der westlichen Moderne markierte (Pečar/Tricoire 2015). Diese Frage ist für die folgenden Abschnitte leitend.

26.2 Eine sozialgeschichtliche Umbruchsphase? Der Forschungsstand erlaubt es nicht, ein umfassendes Bild von den Lebenslagen von Menschen mit Behinderung im Zeitalter der Aufklärung zu zeichnen. ›Behinderung‹ war kein Quellenbegriff dieser Zeit. Behinderte Menschen wurden nicht als distinkte soziale Gruppen wahrgenommen. Entsprechend schwer fällt es, in den Quellen Informationen über sie zu finden. Was bekannt ist, spricht indes nicht dafür, das Zeitalter der Aufklärung als eine sozialgeschichtliche Umbruchsphase zu charakterisieren. Ein Teil der Menschen mit Behinderungen war auf Armenfürsorge angewiesen. Bei der ›geschlossenen‹ Armenfürsorge bedeutete dies eine Unterbringung in Hospitälern, Armen- und Arbeitshäusern. Weil diese

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_26

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zwangsweise und als Disziplinarmaßnahme geschehen konnte, hat Foucault sie als grand enfermement bezeichnet. Sie war freilich keine Erfindung der Aufklärung. Das erste Arbeitshaus, in dem deviante Arme mit Zwang zur Arbeit erzogen werden sollten, wurde im späten 16. Jahrhundert in England gegründet. Im Zeitalter der Aufklärung wurde eine rege Debatte über das Armenwesen geführt, bei der ganz unterschiedliche Reformansätze diskutiert wurden. Zu diesen gehörte auch, dass es behinderten Menschen ermöglicht werden sollte, ihren Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit zu erhalten (Schmidt 2017, 234–242). Als eine Voraussetzung hierfür wurde Bildungserwerb erkannt, weshalb die Gründung von Gehörlosen- und Blindenschulen solchen Ideen Auftrieb gab. Eine ähnliche Rolle spielten auch medizinische Innovationen, wie etwa eine verbesserte chirurgische Therapie für die Katarakt (den Grauen Star) und die Gründung von infirmaries in England (Borsay 1998; Turner 2012, 43). Indessen wurden nur wenige Reformprojekte in der Armenfürsorge wirklich umgesetzt. Gehörlosen- und Blindenschulen wurden erst im späten 18. Jahrhundert gegründet und eröffneten nur wenigen hundert Menschen neue Bildungsmöglichkeiten. Quantitativ bedeutsamer waren verstärkte Bemühungen um die Versorgung invalider ehemaliger Soldaten im Laufe des 18. Jahrhunderts, doch waren auch diese wohl nirgends bedarfsdeckend (Schmidt 2019). Nur eine Minderheit jener behinderten Menschen, die Armenfürsorge bezogen, wurde folglich von Reformen im Zeitalter der Aufklärung tangiert. Zugleich ist vor der Annahme zu warnen, der Bettel oder der Bezug von Armenfürsorge seien für behinderte Menschen in jener Zeit der Regelfall gewesen. Anzunehmen ist vielmehr, dass viele von ihnen in die Familienökonomie des vorindustriellen ›ganzen Hauses‹ integriert waren und dort im Rahmen ihrer Möglichkeiten mitarbeiteten. Dieses Lebens- und Wirtschaftsmodell löste sich im Zuge der Industrialisierung auf, was die Lebenssituation vieler behinderter Menschen verschlechtert haben könnte (Dörner 1994; Gleeson 1997). Dies war aber eine Entwicklung, die erst im 19. Jahrhundert zu voller Entfaltung kam. Behinderte Menschen aus begüterten Familien konnten herausgehobene gesellschaftliche Positionen einnehmen, wie beispielsweise William Hay, der als Abgeordneter des britischen Unterhauses mit Deformity. An Essay Mitte des 18. Jahrhunderts als wahrscheinlich erster Mensch mit einer Behinderung ein Werk publizierte, in dem das Leben mit einer solchen Beeinträchtigung thematisiert wird (Hay 1754). Einzelne Menschen mit auffäl-

ligen körperlichen Besonderheiten stellten sich gegen Bezahlung zur Schau bzw. wurden von Dritten zur Schau gestellt, so beispielsweise Matthias Buchinger im frühen und Joseph Boruwlaski im späten 18. Jahrhundert (Brod 1985; Benedict 2006). Auch wenn der Fall Boruwlaskis Aufsehen erregte – nicht zuletzt deswegen, weil der polnische Kleinadlige 1788 seine Memoiren publizierte (Boruwlaski 1788) –, ist festzuhalten, dass solche Schaustellungen ein Minderheitenphänomen waren und bereits vor dem Zeitalter der Aufklärung stattgefunden hatten.

26.3 Eine geistesgeschichtliche Umbruchsphase? Foucault hat das Erleben des Blindgeborenen, der das Augenlicht erhält, als eine der mythischen Erfahrungen der Aufklärungsphilosophie bezeichnet (Paterson 2016, 7). Er spielt damit auf die Molyneux-Frage an, die der irische Gelehrte William Molyneux 1692 in einem Brief an John Locke formulierte: Würde ein hypothetischer wundersam geheilter Blindgeborener in der Lage sein, nach Erlangung des Augenlichts spontan aufgrund des visuellen Eindrucks eine Kugel und einen Quader voneinander zu unterscheiden? Mit dieser Frage setzten sich neben Locke zahlreiche namhafte Gelehrte im Zeitalter der Aufklärung auseinander, u. a. Leibniz, Berkeley, La Mettrie, Condillac und Diderot (ebd., 33–57). Weil sie sich für den Zusammenhang von Sinneswahrnehmungen und Kognition interessierten, wurden Menschen mit Sinnesbehinderungen für sie zu relevanten Forschungsobjekten. Eine Konsequenz des Interesses an Sinnen und Sinnesbehinderungen war, dass eine Reihe von Gelehrten im Zeitalter der Aufklärung blinde und gehörlose Menschen als bildungsfähig erkannten, was entsprechende pädagogische Initiativen beförderte. So nannte Valentin Haüy, der Gründer der weltweit ersten Blindenschule in Paris, Diderots Lettre sur les aveugles (1749) als Inspiration für dieses Projekt (Hofer-Sieber 2000, 49, 75– 76). Mit diesem Werk betrat der französische Philosoph auch insofern Neuland, als er sich in ihm intensiv mit der Psyche blinder Menschen und der Art und Weise auseinandersetzte, in welcher der Tastsinn bei ihnen den Gesichtssinn substituierte (Tunstall 2011). Ein gelehrtes Interesse an Sinneswahrnehmungen und Sinnesbehinderungen war allerdings kein völliges Novum im Zeitalter der Aufklärung. So wurden Sinnesbehinderungen, insbesondere Blindheit, bereits von Vertretern des Skeptizismus im Frankreich des

26  Zeitalter der Aufklärung

17. Jahrhunderts gerne argumentativ ins Feld geführt (Tunstall 2011, 14–15). Anders als der Unterricht für Blinde, der tatsächlich erst in der Spätaufklärung im gelehrten Diskurs nennenswert thematisiert wurde, sind Fragen des Gehörlosenunterrichts bereits deutlich früher in Publikationen erörtert worden. Mitte des 16. Jahrhunderts hatte der spanische Benediktinermönch Ponce de León eine Reihe gehörloser Kinder adliger Familien unterrichtet. In der Folge äußerten sich zunächst spanische Gelehrte über die Theorie des Gehörlosenunterrichts, denen im 17. Jahrhundert englische Autoren folgten. Viele dieser Autoren unternahmen auch selbst Unterrichtsversuche, die meist darauf zielten, gehörlosen Menschen Lautsprache und Lippenlesen zu vermitteln (Branson/Miller 2002). Wo also lag das Neue im Zeitalter der Aufklärung? Zum Ersten erlangten Unterrichtsversuche mit Blinden und Gehörlosen eine größere Bekanntheit als in früheren Jahrhunderten. Blinden- und Gehörlosenlehrer im Zeitalter der Aufklärung verstanden es, in vielfältiger Weise die Klaviatur der Öffentlichkeit zu spielen: Jacob Rodrigues Pereira etwa präsentierte seine Schüler und ihre Lernfortschritte vor französischen wissenschaftlichen Akademien. Die Protokolle dieser Befragungen wurden in gelehrten Zeitschriften veröffentlicht. Beides zusammen sorgte für Einladungen Pereiras und seines Schülers Azy d’Etavigny an den königlichen Hof, über die wiederum die Presse berichtete (Kohlrausch 2015, 78–113). Der Abbé de l’Epée, ein anderer Gehörlosenlehrer, veranstaltete in Paris öffentliche Unterrichtsvorführungen. Zum Zweiten veränderte sich nach 1760 die Organisation des Unterrichts für blinde und gehörlose Menschen. Bis dahin dominierte Privatunterricht, die »Hauslehrerunterrichtung« (Hofer-Sieber 2000, 124). Diese eröffnete vorwiegend Kindern des Adels und des gehobenen Bürgertums Bildungschancen. Thomas Braidwood bot in seiner Gehörlosenschule, die er in den 1760er Jahren in Edinburgh aufbaute, erstmals einen spezialisierten Unterricht für Menschen mit Behinderungen im Klassenverband an. Diesem Prinzip folgten auch die Gehörlosenschulen de l’Epées in Paris ab 1772, Samuel Heinickes in Leipzig ab 1778 und die Blindenschule Valentin Haüys in Paris ab 1785. Das bedeutete eine gewisse Öffnung des Unterrichtsangebots für Kinder und Jugendliche aus weniger begüterten Familien. Mit dem Übergang zum Gruppenunterricht wurden auch Fragen der pädagogischen Methodik virulent. Zwischen dem Abbé de l’Epée und Pierre Desloges auf der einen und dem Abbé Deschamps und Samuel Heinicke auf der anderen Seite entbrann-

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te 1779 ein öffentlich ausgetragener Methodenstreit. De l’Epée und Desloges stellten die Gebärdensprache in den Mittelpunkt ihrer Pädagogik, während Deschamps und Heinicke in erster Linie die Vermittlung der Lautsprache anstrebten (Oralismus). Dieses Thema ist bis heute ideologisch und emotional hoch aufgeladen, wie ein Blick in Publikationen der Deaf History offenbart (Lane 1984). Im Umkreis der gehörlosenpädagogischen Versuche im Zeitalter der Aufklärung traten – wahrscheinlich erstmals – gehörlose Menschen als Autoren an die Öffentlichkeit. Saboureux de Fontenay, ein Schüler Pereiras, publizierte Zeitschriftenaufsätze, Pierre Desloges, ein Autodidakt, legte seine Position im gerade skizzierten Methodenstreit 1779 in einer selbständigen Publikation dar (Desloges 1779; Kohlrausch 2015, 151, 233–275). Ob und in welchem Maße der Gehörlosenunterricht im Zeitalter der Aufklärung von Erfolg gekrönt war, ist umstritten (Lane 1984; Presneau 2010). Kurz angesprochen sei noch ein weiteres Feld, in dem sich im Zeitalter der Aufklärung ein wissenschaftsgeschichtlicher Wandel abzeichnete: die Deutung von Missbildungen bei Föten und Neugeborenen. Vor 1650 wurden solche Ereignisse in der Flugpublizistik oft als Wunderzeichen gedeutet, durch die Gott die sündige Menschheit vor Strafen in Form von Naturkatastrophen oder Kriegen warne. Im Zuge der Wissenschaftlichen Revolution wurden solche Deutungen zunehmend als irrational diskreditiert. Auch Gelehrte im Zeitalter der Aufklärung suchten nach rationaleren Erklärungen für die Genese von Missbildungen im Mutterleib. Wie dieser Prozess zu werten ist, ist in der Forschung umstritten. Auch bleibt zu fragen, welche Relevanz er für die Wahrnehmung behinderter Menschen im Erwachsenenalter hatte. Denn die Untersuchungsobjekte der Mediziner und Naturforscher waren meist Kinder mit schweren Missbildungen, die bereits tot zur Welt kamen oder wenige Stunden nach der Geburt starben (Hagner 1995). Insgesamt erscheint das Zeitalter der Aufklärung als eine Epoche, in der einige neue Ideen formuliert wurden, in der aber auch tradierte Vorstellungen über behinderte Menschen fortlebten. Für die Lebenswirklichkeit dieser Menschen dürfte das 19. Jahrhundert (s. Kap. 27) aufgrund der Industrialisierung und der mit ihr verbundenen gesellschaftlichen Umbrüche größere Veränderungen gebracht haben als das 18. Jahrhundert. Das gilt auch, weil neue pädagogische Ansätze zwar im Zeitalter der Aufklärung entwickelt wurden, aber erst Jahrzehnte später Breitenwirkung entfalteten.

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II  Geschichte der Vorstellungen  –  A  Konzepte in Europa und den USA

Literatur

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Patrick Schmidt

27 Industrialisierung

27 Industrialisierung Das deutsche Arrangement einer sozialen Infrastruktur entstand aus dem Zusammenwirken verschiedener Entwicklungslinien unter den spezifischen Bedingungen der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Diese Entwicklungslinien determinieren zwar nicht die Handlungsoptionen unserer Zeit, aber die in ihnen inkorporierten Strukturentscheidungen grenzen diese offensichtlich doch erheblich ein und sind in Teilen auch Ursachen für die ›Beharrlichkeit‹ von aussondernden Betreuungsmodellen (Bradl 1991; Schädler 2003). Die Ursprünge der historischen Entwicklungslinien der Behindertenhilfe finden sich im Kontext der ökonomischen, politischen, und sozialen Veränderungen, die seit den 1830er Jahren – verstärkt von England ausgehend – in verschiedenen Regionen Deutschlands einsetzten und die mit dem Epochenbegriff der ›Industrialisierung‹ gefasst werden (vgl. Hahn 2005). Die Wechselbeziehungen zwischen Industrialisierung, Herausbildung des deutschen Nationalstaats, Ordnungspolitik, Sozialstaatsentwicklung, kirchlichen Sozialverbänden und Freier Wohlfahrtspflege sind komplex (vgl. Jantzen 1982; Bradl 1991; Schädler 2003; Sachße/ Tennstedt 1980). Im Folgenden sollen nur die Entwicklungsstränge in Deutschland skizziert werden, die im 19. Jahrhundert zum Zustandekommen der ›großen Anstalt‹ als Leitmodell einer zentralisierten ›Idiotenfürsorge‹ bzw. der ›Irrenfürsorge‹ geführt haben, das bis weit in das 20. Jahrhundert hinein auch international ausstrahlte und z. T. bis heute prägend wirkt.

27.1 Industrialisierung in Deutschland Die Geschichte der Industrialisierung in Deutschland wird in der Regel unterteilt in eine Frühphase und eine Hochphase. Die Frühphase wird meist im Zusammenhang mit der Gründung des Deutschen Zollvereins 1834 gesehen, zu dem sich unter Führung Preußens zahlreiche deutsche Klein- und Flächenstaaten zu einem gemeinsamen Wirtschaftsraum zusammenschlossen. Dieser Schutzrahmen gegen billigere Importprodukte vor allem aus England begünstigte die beginnenden Industrialisierungsprozesse und bot für die einsetzende Fabrikproduktion größere Absatzmärkte. Befördert durch den Einsatz von Dampfmaschinen wurde die Handarbeit in den bis dahin existierenden Textilmanufakturen und im Maschinenbau, später dann auch im Bergbau und in der Eisen- und Stahlindustrie durch Maschinen ersetzt bzw.

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ergänzt. Die Produktivität der rasch zunehmenden Anzahl von Fabriken stieg sprunghaft an, und es bildeten sich frühe industrielle Zentren in Schlesien, Sachsen und Berlin sowie vor allem auch im Rheinland, das im Ergebnis des Wiener Kongresses von 1818 Teil des Königreiches Preußen geworden war. Die neue Produktionsweise erfuhr eine enorme Dynamik ab etwa 1850 durch die Verbreitung der Eisenbahn, die das Transport-, Verkehrs- und Kommunikationswesen auf vorher nicht bekannte Weise beschleunigte. Parallel zur materiellen Infrastruktur übernehmen die verschiedenen deutschen Staaten, oft unter Orientierung an Preußen, zunehmend auch Verpflichtungen in der sozialen Infrastruktur, vor allem in Form eines staatlich organisierten Schulwesens oder in einer allmählich sich herausbildenden Armenfürsorge. In der Frühphase der Industrialisierung entwickelte sich Armut in vielen Städten zu einem bis dahin in diesem Ausmaß nicht gekannten Massenproblem (›Pauperismus‹), das vor allem in Form zunehmenden Bettelns in der Öffentlichkeit sichtbar und als Störung der bürgerlichen Ordnung gesehen wurde. Mit den rasch wachsenden Fabrikstandorten einher ging ein hoher Bedarf an Arbeitskräften, dem aber eine meist noch weitaus höhere Anzahl besitzloser Menschen mit vulnerablem Status gegenüberstand, die unter erbärmlichen Lebensbedingungen zu leiden hatten. Dabei handelte es sich vielfach um sozial entwurzelte Landarbeiter*innen oder andere durch Technisierung freigesetzte Binnenmigrant*innen, die rechtlos und ohne Schutz durch die vorindustriell vorhandenen wechselseitigen Hilfestrukturen des ›Großen Hauses‹ nun unter städtischen Bedingungen ohne subsistenzwirtschaftliche Möglichkeiten ihre Existenz fristeten. Die äußerst harten Bedingungen in der Fabrikarbeit (mangelnder Arbeitsschutz, Kinderarbeit, Löhne am Existenzminimum, Zwölf- bis Vierzehnstundentag), hygienische Missstände in Wohnungen, Mangel an Nahrung und Bekleidung und andere elementare Nöte kennzeichneten die Lebensbedingungen der neuen Schicht von Lohnarbeiter*innen, die sich in den Städten herausbildete und kontinuierlich wuchs. Diese erbärmlichen Bedingungen waren vielfach Ursache für die Zunahme armer, kranker, missgebildeter, frühinvalider oder seelisch erkrankter Menschen. Angesichts solcher massenhafter Elendserscheinungen stellte sich für Staat und bürgerliche Gesellschaft die ›Soziale Frage‹ nach dem Umgang mit Personen, die nicht aus eigener Kraft für ihren Lebensunterhalt aufkommen konnten. Wegweisend für die deutsche Entwicklung

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_27

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II  Geschichte der Vorstellungen  –  A  Konzepte in Europa und den USA

war in diesem Zusammenhang die Ausformung der gesetzlichen Armenfürsorge in Preußen. In verschiedenen Gesetzen wurde ein komplexes Armenrecht geschaffen, das den Staat einerseits zur Armenpflege und zum Vorhalten von öffentlichen Armenhäusern verpflichtete und andererseits die Bestrafung von Landstreichern, Bettlern und ›Arbeitsscheuen‹ regelte (vgl. Bradl 1991, 81). Das preußische Armenrecht hat sich in vielerlei Hinsicht strukturbildend für die Entwicklung des Anstaltsmodells der Behindertenhilfe ausgewirkt.

27.2 Die Anstalt und die Entwicklung einer überörtlichen Zuständigkeit Dem protestantisch-bürgerlichen Zeitgeist entsprechend, fußte die preußische Armenpolitik Mitte des 19. Jahrhunderts auf der bereits verfestigten Überzeugung, dass Arme arbeitspflichtig waren, wenn sie Unterstützungsleistungen in Anspruch nehmen wollten, und bei fehlender Einsicht durch Disziplinierung und ›erzieherische Maßnahmen‹ in Armenhäusern, Zucht- und Korrektionsanstalten zur Arbeit angehalten werden mussten (vgl. Sachße/Tennstedt 1980). Besonders gut dokumentiert ist diesbezüglich das sogenannte Elberfelder System der kommunalen Armenpflege, wo schon um 1820 die Unterstützungsleistungen für Arme an systematische Bedürftigkeitsprüfungen der Einzelfälle und Sanktionsdrohungen bei Nichteinhaltung der disziplinierenden Hilfebedingungen (Arbeit und Arbeitshaus, Einhalten von Hygienevorschriften, Gehorsam gegenüber Wärtern etc.) geknüpft wurden (vgl. ebd., 199). Dies hatte nicht nur für Bedürftige zu gelten, die aus der jeweiligen Herkunftsgemeinde (Heimatprinzip) stammen, sondern auch für Personen, die sich in der jeweiligen Kommune dauerhaft aufhielten (Wohnsitzprinzip). Die Leistungen zur Armenpflege sollten dem preußischem Modell zufolge vor allem von den Kommunen im Rahmen sogenannter Ortsarmenverbände (OAV) erbracht werden. Um eine flächendeckende Versorgung auch für solche Personen sicherzustellen, die aus bestimmten Gründen keine Aufnahme in örtliche Armenhäuser fanden oder dort aufgrund minimaler öffentlicher Zuwendungen nicht hinreichend versorgt werden konnten, ordnete die preußische Regierung die Gründung von ›Landarmenverbänden‹ (LAV) an, die sogenannten ›Landarmenanstalten‹ mit überregionalem Einzugsgebiet vorzuhalten hatten. Es entstand eine Unterscheidung zwischen ›Ortsarmen‹ und ›Landarmen‹, wobei zu letztgenannter Gruppe

neben »zur Disziplinierung in Zucht und Korrektionsanstalten internierte[n] Bettler[n] und ›Arbeitsscheue[n]‹ usw. immer auch eine gewisse Anzahl Geisteskranker und Schwachsinniger« zählte (Bradl 1991, 82). Früh schon waren Tendenzen erkennbar, in den kommunalen Armenanstalten die arbeitsfähigen, aber ›arbeitsscheuen‹ Armen von den ›arbeitsunfähigen‹, d. h. aufgrund körperlicher oder geistiger Gebrechen sozusagen ›schuldlos Armen‹, zu unterscheiden. Beide Gruppen wurden zunehmend organisatorisch getrennt und gesondert versorgt; es kam zu einer Spezialisierung der Armenfürsorge. Mit der Schaffung der Landarmenverbände war die Trennung in örtliche und überörtliche Zuständigkeit für verschiedene Armutsgruppen angelegt, wobei die Zuständigkeit für besonders aufwendig zu versorgende Arme – für die sogenannte ›Idiotenfürsorge‹ und die ›Irrenfürsorge‹ – auf eine überörtliche Ebene gegeben wurde. Die ›unheilbaren‹ bzw. ›unerziehbaren‹ und ›wertlosen‹ Armen sollten mit ordnungspolitischer Zielsetzung der kommunalen Verantwortung bzw. Last entzogen und in zentralen Anstalten versorgt werden. Wurde diese Differenzierung anfangs aufgrund unterschiedlicher örtlicher Bedingungen noch sehr vage gehandhabt, so ergab sich mit fortschreitender Verbreitung des ›Idiotenanstaltswesens‹ im 19. Jahrhundert eine Verfestigung dieser Zweiteilung der staatlichen Zuständigkeiten. Dies geschah zunächst in Preußen und ab 1893 zunehmend reichsweit durch die Schaffung von Rechtsgrundlagen und die Einführung eines Finanzierungssystems für zentralisierte Anstalten. Die armenrechtliche Verortung der Anstalten hat in der Folge auch dazu geführt, dass die in den Anstalten untergebrachten Personen keinen Zugang zu den sich herausbildenden Systemen der Bismarckschen Sozialversicherung bekamen, mit denen in der Hochphase der Industrialisierung versucht wurde, die sozialen Widersprüche zu befrieden.

27.3 Entwicklung des kirchlichen Anstaltswesens Auch in den Kreisen des einflussreicher werdenden Bildungs- und Besitzbürgertums warf das städtische Massenelend Mitte des 19. Jahrhunderts die ›Soziale Frage‹ auf und löste sozial-caritative Bemühungen aus, um den Armen durch erzieherische Maßnahmen zu helfen (vgl. Brakelmann 1966, 117; Dörner 1995). Die Ursachen der Armut wurden in der ›sittlichen und moralischen Verwahrlosung‹ der Verelendeten

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gesehen, die durch religiöse Erziehung und Erziehung zur Arbeit vom Unglauben zu ›erretten‹ und vor dem Kommunismus zu schützen seien. Von den deutschen Monarchien nach der Revolutionserfahrung von 1848 gefördert, gründeten sich auf protestantischer Seite im Rahmen der ›Inneren Mission‹ zahlreiche volksmissionarische Werke und Vereine (besonders Rettungsanstalten, Sonntags- und Kleinkinderschulen, Stadtmissionen, Jünglings- und Gesellenvereine, Bemühungen gegen die Ausbreitung von Prostitution und ›Trunksucht‹, Obdachlosenfürsorge, Auswanderermission, Bibel- und Traktatverbreitung). Im Zuge der sogenannten ›Rettungshausbewegung‹ wurden in Deutschland im Zeitraum zwischen 1849 und 1852 rund 100 Rettungsanstalten geschaffen (vgl. Bradl 1991, 212) In diesem Kontext begannen bürgerlich-protestantische Kreise und Einzelpersonen zunächst im süddeutschen Raum, sich für ›Schwachsinnige‹ sozial wohltätig zu engagieren. Diakonische Aktivitäten hatten in der Erweckungsbewegung ihren Ursprung (Klevinghaus 1972, 7). Bedeutsam für die Entwicklung der protestantischen Anstalten war insbesondere die ›Heil- und Pflegeanstalt für schwachsinnige Kinder‹ in Stetten im Remstal ab 1863. Hier wurde ganz bewusst der Weg zu einer großen Anstalt beschritten, die sich über Landwirtschaft und Werkstätten zu einem möglichst hohen Anteil selber finanzieren sollte und für eine große Anzahl geistig behinderter Menschen jeden Alters zuständig war (Schlaich 1986). In seinem berühmt gewordenen »Aufruf über die Lage der Kretinen, Blödsinnigen und Idioten in den christlichen Ländern« von 1857 bezog sich der rheinische Pastor Johannes Disselhoff explizit auf diese Erfahrungen und forderte rasches Handeln auch in Preußen. Zahlreiche Gründungen von Anstalten der Inneren Mission vor allem in Norddeutschland gingen auf diesen Anstoß zurück. Ab 1860 kann von einer zweiten Welle der Anstaltsgründungen gesprochen werden, bei der bis zur Jahrhundertwende insgesamt 36 große protestantische Anstalten für ›Idioten, Schwach- und Blödsinnige‹ entstanden (vgl. Bradl 1991, 327–331). Dem Stettener Weg zur großen Anstalt sind in Deutschland nahezu alle Anstalten für ›Geistesschwache‹ gefolgt. Dies galt auch für diejenigen, die im katholischen Rahmen entstanden. Die katholisch-caritative Anstaltsfürsorge nahm ihren Ausgang überwiegend in den Klöstern. Zahlreiche weibliche, aber auch männliche Ordensgemeinschaften betätigten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend im Bereich des ›Idioten-

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wesens‹ und knüpften damit an die Armenfürsorge und die Pflegetraditionen der mittelalterlichen Ordensgemeinschaften an (vgl. Stockhausen 1998, 87). Vor allem die Schwesternorden nahmen zur Pflege und Versorgung einzelne Kranke, Waisen, Arme, geistig und körperlich behinderte Menschen auf, auch um mit Unterstützung der örtlichen Armenbehörden ihren Unterhalt zu sichern (vgl. Bradl 1991, 162–167). Erst auf staatliches Drängen hin kam es ab etwa 1880 zu einer allmählichen Ausdifferenzierung dieser Sammeleinrichtungen in ›Irren-‹, ›Idioten‹- und Erziehungsanstalten (vgl. Droste 1999). Die Arbeitskraft der Ordensschwestern und -brüder bildete das Rückgrat des rasch größer werdenden katholisch-klösterlichen Anstaltswesens, das zum Ende des 19. Jahrhunderts insgesamt 42 ›Idiotenanstalten‹ umfasste, die nahezu alle von Geistlichen geleitet wurden (Schädler 2003, 50). Gegenüber Staat und Politik stellte der immaterielle ›Gotteslohn‹ dieses Personals ein attraktives Argument für die gesetzliche Festschreibung des ›Subsidiaritätsprinzips‹ als Strukturprinzip der deutschen Sozialpolitik dar (vgl. Boeßenecker 1998, 23–25). Mit dem Subsidiaritätsprinzip ging die Nachrangigkeit staatlicher Fürsorgeleistungen für bedürftige Personen gegenüber der Selbsthilfe familiärer bzw. milieu- oder bekenntnisgebundener Gemeinschaften einher. Dies sicherte beiden Kirchen in ihrer sozialen Arbeit ein hohes Maß an Bevorzugung und Schutz vor staatlicher Intervention. Auf diesem Weg gelangte die katholische Kirche zu einer starken sozialpolitischen und gesellschaftlichen Machtposition, die durch die Gründung der Caritas-Organisation 1897 strukturell gefestigt wurde. Die Nachrangigkeit staatlichen Handelns gegenüber konfessionellen Anstaltsträgern war faktisch bereits im Kaiserreich gegeben, gesetzlich festgeschrieben wurde das Subsidiaritätsprinzip unter Einbeziehung der gesamten Freien Wohlfahrtspflege im Fürsorgerecht der Weimarer Republik 1924 und dann im nachkriegsdeutschen Sozialrecht der alten Bundesrepublik nach 1945 bestätigt (z. B. im Bundessozialhilfegesetz in § 10 und 93 BSHG oder im Bereich der Jugendhilfe in § 5 JWG). Für die Entwicklung heilpädagogischer Konzepte war prägend, dass das kirchliche ›Idiotenwesen‹ an klösterlichen Immobilien und Traditionen ansetzte. Damit war ein Konzept vorgegeben, das strukturell die Großanstalt zum Modell hatte und eine starke religiöse Orientierung der Betreuungspraxis aufwies. Die behinderten Anstaltsbewohner*innen wurden – ob sie wollten oder nicht – in die oft »mittelalterlichverklärte Abgeschiedenheit des klösterlichen Lebens«

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hineingezogen (Bradl 1991, 335). Dort galten für sie wie für die in der Regel weiblichen Ordensmitglieder die klösterlichen Tugenden der Armut, Keuschheit, Strenge und Barmherzigkeit. Bezogen auf Bildungsbedürfnisse dominierte die religiöse Unterweisung; eine gesellschaftliche Wiedereingliederung war nicht vorgesehen.

27.4 Heilpädagogik und psychiatrische Dominanz Im Zuge der Aufklärung war in vielen Teilen Europas auch das wissenschaftliche Interesse an Phänomenen wie ›Irrsinn‹ (s. Kap. 26) oder ›Kretinismus‹ sowie an Blindheit (s. Kap. 36) und Taubheit gewachsen. Die ›Idiotenanstalten‹ bekamen ab Mitte des 19. Jahrhunderts durch kleine schulähnliche Anstalten für schwachsinnige und schwachbefähigte Kinder eine »unerwünschte Konkurrenz« (Möckel 1988, 164). Die Arbeit der Pädagog*innen und Ärzt*innen in diesen ›Erziehungsanstalten‹ basierte zu Beginn u. a. auf hygienischen und auf pädagogischen Methoden, die sich auf sensualistische Annahmen stützten und aus Frankreich übernommen wurden. Dort waren von Édouard Séguin (1812–1880) in Fortführung der Arbeiten Jean M. G. Itards (1775–1838) erste physiologisch und empirisch begründete Konzepte für die Unterrichtung kognitiv beeinträchtigter Kinder entwickelt worden. Von besonderem inhaltlichen Gewicht sind die Arbeiten Jan Daniel Georgens’ und Heinrich Deinhardts (1979, urspr. 1861 bzw. 1863) zur wissenschaftlichen Grundlegung der Heilpädagogik. Diese sahen die ›Idiotenanstalten‹ lediglich als ›Notanstalten‹, die es gäbe, weil die Gesellschaft ihre Verantwortung nicht erfülle und in der Erziehung geistig behinderter Kinder nicht das leiste, was sie leisten solle. Georgens formulierte in seinem heilpädagogischen Konzept bereits 1861 die Vorteile der gemeinsamen Erziehung der ›idiotischen‹ Kinder mit den ›gesunden‹ Kindern, die er unabhängig von Art und Schwere ihrer Behinderung als Waisen in seiner Bildungsanstalt ›Levana‹ aufgenommen hatte. Auf jesuitischen Druck musste Georgens’ und Deinhardts ›Levana‹ in Wien nach wenigen Jahren wieder schließen, ihre heilpädagogische Theoriebildung blieb für Jahrzehnte vergessen (vgl. Möckel 1988, 155–161). Die im 19. Jahrhundert aufkommenden erziehungswissenschaftlich orientierten heilpädagogischen Ansätze aus Italien oder Frankreich wurden mit durchaus nationalistischem Zungenschlag diskreditiert und bedeutungslos.

Zunehmend etablieren konnten sich dagegen in weiten Teilen Deutschlands gegen Ende des 19. Jahrhunderts die sogenannten Hilfsschulen für schwachsinnige und schwachbefähigte Kinder. Allerdings dauerten die Auseinandersetzungen zwischen den Hilfsschulvertretern und den Anstaltsvertretern mehr als zwanzig Jahre, bis Letzteren deutlich wurde, dass sich die Verbreitung der Hilfsschulen nicht aufhalten ließ. Carl Barthold, Anstaltsleiter von Hephata (Mönchengladbach), schlug 1901 daher folgende ›Grenzregulierung‹ vor: »Suum cuique! Jedem das Seine! Den Idiotenanstalten die bildungsfähigen idiotischen Kinder aller Grade und der Schule für Schwachbefähigte nur die wirklich schwachbefähigten Kinder, aber nicht die Schwachsinnigen (Imbezilen).« (Barthold 1901, zit. nach Bradl 1991, 484)

Diese Idee der ›Grenzregulierung‹, basierend auf der Unterscheidung zwischen bildungsfähigen und bildungsunfähigen idiotischen Kindern, wurde von den führenden Hilfsschulvertretern bereitwillig aufgegriffen. Passend dazu wurde für ›hilfsschulbedürftige‹ Kinder der Begriff der ›Halbidioten‹ geschaffen zur Bezeichnung für »Idioten im schulpflichtigen Alter, die dem gewöhnlichen Elementarunterrichte, bei etwa halber Geschwindigkeit erteilt, noch folgen können« (Heinrich Kielhorn 1883 auf der IV. Konferenz für Idiotenheilpflege zu Hamburg, zit. nach Garzmann 1981, 45). Für diesen Personenkreis der ›schwachsinnigen Halbidioten‹ forderte die Hilfsschulbewegung nun die selbständige Hilfsschule als Institution »in der Mitte zwischen Volksschule und Idiotenanstalt« (Ellger-Rüttgart 1981, 134). Für ›imbezile‹ und ›idiotische‹ Kinder blieb dieser Regelung zufolge öffentliche Hilfe auf die Anstaltsversorgung beschränkt und der Zugang zu Bildung versperrt. Kirchliche Anstalten, Hilfsschulen und staatliche Stellen sahen sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts damit konfrontiert, dass Psychiater einen theoretischen und praktischen Führungsanspruch nicht nur in der ›Irrenfürsorge‹, sondern auch in der ›Idiotenfürsorge‹ erhoben, den sie mit den biologischnaturwissenschaftlichen Grundlagen ihrer Disziplin begründeten. Die Psychiatrie hatte eine starke wissenschaftliche Rückendeckung durch Emil Kraepelins Lehre (Erstveröffentlichung 1883) von den psychiatrischen Krankheitseinheiten erfahren, die auf hirnorganisch begründete Defekte zurückzuführen seien (vgl. Jantzen 1982, 82; Bradl 1991, 510). Theoretisch bein-

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haltete diese psychiatrische Denkweise ein Verständnis von Idiotie als einem psychopathologischen Extremfall einer Gehirn- bzw. Nervenschädigung, die als unheilbar am untersten Ende der psychiatrischen Krankheitshierarchie angesiedelt ist. Daraus leitete sich die Forderung ab, Idiotenanstalten wie Irrenanstalten sozusagen als Krankenhäuser zu gestalten und unter irrenärztliche Leitung zu stellen. Mit der Verbreitung der ›psychiatrischen Denkweise‹ ging auf dem Hintergrund sozial-darwinistischer Auffassungen zunehmend auch erbbiologisches Denken einher. ›Geisteskranke‹, zu denen nunmehr auch die ›Idioten‹ gehörten, stellten demnach nicht mehr nur eine Gefahr für die direkt mit ihnen in Kontakt befindlichen Menschen dar, sondern wurden wegen ihrer ›erblichen Belastung‹ als soziale Bedrohung gesehen, da die unkontrollierte Fortpflanzung der Träger minderwertigen Erbgutes zur Degeneration des ganzen Volkes führen könnte (vgl. Dörner 2001, 32). Die durch das Kraepelinsche Theoriekonzept gestärkte Psychiatrie beanspruchte zunehmend auch ein soziales und rassehygienisches Mandat, um die Trennung zwischen den ›brauchbaren‹ und den ›unbrauchbaren‹ Gesellschaftsmitgliedern sozusagen auf vernünftiger, wissenschaftlicher Grundlage wahrnehmen zu können. In der sogenannten ›Frankfurter Resolution‹ forderten die Irrenärzte 1883 von staatlicher Seite, alle ›Oligophrenen‹ zu erfassen und in staatlichen Anstalten zu behandeln. Vor allem aber seien die Idiotenanstalten grundsätzlich unter irrenärztliche Leitung zu stellen (Klevinghaus 1972, 21). Dies führte zu heftigen Auseinandersetzungen mit den Leitern der konfessionellen Anstalten, bei denen es sich in der Regel um Theologen handelte. Die Irrenärzte stießen jedoch auf die ordnungspolitisch motivierte Unterstützung staatlicher Stellen und erzielten eine weitreichende gesetzliche Anerkennung ihrer Forderungen bezüglich der ärztlichen Leitung von Idiotenanstalten und deren Organisationsstruktur. Dies bewirkte auch in den kirchlichen Anstalten die breite Übernahme des psychiatrischen Verständnisses von kognitiver Beeinträchtigung als unheilbarer, sozial belastender Krankheit. Das berufliche Selbstverständnis der Mitarbeiter*innen änderte sich ebenfalls: »Der ›Pfleger‹ schien keine pädagogische Funktion mehr zu haben. So wurde er nicht selten zum bloßen ›Wärter‹ ohne eigene aktive Verantwortung. Der Patient wurde zum Behandlungsobjekt oder, wenn eine aktive ärztliche Therapie nicht mehr sinnvoll zu sein

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schien, zum Objekt ›barmherziger Pflege‹.« (Klevinghaus 1972, 23)

Auch die Heilpädagogik selbst erhielt nun eine psychiatrische Grundlegung und übernahm die Hilfsfunktionen, die ihr von psychiatrischer Seite zugewiesen wurden. Die christlich-caritativen Motive und humanistisch-erziehungswissenschaftlichen Ansätze, die die Anfänge der Heilpädagogik bestimmt hatten, wurden in ihrer Entwicklung abgeschnitten. Die konfessionellen Anstalten waren mehr darauf bedacht, ihre staatliche Unabhängigkeit und ihre theologische Ausrichtung zu wahren, als die pädagogisch-wissenschaftliche Grundlegung für ihre Arbeit mit den von ihnen betreuten Menschen zu festigen. Durchdrungen von der ›psychiatrischen Denkweise‹ hatten sie dann auch später den eugenischen Plänen der Nationalsozialisten (s. Kap. 28) keinen breiteren konzeptionellen Widerstand entgegenzusetzen. Literatur

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Johannes Schädler

28  Ende des 19. Jahrhunderts bis Mitte des 20. Jahrhunderts

28 Ende des 19.  Jahrhunderts bis Mitte des 20. Jahrhunderts Galt der ›außerordentliche‹ Körper jahrhundertelang als Resultat göttlichen Willens und ab Mitte des 19. Jahrhunderts als Beleg für den grenzenlosen Variantenreichtum der Natur, vermarktete die Moderne ihn gewinnbringend in Freakshows, Panoptiken oder Völkerschauen und unterwarf ihn schließlich der Definitionsmacht naturwissenschaftlicher Disziplinen. Die sich daraufhin verfestigende Beschreibung des ›außergewöhnlichen‹ Körpers mit klinischen und pejorativen Begrifflichkeiten ließ diesen jedoch mehr und mehr als pathologisches Phänomen erscheinen, das mit Sondermaßnahmen rehabilitiert, kontrolliert, manipuliert und ›normalisiert‹ werden sollte. Im Deutschland der 1930er und 1940er Jahre wurde das einstige ›Wunder‹ endgültig zu einem biopolitischen Gegenstand, dem man in letzter Konsequenz das Lebensrecht absprechen sollte.

28.1 Behinderung als ›Wunder‹ – Freakshows Seit jeher hat ein von der jeweils geltenden gesellschaftlichen Norm optisch oder habituell abweichender Körper vielfältige, oft zwiespältige Gefühle hervorgerufen: Neugier und Faszination, Anziehung und Mitleid, aber auch Furcht und Abscheu. Eine Möglichkeit, mit dem ›Ver-störenden‹ umzugehen, ist es, Wissen über es zu sammeln, um Gewissheiten zu erlangen und damit zu einem Umgang mit ihm zu kommen. Folgt man Bill Hughes, dann bringt der Blick (voir) das Wissen (savoir) hervor, aus dem das Handeln (pouvoir) erwächst (Hughes 2005, 81). Diese »kulturelle Resonanz« (Garland-Thomson 1996, 2) ist nicht nur zeit-, sondern auch – im Wortsinne – raumgebunden. In öffentlichen Räumen (z. B. im Zirkus) wie auch in halböffentlichen Räumen (z. B. Anstalten) lernten die Menschen, »die ihnen präsentierten Wirklichkeiten auf eine bestimmte Weise zu sehen und kognitiv-emotive Haltungen dazu einzunehmen« (Dederich 2012, 78). Zu ergänzen wäre hier der private Raum, etwa die Familien, die ihren je spezifischen Umgang mit einem Angehörigen mit Behinderung pflegen. In Deutschland und in Österreich entstanden im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Panoptiken und wissenschaftliche Sammlungen, in denen menschliche, aber auch tierische ›Abnormitäten‹ gezeigt wur-

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den. Eine der größten Sammlungen war jene des Pathologen, Anthropologen und Prorektors der Charité, Rudolf Virchow, der bis 1890 rund 19.000 Objekte zusammengetragen hatte. In Frankreich entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts eine eigene Tradition der Zurschaustellung von außergewöhnlichen Menschen (phénomènes) auf Märkten, carnivals und cafés-concerts (Nowak 2011, 72), deren Ursprünge in den USA zu suchen sind. Dort präsentierte der amerikanische Kaufmann Phineas T. Barnum ab 1840 menschliche Kuriositäten – ›Liliputaner‹, ›Riesen‹, ›Siamesische Zwillinge‹, ›Kolossal-, Haut-, Halb- und Skelettmenschen‹ usw. (Scheugl 1975) – in sogenannten Freakshows. Jedoch wurden die Freaks (engl.: ›Launen‹, amer.: ›Launen der Natur‹) nicht nur einfach vorgezeigt, sondern meist besonders inszeniert. So versah man sie mit exotischen Requisiten, dichtete ihnen eine aristokratische Herkunft an, präsentierte sie mit Symbolen eines gebildeten Habitus oder man ließ sie ihr außergewöhnliches handwerkliches Geschick – etwa Häkeln ohne Arme – vorführen (ebd.; Bogdan 2012). Insofern war der ›Freak der Natur‹ auch ein ›Freak der Kultur‹, also etwas von Menschen Konstruiertes (Garland-Thomson 2012, 73). Freakshows, Anstalten, Museen usw. waren nicht nur Orte des voir und des savoir, sondern – im Sinne Michel Foucaults – auch Heterotopien, ›andere Orte‹ also, in denen das »Ungeordnete, Missratene und Wirre« (Foucault 1993, 45) eingehegt, gezeigt, mit Erklärungen und Etiketten versehen und nicht zuletzt gebändigt wurde. Diese räumlichen Platzierungen dienten einerseits der Vergewisserung des Publikums, selbst normal zu sein, also etwa einen makellosen Körper zu besitzen, oder – angesichts der Insassen von ›Irrenanstalten‹ – vernünftig zu sein, andererseits spiegelten sie die jeweils herrschende gesellschaftliche Ordnung wider und untermauerten deren Daseinsberechtigung. Die show freaks bildeten indes nur eine kleine Sondergruppe innerhalb der Gruppe der körperlich Deformierten oder Auffälligen. Die ›normalen Anormalen‹, die etwa an den Folgen von Rachitis litten, Skoliosen aufwiesen, erblindet oder ertaubt waren oder durch Unfälle Gliedmaßen eingebüßt hatten, wurden dagegen nicht als präsentabel erachtet. Meist lebten sie verborgen und mehr oder weniger gut versorgt in ihren Familien. Eine Studie dazu, wie die show freaks ihr Dasein bewerteten, ist – von wenigen Ausnahmen abgesehen (Krause 2013) – nach wie vor ein Forschungsdesiderat, welches ebenso für den Alltag der ›normalen Behinderten‹ zu konstatieren ist.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_28

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28.2 Behinderung im ›Lichte‹ der Evolutionstheorie Das Aufkommen der Evolutionstheorie Charles Darwins in der Mitte des 19. Jahrhunderts vergrößerte das Repertoire der Freakshows, von denen um die Jahrhundertwende mehrere hundert durch die USA zogen (Nowak 2011, 72). So wurden z. B. Kleinwüchsige als Angehörige einer bis dato angeblich unbekannten Menschenrasse ausgegeben, ebenso wie man Menschen mit einer Mikrozephalie als Vertreter einer spezifischen evolutionären Entwicklungsstufe des Menschen (Atavismus) bezeichnete. Sogar ›Darwin’s Missing link‹, also das Verbindungsglied zwischen Mensch und Affe, gab man vor gefunden zu haben (Kastl 2017, 283). Zu deren Präsentation schuf man lebende Dioramen, wie etwa im New Yorker BronxZoo, wo 1906 der Schwarzafrikaner Ota Benga gemeinsam mit einem Menschenaffen in einem Käfig gehalten wurde (Bradford/Blume 1992), wobei man Ota Benga zu ›primitivem‹ Verhalten anhielt. Ziel der Präsentation war es, »wesenhafte Ähnlichkeit« (Nowak 2011, 61) und damit die enge Verwandtschaft zwischen people of colour und Hominiden zu zeigen, wobei das weiße Europa die gemeinsamen Wurzeln zwar nicht leugnete, aber einen rassistisch motivierten Sonderstatus als vermeintlich höchste Kulturstufe der Menschheit für sich in Anspruch nahm. Konstituierender Bestandteil der Darwinschen Evolutionstheorie war das von dem Sozialphilosophen Herbert Spencer entwickelte Konzept des ›Survival of the Fittest‹, das besagt, dass der an die jeweiligen natürlichen Umstände am besten Adaptierte überlebt. Nicht gemeint war, dass sich – um das eigene Fortkommen und Überleben zu sichern – eine Art gewaltsam gegen eine andere Art durchsetzt oder eine Art gar eine andere auslöscht. Darwins Evolutionsprinzip betonte das Faktum der Entwicklung und des Fortschritts in der Menschheitsgeschichte und verknüpfte damit die Biologie mit einer historischen Dimension. Eine Akzentverschiebung fand Darwins Paradigma im Sozialdarwinismus, der eine biologistische Ebene in die Geschichte einzog. Ihm zufolge wird die Menschheitsgeschichte vom Kampf ums Dasein bestimmt, in der durch Gewalt und Selektion nur der Beste überlebe. In eine eugenische Sichtweise (s. Kap. 12), die von dem Briten Francis Galton begründet und in vielen Staaten und dort von nahezu allen politischen Lagern vertreten wurde, passen ›Abnorme‹, Kranke und ›Unnatürliche‹ nicht hinein, ihre Fortpflanzung wurde als Kontraselektion begriffen

und als Gefahr für das Fortkommen des jeweiligen Volkes abgelehnt. Es mag sein, dass der 1932 in den USA erschienene Film Freaks (s. Kap. 69) nicht nur deswegen einen Skandal hervorrief, weil der Regisseur Tod Browning sein Personaltableau mit echten Freaks bestückt hatte, sondern weil die Frau mit Bart von einem Kind entbunden wurde, über das sich die Protagonist*innen von Herzen freuten.

28.3 Behinderung als Aufgabe – Der christliche Blick Im christlichen Verständnis sind Krankheit und Tod, aber auch Behinderung – die Bibel nennt hier u. a. Taubheit, Blindheit, Besessenheit, Verkrüppelungen (s. Kap. 18) – durch die »Sünde in die Welt gekommen« sowie als Strafe Gottes für menschlichen Ungehorsam zu begreifen (Rienecker 1991, 804). Dieser Erscheinungen einer ›gefallenen Welt‹ nahmen sich die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände, die evangelische Innere Mission und die katholische Caritas, in vielfacher Weise an. Ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts professionalisierte vor allem die Innere Mission die Sorge für erblindete und hörgeschädigte Kinder, insbesondere die ›Krüppelfürsorge‹. Zahlreiche Anstalten mit orthopädischen Abteilungen und Werkstätten entstanden und sollten der körperlichen und gesellschaftlichen Rehabilitation dienen. Dagegen entdeckte die Innere Mission, anders als die Caritas, das Arbeitsfeld der geistigen, insbesondere der schweren geistigen Behinderung erst allmählich für sich. Dies lag daran, dass bereits Pädagogen und Mediziner das Terrain beherrschten, Professionen, die man aufmerksam, aber auch mit einer gewissen Distanz beobachtet hatte. Darüber hinaus lag diese zögerliche Haltung im damaligen erwecklich-evangelischen Verständnis begründet. Da man den ›Blödsinn‹ auch als Ausdruck eines unfreien Willens begriff, galten geistig behinderte Menschen als bildungsunfähig und unerziehbar, wobei Erziehung für den erwecklichen Christen weniger schulische Bildung als vielmehr die Erziehung zum rechten Glauben bedeutete (Schmuhl/ Winkler 2012, 29–42). Dieses Behinderungsbild wandelte sich jedoch im ausgehenden 19. Jahrhundert. Es entstanden Anstalten für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen. Dort fanden sie Obdach, Pflege, Betreuung, Unterricht, Ausbildung, Beschäftigung und – in manchen Fällen – lebenslange Beheimatung. Konzipiert als Übergangsorte und »Gottesstädte« (Winkler 2016), bildeten diese Gemeinwesen ebenfalls

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Heterotopien mit einem doppelten Auftrag. Einerseits sollten sie der Gesellschaft den Anblick der ›Anormalen‹ dauerhaft ersparen, andererseits sollten die ›Anormalen‹ vor den Zumutungen der Welt draußen geschützt werden. Nicht immer lösten die konfessionellen Anstalten ihr Versprechen, Schutz- und Schonraum für die Schwächsten zu sein, ein. Manch eine entwickelte sich zu einer »totalen Institution« (Goffman 1973) mit gravierenden Folgen für die ›Insassen‹.

28.4 Vom ›Wunder‹ zum Tabu – Kriegskrüppel des Ersten Weltkriegs Während des Ersten Weltkriegs wurde die Existenzberechtigung behinderter Menschen erstmals grundsätzlich zur Disposition gestellt. Je länger der Krieg dauerte, je mehr gesunde junge Soldaten starben und die Bevölkerung hungerte, umso mehr rückten Menschen mit geistiger Behinderung an das Ende der Ernährungshierarchie. Sie galten in weiten Teilen der Gesellschaft als ›Nutzlose‹ und ›Unproduktive‹, die man schließlich zu zehntausenden in den Heil- und Pflegeanstalten verhungern und an Krankheiten sterben ließ (Faulstich 1998). Das Kriegsende markierte ein Umdenken hinsichtlich der Zurschaustellung ›verkörperter Andersheiten‹. Angesichts zehntausender verstümmelter, amputierter und entstellter Soldaten sah man es nicht mehr als schicklich an, Menschen mit Anomalien zu zeigen. Denn es waren nunmehr nicht mehr Fremde, sondern die eigenen Angehörigen, die – so sie denn in der Öffentlichkeit auftraten – verstörenden Schrecken hervorriefen. Es verwundert nicht, dass das 1924 von Ernst Friedrich herausgegebene Buch Krieg dem Kriege, in welchem der Antimilitarist Bilder von schwer verletzten Soldaten zeigte, massiven öffentlichen Anstoß und Widerwillen erregte. Zugleich erlebte es etliche Neuauflagen, zuletzt 2016. In der Folge veränderte sich auch die Bezeichnung von Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen. Wurden sie bis dahin gemeinhin ›Krüppel‹ genannt – die Innere Mission hatte ›Krüppel‹ als Kampfbegriff benutzt, um Spenden zu generieren –, so erschien es jetzt nicht opportun, die Weltkriegsteilnehmer, die ihre Gliedmaßen im »Dienst für das Vaterland« gegeben hatten, als Krüppel zu bezeichnen (Schmuhl 2010, 51). Immerhin verband sich zeitgenössisch mit dem Begriff des Krüppels das Stigma der Armut und der ›Asozialität‹. Auf der sprachpolitischen Ebene brachte die Ge-

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setzgebung der Weimarer Republik für körperlich eingeschränkte Bürger eine folgenschwere Differenzierung: Menschen, deren (körperliche) Behinderung kriegs-, arbeits- oder unfallbedingt war, wurden zu ›Kriegsbeschädigten‹, und wenn sie um wenigstens fünfzig Prozent in ihrer Erwerbsfähigkeit beschränkt waren, zu ›Schwerbeschädigten‹. Alle anderen körperlich behinderten Menschen trugen fortan das diskriminierende Etikett des Krüppels. Auf der semantischen Ebene versuchte der Selbsthilfebund der Körperbehinderten (Otto Perl-Bund), den weniger abwertenden Begriff der ›körperlichen Behinderung‹ bzw. des ›Körperbehinderten‹ zu etablieren, vermochte sich jedoch nicht durchzusetzen.

28.5 Behinderung als Objekt der Eugenik und der Elimination Der Diskurs über die Heterogenität der Menschen bewegt sich stets auf dem schmalen Grat zwischen Staunen und rassistisch motivierter Überheblichkeit. Aber erst mit der Manifestation eugenischer und sozialdarwinistischer Positionen in Wissenschaft und Gesellschaft kippt er in den USA und Europa in einen Degenerations-, schließlich in einen Eliminationsdiskurs um. Es waren naturwissenschaftliche Disziplinen, allen voran die Medizin, die ab dem Ende des 19. Jahrhunderts definierten, »wie ein Körper normalerweise morphologisch gestaltet ist (und normativ festlegt, wie er sein soll), welche anatomische Struktur er hat (und haben soll), wie er funktioniert (und funktionieren soll)« (Dederich 2012, 66). Der Anspruch der Ärzte, Biologen, Anthropologen, Sprachforscher und Evolutionstheoretiker war es, zu einer nüchternen Verwissenschaftlichung des Wissens über den Körper zu kommen. Die Quantifizierung biologischer Merkmale und ihrer Verteilung bedeutete die Absage an die bis dahin mehr oder weniger dominante Denkfigur einer zufälligen Laune der Natur. Es ging also darum, »metaphysische Spekulationen« zu beenden und einer »rationalen Welterfassung« (ebd., 92) zu einer umfassenden Geltung zu verhelfen. Jedoch ist kritisch anzumerken, dass die Wissenschaftsvertreter trotz gegenteiliger Bekundungen mitnichten wert- und affektfrei auf die ›verkörperten Andersheiten‹ blickten. Mit Blick etwa auf die Teratologie, die Lehre von den Fehlbildungen, kann man zugespitzt auch von einer Kategorie sprechen, »die für das gilt, was nicht gelten darf« (Hustvedt 2016, 11). Erklärtes Ziel wurde es, geistige und körper-

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liche Anomalien nicht mehr nur zu korrigieren, sondern bereits in ihrer Entstehung zu verhindern. Ihre Ursachen vermutete man in den Erbanlagen, die man vom einzelnen Individuum umstandslos auf ganze Populationen und Ethnien übertrug. Aus der Tierzucht gewonnene Erkenntnisse – Höherzüchtung durch gezielte Zuchtwahl, verbunden mit dem Ausschluss minderwertigen ›Materials‹ – wurden mehr oder weniger umstandslos in eine Erbgesundheitslehre (Eugenik) für den Menschen eingespeist, die in den 1920er Jahren weltweit Anhänger aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft fand. Heiratsverbote für Epileptiker und ›Schwachsinnige‹ und Zwangssterilisationen aus eugenischen Gründen erlangten in einigen amerikanischen Bundesstaaten – teilweise bereits vor 1900 – sowie in Kanada Gesetzeskraft. Als erster US-Bundesstaat erließ Indiana 1907 ein Sterilisierungsgesetz. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs gab es ein solches bereits in sechzehn US-Bundesstaaten, weitere sollten in den 1920er Jahren folgen. Hinzu kamen das Schweizer Kanton Waadt (1928), Dänemark (1929), die kanadischen Provinzen Alberta (1928) und British Columbia (1933) sowie der mexikanische Bundesstaat Vera Cruz (1932). Diese Entwicklung wurde in Deutschland aufmerksam verfolgt. Angesichts der sich zuspitzenden Krise des Weimarer Wohlfahrtsstaats sahen die Rassenhygieniker, so der deutsche Begriff für Eugeniker, mit der anstehenden Strafrechtsreform 1932 die Chance für ein Gesetz zur freiwilligen Sterilisation aufgrund eugenischer Indikation gekommen. Der Vorstoß scheiterte zwar, fand aber breite gesellschaftliche Zustimmung. Parallel hatte sich die Idee einer ›Krüppelpsyche‹ oder ›Krüppelseele‹ entwickelt. Während der armlose Geiger, Schriftsteller und Artist Carl Hermann Unthan die These vertrat, dass die Auseinandersetzung des Betroffenen mit seinem ›missgestalteten‹ Körper zu einer höheren Sensibilität und zu mehr Lebensfreude führe (Scheugl 1975, 173), betonte der Sonderschullehrer Hans Würtz den negativen, misanthropischen Einfluss des anormalen Körpers auf die Seele des Betreffenden (Würtz 1921). Nur wenige Stimmen erhoben sich zeitgenössisch gegen Würtz’ Ausführungen, der nicht zuletzt mit seinem 1932 erschienenen Buch Zerbrecht die Krücken eine Aufstellung internationaler und nationaler »Hässlichkeits-«, »Andeutungs«- und »Bettelkrüppel« vorlegte, in die u. a. Joseph Goebbels wegen seines »Klumpfußes« (Würtz 1932, 101) Eingang fand. Gegenpositionen, die die Gedankengänge von Würtz als vorwissenschaftlich, stigmatisierend und degradierend kritisierten, blieben weitgehend ungehört.

Im Nationalsozialismus wurde die Politik der »rassischen Perfektion« (Clees 1997, A-2551) zur Staatsdoktrin. Zum Gegenüber des imaginierten arischen Volkskörpers wurde der ›unbrauchbare Erbkranke‹. Menschen mit einer chronischen psychischen Erkrankung oder einer kognitiven Beeinträchtigung wurden Opfer des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« (GzVeN). Von 1934 bis 1945 wurden im Deutschen Reich und den annektierten Gebieten rund 400.000 Menschen zwangsweise sterilisiert, rund zwei Drittel von ihnen wegen ›angeborenen Schwachsinns‹, worunter auch im weitesten Sinne sittliche Normverletzungen, sogenanntes unangepasstes Verhalten, subsumiert wurden. Zugleich hatte der nationalsozialistische Staat den ›brauchbaren Behinderten‹ identifiziert. Gemeint waren erwerbs- und arbeitsfähige Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung, die man in die Volksgemeinschaft eingliedern wollte (Bösl 2009, 40) und die – auf semantischer Ebene – als ›körperlich Behinderte‹ in die Gesetzes- und Amtssprache des Dritten Reiches Eingang fanden (Schmuhl 2010, 67). Einige Länder, darunter Schweden und Dänemark, nahmen sich Deutschland zum Vorbild und verabschiedeten ihrerseits Sterilisationsgesetze (Clees 1997). Ab Mitte der 1930er Jahre wurde in Deutschland die Zurschaustellung von Menschen, deren ›abnormes‹ Aussehen das ›gesunde Volksempfinden‹ verletze, verboten und ihre Einweisung in Heil- und Pflegeanstalten verfügt. Auch in den anderen faschistisch regierten Ländern Europas wurde der Markt für die Darsteller ihrer selbst immer kleiner (Scheugl 1975, 20). Gleichwohl wurden im nationalsozialistischen Deutschland Behinderte nach wie vor öffentlich präsentiert. So marschierten erblindete und hörgeschädigte Kinder und Jugendliche in den Reihen der Hitlerjugend mit. Anfangs war dies auch körperbehinderten Jungen und Mädchen gestattet. Da sie aber im nationalsozialistischen Verständnis nicht ›ordentlich‹ marschieren und nicht ›richtig‹ grüßen konnten und daher dem Ideal einer heldischen deutschen Jugend nicht entsprachen, wurde ihre Gruppierung, der »Reichsbann K«, 1937 aufgelöst (Fuchs 2001). In Ausnahmefällen blieb ihnen der Verbleib bzw. der Eintritt in die HJ indes gestattet. Vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs vollzog sich schließlich die sogenannte NS-Euthanasie, die – nach heutigem Erkenntnisstand – mindestens 300.000 Menschen das Leben kosten sollte. Die Reaktionen auf diesen beispiellosen Massenmord, der den Alliierten bekannt war (Weindling 2001), fielen inner-

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halb der deutschen ›Volksgemeinschaft‹ unterschiedlich aus, wobei noch weiter zu untersuchen wäre, wie fest der Gedanke von ›Erlösung‹, ›Mitleid‹ und ›Zustimmung‹ tatsächlich in der deutschen Gesellschaft verankert war (Aly 2013). Diese Frage gilt aber auch für die Gesellschaften der von Deutschland überfallenen Länder, in denen SS und Wehrmacht ebenfalls in erheblichem Umfang ›Geistigbehinderte‹ und Psychiatriepatient*innen ermordeten – durchaus unterstützt von Einheimischen (Winkler/Hohendorf 2018).

28.6 Behinderung in der Nachkriegszeit Nach wie vor harrt das Thema der Lebenslagen und Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderung in den ersten Jahren nach Kriegsende seiner wissenschaftlichen Erforschung. Gleichwohl lassen sich für das geteilte Deutschland – wenn auch nur vorläufig – folgende Tendenzen beschreiben, die sowohl auf juristischer als auch gesellschaftlich-kultureller Ebene lange wirkmächtig bleiben sollten. Zunächst ist festzuhalten, dass unter den Folgen des Krieges die Überlebenden der ›rassenhygienischen‹ Maßnahmen besonders litten. Wenn sie nicht in ihren Familien lebten, kamen sie in aller Regel in Heimen und meist konfessionellen Anstalten unter. Aufgrund vorheriger Beschlagnahmungen und Fremdnutzungen, etwa als Lazarett, waren die Wohnbedingungen dort sehr schlecht. Prekär waren auch die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Gegenständen des täglichen Bedarfs sowie die medizinische Betreuung. Entgegen der Bemühungen der britischen und amerikanischen Besatzungsmächte, die die Sonderstellung der Kriegsversehrten auflösen und diese »möglichst der allgemeinen Klientel der Sozialversicherungsträger untermischen« (Rudloff 2013, 2) wollten, blieb die rechtliche Trennung zwischen Kriegs- und Zivilgeschädigten letztlich erhalten. Diese fand im Bundesversorgungsgesetz von 1950 ihren gesetzgeberischen Ausdruck, der durchaus als »Dank des Vaterlandes« interpretiert werden kann: »Dem ›Aufopferungstatbestand‹ Kriegsbeschädigung sollte sozialpolitisch ein höherer Rang zukommen als zivilen Leiden gleicher Art« (ebd). Ab 1946 fanden sowohl in Westdeutschland als auch in der SBZ/DDR Prozesse gegen Ärzte und Ärztinnen statt, die an den Euthanasie-Morden beteiligt waren, in denen neben langen Haftstrafen auch Todesurteile ausgesprochen wurden, die in einigen Fällen – u. a. gegen eine Ärztin – vollstreckt wurden (Schmuhl 2011, 272–276). Ob und inwieweit die da-

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malige nationale und internationale Öffentlichkeit diese Prozesse, die Anfang der 1950er Jahre ihr vorläufiges Ende fanden, wahrnahm und bewertete, ist noch nicht systematisch erforscht. Vor allem Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen lebten vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der NS-Euthanasie ein zurückgezogenes, manchmal auch ein verstecktes Leben. Bildung und Ausbildung, die Begegnung mit dem anderen Geschlecht und vieles andere blieb ihnen vorenthalten und machte aus ihnen schließlich tatsächlich die ›ewigen Kinder‹, als die sie ja von Ärzt*innen, Anstaltsleiter*innen, Angehörigen usw. betrachtet wurden (Winkler 2019). Die Nichtsichtbarkeit von Menschen mit Behinderung empfand die deutsche Wiederaufbaugesellschaft im Westen überwiegend nicht als Manko. Denn das Defizitmodell von Behinderung, wonach mit einer körperlichen und/oder geistigen Beeinträchtigung automatisch ein Mangel an Lebensfreude und Lebensglück einhergehe, ›behindertes Leben‹ gar ›lebensunwert‹ sei, bewies große Beharrungskraft. Für den Sprachgebrauch bedeutete dies, dass weiter von Krüppeln und Schwachsinnigen die Rede war. Dagegen erfreuten sich die Advents- und Weihnachtsbasare in den Anstalten großer Beliebtheit. Ohne der Menschen mit schlimmsten Behinderungen ansichtig werden zu müssen, konnte man ihre selbstgebastelten, selbstgestrickten und -gehäkelten ›Leistungsnachweise‹ günstig erwerben und dem eigenen Haushalt als besonderes Artefakt einverleiben. Die räumliche, aber auch die gesellschaftspolitische Ghetto-Situation von Menschen mit Behinderungen sollte sich in der Bundesrepublik Deutschland erst ab Ende der 1960er Jahre sukzessive auflösen. Essentiell ist der gesetzliche Übergang vom Kausal- zum Finalprinzip. Dies bedeutet, dass staatliche Hilfen nicht mehr länger aufgrund der Ursache für die Behinderung, sondern unabhängig von dieser gewährt werden. Die bisherige Gesetzgebung hatte Opfer von Kriegs-, Arbeits- und Unfallverletzungen privilegiert, Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen, die als angeboren galten, dagegen diskriminiert. Parallelen zu gesellschaftlichen Vorbehalten gegenüber Menschen mit kognitiven und körperlichen Beeinträchtigungen sind auch für die DDR zu konstatieren, wobei die Forschungen noch am Anfang stehen (Barsch 2013; Winkler 2018). Die skandinavischen Länder werden hinsichtlich der Integration von Menschen mit Behinderung häufig und zu Recht als vorbildlich qualifiziert, jedoch darf nicht unterschlagen werden, dass z. B. Schweden seit 1946 bei den Zwangssterilisa-

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tionen von Menschen mit einer geistigen Behinderung eine führende Rolle innehatte (Clees 1997, A-2551). Bis heute werden zwangssterilisierte Menschen nicht als NS-Opfer anerkannt und erhalten daher keine Leistungen aus dem Bundesentschädigungsgesetz. Darüber hinaus müssen sie immer noch um ihre gesellschaftliche Rehabilitation kämpfen. Literatur

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Für wichtige Anregungen danke ich PD Dr. Elsbeth Bösl und apl. Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl.

Ulrike Winkler

29  Behindertenbewegungen ab den 1960er Jahren

29 Behindertenbewegungen ab den 1960er Jahren Die Geschichte der Behindertenbewegungen verschiedener Länder wurde in den letzten Jahren zunehmend erforscht. Schon relativ früh erschienen beispielsweise wegweisende Studien zum US-amerikanischen Disability Movement, neueren Datums sind Arbeiten etwa zu deren westdeutschem oder ungarischem Äquivalent. Auch die transnationale Vernetzung von Aktivist*innen mit Behinderung ist mittlerweile zumindest in Ansätzen untersucht worden. Rekurrierend auf diesen Forschungsstand soll im Folgenden vor allem auf die Entwicklung der bundesrepublikanischen Behindertenbewegung genauer eingegangen und insbesondere die von den Aktivist*innen entwickelten Konzeptionen von ›Behinderung‹ herausgearbeitet werden. Es folgt eine Analyse der Formen grenzüberschreitender Kontakte der westdeutschen Behindertenbewegung seit den 1980er Jahren, die auch einen vergleichenden Blick auf die entsprechenden Bewegungen in anderen Ländern ermöglicht.

29.1 Selbst- und fremdadvokatorische Organisationen in der frühen Bundesrepublik Es ist vor allem Jan Stolls Monographie zu den selbstund fremdadvokatorischen Organisationen und Initiativen von und für Menschen mit Behinderungen zu verdanken, dass die bundesrepublikanische Entwicklung mittlerweile gut dokumentiert ist. Stoll weist insbesondere darauf hin, dass bereits vor der Entstehung einer Behindertenbewegung im engeren Sinne Organisationen und Netzwerke von Betroffenen existierten, die sich für ihre Interessen einsetzten. Besonders einfluss- und erfolgreich waren dabei die Kriegsopferverbände, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden und personell und organisatorisch an Vorläufer aus der Zwischenkriegszeit anknüpften. Sie betonten ihre Ansprüche gegenüber der Gesellschaft mit dem Verweis auf ihr ›Opfer‹, das sie für das ›Vaterland‹ im Krieg gegeben hätten und folgerten aus diesem ein Anrecht auf bevorzugte Berücksichtigung bei sozialpolitischen Zuwendungen im Vergleich zu Zivilgeschädigten. Hier agierte mithin eine Gruppe von Menschen mit Behinderungen, die stark auf interne Hierarchisierungen und Grenzziehungen in Bezug auf andere Gruppen von behinderten Menschen hinzu­

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wirken versuchte, und so neben Zivilgeschädigten auch behinderte Frauen oder Menschen mit geistiger oder psychischer Beeinträchtigung diskriminierte. In der Öffentlichkeit und in ihrer politischen Lobbyarbeit strebten die Kriegsopferverbände neben gesellschaftlicher Anerkennung und sozialpolitischer Berücksichtigung vor allem eine möglichst umfassende Integration in die Arbeitswelt an, denn diese galt als der Ort, wo Behinderung durch heroische Anstrengungen ›überwunden‹ werden könnte. Mit dem Ende der Nachkriegszeit geriet allerdings die Selbstverständlichkeit des Exklusivitätsanspruchs dieser Generation kriegsgeschädigter Männer ins Wanken, zumal ein generationeller Wandel die Machtverhältnisse zugunsten der Zivilgeschädigten verschob: Behinderungen waren mittlerweile bei immer weniger Betroffenen durch Kriege verursacht, vielmehr lagen ihnen immer öfter Arbeitsunfälle, Krankheiten oder auch vorgeburtliche Schädigungen zugrunde. Der Öffentlichkeit wurde dies durch den Contergan-Skandal in den frühen 1960er Jahren vor Augen geführt. Neben den selbstadvokatorischen Organisationen der Kriegsgeschädigten können auch die fremdadvokatorischen Elternverbände wie etwa die ›Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind‹ zu jenen Akteuren gezählt werden, die sich mit behinderungsgenerierten Forderungen an die bundesdeutsche Öffentlichkeit und Politik wandten. Sie gründeten sich an der Wende zu den 1960er Jahren und stellten mit ihren behinderten Kindern eine Gruppe in den Fokus, die bislang sowohl von politischer als auch von verbandlicher Seite weitgehend vernachlässigt worden war. Eine bessere Versorgung und Förderung dieser Kinder etwa in Sonderschulen und eigenen Wohnheimen standen auf der Agenda dieser Vereine und damit die Einrichtung nicht inkludierender, sondern separierender Institutionen (s. Kap. 15). Einige dieser Elternverbände engagierten sich in besonderem Maße für bildungspolitische Maßnahmen. Ziel derselben sollte die ›soziale Eingliederung‹ sein, worunter nicht mehr wie bei den Kriegsgeschädigtenverbänden nur die Integration in die Arbeitswelt verstanden wurde, sondern auch die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Den Eltern ging es allerdings weniger um die Ausweitung von Selbstbestimmungsmöglichkeiten für ihre Kinder, vielmehr lag ihrem Engagement eine Konzeption von Behinderung als Defekt zugrunde: Bildungsmaßnahmen sollten der Normalisierung (s. Kap. 42) der Kinder dienen, die zu möglichst großer Unauffälligkeit erzogen werden sollten. Daher ging auch dieses Engagement für die Be-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_29

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lange behinderter Menschen mit diskriminierenden Effekten gegenüber bestimmten Betroffenengruppen einher, sollten doch von den vorgeschlagenen Bildungsmaßnahmen all jene Menschen mit schwerer geistiger Behinderung ausgeschlossen werden, auf die die Programme der ›Erziehung zur Unauffälligkeit‹ keine Anwendung finden konnten.

29.2 Die westdeutsche Behindertenbewegung Erst seit den späten 1960er Jahren entstanden dann auch in der Bundesrepublik erste selbstorganisierte Clubs und Initiativen von meist jungen Menschen mit körperlichen Behinderungen, die einen der Grundsteine für die in den 1970er Jahren entstehende Neue Soziale Bewegung von behinderten Menschen legten. Diese Gruppierungen waren deutlich horizontaler, ›basisdemokratischer‹, entformalisierter, entbürokratisierter und eher in Form von Netzwerken strukturiert als die vorherigen Verbände und Vereine von Kriegsopfern und Eltern, die vertikaler und hierarchischer aufgebaut gewesen waren. Zugleich waren sie in sich heterogener und differenzierter und verfolgten teilweise unterschiedliche Ziele. Ihre Konzepte hinsichtlich des Verhältnisses von Menschen mit Behinderungen zur Gesellschaft wandelten sich zudem im Zeitverlauf: Die frühen Clubs sahen gesellschaftliche Integration als Ziel an, sie strebten ein gleichberechtigtes, gemeinschaftliches Miteinander von Behinderten und Nichtbehinderten an. Die Namensgebungen waren dafür paradigmatisch: Sie bezeichneten sich beispielsweise als ›Club Behinderter und ihrer Freunde‹ oder ›Der Kreis – Interessengemeinschaft Behinderter und Nichtbehinderter e. V.‹. Mehrere dieser Clubs widmeten sich dabei z. B. der gemeinsamen Freizeitgestaltung, organisierten in Eigenregie Kneipenbesuche oder andere Aktivitäten, die die bis dato übliche räumliche und soziale alltägliche Separierung von Menschen mit Behinderungen aufheben sollten. Zudem stellten viele dieser Clubs Forderungen auf. Dazu zählten die Ermöglichung von Partizipation und aktiver demokratischer Teilhabe ebenso wie der Abbau gesellschaftlicher Vorurteile und Barrieren. Sie wollten als ›mündige Bürger‹ anerkannt werden, die sich in Eigeninitiative zusammen mit nichtbehinderten Menschen der Artikulation und Durchsetzung selbstgewählter Ziele widmeten. In den späten 1970er Jahren stellte sich dann aber angesichts der Folgenlosigkeit von Integrationsver-

sprechen bei einigen Protagonist*innen zunehmend Resignation ein, die zu einer Fundamentalkritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen umschlagen konnte. Teile der Bewegung radikalisierten sich, was u. a. daran deutlich wurde, dass sie Parallelen zwischen dem zeitgenössischen Umgang mit Menschen mit Behinderungen und der nationalsozialistischen euthanasischen Praxis zogen. Für einige der sich selbst so titulierenden Krüppelgruppen war nun Emanzipation das Ziel, und zwar eine Emanzipation, die über Abgrenzung verwirklicht werden sollte, wandte man sich doch nun gegen die Idee eines Miteinanders zwischen Nichtbehinderten und Behinderten. Die provokante Selbstbezeichnung als ›Krüppel‹, die der radikalisierte Teil der Bewegung bevorzugte, betonte dementsprechend die scharfe Trennlinie zu den Nichtbehinderten. Gefordert wurde die Etablierung einer Subkultur, die sich von der Kultur der nichtbehinderten Menschen distanziert. Dezidiert wiesen diese Aktivist*innen dabei den angeblich ubiquitären gesellschaftlichen Paternalismus ihnen gegenüber zurück, wehrten sich gegen Bevormundung und forderten stattdessen ein selbstbewusstes Agieren gegen gesellschaftliche Zumutungen ein. So schrieben etwa Nati Radtke und Udo Sierck: »Wir grenzen uns bewußt ab, um nicht länger so zu leben, wie es uns die Nichtbehinderten vorschreiben« (Radtke/Sierck 1982, 50). Vor diesem Hintergrund lassen sich auch die seit den 1970er Jahren entstehenden Selbsthilfegruppen als Selbstermächtigung gegen die Therapie- und Unterstützungsmaßnahmen verstehen, die von Nichtbehinderten angeboten wurden. Nicht nur die Vorstellung über die Beziehungen zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen änderten sich mithin im Verlauf der 1970er Jahre, vielmehr kam es im Rahmen der sich allmählich formierenden Behindertenbewegung auch zu einer Neujustierung von Behinderungs-Konzeptionen. Immer mehr Aktivist*innen definierten Behinderung nicht mehr, wie etwa die meisten zeitgenössischen Expertinnen und Experten, als individuellen Defekt, sondern als soziale Kategorie und trennten dabei analytisch die Beeinträchtigung (impairment) von der Behinderung (disability) (s. Kap. 4). Das Diktum ›Behindert ist man nicht, behindert wird man‹ brachte diese Auffassung von Behinderung als sozialem Konstrukt auf den Punkt. Dies bedeutete, dass es in Zukunft nicht mehr darum gehen könne, behinderte Menschen mithilfe von therapeutischen, orthopädischen oder medikamentösen Maßnahmen möglichst nah an die gesellschaftliche Norm heranzuführen. Vielmehr müsse es

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darum gehen, jene Barrieren abzubauen, die Menschen mit Behinderungen an gesellschaftlicher Teilhabe hinderten. Nicht die behinderten Menschen, sondern die gesellschaftlichen Strukturen hätten sich zu verändern. Buchtitel wie Behindertsein ist schön (so eine Veröffentlichung von Ernst Klee) zeugen zudem von einer positiven Umdeutung des Begriffes (und von einer transnationalen Inspiration in Form des Black-isBeautiful-Slogans). »Ich bin stolz ein Krüppel zu sein« (Reinarz 1980, 16) schrieb Tobias Reinarz 1980. Vielen Initiativen ging es mithin in den 1970er und frühen 1980er Jahren auch darum, ein positives Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl bei behinderten Menschen zu fördern. Zunehmend aber rückte auch die Zur-Wehr-Setzung gegen gesellschaftliche Normalitätsanmutungen bzw. -zwänge in den Fokus. Resultat war eine Fundamentalkritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen, die den leistungs- und funktionstüchtigen Menschen zum Ideal mache und darüber jene aussortiere und in Anstalten abschiebe, die dieser Norm nicht entsprechen könnten. Das heißt, in den späten 1970er Jahren verstärkte sich die Kritik an und die Zurückweisung von gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen, die als Ursache für die Diskriminierung von Behinderten angesehen wurden. Während in den ersten Nachkriegsjahrzehnten von Seiten der meisten Behinderten noch angestrebt worden war, der Normvorstellung des unversehrten und ›gesunden‹ Körpers und Geistes möglichst nahe zu kommen, war Franz Christoph 1980 der Ansicht, dass die Betroffenen den vorherrschenden, als repressiv empfundenen Normen eigene entgegensetzen müssten: »Wir Behinderten müssen endlich lernen, unsere eigenen, unserer Lebensrealität gemäßen Wertmaßstäbe zu entwickeln und auch versuchen, dazu zu stehen« (Christoph 1980, 59). Zwar plädierten die meisten Aktivist*innen der bundesrepublikanischen Behindertenbewegung für soziale Gerechtigkeit und Toleranz, doch können auch hier, insbesondere bei der Krüppelbewegung, interne Hierarchisierungen ausgemacht werden: Bereits der Begriff exkludierte (wie auch die von den Aktivistinnen und Aktivisten erhobenen Forderungen) Menschen mit geistiger Behinderung weitgehend. Zudem wiesen viele der männlichen Protagonisten den Frauen in der Bewegung lediglich eine sekundäre Rolle zu. Die Benachteiligung von Frauen wurde mithin als eine Art ›gesellschaftlicher Nebenwiderspruch‹ und damit als vergleichsweise unwichtig angesehen. Somit waren behinderte Frauen auf eine eigene Vernetzung angewiesen, um auf die Spezifik ihrer Lebenslagen

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aufmerksam zu machen und bis dato tabuisierte Themen wie sexualisierte Gewalt gegen behinderte Frauen in die Öffentlichkeit zu tragen. Nicht nur in Bezug auf die Konzeption von Behinderung und die daraus resultierenden Forderungen lässt sich seit den 1970er Jahren ein bedeutender Wandel beobachten, sondern überdies auch in Hinblick auf den Adressaten der formulierten Kritik: Während sich die Kriegsgeschädigtenverbände und auch die Elterninitiativen vor allem noch an (sozial-)politische Entscheidungsträger gewandt hatten, appellierten die Bewegungsaktivist*innen viel stärker an die Öffentlichkeit und damit auch an die Medien. Hier, aber auch in Bezug auf Gremienarbeit und kommunale Entscheidungsprozesse, boten sie sich als ›Gegen-Experten‹ an, die ihre Legitimität nicht aus ihrer wissenschaftlichen Ausbildung, sondern aus ihrer Betroffenheit bezogen. ›Nichts über uns ohne uns‹ war dementsprechend eine der zentralen Aussagen – es ging darum, dass Menschen mit Behinderungen nicht mehr lediglich Objekte von Fürsorge, Verwaltung, Therapien oder auch Mitleid sein sollten, sondern selbstbestimmte Subjekte und Bürger. Die Art und Weise, wie die Forderungen vorgetragen wurden, war ebenfalls in der westdeutschen Behindertenbewegung im Vergleich zu den Vorläuferorganisationen gänzlich anders: Zunehmend standen (ironische oder aggressive) provokative Aktionen im Zentrum, bei denen öffentlichkeitswirksam auf Barrieren und Diskriminierungen aufmerksam gemacht wurde. Dazu gehörte etwa die 1978 erstmalig erfolgte Vergabe eines Antipreises in Form der Goldenen Krücke für besonders behindertenfeindliche Organisationen oder Personen. Großdemonstrationen wurden in das Protestrepertoire aufgenommen, so 1980, als mehrere Tausend Teilnehmende gegen ein Gerichtsurteil auf die Straße gingen, das einer Touristin eine Entschädigung zugesprochen hatte, weil sie sich im Urlaub wegen der Anwesenheit von behinderten Gästen in ihrem Hotel gestört gefühlt und auf Schadenersatz geklagt hatte. 1981 organisierten Aktivist*innen anlässlich des Internationalen Jahres der Behinderten der UN das sogenannte Krüppel-Tribunal, das sich kritisch mit dem paternalistischen Duktus der offiziellen Veranstaltungen auseinandersetzte und auf gesellschaftliche Missstände wie rechtliche Benachteiligungen von behinderten Menschen, deren hohe Arbeitslosigkeit oder auch die Separierung in Werkstätten hinwies (s. Kap. 8). Einige Mitglieder der sogenannten Krüppelbewegung agierten dann nicht nur besonders konfrontativ,

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sondern erteilten sogar gewaltsamen Aktionen keine Absage mehr. So attackierte Franz Christoph 1981 bei einer Reha-Messe den anwesenden Bundespräsidenten mit seinen Krücken, um nicht nur gegen das Bild des noblen nichtbehinderten Helfers, sondern auch gegen jenes des für die Hilfeleistung dankbar zu seienden Behinderten aufzubegehren. Doch bereits zuvor hatten sich hin und wieder radikalere Akteur*innen miteinander verbunden, etwa 1970/1971 in Heidelberg, wo das Sozialistische Patientenkollektiv eine scharfe Kritik an den katastrophalen Zuständen in den westdeutschen Psychiatrischen Anstalten geübt und diese zu einer Fundamentalkritik der kapitalistischen Gesellschaftsordnung erweitert hatte. Nach einem Höhepunkt der Aktionen Anfang der 1980er Jahre im Zusammenhang mit dem Internationalen Jahr der Behinderten ließ die Frequenz öffentlichkeitswirksamer Aktionen nach. Der Radikalisierungsprozess endete weitgehend. Zugleich entstanden neue Netzwerke, die alte interne Differenzen überwanden. Einige Protagonist*innen wurden bei den Grünen aktiv und traten den Gang durch die Institutionen an, um in diesem Rahmen gesellschaftliche Impulse setzen zu können. Ferner engagierten sich einige bei der Gründung von Vereinen, den Zentren für Selbstbestimmtes Leben oder auch dem Deutschen Behindertenrat. Projektarbeit stand zudem im Fokus vieler Aktivitäten. Zugleich war es nach dem Mauerfall möglich, auch jene ostdeutschen Aktivist*innen zu integrieren, die sich aufgrund des weitgehenden Verbots selbstadvokatorischer Organisationen jenseits der Massenorganisationen in der DDR bis 1989 vor allem in informellen Gruppen vernetzt hatten. Des Weiteren kam es zu einer intensiveren Transnationalisierung: In wachsendem Maße tauschten sich Aktivist*innen über die nationalen Grenzen hinweg über Konzepte und Strategien, Organisations- und Protestformen aus, wobei insbesondere die im angelsächsischen Bereich entwickelten Disability Studies einen neuen konzeptionellen Rahmen boten. Bereits in den späten 1960er und den 1970er Jahren hatten sich beispielsweise westdeutsche Psychiatriekritiker über Proteste und Reformkonzepte in anderen Ländern informiert. Mitglieder der Behindertenbewegung blickten besonders häufig über den Atlantik, da das USamerikanische Disability Movement eine gewisse Avantgarde-Rolle innehatte. Zudem diente das afroamerikanische ›Civil Rights Movement‹ als Referenzfolie, auf die sich zwei zentrale Protagonisten der Behindertenbewegung, Gusti Steiner und Ernst Klee, schon in den 1970er Jahren berufen hatten. In den frü-

hen 1980er Jahren reisten dann deutsche Aktivist*innen in die USA, um sich dort u. a. über die Centres for Independent Living zu informieren, die es Menschen mit Behinderungen ermöglichten, jenseits von Anstalten mit ihren strengen Regeln und ihrem inhärenten Paternalismus selbstbestimmt und weitgehend autonom zu leben. Amerikanische Protagonisten hielten ihrerseits Vorträge auf Konferenzen in Deutschland. Konzepte etwa hinsichtlich des assistierten Lebens jenseits der separierenden Anstalten oder der Beratung durch Peers, wie sie in den USA bereits umgesetzt worden waren, wurden entsprechend in der BRD aufgegriffen, beispielsweise seitens der sich neu gründenden Zentren für selbstbestimmtes Leben. Der Verweis auf tatsächlich oder angeblich fortschrittlichere bzw. liberalere Strukturen im Ausland diente immer öfter als Argument, um die Dringlichkeit von Reformen in der BRD zu unterstreichen. Das von der UN initiierte Internationale Jahr der Behinderten 1981 dynamisierte dabei den transnationalen Verflechtungsprozess qua Vernetzungsmöglichkeiten über Staatsgrenzen und Gesellschaftssysteme hinweg. Im weiteren Verlauf zeigte sich das internationale Engagement ferner darin, dass Aktivist*innen aus Deutschland bei der Formulierung der UN-Behindertenrechtskonvention mitwirkten (s. Kap. 30), die ihrerseits einen Meilenstein für die Etablierung von Teilhaberechten von Menschen mit Behinderungen darstellt. Literatur

Baár, Monika: Informal Networks, International Developments and the Founding of the First Interest-Representing Associations of Disabled People in Hungary in the Late Socialist Period (1970s–1980s). In: Moving the Social 53 (2015), 39–62. Barnartt, Sharon/Scott, Richard K.: Disability Protests. Contentious Politics 1970–1999. Washington 2001. Barnartt, Sharon: Globalization of Disability Protests 1970– 2005. Pushing the Limits of Cross-Cultural Research? In: Comparative Sociology 9 (2010), 222–240. Brink, Cornelia: Radikale Psychiatriekritik in der Bundesrepublik. Zum Sozialistischen Patientenkollektiv in Heidelberg. In: Franz-Werner Kersting (Hg.): Psychiatriereform als Gesellschaftsreform. Die Hypothek des Nationalsozialismus und der Aufbruch der sechziger Jahre. Paderborn 2003, 165–179. Charlton, James I.: Nothing About Us Without Us. Disability Oppression and Empowerment. Berkeley/Los Angeles/ London 1998. Christoph, Franz: Behinderten-Standpunkt. Ein Behinderter, der sich selbst Krüppel nennt, wehrt sich gegen Normalität. In: Sozialmagazin 5 (1980), 56–59. Köbsell, Swantje: Eine Frage des Bewusstseins – Zur Geschichte der Behindertenbewegung in Deutschland. In: Tobias Erzmann/Georg Feuser (Hg.): »Ich fühle mich wie

29  Behindertenbewegungen ab den 1960er Jahren ein Vogel, der aus seinem Nest fliegt.« Menschen mit Behinderungen in der Erwachsenenbildung. Frankfurt a. M. 2011, 43–84. Köbsell, Swantje: ›Besondere Körper‹. Geschlecht und Körper im Diskurs der westdeutschen Behindertenbewegung der 1980er und 1990er Jahre. In: Gabriele Lingelbach/ Anne Waldschmidt (Hg.): Kontinuitäten, Zäsuren, Brüche? Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen in der deutschen Zeitgeschichte. Frankfurt a. M. 2016, 239– 261. Lingelbach, Gabriele/Stoll, Jan: Die 1970er Jahre als Umbruchsphase der bundesdeutschen Disability History? Eine Mikrostudie zu Selbstadvokation und Anstaltskritik Jugendlicher mit Behinderung. In: Moving the Social 50 (2013), 25–52. Radtke, Nati/Sierck, Udo: Lieber lebendig als normal. In: Michael Wunder/Udo Sierck (Hg.): Sie nennen es Fürsorge. Behinderte zwischen Vernichtung und Widerstand. Berlin 1982, 149–150.

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Reinarz, Tobias: Krüppel contra Sorgenkind. In: Luftpumpe 3/10 (1980), 16–19. Shakespeare, Tom: Disabled People’s Self-Organization: A New Social Movement? In: Disability, Handicap & Society 8 (1993), 249–264. Stoll, Jan: The German Disability Movement as a Transnational, Entangled New Social Movement. In: Moving the Social 53 (2015), 63–86. Stoll, Jan: Behinderte Anerkennung? Interessenorganisationen von Menschen mit Behinderungen in Westdeutschland seit 1945. Frankfurt a. M. 2017. Stroman, Duane F.: The Disability Rights Movement. From Deinstitutionalization to Self-Determination. Lanham MD/New York/Oxford 2003. Waldschmidt, Anne/Karacic, Anemari/Sturm, Andreas/ Dins, Timo: ›Nothing About Us Without Us‹. Disability Rights Activism in European Countries – A Comparative Analysis. In: Moving the Social 53 (2015), 103–138.

Gabriele Lingelbach

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30 Gegenwart »Es ist normal, verschieden zu sein« – diese vielzitierten Worte des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker bei der Eröffnungsveranstaltung der Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte 1993 stehen sehr treffend für den Wandel in der Haltung zu Behinderung in Deutschland. Diese Rede (Weizsäcker 1993) mutet mit ihrer Kritik an einem ›Normalismus‹ (Jürgen Link) (s. Kap. 42) auch heute noch sehr aktuell an und war damit ein Fanal für die weiteren Entwicklungen in Politik, Gesellschaft und Kultur im Hinblick auf Behinderung. In den folgenden Jahren vollzogen sich einschneidende Entwicklungen, die sich anhand verschiedener Modelle von Behinderung nachvollziehen lassen. Das lange vorherrschende individuelle Modell wurde seit den 1970er Jahren durch ein soziales Modell in Frage gestellt, und beiden fügte Waldschmidt (2005) später ein kulturelles Modell von Behinderung hinzu (s. Kap. 4). Mit der Behindertenrechtskonvention (UN-BRK, 2006 beschlossen, 2008 in Kraft getreten) wurden diese unterschiedlichen Perspektiven auf Behinderung noch um ein Menschrechtsmodell von Behinderung (Degener 2015) erweitert. In internationaler Perspektive werden diese Modelle weiterhin breit und vielfältig diskutiert (Goodley 2017).

30.1 Meilensteine auf dem Weg in die Gegenwart: Beispiel Deutschland Bis in die 1980er Jahre dominierte in Deutschland ein Verständnis von Behinderung, das weitgehend dem medizinischen oder individuellen Modell von Behinderung entsprach. Nach diesem Modell ist eine Behinderung in erster Linie ein Aspekt einer Person. Sie wird als persönliche Tragödie und persönliches Problem empfunden, es erfolgt eine individuelle ›Behandlung‹ durch Expert*innen mit dem Ziel der Anpassung des behinderten Menschen an die Gesellschaft im Sinne eines »rehabilitativ-therapeutischen« Paradigmas (Rohrmann 2019, 5). Diese Betrachtungsweise geht hinsichtlich sozialstaatlicher Leistungen für Menschen mit Behinderungen mit dem Bemühen um Eingliederung in die Gesellschaft u. a. über auf die Arbeitswelt bezogene Eingliederungsleistungen einher. Wo dies nicht gelingt, werden Menschen mit Behinderungen auf ›Sonderwelten‹ verwiesen, die sich in (voll)stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe und Angeboten wie dem stationären Wohnen

oder den Werkstätten für behinderte Menschen wiederfinden. Diese Perspektive wurde bereits seit den 1980er Jahren u. a. durch die Behindertenbewegung zunehmend in Frage gestellt. Diese betonte die diskriminierenden gesellschaftlichen Strukturen, die sie deutlich als »Unterdrückung durch Nichtbehinderte aufgrund von gesellschaftlichen Wertvorstellungen« thematisierte (Aktivist Franz Christoph in einem Interview mit konkret 8/1981, zit. nach Mürner/Sieck 2012, 98) – ganz in Übereinstimmung mit dem sozialen Modell von Behinderung, das die gesellschaftlichen Faktoren von Behinderung hervorhebt und Selbsthilfe und politische Partizipation fordert. Dem sozialen Modell entspricht auch die in den 1980er Jahren einsetzende Tendenz zu mehr ambulanten Angeboten und einer allmählichen Deinstitutionalisierung von Komplexeinrichtungen (d. h. Einrichtungen der Behindertenhilfe mit einem umfassenden Arbeits-, Betreuungsund Wohnungsangebot) und anderen großen Institutionen der Behindertenhilfe. Davon besonders betroffen war auch die Versorgung psychisch behinderter Menschen. Der Abschlussbericht der Psychiatrie-Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages von 1975 und die »Empfehlungen der Expertenkommission der Bundesregierung zur Reform der Versorgung im psychiatrischen und psychotherapeutisch/psychosomatischen Bereich« von 1988 waren grundlegend für die Entwicklung einer gemeindenahen Versorgung chronisch psychisch kranker und seelisch behinderter Menschen, die Entwicklung einer Sozialpsychiatrie und die Auflösung der Langzeitstationen psychiatrischer Krankenhäuser, auf denen oft auch Menschen mit geistigen Behinderungen vollkommen unangemessen versorgt wurden (s. Kap. 37–38). Ein von seiner Bedeutung nicht zu unterschätzender Schritt war die Einführung eines Verbotes der Diskriminierung von Menschen mit Behinderung (Mürner/Sierck 2012, 122–124). Bei einer, auch durch den Beitritt der DDR notwendig gewordenen, umfangreicheren Änderung des Grundgesetzes wurde 1994 in Artikel 3, Absatz 3 der Satz eingefügt: »Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.« Größere öffentliche Aufmerksamkeit erreichte dieser Artikel allerdings erst durch Werbekampagnen u. a. der ›Lebenshilfe‹. In dieser rechtlichen Tradition der Antidiskriminierung steht auch die Berücksichtigung von Behinderung im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) von 2006, das auf die Umsetzung von EU-Richtlinien zurückgeht. Das AGG stellt Behinderung neben andere Benachteiligungsgründe wie

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_30

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ethnische Herkunft oder Religion und verweist damit bereits auf das Konzept Diversität (s. Kap. 46). Vor allem für die Medizin, die Heilpädagogik und die Soziale Arbeit, die professionell mit Menschen mit Behinderung zur Begutachtung sowie zur Beratung, Hilfeplanung, Assistenz und zur weiteren Unterstützung von Teilhabe arbeiten, war die Einführung der »International Classification of Functioning, Disability, and Health« der WHO von 2001 essentiell, die einen neuen Behinderungsbegriff gemäß einem biopsycho-sozialen Verständnis einführte, und der die Grundlage für das ebenfalls 2001 in Kraft getretene SGB IX wurde. Der Einbezug von Kontextfaktoren, wie z. B. Einstellungen der sozialen Umwelt oder Vorhandensein sozialer Dienste, ist im Sinne des sozialen Modells von Behinderung. Dieses Verständnis verdeutlicht, dass eine Behinderung auch aus diskriminierenden Umweltfaktoren und Barrieren resultieren kann und nicht nur aus individuellen Beeinträchtigungen einer Person. Auch im kulturellen Bereich zeichnete sich ein Wandel ab. Im März 2000 nannte sich die ›Aktion Sorgenkind‹ in ›Aktion Mensch‹ um, da die Verbindung von Behinderung und Sorgen, die das individuelle Modell von Behinderung nahelegt, aufgehoben werden sollte. Aufgrund der starken Präsenz der ›Aktion Mensch‹ in den Medien hatte dies durchaus eine weitreichende Ausstrahlung in das öffentliche Bewusstsein. In diese Zeit fiel auch die epochale Ausstellung »Der imperfekte Mensch« in Dresden und in Berlin 2001 und 2002. In dieser wurde das herrschende Verständnis von Behinderung für verschiedene Lebensbereiche und Fragen wie z. B. Sport, Pränataldiagnostik und Kunst auf eine bisher noch nicht dagewesene Art und Weise theoretisch und kritisch hinterfragt. Hier wurde eine kulturwissenschaftliche Perspektive eröffnet, die dann später von der Sommeruniversität in Bremen 2003 und von den Disability Studies aufgenommen wurde und ihre Entsprechung in dem kulturellen Modell von Behinderung fand (Hermes/ Rohrmann 2006). Behinderung muss danach »[...] in ihrer Abhängigkeit von Kommunikation, Interaktion und sozialen Praktiken, institutionellen Kontexten, medialen Repräsentationen und historisch und kulturell bedingten Menschenbildern, von durch Moral und Religion vermittelten Vorstellungen, politischen und ökonomischen Verhältnissen, für die Individuen verfügbaren Ressourcen, aber auch geographischen und klimatischen Bedingungen gesehen werden.« (Dederich 2009, 31)

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30.2 Die UN-BRK – die neue fundamentale Referenz Die genannten Entwicklungen fanden eine Bekräftigung in dem ultimativen Schlüsseldokument der Behindertenpolitik, der UN-BRK (vgl. hierzu Degener/ Diehl 2015). Die UN-BRK wurde von der Generalkonferenz der Vereinten Nationen als das »Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen« beschlossen und trat am 26. März 2009 in Deutschland in Kraft. Bezeichnend ist bereits das sehr partizipative Verfahren der Erarbeitung der UN-BRK (Degener 2015). In dem Prozess waren mehr als 100 Regierungsdelegationen und 400 Nicht-Regierungsorganisationen vertreten. Die Zivilgesellschaft partizipierte nach Theresia Degener, die selber an den Beratungen beteiligt war, gemäß dem Motto »Nichts ohne uns über uns« nahezu »paritätisch mit den Staaten« (ebd., 56). Die große Innovationskraft der UN-BRK zeigt sich ferner in einem ausdifferenzierten Überwachungssystem. Auf UN-Ebene wurde dafür der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen eingerichtet, und für die nationale Ebene fordert die UNBRK im Umsetzungsteil in Artikel 33 Strukturen zur innerstaatlichen Durchführung und Überwachung. In Deutschland wurden eine Staatliche Anlaufstelle (Focal Point) beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) und die Staatliche Koordinationsstelle bei dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen eingerichtet. Das Monitoring wurde Aufgabe des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Für die Europäische Union, die als Staatengemeinschaft auch der UN-BRK beitrat, wird das Monitoring von der FRA, der ›European Union Agency for Fundamental Rights‹ in Wien, geleistet. Die Verpflichtung zur Überwachung beinhaltet auch ein regelmäßiges Berichtswesen. Dies sieht nicht nur offizielle Staatenberichte, sondern auch die Möglichkeit zu Parallelberichten der Zivilgesellschaft vor. Aktuell befindet sich Deutschland in der Phase der kombinierten zweiten und dritten Staatenprüfung 2018 bis 2021. Dafür hat das BMAS einen im Bundeskabinett im Juli 2019 verabschiedeten Bericht vorgelegt, der nun zur Prüfung ansteht. In der ersten Prüfung hatte eine BRK-Allianz aus Vertreter*innen der Zivilgesellschaft einen umfangreichen Parallelbericht vorgelegt; in dem nun kombinierten zweiten und dritten Prüfverfahren hat wiederum ein Verbändebündnis aus dem Deutschen Behindertenrat, der Bundes-

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arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, den Fachverbänden für Menschen mit Behinderung und der LIGA Selbstvertretung parallele Berichte vorgelegt, in denen auf bestehende Defizite in der Umsetzung der Menschenrechte verwiesen wird, besonders umfangreich in den Bereichen ›Arbeit‹ und ›Lebensstandard/Armut‹ (alle Berichte und weitere Dokumente auf: https://www.institut-fuer-menschenrechte. de/monitoring-stelle-un-brk/) (s. Kap. 8). Durch die UN-BRK werden keine ›Sonderrechte‹ begründet. Vielmehr leistet die UN-BRK eine Konkretisierung des vorhandenen, universellen Menschenrechtskatalogs für die Personengruppe der Menschen mit Behinderungen. Inhaltlich begründet die UN-BRK ein neues Verständnis von Behinderung auf der Grundlage von Menschenrechten (Degener 2015). Dieses Menschenrechtsmodell hebt sich von den anderen Vorstellungen von Behinderung in mehreren Hinsichten ab. So stellt Degener dar, dass das Menschenrechtsmodell über Antidiskriminierung (was eine wesentliche Forderung des sozialen Modells ist) hinausgehe und anerkenne, dass Menschen mit Behinderung auch in einer diskriminierungs- und barrierefreien Gesellschaft »Schutz, Bildung, soziale[r] Sicherheit und kulturelle[r] Rechte« (ebd.) bedürften. Außerdem unterstütze dieses Modell eine Identitätspolitik, indem sie explizit beeinträchtigungsbezogene Identitäten und Intersektionalitäten mit ethnischer Zugehörigkeit und Geschlecht berücksichtige (ebd.). Auch wenn die Abgrenzung Degeners auf einem verkürzten Verständnis anderer Modelle von Behinderung beruhen mag, steht außer Frage, dass dieses Modell eine wichtige Erweiterung darstellt, indem es Behinderung in einen menschenrechtlichen Diskurs stellt und die vollen Menschenrechte für Menschen mit Behinderung einfordert. Inhaltlich sind in Artikel 3 der UN-BRK acht Grundsätze benannt: 1. Achtung der Menschenwürde 2. Nicht-Diskriminierung 3. volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft 4. Achtung vor der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen und Akzeptanz dieser Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt 5. Chancengleichheit 6. Zugänglichkeit und Barrierefreiheit 7. Gleichberechtigung von Mann und Frau 8. Achtung vor den sich entwickelnden Fähigkeiten von Kindern. Diese Grundsätze werden dann in einzelnen Artikeln zu den jeweiligen subjektiven Menschenrechten kon-

kretisiert, die auch Gegenstand der »Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte« und deren vertraglicher Ausarbeitung in dem UN-Zivilpakt und dem UN-Sozialpakt sind. Als besonders wichtig für die Diskussion haben sich in Deutschland Artikel 8 (Bewusstseinsbildung), Artikel 19 (unabhängige Lebensführung), Artikel 24 (Bildung), Artikel 27 (Arbeit) sowie Artikel 28 (angemessener Lebensstandard) herausgestellt. Kulturelle Aspekte finden sich in der Präambel und explizit in Artikel 30 (Teilhabe am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport) wieder. Aber nicht nur die Teilhabe mit anderen am kulturellen Leben und der Zugang zu diversen kulturellen Veranstaltungen werden postuliert, sondern ganz in Sinne des menschenrechtlichen Grundverständnisses wird auch eine eigene spezifische kulturelle und sprachliche kulturelle Identität, wie z. B. die Gehörlosenkultur, gefordert. Die UN-BRK hat daher umfassende Aktivitäten auf allen politischen Ebenen hervorgerufen. Auf Bundesebene wurde nicht nur ein Nationaler Aktionsplan erstellt; auch die Berichterstattung zu Behinderung erhielt mit dem Ersten und dem Zweiten Teilhabebericht der Bundesregierung von 2013 und 2016 (BMAS 2016) sowie einer groß angelegten Repräsentativbefragung zur Teilhabe von Menschen mit Behinderungen eine empirische und wissenschaftliche Grundlage. In allen Bundesländern wurden neue Schulgesetze beschlossen, um die Beschulung von Kindern mit Behinderungen konform mit der UN-BRK zu regeln. Alle Bundesländer haben Landes-, Aktions- oder Maßnahmepläne bzw. Behindertenpolitische Leitlinien (Berlin) aufgestellt, und Schleswig-Holstein nahm in einer Verfassungsreform 2014 schulische Inklusion (s. Kap. 16) als Staatsziel in die Verfassung mit auf. Als Konsequenz aus dem Artikel 29 wurden sukzessive erst in einigen Bundesländern, dann 2019 auch auf Bundesebene die Wahlgesetze geändert und der bisher bestehende Wahlausschluss von Menschen, die unter sogenannter Vollbetreuung stehen, aufgehoben (Kulke 2020). Davon sind über 80.000 Personen, die meisten mit geistigen oder seelischen Behinderungen, betroffen. Auch im kulturellen Bereich gab es seit der UNBRK wichtige Entwicklungen, auch wenn dieser Bereich von der Politik offensichtlich als weniger bedeutsam angesehen wird, weil er weder von der Bundesregierung im Zweiten und Dritten Staatenbericht von 2019 noch von der Monitoring-Stelle (2019) erwähnt wird. Gleichwohl ist zu konstatieren, dass die Chancen zur Teilhabe am kulturellen Leben durch eine verbesserte Zugänglichkeit kultureller Einrichtungen etwas

30 Gegenwart

besser geworden sind, besonders im Bereich von Museen und Ausstellungen. Vorbildlich als inklusives Museum ist hier das Deutsche Technikmuseum in Berlin. Trotzdem sind die Befunde dort, wo sichere und repräsentative Daten vorliegen, recht ernüchternd (zur Barrierefreiheit von Medien vgl. Palleit/Kellermann 2015, 279). Und bei der tatsächlichen Teilhabe an verschiedenen Arten kultureller Veranstaltungen zeigt sich, dass sie bei Menschen mit Behinderungen konstant deutlich geringer ausfällt (BMAS 2016, 359–365). Bei der Entwicklung eigener kultureller Identitäten für Menschen mit Behinderungen gibt es auch wichtige Impulse. Mittlerweile hat sich eine rege Landschaft von Theater- und Tanzensembles, Festivals und Projekten herausgebildet (s.  Kap.  67–68), die die Identität von Menschen mit Behinderungen und eine disability culture, eigene und identitätsstiftende kulturelle Repräsentationen und Ausdrucksformen von Behinderung stärken, z. B. Theaterfestivals wie ›NO LIMITS‹ in Berlin und ›Grenzenlos Kultur‹ in Mainz, die seit 2013 jährlich stattfindende ›Pride Parade‹ in Berlin, das Filmfestival ›look & roll‹ in Basel oder das Festival ›Kultur vom Rande‹ in Reutlingen, die über soziale Begegnungen und das »Aufbrechen von festgefügten Vorstellungen über Arbeit und Beruf von Menschen mit Behinderung« (Braun 2016, 72) wichtige kulturelle Inklusionschancen darstellen. Ein besonderes Ereignis in diesem Zusammenhang war die Verleihung des renommierten Alfred-Kerr-Darstellerpreises an die deutschsprachige Nachwuchsschauspielerin Julia Häusermann, eine Frau mit DownSyndrom, im Jahr 2013. Dieses Ereignis fand in den deutschsprachigen Medien ein großes Echo. Bei Veranstaltungen dieser Art geht es weniger um Barrierefreiheit und Teilhabe im Sinne eines sozialen Modells von Behinderung als vielmehr um das öffentliche Zelebrieren ›abweichender‹ Identitäten, um das Offenlegen von Kategorisierungs- und Bewertungsprozessen sowie um die Dekonstruktion symbolischer Ordnungen – ganz im Sinne des kulturellen Modells von Behinderung, wie es von den Disability Studies in Deutschland favorisiert wird (Waldschmidt 2005). Trotz unverkennbarer Fortschritte im Hinblick auf die Umsetzung der UN-BRK in Deutschland bestehen nach wie vor viele Defizite. Valentin Aichele, Leiter der Monitoring-Stelle der UN-BRK, kommt zu dem Fazit: »Nur ein Teil der Gesellschaft schafft es bislang, den Auftrag der UN-BRK anzunehmen und praktisch umzusetzen, während gleichzeitig eine Reihe an gesellschaftlichen Kräften intendiert oder unbeabsichtigt

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dem Ziel einer inklusiven Gesellschaft entgegenarbeiten.« (Aichele 2019, 10)

Positive Beispiele fänden sich bei der Gewährleistung der vollen gesellschaftlichen Partizipation, negative hinsichtlich der Vorschriften zum barrierefreien Bauen und der gesellschaftlichen Teilhabe, die durch das Bundesteilhabegesetz neu geregelt werden sollte (ebd.).

30.3 Das Bundesteilhabegesetz – halbherzige Schritte zur Inklusion Ein Gesetz, das die Behindertenhilfe und damit die Teilhabechancen von Menschen mit Behinderungen auf Jahrzehnte hinaus entscheidend prägen wird, ist das Bundesteilhabegesetz (BTHG) von 2016. Eine breite Partizipation über Verbändeanhörungen ist in Gesetzgebungsprozessen keine Besonderheit; dass aber durch eine Kampagne mit über 150.000 Unterzeichnern und durch eine große Demonstration am 7. November 2016 in Berlin noch zentrale Änderungen am Gesetzesentwurf, und zwar bei der Umsetzung des Begriffes von Behinderung, vorgenommen wurden, zeigt das große Mobilisierungspotential und den gewachsenen politischen und öffentlichen Einfluss der Behindertenorganisationen. Das BTHG sollte explizit wesentliche Forderungen der UN-BRK umsetzen, soziale Leistungen für Menschen mit Behinderungen als eigenständige Leistungen aus der Sozialhilfe ausgliedern und damit ein modernes Teilhaberecht begründen. Auch wenn sich durch das BTHG einige Verbesserungen der Teilhabechancen für Menschen mit Behinderungen ergeben, sind diese doch nicht ausreichend, um einen wirklichen Paradigmenwechsel zu begründen. So wurde zwar ein Behindertenbegriff konform mit der UN-BRK zugrunde gelegt, die Umsetzung in Form einer Feststellung der Behinderteneigenschaft wird sich vermutlich aber nicht grundsätzlich ändern: Sie wird weiter von einer medizinischen Feststellung individueller Abweichungen abhängig und damit noch einem individuellen Verständnis von Behinderung verhaftet bleiben. Zwar wurde mit dem Budget für Arbeit eine neue UN-BRK-konforme Leistung eingeführt, aber die Werkstätten für behinderte Menschen als ›Sonderwelten‹ werden weiterbestehen. Zwar wurde die Trennung zwischen ambulanten und stationären Wohnformen aufgehoben, aber eine Deinstitutionalisierung im Sinne der Auflösung von Großeinrichtungen findet nicht statt. Zwar wurden die

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II  Geschichte der Vorstellungen  –  A  Konzepte in Europa und den USA

Grenzen für den Einsatz von Einkommen und Vermögen für Leistungen der sozialen Teilhabe angehoben, aber nicht aufgehoben. Besonders betroffen von diesen Beschränkungen sind Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf, u. a. wenn sie zusätzlich Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung benötigen. Daher gelangt Albrecht Rohrmann zu dem Fazit, dass das BTHG »den Herausforderungen des durch die UN-Behindertenrechtskonvention profilierten Paradigmenwechsels nur sehr bedingt gerecht wird« (Rohrmann 2019, 13).

30.4 Ausblick In den gegenwärtig in Wissenschaft, Politik und Kultur – aber weniger in den Alltagspraktiken – vorherrschenden Konzepten von Behinderung spiegeln sich die verschiedenen Entwicklungen der letzten Jahre wider. Dabei wird auch deutlich, dass das von den Disability Studies, insbesondere in ihrer kritischen und emanzipatorischen Ausrichtung, so heftig kritisierte individuelle bzw. medizinische Modell nicht nur im fachlichen Diskurs, sondern auch in der Öffentlichkeit noch vorherrscht. Besonders deutlich wird dies in den Diskussionen um die Abbrüche von Schwangerschaften, bei denen Kinder mit Behinderungen erwartet werden und in denen eine »Ideologie der Leidfreiheit« (Dederich 2009, 30) dominiert (als Beispiel vgl. Ewert/ Kaiser 2019), die eindeutig nicht im Sinne des sozialen oder kulturellen Modells von Behinderung ist. Gleichwohl gewannen soziale, menschenrechtliche und kulturelle Perspektiven von Behinderung an Boden: das soziale Modell mit seinem Verweis auf die sozialen Ursachen von Behinderung und die Barrieren in der Umwelt; das menschenrechtliche Modell mit seiner Betonung von Partizipation und menschenrechtsbasierter Inklusion, nach dem Inklusion nicht »vom politischen oder gesellschaftlichen Wohlwollen« (Niendorf/Reitz 2016, 13) abhängen darf, sondern ein Menschenrecht ist; und das kulturelle Modell mit seiner Dekonstruktion normativer Vorstellungen und Praktiken und einer Vielzahl von Zugängen zum Thema Behinderung (Conference Report 2019). Diese drei Modelle haben bei vielen Überschneidungen unterschiedliche, aber eng verflochtene Diskursgeschichten. Aus diesen ergeben sich die folgenden drei, den gegenwärtigen Diskurs um Behinderung stark prägenden Konzepte: • ›Partizipation‹ als Teilnahme und Teilhabe an der Gesellschaft und insbesondere auch an politischen

Prozessen ist – von der Einführung von Frauenbeauftragten in Werkstätten für behinderte Menschen über die Beteiligung von Behindertenverbänden bei der Prüfung der UN-BRK bis hin zur Einführung des Wahlrechts für unter Vollbetreuung stehende Menschen – elementar für das heutige Verständnis von Behinderung. • Um ›Inklusion‹ hat sich mittlerweile eine breite Diskussion entsponnen. Deren zentrales Verdienst ist es, Strukturen in das Blickfeld gerückt zu haben. Um Teilhabe zu ermöglichen, sind es nicht die Menschen, die sich anpassen müssen; vielmehr sollen die sozialen und gesellschaftlichen Strukturen den Bedürfnissen der Menschen entsprechen und Barrieren abbauen. • Dieser Blick führt unmittelbar zu ›Diversität‹, die in einer zentralen Lesart die »Anerkennung und Wertschätzung menschlicher Vielfalt unter Berücksichtigung verschiedener Unterstützungsbedarfe« (Hirschberg/Köbsell 2016, 562) bedeutet und in die das Konzept ›Behinderung‹ zunehmend diskursiv integriert wird. Vollkommen zu Recht wird damit auch deutlich, dass ›Behinderung‹ angesichts der Vielfalt der Lebenslagen eine im Grunde unzulässige Vereinfachung darstellt und intersektional im Zusammenhang mit anderen Merkmalen gedacht werden muss (Niendorf/ Reitz 2016). Indem diese Konzepte – Partizipation, Inklusion und Diversität – deutlich über Behinderung und die davon betroffenen Menschen hinausweisen, zeigt sich, wie groß und weitreichend die Aufgaben sind, die auf Politik, Gesellschaft und Wissenschaft bei der konsequenten Umsetzung einer menschrechtlichen, sozial- und kulturwissenschaftlich begründeten Vorstellung von Behinderung noch zukommen. Literatur

Aichele, Valentin: Eine Dekade UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland. In: Aus Parlament und Zeitgeschichte 69/6–7 (2019), 4–10. BMAS/Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Zweiter Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen. Berlin 2016. BMAS/Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Zweiter und dritter Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Berlin 2019. Braun, Elisabeth: Das Festival »Kultur vom Rande« – Chancen für Inklusion? In: Der Bürger im Staat 66/1 (2016), 68–73. [Conference Report]: 8th Annual ALTER Conference: His-

30 Gegenwart tories, Practices and Policies of Disability: International, Comparative and Transdisciplinary Perspectives. 2019, https://alterconf2019.sciencesconf.org/resource/news (22.02.2020). Dederich, Markus: Behinderung als sozial- und kulturwissenschaftliche Kategorie. In: Markus Dederich/Wolfgang Jantzen (Hg.): Behinderung und Anerkennung. Stuttgart 2009, 15–40. Degener, Theresia: Die UN-Behindertenrechtskonvention – ein neues Verständnis von Behinderung. In: Degener/ Diehl 2015, 55–74. Degener, Theresia/Elke Diehl (Hg.): Handbuch Behindertenrechtskonvention. Teilhabe als Menschenrecht – Inklusion als gesellschaftliche Aufgabe. Bonn 2015. Ewert, Laura/Kaiser, Mareice: »Du wirfst mir Selektion vor, oder?« – »Du hast eben entschieden, wie die meisten entschieden hätten.« In: Die Zeit 35 (22.08.2019), 48–49. Goodley, Dan: Disability Studies. An interdisciplinary introduction. London/Thousand Oaks/New Delhi/Singapore ²2017. Hermes, Gisela/Rohrmann, Eckard (Hg.): Nichts über uns – ohne uns. Disability Studies als neuer Ansatz emanzipatorischer und interdisziplinärer Forschung über Behinderung. Neu-Ulm 2006. Hirschberg, Marianne/Köbsell Swantje: Grundbegriffe und Grundlagen: Disability Studies, Diversity und Inklusion. In: Ingeborg Hedderich/Gottfried Biewer/Judith Hollenweger/Reinhard Markowetz (Hg.): Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik. Bad Heilbrunn 2016, 555–568. Kulke, Dieter: »Wahlrecht für alle?« – Ein Fallbeispiel für die

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Durchsetzung von Menschenrechten. In: Günter Rieger/ Jens Wurtzbacher (Hg.): Tatort Sozialarbeitspolitik. Weinheim/Basel 2020, 70–84. Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention: Wer Inklusion will, sucht Wege. Zehn Jahre UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland. Herausgeber: Deutsches Institut für Menschrechte. Berlin 2019. Mürner, Christian/Sierck, Udo: Behinderung. Chronik eines Jahrhunderts. Weinheim/Basel 2012. Niendorf, Mareike/Reitz, Sandra: Inklusion – eine menschenrechtliche Perspektive. In: Der Bürger im Staat 66/1 (2016), 10–15. Palleit, Leander/Kellermann, Gudrun: Inklusion als gesellschaftliche Zugehörigkeit – das Recht auf Partizipation am politischen und kulturellen Leben. In: Degener/Diehl 2015, 275–288. Rohrmann, Albrecht: Das Bundesteilhabegesetz – Ausdruck eines Paradigmenwechsels. In: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 50/1 (2019), 4–14. Waldschmidt, Anne: Disability Studies: individuelles, soziales und/oder kulturelles Modell von Behinderung? In: Psychologie und Gesellschaftskritik 29/1 (2005), 9–3. Weizsäcker, Richard von: Ansprache von Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei der Eröffnungsveranstaltung der Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte. Bonn (01.07.1993), http://www. bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Richardvon-Weizsaecker/Reden/1993/07/19930701_Rede.html (22.02.2020).

Dieter Kulke

B Konzepte von Behinderung außerhalb Europas und der USA 31 Indigene Kulturen Lateinamerikas Die indigenen Ethnien von Nordmexiko bis Feuerland bilden keineswegs eine Einheit – weder sprachlich noch kulturell oder historisch. Im Rahmen dieses Kapitels kann daher keine systematische Gesamtdarstellung des Komplexes ›Behinderung‹ in den indigenen Kulturen Lateinamerikas gegeben werden; so sind an dieser Stelle nur systematisch untersuchte Problematiken an disparatem, d. h. in unterschiedlichen Ethnien erhobenem Material dargestellt. Zugleich ist die Quellenlage in der gesundheits-, aber auch der sozial- und kulturwissenschaftlichen Fachliteratur dürftig, da bislang kaum umfassend, sondern lediglich exemplarisch zum Phänomen der Behinderung in den indigenen Kulturen Lateinamerikas gearbeitet wurde. Diese geringe wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Problematik und den dahinterstehenden Menschen mag auch die nach wie vor bestehenden Machtasymmetrien zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden widerspiegeln, aufgrund derer indigene Zugänge zu Behinderung und indigenes Wissen über Behinderung nur ungenügend reflektiert werden (vgl. Rivas Velarde 2018).

31.1 Verständnis von Behinderung Im Wortsinn einer Einschränkung körperlicher Funktionen, der geistigen Fähigkeit oder seelischen Gesundheit ist ein übergreifender Terminus ›Behinderung‹ im Deutschen vor dem 20. Jahrhundert nicht belegt (s. Kap. 3). In ähnlicher Weise ist in den indigenen Sprachen eine übergeordnete genuine Bezeichnung nicht zu erwarten, allenfalls als Übersetzung von modernen spanischen bzw. portugiesischen Ter-

mini (z. B. mana atipaj im Quechua für Spanisch discapacidad; eigentlich: ›ohne Kraft‹, ›ohne Macht‹) (UNICEF 2013). Wohl aber existieren Wörter für konkrete Formen von Behinderung, etwa ›verkrüppelt‹ (z. B. Náhuatl: tekuatetsonkatli, span. mutilado), ›blind‹ (z. B. Tzotzil: ma’-sat, span. incapaz de ver) oder auch ›krank durch Magie‹ (z. B. Zapotekisch: se rzgyekgui’ihzh, span. enfermo debido a magia). Im Mapuche wird ›Behinderung‹ sowohl mit ellan (span. cojo: ›lahm‹), als auch mit kutrhan che (span. persona enferma: ›kranke Person‹) wiedergegeben. Deren fortschreitende Beschwerden zeichnen sich dadurch aus, dass sich die kranke Person schließlich selbst in die Krankheit verwandle und damit ihre Autonomie und Unabhängigkeit verliere (Ministerio de Salud – Gobierno de Chile o. J., 7, 75). Gemeinhin gilt, dass Phänomene insbesondere der körperlichen Behinderung wahrgenommen und in der Sprache abgebildet werden; jedoch lässt sich nicht von einer sprachlich unterlegten kategorischen Differenzierung zwischen Behinderten und Nicht-Behinderten sprechen (vgl. Holzer 1999, 7). Die meisten Forschungsansätze betonen einen grundlegenden Unterschied zwischen dem ›westlichen‹ und dem in indigenen Kulturen (Lateinamerikas) vorhandenen Verständnis von Behinderung, der sich u. a. auf die angenommenen Ursachen bezieht. In den indigenen Kulturen Lateinamerikas existieren positive wie negative Wertungen von Behindert-Sein, die darauf zurückzuführen sind, dass Behinderung einerseits als Auszeichnung, andererseits als Strafe und extern verursachte Manipulation, etwa durch schamanisches Handeln, interpretiert werden kann. Die jeweiligen Einschätzungen wirken sich auf eine dementsprechende soziale Inklusion oder auch Exklusion der betroffenen Person aus. So gilt etwa als Grund für Behinderung bzw. Anomalie eine besondere Berufung, die mit spezifischen Begabungen einhergeht. Bereits präkolumbische Kulturen hätten eine po-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_31

31  Indigene Kulturen Lateinamerikas

sitive Haltung zu Personen mit anormalen Körpern eingenommen, so Rebecca Stone; solchen Menschen würden auch heute außergewöhnliche Heilkräfte zugesprochen. So seien Personen mit beeinträchtigtem Sehvermögen in besonderer Weise zu Visionen befähigt, da sie sich ganz auf die innere Schau konzentrierten. Gerade die Mittlerrolle von Schamanen zwischen Leben und Tod, Realität und Transzendenz werde durch von der Norm abweichende Körper zusätzlich veranschaulicht und verstärkt; die sie charakterisierende ›Andersheit‹ werde als Auszeichnung und Zugang zu speziellen spirituellen Kräften verstanden (Stone 2018, 2–3, 7). Ähnlich argumentiert Ina Rösing: »[...] being different in the Andean context does not mean you are devalued, but given value, it is interpreted as a sign of vocation. This not only refers to marks on the body, but also to all anomalies to do with birth [i. e. twin birth]« (Rösing 1999, 35). Unter den Quechua in den bolivianischen Anden sei ein physisches oder mentales Stigma Zeichen von Heiligkeit, quasi eines gottgegebenen Talents. So verweise die von Geburt an verkrüppelte Hand eines Ritualisten die Quechua auf deren besondere spirituelle Macht. Ein solches Verständnis von Behinderung ist jedoch nicht ausnahmslos; die starke Geh- und Sprachbehinderung eines später verstorbenen Kindes führten seine Eltern darauf zurück, dass der Junge an einem von bösen Geistern bewohnten Ort geboren sei (Rösing 1999, 32–35, 37). In der andinen Kosmologie ist Behinderung Resultat eines entstandenen energetischen Ungleichgewichts zwischen dem individuellen Leben und der es umgebenden Umwelt. So versteht ein yachak – ein ›Wissender‹ bzw. ›Weiser‹, wie Schamanen und Heiler von den Quechua bezeichnet werden – etwa Autismus als Störung zwischen Individuum und seiner Mit-Welt, die mitunter durch die Verunreinigung der Lebensmittel durch Giftstoffe, aber auch bei der Empfängnis entsteht. Die Mapuche kennen wiederum drei Ursachen für das oben zitierte kutrhan che: Vererbung, Übernatürliches und Spiegelreaktionen. Letztere umschreiben ein moralisches Fehlverhalten, etwa der Eltern gegenüber einer behinderten Person. Dieses wird dadurch gesühnt, dass das Kind von eben jener Anomalie betroffen sein wird, die seine Mutter und Vater ausgelacht haben (Pérez Serrano 2008, 54– 55). Auch in anderen indigenen Gruppen Lateinamerikas gelten Krankheit und Behinderung als Strafe, die begründet ist in der Übertretung eines moralischen Gebots (vgl. etwa für die Ayoreo des Gran Chaco Renshaw 2006, 58).

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Ein vom ›Ständigen Forum für Indigene Angelegenheiten‹ der Vereinten Nationen im Jahr 2013 veröffentlichter Bericht verweist darauf, dass bei indigenen Personen die Wahrscheinlichkeit höher sei, von Behinderungen betroffen zu sein; diese beinhalteten gerade auch Einschränkungen der mentalen Gesundheit, die dazu führten, dass die Selbstmordrate unter der indigenen Bevölkerung besonders gravierend sei (Foro Permanente para las Cuestiones Indígenas 2013, 6). Denn während die Selbstmordraten in Südamerika im Vergleich zu Europa gering sind, gehören sie unter manchen indigenen Ethnien zu den höchsten weltweit. Seit mehreren Jahren immer wieder im Blickfeld der Öffentlichkeit sind die überdurchschnittlichen Selbstmordraten von vor allem männlichen Indigenen, die im Pantanal-Feuchtgebiet von Brasilien beheimatet sind, etwa unter den GuaraníKaiowá. Der Ethnologe Alfred Metraux beschrieb bereits im Jahr 1943 eine »suicidal mania« vornehmlich junger Erwachsener unter den Matako des argentinischen Gran Chaco, die beide Geschlechter gleichermaßen betraf. Während medizinische Studien die eklatant hohe Zahl von Suiziden unter der indigenen Bevölkerung in Südamerika als Folge von »mental health disorders« und »psychosocial distress« einordnen, fasst dagegen Ernst Halbmayer die diesbezügliche Forschung in der ethnologischen Fachliteratur dahingehend zusammen, »that suicide among South American Indians is not the result of psychic depression, mental dysfunction or long-term existential suffering« (Halbmayer 2008, 73). Vielmehr würden sie als Reaktion auf aktuelle Konflikte gedeutet, die u. a. durch den Einfluss der westlichen Moderne und dem damit einhergehenden kulturellen Anpassungsdruck verursacht seien. Darüber hinaus sei Selbstmord in indigenen Kulturen Südamerikas als Strafe und Racheakt zu verstehen, der zum Ziel habe, unter den Hinterbliebenen Leiden und Zwietracht hervorzurufen. In diesem Sinne sei die Suizid begehende Person keine, die einen Ausweg aus ihrem Ohnmachtsgefühl suche, sondern die durch den Selbstmord eine neue Existenz annehme, in der sie gegenüber ihren Angehörigen Gewalt auszuüben vermag, ohne dabei physisch gegen sie anzugehen, was wiederum einem Normenverstoß gleichkäme. Schließlich gilt es festzuhalten, dass das Verständnis von Behinderung im heutigen indigenen Lateinamerika ebenso von westlichen, christlichen sowie schulmedizinischen Konzepten durchdrungen ist, also mitunter interkulturellen Charakter angenommen hat (Miranda Galarza 2008, 177, 180).

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II  Geschichte der Vorstellungen  –  B  Konzepte außerhalb Europas und der USA

31.2 Umgang mit Behinderung Ein entscheidendes Kriterium für den Umgang mit Behinderung in den indigenen Kulturen Lateinamerikas ist deren öffentliche Sichtbarkeit, also die Einbeziehung der betroffenen Person in den Alltag, in das soziale, politische wie ökonomische Leben; dies umfasst die Frage nach ihrer gesellschaftlichen und rechtlichen Stellung und damit nach dem möglichen Grad an Partizipation in der Gemeinschaft. Die indigenen Chronisten Felipe Guamán Poma de Ayala (ca. 1535–1616) und El Inca Garcilaso de la Vega (1539–1616) beschreiben, welche Arbeiten Menschen mit verschiedenen Behinderungen im kolonialen Südamerika des ausgehenden 16. Jahrhunderts übernahmen; Blinde etwa säuberten und kämmten Baumwolle oder hülsten Maiskolben aus. Auf diese Weise wurden sie in den Produktionsprozess einbezogen, je nach ihren entsprechenden Fähigkeiten (Pérez Serrano 2008, 19–21). Gerade in ländlichen Gebieten des indigenen Lateinamerika ist die soziale Inklusion von Personen mit physischen und mentalen Einschränkungen auch gegenwärtig zu beobachten; erleichtert wird diese durch die flexiblen Bedingungen, die Subsistenzwirtschaft und eine Wohnsituation im Kreis der oftmals erweiterten Kernfamilie mit sich bringen. Die Vielfalt an Hausgewerbe sowie an Tätigkeiten auf dem Feld oder Markt und damit einhergehende Aktivitäten erlauben es, Kindern, älteren und behinderten Menschen geeignete Aufgaben zuzuteilen und sie so in die alltägliche Routine und den heimischen Arbeitsprozess zu integrieren. »Menschen [mit Behinderung] haben teil und werden nicht als Problem wahrgenommen, wenn sie etwas leisten können oder ihre Betreuung relativ reibungslos organisiert werden kann«, resümiert Brigitte Holzer den Umgang mit behinderten Menschen in einer zapotekischen Gemeinde (Holzer 1999, 5). Behinderung, so Holzer weiter, werde innerhalb der von Subsistenzwirtschaft geprägten Gesellschaft deswegen akzeptiert, weil diese auf die Befriedigung unmittelbarer Bedürfnisse hin orientiert sei und Abhängigkeiten sowie wechselseitige Hilfestellung die normale Alltagspraxis prägten (ebd., 6). Das bedeutend selbstredend nicht, dass die Betroffenen ihre physische und mentale Behinderung nicht als Beeinträchtigung wahrnehmen; doch diese kann in einem auf Reziprozität basierenden sozialen System durch die Übernahme nachgefragter Dienste gegenüber der Gesellschaft kompensiert werden. Folglich sind es auch interpersonelle Beziehungen, die in den

indigenen Kulturen Lateinamerikas sehr viel stärker als im ›Westen‹ über die soziale Einordnung einer Behinderung mitentscheiden (Rösing 1999, 38, 40). Vermag es die behinderte Person, in ein entsprechendes soziales Kapital zu investieren, kann sie auf einschlägige Beziehungen und Kontakte verweisen, mindert dies die durch den Körper erfahrenen Einschränkungen und ermöglicht dabei die Annahme einer »social personhood« und damit die Teilhabe an der Gesellschaft (Gotto 2009). Problematisch wird ihre Behinderung für die betroffenen Menschen freilich dann, wenn eine solche Kompensation durch reziprokes Handeln nicht möglich ist; in diesem Fall ist auch ihre Partizipation am sozialen Leben massiv eingeschränkt. Dementsprechend lassen sich im Umgang mit Behinderung in den indigenen Kulturen Lateinamerikas auch Praktiken der Exklusion beobachten; so würden Kinder mit physischen wie mentalen Behinderungen aus Scham von ihren Eltern versteckt gehalten oder abwertend als ›Dummerchen‹ bezeichnet werden (López Chávez 2018, 35, 37–38). Behinderungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie die betroffenen Menschen dauerhaft in ihrer Physis oder Psyche beeinträchtigen, also nicht oder nur graduell heilbar sind. In der andinen Quechua- bzw. Kichwa-Kultur dominiert ein integrales bzw. holistisches Verständnis von Krankheit bzw. Gesundheit, welches Körper und Geist zueinander in Beziehung setzt. Dementsprechend wird ein yachak versuchen, in Heilungsriten, z. B. durch das Einflößen von pflanzlichen Aufgüssen, das oben zitierte Gleichgewicht zwischen dem Körper der Patientinnen und Patienten und ihrer Mit- und Umwelt wiederherzustellen (López Chávez 2018, 44; López Hernández/Teodoro Méndez 2006, 23).

31.3 Kulturelle Darstellungsformen Artistische Darstellungen von Behinderungen im indigenen Lateinamerika lassen sich bereits für die präkolumbische Epoche nachweisen. Das abgebildete Bügelgefäß aus Keramik (Abb. 31.1) entstammt der Moche- bzw. Mochica-Kultur (etwa 200–800 n. Chr.), die entlang der Nordküste des heutigen Peru verbreitet war; es ist datiert auf ca. 650 n. Chr. und war vermutlich eine Grabbeilage. Die Figur zeigt eine sitzende Person, die eine meditative Haltung eingenommen hat. Während die großen Ohrringe männliche Schmuckgegenstände sind, ist das lange Gewand eigentlich ein typisch weibliches Bekleidungsstück.

31  Indigene Kulturen Lateinamerikas

Die uneindeutige Darstellung des Geschlechts sowie die besondere Körperposition verweisen auf eine hervorgehobene spirituelle Rolle der abgebildeten Person. In diesem Kontext ist das von Verstümmelungen gekennzeichnete Gesicht bemerkenswert. Die fehlende Oberlippe, der Defekt an der Nasenspitze sowie das kaum vorhandene Augenlid deuten auf eine durch Leishmaniose verursachte Entstellung hin. Die in den Tropen verbreitete mukokutane Leishmaniose wird durch Sandmücken übertragen und führt zu Läsionen im Bereich von Nase, Mund und Rachen; unbehandelt kann sie tödlich enden. Die oben dargestellte Person aber lebt, hat die Krankheit vermutlich überstanden und ist doch von ihr gezeichnet und wird mit den davongetragenen Einschränkungen für immer zu leben haben. Die physische Anomalie hat den hohen sozialen Status der Person nicht gemindert – im Gegenteil: vermutlich hat sie ihr diesen erst verschafft. Die Darstellung porträtiere weniger ein Opfer, sondern einen Sieger, der aus der Erfahrung der physischen Schädigung gestärkt hervorgehe, eventuell sogar mit neuen spirituellen Kräften ausgestattet sei. So scheint in der Moche-Kultur physische Behinderung nicht gleichbedeutend mit sozialer Exklusion, sondern vielmehr mit einer gesellschaftlichen Vorrangstellung (vgl. auch Heck 1982, der ähnliche Plastiken der Moche-Kultur mit Fruchtbarkeitskulten in Verbindung bringt). »The Native American positive attitude toward anomalous bodies – seeing them as decidedly not disabled – seems fairly unusual in world history and culture«, kommentiert Rebecca Stone das oben abgebildete Objekt (Stone 2018, 7).

31.4 Intersektionalität und Rechte von indigenen Menschen mit Behinderung in Lateinamerika Gemäß Schätzungen eines im Jahr 2011 von der WHO und Weltbank veröffentlichten Berichts sind unter den rund 360 Millionen Indigenen weltweit etwa 54 Millionen von einer Behinderung betroffen. In den sieben Ländern Lateinamerikas, in denen entsprechende Statistiken erhoben worden sind, zeigt sich, dass zumeist die Zahl der Menschen mit Behinderung unter der indigenen Bevölkerung höher ist als im nationalen Durchschnitt (in Costa Rica, Ecuador, Mexiko, Panama, Uruguay). Jedoch fehlen für Lateinamerika wie auch für die meisten Regionen weltweit verlässliche, regelmäßig überprüfte Daten.

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Abb.  31.1  »Leishmaniasis Survivor Effigy Stirrup Spout Vessel« (Michael C. Carlos ­ Museum Collections Online, http://carlos. digitalscholarship. emory.edu/items/ show/7564). Mit freundlicher Geneh­ migung.

Kaum statistisch abgebildet sind darüber hinaus Informationen über etwaige Maßnahmen zur sozialen Inklusion von Indigenen mit Behinderung. Denn sie sind in besonderer Weise von mehreren, sich überschneidenden Formen der Benachteiligung bzw. Mechanismen der Intersektionalität betroffen (s. Kap. 46); oftmals ist ihre Lebenssituation erschwert durch Armut, Marginalisierung und Diskriminierung. Viele leben in ländlichen Gebieten, die nur unzureichend mit einer adäquaten Infrastruktur ausgestattet und zugleich fernab von den Metropolen des jeweiligen Landes gelegen sind. Eine hinreichende Befriedigung der Grundbedürfnisse ist oftmals nicht gewährleistet, insbesondere nicht der Zugang zu Medikamenten, Gehund anderen Hilfsmitteln, zu einer medizinischen Versorgung und Rehabilitationsmöglichkeiten. Eingeschränkt ist für behinderte Indigene auch ein angemessenes Schul- und Bildungsangebot, die Inanspruchnahme staatlicher Förderung gestaltet sich besonders aufwendig. Die Folge ist, dass viele Betroffene nicht umfassend Kenntnis haben von entsprechenden Hilfsprogrammen sowie von ihren Rechten als Behinderte. Viele indigene Kinder und Jugendliche mit Behinderung besuchen den Schulunterricht nur unregelmäßig. Eine weitere Problematik, die behinderte Menschen indigener Herkunft betrifft, ist eine sprach- und kultursensible Begleitung. Nur wenige Fachkräfte sind imstande, Indigene mit Behinderung in ihrer Muttersprache zu betreuen oder das jeweilige kulturelle Verständnis von Gesundheit, Krankheit und Behinderung in der therapeutischen Praxis zu berücksichtigen. Indigenes Wissen wird durch die Schulmedizin zurückgedrängt und invisibilisiert. Dadurch kann Behinderung die kulturelle Assimilierung von Indigenen

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II  Geschichte der Vorstellungen  –  B  Konzepte außerhalb Europas und der USA

zusätzlich verstärken. Ein Leben in der eigenen Gemeinschaft kann dieses Risiko reduzieren – dies allerdings nur, wenn die oben genannten Bedürfnisse beachtet werden. Daher betont der Bericht des ›Ständigen Forums für indigene Angelegenheiten‹ (2013) den Schutz von gleichermaßen individuellen wie kollektiven Rechten von indigenen Menschen mit Behinderung. Das Recht der Indigenen auf freie Selbstbestimmung müsse Basis jedweder politischen Maßnahme sei, die zum Ziel hat, die Rechte indigener Personen mit Behinderung zu schützen und zu fördern. So müsse ihnen der volle Zugang zum nationalen Rechtssystem sowie dem indigenen Gewohnheitsrecht garantiert werden; das bedeute u. a. die Bereitstellung alternativer Kommunikationsformen, etwa für Taube, Stumme oder Blinde, beispielsweise der Gebrauch der Gebärdensprache. Insgesamt lässt sich festhalten, dass nicht nur das Wissen über die rechtliche Stellung von indigenen Personen mit Behinderung sowohl bei diesen selbst als auch allgemein in den jeweiligen nationalen Gesellschaften äußerst gering ist. Auch in den einschlägigen Texten der Vereinten Nationen finden indigene Menschen mit Behinderung kaum oder nur indirekt Erwähnung (vgl. aber immerhin Artikel 21 und 22 der »Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker« von 2007 sowie die Präambel und den Artikel 19 der »UN-Behindertenrechtskonvention« aus dem Jahr 2006) (Foro Permanente para las Cuestiones Indígenas 2013; Rivas Velarde 2018). Es gilt also weiterhin, das Bewusstsein für die vulnerable Situation indigener Menschen mit Behinderung zu stärken und dabei insbesondere das jeweilige kulturelle Verständnis von Behinderung, einschließlich der damit einhergehenden Praktiken der Inklusion und Exklusion (s. Kap. 16), mit zu berücksichtigen. Literatur

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Anna Meiser

32  China und Japan

32 China und Japan 32.1 Einleitung Konzepte zum Begriff der Behinderung variieren stark: In unterschiedlichen Bezugssystemen und Theorien, in verschiedenen Epochen und in unterschiedlichen Kulturen formte und formt sich der Begriff different aus. Der Aspekt sozialer Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung war und ist jedoch in dieser Konzeptvielfalt eine Konstante. Ebenso scheint es, dass die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) über 180 Staaten und Staatenverbünde (und vor allem deren Rechtssysteme) auf globaler Ebene mit dem Ziel einer inklusiven Gesellschaftsentwicklung (s. Kap. 16) vereint. Inwieweit dies in gleichem Maße und in gleicher Geschwindigkeit auch für die Kulturen und die diese tragenden und konstituierenden Menschen zutrifft, darf und muss hinterfragt werden. Wie weit lassen sich Nationen und Staaten derzeit noch von globalen (Selbst-)Verpflichtungen leiten, wenn es in den Systemen Widerstände gibt, die auch noch stark und öffentlich artikuliert werden? In den Ländern des Globalen Nordens sind z. B. die Widerstände gegen eine Auflösung separierender Sonderschulsysteme (s. Kap. 15) zugunsten einer inklusiven Beschulung stark und werden auch aus einer kulturierten Erfahrung genährt, dass Sonderschulen das ›Beste für das Wohl der Kinder‹ sind. Der Blick auf kulturelle Implikationen in inklusiven Entwicklungsprozessen kann und muss Anknüpfungspunkte für weitere erfolgreiche Strategien liefern. Daher erscheint es interessant zu hinterfragen, was den gesellschaftlichen Umgang von Menschen mit Behinderung in verschiedenen Kulturen ausmacht. Dieser Beitrag konzentriert sich auf die Situation von Menschen mit Behinderung in China und Japan. Die Kombination von China und Japan in einem Beitrag folgt der Setzung, dass die gemeinsamen kulturhistorischen Wurzeln bis heute (zumindest für einen Blick aus Europa) Nähe generieren. China und Japan verbinden u. a. die Einflüsse des Konfuzianismus, des Buddhismus auf das Wertesystem sowie die Bedeutsamkeit der Kategorie Harmonie. Beide Länder haben sich der Umsetzung der UN-BRK verschrieben. Die Vergabe, Vorbereitung und die Durchführung der Paralympischen Spiele (s. Kap. 14) haben für einen wahrhaft positiven ›Schub in der Wahrnehmung‹ von Behinderung und zu einer konsequenten Gestaltung barrierefreier öffentlicher Räume geführt. Die chinesischen Besucher haben 2008 die Paralympics zu ihren

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eigentlichen Sommerspielen gemacht. Die erschwinglichen Eintrittskarten führten dazu, dass die Sportstätten und die Wettkämpfe erobert und mit Euphorie gefüllt werden konnten. Auch die Spiele 2020 in Tokio hätten einen vergleichbaren Erfolg erwarten lassen: An der Ticketlotterie nahmen 390.000 Japaner teil – dreimal mehr als bei den Spielen in London 2012. Dennoch hat eine konfliktreiche Historie, die Kriege und manifeste Feindschaften umfasst, auch Distanz zwischen den beiden Ländern hinterlassen. Die politischen Entwicklungen in unterschiedlichen Lagern nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges haben frische Gräben geschaffen, die zu überwinden es Anstrengungen auf allen Gebieten erfordert. Ein gemeinsamer Blick auf wegweisende historische Ereignisse in beiden Ländern hilft nachzuvollziehen, auf welchen Wegen sich die Gesellschaften in China und Japan bezüglich des Umgangs mit Menschen mit Behinderung befinden.

32.2 Behinderung in der chinesischen Gesellschaft Die chinesische Kultur zählt zu den ältesten Kulturen weltweit, die vor vielen tausend Jahren ihren Ursprung hat (Chang/McConkey 2008). Bereits in frühen Phasen dieser Entwicklung ist die Kategorie Behinderung präsent: In einigen alten Legenden wurden Menschen mit Behinderung z. B. göttliche und übernatürliche Kräfte zugeschrieben (Lu 1996; Guo 2012). Um den Umgang und das Verständnis der chinesischen Gesellschaft mit dem Thema Behinderung nachzuvollziehen, ist es jedoch notwendig, den gesellschaftlichen Einfluss des Konfuzianismus und des Buddhismus näher zu beleuchten.

32.3 Konfuzianismus Seit Kaiser Wu (156–87 v. u. Z.) gilt der Konfuzianismus als leitende Weltanschauung des Staates und ist die Basis für sämtliche Ebenen gesellschaftlichen Lebens. Die Arbeiten der Philosophen Kong Fuzi (Konfuzius) (551–479 v. u. Z.) und Mengzi (Mencius) (372–289 v. u. Z.) gelten als die klassischen Werke, in denen das Konzept ›Ren‹ (Wohlwollen/Tugend) entfaltet wird (Roetz 1992). Die Bedeutung des Konzepts ›Ren‹ beinhaltet Liebe und besonders Nächstenliebe und hat einen hohen ethischen und moralischen Stellenwert im Hinblick auf gesellschaftliche Werte, wo-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_32

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II  Geschichte der Vorstellungen  –  B  Konzepte außerhalb Europas und der USA

mit z. B. Harmonie und Familienzentriertheit gemeint sind (Park/Chesla 2007). Im Konfuzianismus gibt es fünf wesentliche menschliche Beziehungstypen (Eltern-Kind, Herrscher-Bürger, Mann-Frau, Alte-Junge, FreundFreund). Um harmonische Beziehungen zu führen, müssen die Menschen wohlwollend miteinander umgehen. Respekt gegenüber Älteren, Wertschätzung der Jüngeren, Unterstützung für die Schwachen und Hilfe für behinderte Menschen sind daher moralische Werte, die aus dem Konfuzianismus hergeleitet werden und bis heute Gültigkeit haben (Mencius 2015, 28). Wohlwollen ist eines der Ideale im Konfuzianismus. In der menschlichen Entwicklung ist der tugendhafte Mensch, der Edle (ren zhe / jun zi), die höchste Stufe und damit das wichtigste Bildungsziel. In der vom Konfuzianismus beeinflussten Erziehungswissenschaft werden zwei handlungsleitende Prinzipien für das Erreichen höchster Tugendhaftigkeit diskutiert: So soll einerseits Bildung unabhängig von sozialer Stellung für alle zugänglich und andererseits auch individuell angepasst sein, damit alle nach Moral streben und zur Entfaltung des individuellen Charakters gelangen können (Liaw 1992, 52). Hervorzuheben ist jedoch, dass sich sämtliche Leitgedanken und Konzepte im Konfuzianismus ausschließlich auf Menschen ohne Behinderung beziehen, denn das Idealbild des Menschen zeichnet sich durch körperliche und mentale Makellosigkeit aus. Für einen Menschen höchster Tugendhaftigkeit gelten u. a. gute Seh- und Hörfähigkeit sowie ein freundlicher Gesichtsausdruck als relevante Kriterien. Dieses Idealbild und die Tatsache, dass Menschen mit hohem Status gesellschaftlicher Respekt gebührt, führt zu niedriger sozialer Stellung und geringer gesellschaftlicher Repräsentation von Menschen mit Behinderung. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass in der über 2000-jährigen Geschichte feudaler Dynastien kein systematisches Bildungswesen für Menschen mit Behinderung aufgebaut wurde (Xiao 2005). Für das Verständnis der gesellschaftlichen Konventionen ist ein Blick auf Funktion und Rolle der Familie unerlässlich. Die Versorgung von Menschen mit Behinderung wird als Familiensache angesehen und der Großteil chinesischer Familien übernimmt z. B. Pflegeaufgaben als Teil familiärer Verpflichtungen. Statt einer gesellschaftlichen Anerkennung für die Annahme dieser Herausforderung müssen Familien behinderter Menschen jedoch häufig Schuldzuweisung für die Entstehung der Behinderung ertragen und empfinden daher oft große Scham (Chang/

McConkey 2008). Besonders die Mütter behinderter Kinder fühlen sich schuldig, da sie es als ihre moralische Pflicht ansehen, gesunde (respektive nicht beeinträchtigte oder behinderte) Kinder auf die Welt zu bringen (Huang/Gove 2012). So überrascht es wenig, dass Kinder mit Behinderung aus Angst vor Diskriminierung proaktiv von der Teilhabe an gesellschaftlichen Aktivitäten ausgeschlossen werden. Die Exklusion behinderter Menschen über historisch lange Zeiträume und mit kulturellen Begründungslogiken führt gesamtgesellschaftlich zu großer Unwissenheit über Behinderung und folglich zu einer Verstärkung von Ignoranz, Vorurteilen, Stereotypen und Diskriminierung (Zhang/Song 2012).

32.4 Buddhismus Neben dem Konfuzianismus spielt auch die Religion Buddhismus (s. Kap. 18) eine große Rolle, die zu Beginn des ersten Jahrhunderts in China eingeführt wurde. Der Buddhismus gehört seither zum am weitesten verbreiteten Glauben in China und beeinflusst den gesellschaftlichen Umgang (He/Cao 2007, 103– 108). Kulturhistorisch ist zu beobachten, dass die Lehren des Buddhismus und des Konfuzianismus miteinander verschmolzen sind und somit gemeinsam das chinesische Moralverständnis und Wertesystem geprägt haben. Die buddhistischen Konzepte Gnade und Barmherzigkeit haben Parallelen zum Konfuzianismus, die sich letztendlich im Verständnis niederschlagen, dass innere Werte wichtiger sind als äußere und dass soziale Harmonie, Toleranz und Unparteilichkeit gegenüber allem Lebenden besondere Tugenden sind (Bayarsaikhan/Hartke 2009, 39). Im Buddhismus wird das Leben als die Summe aller Leiden begriffen, und die Optionen für eine Wiedergeburt sind durch eine Kausalkette beschrieben. Jede Missachtung moralischer Grundsätze begünstigt Elend in der Wiedergeburt und die Ansammlung guter Taten verhilft den Menschen einen höheren Status und das ewige Leben zu erreichen (Chang/McConkey 2008). Das Konzept zum Karma bringt weitere, spezielle Begründungszusammenhänge für die vermeintlichen Ursachen von Behinderung und Krankheit hervor, die dazu führen, dass Eltern behinderter Kinder sich oft minderwertig fühlen, soziale Kontakte meiden und in Isolation leben (ebd.). Die Wirkmechanismen des Einflusses von Konfuzianismus und Buddhismus sind jedoch nicht mo-

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nokausal und zeigen Widersprüche auf. Einerseits gelten Wohlwollen und Barmherzigkeit als handlungsleitend im gesellschaftlichen Miteinander und andererseits befördert das menschliche Idealbild viel Diskriminierung derer, die diesem nicht entsprechen. Für Menschen mit Behinderung ist es nahezu unmöglich, gesellschaftlich hohes Ansehen und Erfolg zu erreichen, was sich im niedrigen sozialen Status (und aktuell auch im eingeschränkten nichtakademischen Berufswahlfeld für Menschen mit Behinderung) manifestiert. Optimistisch stimmen daher die Bemühungen, den Zugang zu schulischer und tertiärer Bildung für Menschen mit Behinderung positiv zu verändern.

32.5 Bildung für Menschen mit Behinderung Der Reformprozess der Öffnung führte in den 1970er Jahren zum Aufbau eines separierenden Sonderschulsystems (auch unter Einbeziehung ehemaliger Missionsschulen insbesondere für blinde und gehörlose Kinder) und gewährte zumindest einem Teil der Kinder und Jugendlichen mit Behinderung einen geregelten Zugang zu schulischer Bildung. Mit Ratifizierung der UN-BRK im Jahr 2008 hat sich die VR China zum Aufbau eines inklusiven Bildungssystems verpflichtet, was an einen gesellschaftlichen Wandlungsprozess im Umgang mit Menschen mit Behinderung geknüpft ist. Inzwischen ist es in China auch möglich, dass Lernende die wohnortnahen öffentlichen Schulen besuchen. Die inklusive Schulentwicklung Chinas wird hauptsächlich vom in Europa und Nordamerika vorherrschenden Normalisierungsprinzip (s. Kap. 42) beeinflusst, so dass die Grundidee, allen Lernenden einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung zu verschaffen, darin aufgenommen wurde (Xiao 2005). Qua normativer Setzung sind sowohl Sonderpädagogik und Inklusive Bildung inzwischen anerkannte und eigenständige Fachgebiete (Chinese Ministry of Education 2014, 2017). Eine wichtige Aufgabe von bildungspolitischen Entscheidungsträgern besteht darin, in einer nach wie vor konfuzianischen und buddhistisch geprägten Gesellschaft dafür einzutreten, dass alle Lernenden ein Recht auf Teilhabe an einer hoch qualitativen, chancengleichen und inklusiven Bildung haben, welches unabhängig vom Wohlwollen oder der Gnade einer Gesellschaft zu gewähren ist. Um inklusive Schulentwicklung voran zu treiben und nicht zuletzt die posi-

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tive Wahrnehmung und das Selbstbestimmungsrecht von Menschen mit Behinderung in der chinesischen Gesellschaft zu stärken, wird es notwendig sein, die tradierten moralischen Werte und Normen mit den Grundideen der Inklusion zu verschmelzen.

32.6 Behinderung in der japanischen Gesellschaft Japan hat ca. 127 Millionen Einwohner und zeichnet sich durch die Zielsetzung einer hohen sprachlichen und kulturellen Harmonie aus. Der Umgang mit dem Thema Behinderung erfolgt dennoch nicht ganz so unproblematisch, wie es zunächst erscheinen mag. Die eingangs erwähnten erfolgreichen Effekte der paralympischen Bewegung belegen das aktuelle öffentliche Interesse für Menschen mit Behinderung in der japanischen Gesellschaft. Die Beschäftigungsrate von Menschen mit Behinderung liegt jedoch bei aktuell ca. 40 %, was angesichts einer allgemeinen Arbeitslosenquote von stabil unter 2,5 % dramatisch gering ist. Der Zugang zu Schulbildung ist für alle Kinder rechtlich verankert, jedoch beschränkt sich das Angebot qualitativ hochwertiger Bildung für Kinder mit Behinderung aktuell noch stark auf ein separierendes Sonderschulwesen. Auch Japan steht vor der Herausforderung, behinderten Kindern den Schulbesuch in wohnortnahen Schulen zu ermöglichen und somit ein inklusives Bildungssystem zu entwickeln.

32.7 Tempelschulen und Kinder mit Behinderung Im Jahr 1878 wurde in Kyoto die erste öffentliche Schule für behinderte Kinder gegründet, fast ein Jahrhundert nach den Gründungen der weltweit ersten institutionalisierten Bildungsangebote für Menschen mit Gehörlosigkeit (1770) und Blindheit (1784) in Paris. Vor Eröffnung der Schule in Kyoto gab es jedoch schon vereinzelt Bildungsangebote für behinderte Kinder im Rahmen der Tempelschulen (Terakoya). Während der Edo-Periode (1603–1868) verfolgten die Tempelschulen allgemein das Ziel, Kindern Grundbildung zu vermitteln. In den 1840er Jahren haben schätzungsweise zwischen 30.000 und 40.000 Kinder eine Tempelschule besucht. Es bestand keine Schulpflicht, jedoch lag die Einschulungsrate bei 70 bis 80 %, und das führte auch zu einer hohen Alphabetisierungsrate innerhalb der Bevölkerung (Ishiyama o. J.; Metropoli-

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tan Library, o. J.). Obwohl es nicht ausdrücklich beabsichtigt war, wurden 8,6 % der Tempelschulen auch von Kindern mit Behinderung besucht, von denen die meisten blind, gehörlos ober körperbehindert waren (Nakamura/Arakawa 2003). Letztendlich waren zu dieser Zeit die Bildungschancen von Menschen mit Behinderung stark von konkreten Lebenslagen, so auch vom Wohlwollen der Lehrer abhängig.

32.8 Berufe von Menschen mit Behinderung – Blinde Musiker: Biwa Hoshi und Goze Im 14. Jahrhundert haben sowohl Männer als auch Frauen mit Blindheit oder Sehbehinderung ein weitestgehend finanziell unabhängiges Leben führen können, wenn sie als Musiker*innen oder Akkupunkteure, also in sozial anerkannten Berufen, tätig waren. Während blinde und sehbehinderte Männer als reisende Lautenspieler (Biwa Hoshi) ihren Lebensunterhalt verdienten, taten Frauen dies mit heiligem Gesang (Goze) und Lautenspiel (Shamisen). Während der Edo-Periode (1603–1868) erlebte das urbane Japan eine musikalische Blüte, in der es vielen blinden und sehbehinderten Musiker*innen gelang, von ihrer Kunst zu leben, auch indem sie Kleinbauern, reichen Kaufleuten sowie deren Kindern Unterricht gaben (Groemer 1999). Dem Gesang der Goze wurden auch spirituelle Kräfte zugeschrieben: Seide wurde bevorzugt aus Regionen bezogen, in denen sich die Kokons der Seidenraupen von Goze begleitet entwickeln konnten. Auch in den Reisanbaugebieten versprach man sich eine reichere Ernte durch den Goze-Gesang. Haru Kobayashi (1900–2005) war eine blinde Sängerin, die bis 1978 als letzte Goze aktiv war und als lebendiger Nationalschatz Japans betitelt wurde.

32.9 Akupunktur und Waichi Sugiyama Seit der Edo-Periode ist Akupunkteur bis heute der häufigste Beruf unter Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung. Waichi Sugiyama (1610–1694) ist der wohl bekannteste blinde Akupunkteur, der bei dem ebenfalls blinden Yamase Takuichi ausgebildet wurde. Zu seiner Zeit wurden zwei unterschiedliche Arten zur Durchführung der Akupunktur entwickelt, wozu Waichi einen wichtigen Beitrag leistete. Mit dem Kanshinhou-Stil revolutionierte er die Technik der

Akupunktur für Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung, bei der ein kleines Röhrchen zur Führung der Akupunkturnadel dient, was den Vorgang zum Setzen der Nadeln erheblich erleichtert. Die Kanshinhou-Technik wird bis heute von blinden und sehenden Akupunkteuren angewendet.

32.10 Todo: Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderung Das Leben mit Behinderung war und ist mit vielen Barrieren insbesondere in der beruflichen Teilhabe verbunden. Im 16. Jahrhundert wurden zur Stärkung ihrer Position im beruflichen Feld durch blinde Menschen Gilden gegründet, die als Todo in die Geschichte eingingen. 1634 wurden die Todo vom ersten Shogun, Ieyasu Tokugawa (1542–1616), anerkannt und zur Festschreibung von Satzungen, die klare Ränge innerhalb der Gilden festschrieben, angehalten. Während der frühen Edo-Periode entwickelten sich landesweit lokale Todo-Niederlassungen, die jeweils unter Aufsicht eines Ranghöchsten (Kengyo) standen, der u. a. die Aufgabe hatte, sowohl die blinden Menschen einer Region zu beaufsichtigen als auch sicherzustellen, dass Sehende nicht gegen die traditionellen Rechte Blinder verstoßen (Kato 1974). Das Todo-System bewahrte Musik und Akupunktur lange als erfolgreiche berufliche Domänen für Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung. Es wurde jedoch 1871 im Rahmen der Meiji-Restauration abgeschafft. Seit den 1930er Jahren wurden mehr und mehr Sehende ShamisenSpieler und nach und nach auch im Bereich der Akupunktur ausgebildet.

32.11 Indigener Glaube und sein Beitrag zu einer harmonischen Gesellschaft Es gibt Erklärungsansätze, die die homogene und harmonische Atmosphäre der japanischen Gesellschaft in einer Verbindung shintoistischer Traditionen mit Elementen des Genze Riyaku verortet sehen. Genze Riyaku (›(dies-)weltliche Wohltat/(dies-)weltlicher Nutzen‹) wird als Matrix verstanden, in der sich die japanische Religion in einer Gemeinsamkeit aller sozialen Klassen und Gruppen entwickelt und in die auch lokale und importierte Götter so eingebunden werden, dass sie der weiteren Aufrechterhaltung und dem Ausbau des Genze Riyaku dienen (Reader/Tanabe 1998; Groemer 2014).

32  China und Japan

32.12 Fazit Der kurze Blick auf den gesellschaftlichen Umgang mit dem Thema Behinderung in China und Japan zeigt vor allem eine intensive Wirkung kultureller Vorstellungen in den Bereichen der Teilhabe von Menschen mit Behinderung an Bildung und an Arbeit. Insbesondere die tradierten, spezifischen Rechte in ausgewählten Berufsfeldern (z. B. Musik und Massage / Akkupunktur für blinde Menschen) erzeugen Ambivalenz: Sicherten sie über Jahrhunderte Einkommen und sozialen Stand, behindern sie aktuell die Erweiterung der Berufswahlfelder und teilweise auch den Zugang zu tertiärer Bildung in seiner Breite (z. B. durch das Vorhalten von Universitäten für behinderte Menschen, insbesondere für blinde und gehörlose Studierende). Auch beim Aufbau eines inklusiven Bildungssystems wirkt die lange (und erfolgreiche) Tradition segregierender Sonderschulen in Japan und China eher hemmend bei der Implementierung gemeinsamer Beschulungsmodelle und der notwendigen Individualisierung allgemeiner Bildungskonzepte. Literatur

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Sven Degenhardt / Wiebke Gewinn /  Hisae Tsuda-Miyauchi / Yuexin Zhang

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33 Kanada 33.1 Behinderung auf dem Podest In vielen Städten Kanadas steht ein Denkmal für Terrance (›Terry‹) Stanley Fox (*28. Juli 1958 in Winnipeg; † 28. Juni 1981 in New Westminster), einem kanadischen Leichtathleten, dem im Alter von 18 Jahren wegen einer Knochenkrebserkrankung das rechte Bein amputiert werden musste und der ab dieser Zeit eine Oberschenkelprothese zum Laufen nutzte. Um Geld für die Krebsforschung zu sammeln, setzte er sich trotz der Behinderung das Ziel, täglich 42 km, die Strecke eines Marathons, zu bewältigen und quer durch Kanada zu rennen. Diesen Lauf nannte er Marathon of Hope. Fox startete 1980 in Neufundland, im Nordosten Kanadas, nach 143 Tagen und über 5000 zurückgelegten Kilometern musste er sein Vorhaben vorzeitig beenden; 1981 starb er mit 22 Jahren an den Folgen der Krebserkrankung. Terry Fox ist in Kanada ein nationaler Held: Statuen, die ihn durchweg mit seiner Prothese und in Sportkleidung zeigen, stehen beispielsweise in Thunder Bay, Ontario, wo er den ›Marathon der Hoffnung‹ beendet hat, vor dem kanadischen Parlament in Ottawa oder in Victoria, der Hauptstadt von British Columbia. In Vancouver hatte man 1984 ein erstes Monument gebaut, nach den Olympischen Winterspielen und Paralympics wurde 2010 vor dem Olympiastadion im Zentrum der Stadt ein zweites Denkmal für ihn errichtet. Fox erhielt zu Lebzeiten und posthum viele Ehrungen. 1980 wurde er zum Kanadier des Jahres gewählt und 1981 in die kanadische Sports Hall of Fame aufgenommen. Ein Gipfel in den Rocky Mountains, 15 Highways im ganzen Land, ein Schiff und eine Bohrversorgungsinsel sowie mehr als ein Dutzend Schulen sind nach ihm benannt. Es gibt eine Ein-Dollar-Gedenkmünze und mehrere Briefmarken mit seinem Konterfei, über sein Leben wurden mehrere TV-Filme gedreht, und jedes Jahr werden in dreißig Ländern der Erde Terry-Fox-Läufe durchgeführt, um Spenden für die Krebsforschung zu sammeln. Über all das berichtet die Web-Side der Terry Fox Foundation, die auch einen Online-Shop mit Gedenk-T-Shirts betreibt (https://terryfox.org/). – Ist es ein Zufall, dass in Kanada eine ›weiße‹ und männliche Persönlichkeit aufs nationale Podest der öffentlichen Anerkennung eines Menschen mit Behinderung gehoben wird? In Toronto wurde 1994 die Disability Hall of Fame gegründet. Jedes Jahr werden bis zu fünf Menschen

mit einer Behinderung in die Ruhmeshalle aufgenommen, »outstanding Canadians who have made extraordinary contributions to enriching the quality of life for people with physical disabilities« (https://www. cfpdp.com/canadian-disability-hall-of-fame/). Auch bei den über hundert Persönlichkeiten mit einer Behinderung aus dem Sport, dem Militär, der Politik, der Wissenschaft und der Kunst, die bislang hier verewigt wurden, dominieren die ›weißen‹ Männer. Zwar wurden einige ›weiße‹ Frauen geehrt und mehrere Menschen, deren familiäre Wurzeln in Asien oder in Europa liegen. Aber bislang wurden keine Afrocanadians oder First Nations (die offizielle Bezeichnung der kanadischen Aboriginals) in den illustren Kreis aufgenommen. In der zweitgrößten Metropole Kanadas, dem zweisprachigen Montreal/Montréal, stehen im gesamten Stadtgebiet verteilt ein Dutzend Skulpturen zum Thema Behinderung, die alle von Harry Rosen gefertigt wurden, einem inzwischen pensionierten, international renommierten Zahnmediziner des Montreal General Hospitals (https://drharryrosen.ca/). Seine Erdund Steinskulpturen zeigen abstrakte, alters-, geschlechts- und gesichtslose menschliche Wesen. Die ›Körper‹ werden aus übereinandergelegten Ringen gebildet, die an Verbandsmaterial erinnern und die Figuren wie ein Korsett eng umschließen, sie einschnüren und unbeweglich machen. Man sieht es den Skulpturen an, dass ihnen körperliche Bewegungen aufgrund dieser Ein- und Beschränkungen schwerfallen müssen. Dennoch sind alle Figuren in einer Siegerpose gestaltet, weil sie gerade ein Hindernis erfolgreich überwinden konnten: Sie haben mit einem Stock einen Berggipfel erklommen, sie klettern ›irgendwie‹ über Steinhaufen und Baumstämme, sie nutzen Gehhilfen oder Rollatoren, sie stemmen schwere Hanteln. Eine solche Skulptur steht seit 2014 beispielsweise auf dem Vorplatz des McGill Rehabilitation Centre, der größten Einrichtung für Menschen mit Körperbehinderungen in der Stadt. Rosen hat die Figur ›Maximus‹ – der Größte – genannt, im zweisprachigen Untertitel steht das Motto: »Vouloir C’est Pouvoir. Where there’s a will, there’s a way«. In diesen Darstellungen von Beeinträchtigungen im öffentlichen Raum spiegelt sich eine dominante Form der Thematisierung von Behinderung in Kanada wider: Behinderung wird nicht versteckt, sondern als etwas gezeigt, das zur Gesellschaft gehört. Man könnte einen kulturwissenschaftlichen Bezug zur Inklusion herstellen (s. Kap. 16), denn dieser Begriff wurde bereits 1982 in der kanadischen Verfassung

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_33

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(»Charter of Rights of Freedom«) verankert (Köpfer 2012, 2). Malhotra (2012, 202) weist darauf hin, dass einige entscheidende Passagen der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) auf Formulierungen der kanadischen Verfassung zurückgehen, was einen gewissen Einfluss der kanadischen Delegation bei der Erstellung des Entwurfs zum Übereinkommen belege. Zugleich lassen sich die Darstellungen zu Behinderung auch mit dem Konzept des ›Empowerment‹ in Verbindung bringen, das in Kanada ebenfalls von größter Bedeutung ist (Theunissen 2013, 97). Dieser politische Ansatz fordert gesellschaftliche Bedingungen, die es Menschen trotz Beeinträchtigungen ermöglichen, selbstbestimmt zu leben, erfolgreich zu sein, ihre Potentiale entfalten und etwas leisten zu können. Die beschriebenen Denkmäler und Skulpturen zeigen solch ›empowerte‹ Personen, sie drücken Selbsthilfe und Selbstinitiative aus und behaupten, dass Jede/r es schaffen kann. Sie präsentieren Figuren, die willensstark sind, ein klares Ziel vor Augen haben und die ihre Ressourcen aus eigener Kraft mobilisieren. Doch neigen sie somit auch zur Verherrlichung des individuellen Leistungsvermögens, und Behinderung wird eher einseitig nur als etwas ›zu Überwindendes‹ dargestellt.

33.2 Geschichtsschreibung zu Behinderung in Kanada Forschungen zur Kulturgeschichte der Behinderung in Kanada sind noch eher neu, ein Großteil der historischen Arbeiten ist nach 2000 erschienen (Reaume 2012, 37). Untersucht wird vor allem die Zeit ab Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Institutionalisierung der Behinderungsarbeit, verbunden mit der Archivierung von Akten, beginnt, und somit überhaupt erst auswertbare historische Quellen vorliegen. Es lassen sich mehrere historiographische Formen und Typen unterscheiden: • Die Geschichtsschreibung zu verschiedenen sozialen Gruppen, wie beispielsweise zu Menschen, die blind, gehörlos oder körperbehindert sind. In diesen Studien, wie z. B. das voluminöse Buch Deaf Heritage in Canada (Carbin 2006), wird oftmals der Beitrag der jeweiligen Community für die Entwicklung der kanadischen Gesellschaft und Kultur dargestellt und in gewisser Weise ›gefeiert‹. Die Texte folgen dem Muster der »Great man narratives« (Reaume 2012, 40) und

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es wird vermieden, beispielsweise Rassismus, Sexismus oder Homophobie in der jeweiligen sozialen Gruppe der Behinderung zu analysieren (ebd., 41). • Insider-Geschichte, in der zumeist Akteur*innen und Aktivist*innen von Selbsthilfeorganisationen über ihre Erfahrungen schreiben. So hat Euclid Herie (2005) ein Buch über die Geschichte des Canadian National Institute for the Blind (CNIB) verfasst, deren langjähriger Präsident er gewesen ist; das Buch ist somit Teil seiner persönlichen Geschichte. So wünschenswert solche Studien auch seien, in denen Menschen mit Behinderung ihre eigene Geschichte schreiben, leisten die bislang vorliegenden Bücher doch keinen differenzierten (selbst-)kritischen Beitrag zur Geschichtsschreibung der Behinderung, sondern präsentieren überwiegend eine institutionelle und politische Erfolgsgeschichte (Reaume 2012, 42). • Oral-History, die auf der Basis von Interviews mit Menschen mit Behinderung geschrieben ist. Als Pionierin wird Mary Tremblay (1993) genannt, die in zahlreichen Arbeiten bereits in den 1930er bis 1960er Jahren durch Interviewauswertungen die historische und kulturelle Situierung der Befragten herausgearbeitet hat (Reaume 2012, 43–45). • Immigrations- und Aboriginalgeschichte. Diese rekonstruiert für den Zeitraum Mitte des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts, dass kanadische Behörden Einwandernde abgelehnt oder ausgewiesen haben, wenn diese eine schwere Erkrankung bzw. eine Behinderung hatten oder als feebleminded (›schwachsinnig‹) galten (Menzies 1998; Chadha 2008; Capurri 2010). Diese Studien fragen, »how race impacts Canadian disability history« (Reaume 2012, 51), eine Problemstellung, die auch im Umgang mit den First Nations relevant ist, die in dieser Epoche häufig in psychiatrischen Einrichtungen eingesperrt waren und deren Leben mit solchen rassistischen Praktiken zerstört wurde (Menzies/Palys 2006). Kritisiert wird am Stand der historischen Forschung zu Behinderung in Kanada, dass die Erschließung von Quellen bislang insgesamt dürftig sei, die Historiographien oftmals nicht theoriegeleitet geschrieben werden, es zu wenige auf diese Thematik spezialisierte Archive gebe und auch nur selten, beispielsweise in Form von Ausstellungen, eine Geschichtsaufarbeitung zu Behinderung stattfinde, die eine breitere Öffentlichkeit erreichen könne (Reaume 2012, 57).

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33.3 Das vergessene Kanada Im multiethnischen und multikulturellen Kanada stellt sich auch die Frage nach ›anderen‹ Konzepten von Behinderung. »The cultural conceptualisation and understanding of the notion of disability within Indigenous communities is underresearched. The definition and perception of disability within the Aboriginal community is different from that of mainstream Canada. Consequently, it can be difficult to reconcile traditional Indigenous teachings with contemporary political realities. Disabilities within Aboriginal communities tend to be considered special gifts or powers which enable people to communicate with the spiritual world.« (Dion 2017, 5)

Als ein Beispiel für dieses ›andere‹ Modell des Umgangs mit Behinderung wird häufig eine Erzählung der Cree zitiert, eine der größten Gruppen der kanadischen First Nations: Ein alter weiser Mann berichtet, wenn in früheren Zeiten ein Kind mit einer Gaumenspalte geboren wurde, galt dies nicht als abstoßend, sondern wurde als das Zeichen einer besonderen Beziehung des Kindes mit der Spirituellen Welt gesehen (Johnson 1998, 423). Gleichwohl ist kaum etwas bekannt darüber, ob die Cree-Sprache oder eine andere der mehr als sechshundert First Nations-Sprachen in Kanada überhaupt ein Wort für Behinderung hatten, welche Formen von Behinderung in diesen kulturellen Gruppen wahrgenommen bzw. differenziert und ob wirklich alle Beeinträchtigungen wertgeschätzt wurden. Jedenfalls gelten First Nations mit Behinderung heute als eine der am meisten unterdrückten und marginalisierten sozialen Gruppen in Kanada (Dion 2017, 32). First Nations leben zu etwa zwei Dritteln in ländlichen Reservaten, zu einem Drittel überwiegend als urban poor in den Großstädten. Statistiken weisen in beiden sozialen Kontexten für First Nations einen markant überdurchschnittlich hohen Anteil von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit schweren Hör- und Sehbeeinträchtigungen, Suchtkrankheiten und körperlichen Behinderungen aus (vgl. Hahmann/ Badets/Hughes 2019). Erklärt werden diese quantitativen Ungleichheiten aus den Lebensbedingungen in den Reservaten und somit als psychosoziale Folge der Armut, unzureichender medizinischer Versorgung sowie mangelnder Präventions-, Interventions- und Rehabilitationsangebote. Deshalb behaupten manche, First Nations mit Behinderungen seien von der kana-

dischen Gesellschaft und Regierung »forgotten and ignored« (Phillips 2010). Nach einer langen Geschichte der Vertreibung, Kolonisierung, Unterdrückung und Assimilierung der Aboriginals in Kanada bildeten sich ab den 1980er Jahren soziale Bewegungen, die sich für eine kulturelle Selbstbestimmung einsetzten, im Bildungsbereich beispielsweise mit dem Ziel der »Indian Control of Indian Education« (vgl. Pidgeon/Munoz/Kirkness u. a. 2013). Denn First Nations haben die staatlichen Bildungseinrichtungen Kanadas mehr als hundert Jahre lang als massiv gegen ihre Kultur gerichtete Institutionen erlebt. Etliche First Nations misstrauen diesen Bildungseinrichtungen immer noch oder fühlen sich in ihnen fremd (ebd.). Dies führte ab Mitte der 1980er Jahre im ganzen Land zur Einführung von First Nations Schools mit bilingualem Unterricht (First Nation-Sprache, dann Englisch oder Französisch). Ab 2000 wurden in diesem eigenständigen Teilsystem des Schulwesens auch Special Education Programs (SEP) eingeführt, um Schülerinnen und Schüler mit einer Behinderung in ihren lokalen Schulen gezielt sonderpädagogisch zu fördern (vgl. zu alldem Schroeder 2016). Zuvor mussten diese Kinder in weit von ihrem Wohnort entfernt gelegene Sonderschulen mit Internaten wechseln. Zumeist konnte dann der Unterricht nicht mehr in der First NationSprache fortgeführt werden. Es gibt jedoch bislang nur wenige First Nation Schools mit barrierefreien Schulgebäuden, und in den teilweise sehr abgelegenen ›Zwergschulen‹ mit manchmal nur 15 Schülerinnen und Schülern kann notwendiges Fachpersonal für Sonderpädagogik, Diagnostik und Beratung aus Kostengründen oftmals nicht angestellt werden. Zugespitzt formuliert, müssen sich First Nations-Kinder mit einer Behinderung zwischen zwei schulischen Angeboten entscheiden: Inklusive Public Schools in den urbanen Zentren, an denen sie im Allgemeinen gute sonderpädagogische Unterstützungsangebote vorfinden, aber ihr kultureller Hintergrund oder ihre Sprache im Unterricht kaum berücksichtigt werden, oder bilinguale und bikulturelle First Nations Schools, die ihnen jedoch nur eine karge sonderpädagogische Förderung bieten können. Etwas anders gelagert ist die Problematik bei Afrocanadians mit einer Behinderung. Kanada hat lange Zeit versucht, die Einwanderung von Schwarzen zu verhindern: »Canada’s historical anti-Black immigration policy was mitigated in large part by the idea, that admitting Blacks meant the nation was just asking for problems (i. e. race riots) that Britain and the U. S. had

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to bear for having Black residents« (James 2012, 25). Diese historische Ausgrenzung wirkt zumindest in Form von Alltagsrassismus bis heute nach. Deshalb gibt es schon länger Bestrebungen, ›Black Schools‹ einzurichten (Dei 1996), in Toronto wurde 2009 schließlich eine erste gegründet (vgl. Schroeder 2016). Die Eltern der Africentric School in Toronto wehrten sich vehement gegen die Einführung des Special Needs Program, weil sie eine zusätzliche Stigmatisierung der Kinder und der Schule befürchteten: »A critical challenge for administrators and teachers who wanted to modify, alter, and support the learning experiences for students with exceptionalities was attempting to navigate through the stigma some parents associated with special needs education based on well-founded and historic mistrust of an education system that has over-labeled Black students. [...] Special education is extremely political when it comes to Black children. Special education means intelligence; that’s what’s in the minds of Black people because that’s what they have been systematically taught.« (James/Howard/Samaroo u. a. 2014, 46)

Der weltweit verbreitete biologistische »Rassismus der Intelligenz« (Bourdieu 1993, 254–255), der u. a. postuliert, schwarze Menschen seien weniger intelligent als weiße und deshalb könnten sie nur geringe Schulleistungen erreichen bzw. müssten speziell gefördert werden, wird auch im Diskurs der Stadtgesellschaft Torontos in Teilen reproduziert. Insbesondere in den Medien wird außerdem immer wieder behauptet, die Regelschulen würden ihre schwierigen schwarzen Schüler an die Africentric School abschieben und dies führe dort zu einer Ansammlung verhaltensauffälliger Kinder und Jugendlicher (James/Joward/Samaroo u. a. 2014, 44–45) – ein weiteres Beispiel, wie ›Rasse in die kanadische Geschichte der Behinderung eingeschrieben ist‹ (Reaume).

33.4 Multikulturalismus und Inklusion Seit grundlegenden Verfassungsänderungen ab den 1970er Jahren definiert Kanada sich als eine multikulturelle Gesellschaft (Geißler 2011, 161). Ein wichtiges politisches Instrument hierfür ist, unterdrückten oder marginalisierten Bevölkerungsgruppen ein hohes Maß an kultureller Selbstbestimmung einzuräumen. Auch für Menschen mit Behinderung gibt es einen sehr hohen gesellschaftlichen Konsens zur Herstel-

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lung umfassender sozialer und kultureller Inklusion. Kritische Stimmen weisen jedoch darauf hin, dass die Bestimmungen der UN-BRK noch nicht nachhaltig erfüllt werden (Malhotra 2012, 202): Die Umsetzung ist den einzelnen Provinzen und Territorien überlassen, und es gibt bislang keine Bundeseinrichtung, die entsprechende Aktivitäten befördert, koordiniert und kontrolliert. Alle Forderungen seitens der Behindertenverbände nach Ernennung eines/einer Beauftragten auf Regierungsebene, nach einem Ständigen Parlamentarischen Ausschuss oder einer unabhängigen zentralen Anlaufstelle für Angelegenheiten von Menschen mit Behinderung sind bislang politisch abgeschmettert worden. Der Council of Canadians with Disabilities (CDD) behauptet sogar, dass Kanada nicht voll hinter den der UN-BRK zugrundeliegenden Leitgedanken stehe (ebd., 203). Betrachtet man allerdings die kanadische Geschichte des politischen Umgangs mit Diversität, lässt sich durchaus ein verbreitetes gesellschaftliches Bemühen konstatieren, die kulturelle Anerkennungspolitik voranzubringen und Multikulturalismus mit Inklusion zu verknüpfen. Literatur

Bourdieu, Pierre: Soziologische Fragen. Frankfurt a. M. 1993. Capurri, Valetina: Canadian Public Discourse around issues of inadmissibility for potential immigrants with diseases and disabilities 1902–2002. PhD Dissertation, Department of History, York University. Toronto 2010. Carbin, Clifton F.: Deaf Heritage in Canada: A distinctive, diverse and enduring culture. Toronto 2006. Chadha, Ena: »Mentally defectives« not welcome: Mental Disability in Canadian Immigration Law 1859–1927. In: Disability Studies Quarterly 28/1 (2008). http://www.dsqsds.org/article/view/67/67 (19.02.2020). Dei, George J. Sefa: The Role of Afrocentricity in the Inclusive Curriculum in Canadian Schools. In: Canadian Journal of Education 2 (1996), 170–186. Dion, Jacinthe: Falling through the cracks: Canadian indigenous children with disabilities. Mc Gill Centre for Human Rights and Legal Pluralism. Working Paper Series 5/12. Montreal 2017. Geißler, Rainer: Multikulturalismus – das kanadische Modell des Umgangs mit Diversität. In: Wolf-Dietrich Bukow/Gerda Heck/Erika Schulze/Erol Yildiz (Hg.): Neue Vielfalt in der urbanen Stadtgesellschaft. Wiesbaden 2011, 161–174. Hahmann, Tara/Badets, Nadine/Hughes, Jeffrey: Indigenous People with disabilities in Canada: First Nations people living off reserve, Métis and Inuit aged 15 years and older. In: Aboriginal Peoples Survey. Ottawa 2019, 3–20. Herie, Euclid: Journey to independence: blindness – the Canadian story. Toronto 2005. James, Carl E.: Life at the Intersection. Community, Class and Schooling. Halifax and Winnipeg 2012.

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Joachim Schroeder

34  Behinderung im Globalen Süden

34 Behinderung im Globalen Süden Konzeptionen und Lebenssituationen von Menschen mit Behinderungen im Globalen Süden darzustellen, kann im Folgenden nur exemplarisch am Beispiel der afrikanischen Staaten, insbesondere Südafrikas, geschehen. Dabei soll auf einige wesentliche Faktoren und Rahmenbedingungen sowie auf traditionelle Konstruktionen von Behinderungen eingegangen werden. ›Globaler Süden‹ ist ein Begriff, der zuerst von dem italienischen Marxisten Antonio Gramsci formuliert wurde, um darzustellen, wie das südliche Italien von den nördlichen, kapitalistisch geprägten Provinzen kolonialisiert wurde (Dados/Connel 2012, 12–13). Er grenzt die Entwicklungs- und Schwellenländer gegenüber den reichen Industrieländern des Globalen Nordens ab und wirkt im Gegensatz zur vormals gebräuchlichen Einteilung in ›Erste‹, ›Zweite‹ und ›Dritte Welt‹ nicht abwertend. Mehr als 80 % aller Menschen mit Behinderungen weltweit leben in den Ländern des Globalen Südens (WHO 2011, 29; UN Enable 2006). Ihre Lebensumstände sind häufig geprägt durch gesellschaftliche Exklusion, Diskriminierung, Gewalt und Armut (Deepak 2011, 5–6; WHO 2018). Darüber hinaus sind sich alle Autor*innen darin einig, dass Armut und Behinderung unmittelbar miteinander zusammenhängen (WHO 2011; Grech 2017, 217–233; Schneider/Mokomane/Graham 2017, 365–374) (s. Kap. 48). Dass die gesellschaftliche Konstruktion von Behinderung im Globalen Süden nicht überall ähnliche Facetten und Ausprägungen aufweist, zeigt schon ein Blick auf die heterogene Liste der Länder, zu denen neben der Türkei und Serbien und zahlreichen afrikanischen und asiatischen Staaten auch Länder wie Brasilien, Argentinien und Jamaika zählen (OECD 2020). Dementsprechend heterogen und komplex zeigen sich auch die kulturellen, gesellschaftspolitischen und ökonomischen Rahmenbedingungen von Menschen mit Behinderungen im Globalen Süden, ihre unterschiedlichen historischen Entwicklungen und vielfältigen Narrationen (Grech/ Soldatic 2017; Ingstad/Whyte 1995). So ist es z. B. bei den Kamayurá, einem Stamm mit mehr als 600 Mitgliedern am Südrand des brasilianischen Amazonasgebiets, seit vielen Generationen üblich, Kinder mit Behinderungen zu töten. Auch Kinder lediger Mütter oder Zwillinge, die als böses Omen betrachtet werden, zählen zu den Opfern dieser Tradition. Ähnliche Traditionen lassen sich auch für weitere indigene Völker Brasiliens feststellen (Oliveira 2018). Lässt sich die Tötung von Kindern bei indigenen Völ-

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kern vor dem Hintergrund ihrer harten Lebensbedingungen historisch erklären, so steht sie doch im klaren Gegensatz zur brasilianischen Verfassung und zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Auch die traditionellen Sichtweisen auf Menschen mit Behinderungen in Ghana veranschaulichen die nicht generalisierbaren, je nach Ethnie und Region sehr unterschiedlichen Narrationen des ›Phänomens‹ Behinderung. So gehen die Dagomba (Northern Region) davon aus, dass kleinwüchsige Kinder durch Geschlechtsverkehr zwischen 12 Uhr nachts und vier Uhr morgen entstehen, da in dieser Zeit Zwerge unterwegs sind und in die Geschicke der Menschen eingreifen (Gadagbui 2013, 7). Die Hausa (Northern Region) führen Behinderungen darauf zurück, dass Frauen während der Menstruation Geschlechtsverkehr hatten, und die Erklärung der Asanti (Ashanti Region) für die Geburt von Kindern mit Behinderungen ist das Essen der schwangeren Frau in der Öffentlichkeit, da sie dort durch Hexen verzaubert werden könnte (ebd.). Die in der Volta Region ansässigen Ewes sollen ihre Kinder nur engsten Verwandten und Freunden zeigen, da es in der Öffentlichkeit passieren kann, dass Kinder vom bösen Blick getroffen und dadurch Schaden erleiden (ebd.). Ebenso sollen schwangere Frauen der Ewes während der Schwangerschaft keinen Gefallen ausschlagen, da sie sonst die Wahrscheinlichkeit erhöhen, ein behindertes Kind zu gebären (Gadagbui 2013, 7). An diesen wenigen Beispielen wird schon ersichtlich, dass die historisch gewachsenen patriarchalischen Strukturen einen großen Einfluss auf die Feminisierung der Konstruktion von Behinderung haben. Behinderung entstammt allein der Frau, die das Kind in sich trägt, wenngleich auch diese traditionelle Sichtweise auf Behinderung in den letzten Jahrzehnten zahlreichen Kulturationseinflüssen ausge­ setzt war, auf welche im weiteren Verlauf dieses Beitrags noch eingegangen wird. Nichtsdestotrotz spielen geschlechtsspezifische Zuschreibungen bei der subjektiven und gesellschaftlichen Bewertung von Behinderungen in vielen Ländern des Globalen Südens eine wichtige Rolle. So zeigen z. B. Studien aus Uganda und Botswana (vgl. Ingstad/Whyte 1995, 137–138), dass der Umgang mit erblindeten Ehepartnern zwischen den Geschlechtern differiert. So ist es durchaus nicht ungewöhnlich, dass eine sehende Frau mit einem blinden Ehepartner verheiratet ist, allerdings bevorzugen Männer sehende Ehefrauen. Die Autor*innen dieser Studie führen dies darauf zurück, dass der Mann in

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_34

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der traditionellen afrikanischen Familie auf die ökonomischen, sozialen und kulturellen Fähigkeiten der Frauen angewiesen ist. Sie kümmern sich um den Haushalt, sind für die Nahrungsversorgung zuständig und pflegen Beziehungen zu Freunden und Nachbarn (ebd., 137–138). Neben den geschlechtsspezifischen Unterschieden im Hinblick auf das Konstrukt Behinderung und den eingangs erwähnten zumeist negativen Konnotationen von Behinderung als ›Strafe der Götter‹ gibt es auch zahlreiche Hinweise auf andere Perzeptionen von Behinderung. »In some places, the perception [...] [of disability] was once seen as a gift, a source of wisdom or a welcome contact with the spirits or the spiritual or philosophical life [...]« (UN 2013, 6). Diese positive Sichtweise von Menschen mit Behinderung findet sich in zahlreichen weiteren Erzählungen. Sie werden als »the gifted once« oder »the special people« (Shakel 2008, 37) beschrieben. Viele indigene Völker – nicht nur des Globalen Südens – haben häufig überhaupt kein Wort für Behinderung (UN 2013, 6), z. B. die Maasai, die indigene Bevölkerung Kenias und Tansanias (Talle 1995, 56–57). Auch wenn die Maasai, wie viele andere indigene Völker, Krankheiten als göttliche Herausforderung sehen, steht der Mensch mit seinen spezifischen Fähigkeiten und Eigenschaften und nicht die Behinderung in der gesellschaftlichen Zuschreibung im Vordergrund: »A child is a child whatever it looks like« (ebd., 69). Auf der anderen Seite, so beschreibt es Patrick Devlieger in seinem Beitrag zu physischen Behinderungen in afrikanischen Gesellschaften, ist die Frage des »Why me?« (Devlieger 1995, 98) tief in der kulturellen Prägung afrikanischer Gesellschaften verankert und jeweils Ausdruck der traditionellen Überzeugungen und spirituellen Verflechtungen. Dabei stehen sich traditionelle Konzepte und Erzählungen von Behinderung und aktuelle Diskurse nicht dichotom gegenüber. Es gibt zahlreiche weitere Erzählungen der Völker des Globalen Südens, die an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden können. Die angeführten Beispiele machen indes deutlich, wie heterogen sich die Konstruktionen von Behinderung in den Ländern des Globalen Südens darstellen. Hierbei spielt neben traditionellen und kulturellen Faktoren eine Vielzahl weiterer Einflüsse eine große Rolle. Ein wesentlicher Faktor ist der Einfluss postkolonialer Hegemonie. Es steht außer Frage, dass eine kulturwissenschaftliche Betrachtung von Behinderung nicht umhinkommt, den Einfluss kolonialer und damit hegemo-

nialer Machtkonstellationen auf die Sicht von Behinderung deutlich zu machen. So wurden die meisten Studien in den Ländern des Globalen Südens aus einer stark westlich-europäisch geprägten Perspektive konstruiert, oftmals ohne die historischen, traditionellen und spezifischen Lebensumstände der jeweils relevanten Bevölkerungsgruppen ausreichend miteinzubeziehen (Grech 2011; Rioux/Pinto/Viera u. a. 2017). Diese westlich-europäische Konstruktion von Behinderung und die Folgen kolonialer Einflüsse, insbesondere die christlich religiösen Transformationen (Betcher/Wangila 2017, 117–128), prägen bis heute die Lebensumstände von Menschen mit Behinderungen in Ländern des Globalen Südens und die Programme staatlicher und nichtstaatlicher Entwicklungszusammenarbeit; dabei vernachlässigen diese oftmals traditionelle sozioökonomische Voraussetzungen auf der Mikro-, Meso- und Makroebene. Aber auch diese Einflüsse sind nicht starr oder irreversibel, sondern im Sinne einer »diskursiven Konstruiertheit des anderen und die Verwobenheit von Fremd- und Selbstbild« (Struve 2012, 96) zu begreifen und zu interpretieren. Dieses kann am Beispiel der Subsahara-Staaten Afrikas, insbesondere an Südafrika, verdeutlicht werden. Die jüngeren Entwicklungen der Disability Rights Movements (s. Kap. 29) sind in Afrika immer im Kontext der spezifischen Unabhängigkeitsbestrebungen einzelner Staaten seit den 1950er Jahren zu verstehen. Gerade in Südafrika rückten die Rechte von Menschen mit Behinderungen als Antwort auf die jahrelange Unterdrückung der (nicht nur) schwarzafrikanischen Bevölkerung durch das Apartheidsystem in den Fokus gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen (Rowland 2004). Mit der im April 1991 als Arbeitspapier veröffentlichten »Bill of Rights«, welche das Herzstück der Verfassung Südafrikas bildet, wurden Fragen der Gleichberechtigung von Geschlechtern, Kulturen und Hautfarben als konstitutiver Bestandteil der Verfassung garantiert. Behinderung wird nicht (mehr) als Kuriosum betrachtet, sondern als Teil der Mehrheitsgesellschaft. Diese neue Sicht auf Behinderung reflektiert zum einen den großen Einfluss des ›liberation struggle‹ des African National Congress (ANC) mit seiner berühmtesten Persönlichkeit, Nelson Mandela. »Free at last«, der Ausspruch Mandelas nach den ersten freien demokratischen Wahlen Südafrikas im April 1994, adressiert alle Menschen unabhängig von ihrem sozioökonomischen Status. Zum anderen, so beschreibt es der erste Vorsitzende der ›South African Human Rights Comission‹, Barney Pityana, ist die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behin-

34  Behinderung im Globalen Süden

derungen Ausdruck einer im afrikanischen Kontext tief wurzelnden Sichtweise von ubuntu – der traditionellen Sichtweise der Rekursivität von Individuum und Gesellschaft (Rowland 2004, xi). Um die gesellschaftliche Konstruktion von Behinderung in den Subsahara-Staaten Afrikas verstehen zu können, ist es unerlässlich, die philosophische und konzeptionelle Basis von ubuntu zu erläutern. Das ubuntu-Konzept hat in den letzten Jahrzehnten eine Renaissance erlebt, nicht zuletzt als Antwort auf postkoloniale Vergesellschaftungsformen. Es ist vielleicht die indigene afrikanische Antwort auf eine eurozentrische Konstruktion von Gesellschaft. Die ubuntuPhilosophie macht die Beziehung der Menschen in einer Community zum Ausgangspunkt aller weiteren Reflexionen auf der Meso- und Makroebene von Gesellschaft (Mupedziswa/Rankopo/Mwansa 2019, 21– 35). Sie geht davon aus, »that community strength comes out of community support, and that dignity and identity are achieved through the values of mutualism, empathy, generosity, and community commitment« (ebd., 22). Dieses Konzept, auch als afrikanischer Humanismus bezeichnet, setzt den unbedingten Respekt des anderen als menschliches Wesen voraus und verweist darauf, dass die eigene Menschlichkeit tief in der des anderen verwurzelt ist, »so that we belong in a bundle of life« (ebd., 22). Oder, wie es in er Sprache der Xhosas heißt: Umuntungumuntu ngabantu (›a person is a person through others‹). Es sollte deutlich geworden sein, welchen großen Einfluss das ubuntu-Konzept auch auf die kulturellnormative Auffassung von Behinderung hat. »[U]buntu is predicated on the quid pro quo mantra – which emphasizes reciprocity, a spirit of sharing, and belief that one earns respect by respecting and empowering others« (Mupedziswa/Rankopo/Mwansa 2019, 23). Dabei reicht das ubuntu-Konzept bis weit in die zentralafrikanischen Staaten hinein, und es lassen sich zahlreiche ähnliche Begriffe finden, welche die Philosophie von ubuntu umschreiben, so u. a. botho (Botswana), gimuntu (Angola), bumuntu (Tansania) oder bomoto (Kongo). Trotz der ubuntu-Philosophie afrikanischer Staaten bleibt die Situation von Menschen mit Behinderungen in Ländern des Globalen Südens allerdings prekär und oftmals exklusiv, was vor allem an den soziökonomischen Lebensbedingungen liegt. Menschen mit Behinderungen in den Ländern des Globalen Südens sind überproportional von Armut betroffen. Für Frauen mit Behinderungen stellt sich die Situation ungleich prekärer dar. Gehören Frauen weltweit sowieso zu der am stärksten von Armut betroffe-

189

nen Bevölkerungsgruppe, so trifft dies auf Frauen mit Behinderungen umso mehr zu (s. Kap. 47). Armut indes, darauf weisen zahlreiche empirische Studien hin, zieht eine Fülle weiterer soziökonomischer Folgeerscheinungen nach sich, u. a. die Benachteiligung im Bildungssystem, eine schlechtere Gesundheitsversorgung und Ernährung sowie die häufige Exklusion von Erwerbsarbeit (vgl. u. a. Daniel 2018) (s. Kap. 8). Darüber hinaus werden Menschen mit Behinderungen weltweit häufiger Opfer von Gewalt. Sie sind deutlich stärker von den Folgen von Naturkatastrophen betroffen und von den Auswirkungen kriegerischer Auseinandersetzungen, sei es durch physische Beeinträchtigungen durch direkte Gewalt oder z. B. durch Landminen, sowie von den psychischen Folgen derselben. Die politische Herausforderung bleibt die Bekämpfung der prekären Lebensverhältnisse von Menschen mit Behinderungen in den Ländern des Globalen Südens. Das übergreifende Ziel der Agenda 2030 im Kontext der Sustainable Development Goals (SDGs) ist die umfassende Bekämpfung aller Formen von Benachteiligung. Das Versprechen der United Nations im Rahmen der Verfolgung der SDG-Ziele, ausdrücklich die prekäre Situation von Menschen mit Behinderungen des Globalen Südens in den Blick zu nehmen, bedarf einer soliden Datenbasis und der konsequenten Beobachtung. »To leave no one behind« (Mont 2019, 11) kann nur gelingen durch ein differenziertes Monitoring. So weist u. a. Daniel Mont darauf hin, dass ein Land als Ganzes durchaus erfolgreich sein und z. B. Fortschritte im Bereich der Bildung vorweisen kann, diese Fortschritte jedoch nicht in allen gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen vorzufinden sind (ebd., 13). Um dieser Tatsache Rechnung zu tragen, hat die Washington Group on Disability Statistics (WG), eine Untergruppe der United Nation Statistical Comission, einen Fragenkatalog (Washington Short Set – WG-SS) entwickelt, der eine transnationale vergleichende Analyse der Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen ermöglichen soll. Dieser WG-SS basiert auf dem bio-psychosozialen Modell von Behinderung und ist damit deutlich besser in der Lage, die spezifischen Barrieren, Lebensbedingungen und Erzählungen von Behinderungen abzubilden. Dies kann als Chance betrachtet werden, z. B. indigene Konstruktionen von Behinderungen stärker als bisher zu berücksichtigen und sichtbar zu machen. Eine eurozentrische Konstruktion von Behinderung kann aber auch dieser Ansatz nicht vermeiden. Letztlich bleibt auch der vorliegende Beitrag subjektiv und eurozen-

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II  Geschichte der Vorstellungen  –  B  Konzepte außerhalb Europas und der USA

trisch geprägt. So resümiert Bartholomäus Grill, langjähriger Afrika-Korrespondent, in seiner Selbstreflexion bei der Betrachtung eines Bildes von Romuald Hazoumé: »Es wirkt wie Afrika. So einfach, so rätselhaft. Wann immer ich es anschaue, sagt es mir: Versuche, die Zerrbilder der Projektionen abzulegen. Aber glaube nicht, dahinter das wahre, unverstellte, wirkliche Afrika zu erkennen. Du kannst Afrika und die Afrikaner nur mit dem europäischen Blick darstellen. Du hast keinen anderen.« (Grill 2012, 50)

Dies gilt nicht nur für Afrika. Literatur

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Michael Boecker

C Geschichte spezifischer Behinderungen 35 Deaf History: Klöster im 16. und 17. Jahrhundert Christliche Institutionen spielten lange eine bedeutende Rolle in der Schulbildung. Über Jahrhunderte hinweg hatten insbesondere Klöster hohen gesellschaftlichen Einfluss und eine wichtige kulturelle Funktion in Europa. Häufig waren sie die einzigen Orte, an denen Bildung und Wissenschaft stattfand. In Bezug auf Gehörlosenbildung herrschte lange die Meinung vor, dass taube Personen keine Bildung erfahren konnten. Allerdings gibt es Beispiele dafür, dass taube Kinder trotzdem eine Ausbildung erhielten. Dabei scheint die bewusste Ablehnung von Gehörlosenbildung insbesondere in der katholischen Kirche teilweise als Sünde betrachtet worden zu sein (Villwock 2012a, 13). Erklärtes Ziel war der Erhalt der heiligen Sakramente, dessen Voraussetzung eine Unterweisung in der christlichen Lehre war. So sind vor allem ab dem 16. Jahrhundert Fälle von Gehörlosenbildung belegt, in denen Kirchenangehörige Kinder unterrichteten. Neben vereinzelten Beispielen außerhalb von Klöstern fand diese Schulbildung meist im monastischen Kontext statt (ebd.). Ein weiterer wichtiger Aspekt in Bezug auf Gehörlosenbildung war die rechtliche Situation von Familien mit tauben Kindern. Juristisch gesehen wurden taube Personen in zwei Gruppen differenziert und entweder als taub geboren oder als taub ex accidente angesehen (Bruce 2007, 173). Diese Unterteilung hatte weitreichende Konsequenzen, da nur Personen, die als taub ex accidente galten, als Rechtspersonen betrachtet wurden. In aristokratischen Familien, beispielsweise in Spanien, waren im 16. Jahrhundert in etwa 10 % der Kinder aber kongenital taub. Die rechtliche Situation stellte dementsprechend ein großes Problem insbesondere für wohlhabende Familien dar, die ihre tauben Kinder nicht als rechtmäßige Erben einsetzen konnten. Der einzige Weg, die Kinder zu erbberechtigten Rechtspersonen erklären zu lassen,

waren eine erfolgreiche Schulbildung und insbesondere der Erwerb der jeweiligen Lautsprache des Landes (Plann 1997, 23–24). Unter anderem vor diesem Hintergrund wurden taube Kinder, besonders jene aus wohlhabenden und adligen Familien, zur Ausbildung in Klöster geschickt und dort in Gruppen unterrichtet. Einige dieser Kinder blieben als Ordensangehörige in einem Kloster, andere taube Menschen traten als Erwachsene in christliche Orden ein. Teilweise waren es auch Einzelpersonen, die unterrichtet wurden. Aus einem Kloster in Gernrode im Harz ist der Fall einer jungen tauben Frau überliefert, die von der Äbtissin Scholastica (1451–1504) im christlichen Katechismus unterrichtet wurde. Aufgrund des erfolgreichen Unterrichts wurde die Schülerin zum Empfang der heiligen Sakramente zugelassen. Da sie vermutlich aus keiner aristokratischen Familie stammte, ist ihr Name nicht überliefert (Emmerig 1927, 12). In anderen Fällen sind sowohl die Identität der tauben Kinder als auch die der Lehrenden bekannt. Ein Beispiel ist der Benediktinermönch Pedro Ponce de León (1508–1584), der im reichen und politisch einflussreichen Kloster San Salvador in Oña, Spanien, lebte und dort über einen Zeitraum von etwa dreißig Jahren taube Kinder unterrichtete (Plann 1997, 13– 14). Seine ersten Schüler waren die Brüder Francisco und Pedro Fernández de Velasco y Tovar, die aus einer wohlhabenden Familie stammten und im Jahr 1547 oder 1548 im Kloster eintrafen. Francisco war zu diesem Zeitpunkt ungefähr elf, Pedro sieben Jahre alt. Ihre beiden tauben Schwestern wurden zu diesem Zeitpunkt schon in Nonnenklostern unterrichtet, eine von ihnen trat 1544 als Novizin ins Kloster ein (Plann 1993, 7). Pedro Ponce de León galt als überaus motivierter Lehrer. Der behandelte Stoff scheint u. a. Lesen, Schreiben, Katechismus, Griechisch, Latein und Italienisch umfasst zu haben. Unter den gegebenen juristischen Umständen und im Interesse der gesellschaftlichen Position der Kinder war zudem die Vermitt-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_35

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II  Geschichte der ­Vorstellungen von ­Behinderung  –  C  Geschichte spezifischer Behinderungen

lung der spanischen Lautsprache und ihrer Artikulation ein wichtiges Unterrichtsziel (Bruce 2007, 176). Neben der schulischen Ausbildung war für Ponce außerdem die Seelenrettung der Jungen und ihre Erlösung durch die Vermittlung der christlichen Lehre primäres Ziel (Black 1991, 3). Ein Manuskript zum Curriculum seines Unterrichts wurde vom Papst in Auftrag gegeben und dürfte existiert haben, gilt aber seit 1814 als verschollen (Emmerig 1927, 14). Der erfolgreiche Unterricht der beiden Jungen, auch in spanischer Lautsprache, veranlasste andere Familien, ihre tauben Söhne ebenfalls ins Kloster San Salvador zu schicken. Die Kinder waren in den Alltag des Ordens integriert und nahmen aktiv am Klosterleben teil. Ein wichtiger Aspekt könnte hierbei gewesen sein, dass in der kontemplativen Gemeinschaft der Benediktiner weniger Vorurteile gegenüber den tauben Kindern bestanden als in der Gesellschaft außerhalb des Klosters. Neben dem benediktinischen Bildungsideal zeichnete sich der Orden auch durch das strenge Schweigegebot der Regula Benedicti aus, aufgrund dessen große Teile der täglichen Kommunikation der hörenden Mönche in sogenannten monastischen Gebärden stattfand. Für Mitglieder des Benediktinerordens war eine lautsprachliche Kommunikation nicht die einzige bekannte Form der sprachlichen Verständigung. Gedanken und Ideen in Gebärden auszudrücken, war Teil der täglichen Spracherfahrung. Die Signa-Listen der einzelnen Klöster beinhalteten (mit unterschiedlichem Umfang) Gebärden für alle relevanten Themenbereiche des monastischen Alltags (Barakat 1975, 3–4). Dies könnte eine generelle Offenheit in Bezug auf eine visuell-gestische Kommunikation mit den tauben Schülern zur Folge gehabt haben (Villwock 2012b, 266–268). Es gibt unterschiedliche Auffassungen darüber, wie Ponce de León und seine Schüler miteinander kommuniziert haben könnten. Da keine konkreten Dokumente erhalten sind, können Aussagen nur auf Basis von Mutmaßungen und Zeitzeugenberichten getätigt werden. Einige Autor*innen gehen davon aus, dass Ponce im Unterricht die Gebärden des Klosters und ein Fingeralphabet verwendete (Black 1991, 3; Bruce 2007, 176). Andere vermuten, dass die Kinder ihre eigenen Hausgebärden (homesigns) mit in das Kloster brachten und es zu einem Sprachkontakt mit dem monastischen Gebärdensystem kam (Cagle 2010, 14). Allerdings gibt es auch die Auffassung, dass es aufgrund der Relevanz von spanischer Lautsprache zu keinerlei visuell-gestischen Kommunikation gekommen sei.

Stokoe (1987, 328) geht davon aus, dass die Gebärden der Ordensangehörigen keine gute Verständigungsmöglichkeit für taube Kinder aus aristokratischen Familien waren, da sich die sprachlichen Kontexte von Ordensleben und spanischem Adel zu sehr unterschieden. In dieser Überlegung wird allerdings nicht beachtet, dass auch in den Signa-Listen des Benediktinerordens nicht-klerikale Gebärden existierten. Für die Ausbildung der Kinder war eine erfolgreiche Kommunikation Grundvoraussetzung. Vor diesem Hintergrund, aufgrund des vorhandenen Gebärdensystems und des Bildungsideals der Benediktiner erscheint eine Kommunikation in Gebärden und Fingeralphabet plausibel. Insgesamt sorgte Ponces Arbeit für eine veränderte gesellschaftliche Wahrnehmung in Bezug auf taube Menschen und ihre Bildungsfähigkeit. Der Erfolg seiner Schüler zeigte, dass taube Personen Bildung erfahren und die heiligen Sakramente empfangen konnten. Darüber hinaus wurde durch den Artikulationsunterricht deutlich, dass Taubheit und Stummheit nicht unbedingt zusammenhängen müssen – was für viele eine neue Erkenntnis darstellte (Plann 1993, 2–4). Die Schüler Ponce de Leóns verfolgten nach Beendigung ihrer Schulausbildung teils sehr erfolgreiche Karrieren, u. a. in Politik und Militär. Ponce de León hatte im Kloster keinen Nachfolger, gilt aber als Vorbild für andere Gehörlosenlehrer (Plann 1997, 35). Ein weiteres Beispiel für monastische Gehörlosenbildung im Spanien des 16. Jahrhunderts ist die Ausbildung des tauben Malers Fernández de Navarrete (1526–1579) im Kloster La Estrella in Logroño. Sein Lehrer war der hörende Mönch Fray Vicente de Santo Domingo, der ihn in Zeichnen und Malerei unterrichtete. Über weitere Unterrichtsinhalte ist nichts bekannt, sie scheinen aber auch Lesen und Schreiben beinhaltet zu haben (Bernard 1993, 91–92). Vermutlich ist dieses Beispiel von Gehörlosenbildung deshalb eher unbekannt, weil Navarrete im Gegensatz zu den Schülern Ponces nie lautsprachlich kommunizierte. Aus diesem Grund wurde er auch ›el Mudo‹ (›der Stumme‹) genannt. Navarrete selbst betonte, die gesprochene Lautsprache sei für ihn nicht wichtig gewesen. Auch auf dem Sterbebett legte er die letzte Beichte in Gebärden ab (Plann 1997, 20). Da er erst in der Kindheit ertaubte, könnte Navarrete juristisch trotzdem als taub ex accidente betrachtet worden sein. Neben den Fällen von monastischer Gehörlosenbildung durch hörende Ordensangehörige gab es mindestens auch einen tauben Lehrer, der taube Kinder in einem Kloster unterrichtete. Étienne de Fay (geboren

35  Deaf History: Klöster im 16. und 17. Jahrhundert

vermutlich 1669 als Kind einer adligen Familie) lebte seit früher Kindheit in einer Abtei des Heiligen Johannes in Amiens, Frankreich. Die Prämonstratensermönche der Abtei hatten ihn dort seit seinem sechsten Lebensjahr unterrichtet. Seine Ausbildung war außergewöhnlich gut und umfasste französische Schriftsprache, Geometrie, Zeichenkunst, Architektur, Arithmetik, Mechanik und Geschichte (Lane 1988, 111). Auch im Erwachsenenalter blieb de Fay in der Abtei, obwohl er selbst nie in den Orden der Prämonstratenser eintrat. Offensichtlich konnten einige der Mönche so gut gebärden, dass sie für de Fay dolmetschten, wenn er mit hörenden Personen außerhalb der Abtei kommunizierte (Fischer 2003, 16). Seine beruflichen Aufgaben, u. a. als Architekt, Archivar und Sachverwalter der Abtei, lassen auf eine hohe Eigenständigkeit und einen bedeutenden Status in der Gemeinschaft schließen (Truffaut 1993, 15–16). De Fay baute eine Klosterbibliothek auf und verfasste einen Katalog über das Museum der Abtei, wobei er die Zeichnungen hierfür selbst anfertigte. Außerdem unterrichtete er taube Kinder in der Abtei. Der Unterricht fand in Gebärdensprache und Schriftsprache statt (ebd.). Bevor die Kinder die Französische Gebärdensprache von de Fay lernten, werden sie, wie Ponces Schüler auch, vermutlich ausschließlich Hausgebärden gekannt haben. De Fays bekanntester Schüler war Azy d’Etavigny, der später nach Paris ging und dort Schüler des berühmten Gehörlosenlehrers Jacob Pereira wurde (Lane 1988, 112–114) (s. Kap. 26). Bei der Untersuchung von Gehörlosenbildung in christlichen Klöstern wird die Bedeutung der Unterschiede zwischen verschiedenen Ordensgemeinschaften und ihren Zielen deutlich (Villwock 2012a, 25–26). Die bekanntesten Fälle monastischer Gehörlosenbildung fanden in Benediktinerklöstern statt – Schwerpunkte dieses Ordens waren und sind Bildung und Wissenschaft. Der Fokus des Prämonstratenserordens, in dem Étienne de Fay lebte, ist die Schulbildung. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeichnet sich eine starke Abnahme der visuell-gestischen Kommunikation zwischen hörenden Ordensangehörigen und tauben Kindern ab, stattdessen lag der Fokus noch stärker auf Lautsprache und Artikulationsunterricht (ebd., 26). Auch der monastische Ansatz von Gehörlosenbildung änderte sich: Ab dem 19. Jahrhundert waren es eher franziskanische Gemeinschaften, in denen taube Kinder und Erwachsene lebten. Der Fokus des nicht-kontemplativen Franziskanerordens liegt weniger auf Bildung, als vielmehr auf Mildtätigkeit und der Arbeit mit gesellschaftlichen Randgruppen. Im Ge-

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gensatz zum Benediktinerorden gab es bei den franziskanischen Gemeinschaften keine offizielle Verwendung von Gebärden zur Kommunikation in Zusammenhang mit dem monastischen Schweigegebot. Das spiegelt sich in Erzählungen von tauben Mitgliedern des Franziskanerordens wider, die von einer stark lautsprachlich ausgerichteten Kommunikation zwischen hörenden und tauben Mitgliedern in den Gemeinschaften berichten (ebd., 24–26). Hinzu kam, dass in den meisten europäischen Ländern ab dem 19. Jahrhundert der Oralismus in der Gehörlosenbildung dominierte und die Verwendung von Gebärden auch in der monastischen Gehörlosenbildung fast vollständig verschwand (Mitchell 1993, 151–154). Literatur

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II  Geschichte der ­Vorstellungen von ­Behinderung  –  C  Geschichte spezifischer Behinderungen

zurück. Ein Reader zur Geschichte von Gehörlosengemeinschaften und ihren Gebärdensprachen. Hamburg 1993, 13–26. Villwock, Agnes [2012a]: Monastische Gebärdensprachen und Gebärdensprachanwendung im Kloster. Vom Schweigegebot christlicher Ordensgemeinschaften hin zur gebär-

densprachlichen Kommunikation in der monastischen Gehörlosenbildung. In: Das Zeichen 91 (2012), 266–282. Villwock, Agnes [2012b]: Klöster und ihr Beitrag zur Gehörlosenbildung – eine historische Untersuchung vom frühen Mittelalter bis heute. In: Das Zeichen 90 (2012), 10–27.

Agnes Villwock

36 Blindheit

36 Blindheit Ursachen, Bedeutung und Folgen von Blindheit haben säkulare und religiöse Autoritäten sowie Künstler*innen, Autoren*innen, Philosophen*innen und Wissenschaftler*innen zu allen Zeiten und in allen Kulturen beschäftigt. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung war eine meist ambivalente (s. Kap. 44) Wahrnehmung blinder Menschen und ihrer Behinderung, die sich in einer Reihe von oft widersprüchlichen und erstaunlich langlebigen Bildern äußerte. Was diese Bilder über Zeit und Raum vereint, ist die Tatsache, dass sie überwiegend die Perspektive der Sehenden widerspiegeln und Blindheit als eines der schwersten Schicksale ansehen, das Menschen befallen kann. In der Auseinandersetzung mit Blindheit wird diese meistens als absolut konzipiert, obwohl sehr viele Sehbehinderte weiterhin optische Reize wahrnehmen können. Sie rief – und ruft – viele Reaktionen vor, jedoch nur selten Gleichgültigkeit. Der Verlust der Sehkraft durch Krankheit oder im Alter wurde in vielen Kulturen als biologischer Prozess erkannt. Gleichzeitig wurde Blindheit aber auch moralisch gedeutet und affektiv gewertet. Sie wurde mit dem Tod verglichen, zum Teil als ein noch schlimmeres Schicksal beschrieben, und war daher eine der schwersten Strafen, die weltlichen oder göttlichen Mächten zur Verfügung stand. Blindheit wurde aber auch als Zustand gedeutet, der aus dem Kontakt mit dem Überirdischen resultierte oder durch diesen geheilt werden konnte, was die Betroffenen in eine besondere Beziehung zu dieser Sphäre setzte. Der hohen Anerkennung, die einige blinde Menschen genossen, und den hohen Ämtern, die sie bekleideten, stand die große Anzahl blinder Menschen gegenüber, die auf Unterstützung und Almosen angewiesen waren. Blinde Menschen wurden als hilflos oder nutzlos wahrgenommen und zum Teil verhöhnt und verspottet. Zugleich war aber auch die Vorstellung verbreitet, dass sie ihre Blindheit durch andere Fähigkeiten kompensieren konnten, wie z. B. prophetische Sicht, großes musisches Talent oder die Schärfung anderer Sinne. Blinde Menschen waren des Mitleids würdig und berechtigt, um Almosen zu bitten. Gleichzeitig wurden sie aber auch mit Misstrauen betrachtet, mit Sünde und Verbrechen assoziiert, ausgrenzt und abgesondert. Die ambivalente Wahrnehmung blinder Menschen wird schon im Alten Testament deutlich (s. Kap. 18). Das Nachlassen der Sehkraft im Alter bis hin zum völligen Verlust wird z. B. in Bezug auf Isaak (Gen 27,1), Jakob (Gen 48,10) oder Eli (1Sam 3,2) ohne mora-

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lische Bewertung erwähnt. Blinden Menschen wurden Mitgefühl und Schutz zugestanden (Gosbell 2018, 138–139), Blindheit mit dem Tod gleichgesetzt (Monbeck 1973, 28–29). Es sind überwiegend Menschen, nicht Gott, die ihre Feinde zur Strafe oder Demütigung blenden, wie es z. B. die Philister mit Samson taten. Gott dagegen rettete seine Auserwählten aus Gefahr, indem er ihre Feinde mit Blindheit schlug. Die Heilung blinder Menschen war ebenfalls ein Zeichen göttlicher Intervention und ein Merkmal des erwarteten Messianischen Zeitalters. Blindheit war aber auch eine Folge von Sünde, wenn auch nicht immer eine direkte Strafe Gottes für diese, und die Betroffenen erfuhren auch Zurückweisungen. So waren die »Lahmen und Blinden [...] David in der Seele verhasst« (2Sam 5,8), und als ein körperlicher Makel schloss Blindheit die Teilnahme an religiösen Ritualen im Tempel aus, da der Kontakt mit dem Göttlichen bei Mensch und Opfertier Perfektion voraussetzte (Gosbell 2018, 156–161, 303–304; Barasch 2001, 12–18). In der Kultur der klassischen Antike nahmen die Augen als Fenster in die körperliche und seelische Beschaffenheit eines Menschen eine große Rolle ein und Blindheit kam daher im philosophischen, poetischen und medizinischen Diskurs eine prominente Stellung zu. Sehbehinderungen dürften weit verbreitet gewesen sein, und Griechen und Römer verstanden, dass sie verschiedenste natürliche Ursachen haben konnten. Blindheit wurde häufig als Folge einer ererbten Veranlagung erklärt, aber auch als altersbedingter Verfall oder Ergebnis von Umwelteinflüssen bzw. Krankheiten wie Infektionen. Spezialisierte Augenärzte war weit verbreitet, und Salben oder chirurgische Eingriffe konnten Linderung oder sogar Heilung verschaffen. Blindheit seit Geburt galt jedoch als unbehandelbar und ihre Heilung fiel in den Bereich des Wunders. Exzessiver Alkoholkonsum wurde als eine weitere Ursache für Sehbehinderung angesehen, wobei schon Aristoteles betonte, dass die so Erblindeten kein Mitleid verdienten (Laes 2018, 85–96, 107). Militärdienst konnte ebenfalls zum Verlust der Sehkraft führen. Julius Cäsar erwähnt, dass während des Bürgerkrieges im Verlauf eines Tages in Gefechten gegen Pompeius’ Truppen vier von sechs Zenturios einer einzelnen Kohorte Augen verloren (Cäsar, Bürgerkrieg 3: 53, vgl. Carter 2016), und selbst Heerführern wie Hannibal oder Philipp II. von Makedonien wiederfuhr dieses Schicksal. Die Massenblendung gefangener Soldaten wurde u. a. von Ägyptern, Skythen und Byzantinern praktiziert und fand auch noch im Mittelalter statt. So ließ Simon de Montfort die Verteidiger des

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_36

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II  Geschichte der ­Vorstellungen von ­Behinderung  –  C  Geschichte spezifischer Behinderungen

Dorfes Bram im Jahr 1210 blenden und ihnen die Nasen abschneiden. Antike Quellen berichten auch von der Blendung (oft in Verbindung mit Verstümmelungen und Tötung) individueller Gegner, wie z. B. der Ermordung des Marcus Marius Gratidianus 82 v. Chr., doch ist der Wahrheitsgehalt dieser Darstellungen oft schwer zu überprüfen (Laes 2018, 96–98). Blendung als offizielle Strafe ist in Rom erstmalig für das Jahr 303 und in Konstantinopel für das Jahr 705 belegt, und einige mittelalterliche Herrscher in Westeuropa verhängten diese Strafe gegen ihre politischen Feinde (Wheatley 2010, 31–36). In der griechischen und römischen Mythologie und Dichtung ist die Blendung die direkte und oft unmittelbare Strafe für die Verletzung fundamentaler Tabus, wie z. B. Inzest, für die Verletzung des Gastrechts oder das Erblicken der Götter. Sie folgte selbst auf unbewusste oder unabsichtliche Übertretungen, wie das Beispiel des Ödipus zeigt, und der so erworbene Verlust des Augenlichts war dauerhaft. So kann z. B. Athene, die Teiresias blendet, nachdem er sie unabsichtlich nackt gesehen hat, diesen Akt nicht rückgängig machen. Sie kompensiert Teiresias jedoch mit langem Leben und prophetischer Sicht (Barasch 2001, 23–28). Die Vorstellung, dass fehlendes Augenlicht mit größerer poetischer oder prophetischer Gabe verbunden sei, war in der Antike weit verbreitet. Prägend war die Figur des Homer, der schon in einigen frühen Quellen als blind beschrieben wird (Laes 2018, 80–85) und Dion Chrysostomos zu der spöttischen Bemerkung veranlasste, Homer hätte Dichter mit Blindheit infiziert, als wäre es eine ansteckende Krankheit (Garland 2010, 33). Sie verankerte aber auch die Assoziation blinder Menschen mit überirdischen und potentiell dämonischen Mächten, so dass sich Ehrfurcht mit Unbehagen oder Angst mischte. Sehbehinderte Menschen wurden jedoch nicht automatisch stigmatisiert oder diskriminiert. Antike Quellen berichten von blinden Politikern, Lehrern und Philosophen, aber auch, dass viele Sehbehinderte in Armut lebten und auf Almosen angewiesen waren (Laes 2018, 100–103). Blinde Menschen aus allen Schichten wurden, wie andere behinderte Menschen auch, oft verspottet oder lächerlich gemacht (Garland 2010, 76–86). So wurden z. B. blinde Bettler im Mittelalter mit Knüppeln und Rüstungen ausgestattet, um zur Belustigung des Publikums ein Schwein zu erschlagen, wobei sie öfter aufeinander als auf das Tier einschlugen. Solche Veranstaltungen wurden in der Literatur noch bis ins 18. Jahrhundert beschrieben (Käfer 2016, 96–97; Wey-

gand 2009, 16–17). Ein groteskes Orchester blinder Menschen in einem Kaffeehaus in Paris im September 1771 zeigt ebenfalls, wie lange blinde Menschen der Belustigung dienten (Weygand 2009, 90–91). So wie blinde Seher ›sehen‹ konnten, so konnten auch Sehende ›blind‹ werden. Großes Leid, Liebe und Lust, Wut oder Reichtum konnten zur mentalen Blindheit führen, und die entsprechenden Götter Plutos, Fortuna und Amor/Cupid wurden in der Antike auch als blind beschrieben und dargestellt (Esser 1961, 136– 140, 179–181). In späteren Perioden setzte sich die Abbildung von Fortuna, Amor/Cupid und Lust mit Augenbinde durch, was ihnen eine bedrohliche Komponente gab (Barasch 2001, 123–130). Mangelnde Einsicht oder Wahnsinn wurden in der antiken Kultur ebenfalls mit Dunkelheit oder Blindheit assoziiert, und die Verbindung von Blindheit mit Sünde oder Maßlosigkeit bestand auch im frühen Christentum fort. Dunkelheit und die Unfähigkeit zu sehen wurden zu Metaphern für fehlende religiöse Erleuchtung, und Blindheit konnte daher zeitlich begrenzt sein. Paulus’ Berufung zum Völkerapostel wurde z. B. von einer dreitägigen Blindheit begleitet, die von Ananias in Damaskus schließlich durch Handauflegung geheilt und mit der Taufe abgeschlossen wurde (Apg 9,1–17). Die Heilung der Blinden war ein zentrales Motiv im frühen Christentum und auch eine Metapher für Erlösung und den Erwerb ewigen Lebens. Die Heilung blinder Menschen durch Jesus wird mehrfach im Neuen Testament geschildert, und römische Autoren berichten von ähnlich durchgeführten Wundern durch die Kaiser Vespasian und Hadrian (Laes 2018, 97). Die Erwähnung von Wunderheilungen stieg in der Spätantike stark an und war in der heidnischen wie auch christlichen Tradition oft mit heiligen Stätten verbunden, wie z. B. dem Schrein der Thekla von Ikonium in der heutigen Türkei. Nicht allein die Fähigkeit zu heilen war dabei aussagekräftig, sondern auch die Fähigkeit, geheilt zu werden (ebd., 112–113). Jesus hatte bei der Heilung eines Blindgeborenen betont, dass dessen Behinderung kein Merkmal persönlicher oder ererbter Schuld sei. Seine Aussage: »Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden« (Joh 9,3) prägte die christliche Sicht von Blindheit im Mittelalter als potentieller Ort wundersamer Heilung durch Gott oder seine Heiligen. Ein starker Glaube des zu Heilenden erleichterte den Prozess, stigmatisierte jedoch diejenigen, denen Heilung verwehrt blieb. Andauernde Blindheit wurde so im theologischen Diskurs des Mittelalters auch zu einem Zeichen

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mangelnden Glaubens, fehlender Reue oder Einsicht, und die Verantwortung für sie wurde so auf die Betroffenen zurückgeworfen. Jesus’ Aufforderung an den Blindgeborenen, sich im Teich Siloah zu waschen, war, Augustinus zufolge, auch ein Akt der Taufe und Erleuchtung (In Ioan XLIV 2)). Wer diesen Akt verweigerte, verblieb in Dunkelheit. Die Verknüpfung von Blindheit und Erlösungsverweigerung fand eine verbreitete bildliche Darstellung in der Gegenüberstellung von ›Synagoge‹ und ›Ecclesia‹ in mittelalterlichen Kirchen und Manuskripten. Die beiden allegorischen Frauenfiguren repräsentierten Judentum und Christentum, wobei ›Ecclesia‹ als sehend dargestellt und ›Synagoge‹ mit verdeckten Augen oder Augenbinde abgebildet wurde (Käfer 2016, 239–250). Die so kritisierte Weigerung der Juden, Jesus als Messias anzuerkennen sowie ihre Verunglimpfung als spirituell ›blind‹, wirkte sich auch negativ auf das Bild und die Stellung sehbehinderter Menschen aus. Blindheit wurde zum Zeichen kollektiver Verfehlung und Unvollkommenheit. Die verbreitete Darstellung des Antichristen als einäugig oder mit asymmetrischen Augen schlug gleichfalls eine Brücke zwischen Sehbehinderung und Sünde (Barasch 2001, 68–77). Dieses Motiv erinnert auch an sehr alte Vorstellungen, nach denen die Augen mythischer Wesen oder der ›böse Blick‹ von Menschen Unglück und Tod bringen konnten. Die Vorstellung von Krankheit als Folge von Sünde hielt sich ebenfalls im Mittelalter, und Jesus deutet im Johannes-Evangelium diesen Zusammenhang an einer anderen Stelle an (Joh 5,14). Blindheit und andere Behinderungen konnten aber auch eine Folge weltlicher Vergehen sein. Die Blendung von Straftätern wurde u. a. im normannischen und französischen Kulturkreis praktiziert und trug mit zur Stigmatisierung blinder Menschen bei. Gesetze, die von Wilhelm nach der normannischen Eroberung Englands im Jahr 1066 erlassen wurden, erlaubten z. B. die sofortige Blendung für das unbefugte Jagen von Hirschen. Im französischen Königreich ist die Blendung von Straftätern bis ins letzte Viertel des 15. Jahrhunderts überliefert und war eine Ursache für die Wahrnehmung blinder Menschen als unehrlich und kriminell (Wheatley 2010, 33–42). Dieses Stereotyp wurde auch über Komödien wie Le Garçon et l’Aveugle [Der Junge und der Blinde Mann] über einen langen Zeitraum hinweg vermittelt und verfestigt. Von Jongleuren auf Marktplätzen und Jahrmärkten vorgetragen, wurde diese anonyme Farce um 1270 niedergeschrieben und bis ins späte 15. Jahr-

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hundert immer wieder bearbeitet und aufgeführt. Der blinde Bettler in diesem Stück ist ein Betrüger, eigentlich vermögend, und ein gewöhnlicher Mensch, auch wenn die frühen Versionen des Stückes noch mit dem ambivalenten Bild blinder Menschen spielen. Der Junge, der ihm als Führer dient, unterscheidet sich sehr von den gewöhnlich anonymen und passiven Kindern, die in antiken Quellen blinde Menschen begleiten und als Attribut für deren Sehbehinderung dienen. Er hat einen Namen (Jeannot) und enttarnt, demütigt und beraubt seinen blinden Herren im Verlauf des Stücks, bis dieser nackt und allein auf der Bühne zurückbleibt (Symes 2004, 105–120; Wheatley 2010, 91–94; Weygand 2009, 14–16). Diese und ähnliche Stücke reflektieren eine wachsende Feindseligkeit vor allem gegen wandernde Bettler, deren Behinderungen oft in Zweifel gezogen wurden. Sehbehinderungen wurden im Hoch- und Spätmittelalter stark mit diesen Bettlern assoziiert, die oft in Gruppen auftraten und durch die ihnen zugeschriebenen Ausschweifungen und Verbrechen als eine Gefährdung der sozialen Ordnung wahrgenommen wurden. Versuche, diesem Phänomen z. B. durch die Kennzeichnung genuin Sehbehinderter oder durch die Verhängung von Mobilitätsbeschränkungen zu begegnen, rückte Blindheit verstärkt in das Blickfeld weltlicher Autoritäten. Die Eröffnung des Hôpital des Quinze-Vingts in Paris 1256, das als erste Institution dieser Art für blinde Menschen nicht unter kirchlicher Leitung stand, war ein Ausdruck dieser Entwicklung, markiert aber auch den Beginn der schrittweisen »secularization or humanization of the blind« (Barasch 2001, 143; Wheatley 2010, 42–59). Ein Ausdruck dieser Entwicklung war die wachsende Beschäftigung mit den Fähigkeiten blinder Menschen im öffentlichen und philosophischen Diskurs der Frühen Neuzeit. Die menschlichen Sinne, ihre Hierarchie und ihr Einfluss auf die Entwicklung des Geistes sowie die Art, in der sie zusammenwirkten, waren zentrale Themen der Aufklärung, wie es auch die große Faszination für das Molyneux-Problem verdeutlichte. William Molyneux hatte 1688 in einem Brief an John Locke die Frage aufgeworfen, ob ein Blindgeborener, der durch seinen Tastsinn gelernt hatte, die Körper ›Kugel‹ und ›Quadrat‹ zu unterscheiden, diese auch visuell erkennen würde, nachdem er durch eine erfolgreiche Augenoperation seine Sehkraft erhalten hatte. Locke diskutierte das Problem 1692 in der zweiten Ausgabe von An Essay Concerning Human Understanding und es wurde, Ernst Cassirer zufolge, zur zentralen Frage der Epistemologie und

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II  Geschichte der ­Vorstellungen von ­Behinderung  –  C  Geschichte spezifischer Behinderungen

Psychologie im 18. Jahrhundert (Schmidt 2018, 35). Korrespondierend dazu wurde der erfolgreiche operative Eingriff, der den grauen Schleier der getrübten Linse entfernte (Starstich), als plötzliche Augenöffnung und Übergang aus der Dunkelheit ins Licht zu einer »Urszene der Aufklärung« (Nonnenmacher 2006, 46). Diese Wahrnehmung von Blindheit als ein chirurgisch heilbares Leiden trug seit dem 18. Jahrhundert ebenfalls zur »desacralization of blindness« (Weygand 2009, 57–62, Zitat 62) bei. Denis Diderot adressierte das Molyneux-Problem in seinem berühmten und einflussreichen Essay Lettre sur les aveugles à l’usage de ceux qui voient [Brief über die Blinden zum Gebrauch für die Sehenden], der 1749 zunächst anonym veröffentlicht wurde und wesentlich zur Entmystifizierung und Säkularisierung von Blindheit beitrug. In seinem fiktiven Brief zeichnete Diderot ein positives Bild zweier blinder Menschen und ihrer Welt. Letztere war »not necessarily the inferior and pitiful state of deprivation the sighted tend to think it is and therefore wish to cure« (Tunstall 2011, 10). Blinde Menschen, so Diderot, kompensierten fehlende Sicht durch die schärfere Ausprägung anderer Sinne, was ihnen sogar Erfahrungen eröffnete, die Sehenden verwehrt blieben. Sie waren anders, aber nicht weniger befähigt als sehende Menschen (Weygand 2009, 62–68). Das 18. Jahrhundert war das ›pädagogische Jahrhundert‹ (Joachim Heinrich Campe), und Diderots Essay zeigte die Möglichkeit auf, über haptische Medien auch Sehbehinderten Bildung zukommen zu lassen, die sich keinen privaten Tutor leisten konnten (Weygand 2009, 68–70). Inspiriert durch Diderots Brief, das bereits erwähnte Schauspiel eines blinden Orchesters in Paris 1771 sowie eine Begegnung mit der blinden österreichischen Musikerin Maria Theresia Paradis eröffnete Valentin Haüy 1784 die ersten Blindenschule in Paris. Edward Rushton gründete, nachdem er selbst sein Augenlicht verloren hatte, 1791 eine Schule in Liverpool, und zahlreiche weitere Institutionen in anderen Ländern und Städten folgten. Haüy förderte auch die Weiterentwicklung von Pressen zur Herstellung von Publikationen in Reliefschrift, und sein Schüler Louis Braille entwickelte zwischen 1821 und 1825 das nach ihm benannte PunktschriftAlphabet, das noch heute in modifizierter Form in Gebrauch ist (Weygand 2009, 73–109, 273–291). Das in der Aufklärung entstandene Bild blinder Menschen als bildungsfähige Subjekte setzte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts nur langsam durch und verdrängte die älteren Bilder nicht. Die empirisch

nicht zu belegende These, blinde Menschen würden fehlende Sicht durch andere Fähigkeiten kompensieren, lebte in der Wiederentdeckung des blinden Homer in der Renaissance fort, aber z. B. auch in der Begeisterung für Ossian im späten 18. Jahrhundert oder in den blinden Superhelden und Superschurken moderner Comics und Filme, wie z. B. Daredevil und Master Izo (s. Kap. 59). Die Assoziation blinder Menschen mit der Bitte um Almosen blieb ebenso verbreitet, und in der modernen Literatur finden sich zahlreiche blinde Charaktere, wie Charles Dickens’ Stagg (Barnaby Rudge, 1841) oder Robert Louis Stevensons Pew (Treasure Island, 1883), die grausam, habgierig und gefährlich sind (Monbeck 1973, 8, 56–58). Das »religiöse Modell«, in dem Blindheit durch Glaube, Umkehr und Wunder geheilt wird, ist in Wallfahrtsorten wie Lourdes und Medjugorje sowie bestimmten christlichen Kirchen und Denominationen weiterhin lebendig (Wheatley 2010, 9–12), und die Vorstellung von Blindheit als einem besonders schweren Schicksal blieb ebenfalls tief in der öffentlichen Wahrnehmung verankert. Es wurde auch als Argument für eine Sonderstellung sehbehinderter Menschen in den sich entwickelnden Sozialstaaten benutzt, was zum Aufkommen des kritischen Begriffs der »Behinderten-Elite« führte (Rudloff 2018, 142). Das Ideal des unabhängigen und nützlichen blinden Menschen war jedoch ein Produkt des bürgerlichen Zeitalters und eng mit dem Bildungsprojekt verbunden. Blindenanstalten kombinierten oft Schulen mit Werkstätten und dienten auch der Kontrolle und Disziplinierung. Sie versuchten, neben Bildung und handwerklichen Fähigkeiten Eigenschaften wie Selbstdisziplin, Selbstständigkeit, Arbeitsethik sowie christliche Moral und Verhaltensregeln zu vermitteln. Die damit verbundenen autoritär-paternalistischen Praktiken gaben u. a. den Anstoß für die Gründung von Selbstvertretungsorganisationen wie der ›National League of the Blind of Great Britain and Ireland‹ in den 1890er Jahren oder des Reichsdeutschen Blindenverbandes 1912. Diese sahen es auch als ihre Aufgabe an, blinden Menschen eine eigene Stimme zu geben und dadurch ihr Bild in der Gesellschaft zu ändern (Reiss 2015, 7, 162–164; Rudloff 2018, 131–132). Arbeitende blinde Menschen waren kein neues Phänomen in der Moderne. Die Darstellung männlicher blinder Harfenspieler in Gräbern des ägyptischen Mittleren Reiches (2137 bis 1781 v. Chr.) mag eine künstlerische Formel gewesen sein (Lichtheim 1945, 187–188). Sie verdeutlicht aber auch die lange Tradition blinder Musiker und findet ihr modernes

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Äquivalent in der Figur des blinden Blues-Sängers (Garland 2010, 33). Blinde Menschen arbeiteten in der Antike in Bergwerken, betrieben Handmühlen oder wurden zu anderen wiederkehrenden monotonen Arbeiten eingesetzt (Esser 1961, 96–108). Neben den bekannteren Beispielen blinder Dichter, Künstler, Kleriker oder Akademiker übten – und üben – sie auch eine breite Palette von anderen Berufen aus, wie z. B. Bürstenmacher*innen, Korbflechter*innen, Masseur*innen oder Klavierstimmer*innen. Der starke Arbeitskräftemangel während der Weltkriege im 20. Jahrhundert öffnete viele neue Berufsfelder für blinde Menschen, und die Förderung von Kriegsblinden gab auch der Integration und besseren Versorgung von zivilen Blinden in vielen Ländern neuen Anschub (Monbeck 1973, 42–46; Rudloff 2018, 123–142). Der Wille und die Fähigkeit zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt wurden in der Moderne ideologisch aufgeladen und eine Voraussetzung für die Vollmitgliedschaft in der Gesellschaft. Selbstvertretungsorganisationen blinder Menschen versuchten daher, ihre Klientel aus der Armenfürsorge herauszulösen, da diese oft rechtliche und soziale Einschränkungen sowie Absonderung in speziellen Anstalten mit sich brachte. Unabhängigkeit, Chancengleichheit und Selbstvertretung wurden als Anrechte propagiert und die Ebenbürtigkeit blinder Menschen mit Sehenden betont. In diesem neuen Modell wurde die Gesellschaft und nicht Blindheit zum Haupthindernis für Integration. So argumentierte die National League bereits 1899, dass ihre Mitglieder hauptsächlich durch die »social sins of the community« gehindert würden, gleichberechtigt an »the social and economic battle« teilzunehmen (Reiss 2015, 46–47). Das aus der Behindertenbewegung hervorgegangene ›soziale Modell‹ wurde seit den 1970er Jahren von Vertreter*innen der Disability Studies dem deutlich älteren ›individuellen‹ oder ›medizinischen Modell‹ gegenübergestellt (s. Kap. 4). Letzteres verortet Behinderung als tragischen und individuellen Defekt im Körper des Betroffenen, den es durch Prävention, medizinische Eingriffe oder technische Hilfe zu verhindern, lindern, beheben oder kompensieren gilt. Erfolge im Bereich der Prävention und der Augenchirurgie im 20. Jahrhundert sowie jüngere Fortschritte in der Stammzellen-Therapie und der Verwendung von technischen Implantaten führten jedoch dazu, dass das Bild blinder Menschen als Patient*innen, die spezieller Fürsorge oder hochspezialisierter Heilungsmethoden bedürfen und sich damit von ›normalen‹ Menschen unterscheiden, weiterhin einflussreich ist.

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Ungeachtet der mittlerweile beträchtlichen Anzahl von Selbstvertretungsorganisationen und ihrer globalen Vernetzung in der ›World Blind Union‹ ist es blinden Menschen bisher nur begrenzt gelungen, das Bild von Blindheit in der Gesellschaft entscheidend zu verändern. Blindheit wird von der überwiegenden Mehrheit der sehenden Menschen immer noch als ein tragisches Einzelschicksal betrachtet, das schwere Einschränkungen mit sich bringt und nur heroisch zu meistern ist. Das wachsende Profil sehbehinderter Leistungssportler*innen in den Medien hat dies ebenso wenig geändert wie die Herausstellung anderer beachtlicher Einzelleistungen blinder Menschen in vergangenen Jahrhunderten. Der Umgang mit blinden Menschen wird in der Regel vermieden und ist daher, wenn er stattfindet, oft von Unsicherheit und Unkenntnis geprägt. Blindheit wird fälschlicherweise immer noch verbreitet mit Dunkelheit und Hilflosigkeit assoziiert, weshalb die Erfahrungswelt blinder Menschen von vielen Sehenden weiterhin als fundamental unterschiedlich und defizitär zu ihrer eigenen angesehen wird. Wie es Georgina Kleege ausdrückte: »[T]he average blind person knows more about what it means to be sighted than the average sighted person knows about what it means to be blind« (Kleege 2013, 447). Blindheit bleibt auch umgangssprachlich ein Synonym für Unaufmerksamkeit, mangelnde Einsicht oder fehlende Lernfähigkeit, und die immer zahlreicher werdenden akademischen Publikationen, die sich mit der Erfahrung von Blindheit in Vergangenheit und Gegenwart beschäftigen, erreichen bisher nur selten ein breiteres Publikum. Literatur

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Matthias Reiß

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37 Geistige Behinderung Der Begriff ›geistige Behinderung‹ ist in erster Linie in Disziplinen wie Pädagogik, Psychologie und Medizin geläufig. Etabliert wurde der Begriff durch die 1958 gegründete Elternvereinigung ›Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind‹ in Abgrenzung zu den zuvor üblichen Bezeichnungen wie ›Idiotie‹ oder ›schwerer Schwachsinn‹. Mittlerweile ist aber auch der Begriff der geistigen Behinderung wieder zum Problembegriff geworden (vgl. Greving/Gröschke 2000), der z. B. von Selbstvertretungsgruppen aufgrund seiner stigmatisierenden Wirkung vollständig abgelehnt wird; stattdessen wird ›Menschen mit Lernschwierigkeiten‹ als alternative Bezeichnung gefordert (vgl. Mensch zuerst 2020). In psychologischer Akzentuierung wird geistige Behinderung (intellectual disability) heute in der Regel als eine Verbindung von kognitiver Beeinträchtigung (Intelligenzminderung) und einer Beeinträchtigung des adaptiven Verhaltens (konzeptuelle, soziale und praktische Fähigkeiten) aufgefasst (vgl. AAIDD o. J.). Der im englischen Sprachgebrauch etablierte Begriff intellectual disability ist allerdings nicht vollständig deckungsgleich mit dem Begriff der geistigen Behinderung: In Deutschland hat sich mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts die Unterscheidung von ›Idiotie‹ (später ›geistige Behinderung‹) einerseits und ›Schwachsinn‹ oder ›Schwachbefähigung‹ (später ›Lernbehinderung‹) andererseits etabliert. International wurde diese Differenzierung nicht gleichermaßen vollzogen, so dass der Begriff intellectual disability eine größere Gruppe bezeichnet und einen Teil des Personenkreises einschließt, der in Deutschland als ›lernbehindert‹ gilt (vgl. Musenberg 2016). Spätestens seit den 1980er Jahren hat eine medizinisch-psychologische, am Individuum diagnostizierte Auffassung geistiger Behinderung intensive sozialwissenschaftliche Kritik erfahren. In Deutschland wurde diese Kritik insbesondere aus der Perspektive der sogenannten Materialistischen Behindertenpädagogik (vgl. Jantzen 1999) formuliert, die sich dabei auch auf Arbeiten aus den Anfängen der ›Geistigbehindertenpädagogik‹ des 19. Jahrhunderts von Édouard Séguin (1812–1880) und der kulturhistorischen Schule der russischen Psychologie des 20. Jahrhunderts berief, insbesondere auf Lew S. Wygotski (1896–1934). Geistige Behinderung als soziale Konstruktion aufzufassen, bedeutet laut Jantzen nicht, dass die Biologie (z. B. Hirnschädigung, Chromosomenabweichung) irrelevant wäre, denn sie sei es, die betreffende Personen in ein anderes Verhältnis zu den Menschen und zur Welt

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versetze und damit auch die Möglichkeit des Aufbaus von Sprache, Kultur und Identität beeinflusse. Die Biologie spiele aber bei der geistigen Behinderung nicht die primäre Rolle, sondern die Art und Weise, wie die Umwelt auf die jeweilige Ausgangslage reagiere (vgl. Jantzen 1999, 211). Geistige Behinderung wird vor diesem Hintergrund – und in Abgrenzung von einem medizinisch-individuellen Modell von Behinderung (s. Kap. 4) – als ein primär soziales Phänomen aufgefasst, das sich durch Zuschreibung von (Un-)Fähigkeiten und sich daran anschließende isolierende Reaktionsweisen der Gesellschaft manifestiere.

37.1 ›Idiotie‹ Der Begriff der ›Idiotie‹ bzw. des ›Idioten‹ (griech. idiotes, lat. idiota) wird im 19. Jahrhundert zum fachsprachlichen Terminus in Medizin, Psychologie und Pädagogik und konkurriert im deutschsprachigen Raum mit weiteren Begriffen wie z. B. ›Blödsinn‹ und ›Kretinismus‹ (vgl. Kobi 2000). In dieser Zeit entstehen auch die sogenannten ›Idiotenanstalten‹ als separate Institutionen für einen zunehmend über das Kriterium der Intelligenzminderung beschriebenen Personenkreis, der in diesen Einrichtungen eine spezialisierte Förderung erhalten soll. Der amerikanische Arzt Samuel Gridley Howe (1801–1876) unterscheidet in seiner Mitte des 19. Jahrhunderts erschienenen Schrift »On the Causes of Idiocy« drei Schweregrade der Idiotie, nämlich ›Idiots‹, ›Fools‹ und ›Simpletons‹ (vgl. Howe 1858) – Idiotie bezeichnet die schwerste Ausprägung. Eine ähnliche Abstufung findet sich in der international noch bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts verbreiteten psychiatrischen Klassifikation ›Idiotie‹, ›Imbezillität‹ und ›Debilität‹ (vgl. Kraepelin 1896). Heinrich Matthias Sengelmann (1821–1899), Leiter der Alsterdorfer Anstalten in Hamburg, schreibt 1885 in seinem Buch Idiotophilus. Systematisches Lehrbuch der Idioten-Heilpflege: »Die Idiotie oder der Idiotismus ist derjenige Seelenzustand, in welchem aus physischen Ursachen oder unter Mitwirkung von Faktoren des physischen Lebens die normale Entwicklung der Geisteskräfte entweder unmöglich oder frühzeitig rückgängig gemacht oder gehemmt ist.« (Sengelmann 1975/1885, 7)

Im Laufe des 20. Jahrhunderts wird ›Idiotie‹ und später ›geistige Behinderung‹ immer stärker mit einer

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_37

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II  Geschichte der ­Vorstellungen von ­Behinderung  –  C  Geschichte spezifischer Behinderungen

Intelligenzminderung gleichgesetzt. Dass es auch andere Auffassungen gab, zeigt der französische Arzt und Pädagoge Édouard Séguin mit seiner primär voluntaristischen, den Willen betonenden Sichtweise der Idiotie: »In physiologischer Hinsicht kann er nicht, in intellektueller Hinsicht weiß er nicht. In psychischer Hinsicht will er nicht; und er könnte und er wüsste, wenn er wollte, aber vor allem will er nicht!« (Séguin 2011/1846, 123). Die intellektualistische, auf kognitive Funktionen gerichtete Sichtweise geistiger Behinderung hat sich bis heute durchgesetzt. Die institutionelle Exklusion in Anstalten erleichterte während des Nationalsozialismus den Zugriff auf Menschen mit geistiger Behinderung, die von der nationalsozialistischen Ideologie als ›lebensunwert‹ stigmatisiert und in großer Zahl ermordet wurden (vgl. Aly 2013) (s. Kap. 28). Menschen mit geistiger Behinderung sind heute, trotz der Inklusionsprogrammatik, noch weitestgehend institutionell exkludiert (bzw. in Exklusionsbereiche inkludiert) (s. Kap. 15): Als Kinder und Jugendliche in separaten Sonderschulen und als Erwachsene in Einrichtungen der Behindertenhilfe, in erster Linie in Werkstätten für Menschen mit Behinderung und in Wohnheimen. Im schulischen Bildungsbereich wird statt von geistiger Behinderung ungefähr seit der Jahrtausendwende vornehmlich vom ›Förderschwerpunkt geistige Entwicklung‹ gesprochen (vgl. Musenberg 2016).

37.2 Geistige Behinderung in kulturwissenschaftlicher und kulturhistorischer Perspektive Mit der beginnenden Etablierung der Disability Studies und Disability History – auch im deutschsprachigen Raum – sind weitere, unterschiedlich akzentuierte Auseinandersetzungen mit Behinderung als historischer, sozialer und kultureller Hervorbringung hinzugekommen. Im Fokus stehen meistens der Körper und sich wandelnde Vorstellungen des ›normalen‹ und ›normierten‹ Körpers. Seltener finden sich kulturwissenschaftliche Auseinandersetzungen und kulturhistorische Rekonstruktionen geistiger Behinderung (Heller 2003; McDonagh 2008; Bernuth 2009; Sonntag 2013; Mürner 2013; Metzler 2016). Das mag u. a. auch damit zusammenhängen, • dass Menschen mit einer geistigen Behinderung kaum als Akteure in den Disability Studies in Erscheinung treten, u. a. weil viele Menschen mit

geistiger Behinderung auf stellvertretende Interessenwahrnehmung durch Andere angewiesen sind. • dass sich ›Geist‹ nicht direkt abbilden lässt und es somit keine – zumindest keine unmittelbare – Ikonographie des Geistes (im Sinne des Denkens) gibt, die Ikonographie des Körpers und auch körperlicher Abweichungen hingegen kaum zu überblicken ist. Auch wenn alle Formen von Beeinträchtigungen/Behinderungen vielleicht letztlich als verkörperte Differenzen (embodied difference) aufgefasst werden können (vgl. Waldschmidt 2007), so scheint es z. B. für die kulturellen Zuschreibungsmuster dennoch einen Unterschied zu machen, ob es um körperliche oder geistige Vollzüge geht (vgl. Brumlik 2013, 35). • dass kaum Selbstzeugnisse von Menschen mit geistiger Behinderung überliefert sind. Das betrifft auch Beiträge von Menschen mit geistiger Behinderung zur Kultur im Allgemeinen und zur bildenden Kunst und Literatur im Besonderen. • dass die historisch Forschenden sich vornehmlich dem Körper oder aber dem Wahnsinn gewidmet haben, während »Fools and Idiots« (Metzler 2016) seltener im Fokus kulturwissenschaftlicher und -historischer Forschung standen. Die Herausforderung und gleichzeitig die Stärke einer kulturwissenschaftlichen und kulturhistorischen Betrachtung geistiger Behinderung besteht u. a. darin, die ›Spezifik‹ geistiger Behinderung nicht einfach vorauszusetzen und deren begriffliche Wandlungen und gesellschaftliche Reaktionen zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten darzustellen, sondern auch die vermeintliche Eindeutigkeit dieses Personenkreises zu historisieren (vgl. McDonagh 2008, 5; Metzler 2016, 12–13). Ein solches Vorhaben kann allerdings nur gelingen, wenn im Sinne eines hermeneutischen Vor-Urteils zumindest ansatzweise schon vorab ›gewusst‹ wird, wonach gesucht wird. Das heißt, ohne eine zumindest vage Vorstellung davon, was geistige Behinderung ist, lässt sich letzten Endes auch keine kritische Re- und Dekonstruktion realisieren. In aktuellen kulturwissenschaftlich orientierten Historisierungen werden vermeintlich ahistorische ›Sachverhalte‹ (z. B. Schädigung/impairment und Behinderung/disability) zur Kultur und als Kultur erklärt und – im Extremfall – sogar als reiner Diskurseffekt, als Sprachspiel dechiffriert (vgl. Tremain 2005). Hier ist dann allerdings der Einspruch berechtigt, dass bei einer kompletten Auflösung der materiellen Ansatzpunkte von Diskursen über Behinderung (z. B. eine Trisomie 21) der kritisierte biologistische Essentia-

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lismus des individuell-medizinischen Modells von Behinderung lediglich durch einen kulturalistischen Essentialismus ersetzt werde (vgl. Waldschmidt 2007, 180–183; Musenberg 2013) (s. Kap. 5). Was allerdings bleibt, ist die Notwendigkeit einer generellen Offenheit oder Unsicherheit bei der kulturhistorischen Untersuchung geistiger Behinderung. Metzler (2016) geht im Rahmen ihrer kulturhistorischen Studie zu geistiger Behinderung im Mittelalter davon aus, dass die begriffliche Unsicherheit für die Zeit vor dem 13. Jahrhundert am größten ist, da vorher etwas Vergleichbares wie ›Idiotie‹, wenn überhaupt, nur sehr individuell und unter Rückgriff auf eine sehr vielfältige und fluide Kriteriensammlung beschrieben wurde. Erst mit dem 13. Jahrhundert werden Beschreibungen einer strengeren Ordnung und Standardisierung unterworfen, wodurch dann auch z. B. ›Narren‹ und später ›Idioten‹ zunehmend klarere begriffliche Konturen erhalten und gleichzeitig stärker von Pathologisierung betroffen sind (vgl. ebd.).

37.3 Konkretisierungen Wenngleich kulturwissenschaftliche Studien zu geistiger Behinderung in eher überschaubarem Umfang vorliegen, so sind die Beispiele für die Bezugnahme auf Begriffe, die gewissermaßen zum Konnotationshof geistiger Behinderung gehören, in unterschiedlichen Bereichen der Kultur äußerst zahlreich: von Sebastian Brants berühmtem, 1494 erstmalig erschienenem Buch Das Narrenschiff und Hieronymus Boschs gleichnamigem Gemälde über Fjodor Dostojewskijs Roman Der Idiot und Spielfilme wie Freaks (USA 1932) von Tod Browning, Am achten Tag (BE/FR/GB 1996) von Jaco van Dormael, Lars von Triers filmisches Experiment Idioten (DK 1998) (s. Kap. 69–70), Pop- und Rocksongs wie »Fool on the Hill« von den Beatles oder »Mongoloid« von Devo (s. Kap. 65. 66), bis zu den MTV-Comic-Helden ›Beavis and Butthead‹ (die zunächst ›The Idiot Teens‹ hießen, vgl. Heller 2003) oder den Freakstars-Inszenierungen von Christoph Schlingensief (s. Kap. 68). An dieser Aufzählung wird bereits deutlich, dass Begriffe wie ›geistige Behinderung‹, ›Narr‹ oder ›Idiot‹ in verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen aufgeladen werden. So ist z. B. im aktuellen Sprachgebrauch der Begriff ›Idiot‹ nach wie vor verbreitet, allerdings als abwertendes Schimpfwort. Eine andere, ältere Bedeutung des Begriffs, nämlich ›Privatperson, Laie ohne beson-

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dere Kenntnisse oder ungebildeter Amateur‹ (vgl. Metzler 2016, 44–47) wird hingegen bei Dostojewskij deutlich. Der Protagonist in Dostojewskijs erstmals 1868 erschienenem Roman Der Idiot, Fürst Myschkin, ist eine Person, die sich im Auge ihrer Betrachter ungeschickt und naiv verhält, die von kindlicher, vertrauensvoller Offenheit und der egozentrisches Taktieren fremd ist (vgl. Halliwell 2016, 73–86). Der ›Idiot‹ ist hier in erster Linie eine gute, naive Person, die Dinge ausspricht, ohne sich dabei durch gesellschaftliche Konventionen einschränken zu lassen (eventuell, weil sie sie nicht durchschaut). Darin ist bestimmt eine Parallele zur Vorstellung des ›natürlichen Narren‹ wie auch zur Sichtweise von Menschen mit geistiger Behinderung zu erkennen, allerdings ohne die bei letzterem Begriff obligatorisch mitgedachte Intelligenzminderung. Folgende zwei Beispiele sollen abschließend die vielfältigen Perspektiven andeuten, aus denen heraus in kulturwissenschaftlichen Arbeiten geistige Behinderung in den Blick genommen werden kann. In dem von Kathryn Allen herausgegebenen Sammelband Disability and Science Fiction setzt sich Howard Sklar in seinem Beitrag mit der Repräsentation geistiger Behinderung (intellectual disability) in Daniel Keyes’ Roman Flowers for Agernon auseinander. Der geistig behinderte Protagonist Charly Gordon, der mit Hilfe eines Medikaments zunächst hyperintelligent wird, um danach wieder in seinen alten Zustand zurückzukehren, wird u. a. im Hinblick auf seine Sprecherpositionen hin analysiert, die in diesem Film durchaus besonders sind, da Charly Gordon nicht durch die Stimmen anderer repräsentiert wird, sondern vornehmlich selbst spricht. Die Analyse verweist zudem auch auf den nicht eindeutigen Zusammenhang von geistiger Behinderung und im weitesten Sinne körperlicher Abweichung. In der fiktionalen Darstellung muss anscheinend geradezu nach Verkörperungen der geistigen Behinderung gesucht werden, um diese dann auch visuell in Szene zu setzen – auch um den Preis der Wiederholung stereotyper Vorstellungen (»looselipped expression«) (Sklar 2013, 57; vgl. Mürner 2013). Edgar Kellenberger untersucht in seinem Buch Der Schutz der Einfältigen (2011) die Repräsentationen von Menschen mit einer geistigen Behinderung in der Bibel und in Texten benachbarter Kulturen und findet hier entsprechende Beschreibungen (durchaus auch in Abgrenzung zu körperlichen oder psychischen Auffälligkeiten). Insgesamt sind es Begriffe wie ›toll‹, ›Tor‹, ›tump/ Tumpheit‹, ›Geck‹, ›Narr‹, ›Idiot/Idiotie‹, ›Imbezilli-

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tät‹ und ›Schwachsinn‹, die bei der Suche nach anderen, älteren Bezeichnungen für geistige Behinderung in Betracht kommen (vgl. Metzler 2016, 43–47). Neben die kulturgeschichtliche Analyse dieser Begriffe und ihrer Bedeutungskontexte in wissenschaftlichen Abhandlungen wie fiktionalen Texten treten kulturwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit anderen medialen Repräsentationen wie z. B. im Spielfilm (vgl. Halliwell 2016). Damit wird ein wichtiger Schritt zur Öffnung des Diskurses über geistige Behinderung getan, der bislang vor allem durch sonderpädagogische und sozialwissenschaftliche Perspektiven geprägt war. Literatur

Aly, Götz: Die Belasteten. ›Euthanasie‹ 1939–1945. Eine Gesellschaftsgeschichte. Frankfurt a. M. 2013. AAIDD/American Association on Intellectual and Developmental Disabilities: Definition of Intellectual Disability. o. J., https://www.aaidd.org/intellectual-disability/ definition (15.01.2020) Bernuth, Ruth von: »wer jm gutz thett dem rödet er vbel«. Natürliche Narren im Gebetbuch des Matthäus Schwarz. In: Cordula Nolte (Hg.): Homo debilis. BehinderteKranke-Versehrte in der Gesellschaft des Mittelalters. Affalterbach 2009, 411–430. Brant, Sebastian: Das Narrenschiff [1494]. Hg. Heinz-Joachim Fischer. Wiesbaden 2007. Brumlik, Micha: Kulturwissenschaftliche Betrachtung von Behinderung. In: Oliver Musenberg (Hg.): Kultur – Geschichte – Behinderung. Die kulturwissenschaftliche Historisierung von Behinderung. Oberhausen 2013, 27–41. Dostojewskij, Fjodor Michailowitsch: Der Idiot. Gütersloh (o. J.) Greving, Heinrich/Gröschke, Dieter (Hg.): Geistige Behinderung – Reflexionen zu einem Phantom. Bad Heilbrunn 2000. Halliwell, Martin: Images of Idiocy. The Idiot Figure in Modern Fiction and Film. London/New York 2016. Heller, Dana: Holy Fools, Secular Saints, and Illiterate Saviors in American Literature and Popular Culture. In: Comparative Literature and Culture 5/3 (2003), https:// doi.org/10.7771/1481-4374.1193 (29.12.2019). Howe, Samuel Gridley: On the causes of Idiocy. In: The Journal of Psychological Medicine and Mental Pathology 11/11 (1858), 365–395. Jantzen, Wolfgang: Geistige Behinderung ist ein sozialer Tatbestand – Bemerkungen zu der Frage, an welchen anthropologischen Maßstäben sich die Eingliederung geistig behinderter Menschen zu orientieren hätte. In: Wolfgang Jantzen/Willehad Lanwer-Koppelin/Kristina Schulz (Hg.): Qualitätssicherung und Deinstitutionalisierung. Berlin 1999, 197–215. Kellenberger, Edgar: Der Schutz der Einfältigen. Menschen

mit einer geistigen Behinderung in der Bibel und in weiteren Quellen. Scheßlitz 2011. Kobi, Emil E.: Die terminologische Konstruktion und Destruktion geistiger Behinderung. In: Heinrich Greving/ Dieter Gröschke (Hg.): Geistige Behinderung – Reflexionen zu einem Phantom. Bad Heilbrunn 2000, 63–78. Kraepelin, Emil: Psychiatrie – Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte. Leipzig 51896. McDonagh, Patrick: Idiocy. A Cultural History. Liverpool 2008. Mensch zuerst: Mensch zuerst – Netzwerk People First Deutschland e. V. o. J., http://www.menschzuerst.de/ (19.01.2020). Metzler, Irina: Fools and idiots? Intellectual disability in the Middle Ages. Manchester 2016. Mürner, Christian: Eines Toren Fabel nur. Erzähl- und Umgangsformen mit (geistig)behinderten Protagonisten. In: Oliver Musenberg (Hg.): Kultur – Geschichte – Behinderung. Die kulturwissenschaftliche Historisierung von Behinderung. Oberhausen 2013, 235–249. Musenberg, Oliver: Kultur – Geschichte – Behinderung. Zur Einführung. In: Oliver Musenberg (Hg.): Kultur – Geschichte – Behinderung. Die kulturwissenschaftliche Historisierung von Behinderung. Oberhausen 2013, 11–25. Musenberg, Oliver: Geistige Entwicklung. In: Ingeborg Hedderich/Gottfried Biewer/Judith Hollenweger/Reinhard Markowetz (Hg.): Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik. Bad Heilbrunn 2016, 213–218. Séguin, Édouard: Moralische Behandlung, Hygiene und Erziehung der Idioten [1846]. Hg. Eckhardt Rohrmann. Marburg 2011. Sengelmann, Heinrich Matthias: Idiotophilus. Systematisches Lehrbuch der Idiotenheilpflege [1885]. Hg. HansGeorg Schmidt. Hamburg 1975. Sklar, Howard: The many voices of Charly Gordon. On the Representation of Intellectual Disability in Daniel Keyes Flowers for Agernon. In: Kathryn Allan (Hg.): Disability in Science Fiction. Representations of Technology as Cure. New York 2013, 47–59. Sonntag, Jana: »blödigkeit des gesichts« und »imbecillitas ingenii«. Zur Erziehung von Fürstensöhnen mit körperlichen und geistigen Schwächen. In: Cordula Nolte (Hg.): Phänomene der »Behinderung« im Alltag. Bausteine zu einer Disability History der Vormoderne. Affalterbach 2013, 149–162. Tremain, Shelley: Foucault, Governmentality, and Critical Disability Theory. An Introduction. In: Dies. (Hg.): Foucault and the government of Disability. Ann Arbor 2005. Waldschmidt, Anne: Verkörperte Differenzen – normierende Blicke. Foucault in den Disability Studies. In: Rolf Parr/Clemens Kammler (Hg.): Foucault in den Kulturwissenschaften. Heidelberg 2007, 177–198.

Oliver Musenberg

38  Bewegung der Psychiatrieerfahrenen (c/s/x-movement)

38 Bewegung der Psychiatrieerfahrenen (c/s/x-movement) Inklusion, Partizipation und Empowerment (s. Kap. 16) sind Kernthemen der heutigen Psychiatriepolitik. Die Beteiligung von Psychiatrieerfahrenen als Expert*innen aus Erfahrung (›user involvement‹) gilt inzwischen als fester Bestandteil der zivilgesellschaftlichen Gesundheitsförderung. Die UN-Behindertenrechtskonvention von 2006 hat diesen Trend verstärkt. Die Selbstorganisationen der Psychiatrieerfahrenen haben an Einfluss gewonnen und stützen sich auf eine vielfältige consumer/survivor/ex-patient-Bewegung (c/s/x-movement). Die Ziele, etwa des 1989 gegründeten ›European Network of (ex-)Users and Survivors of Psychiatry‹ (ENUSP), gleichen denen der Behindertenrechtsbewegung: Selbsthilfe, Beratung und Politik, Förderung von Menschenrechten, Demokratisierung und institutionelle Reformen. Der folgende Überblick skizziert die historischen Wurzeln dieser Bewegung.

38.1 Frühe Spuren im 17. und 18. Jahrhundert Selbstzeugnisse über die Erfahrung schweren psychischen Leids samt (ärztlicher) Behandlung sind schon aus der europäischen Antike überliefert. Doch erst in der (Früh-)Moderne entstanden abgrenzbare Prototypen. Das erste Beispiel ist der 1679 von dem Briten James Carcasse (ca. 1636–1690) publizierte Gedichtband Lucida Intervalla. Der in Oxford ausgebildete frühere Schulleiter und Angestellte der britischen Marine wurde 1678 monatelang zwangsweise in dem auf Irre spezialisierten Londoner Bethlem Hospital behandelt. Nach der Entlassung beschrieb er kritisch die medizinischen Verordnungen, seine Fesselung mit Ketten in der Zelle, Besucher und seinen behandelnden Arzt. Entschieden forderte Carcasse ›zivile‹ Behandlungen. Im Lauf des 18. Jahrhunderts erschienen weitere britische Protestschriften. Die Regierung führte 1774 auf Druck der Öffentlichkeit die Lizensierung privater Irrenhäuser ein. Zu der Kultur des Schreibens über Irrenhaus und Wahnsinn im 18. Jahrhundert gehören neben der Protestliteratur auch moraltheologische Krankheitsnarrative, die Hypochondrie- und Melancholieliteratur und wissenschaftsförmige Selbstbeobachtungen deliranten Erlebens. Die Urheber*innen wollten trauma-

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tische Erfahrungen versprachlichen und bewältigen, sich ihrer Identität vergewissern, Gleichbetroffenen Mut zusprechen, ihre Erfahrungen der Wissenschaft zur Verfügung stellen oder diskriminierende Behandlungsbedingungen offenlegen (Brückner 2007, 473– 490). Bis heute sind dies typische Muster in den Autobiographien von psychose- und psychiatrieerfahrenen Autor*innen.

38.2 Internationaler Irrenrechts-Aktivismus im 19. Jahrhundert Die Kritik der gefängnisartigen Tollhäuser des 18. Jahrhunderts war spätaufklärerisches Allgemeingut. Die nach 1800 aufkommenden Irrenanstalten und der Beruf des psychischen Arztes galten als Errungenschaft bürgerlicher Reformen. Die Idee, die Irren als heilbare Subjekte zu behandeln, blieb jedoch widersprüchlich, führte zur Selektion von ›Heilbaren‹ und ›Unheilbaren‹ sowie zu einem Arsenal an Zwangsmitteln für ›Unruhige‹ samt hohen Versorgungskosten für arme und in den Familien nicht haltbare Insassen. Nach 1850 profilierte sich das Fach als naturwissenschaftliche Disziplin im gesellschaftlichen Kontext der ›Sozialen Frage‹ des 19. Jahrhunderts. Mit der Expansion des Irrenwesens wurde die Öffentlichkeit zunehmend auf medicolegale Defizite aufmerksam. 1840 gründete Thomas Mulock in England mit der ›Society for the Protection of Alleged Lunatics‹ die erste Selbstorganisation ehemaliger Anstalts-Patient*innen. Sie ging 1845 in der ›Alleged Lunatics Friend Society‹ (ALFS) mit Sitz in London auf. Die Leitung übernahm John Thomas Perceval (1803– 1876), der 1838/1840 einen umfassenden Selbstbericht über eine schwere psychische Krise, die Behandlung in zwei Privatanstalten und seine Genesung veröffentlicht hatte. Die ALFS forderte richterliche Anhörungen vor Zwangseinweisungen, Schutz vor Willkür und Gewalt, Abschaffung der Postzensur, freie Arztwahl, Unterstützung durch Anwälte und Besuchsrecht. Die bis 1860 bestehende Vereinigung mit gut 60 Mitgliedern erreichte die Entlassung von Patient*innen und organisierte Pressekampagnen und Reformvorschläge. Um 1870 schürten mehrere Irrenhausskandale die Befürchtung der Viktorianer, geistig gesunde Bürger könnten zum Vorteil von Irrenhausbetreibern und Angehörigen fälschlicherweise eingewiesen werden (Wise 2012). Die prominenteste britische Irrenrechtsaktivistin dieser Zeit war die Spiritistin Louisa

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Lowe (1820–1901), die Frau eines englischen Vikars, der sie ab 1870 für 15 Monate in drei verschiedenen Anstalten behandeln ließ. Sie selbst bestritt vehement die Notwendigkeit der Internierung und gründete 1873 die ›Lunacy Law Reform Association‹. 1876 spaltete sich die männlich dominierte ›Lunacy Law Amendment Association‹ ab. Beide Zirkel boten in der Londoner City Beratung und Unterstützung für Patient*innen an, griffen prekäre Fälle auf und informierten die Presse. Ihr größter Erfolg war 1877 die Einrichtung einer Kommission des Unterhauses, die Reformvorschläge vorbereitete, die in den 1880er Jahren zwischen Regierung, Juristen und Medizinern verhandelt wurden. 1883 bündelte Louisa Lowe ihre harsche Kritik in The Bastilles of England: or, The Lunacy Laws at Work. Erst nach weiteren Skandalen, insbesondere dem Fall der Sängerin und Frauenrechtlerin Georgina Weldon (1837–1914), wurden Reformen umgesetzt. Weldons Ehemann hatte 1878 versucht, sie mit Hilfe von zwei Ärzten konspirativ als psychisch gestört begutachten zu lassen. Die Sängerin erkannte die Falle, floh in Louisa Lowes Haus und zog die Beteiligten in den 1880er Jahren in Aufsehen erregenden Gerichtsverhandlungen erfolgreich zur Verantwortung. Dies überzeugte einflussreiche Politiker von der Notwendigkeit einer Reform und das Parlament verabschiedete 1890 den legalistisch orientierten »Lunacy Act«: Für jede Einweisung war nun ein juristisches Gutachten notwendig, die Patient*innen erhielten das Recht auf Einspruch und die Lizensierung privater Irrenhäuser wurde gestoppt. Dieses Gesetz prägte das britische Unterbringungsrecht bis 1959. Ab 1860 breitete sich die Psychiatriekritik ›von unten‹ in ganz Europa aus. Im Mittelpunkt stand der Kampf um Rechtsschutz. In Frankreich erhöhte sich die Zahl der Anstaltsinsassen von ca. 10.000 im Jahr 1838 auf über 24.000 im Jahr 1854 und fast 35.000 im Jahr 1864. Seitdem berichtete die französische Presse quer durch alle politischen Lager über Behandlungsfehler und ungerechtfertigte Einweisungen. Beteiligt waren kritische Professionelle (z. B. Raimond-Paul Sérieux), Politiker (z. B. Léon Gambetta) und Schriftsteller (z. B. Hector Malot) sowie mehrere (Ex-)Patient*innen, etwa Léon Sandon und Hersilie Rouy in den 1860er Jahren oder Raymond Seillière kurz vor 1900. Anders als in England entstanden keine Selbstorganisationen. Mehrere Kommissionen legten Berichte vor (u. a. 1867, 1896, 1881, 1907), diskutierten Kontrollverfahren, die Schließung privater und kirchlicher Anstalten oder die Einführung von Spezialkli-

niken (z. B. für Epileptiker*innen, geistig Behinderte, Alkoholiker*innen). Alle Initiativen scheiterten in der legislativen Beratung (Fauvel 2005). In der Schweiz wurde das Thema durch die investigativen Reportagen des Schneiders Gottlieb Hägi publik. Hägi ließ sich 1892 für vier Monate als Wärter in der Züricher Universitätsklinik Burghölzli einstellen und griff die Anstaltspraxis in mehreren Artikeln ab 1894 scharf an. Die gerichtliche Auseinandersetzung verlor er, dennoch trat der Klinikdirektor Auguste Forel zurück. 1897 gründete der Zahnarzt und Tierversuchsgegner Ludwig Fliegel in Zürich den Irrenrechts-Reformverein. Die kleine Organisation produzierte Flugblätter, Aufrufe in der Tagespresse und bis 1904 drei kantonale und eidgenössische Eingaben (Bernet 2007). Auch in der österreich-ungarischen Monarchie stieg das Misstrauen gegenüber dem Anstaltssystem. 1890 prangerte Karl Herrmann seine Internierung in der Irrenanstalt Ybbs an, auch Budapester Zeitungen berichteten. Die Ärzte publizierten daraufhin – entgegen dem Arztgeheimnis – seine Krankengeschichte. Hohe Wellen schlug der Skandal um die Schauspielerin Ida Helene Petermann, genannt Helene Odilon, die 1896 den Wiener Ordinarius und Anstaltsdirektor Julius Wagner Ritter von Jauregg aufforderte, den Geisteszustand ihres Gatten Alexander Girardi zu begutachten. Am 24. Januar 1901 veröffentlichten neun Juristen und Politiker einen Aufruf im Neuen Wiener Tageblatt zur Reform des Irrenrechts. Internationales Aufsehen erregte die 1898 von Kaiser Franz Joseph I. veranlasste sechsjährige Internierung der Prinzessin Louise von Coburg und ihre Begutachtung durch namhafte europäische Ärzte. Die Kontroversen drangen 1902/1903 bis in den niederösterreichischen Landtag und beschäftigten das Fach bis nach 1910. In Belgien starben 1871 zwei Patienten in der Maison de Santé d’Evere in Brüssel. Der Direktor der Anstalt wurde angeklagt und die Irrengesetzgebung 1873 überarbeitet. Der prominenteste Fall aus den Niederlanden ist zweifellos der von Johanna Stuten-te Gempt, die 1889/1890 schwere Missstände während ihres Aufenthalts in einer Anstalt in Den Haag aufdeckte. In Nordeuropa kamen Mitte der 1870er Jahre erste Vorwürfe im Großfürstentum Finnland (Russland) auf. 1888/1889 führten weitere Fälle, darunter ein investigativer Bericht des Journalisten Frans Ossian Husberg, zu einem erheblichen medialen Echo samt Untersuchungsverfahren (Tuohela 2018). In Schweden reagierte die Presse ab 1890, die Gesetz-

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gebung wurde 1901 modernisiert. In Dänemark stand der Reformpsychiater Knud Pontoppidan im Mittelpunkt mehrerer Skandale, die 1898 zu seinem Rücktritt als Direktor der psychiatrischen Abteilung der Kopenhagener Klinik führten. Am bekanntesten ist sein Konflikt mit der Schriftstellerin Amalie Skram (1846–1905), die ihre Erfahrungen in Pontoppidans Klinik 1895 in dem Roman Professor Hieronimus verarbeitete. Die Debatten erreichten sowohl die Kopenhagener Gesundheitsverwaltung als auch das dänische Parlament. Solche Skandale und Kampagnen beschränkten sich keineswegs auf Europa. In den USA initiierte die ehemalige Anstaltsinsassin und Frauenrechtlerin Elizabeth Packard (1816–1897) 1863 die ›Anti-Asylum Society‹ (De Young 2010, 90–170). Packard veröffentlichte sieben Bücher, untersuchte Anstalten in 15 USBundesstaaten und erreichte mehrere Gesetzesänderungen (»Packard Laws«). 1887 ließ sich die Journalistin Elizabeth Jane Cochran für zehn Tage undercover in eine New Yorker Klinik einweisen. Ihre unter dem Pseudonym Nellie Bly veröffentlichten Reportagen führten zur massiven Aufstockung des Klinikbudgets. 1907 publizierte der Versicherungsangestellte Clifford Beers (1876–1943) nach Erfahrungen in mehreren Kliniken seine vielgelesene Autobiographie A Mind That Found Itself. 1909 gründete er das National Committee for Mental Hygiene. Mit Adolf Meyers Unterstützung an der Johns Hopkins University verbreitete sich Beers’ Konzept der ›psychischen Hygiene‹ bald international als Richtschnur präventiver Anti-Stigma-Arbeit. Ähnliche Ziele vertrat ›Recovery Inc.‹, eine 1937 von dem Neuropsychiater Abraham Low in Chicago initiierte Organisation zur Förderung von Selbsthilfegruppen, Angehörigenund Peer-Arbeit. 1948 gründeten (ehemalige) Patient*innen des New Yorker Rockland Hospitals die Vereinigung We Are Not Alone (WANA). Daraus ging die bis heute weltweit aktive Clubhaus-Bewegung hervor. Während sich die Forschung bisher auf den Zeitraum ab 1960 konzentrierte (Crossley 2006), belegen die Quellen eine internationale Verbreitung des Irrenrechtsaktivismus bereits um 1900 (Brückner 2021). Selbst aus Japan und Jamaika sind Kontroversen bekannt. Der Zeitraum zwischen 1870 und 1930 gilt als Schwellenepoche für die Professionalisierung und Modernisierung der europäischen Psychiatrie. Die Zentren der Bewegung lagen in Ländern mit modernisierten Anstaltssystemen, während aus Süd- und Osteuropa nur wenige Quellen bekannt sind.

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38.3 20.  Jahrhundert: Deutschland Im Deutschen Kaiserreich entwickelte sich bis 1900 eine starke psychiatriekritische Bewegung (Brink 2010, 36–192). Wie in anderen europäischen Ländern expandierte das öffentliche Anstaltssystem zu einem Auffangbecken für sozial schwache Patient*innen. 1898 gab es 262 öffentliche und private Anstalten mit 74.000 Patient*innen. Im Durchschnitt hatte ein Arzt 103 Patient*innen zu betreuen. In Preußen wurden Einweisungen zunehmend allein von der Polizei durchgeführt. Zwischen 1850 und 1920 prangerten über 200 Bücher, Pamphlete und Broschüren von ehemaligen Patient*innen angeblich widerrechtliche Einweisungen, Entmündigungen und Behandlungsdefizite an. Als Hauptforderung galt die reichsweite Vereinheitlichung des Irrenrechts. In den 1890er Jahren unterstütze der rechte Flügel des deutschen Bürgertums den Protest. Am 9. Juli 1892 druckte die ultrakonservative Neue Preußische Zeitung einen von 111 prominenten Persönlichkeiten unterzeichneten Aufruf für eine »schärfere Kontrolle der Irrenanstalten«. 1894 präsentierten drei konservative Juristen einen weiteren Aufruf samt 84 Problemfällen. 1894/1895 deckte ein aufsehenerregender Prozess gravierende Missstände in einer kirchlichen Privatanstalt nahe Aachen auf. Mehrere Landtage debattierten das Thema, der Deutsche Reichstag unterstützte seit 1897 wiederholt – auch von Linksliberalen erhobene – Forderungen für ein einheitliches Irrenrecht, die 1902 im Bundesrat scheiterten. Als juristische Referenz der Reformer galten die Schriften des österreichischen Rechtssozialisten Eduard August Schröder, der vor allem die gutachterliche Autorität der Mediziner angriff. Diese befürworteten zwar bessere Ausbildungen des Pflegepersonals samt reichsweiten Regelungen, bestritten jedoch alle inkriminierten Fälle. Nur wenige von ihnen unterstützten die Kritik und nur manche Patient*innen ergriffen Partei für die Ärzte. 1909 bezeichnete der Bayreuther Irrenarzt Bernhard Beyer die Initiativen erstmals öffentlich als »antipsychiatrische Bewegung« (Beyer 1909, 278) – wobei dieser Ausdruck in den Schriften der Reformer selbst nicht vorkommt. Bereits 1907 hatte der Ingenieur Georg Wetzer im bayerischen Herbruck die ›Zentrale für Reform des Irrenwesens‹ gegründet. Die kaum beachtete Organisation ging 1910 in den ein Jahr zuvor gegründeten ›Bund für Irrenrechts-Reform und Irrenfürsorge‹ (BIRIF) mit Sitz in Berlin auf. Diese Vereinigung präsentierte sich zunächst als Teil des Allgemeinen Deut-

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II  Geschichte der ­Vorstellungen von ­Behinderung  –  C  Geschichte spezifischer Behinderungen

schen Kulturbundes, betrieben von dem völkisch-nationalen Verleger Johannes Lehmann-Hohenberg. Unter der Leitung des Heidelberger Kaufmanns Adolf Glöklen soll sie mehrere hundert Mitglieder und ihre Zeitschrift Die Irrenrechts-Reform eine Auflage von 10.000 Exemplaren umfasst haben. Noch 1919 forderte der BIRIF »Überwachungsausschüsse«, Sanktionen für Behandlungsfehler, Kontrolle der Privatanstalten, Aufbau von separaten »Trinkerheilstätten« und »soziale Fürsorge« (BIRIF 1919, 195). Nach der Novemberrevolution lancierte die Gruppe Reformvorschläge im nun auch mit Sozialdemokraten besetzten Preußischen Ministerium für Volkswohlfahrt. 1923 entstand daraufhin ein amtlicher Entwurf des Innenministeriums für ein reichsweites, legalistisch geprägtes »Irrenschutzgesetz« mit Richtervorbehalt und Beschwerderecht bei Aufnahmen. Der Entwurf scheiterte 1924 an Protesten der Fachgesellschaften und der Ablehnung der Länder. Die Irrenrechts-Reform erschien kurz vor der Hyperinflation letztmals 1922. In der Weimarer Republik flaute der Protest ab, nur vereinzelt erschienen Protestschriften bis 1933. Die heterogene, zunächst politisch nationalkonservativ und männlich dominierte Irrenrechtsbewegung lässt sich dem wilhelminischen Reformmilieu und der zeitgenössischen Alternativmedizin im Umkreis von Naturheilkundler*innen, Tierversuchs- und Impfgegner*innen zuordnen. Die populistisch-emanzipatorische Rhetorik des BIRIF ähnelte den liberalistischen Positionen anderer europäischer Aktivist*innen, wenn auch transnationale Kooperationen kaum nachzuweisen sind. Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Massenmord an Behinderten und Psychiatrie-Patient*innen durch die Nationalsozialisten entstanden erste Patienten-Selbstorganisationen in Westdeutschland erst wieder in der sozialliberalen Reformära Ende der 1960er Jahre. 1969 riefen Kölner Studenten eine Initiative für obdachlose Jugendliche ins Leben, die sich 1975 ›Sozialistische Selbsthilfe Köln‹ (SSK) nannte und 1977 ein Psychiatrie-Beschwerdezentrum gründete, das gravierende Defizite in der Klinik in Brauweiler aufdeckte. Im Februar 1970 initiierte der Assistenzarzt Wolfgang Huber das ›Sozialistische Patientenkollektiv‹ (SPK) an der Heidelberger Universitätsklinik. In Hamburg entstand 1971 mit dem ›Aktionskreis 71‹ eine bis heute aktive Selbsthilfegruppe. Die bundesdeutsche Psychiatrie-Reform förderte ab 1975 den Selbsthilfegedanken, vielerorts wurden Patientenclubs gegründet. Doch Selbstorganisationen blieben selten.

In Berlin entstand im Juni 1980 die ›Irren-Offensive‹, eine – vor dem Hintergrund der akademischen Psychiatriekritik der 1960er Jahre – ›antipsychiatrische‹, ehemaligen Patient*innen vorbehaltene Gruppe, die sich an internationalen Vorbildern, etwa der Züricher Patientenstelle und dem ›Network Against Psychiatric Assault‹ (NAPA) in den USA orientierte. 1983 publizierte Tina Stöckle ihr radikales Buch Die Irren-Offensive. Erfahrungen einer Selbsthilfeorganisation von Psychiatrie-Opfern. 1986 wurde Peter Lehmanns Dokumentation von Psychopharmakaschäden, Der chemische Knebel, zum Ausgangspunkt seines Konzepts der Humanistischen Antipsychiatrie. 1996 eröffnete nach holländischem Vorbild in Berlin ein Weglaufhaus für Psychiatriebetroffene mit 13 Plätzen – die bis heute einzige nutzerkontrollierte Wohneinrichtung in Deutschland (Kempker 1998). 1987 wurde der ›Bund der Euthanasie-Geschädigten und Zwangssterilisierten e. V.‹ gegründet, um die Interessen und Entschädigungsansprüche dieser ›vergessenen‹ Opfergruppe des NS-Regimes zu vertreten. Ein Jahr später reichte die Hamburger Bildhauerin Dorothea Buck (1917–2019) beim Bundesgesundheitsministerium einen Antrag auf Finanzierung eines ›Arbeitskreises für mehr Mitbestimmung Betroffener in der Psychiatrie‹ ein. Sie war in den 1930er Jahren psychiatrisch behandelt und zwangssterilisiert worden und entwickelte sich nun über fünfzig Jahre später zur wirkungsvollsten ›Expertin aus Erfahrung‹ der neueren deutschen Betroffenenbewegung. 1990 erschien ihre Autobiographie Auf der Spur des Morgensterns. Im Kontext der Hamburger Sozialpsychiatrie entstand das Konzept des ›Trialogs‹ als Austausch zwischen Psychiatrieerfahrenen, Angehörigen und Professionellen. 1992 gründete sich der ›Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e. V.‹ mit dem Ziel, »nicht-psychiatrische Hilfsangebote« und eine »gewaltfreie Psychiatrie« aufzubauen (BPE 1991, 2). Wegweisend waren zudem die ›Stimmhörer‹-Netzwerke ab 1988, die ›Mad Pride‹-Festivals seit 1993, der ›Recovery-Ansatz‹ und 2001 die Gründung des ›World Network of Users and Survivors of Psychiatry‹ (WNUSP). Die Psychiatrieerfahrenen positionierten sich in einem breiten Spektrum zwischen angeleiteter Selbsthilfe, paritätischer Mitbestimmung, psychiatriekritischer Emanzipation und antipsychiatrischer Autonomie. Optionen zur Professionalisierung bieten nun die Projekte der Peer-Arbeit (›EX-IN‹ ab 2006) ebenso wie die nutzerkontrollierte Forschung und die Mad Studies im akademischen Bereich.

38  Bewegung der Psychiatrieerfahrenen (c/s/x-movement)

Obwohl die Psychiatriegeschichte ›von unten‹ seit den 1980er Jahren erforscht wird (Porter 1987), steht die kollektive Geschichte der Psychiatrieerfahrenen noch am Anfang. Ihre historischen Phasen ähneln denen anderer Reformbewegungen: von einzelnen Vorläufern seit der europäischen (Früh-)Aufklärung über erste kollektive Aktionen im 19. und frühen 20. Jahrhundert bis zur Weiterentwicklung zwischen ca. 1960 und 1990 hin zur Pluralisierung in der Gegenwart. Die Selbstzeugnisse der Aktivist*innen sind und waren ein zentrales Medium der Interessenartikulation – als persönliche Bekenntnisse, Behandlungs- und Genesungsberichte und gesundheitspolitische Streitschriften. Sie repräsentieren die historischen Wurzeln heutiger Konzepte wie Speaking out, Self-advocacy und Empowerment. Dies gilt für die positiven Ansprüche auf Rechtsschutz, menschenwürdige Behandlung, Selbstbestimmung, Demokratisierung und Entstigmatisierung ebenso wie für die Probleme polemischer Rhetorik, libertärer Freiheitspostulate und partikularistischer Identitätspolitik. Der Blick ›von unten‹ ergänzt als Psychiatrie-Erfahrungsgeschichte den institutions- und professionsgeschichtlichen Blick ›von oben‹ für eine diversitätssensible und multiperspektivische Historiographie der Psychiatrie. Literatur

Bacopoulos-Viau, Alexandra/Fauvel, Aude: The Patient’s Turn. Roy Porter and Psychiatry’s Tales, Thirty Years on. In: Medical History 60/1 (2016), 1–18. Beers, Clifford: A Mind that Found Itself. New York 1907. Bernet, Brigitta: Der bürgerliche Tod. Entmündigungsangst, Psychiatriekritik und die Krise des liberalen Subjektentwurfs um 1900. In: Marietta Meier/Brigitta Bernet/Roswitha Dubach/Urs Germann (Hg.): Zwang zur Ordnung. Psychiatrie im Kanton Zürich 1870–1970. Zürich 2007, 116–153.

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Beyer, Bernhard: Antipsychiatrische Skizze. In: Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 11 (1909), 275–278. BIRIF/Bund für Irrenrechts-Reform und Irrenfürsorge: Unsere Forderungen. In: Die Irrenrechts-Reform 11 (1919), 195–96. BPE/Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e. V.: Gründungssatzung. Bedburg-Hau 1992. Brink, Cornelia: Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860–1980. Göttingen 2010. Brückner, Burkhart: Delirium und Wahn. Geschichte, Selbstzeugnisse und Theorien von der Antike bis 1900. Bd. I. Vom Altertum bis zur Aufklärung. Hürtgenwald 2007. Brückner, Burkhart: Lunatics’ Rights Activism in the United Kingdom and the German Empire, 1870–1920: a European perspective. In: Anne Hanley/Jessica Meyer (Hg.): Patient Voices in Britain, 1860–1948. Historical and Policy Perspectives. Manchester 2021 (im Druck). Brückner, Burkhart/Röske, Thomas/Rotzoll, Maike/Müller, Thomas: Geschichte der Psychiatrie »von unten«. Entwicklung und Stand der deutschsprachigen Forschung. In: Medizinhistorisches Journal 54/4 (2019), 347–376. Crossley, Nick: The field of psychiatric contention in the UK, 1960–2000. In: Social Science & Medicine 62/3 (2006), 552–563. De Young, Mary: Madness. An American History of Mental Illness and Its Treatment. Jefferson 2010. Fauvel, Aude: Témoins aliénés et ›Bastilles modernes‹: une histoire politique, sociale et culturelle des asiles en France (1800–1914). Diss. EHESS. Paris 2005. Kempker, Kerstin (Hg.): Flucht in die Wirklichkeit. Das Berliner Weglaufhaus. Berlin 1998. Porter, Roy: Social History of Madness. The World Through the Eyes of the Insane. New York 1987. Tuohela, Kirsi: Hospitalised: Patients’ Voices in 19th-Century Finnish Newspapers. In: Tuomas Laine-Frigren/Jari Eilola/Markku Hokkanen (Hg.): Encountering Crises of the Mind. Madness, Culture and Society, 1200s–1900s. Leiden 2018, 115–138. Wise, Sarah: Inconvenient People. Lunacy, Liberty and the Mad-Doctors in Victorian England. London 2012.

Burkhart Brückner

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II  Geschichte der ­Vorstellungen von ­Behinderung  –  C  Geschichte spezifischer Behinderungen

39 Kriegsbeschädigte in Deutschland im 20. Jahrhundert Die Fürsorge und Versorgung von Kriegsbeschädigten gewannen im 20. Jahrhundert – mit dem Ersten Weltkrieg – eine neue Bedeutung. Seit dem DeutschFranzösischen Krieg 1870–1871 hatten sich sowohl die Kriegstechnik als auch die medizinische Behandlung wesentlich gewandelt. Die höhere Durchschlagskraft der Waffen und der vermehrte Einsatz von Explosivgeschossen ließen die Zahl der Verwundeten und Gefallenen stark ansteigen. Andererseits hatte sich die Chirurgie weiterentwickelt. Vielen Verletzten, die vormals verstorben wären, konnte durch neue Operationsverfahren und die aseptische Wundbehandlung das Leben gerettet werden. Während des Krieges 1870–1871 starben noch 80–90 % aller Soldaten mit Schussbrüchen. Da nun wesentlich mehr Soldaten auch schwere Verletzungen überlebten, ergaben sich völlig neue Anforderungen an die Rehabilitation der Invaliden. Bereits Ende 1914 wurden die bestehenden orthopädischen Kliniken zu Reservelazaretten umgestaltet. Ziel der Behandlung war die bestmögliche Wiederherstellung, damit der verwundete Soldat entweder wieder an die Front zurückkehren oder eine berufliche Tätigkeit aufnehmen konnte. Das erfolgreiche Modell der Rehabilitation körperbehinderter Kinder wurde auf die Kriegsbeschädigten übertragen. Das Schlagwort, aus Almosenempfängern werden Steuerzahler, galt auch für die ›Kriegskrüppel‹. Die verkrüppelten Soldaten hätten einen Anspruch auf Arbeit, es sei die Aufgabe der Krüppelfürsorge, sie dafür »so tauglich wie nur möglich zu machen und ihnen die Tore zu den Arbeitsstätten« (Biesalski 1914, 286) zu öffnen. Nach Ansicht Biesalskis (1914) sollte das »jammervolle und unwürdige Bild des kriegsinvaliden Leierkastenmannes« von der Straße verschwinden (ebd.). Ziel der staatlich organisierten zivilen ›Kriegsinvalidenfürsorge‹ war es, invalide oder gesundheitlich beeinträchtigte Kriegsteilnehmer »unter Sicherstellung der bestmöglichen Heilbehandlung und unter Berücksichtigung ihrer persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu vollgültigen Gliedern des wirtschaftlichen Lebens zu machen« (Kriegsinvalidenfürsorge 1915, 178). Durch die große Zahl der Kriegsbeschädigten wurde das Nachkriegsdeutschland vor völlig neue sozialpolitische Aufgaben gestellt. 1920 wurden 1.537.000 anerkannte Kriegsbeschädigte ermittelt. Nachdem die

Leichtbeschädigten mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 10–20 % bis 1923 abgefunden worden waren, blieben im Oktober 1924 noch 720.931 Invaliden übrig. Die Zahl sollte in den nächsten Jahren durch gesundheitliche Spätfolgen von Kriegsverletzungen eher noch etwas zunehmen. Im Mai 1930 erhielten 839.396 Personen eine Kriegsbeschädigtenrente, bis August 1938 reduzierte sich die Zahl der Rentenempfänger leicht auf 770.595 (Bundesregierung 1952). Am 12. Mai 1920 war das Gesetz über die Versorgung der Militärpersonen und ihrer Hinterbliebenen bei Dienstbeschädigung (Reichsversorgungsgesetz, RVG) verabschiedet worden. Über die Höhe der Renten hatten die Versorgungsämter zu entscheiden. Um die Motivation der Kriegsbeschädigten zur Arbeitsaufnahme nicht zu beeinträchtigen, wurden die Renten nicht auf das Arbeitseinkommen angerechnet. Neben dem Anspruch auf orthopädietechnische Versorgung, Heilbehandlung und Krankengeld hatte der Kriegsbeschädigte »Anspruch auf unentgeltliche berufliche Ausbildung zur Wiedergewinnung oder Erhöhung der Erwerbsfähigkeit« (Gesetz vom 12. Mai 1920). Über den Anspruch hatte die Hauptfürsorgestelle zu entscheiden, die verpflichtet wurde, den Beschädigten »bei der Wahl eines geeigneten Berufs, bei der Berufsausübung und bei der Unterbringung im Erwerbsleben beizustehen« (Reichsversorgungsgesetz 1925, 14). Auch dieses Gesetz wirkt bis heute nach. Die Grundstrukturen wurden vom Bundesversorgungsgesetz des Jahres 1952 übernommen, selbst im Sozialgesetzbuch, SGB IX, finden sich Elemente des Gesetzes wieder. Ziel der Gesetzgebung war, die Stigmatisierung zu überwinden und die Beschädigten produktiv in den Wirtschaftsprozess einzugliedern. Um den Betrieben Anreize für die Einstellung Kriegsinvalider zu geben, wurde den Arbeitgebern Anfang 1919 aufgegeben, 1 % der Arbeitsplätze mit Kriegsbeschädigten oder zivilen Schwerbehinderten (MdE über 50 %) zu besetzen (RGBl [Reichsgesetzblatt], Verordnung vom 9. Januar 1919, 28). Am 6. April 1920 wurde das »Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter« verabschiedet, es eröffnete die Möglichkeit, Leichtbeschädigte mit Schwerbeschädigten gleichzustellen. Das Gesetz richtete die Funktion des Vertrauensmannes der Schwerbeschädigten ein und verbesserte den Kündigungsschutz für Schwerbehinderte. Vor einer Kündigung war die Einwilligung der Hauptfürsorgestellen einzuholen. Eine novellierte Fassung des Gesetzes trat 1923 in Kraft. Eine Verordnung des Reichsarbeitsministers legte die

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_39

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Schwerbehindertenquote im Jahre 1924 auf 2 % fest, eine Reglung, die bis 1945 Bestand hatte. Nachdem bereits im September 1920 (RGBl [Reichsgesetzblatt], Verordnung vom 6. April 1920, 1633) auf dem Verordnungsweg eine sogenannte ›Knochentaxe‹ erlassen worden war, erschien 1921 die erste Fassung der »Anhaltspunkte für die ärztliche Beurteilung der Erwerbsfähigkeit nach dem RVG«. Cramer zog eine erfolgreiche Bilanz: »Aufgrund der Schwerbeschädigtengesetzes 1923, das als eines der besten sozialpolitischen Gesetze nach dem 1. Weltkrieg gilt, gelang es trotz Wirtschaftskrisen, die schwerbeschädigten Kriegsopfer, deren Zahl bis zum Jahre 1930 auf 350.000 angestiegen war, und rund 100.000 schwerbeschädigte Arbeitsopfer fast restlos in Arbeit zu bringen.« (Cramer 1998, 4)

Häufig war die berufliche Integration und Weiterbildung von Beschädigten mit einem sozialen Aufstieg (Kleditz 1940) verbunden. Die Möglichkeit, Renten zu kapitalisieren, um Grund zum Zwecke des Eigenheimbaus zu erwerben, unterstützte diese Tendenz, die sich bei den Beschädigten des Zweiten Weltkrieges wiederholen sollte. Die Unterstützung der Kriegsopfer erwies sich als eine Daueraufgabe. Im Mai 1930 (Reichsarbeitsministerium 1929) wurden 2.204.889 Versorgungsberechtigte registriert, darunter 840.000 Beschädigte. Noch im August 1938 erhielten 770.559 Kriegsbeschädigte eine Rente. Der personelle Aufwand war erheblich. 1927 standen 7703 Beamte und 2105 Angestellte und Arbeiter im Dienst der Versorgungsbehörden. Bis zu diesem Zeitpunkt war eine umfassende Infrastruktur aufgebaut worden. Diese umfasste 14 Hauptversorgungsämter, 101 Versorgungsämter, 37 orthopädische Versorgungsstellen, 16 Versorgungsärztliche Untersuchungsstellen und 20 Versorgungskrankenhäuser – einschließlich Kuranstalten.

39.1 Weltwirtschaftskrise und Nationalsozialismus Als Ende der 1920er Jahre die Weltwirtschaftskrise auch Deutschland in eine schwere Depression stürzte, kürzten die Kommunen und Armenverbände ihre Zahlungen zu Gunsten von zivilen Behinderten. Schon seit dem Ersten Weltkrieg wurden immer wieder Kosten-Nutzen-Rechnungen zu Leben und Betreuung von behinderten Menschen veröffentlicht,

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ohne allerdings eine wesentliche politische Bedeutung zu erlangen. Mit der verschlechterten Wirtschaftslage gewannen diese Untersuchungen rasch praktische Bedeutung. »Was kosten die minderwertigen Elemente Staat und Gesellschaft?«, fragte schon 1913 der Hygieniker Ignaz Kaup. Selbst die in der Rehabilitation behinderter Menschen tätigen Ärzte und die damalige Fachgesellschaft, die Deutsche Vereinigung für Krüppelfürsorge, konnten sich den drängenden wirtschaftlichen Problemen und ideologischen Strömungen nicht entziehen. Sozialdarwinistisches Gedankengut war weit verbreitet. Eine ökonomische Argumentation wurde von Vertretern der Rehabilitation immer dann bemüht, wenn die Mittel knapp wurden. Sie diente vor allem dazu nachzuweisen, dass die Fürsorge für Körperbehinderte nicht Menschen gelte, die als ›minderwertig‹ anzusehen seien. Die Trennung der Behinderten in ›wertvolle‹ und ›minderwertige‹ entsprach einer weit verbreiteten Einstellung. Die Grenzen wurden fließend, wenn das Lebensrecht von Menschen mit Behinderungen zur Disposition stand. Je stärker der materielle Wert der Kriegsbeschädigten betont wurde, desto ›minderwertiger‹ mussten Menschen mit anderen Behinderungen erscheinen. Sie konnten nicht mit dem gleichen Erfolg wie die Körperbehinderten in den Arbeitsprozess integriert werden. Die materielle Argumentation wurde später von den Nationalsozialisten übernommen und ausgebaut. Für die Kriegsbeschädigten des Ersten Weltkrieges, bei denen Körperschäden anerkannt waren, änderte sich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten nur wenig (Löffelbein 2013). Göpfert (2000) wies darauf hin, dass für die unterschiedlichen Schweregrade der Beeinträchtigung vier Versehrtenstufen eingerichtet wurden, die sich an der Höhe der MdE orientierten. Bereits kurz nach Kriegsbeginn lässt sich eine Tendenz erkennen, die darauf gerichtet war, Kriegsbeschädigte so rasch wie möglich beruflich zu integrieren. Nach dem Wehrmachtfürsorge- und Versorgungsgesetz vom 26. August 1938 war eine spezielle Berufsbetreuung vorgesehen (Lange 1943, 410–411). Dagegen verschlechterte sich die Situation für Kriegsbeschädigte, bei denen seelische Störungen anerkannt waren. Schon ein Jahr nach Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden die gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen, um Renten wegen seelischer Störungen zu entziehen. Das »Fünfte Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Verfahren in Versorgungssachen« vom 3. Juli 1934 führte dazu, dass bis 1929 insgesamt 16.000 Renten wegfielen (Neuner 2011,

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II  Geschichte der ­Vorstellungen von ­Behinderung  –  C  Geschichte spezifischer Behinderungen

230). Das 1938 und 1939 verabschiedete »Wehrmachtfürsorge- und -versorgungsgesetz« und das »Einsatzfürsorge- und Versorgungsgesetz« schlossen seelische Störungen von einer Entschädigung explizit aus. Diese Veränderung der Anspruchsgrundlage für Beschädigtenrenten sollte mehr als 30 Jahre nachwirken und noch bis in die 1990er Jahre des 20. Jahrhunderts die Entschädigungspraxis in der Bundesrepublik prägen.

39.2 Kriegsbeschädigte nach dem Zweiten Weltkrieg Mehr als fünf Millionen Deutsche verloren im Zweiten Weltkrieg ihr Leben. Im Jahre 1952 waren in den Westzonen 1.514.168 Personen als Kriegsbeschädigte anerkannt. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit betrug in dieser Gruppe zwischen 30 % und 100 %. Darunter waren mehr als 650.000 Schwerbehinderte (MdE über 50 %) (Hudemann 1988). Rechnete man die Zivilbeschädigten hinzu, so waren ungefähr 900.000 Menschen schwerbehindert (Jochheim/ Schliehe/Teichmann 2001, 571). Bis 1945 galten für die Kriegsbeschädigten die gesetzlichen Reglungen des Reichsversorgungsgesetzes (in der Fassung vom 1. April 1939), doch nach Ende des Krieges blieb offen, was mit den Kriegsbeschädigten geschehen sollte. Zacher verweist darauf, dass die Kriegsopferversorgung durch den Übergang der Staatsgewalt auf die Besatzungsmächte zunächst negativ betroffen war (Zacher 2001). Die Alliierten lösten die Nationalsozialistische Kriegsopferversorgung (NSKOV) auf. Allerdings konnten sie sich nicht auf ein einheitliches Vorgehen einigen. Im Frühsommer 1945 untersagte die amerikanische Militärregierung jegliche Auszahlung von Militärrenten und Unterstützungen für Kriegsbeschädigte. Bis zum Herbst 1945 waren die Leistungen für Kriegsopfer weitgehend storniert und die organisatorischen Strukturen der KOV beseitigt (Hudemann 1988, 400). Die Kriegsopferversorgung wurde der Sozialversicherung zugeordnet, die Versorgungsverwaltung in die Landesversicherungsanstalten integriert. Damit waren die Kriegsopfer den Zivilbeschädigten gleichgestellt. Aufzeichnungen über die Dienstzeiten der Soldaten sollten vernichtet werden. Alle Ansprüche von ehemaligen Soldaten waren gegenüber dem Rentenversicherungsträger geltend zu machen. Lediglich in der französischen Besatzungszone blieb die Versorgungsverwaltung erhalten, die Kriegsbeschädigten erhielten hier weiterhin ihre Renten. Kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde eine

Sonderversorgung der Kriegsbeschädigten als ›militaristisch‹ abgelehnt, der Begriff des ›Kriegsbeschädigten‹ wurde tabuisiert. 1946 wurde ein spezielles Gesetz für Kriegsbeschädigte für undenkbar, eine Reglung nur in einem allgemeinen Körperbehindertengesetz für möglich gehalten. Der Begriff der Versorgung wurde gestrichen. Nach langen und kontroversen Diskussionen verabschiedete der Länderrat am 9. September 1947 das Körperbeschädigten-Leistungsgesetz als Landesgesetz. Damit wurden die Kriegsopfer denjenigen Personen gleichgestellt, die von Arbeitsunfällen betroffen waren. Einkünfte aus Einkommen waren anzurechnen, die Rente betrug je nach dem Grad der Beschädigung 10–40 RM. Entschädigt wurde ab einer MdE von 30 % (in Bayern ab einer MdE von 40 %). In der sowjetischen Besatzungszone, in der die Abschaffung der Sonderfürsorge besonders intensiv betrieben wurde, setzte man die verbindliche Mindestquote für die Beschäftigung Schwerbehinderter von 4 % auf 10 % herauf. Damit gelang es, bis Ende 1947 fast allen in der SBZ registrierten 422.000 Schwerbeschädigten einen Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen. Zu diesem Zeitpunkt schätzte man die Schwerbehindertenquote auf 6–7 % der Gesamtbevölkerung. Bis 1949 wurden 87,2 % aller erfassten Schwerbehinderten vermittelt. Auch in der späteren DDR (Knabe 1960) blieben die Leistungen für Kriegsopfer bis zur Wiedervereinigung an die allgemeine Sozialversicherung gekoppelt. In den Westzonen nahm die Kriegsopferversorgung erst von 1947 »wieder den Charakter eines spezifischen Sozialleistungssystems« an (Zacher 2001, 444). Die Kriegsbeschädigten versuchten, ihren Interessen durch Gründung von Vereinen und Verbänden Nachdruck zu verleihen. Die Neugründung von Kriegsopferverbänden blieb in den ersten Nachkriegsjahren verboten. Im September 1948 konnte sich der »Bund der Kriegs- und Zivilbeschädigten, Sozialrentner und Hinterbliebenen Deutschlands« (BDK) in Stuttgart für die amerikanische und britische Zone konstituieren. Im Januar 1950 erfolgte der Zusammenschluss mehrerer Vereinigungen zum ›Verband der Kriegsbeschädigten, Kriegshinterbliebenen und Sozialrentner Deutschland e. V.‹ (VdK). Nach der Gründung der Bundesrepublik im Jahre 1949 war der Weg für eine Neuordnung der Kriegsbeschädigtenfürsorge frei. Der politische Druck, der durch die Kriegsopfer ausgeübt wurde, war erheblich. Sowohl bei den deutschen Nachkriegspolitikern als auch bei den Alliierten wurde die Gefahr politischer Radikalisierung der Kriegsbeschädigten gesehen.

39  Kriegsbeschädigte in Deutschland im 20. Jahrhundert

Konrad Adenauer steckte in der Regierungserklärung vom 20. September 1949 den künftigen Rahmen der Kriegsopferversorgung ab (Bundesregierung 1952). Die Kriegsopferversorgung sollte nur das absolute Existenzminimum der vollständig erwerbsunfähigen Kriegsbeschädigten sichern. Wie bereits nach dem Ersten Weltkrieg stand wiederum die soziale und berufliche Integration der Kriegsbeschädigten im Vordergrund. Die Regelungen des BVG belasteten den Haushalt der neu gegründeten Bundesrepublik bis an die Grenze. Arbeitsminister Anton Storch wies auf die außerordentlich hohen Kosten hin, die das Bundesversorgungsgesetz verursachte: In Westdeutschland, einschließlich Berlin, waren 4.361.188 Personen zu versorgen, dafür wurden im Jahre 1952 3342 Milliarden Mark benötigt. Diese Summe stand im Bundeshaushalt »an erster Stelle hinter den Besatzungskosten«. 1952 folgerte die Regierung: »Auf Jahrzehnte hinaus wird also das deutsche Volk und seine Regierung sich mit den Kriegsopferproblemen zu befassen haben« (Bundesregierung 1952, 16). 1953 wurde die Schwerbeschädigtenfürsorge vereinheitlicht. Die Arbeitgeber hielten eine Pflichtquote von 5 % für angemessen, die Verbände forderten 8 bis 12 %. Die Einstellungsquote wurde auf 8 % festgelegt, für öffentliche Verwaltungen, Banken und Bausparkassen betrug sie 10 %. Es bestand die Möglichkeit der Gleichstellung ab einer MdE von 30 %. Neu eingeführt wurde eine Ausgleichsabgabe. Für jeden nicht besetzten Pflichtplatz war eine Zahlung von 50 DM zu leisten. Dank des Wirtschaftsaufschwungs löste sich das Problem der beruflichen Integration der Schwerbehinderten. Für die Begutachtung und Einschätzung der Kriegsbeschädigten wurden nach Verabschiedung des BVG wiederum »Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen« durch das Bundesministerium für Arbeit herausgegeben. Diese beruhten auf Beratungen des vom Ministerium gebildeten ›Ärztlichen Sachverständigen-Beirat für Fragen des Versorgungswesens‹. Ein Handbuch der versorgungsärztlichen Statistik, mit dem eine »gleichmäßige Erfassung der Versorgungsleiden« hätte erfolgen sollen und ein »Vergleich der gesundheitlichen Auswirkungen beider Weltkriege« möglich gewesen wäre, war zwar geplant, wurde jedoch nie verwirklicht (Presse- und Informationsamt 1952, 34) Die »Anhaltspunkte« gaben bis Ende 2008 den rechtlich verbindlichen Rahmen der gutachterlichen Einschätzung nach dem Versorgungsrecht und – seit 1974 – auch

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nach dem Schwerbehindertenrecht vor. Im Januar 2009 trat die anfänglich kaum veränderte »Versorgungsmedizin-Verordnung« an ihre Stelle, die bis heute Gültigkeit hat.

39.3 Berufliche und soziale Integration Das Hauptziel aller sozialpolitischen Bemühungen bestand darin, die Kriegsbeschädigten wieder beruflich zu integrieren. Kurz nach dem Krieg ließ sich noch nicht voraussehen, ob diese Aufgabe erfolgreich gelöst werden würde. »Die Berufsfrage ist das zentrale Problem aller Schwerbeschädigtenfürsorge. Man kann geradezu sagen: mit einem sinnvollen, d. h. sozial nützlichen und den Versehrten selbst befriedigenden Berufseinsatz, ist das Schwerbeschädigtenproblem grundsätzlich gelöst. Durch einen solchen Berufseinsatz wird der Schwerbeschädigte aus seiner gesellschaftlichen Isolierung, aus seiner Rolle, Zaungast des Lebens zu sein, erlöst und dem sozialen Leben zurückgewonnen.« (Fickert 1950, 173)

Es bestehe eine enge Verbindung zwischen Zufriedenheit, seelischer Gesundheit und Arbeit: »Der richtige Berufseinsatz ist die Psychotherapie des Schwerversehrten« (ebd.). Die berufliche Integration zielte darauf ab, den Betroffenen möglichst in seinem alten oder einem artverwandten Beruf einzusetzen, um seine Ausbildung und die Erfahrungen zu nutzen. Ein sozialer Abstieg war zu vermeiden. »Ausweichstellen als Bote, Pförtner, Waschraumwärter, Fahrradwächter« kämen nur in Ausnahmefällen in Frage (Loose 1950, 351). Die Grenzen der Zumutbarkeit waren allerdings weit gesteckt. Es erschien durchaus möglich, Arm- oder Beinamputierte in gewerblichen Tätigkeiten einzusetzen. Beinamputierte führten auch stehende Arbeiten aus. Nicht der körperliche Defekt, sondern die Einstellung sei ausschlaggebend. Die hohe Bereitschaft der Kriegsbeschädigten, auch Arbeiten anzunehmen, die sie zu einer besonderen Willensanstrengung zwangen, ist charakteristisch und kommt in den Veröffentlichungen der Organisationen der Kriegsbeschädigten immer wieder zum Ausdruck. Die Beschädigung schien geradezu neue Energien freizusetzen, um zu beweisen, dass Leistungen trotz der Beeinträchtigung erbracht werden konnten. Der Jurist Hans Fickert schrieb, dass der Versehr-

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II  Geschichte der ­Vorstellungen von ­Behinderung  –  C  Geschichte spezifischer Behinderungen

te versuche, die »Einschränkung der Lebensvollmacht« zu neutralisieren: »Was den anderen mühelos und wie selbstverständlich zufällt: volle Leistungsfähigkeit im Beruf, Erholung und Ertüchtigung im Sport, Gelöstheit und Lebensfreude auf Fahrten und Wanderungen, Beschwingtheit im Tanz usw., das alles muß der Versehrte versuchen, über eine besondere Willensanstrengung, auf Nebenwegen gleichsam, auch zu erreichen. Diese besondere Last, die dem Schwerbeschädigten durch seine Versehrtheit aufgebürdet wird und die er niemals völlig abschütteln kann, ist sein besonderes Schicksal, das seinen Charakter ebenso wie seinen Lebensweg bis zum Ende prägt. Die Auseinandersetzung mit diesem Schicksal wird zu seiner ursprünglichsten Lebensaufgabe.« (Fickert 1950, 169)

39.4 Medizinische Betreuung und sportliche Aktivitäten Die orthopädietechnische Versorgung der Kriegsbeschädigten konnte nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges als gelöst angesehen werden. 200.000 Menschen, zum allergrößten Teil handelte es sich um Beinamputierte, trugen Kunstglieder; 570.000 Personen wurden mit orthopädischen Hilfsmitteln versorgt. Eine besonders betroffene Problemgruppe stellten die 1500 bis 1600 Beschädigten dar, die beide Arme oder Hände verloren hatten. Bis 1961 hatten sich etwa 700 Ohnhänder einer Krukenberg-Operation unterzogen (Lorenzen 1961, 62). In den 1950er und 1960er Jahren war für die Kriegsbeschädigten ein Netz an Einrichtungen geschaffen worden, das auf ihre spezifischen Bedürfnisse abgestimmt war. 1950 wurden in den Bundeshaushalt dafür 165 Millionen DM eingestellt, eine Summe, die 1952 auf 215 Millionen DM erhöht wurde. Zu diesem Zeitpunkt standen den Beschädigten 19 versorgungseigene oder von der Versorgungsverwaltung betriebene medizinische Einrichtungen mit rund 4000 Betten zur Verfügung. Die Verwaltung belegte zusätzlich 36 Kuranstalten mit bis zu 150 Betten. Aufgabe der Versorgungskrankenhäuser war »die Behandlung, die Beobachtung, und die Begutachtung«, sie dienten der »Aufnahme pflegebedürftiger Beschädigter, die wegen schwerer Folgezustände von Verletzungen besonderer ärztlicher Betreuung« bedurften (Bundesregierung 1952). In diesen Einrichtungen und in weiteren allgemeinen Krankenhäusern wurden »20 Sonderstatio-

nen für orthopädisch-chirurgisch zu Versorgende, für Kiefer- und Gesichtsverletzte, Hirnverletzte, Ohnhänder, Querschnittgelähmte und Tuberkulöse geschaffen« (ebd.). Besondere Bedeutung kam dem Versorgungskrankenhaus in Bad Tölz mit 540 Betten und den Versorgungskrankenhäusern in Bayreuth und Tübingen zu. Als wegweisend sollte sich der Versehrtensport für die Sekundärprophylaxe erweisen (s. Kap. 14). Sportliche Aktivitäten waren integraler Bestandteil der Rehabilitation. Mit ihrer Hilfe sollten kompensatorische Fähigkeiten entwickelt werden, um Überlastungsschäden und Atrophien zu vermeiden. Darüber hinaus sollte der Sport seelisch stimulieren und antidepressiv wirken oder, wie Lorenzen formulierte: »Versehrtensport will zur inneren Aufrichtung, zur Erhaltung der Spannkraft und Steigerung der Leistungsfähigkeit und damit zum Meistern des Lebens beitragen« (Lorenzen 1961, 13). Bereits ab 1947 fanden Zonenmeisterschaften der Kriegsbeschädigten statt. 1951/1952 wurde die ›Arbeitsgemeinschaft Deutscher Versehrtensport‹ gegründet, aus der später der ›Deutsche Versehrtensportbund‹ hervorging. Seit 1956 wurden heilgymnastische und bewegungstherapeutische Übungen als Gruppenbehandlung (Versehrtensport) über das BVG finanziert. Der Sport wurde als lebensbegleitende Therapie angesehen, bei der es nicht um Sieg oder Niederlage gehe, sondern »um inneren Halt und Aufbau, Versöhnung mit dem Schaden, um Ruf und Ansehen der Person in der Gemeinschaft der Mitmenschen und im öffentlichen Leben« (Lorenzen 1961, Vorwort). Die Kriegsbeschädigten leisteten einen wichtigen Beitrag zur Wiederaufnahme Deutschlands in die internationale Staatengemeinschaft. Der Austausch mit Kriegsbeschädigten aus Frankreich und den angelsächsischen Ländern spielte eine große Rolle. Dabei interessierten sich die Kriegsopferverbände auch für die Rehabilitation von Querschnittgelähmten in England, die als beispielhaft galt. Im Februar 1944 hatte Ludwig Guttmann auf Beschluss der britischen Regierung ein Zentrum für Querschnittgelähmte am Stoke-Mandeville Hospital in Alesbury begründet und ein bis heute akzeptiertes Konzept der Betreuung Querschnittgelähmter entwickelt (Kreusch/Lemberg/ Volkmann 1957). Auf ihn geht auch der Gedanke olympischer Wettkämpfe von Behinderten zurück. Die ersten Spiele fanden im Jahre 1948 zeitgleich mit dem Beginn der Olympischen Spiele in Stoke-Mandeville mit 16 Teilnehmern statt (Guttmann 1971, 162). Nur elf Jahre später, 1959, beteiligten sich Ath-

39  Kriegsbeschädigte in Deutschland im 20. Jahrhundert

leten aus 23 Nationen an der Veranstaltung (Lorenzen 1961, 10). Die Kriegsbeschädigten und ihre Organisationen gaben die entscheidenden Anstöße für einen Aufbau von Sonderstationen für Querschnittgelähmte, die später vor allem von den Berufsgenossenschaften realisiert wurden. Mitte der 1950er Jahre waren die größten Probleme der Integration der Kriegsbeschädigten gelöst. Dabei spielte die ökonomische Entwicklung die entscheidende Rolle. Der Arbeitsmarkt hatte sich als genügend aufnahmefähig erwiesen, der Wirtschaftsaufschwung »setzte die erforderlichen Finanzmitteln in einem zur Zeit der Gründung der Bundesrepublik noch nicht vermuteten Ausmaß« frei (Hudemann 1988, 539). Nach und nach weitete sich der Blick auf diejenigen Menschen, die nicht nur von körperlichen Behinderungen betroffen oder durch den Krieg geschädigt worden waren (Bösl 2009). Literatur

Biesalski, Kurt: Wie helfen wir unseren Kriegskrüppeln? In: Zeitschrift Krüppelfürsorge 7 (1914), 281–287. Bösl, Elsbeth: Politiken der Normalisierung: Zur Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Bielefeld 2009. Bundesregierung (Hg.): Die Versorgung der Kriegsopfer in der Bundesrepublik Deutschland. (Das Bundesversorgungsgesetz) Stand 30.9.1952. Bonn 1952. Cramer, Horst H.: Das Schwerbehindertengesetz. München 51998. Fickert, Hans: Versehrtenhilfe als soziologisches Problem. In: Heinz Püster (Hg.): Der Schwerbeschädigte in der Gesetzgebung und am Arbeitsplatz. Herford 1950, 167– 177. Göpfert Hartmut: MdE: Minderung der Erwerbsfähigkeit – Begutachtung in Deutschland seit 1871 – und zukünftig. Frankfurt a. M. 2000. Guttmann, Ludwig: Prinzipien und Methoden der Behandlung und Rehabilitation von Rückenmarksverletzten. In: Franz Karl Kessel/Ludwig Guttmann/Georg Maurer (Hg.): Neurotraumatologie mit Einschluß der Grenzgebiete. München/Berlin/Wien 1971, 76–163. Hudemann, Rainer: Sozialpolitik im deutschen Südwesten zwischen Tradition und Neuordnung 1945–1953. Sozial-

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versicherung und Kriegsopferversorgung im Rahmen französischer Besatzungspolitik. Mainz 1988. Jochheim, Kurt-Alphons/Schliehe, Ferdinand/Teichmann, Helfried: Rehabilitation und Hilfen für Behinderte. In: Udo Wengst (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Bd. 2/1: 1945–1949: Die Zeit der Besatzungszonen. Sozialpolitik zwischen Kriegsende und der Gründung zweier deutscher Staaten. Baden-Baden 2001, 559–586. Kaup, Ignaz: Was kosten die minderwertigen Elemente Staat und Gesellschaft? In: Archiv für Rasse- und Gesellschaftsbiologie 10 (1930), 723–748. Kleditz, Emil: Der Schwerbeschädigte in der Eisen- und Metallindustrie. In: Emil Kleditz (Hg.): Die Beschäftigung von Schwerbeschädigten in der Eisen- und Metallindustrie. Hannover [1940]. Knabe, Erich: Der Schwerbeschädigte. Seine Rechte und Pflichten. Berlin 1960. Kreusch, [Wolfgang]/Lemberg, [Karl Ludwig]/Volkmann, [P.]: Das Institut für Rückenmarkverletzte in Stoke-Mandeville. In: Bundesministerium für Arbeit (Hg.): Rehabilitation in England. Stuttgart 1957, 147–186. Kriegsinvalidenfürsorge: Erlaß des Innenministeriums vom 10.5.1915. In: Concordia 22 (1915), 177–181. Lange, Max: Kriegsorthopädie. Stuttgart 1943. Löffelbein, Nils: Ehrenbürger der Nation. Die Kriegsbeschädigten des Ersten Weltkriegs in Politik und Propaganda des Nationalsozialismus. Essen 2013. Loose, Hans-Walter: Der Schwerbeschädigte im Betrieb. In: Heinz Püster (Hg.): Der Schwerbeschädigte in der Gesetzgebung und am Arbeitsplatz. Herford 1950, 351–361. Lorenzen, Hans: Lehrbuch des Versehrtensports. Bewegungstherapie als Mittel der Rehabilitation. Versehrtenleibesübungen aus sportpädagogischer Sicht. Stuttgart 1961. Neuner, Stephanie: Politik und Psychiatrie. Die staatliche Versorgung psychisch Kriegsbeschädigter in Deutschland 1920 bis 1939. Göttingen 2011. Reichsarbeitsministerium (Hg.): Deutsche Sozialpolitik 1918 bis 1928. Berlin 1929. Reichsversorgungsgesetz: Das Reichsversorgungsgesetz (R. V. G.) vom 12. Mai 1920 in der Fassung vom 31. Juli 1925. Berlin 1925. Zacher, Hans F.: Grundlagen der Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. In: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und Bundesarchiv (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Bd. 1. Baden-Baden 2001, 333–684.

Klaus-Dieter Thomann

III Kulturwissenschaftliche Themenfelder

40 Einleitung: Kulturelle Perspektiven Der Begriff ›Kultur‹ impliziert, im Gegensatz zu seinem Komplementärbegriff ›Natur‹, die Einwirkung und Interpretation des Menschen. Die Fragestellungen der Kulturwissenschaften richten sich entsprechend darauf, »unter welchen Voraussetzungen, mit welchen Verfahren, Funktionen und Konsequenzen« Kultur vom Menschen gemacht wird (Assmann 2006, 15). Der Gegenstandsbereich ist entsprechend offen und umfasst Artefakte, Institutionen, Kommunikationen und Handlungen, die spezifische Wahrnehmungs-, Symbolisierungs- und Kognitionsstile verraten, Werte, Bedeutungs- und Sinnkonstruktionen und Denkformen, aber auch Empfindungsweisen, kurz: Selbstauslegungen und Umweltinterpretationen einer Gruppe (vgl. Posner 1991; Nünning 2004, 179). »Das kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm zielt darauf ab, die impliziten, in der Regel nicht bewussten symbolischen Ordnungen, kulturellen Codes und Sinnhorizonte zu explizieren, die in unterschiedlichsten menschlichen Praktiken – verschiedener Zeiten und Räume – zum Ausdruck kommen und diese ermöglichen. Indem die Abhängigkeit der Praktiken von historisch- und lokal-spezifischen Wissensordnungen herausgearbeitet wird, wird die Kontingenz dieser Praktiken, ihre Nicht-Notwendigkeit und Historizität demonstriert.« (Reckwitz 2004, 2)

Der Untersuchungsgegenstand ›Kultur‹ der Kulturwissenschaften ist also keinem Bildungskanon verpflichtet, sondern allen »Formen symbolischer Weltdeutung, zu denen naturwissenschaftliche Parameter, politische und gesellschaftliche Praktiken genauso zu zählen sind wie Subkulturen«, wobei die »Unsicherheit dessen, was zum Untersuchungsgegenstand gemacht werden kann und mit welchen Methoden dies zu geschehen hat«, ein wesentlicher Teil der kulturwissenschaftlichen Arbeit ist (Kimmich 2008, 495). Der Plural des Wortes zeigt an, dass es sich nicht um ein neues Fach handelt, sondern um eine methodischthematische Neuorientierung der Einzelwissenschaften (vgl. Köppe/Winko 2013, 218).

Menschen erfahren ihre Umwelt durch den Filter kulturell bedingter kognitiver Schemata oder ›Rahmungen‹ (frames), die sozial erworben werden und Wahrnehmungen und Handlungen auf kognitiver und auf emotionaler Ebene vorstrukturieren (vgl. Schmidt 2000). Dies geschieht über Erwartungen, die bestimmte Wahrnehmungen und Handlungen wahrscheinlicher machen als andere und daher evaluativ und präskriptiv sind. Auch ›Behinderung‹ wird anhand solcher Rahmungen konstruiert und als Konzept selbst zu einer Rahmung. Kulturwissenschaftliche Ansätze bei der Untersuchung des Phänomens Behinderung unterscheiden sich von soziologischen oder pädagogischen Ansätzen vor allem dadurch, dass Vorstellungsphänomene (Repräsentationen, Symbolisierungen) fokussiert werden, Behinderung folglich nicht in erster Linie als Element der Gesellschaftsstruktur (also von situierten Praktiken oder institutionalisierten sozialen Beziehungen im Sinne von ›doing disability‹) oder als Gegenstand der Bildung (also im Rahmen von Zielsetzungen in  einem Handlungszusammenhang) betrachtet wird. Die Kulturwissenschaften analysieren das Phänomen Behinderung auf eine andere Weise: Eine konstitutionstheoretische Perspektive fragt z. B. danach, wie Behinderung über Vorstellungsbilder immer wieder neu hergestellt wird und welche kulturellen Muster dadurch sichtbar werden. Stellt beispielsweise die Soziologie fest, dass Behinderung »nicht einfach ein körperlicher Zustand [ist], der Effekte aufs Einkommen hat, [...] [sondern] auch aus architektonischen Strukturen, die die Behinderung erst mit hervorbringen (so wie segregierte Toiletten und Kaufhausabteilungen ›Geschlechter‹)« (Hirschauer 2014, 187), besteht, so fragen kulturwissenschaftliche Ansätze nach den dahinter liegenden Vorstellungen (z. B. von Normalität oder von Kontingenz; s. Kap. 42, 44). Solche Vorstellungen können aus den unterschiedlichsten kulturellen Gegebenheiten hergeleitet werden: aus Bildern, Geschichten, Räumen, Institutionen, Texten, Handlungen, Kommunikationsformen usw. So arbeiten kulturwissenschaftliche Ansätze z. B. die Allgegenwart von Metaphern heraus, die sich auf Behinderung stützen und sogar in Identitätsdiskursen erscheinen, die sich eigentlich die Befreiung von Stigmatisierung sozialer Gruppen zum Ziel

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_40

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III  Kulturwissenschaftliche Themenfelder

gesetzt haben (zu Behinderungsmetaphern z. B. in Gender-Diskursen vgl. Schalk 2013; Hall 2016, 42). Eine kulturwissenschaftliche Perspektive analysiert Behindertung – ähnlich wie andere identity categories – differenztheoretisch. Das bedeutet, dass sie danach fragt, welche Funktion eine Unterscheidung wie z. B. ›behindert‹/›nicht behindert‹ in einer Kultur hat. Eine zentrale Referenz ist in diesem Zusammenhang der französische Philosoph Michel Foucault, nach dessen Definition (Les mots et les choses, 1966; Archéologie du savoir, 1969) Diskurse eine Menge von Aussagen ermöglichen, die nicht die Realität abbilden, sondern diese systematisch hervorbringen. Diskurse regeln, wie z. B. Menschen als ›behindert‹ erfahren und beschrieben werden können, was über sie gesagt werden kann bzw. muss und was nicht gesagt werden kann. Konkret entsteht der Eindruck, dass Behinderung etwas Reales ist, obwohl der Diskurs die Vorstellung erst geschaffen (konstruiert) hat – und zwar aufgrund von Machtinteressen der sich als ›nicht-behindert‹ konstruierenden gesellschaftlichen Mehrheit. Ob Behinderung vornehmlich (oder in radikalen Positionen sogar: ausschließlich) diskursiv hervorgebracht wird oder ob und vor allem wie diskursive Konstrukte und reale Beeinträchtigungen zu unterscheiden sind, wird in zahlreichen Forschungsdisziplinen lebhaft diskutiert. Von großem Nutzen für die kulturwissenschaftliche Erforschung des Gegenstandsbereichs ›Behinderung‹ könnten entsprechend auch allgemeine Theorien zur kulturellen Humandifferenzierung sein, deren Stabilität und Kontingenz Hirschauer (2014) beschreibt. Für ihn können Humandifferenzierungen grundsätzlich in zwei »ontologischen Registern« gedeutet werden, ›Natur‹ oder ›Kultur‹: »So kann etwa Leistung als angelegte Begabung oder als Effekt von Lernanstrengung gedeutet werden; die Unterscheidung von Geschlechtern kann als sex oder als gender vorgestellt werden, die von körperlichen Phänotypen als race oder ethnicity, Behinderungen als impairment oder disability. Kulturelle Differenzierungen von Menschen werden also kontinuierlich von der ontologischen Leitunterscheidung von Natur und Kultur durchkreuzt, die einen zentralen Unterschied zwischen Unterscheidungen markiert, weil sie sie in einen grundsätzlich kontingenzoffenen (Kulturalisierung) oder kontingenzaversiven (Naturalisierung) Rahmen stellt.« (Hirschauer 2014, 186)

Wenn Mitgliedschaften in Gruppen (z. B. ›Behinderte‹) aber primär Eigenschaften der Sozialorganisation

sind und nicht Eigenschaften von Individuen (Hirschauer 2014, 172), können sie in entsprechenden Kontexten immer auch nebensächlich oder gar irrelevant werden. Aus einer dekonstruktivistischen Sicht setzt sich ein Zweig kulturwissenschaftlicher Forschung zu Identitätskategorien zum Ziel, binäre Oppositionen aufzulösen. »[...] as queer theory seeks to destabilise gender binaries and the very distinction between sex (nature) and gender (culture), crip theory challenges dichotomies of able-disabled and healthy-sick, and criticises the classical separation that disability studies have made between impairment (nature) and disability (culture). This analogy between queer and crip also shares a common history of institutional oppression [...] and a history of protest and resistance, which puts body and sexuality at the centre of their struggles [...].« (García-Santesmases Fernández 2017, 160)

In dieser Sichtweise gibt es keine klare Trennlinie zwischen Natur und Kultur; vielmehr rücken, gleich einem Kippbild, die jeweilige Perspektive und der jeweilige Untersuchungskontext das eine oder das andere in den Vordergrund, so dass ein und derselbe Sachverhalt je nach Kontext als Natur oder als Kultur erscheint. Dabei gibt es immer auch Kulturwissenschaftler*innen, die dieses ›Kippphänomen‹ fixieren wollen und z. B. im Zusammenhang mit Behinderung sogar die körperliche Materialität als kulturell bedingt auslegen (vgl. Hall 2016, 31). In den folgenden Beiträgen zu Kapitel III werden in drei Teilbereichen Perspektiven untersucht, die auf je spezifische Weise Vorstellungsbilder von Behinderung konstruieren: • Das Unterkapitel A (»Bezugsrahmen«) widmet sich der Frage, von welchen allgemeinen Perspektiven aus die Konstruktion von Vorstellungen über Behinderung kulturwissenschaftlich analysiert werden kann. • Das Unterkapitel B (»Überschneidungsbereiche«) zeigt, wie Behinderung mit anderen Diversitätskategorien ›verwoben‹ ist. Unter dem Blickwinkel der Intersektionalität wird erkennbar, wie »historisch gewordene Macht- und Herrschaftsverhältnisse, Subjektivierungsprozesse sowie soziale Ungleichheiten wie Geschlecht, Sexualität/Heteronormativität, Race/Ethnizität/Nation, Behinderung oder soziales Milieu« (Walgenbach 2017, 55) in Wechselwirkung miteinander stehen. Überschneidungsbereiche zeigen aber auch, welche

40  Einleitung: Kulturelle Perspektiven

Besonderheiten die Diversitätskategorie ›Behinderung‹ aufweist, d. h. all das, was Behinderung signifikant von anderen Diversitätskategorien unterscheidet (zu »Differences from Other Minority Groups« vgl. z. B. Gill 2001, 365–366). • Das Unterkapitel C (»Inklusion und Exklusion«) erforscht schließlich, wie das Zusammenspiel von Menschen mit und ohne Behinderung organisiert ist. Allgemein wird gefragt, wie ableism (Behindertenfeindlichkeit, die von bestimmten menschlichen Fähigkeiten und Eigenschaften als Norm ausgeht, s. Kap. 51) analog zu Sexismus, Rassismus oder Kolonialismus konzipiert werden kann und welche (kritischen und praktischen) Ansätze es gibt, ableism in der sozialen Praxis aufzulösen. Denn: »Kontingent sind Humandifferenzierungen nicht nur, weil sie hergestellt und aufgebaut, sondern auch, weil sie gebraucht, übergangen und abgebaut werden können« (Hirschauer 2014, 173). Literatur

Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006. García-Santesmases Fernández, Andrea: Sexual Dissidence and Crip Empowerment in Yes, We Fuck! In: Catalin Brylla/Helen Hughes (Hg.): Documentary and Disability. London 2017, 159–173. Gill, Carol J.: The Social Experience of Disability. In: Gary L. Albrecht/Katherine D. Seelman/Michael Bury (Hg.): Handbook of Disability Studies. Thousand Oaks 2001, 351–372. Hall, Alice: Literature and Disability. Oxon/New York 2016. Hirschauer, Stefan: Un/doing Differences. Die Kontingenz

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sozialer Zugehörigkeiten. In: Zeitschrift für Soziologie 43/3 (2014), 170–191. Kimmich, Dorothee: Kulturwissenschaften. In: Dies./Rolf G. Renner/Bernd Stiegler (Hg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Vollst. überarb. und aktualisierte Neuausgabe. Stuttgart 2008, 493–501. Köppe, Tilmann/Winko, Simone: Neuere Literaturtheorien. Eine Einführung. 2., aktualisierte und erw. Auflage. Stuttgart/Weimar 2013. Nünning, Ansgar: Literatur, Mentalitäten und kulturelles Gedächtnis: Grundriß, Leitbegriffe und Perspektiven einer anglistischen Kulturwissenschaft. In: Ders. (Hg.): Literaturwissenschaftliche Theorien, Modelle und Methoden. Eine Einführung. 4., erw. Auflage. Trier 2004, 173– 197. Posner, Roland: Kultur als Zeichensystem. Zur semiotischen Explikation kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe. In: Aleida Assmann/Dietrich Harth (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt a. M. 1991, 37–74. Reckwitz, Andreas: Die Kontingenzperspektive der ›Kultur‹. Kulturbegriffe, Kulturtheorien und das kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm. In: Friedrich Jaeger/ Jörn Rüsen (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 3: Themen und Tendenzen. Stuttgart/Weimar 2004, 1–20. Schalk, Sami: Metaphorically Speaking: Ableist Metaphors in Feminist Writing. In: Disability Studies Quarterly 33/4 (2013), https://dsq-sds.org/article/view/3874/3410 (24.03.2020). Schmidt, Siegfried J.: Kalte Faszination. Medien, Kultur, Wissenschaft in der Mediengesellschaft. Weilerswist 2000. Walgenbach, Katharina: Heterogenität – Intersektionalität – Diversity in der Erziehungswissenschaft. 2., durchgesehene Auflage. Opladen/Toronto 2017.

Susanne Hartwig

A Bezugsrahmen 41 Schmerz, Körper, Materialität 41.1 Einleitung Bisher ist die Bedeutung der Schmerzerfahrung im Zusammenhang mit einer Behinderung in den Disability Studies kaum zum Thema gemacht worden. In der 2006 veröffentlichten Encyclopedia of Disability gibt es zwar einen Beitrag zum Thema Schmerz, der sich jedoch ausschließlich mit chronischen Schmerzen befasst (vgl. Meldrum 2006). Gelegentlich taucht die Thematik in größeren Zusammenhängen auf, etwa bei Grech (2012), der sich aus neokolonialer Perspektive mit dem Thema Behinderung im Globalen Süden befasst. Das geringe Interesse hat vermutlich mehrere Gründe. Einer davon dürfte die Tatsache sein, dass Schmerz bei den meisten Beeinträchtigungen, wie etwa des Lernens, Sehens, Sprechens oder Hörens, nicht zum typischen Erscheinungsbild gehört und insofern nicht relevant ist. Ein ganz anders gelagerter Grund für die Zurückhaltung gegenüber dem Thema könnte aber auch die lange Tradition sein, Behinderung mit Leiden zu identifizieren, d. h. das Leben mit einer Behinderung per se als leidvollen Zustand zu charakterisieren. Hieraus wird bis in die Gegenwart hinein nicht nur abgeleitet, dass Behinderung eine Seinsform darstellt, die unweigerlich mit einer Minderung der Lebensqualität einhergeht (vgl. Dederich 2013, 169–174), sondern auch, dass sie ein Grund sein kann, jemandem das Recht auf Leben abzusprechen (s. Kap. 19). Wie nachfolgend gezeigt werden soll, ist der Schmerz trotzdem ein wichtiges Thema für die Disability Studies. Hierfür lassen sich sehr unterschiedlich gelagerte Gründe anführen. Zum einen gewinnt das Thema im Rahmen eines weitgefassten Behinderungsbegriffs, der beispielsweise hochaltrige Menschen mit chronischen Beschwerden berücksichtigt, an praktischer Relevanz. Diese zeigt sich auch, wenn das Thema Behinderung in einer globalen Perspektive in den Blick genommen und die Situation in Ländern analysiert wird, in der es keine oder nur eine unzurei-

chende Gesundheitsversorgung und Strukturen der Hilfe gibt. Zum anderen – und hierauf wird der Fokus der Überlegungen liegen – zwingt die Erfahrung von Schmerz, in den Disability Studies weitverbreitete Konzeptionierungen des Körpers zu überdenken und damit zusammenhängende Modelle von Behinderung kritisch zu reflektieren. Während nämlich das medizinische Modell die Behinderung an Schädigungen des Körpers koppelt, geht das soziale Modell von Behinderung den umgekehrten Weg, indem es den Körper und körperliche Schädigungen als von Kultur und Gesellschaft ganz unabhängige, quasi natürliche Sachverhalte konzipiert und diese strikt von der sozial hergestellten Behinderung trennt (vgl. Waldschmidt 2005) (s. Kap. 4). Das kulturelle Modell wiederum tendiert dazu, den Körper und Schädigungen als Produkte oder Effekte von Symbolisierungspraktiken und diskursiven Einschreibungen zu behandeln und sie damit in gewisser Weise zu entkörperlichen (vgl. Dederich 2012). Aus einer stark phänomenologisch geprägten Perspektive soll im Kontrast zu diesen drei Modellen am Leitfaden des Schmerzes zumindest in Ansätzen ein Zugang umrissen werden, der die Materialität des Körpers weder verabsolutiert noch ausblendet oder diskursiviert. Nachfolgend wird es zunächst darum gehen, den Schmerz als Erfahrung zu beschreiben und die komplexen Wechselwirkungen zwischen Schmerz, Gesellschaft und Kultur herauszuarbeiten. In diesem Zusammenhang werden auch die Beschränkungen des medizinischen, sozialen und kulturellen Modells thematisiert. Im letzten Abschnitt soll skizziert werden, welche praktische Relevanz die Thematik für Menschen mit Behinderungen hat.

41.2 Zur Phänomenologie des Schmerzes Die Erfahrung von Schmerz und die mit ihr gegebene unmittelbare Konfrontation mit der eigenen Verletzlichkeit und Endlichkeit ist allen Menschen gemein-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_41

41  Schmerz, Körper, Materialität

sam. Dies dürfte der Grund dafür sein, dass Schmerz seit jeher nicht nur die Heilkunde, sondern auch die Religionen und die Wissenschaften beschäftigt hat. Diese haben einerseits sehr unterschiedliche Erklärungsmodelle für den Schmerz, andererseits eine Vielfalt heterogener Praktiken seiner Bekämpfung bzw. Linderung hervorgebracht. Während manche Kulturen den Schmerz als unausweichliche Erfahrung des menschlichen Lebens anzunehmen suchen und ihn als bedeutsamen Trittstein auf einem individuellen oder kollektiven Heilsweg verstehen, haben andere viel Erfindungsreichtum darauf verwendet, ihn möglichst weitgehend zu überwinden. Tatsächlich gehören Praktiken der Selbstimmunisierung gegen den Schmerz zu den wichtigsten Kulturtechniken. In manchen Kulturtheorien gelten der Schmerz und die Modi, ihn zu artikulieren und zu bewältigen, als Grundlage menschlicher Kultur überhaupt (vgl. Weigel 2007). Im Kontext der europäischen Kultur hat sich seit den Anfängen der Neuzeit der Modus der Schmerzbekämpfung mit den Mitteln der Wissenschaften durchgesetzt. Dieser Modus steht in engem Zusammenhang mit modernen Körpertechnologien, die direkt am Körper in seiner bio-physischen Materialität ansetzen und diese durch gezielte Eingriffe – beispielsweise durch chirurgisches Entfernen, prothetisches Wiederherstellen (s. Kap. 13), gentechnologischen Umbau oder pharmakologisches Betäuben – zu beeinflussen und zu verändern suchen (vgl. Dederich 2009). Diese Technologien sind Ausdruck einer »Universal-Analgetik« (Sloterdijk 1986, 161) – einer Programmatik, die auf Linderung oder Überwindung all dessen abzielt, was dem Menschen Schmerzen bereitet oder Leiden zufügt. Diese hat weitreichende Folgen für die medizinische Praxis sowie für die Erwartungen der Menschen an ein gutes Leben (s. Kap. 22), einschließlich ihrer Hoffnungen auf ein gutes Sterben. So ist, wenn der Körper zur Last und das Leben aufgrund von Schmerzen zur Qual wird, in medizinethischen Debatten immer wieder der Ruf nach aktiver Sterbehilfe als gleichsam letztem Mittel der Schmerztherapie zu hören (vgl. Wils 2007). Schmerz und Leiden müssen überwunden werden, und sei es mit dem Mittel der Selbst- oder Fremdtötung. Was aber ist Schmerz? Die Weltschmerzorganisation International Association for the Study of Pain (IASP) definiert Schmerz als »ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potentieller Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird« (vgl. http://www.schmerzliga.de). Wie die

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Deutsche Schmerzliga erläutert, ist Schmerz von großer Bedeutung für das Überleben des Menschen. Er »dient als Warnsignal und hat die Aufgabe, den Körper zu schützen, indem er beispielsweise auf eine Verletzung oder eine drohende Gewebeschädigung hinweist« (Schmerzliga o. J.). Akuter Schmerz ist lokal und zeitlich begrenzt und wird in der Regel durch einen Reiz ausgelöst. Chronischer, d. h. langanhaltender Schmerz kann hingegen oft nicht auf einen bestimmten Auslöser zurückgeführt werden. Nach dieser Definition ist Schmerz ein physisches Geschehen, das an eine Schädigung gekoppelt ist. Dabei ist die tatsächliche oder potentielle Gewebeschädigung, d. h. die beschädigte oder dysfunktional arbeitende Materialität des Körpers, die Ursache der Schmerzerfahrung. Während dieses Verständnis beispielsweise bei Zahnschmerzen oder Nierenkoliken zutreffend sein mag, greift es jedoch bei psychosomatischen Störungen, bei denen sich seelisches Leid in Form körperlicher Beschwerden oder Schmerz artikuliert, ersichtlich zu kurz. Hinzu kommt, wie die Phänomenologie des Schmerzes zeigt, dass der erfahrene Schmerz immer auch ein psychisches Phänomen ist, ein affektiv besetztes seelisches Erleben. Auch physischer Schmerz ist ein das Bewusstsein betreffendes Ereignis (vgl. Le Breton 2003, 9–10). Deshalb ist der Schmerz im Rahmen der strikten cartesianischen Trennung von Körper und Geist nicht angemessen zu fassen – er unterläuft den »Dualismus von körperlichen Vorgängen und seelischen Erlebnissen« (Waldenfels 2010, 345). Hinzu kommt: Wenn der Schmerz von sozialen und kulturellen Aspekten der Schmerzerfahrung abgekoppelt und alleine als Modus der Reizverarbeitung infolge einer Gewebeschädigung konzipiert wird, rücken mögliche externe, dem Körper äußerliche Ursachen oder Auslöser des Schmerzes aus dem Blick, etwa unzureichende medizinische Versorgung, Folter oder Vernachlässigung. Ebenso wenig können seelische und psychosoziale Folgen der Schmerzerfahrung berücksichtigt werden (vgl. Grüny 2007, 18). Vor diesem Hintergrund erweist sich ein phänomenologisch ansetzendes Verständnis des Schmerzes als angemessener, um die Komplexität des Phänomens zu erfassen. Jean-Pierre Wils umschreibt den Schmerz als akute, das Wohlbefinden störende körperliche bzw. seelische Bedrängnis (vgl. Wils 2007, 73). Hinzu kommt, wie Waldenfels betont, dass Schmerzen »physisch und symbolisch zugleich sind« (Waldenfels 2010, 245). Die symbolische Dimension des Schmerzes verweist einerseits auf die individuelle Biographie

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – A Bezugsrahmen

und die Weise, wie ein Mensch eine gegebene Schmerzerfahrung bewältigt, andererseits auf Gesellschaft und Kultur und die Techniken, die sie zur Deutung und Bewältigung des Schmerzes bereitstellen. Beide prägen die Art und Weise mit, wie ein Mensch seine Schmerzen erfährt und sich darauf bezieht. Mit anderen Worten: Ein angemessen komplexer Schmerzbegriff setzt an den »Schnittpunkten von Körper, Gehirn und Kultur« (Morris 1994, 11) an und berücksichtigt, dass dieser einen »historischen, kulturellen und psychosozialen Aufbau« (ebd., 9) hat. Phänomenologisch betrachtet, ist der Schmerz, der qualitativ als schneidend, bohrend, pochend, dumpf, stechend usw., aber auch als lustvoll erlebt werden kann, ein »Widerfahrnis« oder »Überkommnis« (Waldenfels 1991, 122), ein »Getroffenwerden« im Modus körperlicher Affektion (vgl. Buytendijk 1948). Mit Ausnahme des lustvollen Schmerzes, der einen Sonderfall darstellt, wird er als »Gegner« (Bahr 2007, 25) empfunden, »der das Leben oft unversehens aus dem Verborgenen angreift, bedrängt, schwächt, niederwirft« (ebd.). Zur Phänomenologie des Schmerzes gehört auch, dass der Körper, der normalerweise gleichsam ›stumm‹ und im Hintergrund bleibt, sich als »störend Anwesendes« (Plügge 1967, 63) und »Fremdes« (ebd.) unserer Aufmerksamkeit aufdrängt. Wie Herbert Plügge bemerkt, gehört es »[...] zum widersprüchlichen Charakter unserer Leiblichkeit, daß ein Sich-bemerkbar-machen, ein Sich-entfremden und eine gleichzeitig erfahrene Zugehörigkeit dieser sich entfremdenden Partie zu unserer Leiblichkeit sich nicht ausschließen, sondern gegenseitig geradezu fordern. [...] Liegt mir mein Herz wie ein Stein in der Brust, erlebe ich gleichzeitig mehr als je, daß dieses Schwere mein Herz ist, obgleich es sich wie etwas Eigenständiges, Autonomes benimmt.« (Plügge 1967, 63–64)

Wie Plügge zeigt, bleibt leichter Schmerz eher am Rande des Bewusstseins und kann phasenweise ausgeblendet werden. Starker Schmerz hingegen kann andere Gegebenheiten des Bewusstseins vollständig in den Hintergrund drängen (vgl. Plügge 1967). Abgesehen von Sonderfällen wie dem selbstverletzenden Verhalten, bei dem das Sich-Spüren im Schmerz eine (auf die Dauer allerdings dysfunktionale) ich-stabilisierende Funktion annehmen kann (vgl. Sachsse/Herbold 2015), führt insbesondere starker Schmerz oft zu einer »Destabilisierung des Ichs« (Wils

2007, 81). Darüber hinaus unterbrechen als stark empfundene Schmerzen zumindest für die Zeit ihrer Dauer den normalen und vertrauten Lauf der Dinge und stellen Alltagsroutinen in Frage. Als »Angriff auf das Wohlergehen« (Wils 2007, 62) können sie sogar in einen »totalen Selbst- und Weltverlust« (Waldenfels 2002, 83) münden. Im Erleben des Schmerzes wird der Mensch gleichzeitig sich selbst entrissen und auf sich selbst zurückgeworfen.

41.3 Soziale und kulturelle Dimensionen des Schmerzes Eine in den Wissenschaften kontrovers diskutierte Frage ist, ob uns das Schmerzerleben anderer Menschen oder Lebewesen beispielsweise durch Empathie zugänglich ist. Ludwig Wittgenstein (1971) hat die Auffassung vertreten, der Schmerz sei eine private Empfindung, die nur für die Person existiert, die den Schmerz hat. Hier schließt Elaine Scarry (1992) an, die zu zeigen versucht, dass zwischen der eigenen Schmerzerfahrung und der Wahrnehmung des Schmerzes bei anderen Menschen eine unüberwindbare Kluft besteht. Der Schmerz, der für die eine Person fraglos gegeben ist, existiert für andere Personen höchstens indirekt. Vor allem aber kann die eigentliche Erfahrung nicht mit anderen symbolisch geteilt werden, jedenfalls nicht so, dass sie in der Folge auch Schmerzen haben. Deshalb haftet der Schmerzerfahrung auch etwas Unbeweisbares an (vgl. Scarry 1992, 12). Die Gegenposition leugnet die Kluft zwischen Schmerzempfindung und Schmerzwahrnehmung durch andere nicht, beharrt aber darauf, dass diese Kluft durch Empathie überbrückt werden kann. Empathie ermöglicht die Teilhabe »am emotionalen Gehalt eines fremden Schmerzes« (Wils 2007, 54). Es ist für diejenigen, die den Schmerz erleiden, ein Unterschied, ob die Anderen diesen Schmerz ignorieren, ihn herunterspielen, sich sadistisch daran freuen oder mitfühlend und anteilnehmend darauf antworten. Obwohl der Schmerz die Empfindung allein derjenigen Person ist und bleibt, die ihn gerade durchlebt, kann er durch Gesten der Mitmenschlichkeit geteilt werden. Deshalb spielt nicht nur die medizinische Schmerztherapie bei der Bewältigung des Schmerzes eine wichtige Rolle, sondern auch die Anteilnahme und die nichtsprachliche und sprachliche Kommunikation. Auch wenn der Schmerz selbst nicht direkt kommunizierbar ist, eröffnen das Sprechen über den Schmerz und andere Modi, ihn symbolisch zum Ausdruck zu

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bringen, die Möglichkeit, ihm einen Sinn zu geben. Erst durch die sinnhervorbringende Deutung und Herstellung eines Zusammenhangs mit der jeweiligen Biographie wird der Schmerz zu einer Erfahrung, die in das eigene Leben integriert werden kann. Aus diesem Grund ist es eine der wichtigsten Aufgaben in der Schmerztherapie, dem Patienten »die Stimme zurückzugeben« (Illhardt 2004, 32). Dieser Befund zur Bedeutung von Sprache und Kommunikation bei der Bewältigung des Schmerzes lässt sich noch erweitern. Wie weiter oben schon angedeutet wurde, beruht das Schmerzgeschehen nicht nur »auf der Wechselwirkung somatischer, kognitiver und affektiver Faktoren« (List 1999, 767), sondern auch auf seiner Einbettung in gesellschaftliche Praktiken und symbolische Sinnzusammenhänge, die den Schmerz deuten und ihn so in einen übergeordneten Rahmen einfügen (vgl. Le Breton 2003). Kulturell erzeugte und durch Sozialisation weitergegebene Deutungen des Schmerzes, etwa seine Einbettung in eine sinnstiftende religiöse Ordnung, können die Funktion eines Schutzschildes annehmen, der die Direktheit und Brutalität der rohen Erfahrung abwehrt oder zumindest abmildert. Während also starker Schmerz zu einem »Zusammenbruch des Menschlichen« (Illhardt 2004, 34) führen kann, ist es Aufgabe der Kultur, »der Zerstörung des Selbst durch den Schmerz« (ebd.) vorzubeugen. Damit soll aber nicht gesagt werden, dass Gesellschaft und Kultur nicht zugleich auch vielfältige Quellen des Schmerzes sind. Von Gesellschaft und Kultur zu reden, bedeutet, von Anderen zu reden, und oft sind von ihnen ausgehende Gewalthandlungen die Ursache von Schmerzerfahrungen. Tatsächlich ist der Schmerz »sozusagen das universale Instrument der Gewalt. Gewalt gebraucht Schmerz oder droht damit, um sich durchzusetzen« (Morris 1994, 257). Dies machen sich auch die Politik und viele Gruppierungen zunutze, die bereit sind, ihre politischen Interessen mit den Mitteln der Gewalt durchzusetzen. Die Gewalt wird eingesetzt, »um menschlichen Schmerz in politische Macht zu verwandeln« (ebd.).

41.4 Schmerz und Behinderung Eine in den Disability Studies immer wieder aufgenommene Thematik ist das Leiden behinderter Menschen unter Lebensumständen, in denen sie mit Vorurteilen, Barrieren, Marginalisierung und Ausschluss konfrontiert werden. Im Gegensatz dazu wird

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der Schmerz nur sehr selten als relevantes und eigenständiges Thema in den Blick genommen. Diese weitgehende Ausblendung oder Vermeidung des Themas darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Schmerz u. U. im Leben behinderter Menschen eine bedeutende Rolle spielt. Mit Blick auf Menschen mit sehr schweren und mehrfachen Behinderungen ist dies mittlerweile auch weitgehend anerkannt (vgl. Maier-Michalitsch 2009). So werden bei diesem Personenkreis Schmerzen (beispielsweise Zahnschmerzen) häufig aufgrund sehr eingeschränkter oder nicht vorhandener verbalsprachlicher oder alternativer Kommunikationsmöglichkeiten nicht oder sehr spät wahrgenommen. Hinzu kommen durch die Behinderung selbst bedingte Schmerzen, etwa schmerzhafte Reflexstörungen oder Spastiken, aber auch Schmerzen aufgrund bzw. infolge medizinischer Eingriffe (vgl. Zernikow 2009). Virulent wird das Thema auch in einer eher globalen Perspektive, die die Erfahrung von Menschen mit Behinderungen in Ländern oder Regionen berücksichtigt, in denen es an hinreichender medizinischer Versorgung, technischen Hilfsmitteln, fachlich kompetenter Unterstützung und angemessener politischer Interessensvertretung fehlt (s. Kap. 34). Grech (2012) zufolge wird in solchen Ländern aufgrund verschiedener politischer und sozialer Faktoren die individuelle Verwundbarkeit erhöht. Deshalb komme der Körperlichkeit eine besondere Bedeutung zu. Grech schreibt: »Der Körper [...] ist in Kontexten extremer Armut, in denen die Lebensgrundlagen (und in der Tat die meisten Aktivitäten) auf körperlicher Stärke beruhen und die Gesundheitsversorgung oft fehlt oder bestenfalls fragmentiert ist, schwieriger zu ignorieren. Der Körper und seine Materialität [...] können sich selten aus dem Fokus lösen.« (Grech 2012, 62; Übers. M. D.)

Wie Grech ergänzt, verhindert dieses aufgezwungene schmerzreiche Leben eine Politisierung der betroffenen Menschen. Während (soziale bzw. gesellschaftliche) Leiden zu einem erheblichen Antrieb für Widerstand und das Streben nach Veränderung werden können, ist eher das Gegenteil beim Schmerz der Fall, weil dieser die Menschen auf sich zurückwirft und tendenziell zu einem Weltverlust führt. In diesem Sinn schreibt Grech: »Ihre behinderten Körper werden oft durch außergewöhnliche, nicht medikamentös behandelte Schmerzen gefügig gemacht« (ebd., 63). Zu den wenigen Autor*innen, die dem Schmerz in ihren grundlagentheoretischen Überlegungen Beach-

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – A Bezugsrahmen

tung schenken, gehört Tobin Siebers. Für ihn ist der Schmerz deshalb bedeutsam, weil er dazu zwingt, geläufige Theorien oder Modelle von Behinderung zu überdenken. Dies gilt, wie bereits gesagt, sowohl für die in den Disability Studies weit verbreitete Annahme, die Schädigung sei für das soziale Modell von Behinderung nicht relevant, wie auch für die konstruktivistische These, der Körper sei ein soziales Konstrukt. Tatsächlich, so Siebers (2008), ist der Konstruktivismus – der im kulturellen Modell von Behinderung eine wichtige Rolle spielt – weder in der Lage, die Materialität des Körpers im Allgemeinen noch den leidenden Körper im Besonderen überzeugend zu konzeptualisieren. Besonders scharf formuliert Siebers seine Kritik an Autor*innen, die jegliche Anzeichen für eine Behinderung in eine Ressource und eine Quelle des Empowerments umdeuten und damit letztlich in der Ideologie des ableism (s. Kap. 51) befangen bleiben, ohne dies überhaupt zu bemerken (vgl. Siebers 2008, 63). Siebers bestreitet nicht das Ausmaß sozial bedingten psychischen Leidens vieler Menschen mit Behinderung. Jedoch sei auch physisch bedingter Schmerz eine Realität, die nicht durch die Behauptung, es handele sich um eine Konstruktion, quasi wegdefiniert werden könne. Wie Siebers betont, ist der Schmerz bei vielen alltäglichen Aktivitäten von Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen eine dauerhafte Begleiterscheinung. »Die alltägliche große Herausforderung besteht darin, den körperlichen Schmerz zu regulieren, morgens aus dem Bett zu kommen, die Quelle des Schmerzes, die am Abend aufsteigt, zu überwinden, mit den hundert täglichen Hindernissen zurechtkommen, die nicht bloße Unannehmlichkeiten sind, aber Anlässe für physisches Leid.« (Siebers 2008, 62; Übers. M. D.)

Diese Beobachtung von Siebers lässt sich mit der phänomenologisch ausgerichteten Kritik von Hughes und Paterson (1997) am sozialen und kulturellen Modell theoretisch unterfüttern. Die Reproduktion des cartesianischen Dualismus und die Ausblendung des Körpers sind nach Hughes und Paterson der entscheidende, theoretisch und praktisch folgenreiche Fehler der jeweils einseitigen Blickrichtungen des sozialen und des kulturellen Modells. Diesen stellen sie die These gegenüber, die individuelle Schädigung sei nicht nur ein medizinisches Problem, sondern zugleich eine gelebte Erfahrung und eine kulturelle Konstruktion (vgl. Hughes/Paterson 1997, 326). Diese Kritik impliziert im Hinblick auf die Modellierung von Behinderung

einen doppelten Perspektivwechsel. Einerseits rücken die – immer auch sozial zu denkenden – Erfahrungen konkreter Individuen mit ihrer Leiblichkeit in den Vordergrund, andererseits wird eine Soziologie der Schädigung aufgerufen, die kulturelle Deutungsmuster und Bewertungen auf den Körper bezogener Phänomene, etwa sichtbare Abweichungen von jeweils geltenden Normen, untersucht. Die Pointe dabei ist, dass sowohl die Medizinisierung des Körpers als auch seine Kulturalisierung – d. h. seine Reduktion auf sprachliche bzw. symbolische Repräsentationen sowie auf Effekte kultureller Praktiken – problematisch sind, wenn sie verabsolutiert werden. Sowohl die Reduzierung des Körpers auf seine Materialität als auch deren kulturwissenschaftliche Eliminierung müssen zurückgewiesen werden. Die Aufgabe einer alternativen Konzeption besteht nach Hughes und Paterson darin, den Körper ebenso in seiner physischen Materialität wie in seiner kulturellen Codierung, aber auch als gelebten Körper, d. h. als Leiblichkeit, zu würdigen. Sie arbeiten heraus, dass Menschen mit einer Behinderung körperliche Aspekte der Schädigung (etwa die Erfahrung, eine bestimmte Handlung nicht mehr ausführen zu können) und soziale Aspekte (etwa mitleidige oder verächtliche Blicke oder das Behindertwerden durch Barrieren) nicht in getrennten cartesianischen Bereichen erfahren, sondern in einer wechselseitigen Durchdringung. »Behinderung wird im, am und durch den Körper erfahren, genauso wie die Schädigung im Lichte der persönlichen und kulturellen Narrationen erfahren wird, die zur Konstitution ihrer Bedeutung beitragen« (Hughes/Paterson 1997, 335; Übers. M. D.). Im Rahmen dieses Denkmodells wäre es nicht nur Aufgabe der Disability Studies herauszuarbeiten, wie die Form- und Wirkkräfte der Kultur den Körper konstituieren, sondern auch zu zeigen, wie das Individuum als inkarniertes, leibliches Subjekt auf diese Formund Wirkkräfte antwortet, wie es ihnen eine ganz individuelle Gestalt und Bedeutung gibt und möglicherweise auch vom Vorgegebenen abweicht. In der gelebten Erfahrung gehen Hughes und Paterson zufolge »das Körperliche, das Persönliche und das Kulturelle ineinander über und die Erfahrung der Schädigung und der Behinderung lösen sich in eine lebendige Einheit auf« (Hughes/Paterson 1997, 335). In einer resümierenden Passage schreiben sie: »Schädigung (als Körperlichkeit) kann weder kulturellen Bedeutungen und Überzeugungen entgehen noch

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ihrer Einbettung in soziale Strukturen. Auf der anderen Seite gehören Unterdrückung und Vorurteil nicht nur zum politischen Körper, sondern werden als Schmerz und Leid verkörpert. [...] Behinderung wird verkörpert, und Schädigung ist sozial.« (Hughes/Paterson 1997, 336; Übers. M. D.)

Denken nicht völlig vom Zustand ihres Körpers abhängen. Wendell beschreibt diesen Prozess als eine Lockerung ihrer Identifikation mit dem eigenen Körper, in deren Folge es ihr möglich wurde, trotz allem »ein gutes Leben zu führen« (ebd., 811). Wendell resümiert, dass

Eine vergleichbare Argumentation findet sich bei Susan Wendell (1999). Ähnlich wie Siebers und Hughes und Paterson kritisiert sie die Tendenz in poststrukturalistischen und postmodernen Körperdiskursen, diesen auf kulturell vermittelte symbolische oder kulturelle Bedeutungen zu reduzieren. Damit wird die individuelle, subjektive Seite des eigenen Körpers mitsamt seiner erfahrbaren Materialität weitgehend ausgeblendet. Es wird nicht gesehen, dass eine Person nicht nur einen mit unterschiedlichsten Bewertungen und Bedeutungen belegten Körper hat, sondern auf existentielle Weise auch dieser Körper ist. Wie Wendell (1999) betont, steht dieser Nichtwahrnehmung die Gefahr gegenüber, die Leiden und die Schmerzen des Körpers zu individualisieren und damit ihre gesellschaftlichen und kulturellen Dimensionen zu verkennen. Im Anschluss an die Überlegungen von Wendell kann gesagt werden, dass die Erfahrung des eigenen Körpers im Allgemeinen und von Leid und Schmerzen im Besonderen individuell und kulturell zugleich ist. Schmerzen ereignen sich »in einem komplexen, physischen, psychischen, sozialen Kontext [...], der unsere Schmerzerfahrung formt und verwandelt« (Wendell 1999, 808). Im weiteren Verlauf ihrer Überlegungen skizziert Wendell eine Möglichkeit, angesichts chronischer Schmerzen die eigene Körperlichkeit bis zu einem gewissen Grad zu transzendieren, also die Identifikation mit dem eigenen Körper und seinen Empfindungen, d. h. auch mit ihren eigenen Schmerzen, zu lockern. Dazu wurde sie von der Erfahrung getrieben, von einer »tiefreichenden körperlichen Verletzlichkeit verraten und überwältigt« worden zu sein (Wendell 1999, 806). In der Folge musste sie anerkennen, nicht nur durch die sie umgebende soziale und kulturelle Welt eingeschränkt zu werden, sondern auch durch ihren Körper. Sie sah sich gezwungen, ihr Verhältnis zu ihrem Körper zu überdenken und zu verändern. Hierzu gehörte vor allem, die Aufmerksamkeit, die sie bisher ihren Schmerzempfindungen gewidmet hatte, in andere Bereiche zu lenken, die nichts mit den Beschwernissen ihrer Körperlichkeit und ihren Schmerzen zu tun hatten. So konnte sie die Erfahrung machen, dass ihre Befindlichkeit und ihr

»die Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen zu berücksichtigen [sind], wenn man theoretische Überlegungen zur Beziehung zwischen dem Bewusstsein und dem Körper anstellt. Eines ist klar: Es darf nicht nur über [...] körperliche Entfremdung, über ein gesteigertes Körperbewusstsein geredet und das Lob der Stärken und Freuden des Körpers gesungen werden; wir müssen auch darüber sprechen, wie wir mit einem leidenden Körper leben können, mit dem, was sich nicht ohne Schmerz wahrnehmen und nicht ohne Ambivalenz feiern lässt.« (Wendell 1999, 815)

41.5 Schlussbemerkung Wie vorab deutlich geworden ist, legt die Phänomenologie des Schmerzes eine Reihe von Facetten frei, die über eine enggefasste medizinische Definition hinausweisen: das existentielle Getroffensein und seine pathischen Qualitäten, die ihm zugewiesene Sinndimension, seine Beeinflussbarkeit durch reflexive und kommunikative Bewältigungsformen, seine sozialen Dimensionen, seine Einbettung in eine Kultur. Wie kaum ein anderes Phänomen macht der Schmerz den Menschen die Möglichkeit des Selbst- und Weltverlustes, die Fragilität ihrer Körperlichkeit, ihre Verwundbarkeit und Endlichkeit auf unabweisbare Weise bewusst. Viele individuelle Beeinträchtigungen gehen nicht mit Schmerzen einher. Aber aufgrund ihrer Abhängigkeit von spezifisch zugeschnittener materieller und nicht materieller Hilfe, einer barrierefreien Lebenswelt (s. Kap. 6) und einer entsprechenden technischen Infrastruktur, ist die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen besonders prekär und verletzbar. Schmerzen können eine Folge fehlender oder nicht passgenauer Hilfe und Unterstützung sein. Sie können aber auch die Prekarität und Verletzbarkeit intensivieren. Bei diesen Prozessen spielen die Körperlichkeit und ihre spezifische Materialität eine wichtige Rolle. Es wird eine zukünftige Aufgabe der Disability Studies sein, dieses komplexe Verhältnis grundlagentheoretisch auszuloten und erfahrungswissenschaftlich genauer in den Blick zu nehmen.

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – A Bezugsrahmen

Literatur

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Markus Dederich

42  Normalität, Alterität und Anerkennung

42 Normalität, Alterität und Anerkennung ›Normalisierung‹, ›Normalität‹ und ›Alterität‹ sind Begriffe, die auf Effekte gesellschaftlicher Erwartungen und Zuschreibungen verweisen, Anerkennungsprozesse organisieren und auch die Selbst- und Fremdwahrnehmung von Behinderung herstellen oder beeinflussen (vgl. Danz 2015a). ›Normalität‹ und ›Alterität‹ beschreiben gesellschaftliche Vorstellungen über Erwünschtes und Unerwünschtes, Richtiges und Falsches. Das Normale bestimmt übergeordnete, gemeinschaftliche ethische und moralische Grundsätze. Daraus ergeben sich Werte und Normen als konkretere Wahrnehmungsmuster, Handlungsanweisungen und Handlungserwartungen für die Mitglieder einer Gemeinschaft. In Werten und Normen kristallisiert sich das, was in der jeweiligen Kultur einer Gemeinschaft als normal – und damit als anerkennungsfähig – gilt, und wie oder in welche Richtung spezifische gesellschaftliche Akte der Normalisierung wirken oder wie Alltagspraktiken, Diskurse und mediale Regulationstechniken das Normale kulturell konstituieren (vgl. Link 2006). Normalität generiert sich also als soziale Konstruktion maßgeblich über Diskurse, die die Tendenzen des kollektiven Handelns darstellen und institutionalisierte Anerkennungspraxen bestimmen (vgl. Danz 2015b, 40). ›Behinderung‹ erscheint dabei als Gegenbegriff zu ›Normalität‹ und als Differenz bzw. als Abweichung kategorisiert und aufgrund historischer und kulturell verankerter Wahrnehmungspraxen mit Leid, Schwäche und Einschränkungen verbunden (vgl. Waldschmidt 2003 und Weisser 2005).

42.1 Wertvorstellungen: Ethik, Moral, Normen Von klein auf verinnerlicht jeder Mensch über Vorbilder, Praktiken oder Rituale implizit die Werte seines Kulturkreises und richtet das eigene Handeln mehr oder weniger, bewusst oder auch unbewusst, an diesen Wertvorstellungen aus (vgl. Hofstede 2011, 10). In Form von gelebten Sitten und Bräuchen werden diese weitergegeben und dabei mit der Zeit auch modifiziert. Ethik beinhaltet nach Kant Gewohnheiten und Sitten, die zu einem guten und gelungenen Leben gehö-

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ren (vgl. Pleger 2017, 95). Heute wird unter ›Ethik‹ im Allgemeinen die akademische Moralphilosophie verstanden, die als philosophische Disziplin allgemeingültige Antworten auf die Frage nach dem jeweils richtigen Handeln sucht. Die Möglichkeiten, Risiken und Gefahren in unserer komplexen modernen Gesellschaft bringen ethische Probleme mit sich, mit denen sich neue Bereiche der Angewandten Ethik befassen wie beispielsweise Umweltethik, Medizinethik, Pränatal- und Präimplantationsethik (vgl. Horster 2012, 24) (s. Kap. 19). Moral wird eher gleichgesetzt mit den regelhaften Betrachtungsweisen von Gebräuchen und Sitten, die in einer kulturellen Gemeinschaft Handlungen koordinieren und dort als bindend und damit auch als normal akzeptiert werden (vgl. Moser/ Horster 2012, 4). Die gesellschaftlichen Werte, die das Zusammenleben regeln, sind nur allgemein definiert. Sie werden aber konkret in sozialen Normen zu Verhaltensregeln. Diese betreffen soziale Situationen und unterliegen dem gesellschaftlichen Wandel. Sie sind verschieden hinsichtlich ihrer Verbindlichkeit und in unterschiedlichen Gesellschaften unterschiedlich ausgestaltet. Werte stellen Kriterien dar, nach denen Zustimmung oder Ablehnung erteilt werden kann und die dabei helfen, wahrgenommene Phänomene in gut, schlecht, schön, hässlich, moralisch einwandfrei oder moralisch verwerflich einteilen zu können (vgl. Horster 2012, 24). Normen hingegen dienen nicht als Kriterien für Urteile, sondern beschreiben Erwartungen an menschliches Handeln. Die gesellschaftliche Wahrnehmung dessen, was gemeinhin als normal oder auch als be­ hindert gilt, ist gesteuert von kollektiven Verhaltenserwartungen. Normen haben gesellschaftlich eine Funktion, die körperliche Merkmale markiert, differenziert und hierarchisiert. »Dieser körperhistorisch und körpersoziologisch orientierten Perspektive zufolge entstehen auf den Körper und auf das wahrnehmbare Verhalten bezogene Minimal-, Durchschnitts- und Idealvorstellungen, auf deren Grundlage die Gesellschaft zu einem Vergleichsfeld und Differenzierungsraum wird.« (Dederich 2010, 177)

Eine Behinderung zu haben entspricht nicht dem, was als normal oder als gesund gilt. Weisser sieht Behinderung als Abweichung von den als normal und erwartbar definierten Fähigkeiten (Weisser 2005, 20).

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_42

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – A Bezugsrahmen

42.2 Normalität: Normalisierung, Normalismus ›Normal‹ ist ein Begriff, mit dem alle etwas anfangen können, auch wenn das, was normal ist, nicht für alle das Gleiche ist. Die etymologischen Ursprünge des Begriffs ›normal‹ enthalten zwei unterschiedlich gefärbte Begriffsinhalte, die bis heute erhalten sind. Bekannt ist, dass der Begriff ›normal‹ aus dem Lateinischen norma für ›Winkelmaß‹ und normalis für ›senkrecht‹ hergeleitet wird und dem Wortsinn nach ein Richtmaß darstellt. Mit diesem Begriffsanteil steht die normative Bedeutung im Vordergrund und impliziert Regeln als eine Art Pflicht, der alle mehr oder weniger nachkommen müssen. »Sowohl in der Fachliteratur als auch in der Alltagskommunikation wird Normalität zumeist umstandslos mit dem Normativen gleichgesetzt. Normalsein wird definiert als ein Verhalten, das sich nach herrschenden Normen ausrichtet.« (Waldschmidt 2003, 86)

Ein anderer Begriffsinhalt, der im Begriff ›normal‹ immer noch erhalten ist, ist aus dem Griechischen. Im alten Griechenland bedeutete ›normal sein‹ gleichzeitig auch ›gesund sein‹. »Die Griechen verbanden den Begriff ›normal‹, soweit sie ihn nicht mit dem Begriff ›gesund‹ usw. gleichsetzten, mit dem Begriff ›Natur‹ [...]: das Normale ist das Naturgemäße [...]. Dabei kommt dem Begriff ›normal‹ jene Zweideutigkeit zu, die dem Naturbegriff eigen ist. ›Natur‹ meint – so besonders deutlich in den Hippokratischen Schriften – zum einen die durchschnittliche, ›natürliche‹ Beschaffenheit, zum anderen auch etwa den gesunden Zustand des Körpers und seiner Organe und damit den Idealzustand, dessen Wiederherstellung Ziel der ärztlichen Therapie ist.« (Ritter/ Gründer 1984, 920)

Wenn wir das Wort ›abnorm‹ verwenden, spüren wir heute noch deutlich die darunterliegende Wortbedeutung, die auf das altgriechische Verständnis von gesunder Natürlichkeit als Grundlage des Normalen (vgl. Wenning 2001, 279) zurückgeht. Beide Begriffsinhalte des Wortes ›normal‹, einerseits die aus dem Lateinischen als Richtmaß hergeleitete Bedeutung und andererseits die altgriechische Bedeutung des (unerreichbaren) Idealzustandes, bringen eine Dynamik, die in Bezug auf die Selbstund die Fremdwahrnehmung von Behinderung eine

fatale Spannung beinhaltet. Um diese Spannung zu verstehen, folgt hier zunächst ein Blick auf die Entwicklung der normativ-deskriptiven Funktion des Begriffs ›normal‹, die auf den lateinischen Teil des Bedeutungsgehalts zurückgeht. Mit der Entwicklung der modernen Wissenschaften Ende des 18. Jahrhunderts etablierte sich, vor allem auch durch die von Gauß beschriebene Kurve der statistischen Normalverteilung (vgl. Wenning 2001, 279), ein neues Verständnis des Begriffs ›normal‹. Statt der natürlichen bzw. naturhaften Idealvorstellung wurde Normal-Sein jetzt tendenziell ein messbares und verstandesmäßig begreifbares Phänomen. Im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache (vgl. DWDS) lässt sich diese Entwicklung anhand einer Wortverlaufskurve zeigen. Das Wort ›normal‹ taucht ab 1760 überhaupt erst auf und gewinnt ab 1810 stark an Bedeutung (vgl. Trumpp 2019, 22). Um 1900 bürgern sich Begriffe wie ›Norm‹, ›Normierung‹ und ›Normalverteilung‹ in vielen Bereichen des Wissens und der Gesellschaft ein (vgl. Wahrig-Schmidt 1999, 266) und lassen fortan wenig Raum für eigenes Denken und qualitatives Empfinden, wie es am Beispiel des Fiebermessens als moderne medizinische Normalisierungstechnik beschrieben werden kann. Mit der Möglichkeit, exakt, zuverlässig und objektiv die Körpertemperatur zu messen und statistisch zu vergleichen, wurde das eigene individuelle Empfinden von erhöhter Körpertemperatur, Krankheit und Gesundheit unwichtig oder sogar unglaubwürdig. Gleichzeitig konnten klare Grenzen für das Normale und das Pathologische definiert werden. »Mit Fug und Recht kann das Fiebermessen somit als Normalisierung betrachtet werden, bei der qualitative Unterschiede homogenisiert, quantifiziert und nach Normalitätsgrenzen bemessen wurden: Die systematische Messung verteilte interindividuelle Unterschiede auf ein kleinschrittig unterteiltes Kontinuum, schrieb sie als quantitative Differenzen in eine Messskala ein und grenzte dabei einen Bereich als normal gegen andere als pathologisch geltende ab.« (Hess 1999, 223)

Es verflechten sich also Wertbestimmungen auf der Grundlage der statistisch häufig vorkommenden Messwerte mit den Be-Wertungen, durch die diese als normal und gesund oder als Abweichung gelten. Gegenüber den feinen Unterschieden der individuellen qualitativen Wahrnehmung, die keine eindeutige Zuordnung zu den Kategorien ›normal‹ und ›anormal‹ enthalten, wird die quantitative Bestimmung auf

42  Normalität, Alterität und Anerkennung

Grundlage messbarer Skalen zu einem dichotomen Unterscheidungswerkzeug (vgl. Danz 2015a, 77). Auch die graduelle Bestimmung von Behinderung, ebenso wie die kindliche Entwicklung und die erwartbare Arbeitsleistung wurden auf der Grundlage statistischer Erhebungen verallgemeinert (vgl. Schildmann 2004, 26) und mit Durchschnittsberechnungen offenbar glaubhaft berechenbar. War das Normale nach dem alten griechischen Verständnis ein gesunder und naturhafter Idealzustand, so wurde es zunächst zu einem vernunftmäßig festzustellenden und zu beschreibenden Zustand im Sinne von ›Der-Norm-Entsprechen‹ und entwickelte sich schließlich zu einem aktiven Prozess der gesellschaftlichen Herstellung von Normalität durch Normalisierung. »Normierung und Normalisierung [bezeichnen] jetzt einen aktiven Prozess der Herstellung von Normalität. [...] An dieser Scharnierstelle der Entwicklung moderner Gesellschaften verändert sich somit auch das Verständnis von Normalität. Sie wird auf diese Weise von etwas Gegebenem zu etwas Beeinflussbarem. Dahinter stehen vermutlich die sich entwickelnde Fortschrittsgläubigkeit, die Entstehung der modernen Wissenschaften und die wachsende Technisierung des Lebens mit der Folge neuartiger ›Machbarkeitsvorstellungen‹.« (Wenning 2001, 280)

Heute beinhaltet das Normalitätskonzept deskriptive und präskriptive Bedeutungsmerkmale, die sich immer noch vermischen und sowohl eine statistisch-deskriptive Ordnungsfunktion wie auch eine utopische Vorstellung des Erstrebenswerten beinhalten. »Das Normale beschreibt einerseits einen faktischen Zustand, also eine Tatsache – wie schwierig sie auch immer zu erheben ist –, andererseits aber auch einen angestrebten Idealzustand. Gerade dass sich im Reden oder Schreiben über Normalität Aussagen über Tatsachen und Aussagen über Wünschenswertes, also über das Sein und über das Sollen, so oft verwischen, macht die rhetorische Attraktivität des Begriffs zur Durchsetzung sozialer Normen und Werte aus.« (Wildfeuer 2007, 334)

Normalität trägt folglich immer den Verweis auf die Abweichung vom erwünschten Zustand als symbolischen Bedeutungsgehalt in sich. Im sozialen Zusammenleben werden Normalitäten und Normalitätsstandards jeweils aus dem dominan-

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ten Selbstverständnis ihrer Kultur, Klasse und Gesellschaftsformation heraus definiert. Normalisierungsgesellschaften sind nach Michel Foucault dadurch gekennzeichnet, dass Disziplinartechnologien – also normierende und normalisierende Verfahren, Techniken und Institutionen – mit einem ihnen entsprechenden Normalisierungswissen interagieren (vgl. Foucault 1977, 88–93). Dies hat Jürgen Link 2006 in seinem Werk Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird ausführlich dargelegt. Mit dem Begriff ›Normalismus‹ beschreibt Link (2006) die Institutionalisierung und Ideologisierung dessen, was anhand von Statistiken und Daten für normal gehalten wird. Für seine Analyse unterscheidet Link einerseits normative oder präskriptive Normen, wie z. B. juristische und ethische Normen, als protonormalistische Aspekte von Normalität und andererseits eine eher unreflektierte Normalität als deskriptiv-statistische Kategorie des massenhaften Handelns, deren Grenzen fließend sind und die Link folglich als flexibel-normalistische Strukturen bezeichnet (vgl. ebd., 34). Protonormalistische Strategien verdeutlichen die Grenzen zwischen normal und anormal ex ante durch symbolische und semantische Grenzziehung beispielsweise durch juristische Normen oder durch medizinische Typologien, die repressiv wirken sollen, während der flexible Normalismus ex post über statistische Erhebungen Normalität fixiert und den Individuen damit eine Anleitung zu normalem Verhalten gibt (vgl. Link 2006, 34). Mit seinen eindeutigen Regeln ist der Protonormalismus von außen wirksam und lenkt das Verhalten. Der flexible Normalismus wirkt von innen als Selbstnormalisierung durch das Wissen um das, was gewohnt häufig vorkommt und daher normal wirkt (vgl. ebd., 57–58). Darüber hinaus wirken die sogenannten Basis-Normalfelder als gesellschaftliche Kategorien, die Menschen untereinander vergleichbar machen und damit Selbstnormalisierung auslösen. »Ein Basis-Normalfeld stellt also eine gesellschaftlich relevante Kategorie dar, die die soziale Funktion übernimmt, dass sich die einzelnen Menschen in ihm anderen gegenüber positionieren und miteinander in Vergleich treten. Damit einher geht das Gefühl der sozialen Versicherung, sich in der Mitte der Gesellschaft zu befinden und so zur Gemeinschaft zu gehören. Die Untersuchung des flexiblen Normalismus zeigt, dass heute das Verhalten einzelner Subjekte immer weniger imperativ – durch indirekte äußere Disziplinierung

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – A Bezugsrahmen

– von gesellschaftlichen Instanzen geregelt wird, stattdessen vielmehr – auf Basis von Verdatung, also statistischer Transparenz – durch Selbststeuerung, d. h. Selbstdisziplinierung und mit Selbst-Normalisierung der Subjekte.« (Schildmann 2004, 25)

Die wichtigsten Basis-Normalfelder sind nach Link Intelligenz, Gesundheit, Leistung sowie Motivation und Solidarität, soziale Adaption, soziales Prestige und sexuelle Befriedigung (vgl. Link 2006, 333–334).

42.3 Normalität und Anerkennung: sich in anderen wiedererkennen Spätestens seit Inkrafttreten des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen (UN-Behindertenrechtskonvention) haben behinderte Menschen formal die gleichen Rechte wie diejenigen, die von Behinderung nicht betroffen sind. Aufgrund inkorporierter sozialer Normen wie Leistungsfähigkeit oder Attraktivität erfahren Betroffene aber meist nicht die gleiche Anerkennung. Benachteiligungen sind die Folge. Normalität und Anerkennungsprozesse sind folglich eng miteinander verbunden. Anerkennungsprozesse geben Aufschluss über (Un-)Gleichheit, Benachteiligung und (Miss-)Achtung. Die Prozesse, die innerhalb einer Gesellschaft soziale Wertschätzung organisieren, sind nach Axel Honneth (1994) im Anerkennungsbegriff gefasst und beschreiben, wie in individualisierten und pluralen Gesellschaften eine verbindliche Orientierung an Werten möglich ist. »Das kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft gibt Kriterien vor, an denen sich die soziale Wertschätzung von Personen orientiert, weil deren Fähigkeiten und Leistungen intersubjektiv danach beurteilt werden, in welchem Maße sie an der Umsetzung der kulturell definierten Werte mitwirken können, insofern ist diese Form der wechselseitigen Anerkennung auch an die Voraussetzung eines sozialen Lebenszusammenhangs gebunden, dessen Mitglieder durch die Orientierung an gemeinsamen Zielvorstellungen eine Wertgemeinschaft bilden.« (Honneth 1994, 198)

Mit der von Honneth formulierten theoretischen Figur der Anerkennung können die Interaktionen zwischen konkreten Individuen einerseits, aber auch die institutionalisierten Prozesse der Wertschätzung und

Akzeptanz andererseits, erklärt werden. Honneth sieht »die Existenz intersubjektiver Verpflichtungen bereits als eine quasinatürliche Bedingung jedes Prozesses der menschlichen Vergesellschaftung« (Honneth 1994, 11) und meint damit die reziproke Anerkennung, die Individuen sich wechselseitig geben. Voraussetzung ist die menschliche Fähigkeit, sich selbst zu reflektieren und aus dieser Position heraus wiederum auf sich selbst zurückzublicken. Weil wir uns selbst auch quasi von außen betrachten können, sind wir in der Lage, die oder den anderen zu sehen und zu ahnen, was die oder der andere gerade braucht oder erwartet, genauso wie unser Gegenüber ahnen kann, was von ihm erwartet wird. Dazu kommt, dass beide sich darauf verlassen können, dass die oder der jeweils andere darum weiß und ahnen kann, was zu tun ist oder was erwartet wird. Zentral ist hier der Zusammenhang zwischen menschlichem Bewusstsein und dadurch geprägten gesellschaftlichen Strukturen (vgl. Danz 2015b, 41). Honneth beschreibt drei unterschiedliche Formen intersubjektiver Anerkennung in Zusammenhang mit institutionalisierten Anerkennungssphären, die aufeinander aufbauend von Stufe zu Stufe in ihrer gesellschaftlichen Komplexität zunehmen und gleichzeitig dem Subjekt jeweils einen höheren Grad an Freiheit ermöglichen (vgl. Honneth 1994, 11): • Affektive Anerkennung wird als Grundlage für Selbstvertrauen angesehen und dem Individuum in Form von Liebe in natürlichen Beziehungen zuteil. Dies geschieht beispielweise in der Familie oder in engen Freundschaften und ist auf konkrete Bedürfnisse bezogen. So kann das Individuum über die Anerkennung seiner grundlegenden Bedürfnisse in einem Umfeld von Fürsorge ein Verständnis von sich selbst und Selbstvertrauen entwickeln (vgl. Honneth 1994, 211). • Kognitiv formelle Anerkennung wird als Basis für die Selbstachtung beschrieben und betrifft die formelle Autonomie des Individuums als Person. Das Individuum lernt Schritt für Schritt das eigene Verhalten als gut oder schlecht zu beurteilen, indem es Erfahrungen im Kontakt mit den vertrauten Bezugspersonen macht und deren Reaktionen erinnert. Selbstregulation über die fortschreitende Antizipation der Haltung eines Gegenübers ist daher Grundlage für die Verinnerlichung von generalisierten Verhaltenserwartungen. In dem Maße, in dem diese kulturell geteilten Verhaltenserwartungen verinnerlicht und befolgt werden, kann ein Individuum auch formelle Rechte in An-

42  Normalität, Alterität und Anerkennung

spruch nehmen, wie beispielsweise Verträge abzuschließen oder der jeweiligen Rolle entsprechende offizielle Verpflichtungen einzugehen (vgl. Honneth 1994, 129, 174). Diese Form der Anerkennung bezieht sich auf die Rechtsfähigkeit. Die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention ist eine solche als völkerrechtlicher Vertrag gefasste formale Bestätigung der Gleichheitsrechte für behinderte Menschen, um ihnen die gleiche Teilhabe bzw. Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, wie sie anderen Gesellschaftsmitgliedern allgemein zugebilligt wird. Wird die kognitiv formelle Anerkennung verweigert, ist die soziale Integrität bedroht, entsprechende Formen der Missachtung sind Entrechtung und Ausschließung. • Solidarität bzw. soziale Wertschätzung als dritte Form der Anerkennung erkennt Individuen als Subjekte in ihrer individuellen Besonderheit als vergesellschaftet an (vgl. Honneth 1994, 45). Die soziale Wertschätzung ist an gesellschaftlich vorgegebene Kriterien gebunden. Diese dienen dazu, die Fähigkeiten und Leistungen einzelner Personen danach zu beurteilen, »in welchem Maße sie an der Umsetzung der kulturell definierten Werte mitwirken können« (Honneth 1994, 198). Das Subjekt selbst bezieht über Solidarität und das Beitragen zum Wohle der Gemeinschaft auch Wertschätzung für sich selbst (vgl. Honneth 1994, 211). Mit der Etablierung moderner Gesellschaften löste sich die verlässliche traditionelle Wertehierarchie auf und die klare Vorstellung darüber, wer wie zur Verwirklichung der gesellschaftlichen Ziele beizutragen hat, verschwand. Statt gesellschaftliche Anerkennung über Stand und Herkunft zu beziehen, sind es nun »lebensgeschichtlich entwickelte Fähigkeiten« (Honneth 1994, 203), die soziale Wertschätzung ausmachen. Mit der neuzeitlichen Individualisierung der Leistung geht zwangsläufig auch einher, dass ein nunmehr klassen- und geschlechtsspezifisch bestimmter Wertepluralismus den kulturellen Orientierungsrahmen bildet, in dem sich das Maß der Leistung der einzelnen und damit ihr sozialer Wert ergibt (vgl. Honneth 1994, 196–197). In bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften ist Solidarität bzw. soziale Wertschätzung an die Anerkennungssphäre ›Wirtschaft‹ gekoppelt und es ist das Leistungsprinzip, das das Maß an sozialer Wertschätzung bestimmt. Durch die enge Verflechtung kollektiver Wertvorstellungen mit Aspekten der individuellen Wahrneh-

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mung können die diskursiven und institutionellen Mechanismen erklärt werden, die zu gesellschaftlichen Erwartungen, Zuschreibungen und Effekten – auch in Bezug auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung von Behinderung – führen. Anerkennungsprozesse sind nämlich so konzipiert, dass sie auf Gegenseitigkeit und in gewisser Weise auf Gleichartigkeit beruhen. Nur mittels reziproker Achtung der Befindlichkeit des Gegenübers kann sich das Individuum sicher sein, selbst mit den eigenen Befindlichkeiten respektiert zu werden. Dabei entsteht ein Gefühl gedanklicher Gemeinsamkeit und Gleichartigkeit. Reziproke Anerkennung, wie sie Honneth beschreibt, findet in symmetrischer Weise zwischen autonomen Individuen statt (vgl. Honneth 1994, 175) und setzt anerkennungsberechtigte und anerkennungsfähige Subjekte voraus. Ist die Wechselseitigkeit außer Kraft gesetzt und eine der beiden Seiten nicht in der Lage, die gleichen Rechte und die gleichen Pflichten auszuüben, funktioniert ein solches auf die Ausgewogenheit der Anerkennungsbeziehungen autonomer Subjekte angelegtes Moralsystem nicht. Folglich wären Menschen, die nicht autonom sind, weil sie auf Hilfe angewiesen sind, aus einer solchen moralischen Gemeinschaft ausgeschlossen (vgl. Horster 2009, 158). Wenn Behinderung als Symbol für Abhängigkeit, Hilfsbedürftigkeit und Verletzlichkeit ins Spiel kommt, scheinen reziproke Anerkennungsverhältnisse in eine Schieflage zu geraten. Honneths Figur der reziproken Anerkennung kann so auch als ein beruhigender Anspruch von Souveränität unter Gleichen angesehen werden. Verwirrung, Irritation, Abwehr und Angst sind die Folge, wenn das Gegenüber zu wenig an Übereinstimmung mit der eigenen Seinsweise zeigt und das, was jeder und jedem an sich selbst vertraut ist, nicht übertragbar ist auf das Gegenüber (vgl. Danz 2015b, 44).

42.4 Alterität – Abweichung von der Normalität Gesellschaftlich beeinflusste Normalitätsstandards und Anerkennungsprozesse sowie allgemein gültige Entwicklungsziele, erstrebenswerte Identitäten und Wunschvorstellungen über das eigene Sein sind üblicherweise ausgerichtet entlang der von Link beschriebenen Basis-Normalfelder oder gekoppelt an das Leistungsprinzip, das Honneth für die Anerkennungssphäre ›Wirtschaft‹ beschreibt. Die Normalitätsstan-

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – A Bezugsrahmen

dards sind gekennzeichnet durch Merkmale wie ›stark sein‹, ›intelligent sein‹, ›leistungsfähig sein‹, ›gesund sein‹ und ›autonom sein‹. Ein Leben, das gekennzeichnet ist durch Attribute wie ›unvollständig sein‹, ›verletzlich sein‹ und ›abhängig sein‹, durch einen erheblichen Mangel an Selbstständigkeit, Intelligenz und Gesundheit sowie durch das Unvermögen, für sich selbst bestimmen und handeln zu können, wird in unserer Gesellschaft schwer als normal angesehen. Hier zeigt sich der idealistische Aspekt des Begriffs ›normal‹ als Idee und Urbild des natürlichen gesunden Zustands. Menschen, die den Erwartungen nicht entsprechen, spüren Leidensdruck und sind von Ausgrenzung bedroht. »Eine der kapitalistischen Verwertungslogik verpflichtete Leistungsgesellschaft erzeugt demnach Normalitätsstandards, denen Menschen mit Behinderung nur eingeschränkt oder bestenfalls mit sozialer bzw. therapeutischer Unterstützung in Einzelfällen entsprechen können.« (Dannenbeck 2007, 105)

Die Abweichung von der Norm scheint konstitutiv für das Phänomen Behinderung zu sein. Wir bewegen uns fortwährend in einem sozialen Beziehungsverhältnis und in normativen Anerkennungssphären, die geprägt sind von Verhaltenserwartungen und Normalitätsmustern, die Unvollständigkeit und Angewiesen-Sein als nicht wünschenswerten Zustand und Behinderung üblicherweise nicht als attraktive Identität beschreiben. Die kulturellen Konstrukte dessen, was normal und was abweichend ist, ist in unserer Gesellschaft bisher noch eng verknüpft mit Definitionen über Gesundheit und Krankheit (vgl. Wildfeuer 2007, 337) und beinhalten beides: die statistisch-deskriptive Ordnungsfunktion und eine utopische Vorstellung des Idealen. Armin G. Wildfeuer (2007) beschreibt die im Begriff ›normal‹ angelegte Spannung zwischen dem deskriptiven oder häufigkeitsbezogenen Begriffsinhalt und dem auf einen gesundheitlichen Idealzustand verweisenden Bedeutungsanteil noch genauer. Er weist darauf hin, dass Normalität als ein soziales Konstrukt, das Wandlungen unterworfen ist, mit statistischen Häufigkeitsaussagen nur unzureichend erfassbar ist (Wildfeuer 2007, 332). Dass statistische Normalitäten in diesem Sinne keine Norm ausmachen, kann mit der Häufigkeit von Behinderungen verdeutlicht werden. Diese treten nämlich ab einer bestimmten Lebensphase so häufig auf,

dass es als normal gelten kann, irgendwann im Laufe des eigenen Lebens behindert zu sein. Statistiken zeigen, dass in der Altersgruppe der 45- bis 64-Jährigen jede fünfte Person mit einer Behinderung oder mit einer chronischen Krankheit lebt, in der Gruppe der 65bis 79-Jährigen ist es jede dritte Person und ab einem Alter von 80 Jahren ist statistisch fast jede zweite Person betroffen (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2016, 42–47). In Bezug auf Behinderung beschreibt das Normale also sowohl einen faktischen Zustand als statistische Tatsache als auch das Abweichen von einem angestrebten Idealzustand. »Das Normalitätskonzept ist also gerade nicht das, was es vorgibt zu sein, [...] es ist nicht faktisch. Neuzeitlich-modern wäre es, immer von einer Vielzahl von Singulärem auszugehen und das Singuläre und Individuelle in seiner Singularität und Individualität als das faktisch Existierende anzuerkennen.« (Wildfeuer 2007, 333)

Hier kommt der zweite Aspekt ins Spiel, über den sich Normalität konzipiert: Normalität als Idealität. Ein Normalitätsverständnis, das an einem Ideal ausgerichtet ist, favorisiert eine bestimmte Norm gegenüber einer anderen (vgl. Wildfeuer 2007, 335). »Für den Gesundheitsbegriff ist es der konstruierte ›Idealmensch‹, an dem sich diese Normvorstellung orientiert. Dieses Ideal ist aber unerreichbar, weil der ›Realmensch‹ mit dieser Form des Vorbilds nur wenig gemeinsam hat. Im Extremfall ist es soweit ausgeformt, dass die kontingente, leibliche Natur des Menschen verleugnet wird und ein Götterbild als Vorbild herangezogen wird. Ein solches Idealbild des Menschen fernab von seiner tatsächlichen Natur zu verwirklichen, kann aber wohl kaum einer Normalitäts- oder Gesundheitsvorstellung ärztlichen Handelns entsprechen [...]. Überdies gelangt man mit der Idealnorm und der statistischen Durchschnittsnorm zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen.« (Wildfeuer 2007, 335–336)

Wird Behinderung als definierte Abweichung von der Normalität definiert, kann somit zugleich ein Ziel angegeben werden, »auf das hin die Arbeit mit und die Lebensumstände von Behinderten auszurichten sind« (Wildfeuer 2007, 325). Um aber Exklusion zu vermindern, werden Institutionen geschaffen, die den von Exklusion betroffenen Menschen spezielle Angebote zur Integration bieten und genau damit Exklusion herstellen (vgl. Dederich 2010, 181) (s. Kap. 15).

42  Normalität, Alterität und Anerkennung

Normalitätsvorstellungen werden durch Wertvorstellungen als verinnerlichte Normensysteme organisiert. Sie steuern individuelle und kollektive Verhaltensmuster genauso wie Wahrnehmungs- und Denkprozesse. Im Feld der Behinderungen sind diese Vorstellungen von Abwehrstrategien durchzogen, die Behinderung als Abweichung definieren. Etwas Normales und Erwartbares offensichtlich nicht zu können, ist nicht leicht. Auch an anderen zu sehen, dass sie etwas Normales und Erwartbares nicht oder nicht schnell genug ausführen können, ist irritierend. Im Zusammenhang mit dieser Irritation treten Abwehrstrategien auf, weil ein solches Unvermögen und Nicht-Können immer auf die allgemeinen Grenzen der Existenz verweist: »Weil man nicht einfach behindert oder noch nicht behindert ist, sondern als (zeitweise) nicht oder noch nicht behindert beobachtet wird, ist die eigene Betroffenheit und die Angst vor den Grenzen der Existenz [...] mit im Spiel [...].« (Weisser 2005, 37)

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Simone Danz

43  Stereotype und Imaginationen

43 Stereotype und Imaginationen Die Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung ist vorwiegend negativ: Eine Behinderung wird als Defizit und als Abweichung von Normen wahrgenommen. Diese Wahrnehmung drückt sich in Stereotypen über Menschen mit Behinderung aus, die kulturell geteilt oder individuell sein können. Menschen haben aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen, der indirekten Lernerfahrungen durch Andere, durch Medien, Erziehung usw. individuelle Vorstellungen von den Mitgliedern verschiedener Gruppen. Neben diesen sind es aber vor allem die kulturell geteilten Stereotype und das kulturelle Wissen über verschiedene soziale Gruppen, die Reaktionen und Verhalten gegenüber deren Mitgliedern beeinflussen können. Stereotype können als positive oder negative Eigenschaften oder Merkmale definiert werden, die sozialen Gruppen und ihren Mitgliedern zugeschrieben werden (Ashmore/Del Boca/Hamilton 1981). Der Begriff wurde erstmals von Walter Lippmann (1922) verwendet, der Stereotype als Bilder in unseren Köpfen bezeichnete. Stereotype geben ein vereinfachtes Bild einer Gruppe wieder. Sie sind nicht grundlegend falsch, aber auch nicht differenziert genug. Auf einer deskriptiven Ebene können Stereotype manches Merkmal einer Gruppe annähernd passend beschreiben, z. B. demographische Zusammensetzungen am College, aber die Zuschreibung von Eigenschaften zu Gruppen hat sich als weniger zutreffend herausgestellt (Jussim/ Crawford/Rubinstein 2015). So wie das Wissen über bestimmte Objekte (z. B. Stühle oder Tische) nahelegt, was mit ihnen zu tun ist, geben Stereotype Informationen darüber, welches Verhalten gegenüber Mitgliedern einer Gruppe angemessen und was von dieser Gruppe zu erwarten ist. Damit dienen Stereotype der kognitiven Entlastung (Fiske/Taylor 2013). Sie helfen aber auch bei der Abgrenzung von Gruppen. So werden vor allem solche Eigenschaften zu Stereotypen, die Unterschiede zwischen der Eigen- und Fremdgruppe markieren. Häufig werden die positiven Eigenschaften der eigenen den negativen Eigenschaften der Fremdgruppe gegenübergestellt, um das eigene soziale Selbst positiver zu empfinden (Tajfel/Turner 1979). Positive wie negative Stereotype wecken Erwartungen an die Gruppe. Die Erfüllung negativer bzw. die Nichterfüllung positiver Erwartungen zieht negative Reaktionen nach sich: Es kommt zu Überraschung und Zweifel, wenn eine Person nicht den Erwartungen entspricht. Stereotype stellen so die kognitive Basis von Vorurteilen und Dis-

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kriminierung, d. h. negativen Einstellungen und abwertenden Verhaltensweisen gegenüber Mitgliedern einer Gruppe dar. Stereotype basieren auf der menschlichen Tendenz, Objekte in Kategorien wahrzunehmen und sowohl Objekte einer Kategorie als ähnlicher als auch Objekte unterschiedlicher Kategorien als unähnlicher zu empfinden (Tajfel/Wilkes 1963). Kategorien zu bilden und Wissen über diese Kategorien abzuspeichern, ist ein sinnvoller kognitiver Prozess, der es ermöglicht, mit Situationen und Gegenständen aufgrund von Vorwissen umzugehen und nicht jede Situation völlig neu erfahren zu müssen. Stereotype können kulturell geteilt sein und beeinflussen das Verhalten und die Wahrnehmung vor allem dann, wenn andere Möglichkeiten der Informationsgewinnung aus zeitlichen und praktischen Gründen nicht zur Verfügung stehen. Menschen mit Behinderung sind keine einheitliche Gruppe. Trotzdem kommt es oft zu einer Homogenisierung über die verschiedensten Formen von Behinderung hinweg, wenn auch in einigen Fällen getrennt nach körperlichen und geistigen Behinderungen (Asbrock 2010). In der stereotypen Wahrnehmung werden dabei das vermeintliche Defizit sowie die Einschränkung von Leistungsfähigkeit fokussiert. Menschen mit Behinderung werden als abhängig, inkompetent und asexuell stereotypisiert (Nario-Redmond 2010). Mit diesen negativen Eigenschaften geht aber häufig auch die Zuschreibung von positiven Eigenschaften einher. Menschen mit Behinderung werden zwar als inkompetent, aber auch als warm, nett und freundlich wahrgenommen. Dieses Bild wird z. B. in der Popkultur genutzt, etwa in der Sitcom The Big Bang Theory (USA 2007–2019), wenn eine der Hauptfiguren, Penny, in der vierten Folge der fünften Staffel sagt: »Behinderte sind nett, Leonard, das weiß nun wirklich jeder« (Lorre/Goetsch/Del Broccolo u. a. 2011). Auch andere soziale Gruppen, wie z. B. alte Menschen oder Hausfrauen, werden in vielen Kulturen als freundlich, aber nicht besonders fähig stereotypisiert: Im Stereotype Content Model (Cuddy/Fiske/Glick 2008) werden Stereotype über viele verschiedene gesellschaftliche Gruppen anhand der fundamentalen Dimensionen ›Wärme‹ und ›Kompetenz‹ systematisiert. Das Modell stellt einen großen Fortschritt in der Stereotypen- und Vorurteilsforschung dar, da es nicht nur von positiven und negativen Stereotypen und Einstellungen gegenüber Gruppen ausgeht, sondern auch Ambivalenzen (s. Kap. 44) berücksichtigt. Gruppen können demnach positiv und negativ wahrgenommen werden, was spezifische emotionale Re-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_43

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – A Bezugsrahmen

aktionen und Verhaltenstendenzen im Umgang mit diesen Gruppen nach sich zieht. Die Idee von zwei grundlegenden Inhaltsdimensionen im menschlichen Verhalten geht bis in die antike Philosophie zurück (Abele/Wojciszke 2014) und wurde seit Beginn des 21. Jahrhunderts in der Psychologie intensiv erforscht. Das Stereotype Content Model hat sich in dieser Zeit zu einem der am häufigsten zitierten und verwendeten Modelle in der modernen Stereotypenforschung entwickelt. Das Modell nimmt an, dass die Wahrnehmung an zwei Dimensionen orientiert ist, die fundamentale Fragen beantworten: (1) Sind die Absichten einer anderen Person oder Gruppe positiv oder negativ? Und (2) ist die andere Person oder Gruppe in der Lage, ihre Absichten umzusetzen? Die erste Frage bezieht sich auf die wahrgenommene Wärme, also die Absichten und Intentionen der Anderen. Hierunter fallen Begriffe wie z. B. ›sozial‹, ›fürsorglich‹ und ›zuvorkommend‹. Die zweite Frage bezieht sich auf die Wahrnehmung der Kompetenz, d. h. darauf, wie leistungsfähig, dominant etc. die andere Person oder Gruppe ist. Wichtig ist dabei, dass es sich hier nicht um realistische Einschätzungen handelt, sondern um stereotypes, konsensuell geteiltes ›Wissen‹ über andere Gruppen, welches über soziales Lernen durch Medien, eigene Erfahrungen, Austausch mit anderen etc. erworben wird. Nach dem Stereotype Content Model basieren diese Einschätzungen von Wärme und Kompetenz auf der Wahrnehmung der Bedrohung durch diese Gruppe (je bedrohlicher, desto kälter) und des Status einer Gruppe (je höher der Status, desto kompetenter; Cuddy/Fiske/Glick 2008). Aus diesen beiden Dimensionen ergeben sich vier stereotype Kategorien, und die Forschung zeigt, dass es über viele Kulturen hinweg typische Gruppen für diese Kategorien gibt (Fiske/Durante 2016): warm und inkompetent (z. B. Personen mit Behinderung, alte Menschen), kalt und inkompetent (z. B. Obdachlose, Arme), kalt und kompetent (z. B. Karrierefrauen, Reiche) sowie warm und kompetent (gesellschaftliche Mehrheit, Ärzte). Es gibt darüber hinaus kulturelle Unterschiede bezüglich bestimmter Stereotype, da nicht alle Gruppen in allen Gesellschaften salient sind und sich Stereotype auch über die Zeit ändern bzw. Subgruppen ausbilden können. So lässt sich feststellen, dass sich das Stereotyp ›Frau‹ in viele Subgruppen einteilen lässt (z. B. Hausfrauen, Karrierefrauen, Feministinnen), die in verschiedenen Kategorien des Stereotype Content Models verortet sind (Eckes 2002). Das Stereotype Content Model gibt die Ambivalenz

der Stereotypisierung von Menschen mit Behinderung sehr anschaulich wieder. Die Wahrnehmung als warm und inkompetent drückt die Infantilisierung von Menschen mit Behinderung aus, die mit deren Sichtbarkeit zunimmt; man traut ihnen weniger zu und bietet vermehrt (ungebetene) paternalistische Hilfe an (NarioRedmond/Kemerling/Silverman 2019). Dies entspricht auch den Annahmen des Stereotype Content Models, nach dem die ambivalente Wahrnehmung als warm und inkompetent Mitleid gegenüber den stereotypisierten Gruppen hervorruft (Cuddy/Fiske/Glick 2008). Aus diesem Mitleid folgen als spezifische Verhaltensweisen gegenüber den entsprechenden Gruppen schädigende Handlungen, wie Ignorieren und Ausschließen, aber auch paternalistische Unterstützung und Hilfe (Cuddy/Fiske/Glick 2008), die Aufgaben abnimmt, aber keine Kompetenzen unterstellt und damit keine Selbstständigkeit fördert. Hilfe dieser Art mag auf positiven Intentionen beruhen, wertet die Empfänger der Hilfe aber trotzdem als inkompetent ab und verstärkt das Stereotyp. Lehnen Menschen mit Behinderung entsprechende Hilfsangebote ab, werden sie schnell als unfreundlich und weniger warm wahrgenommen (Wang/Silverman/Gwinn u. a. 2015). Neben den explizit geäußerten Stereotypen über Menschen mit Behinderung lassen sich auch implizite Stereotype erfassen. Darunter sind automatisch zwischen Kategorien und Eigenschaften hergestellte Assoziationen zu verstehen, deren Stärke sich über Reaktionszeiten messen lässt (Nosek 2007), z. B. ›Behinderung‹ und ›Inkompetenz‹. Rohmer und Louvet (2018) zeigten so, dass Behinderung implizit mit dem Stereotyp ›inkompetent‹, nicht aber mit dem Stereotyp ›warm‹ verbunden ist. Vielmehr wurden Menschen mit Behinderung als kälter stereotypisiert als Menschen ohne Behinderung. Die Autor*innen argumentieren, dass die Zuschreibung von Wärme in explizit geäußerten Stereotypen möglicherweise auf eine Überkompensation aufgrund der Motivation, vorurteilsfrei erscheinen zu wollen, zurückgeführt werden kann. Diese Forschungslinie deutet an, dass Stereotype über Menschen mit Behinderung komplexer sind als durch die Ambivalenz von ›warm und inkompetent‹ nahegelegt wird. Allerdings sollte nicht der Schluss gezogen werden, dass die impliziten Stereotype die ›wahren‹ Stereotype offenbaren. Vielmehr handelt es sich bei impliziten Stereotypen und Einstellungen um kognitive Prozesse, die mit den expliziten Stereotypen und Einstellungen, also der subjektiven Interpretation der sozialen Umwelt, je nach Domäne mehr oder weniger stark zusammenhängen können

43  Stereotype und Imaginationen

(Nosek 2007). Gemeinsam ergeben sie ein differenziertes Gesamtbild sozialer Wahrnehmung. Auch auf expliziter Ebene lassen sich Abweichungen vom Stereotyp ›warm und inkompetent‹ feststellen. Die Wahrnehmung der beiden fundamentalen Dimensionen ist kontextabhängig und Gruppen können in unterschiedlichen Kontexten als mehr oder weniger kompetent wahrgenommen werden (Lemus/ Moya/Lupiáñez u. a. 2014). Während die Wahrnehmung von Wärme in sozialen Alltagssituationen allgemein relevanter ist als die von Kompetenz, ist es in arbeits- und leistungsbezogenen Kontexten andersherum (Abele/Wojciszke 2014). Hochleistungssportler*innen mit Behinderung (s. Kap. 14) werden beispielsweise als warm und kompetent wahrgenommen (Stone/Sweet/Perrier 2019), während im direkten Vergleich mit Sportler*innen ohne Behinderung Sportler*innen mit Behinderung allerdings als weniger kompetent erscheinen (Gschwind 2013). Wie auch bei anderen Gruppen, kann sich das Stereotyp von Menschen mit Behinderung mit der Zeit ändern. Durch bionische Hilfsmittel (z. B. bionische Prothesen, Exoskelette, Retina-Implantate usw.) können Menschen mit Behinderung Fähigkeiten erlangen, die heutzutage näher an die Fähigkeiten von Menschen ohne Behinderung herankommen bzw. diese sogar übertreffen (s. Kap. 13). Im Hochleistungssport unterstützen moderne, hochtechnisierte Prothesen die Wahrnehmung als kompetent (vgl. Stone/Sweet/Perrier 2019). Insgesamt verändern bionische Prothesen die Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung; Meyer/Asbrock (2018) konnten zeigen, dass Personen mit bionischen Prothesen nicht als warm und inkompetent, sondern als warm und kompetent wahrgenommen wurden. Eine Darstellung von Nutzer*innen bionischer Prothesen als Cyborgs (definiert als Menschen mit organischen und biomechatronischen Körperteilen) führte sogar dazu, dass sie als kalt und kompetent wahrgenommen wurden. Die zunehmende Technisierung der Hilfsmittel wird in Zukunft das Bild von Behinderung weiter verändern und nicht nur Einfluss auf die Fähigkeiten der Nutzer*innen, sondern auch auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung haben. Stereotype beeinflussen nicht nur die Wahrnehmung der betroffenen Gruppe durch andere, sondern auch die Selbstwahrnehmung. Die tägliche Konfrontation mit auf Stereotypen basierendem, meist herabsetzendem Verhalten hat negative Konsequenzen für Gesundheit und Wohlbefinden der Betroffenen (Schmitt/Branscombe/Postmes u. a. 2014). Aber auch schon das Bewusstsein von Stigmatisierung und Ste-

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reotypen kann diese Konsequenzen haben, wie Wang und Dovidio (2011) in einer experimentellen Studie zeigten: Machten sich Studierende mit Behinderung ihre Identität als ›Person mit Behinderung‹ bewusst, orientierten sie sich weniger in Richtung auf Selbstständigkeit und Autonomie als wenn sie sich ihre Identität als Studierende bewusst machten. Dieser Effekt war stärker für Personen, denen das mit der Behinderung verbundene Stigma bewusster war. Einen ähnlichen Effekt hat das Bewusstsein über die Stereotypisierung der eigenen Gruppe auf die Leistung. Stereotype Threat beschreibt den unangenehmen psychologischen Zustand, der in Situationen erlebt wird, in denen das eigene Verhalten potentiell ein Stereotyp über die eigene Gruppe bestätigt (Spencer/ Logel/Davies 2016). Wird z. B. ein Mädchen mit dem Stereotyp konfrontiert, dass Mädchen in Mathematik schlechter als Jungen sind, kann sich das negativ auf ihre Leistung bei der Lösung von Mathematikaufgaben auswirken. Diese Bedrohung durch Stereotype gilt auch für Menschen mit Behinderung. Das vermehrte Erleben von Stereotype Threat hängt mit geringerem Wohlbefinden, geringerer Integrität, einer höheren Wahrscheinlichkeit, arbeitslos zu sein, und mit der Vermeidung von stereotyp-bedrohlichen Situationen zusammen (Silverman/Cohen 2014). So zeigt sich, dass nicht nur auf Stereotypen basierende Diskriminierung, sondern auch das Stereotyp selbst Mitglieder der betroffenen Gruppe schädigen kann. Literatur

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – A Bezugsrahmen

Fiske, Susan T./Taylor, Shelley E.: Social Cognition. From Brains to Culture. Los Angeles ²2013. Gschwind, Corinna: Die Einschätzung von Sportlern mit Behinderung auf den fundamentalen Dimensionen sozialer Wahrnehmung. Unveröffentlichte Diplomarbeit. Marburg 2013. Jussim, Lee/Crawford, Jarret T./Rubinstein, Rachel S.: Stereotype (In)Accuracy in Perceptions of Groups and Individuals. In: Current Directions in Psychological Science 24 (2015), 490–497. Lemus, Soledad de/Moya, Miguel/Lupiáñez, Juan/Bukowski, Marcin: Men in the Office, Women in the Kitchen? Contextual Dependency of Gender Stereotype Activation in Spanish Women. In: Sex Roles 70 (2014), 468–478. Lippmann, Walter: Public Opinion. New York 1922. Lorre, Chuck (Writer)/Goetsch, Dave (Writer)/Del Broccolo, Anthony (Writer)/Cendrowski, Mark (Director): The Wiggly Finger Catalyst (Season 5, Episode 4). In: Cuck Lorre/Bill Prady (Executive Producers): The Big Bang Theory [TV series episode]. Warner Bros Television (6.10.2011). Meyer, Bertolt/Asbrock, Frank: Disabled or Cyborg? How Bionics Affect Stereotypes Toward People With Physical Disabilities. In: Frontiers in Psychology 9 (2018), https:// doi.org/10.3389/fpsyg.2018.02251 (09.06.2020). Nario-Redmond, Michelle R: Cultural stereotypes of disabled and non-disabled men and women: Consensus for global category representations and diagnostic domains. In: British Journal of Social Psychology 49 (2010), 471– 488. Nario‐Redmond, Michelle R./Kemerling, Alexia A./Silverman, Arielle M.: Hostile, Benevolent, and Ambivalent Ableism: Contemporary Manifestations. In: Journal of Social Issues 75 (2019), 726–756. Nosek, Brian A: Implicit–Explicit Relations. In: Current Directions in Psychological Science 16 (2007), 65–69.

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Frank Asbrock

44  Ambivalenz und Kontingenz

44 Ambivalenz und Kontingenz Ambivalenz ist das gleichzeitige Vorliegen widersprüchlicher Aspekte eines Gegenstands der Wahrnehmung, Kontingenz dessen prinzipielle Offenheit für andere Möglichkeiten. Beides hängt miteinander zusammen: Kontingenz betont die Zufälligkeit, Ambivalenz die Uneindeutigkeit dessen, was der Fall ist. Ambivalenz und Kontingenz können aus dem menschlichen (Zusammen-)Leben, Wahrnehmen und Erkennen nicht eliminiert werden, und die Herausforderung für den um Sinn bemühten Menschen besteht darin, einen konstruktiven Umgang mit ihnen zu entwickeln. Ambivalent und kontingent sind auch Konzepte von Behinderung und zwar auf verschiedene Weise in unterschiedlichen Kulturen. Die folgenden Ausführungen fokussieren ›westliche‹ Gesellschaften der Gegenwart.

44.1 Ambivalenz und Behinderung Unter ›Ambivalenz‹ (von lat. ambo: ›beide‹, und valere: ›gelten‹) versteht man in einem alltagssprachlichen Verständnis das Oszillieren zwischen Gegensätzen im Fühlen, Wünschen, Denken, Beurteilen oder Wollen ebenso wie in Kommunikationen, Handlungen und allgemein in sozialer Interaktion. Immer ist Ambivalenz die »Einheit von Gegensätzen ohne Synthese« (Korczak 2012, 7), »die Möglichkeit, einen Gegenstand oder ein Ereignis mehr als nur einer Kategorie zuzuordnen« (Bauman 1992, 13) – und zwar nicht nur vorübergehend, sondern grundsätzlich. Im Zusammenhang mit Schizophrenie unterscheidet erstmals Eugen Bleuler (1914) eine affektive Ambivalenz (der Gefühle) von einer voluntären (Wollen) bzw. intellektuellen Ambivalenz (Deutungen). Als innerer Konflikt erzeugt Ambivalenz Angst und das Gefühl von Unordnung und Kontrollverlust (Bauman 1992, 13– 14) und damit Spannungszustände, die Entscheidungen blockieren. Für das Thema Behinderung ist von Interesse, dass Ambivalenz sich sowohl auf das Erleben von als auch auf den Umgang mit Behinderung bezieht, da diese als körperlicher wie auch als sozialer Zustand aufgefasst werden kann. Eine ambivalente Reaktion auf Behinderung ist vermutlich noch unmittelbarer als eine rein ablehnende Haltung und sicher unmittelbarer als Akzeptanz (vgl. Katz 1981, 11). Neubert/ Cloerkes sprechen bei »universelle[n] Reaktionstendenzen auf Behinderte« eher von Ambivalenz als von Ablehnung, von einem Schwanken zwischen Aussto-

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ßung und Anziehung (Neubert/Cloerkes 1987, 13). Denn die Abweichung von Erwartungen ruft eine gewisse Vorsicht beim Gegenüber hervor. Hinzu kommt, dass prinzipiell jeder Mensch jederzeit von Behinderung betroffen werden kann, so dass Konfrontation mit Behinderung immer auch potentiell Angst vor dem Verlust eigener körperlicher oder kognitiver Integrität impliziert: Behinderung als Mahnung an die Gefährdung und an die Verwundbarkeit des Körpers. »We represent a fearsome possibility«, schreibt Robert Murphy (2001, 117). Daher kann jemand sich mit einem Menschen mit Behinderung durchaus identifizieren und ihn zugleich ablehnen. Grundsätzlich ist auch eine Vermischung von Vorstellungen über Behinderung und Vorstellungen über den Menschen mit Behinderung Quelle ambivalenten Denkens, Fühlens und Handelns. Von einem grundlegenden Normenkonflikt bei der Begegnung zwischen Menschen mit und ohne Behinderung spricht Cloerkes (2007; 2014). Gesellschaftliche Normalitätserwartungen fordern bestimme körperliche und kognitive Merkmale bzw. bestimmte Handlungen, Leistung und Anpassung, die der Mensch mit Behinderung nur bedingt erbringen kann; die daraus logisch folgende Reaktion – Ausschluss und Stigmatisierung, eine spontane affektive (Abwehr-)Reaktion – wird jedoch sozial ebenfalls nicht akzeptiert. Vielmehr existieren soziale Normen und Werte, die – seit der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) 2006 verstärkt – die voraussetzungslose Teilhabe von Menschen mit Behinderung am sozialen Leben einfordern. In der sozialen Reaktion auf Behinderung treten damit »originäre« (d. h. spontan-affektive, tieferliegende, aber durchaus gesellschaftlich hervorgebrachte) Reaktionen bzw. reale Einstellungen mit »offiziell erwünschten Reaktionen« in einen Widerspruch: Negative Einstellungen werden anerzogen, dürfen aber nicht ausgelebt werden, was »unweigerlich Ambivalenzgefühle, Verhaltensunsicherheit und Schuldangst« erzeugt (Cloerkes 2014, 127). Die Spannung führt zu einer »strukturellen Ambivalenz, die sich sowohl in Einstellungen wie im manifesten Verhalten ausdrückt« (Kastl 2017, 199). So verhält sich womöglich jemand Menschen mit Behinderung gegenüber in seinen Worten freundlich, zeigt jedoch in seinem Verhalten Ablehnung (Cloerkes 2014, 129). Die strukturelle Ambivalenz verstärkt sich dann selbst: Sie ist Folge von Spannung in einer Interaktion und erzeugt wieder Spannungen in späteren Interaktionen. Ambivalenzen werden oft nicht direkt wahrgenommen (Katz 1981, 7); vielmehr wird eine der

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_44

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – A Bezugsrahmen

beiden miteinander im Konflikt liegenden Emotionen unterdrückt (vgl. ebd., 10), z. B. in Form von Überkompensation (vgl. die »ambivalence-induced behavioral amplification« ebd., 25). Für die Wahrnehmung und (kreative) Verarbeitung von Ambivalenz kommt erschwerend die ›Irrelevanzregel‹ (nach Goffman 1961, 19–34) hinzu, nach der die Behinderung oft höflich ignoriert wird, was eine künstliche Situation von »Verhaltensunsicherheit mit Vermeidungstendenzen« erzeugt: »Unbehagen, Spannung und Stress« in einer Interaktion voll »Starrheit, Angst, Peinlichkeit, gekünstelte[r] krampfhafte[r] Heiterkeit«, »alles Anzeichen für eine ›pathologische‹ soziale Situation« (Cloerkes 2014, 130–131). Noch komplexer wird die soziale Praxis dadurch, dass die Menschen mit Behinderung ihrerseits auf die Reaktionen der nichtbehinderten Menschen reagieren. So steigen Anspannung und Hemmungen auf beiden Seiten (vgl. Murphy 2001, 121–122). Als Lösungsversuche für den Normenkonflikt nennt Cloerkes »überformte« soziale Reaktionen (Cloerkes 2014, 127), eine Kompromisslösung zwischen »originären« und »sozial erwünschten« Reaktionen, die weiterhin unverbunden (und widersprüchlich) nebeneinander bestehen bleiben können. Überformte Reaktionen stellen allerdings, ebenso wie ein Vermeidungsverhalten, nur eine Scheinakzeptierung von Menschen mit Behinderung dar (vgl. ebd., 127–130). Erving Goffman (1963) spricht von phantom acceptance und phantom normalcy, die Menschen mit Behinderung nur oberflächlich integriert, weil jede mit Behinderung verbundene Irritation von allen Seiten peinlich vermieden wird und dadurch die Stigmatisierung unterschwellig erhalten bleibt (vgl. auch Murphy 2001, 169). Mitleid sowie unpersönliche oder aufgedrängte Hilfe sind weitere Versuche, die Ambivalenz zu verarbeiten (Cloerkes 2014, 130). Erstaunlicherweise haben Gesellschaften bis in die Gegenwart keine kulturellen Verhaltensmuster entwickelt, die die Ambivalenz gegenüber Behinderung zuverlässig abfedern und so phantom normalcy verhindern. Behinderung impliziert vielmehr auch in Zeiten der UN-BRK noch einen unklaren sozialen Status bzw. eine unklare soziale Identität. Das mit Behinderung verbundene Stigma schwächt den Akteurstatus der betroffenen Person, die »nicht als gleichwertiger, voll zurechnungsfähiger Interaktionspartner wahrgenommen« wird (Kastl 2017, 190–191). ›Behinderte‹ erhalten damit zugleich Merkmale von Krankheit, Kindheit und Kriminalität (zu letzterer vgl. die

Tabelle bei Cloerkes 2014, 134). Kastl spricht in Anlehnung an Robert Murphy (2001) von Liminalität: Weil behinderte Menschen weder als krank noch als gesund gelten, befänden sie sich in einem »dauerhaft ambivalenten, weil sozial unterdefinierten Schwellenzustand« (Kastl 2017, 197). Bei Murphy – der an einem fortschreitenden Tumor leidet, was die Drastik seiner Perspektive erklärt – heißt es: »The long-term physically impaired are neither sick nor well, neither dead nor fully alive, neither out of society nor wholly in it. They are human beings but their bodies are warped or malfunctioning, leaving their full humanity in doubt. [...] They are neither fish nor fowl; they exist in partial isolation from society as undefined, ambiguous people.« (Murphy 2001, 131)

Da soziale Identität die Grundlage sozialer Interaktion ist, entsteht bei der Begegnung mit Behinderung Unsicherheit bezüglich der Frage, wie zu handeln ist. Bei der Interaktionsdynamik zwischen Menschen mit und ohne Behinderung ist daher oft nicht klar, »ob jemand und wer eigentlich eine Norm verletzt« (Kastl 2017, 200). Fehlt eine klare Vorstellung von angemessenem Verhalten, greifen Interaktionspartner in der Regel auf früh erlernte Stereotype und Vorurteile zurück, und die Behinderung wird »zum einzigen und beherrschenden Anhaltspunkt« (Cloerkes 2014, 132) für die soziale Einschätzung. Legt man Baumans (1992) Terminologie zugrunde, wäre der Mensch mit Behinderung der ›Fremde‹ par excellence, weil er zwischen Freund und Feind und damit zugleich innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft steht und an deren Verantwortung ebenso wie an deren Abwehrimpulse appelliert (vgl. Bauman 1992, 74–75). Weil der Fremde unklassifizierbar sei, stelle er diese Oppositionen an sich in Frage, weshalb er »tabuisiert, entwaffnet, unterdrückt, physisch oder geistig exiliert« (ebd., 80) und durch eine »permanente Ausgrenzung« stigmatisiert werde (ebd., 91). Auch pädagogisches Handeln gegenüber Menschen mit Behinderung ist ambivalent, da Eigen- und Fremdvorstellungen auseinandergehen können und weil pädagogisches Handeln auch behindernde Strukturen erzeugt, obwohl es sie aufheben will (z. B. in der Sonderbeschulung). Moser spricht von einem »Dilemma von Verbesonderung und Förderung« (Moser 2009, 172). Eine Studie von Trescher (2018) zeigt, wie z. B. im Wohnheim ambivalente Situationen durch gleichzeitige Infantilisierung und Wertschätzung, Freundschaft und professionelle Distanz, Fürsorge

44  Ambivalenz und Kontingenz

und Kontrolle entstehen. Als Beispiel nennt Trescher die Ambivalenz »[...] zwischen dem Zulassen von Nähe und einer Hervorbringung der betreffenden Person als ›geistig behindert‹ [...], welche sich gerade dann vollzieht, wenn die gesuchte Nähe spontan und für ein routinemäßiges spezifisches Verhältnis unpassend ist (wie etwa spontanes Umarmen), von den MitarbeiterInnen jedoch zugelassen beziehungsweise nicht als übergriffig verstanden wird.« (Trescher 2018, 250)

Ambivalenzen zwischen Autonomie und Zwangsanpassung, Verändern-Wollen und Akzeptieren zeigen sich strukturell in der Rehabilitation (vgl. Kastl 2017, 100). Ein Cochlea-Implantat kann beispielsweise eine (Wieder-)Herstellung des Hörsinnes bedeuten, aber auch einen Angriff auf die Identität der betroffenen Person, dass sie nämlich Mitglied der Deaf Community ist und Nicht-Hören als Teil ihrer Persönlichkeit und kulturellen Identität empfindet. In diesen Zusammenhang fällt auch die Ambivalenz zwischen umfassender sozialer Anerkennung von Diversität und Auflösung der Anerkennungsstruktur eines sozialen Systems durch zu starke und abrupte Veränderungen seiner Regeln. Dies wird z. B. in der inklusiven Beschulung (s. Kap. 16), dem inklusiven Sport (s. Kap. 14) oder der inklusiven Kunst (s. Kap. IV) deutlich: Menschen mit Behinderung werden in einer Schule, zu einem sportlichen Wettkampf oder in einem Theater als Schüler*innen, Wettkämpfer*innen oder Schauspieler*innen zugelassen, dann aber abweichenden (›weicheren‹, ›paternalistisch gedämpften‹) Bewertungsmaßstäben unterworfen (vgl. Hartwig 2021). Diese Ambivalenz tritt freilich nur auf, wenn Inklusion nicht ohnehin von vornherein weitere Unterdifferenzierungen (›Parallelwelten‹) erzeugt, also beispielsweise Sonderunterricht in getrennten Räumen in ›inklusiven‹ Regelschulen, Special Olympics im Sport oder Festivals nur für ›inklusive‹ Theatergruppen. Auf Ambivalenz verweisen schließlich auch die Dilemmata der Essentialisierung, der Homogenisierung und der Objektivierung von Menschen mit Behinderung im wissenschaftlichen Diskurs: Je nach Argumentationszusammenhang ist Behinderung als Merkmal des Körpers (z. B. im körperlichen Erleben) oder als Struktur der Umwelt (z. B. im Aufbau von Barrieren) interpretierbar, werden Menschen mit und ohne Behinderung als gleich oder als verschieden dargestellt und erscheinen Menschen mit Behinderung

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als Subjekt oder als Objekt von Identitätspolitik (vgl. Hartwig 2018).

44.2 Potential der Ambivalenz Ambivalenz als grundlegender menschlicher Konflikt kann unterdrückt werden – etwa durch Verdrängung (z. B. in Form von Unsichtbarmachung oder Vermeidung) oder durch einseitige Auflösung (z. B. in Form von Scheininklusion, Stigmatisierung oder Moralisierung) –, ist jedoch prinzipiell nicht aufhebbar. In den aktuellen hochgradig differenzierten Gesellschaften geht es in allen Lebensbereichen vielmehr zunehmend darum, Ambivalenzen zu ›managen‹. Denn letztlich ist Ambivalenz nicht pathologisch, sondern Teil einer dynamischen Identität (vgl. Lüscher 2012, 21): »Die Akzeptanz von Ambivalenzerfahrungen und das Erproben und Erlernen des Umgangs damit kann sehr wohl als ein Aspekt von ›Bildung‹ (im Sinne von ›Menschenbildung‹) gesehen werden« (ebd., 23–24). In nicht-pragmatischen Situationen – beispielsweise in allen künstlerischen Kontexten wie Theater, Film oder Literatur – muss Ambivalenz nicht aufgelöst werden. Vielmehr ist sie »eine der wichtigsten Triebfedern der Dichtung«, wie Bleuler bereits 1914 feststellt (Bleuler 1914, 102). Ambivalenz führe nämlich dazu, dass Ideen nicht abgeschlossen seien, weshalb Dichter »lebhaft bewegen« können (ebd.). Das wiederum bedeutet, dass Ambivalenz kreativ macht, was sowohl für die Produktion als auch für die Rezeption ambivalenter Werke aus den Bereichen Kunst und Literatur gilt (vgl. Bode 1988 sowie die literaturwissenschaftlichen Konzepte der Leerstellen oder des Unausgesprochenen). So zeigt Literatur eine Vorliebe für Schwellenphänomene (vgl. Parr 2008 und die dort genannten Theorien z. B. von Juri Lotman und Michel Foucault), und mehrdeutige Interpretationsmöglichkeiten hinterfragen eingefahrene Denkmuster. Neue Sichtweisen können entstehen, wenn Behinderung durch ungewöhnliche Kontexte eine überraschende Deutung erfährt. So interpretiert die 2005 auf dem Trafalgar Square in London aufgestellte Statue »Alison Lapper Pregnant« (der Bildhauer ist Marc Quinn), die eine schwangere Frau ohne Arme und mit verkürzten Beinen zeigt (s. Kap. 57), auch die dort befindliche Statue des (kriegsversehrten) Admiral Nelson neu: »Standing alongside the Lapper Statue, Nelson’s heroic white masculinity becomes reconfigured. The hierar-

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – A Bezugsrahmen

chy of embodiment (and disability) implicit in the media response is clear: Nelson’s disability, inflicted rather than congenital, is understood as a symbolic badge of military honour rather than as a marker of physical vulnerability. The visceral reaction against the representation of Lapper’s pregnant, naked body suggests taboos about both the equalization of a disabled female body and Lapper’s prospective role as a physically fertile, socially productive carer – a mother – rather than a passive recipient of care. In this context, the recognition of the presence of disability creates new connections and enriches our understanding of existing aesthetic works, including the Nelson statue.« (Hall 2012, 3–4)

Gerade in der, laut Hirschauer, »ambiguitätsfreundlichen Pop-Kultur« (Hirschauer 2014, 179) – Ambiguität hier verstanden als Mehrdeutigkeit, die u. U. auch widersprüchliche oder kontingente Interpretationen zulässt – kann Ambivalenz als Mittel eingesetzt werden, um Sehgewohnheiten und festgefahrene Annahmen über Behinderung aufzubrechen: etwa in Initiativen wie die der Drag Queens (https://www.drag syndrome.com/, s. Kap. 53), die mit sexuellen Normen spielen und auf die Konstrukthaftigkeit von Geschlecht und Behinderung hinweisen; oder in einem ›Du-Musst-Die-Party-Nicht-Ertragen-Wagen‹ auf der Disability Pride Parade 2015 in Berlin, über den es auf der Webseite heißt: Dieser [Wagen] soll ambivalenten Gefühlen bezüglich der ganzen Feierei Raum geben. Er kann stehen für Traurigkeit und_oder Wut oder einfach für »mir ist gerade nicht nach Feiern, ich will aber trotzdem Präsenz zeigen auf der Straße«. [...] Wir wollen einen Raum schaffen für Emotionen, die wichtig und real aber im Allgemeinen leider nicht positiv besetzt sind oder verleugnet werden. [...] Der Wagen ist lila und schwarz gehalten, da das für uns schöne starke Farben mit Tiefe und Intensität sind – eben nicht pastell-leicht und quietsch-bunt. Hoffentlich kann der Du-MusstDie-Party-Nicht-Ertragen-Wagen für dich und viele ein Wohlfühlort sein, wo du dich nicht wohlfühlen musst. Wo du protestieren kannst gegen den allgemeinen Fröhlichkeits-Zwang in einer Welt voll Unterdrückung und unterdrückter Gefühle.« (Pride Parade Berlin 2015)

Ambivalenz verweist in diesen Kontexten darauf, dass Behinderung eine soziale Praxis ist und nicht die Eigenschaft eines Menschen.

44.3 Kontingenz und Behinderung Kontingent ist das, was weder notwendig noch unmöglich ist. Der Begriff contingentia (›Möglichkeit, Zufall‹) ist die latinisierte Form eines aristotelischen Begriffs (zur Begriffsgeschichte vgl. Graevenitz/Marquard 1998a), der den Modus eines Wirklichkeitsbereiches bezeichnet, d. h. auf welche Weise ein Sachverhalt vorliegt. Kontingenz verweist auf alternative Möglichkeiten und damit darauf, dass alles, was der Fall ist, auch anders sein könnte (als ›Zufall‹ bezeichnet man demgegenüber realisierte Kontingenz, also eine eingetretene Möglichkeit). In der Soziologie meint Kontingenz die prinzipielle Offenheit und Ungewissheit des menschlichen (Zusammen-) Lebens, Kommunizierens (Niklas Luhmann) und Handelns. Kontingenz und ihre Bewältigung werden historisch und soziokulturell spezifisch konzipiert. Die Konzepte hängen davon ab, wie das Verhältnis zwischen Verfügbarem und Unverfügbarem gesehen wird und in welcher Weise das Unverfügbare negativ, ambivalent oder positiv konnotiert ist (Butter 2013, 2). Für Butter lotet Literatur beispielsweise immer »die Grenzbereiche zwischen dem Notwendigen und dem Möglichen in der Lebenswelt ihrer Entstehungszeit« aus (ebd., 4). Laut Holzinger verstärken sich Kontingenzerfahrungen in der Gegenwart, weil die Welt immer weniger durch Institutionen und Kollektive vereindeutigt wird (Holzinger 2007, 12). »Weil der Raum der Möglichkeiten zunehmend expandiert, wird die Wirklichkeit, die im Normalfall als der Platzhalter für das ontologisch Selbstverständliche fungiert, plötzlich als latent flüchtig und labil betrachtet.« (Holzinger 2007, 49)

Der Mensch müsse akzeptieren, »dass die Welt nur noch mithilfe pluraler Zugangsweisen beschrieben werden kann« (Holzinger 2007, 332; vgl. auch die These vom zunehmenden Kontingenzbewusstsein seit der Antike in Graevenitz/Marquard 1998a, XII). Butter (2013, 2) sieht Kontingenzbewusstsein als eine Leitlinie kulturwissenschaftlichen Arbeitens überhaupt an, da Kulturwissenschaften ständig scheinbar Selbstverständliches hinterfragen. Das wiederum ist die Basis für die Anerkennung von Diversität und somit auch von Abweichungen, die als Behinderung konzipiert werden. Butter (2013, 8) nennt drei Typen von Kontingenz:

44  Ambivalenz und Kontingenz

• Gestaltbarkeitskontingenz: Das Individuum hat Handlungsmöglichkeiten (Kontingenz des Verfügbaren) • Widerfahrniskontingenz (Schicksalskontingenz, Fortuna): Das Individuum bleibt ohne Kontrolle über die Ereignisse (Kontingenz des Unverfügbaren) • Kontingenz des Inkommensurablen: Es gibt Ereignisse, die sich den kognitiven Rastern des Individuums entziehen (Kontingenz des Unverfügbaren). Im Konzept von Behinderung überschneiden sich diese drei Typen: Behinderung ist der Kontrolle des Individuums entzogen (Widerfahrniskontingenz), muss aber auch in ihrer spezifischen Ausprägung bei einem konkreten Individuum in einem konkreten sozialen Kontext gesehen werden (Gestaltbarkeitskontingenz). Außersprachliche Erfahrungen mit Behinderung verweisen schließlich auf die Kontingenz des Inkommensurablen (in Anlehnung an Butters Aussagen zum Thema ›Krankheit‹; Butter 2013, 29–30): Das Allge­meine bzw. allgemeine Denkmuster begrenzen die Erkenntnis dessen, was Behinderung noch über das Allgemeine hinaus sein kann (d. h. die Erkenntnis über individuelle Möglichkeiten, sie zu erfahren). Gerade bei diesem letzten Typus von Kontingenz können künstlerische bzw. fiktionale Erfahrungen und ästhetische Ausdrucksmittel die menschliche Erkenntnisfähigkeit erweitern und auf das Inkommensurable hindeuten. Kontingent ist menschliches Leben allgemein, sowohl in biologischer als auch in kultureller Hinsicht, was Wahrnehmung, Verhalten und Sprache, aber auch wissenschaftliche und ethische Positionen einschließt. Moser nennt das »erkenntnistheoretische Problem, dass die Dinge, die wir erkennen und beschreiben, schlicht auch anders sein können – je nach Beobachterstandpunkt und vorhandenen Deutungssystemen« (Moser 2009, 170). Kastl (2017, 81–82) nennt die materielle Struktur des menschlichen Körpers kontingent • in Bezug auf das, was für ihn typisch ist im Gegensatz zu anderen Lebewesen • in Bezug auf seine Individualität, dass er so ist, wie er ist • in Bezug auf seine Existenz, dass er überhaupt da ist • in Bezug auf seine »Verletzungsoffenheit«. Mit dem Phänomen der Kontingenz ist Behinderung schon deshalb untrennbar verknüpft, weil das Konzept ›Behinderung‹ von kulturellen Kontexten abhängt – Dyslexie gibt es beispielsweise nicht in einer schriftlosen Kultur und Unfruchtbarkeit ist in einigen

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Kulturen eine Behinderung (vgl. Neubert/Cloerkes 1987), in den meisten anderen aber nicht – und weil sie prinzipiell jederzeit jeden Menschen treffen kann. Es gibt weder einen Schutz vor Behinderung noch eine Schuld, mit der man sie sich gerechterweise zuzieht. Jede Reaktion auf Behinderung ist daher ebenfalls kontingent. Kontingente menschliche Eigenschaften werden sozial geformt (Kastl 2017, 96), so dass der Kontext Einfluss auf die Einschätzung der Eigenschaften (und damit auch der menschlichen Fähigkeiten/Behinderungen) hat. Prinzipiell gibt es zwei Umgangsformen mit Kontingenz: Leugnung oder Anerkennung. Vogt (2011, Kap. VIII) nennt als Formen von Kontingenzbewältigung Ironie, Skepsis und Religion. Symbolische Deutungen, die Behinderung etwa als Strafe oder als Instrument eines Heilsgeschehens interpretieren, können als Versuche angesehen werden, die Kontingenz von Behinderung unsichtbar zu machen, die Pränataldiagnostik als Versuch, die Konsequenzen von Kontingenz abzufedern: Sie macht Behinderung zwar nicht weniger zufällig, eröffnet aber eine Entscheidungsmöglichkeit und legt Behinderung damit ein Stück weit in menschliche Verantwortung, die es bei einem rein kontingenten Ereignis nicht gäbe. Anerkannt wird Kontingenz z. B. in Inklusionsdiskursen oder auch in der Freakshow, die laut Kastl ein Lachen auslöst, das eine »sozialisiert[e], ebenso symbolisch vermittelt[e] wie körperlich real[e] Form der Anerkennung von Kontingenz« darstellt (Kastl 2017, 341) (s. Kap. 45). Für den Bereich Literatur unterscheidet Butter zwei grundsätzliche Praktiken in Bezug auf Kontingenz: das Unverfügbare zu marginalisieren und sich seiner zu bemächtigen bzw. für das Unverfügbare zu sensibilisieren und sich ihm zu öffnen (Butter 2013, 3).

44.4 Potential von Kontingenz In Niklas Luhmanns Systemtheorie (vgl. Luhmann 1984, 148–190) ist gelingende Kommunikation unwahrscheinlich aufgrund der doppelten Kontingenz der Interaktionspartner Ego und Alter (vgl. den Beitrag »Doppelte Kontingenz als Grundlage von sozialem Sinn«, Jantzen 2009, 45–47). Diese stellen sich aufeinander ein und schaffen emergente Ordnungen, eine Art ›Selbst-Konstruktion‹ (Autopoiesis) der Kommunikation. Da abweichende Personen (soziale) Gleichgewichtszustände gefährden, ist Stigmatisierung auch – und in diesem Fall ungewöhnlich posi-

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – A Bezugsrahmen

tiv konnotiert als ›Identitätsstütze‹ und ›Kontingenzreduktion‹ – das »Ergebnis von Mechanismen, auf die jedes Individuum zurückgreifen muss, um seine soziale Existenz zu sichern« (Cloerkes 2014, 125). Wenn aber Stigmatisierung u. a. kontingenzreduzierende Funktionen hat, kann De-Stigmatisierung von Behinderung auch über Modifikationen der Einstellung zu Kontingenz erfolgen, etwa wenn diese positiver konnotiert wird. Anders gesagt: Wenn das Aushalten von Kontingenz auch als persönlicher und gesellschaftlicher Gewinn empfunden werden kann, verliert Stigmatisierung eine zentrale Funktion und wird entbehrlich. Dazu müssen die kreativen Potentiale von Kontingenz in den Fokus rücken, insbesondere die durch Kontingenz ermöglichte Steigerung von Freiheit. Negativ ist Kontingenz konnotiert durch die Zunahme von Ungewissheit und Unberechenbarkeit. Positiv verweist sie auf mehr Handlungsmöglichkeiten und Alternativen zum Gegebenen, also mehr Komplexität; denn Umweltkomplexität kann bewältigt werden durch die Steigerung der Eigenkomplexität eines Systems (nach Luhmann z. B. durch funktionale Differenzierung). Kontingenz kann also ambivalent erfahren werden: Einerseits sind soziale Systeme auf ihren Abbau im Sinne einer »Ent-arbitrarisierung« oder »Ent-idiosynkratisierung« der Individuen durch eine »Begrenzung von Irritationsmöglichkeiten« angewiesen (Fuchs 2002), andererseits können sich nur in einer Gesellschaft voller Möglichkeiten Freiheit und Verantwortung entwickeln. Kontingenz in der Kommunikation liegt vor, wenn etwa Kommunikationspartner nicht wissen, wie sie an Kommunikationen von Menschen mit Behinderung anschließen können, z. B. bei Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung. Damit ist die Autopoiesis der Kommunikation bedroht, was durch »Reparaturmechanismen« (Fuchs 2002) – wie das Wechseln auf eine Metaebene oder in die Fiktion – aufgefangen werden kann. Metakommunikation macht wiederum die Kontingenz von Kommunikation und damit auch die von durch Kommunikation bedingten Normierungen sichtbar. Was sich als kontingent erweist, ist dabei immer auch veränderbar. Kontingenz anzuerkennen eröffnet somit neue (Handlungs- und Wahrnehmungs-) Möglichkeiten und verneint scheinbar präexistente Teleologien, was wiederum den Weg bereitet für die Anerkennung von Anderssein und Abweichung, also das, was mit dem Konzept ›Behinderung‹ belegt wird. Metakommunikation schärft dabei das Bewusstsein für konstruktive Bewältigungsformen von Kontingenz, die z. B. nicht auf Stigmatisierung basieren.

Hirschauer spricht von kontingenzschließenden Differenzverstärkungen und kontingenzöffnenden Differenzminimierungen (Hirschauer 2014, 185); beide sind für die Stabilität einer sozialen Gruppe wichtig. »Die Einübung des Möglichkeitssinns« ist für Holzinger »ein erster Schritt [...], um für die Heterogenität der Wirklichkeit zu sensibilisieren« (Holzinger 2007, 332). Für Möglichkeitswelten sind gerade Kunst und Literatur gesellschaftlich zuständig. Sie können Kontingenz zulassen und im Umgang mit ihr schulen. Denn Literatur ist aufgrund ihrer imaginativen Gestaltungsspielräume besonders dazu geeignet, »das noch nicht in der Realität Gegebene greifbar zu machen« (Butter 2013, 5) und zwar am Einzelfall. Im 16. Jahrhundert scheint Michel de Montaigne in Kontingenz die Quelle heiterer Gelassenheit gesehen zu haben (vgl. Haug 1998), die dem Leben etwas Spielerisches verleiht (ebd., 290). Bauman sieht Anerkennung von Kontingenz als Basis für Solidarität und für ein Leben mit nur provisorischer Gewissheit an (Bauman 1992, 288).

44.5 Ausblick Konzepte von Behinderung wandeln sich historisch ebenso wie soziale Reaktionen auf Menschen, die in Aussehen oder Verhalten von der Norm (s. Kap. 42) abweichen. In der Gegenwart werden Wertmaßstäbe zunehmend ambivalent. Dies zeigt sich eindrücklich im oben bereits angesprochenen Normenkonflikt bei der Begegnung zwischen Menschen mit und ohne Behinderung. Sichtbares Zeichen für seine Virulenz ist, dass fast zeitgleich die »Convention on the Rights of Persons with Disabilities« (UN CRPD, 2006) verabschiedet und der nichtinvasive Pränataltest (NIPT; seit 2011) in den Handel eingeführt werden, der gezieltes Suchen nach Chromosomenanomalien ermöglicht, was wiederum häufig zu einer vorzeitigen Beendigung der Schwangerschaft führt. Pessimistisch mutmaßt Kastl, dass sich das Spannungsverhältnis zwischen »originären« und »erwünschten« Reaktionen auf Behinderung im Sinne von Cloerkes noch zuspitzen wird, da standardisierte Erwartungen an Körper und deren Kompetenzen rigider und gleichzeitig die Anerkennung von Vielfalt immer lauter gefordert werden (Kastl 2014, 165). Um mit Ambivalenz und Kontingenz im Zusammenhang mit Behinderung konstruktiv umgehen zu können, dürften beide in kulturwissenschaftlichen Untersuchungen zu Behinderung immer wichtiger werden.

44  Ambivalenz und Kontingenz Literatur

Bauman, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg 1992. Bleuler, [Eugen]: Die Ambivalenz. In: Festgabe zur Einweihung der Neubauten 18. April 1914. Zürich 1914, III: 93–106. Bode, Christoph: Ästhetik der Ambiguität. Zu Funktion und Bedeutung von Mehrdeutigkeit in der Literatur der Moderne. Tübingen 1988. Butter, Stella: Kontingenz und Literatur im Prozess der Modernisierung. Diagnosen und Umgangsstrategien im britischen Roman des 19.–21. Jahrhunderts. Tübingen 2013. Cloerkes, Günther: Einstellung und Verhalten gegenüber Körperbehinderten. Eine Bestandsaufnahme der Ergebnisse internationaler Forschung. Berlin 1979. Cloerkes, Günther: Soziologie der Behinderten. Eine Einführung. 3., neu bearbeitete und erw. Auflage. Heidelberg 2007. Cloerkes, Günther: Die Problematik widersprüchlicher Normen in der sozialen Reaktion auf Behinderte [1984]. In: Jörg Michael Kastl/Kai Felkendorff (Hg.): Behinderung, Soziologie und gesellschaftliche Erfahrung. Wiesbaden 2014, 121–140. Fuchs, Peter: Behinderung und Soziale Systeme. Anmerkungen zu einem schier unlösbaren Problem (2002), https:// www.ibs-networld.de/Ferkel/Archiv/fuchs-p-02–05_ behinderungen.html (03.07.2019). Goffman, Erving: Encounters. Two studies in the sociology of interaction. Indianapolis/New York 1961. Goffman, Erving: Stigma. Notes on the Management of Spoiled Identity. New York/London/Toronto 1963. Graevenitz, Gerhart von/Marquard, Odo (Hg.): Kontingenz. München 1998. Graevenitz, Gerhart von/Marquard, Odo [1998a]: Vorwort. In: Graevenitz/Marquard 1998: XI–XVI. Hall, Alice: Disability and Modern Fiction. Faulkner, Morrison, Coetzee and the Nobel Prize for Literature. Basingstoke 2012. Hartwig, Susanne: Introducción: representar la diversidad funcional. In: Julio Checa/Susanne Hartwig (Hg.): ¿Discapacidad? Literatura, teatro y cine hispánicos vistos desde los disability studies. Berlin/Bern/Bruxelles/New York/Oxford/Warszawa/Wien 2018, 7–21, https://www. peterlang.com/view/9783631763124/html/ch08. xhtml?pdfVersion=true (15.04.2020). Hartwig, Susanne: Undoing disability en el teatro inclusivo. In: Javier Velloso/David Navarro/Alba Gómez (Hg.): Diversidad funcional y creación. Los límites de la ficción. Berlin/Bern/Bruxelles/New York/Oxford/Warszawa/Wien (voraussichtlich 2021). Haug, Walter: Montaigne oder die dritte ›Lösung‹ des Kontingenzproblems. In: Graevenitz/Marquard 1998, 285– 290.

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Hirschauer, Stefan: Un/doing Differences. Die Kontingenz sozialer Zugehörigkeiten. In: Zeitschrift für Soziologie 43/3 (2014), 170–191. Holzinger, Markus: Kontingenz in der Gegenwartsgesellschaft. Dimensionen eines Leitbegriffs moderner Sozialtheorie. Bielefeld 2007. Jantzen, Wolfgang: Sinn/sinnhaftes Handeln und der Aufbau der sozialen Welt. In: Markus Dederich/Wolfgang Jantzen (Hg.): Behinderung und Anerkennung. Stuttgart 2009, 41–57. Kastl, Jörg Michael: Behinderung, soziale Reaktion und gesellschaftliche Erfahrung – zur Aktualität interaktionistischer und pragmatistischer Analyseperspektiven. In: Ders./Kai Felkendorff (Hg.): Behinderung, Soziologie und gesellschaftliche Erfahrung. Wiesbaden 2014, 141–169. Kastl, Jörg Michael: Einführung in die Soziologie der Behinderung. Ein Lehrbuch. 2., völlig überarb. und erw. Aufl. Wiesbaden 2017. Katz, Irwin: Stigma. A Social Psychological Analysis. Hillsdale NJ 1981. Korczak, Dieter: Vorwort. In: Ders. (Hg.): Ambivalenzerfahrungen. Kröning 2012, 7–10. Lüscher, Kurt: Menschen als ›homines ambivalentes‹. In: Dieter Korczak (Hg.): Ambivalenzerfahrungen. Kröning 2012, 11–32. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie [1984]. Frankfurt a. M. 2010. Moser, Vera: Legitimations- und Kontingenzprobleme. In: Markus Dederich/Wolfgang Jantzen (Hg.): Behinderung und Anerkennung. Stuttgart 2009, 170–176. Murphy, Robert F.: The body silent. New York/London 2001. Neubert, Dieter/Cloerkes, Günther: Behinderung und Behinderte in verschiedenen Kulturen. Eine vergleichende Analyse ethnologischer Studien. Heidelberg 1987. Parr, Rolf: Liminale und andere Übergänge. Theoretische Modellierungen von Grenzzonen, Normalitätsspektren, Schwellen, Übergängen und Zwischenräumen in Literatur- und Kulturwissenschaft. In: Achim Geisenhanslüke/ Georg Mein (Hg.): Schriftkultur und Schwellenkunde. Bielefeld 2008, 11–63. [Pride Parade Berlin]: It might be of interest, dass... (3.7.2015), https://www.pride-parade.de/blog/it-mightbe-of-interest-dass (25.03.2020). Trescher, Hendrik: Ambivalenzen pädagogischen Handelns. Reflexionen der Betreuung von Menschen mit ›geistiger Behinderung‹. Bielefeld 2018. Vogt, Peter: Kontingenz und Zufall. Eine Ideen- und Begriffsgeschichte. Berlin 2011. Wansing, Gudrun: Konstruktion – Anerkennung – Problematisierung: Ambivalenzen der Kategorie Behinderung im Kontext von Inklusion und Diversität. In: Soziale Probleme 25/2 (2014), 209–230, http://nbn-resolving.de/ urn:nbn:de:0168-ssoar-447987 (17.06.2019).

Susanne Hartwig

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – A Bezugsrahmen

45 Komik und Behinderung 45.1 Lachen über Behinderung zwischen Ethik und Komik Wer in eine Internet-Suchmaschine eingibt: »Können behinderte Menschen/Behinderungen komisch sein?«, findet kaum passende Einträge. ›Komisch‹ hat in den meisten Suchergebnissen die semantische Valenz von ›seltsam‹, ›befremdlich‹, ›absonderlich‹. Gibt man dagegen »Darf man über behinderte Menschen/ Behinderungen lachen?« ein, wird man feststellen, dass es sich dabei offensichtlich um eine stehende Frageformel handelt. Die erste Frage wird offensichtlich nicht oder selten gestellt, die zweite dagegen scheint völlig naheliegend und viel diskutiert. Setzt aber die Klärung der ethischen Legitimation von Lachen nicht eigentlich eine Klärung voraus, warum und worüber eigentlich gelacht wird? Wird hier der zweite Schritt vor dem ersten gemacht? Auch in der wissenschaftlichen Diskussion lässt sich eine Tendenz beobachten, die Frage nach der Komik zu ›überspringen‹. So geht die sehr lesenswerte wissenschaftliche Monographie von Claudia Gottwald (2009) über »komische Repräsentationen von Behinderung«, die einzige ihrer Art im deutschsprachigen Raum, zwar ausführlich auf gängige Komiktheorien ein. Sie stellt aber dann doch die Frage des historischen Wandels der das Lachen regulierenden sozialen Normen in den Mittelpunkt. Das bringt durchaus Erkenntnisgewinne. Letztlich bleibt aber auch hier die Frage nach der möglichen Komik von Behinderung unbeantwortet. Zu Gottwalds Befunden gehört, dass man etwa seit dem 18. Jahrhundert lachen darf, wenn die Behinderung nicht als übermäßiges Unglück oder als Schädigung erscheint und demgemäß weder mit Mitleid noch mit Ekel oder Abscheu verbunden ist. Das Lachen sollte selbst unschädlich, nicht etwa mit Verachtung oder Abwertung verknüpft sein. Legitimierend kann sein, dass von Behinderung Betroffene selbst lachen bzw. »Subjekte des Lachens sind« (Gottwald 2009, 261). Vor dem Hintergrund von Erving Goffmans klassischer Studie Stigma (1975) bleibt dieses zuletzt genannte Argument durchaus zwiespältig. Das Lachen des behinderten Subjekts kann ein Reflex des sozialen Stigmas sein, Teil seines »Stigmamanagements«, dem durchaus etwas Krampfhaftes, Bemühtes und Gewaltsames anhaften kann (Goffman 1975, 145–147). Präziser zu fassen, worüber gelacht wird, erscheint auch in einer weiteren Hinsicht nötig. Gottwald und

Müller beschreiben, dass viele mittelalterliche ›Hofnarren‹ (s. Kap. 25) von konventionellen Körper- oder Verhaltensschemata abweichende Merkmale aufweisen, z. B. einen Buckel haben, kleinwüchsig oder entstellt sind bzw. kognitive Einschränkungen aufweisen, im heutigen Sinn eine Behinderung haben. Darüber wurde eindeutig gelacht, zugleich wurde aber auch mit dem Narren über Dritte oder über Drittes gelacht. Im Rahmen von deren ›Narrenfreiheit‹ können soziale und kulturelle Ordnungen spielerisch verkehrt und damit allererst sichtbar werden. Narren können Grenzgänger zwischen Ordnung und Chaos sein, Autorität, Herrschaft und Macht parodieren und – in einem gewissen Rahmen – in Frage stellen, zu Trägern moralischer Kritik werden (Müller 1996, 227–230; Gottwald 2009, 88). Aber auch das wirft die Frage auf, warum Aspekte des Behindertseins und Behindertwerdens eine Rolle bei der Erzeugung von Komik spielen können. Gottwalds Befund einer normativen Regulierung ist zudem nicht spezifisch für Lachen im Zusammenhang mit Behinderung. Komik und Lachen sind grundsätzlich von einer Aura ethischer Fragwürdigkeit umgeben. Das gilt insbesondere im religiösen Kontext. Christliche Lachverbote gibt es schon im Mittelalter, diese Tradition wird insbesondere in Pietismus und Puritanismus aufgegriffen (Busch 2004, 15) – »die Welt lacht/Jesus weint« (ebd., 8). Dass die Bibel an keiner Stelle ein Lachen Jesu überliefert, führt nicht immer zur grundsätzlichen Ächtung des Lachens, wohl aber zu rigiden Unterscheidungen von erlaubtem (weil angemessenem, hinreichend verhaltenem) Lachen und »unnützem«, »sündigem« Lachen (Schörle 2007, 95–127; Busch 2004, 8–22). Unnachahmlich parodiert wird die pietistische Zivilisierung des Lachens in Loriots Zugfahrtszene in dem Film Pappa ante Portas (Bülow 2004, 01:13:30–01:13:51). Ein Kellner im Speisewagen stützt sich, wegen einer ruckartigen Bewegung des Zuges und um das Gleichgewicht zu behalten, unwillkürlich auf den Tisch, greift aber dabei in das eben servierte Stück Torte und verwandelt es in Matsch. Der darüber lachende Jugendliche wird von seinem tugendhaften Onkel mit den Worten gemaßregelt: »Über das Missgeschick eines Menschen spottet man nicht. Aber wenn es einen Anlass zum Scherzen gibt, schmunzle ich gerne einmal – auch deine Tante Hedwig.« »Echte Fröhlichkeit kommt aus dem Herzen. Wir sind heitre Menschen und freuen uns gemeinsam«, fügt diese im selben Atemzug hinzu. Das ist selbst komisch. Loriots Szene legt aber die Überlegung nahe, ob die Fragwürdigkeit des Lachens über Behin-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_45

45  Komik und Behinderung

derung nur ein Aspekt einer viel grundsätzlicheren ethischen Problematik des Komischen ist. Auch durch die philosophische Reflexion des Lachens zieht sich ein solcher ethischer Verdacht. Adorno etwa fand Lachen über Komik suspekt und hat es überwiegend von seinen ausgrenzenden, abwertenden und hämischen Aspekten her analysiert (Schörle 2003). Bei Aristoteles wird im 5. Kapitel der Poetik das Komische bekanntlich wie folgt bestimmt: »Denn das Lächerliche ist eine Art von Fehlgriff und Bloßstellung, die schmerzlos und unschädlich ist« (Aristoteles 1982, 16; Übers. J. M. K.). Lachen darf also nicht weh tun, folgert Kaul daraus (Kaul 2012, 125). Ebenso deutlich ist freilich, dass es sich bei diesem »Harmlosigkeitspostulat« (ebd.) um eine sehr dehnbare Bestimmung handelt. Genügt ein mitkommunizierter fiktiver Charakter, um selbst extreme Formen dargestellter Gewalt schon als harmlos erscheinen zu lassen, wie z. B. die Gewalt in den Verfolgungsjagden von Zeichentrickfilmen oder in Filmen von Quentin Tarantino (vgl. dazu Spanke 2012, 138–142; Hoffstadt/ Bothmann 2016)? Auch Gottwald schildert, dass Hofnarren durchaus grausamen Quälereien ausgesetzt wurden und dass darüber gelacht wurde (Gottwald 2009, 157–160). Es scheint hier eine dunkle Seite, einen Zusammenhang von Komik, Gewalt, ja Tod zu geben (Kaul/Kohns 2012, 138–139). Möglicherweise ist es ja genau dieser untergründige Zusammenhang, der die auffällige Tendenz zu einer Moralisierung des Diskurses über das Lachen erklären könnte. Auch das spricht dafür, dass die Kategorie des Komischen verstärkt reflektiert werden sollte.

45.2 Bergsons Konzept des Komischen In der Literatur werden gemeinhin drei Gruppen von Komik-Theorien unterschieden: Inkongruenz-, Überlegenheits- und Entlastungstheorien (Kindt 2017). Laut Kindt gibt es einen zunehmenden fachlichen Konsens darüber, dass es sich dabei nicht »um konkurrierende, sondern um miteinander kompatible Positionen« handelt (Kindt 2017, 4). Exemplarisch wird hier Henri Bergsons Komiktheorie (der Essay »Le Rire« [Das Lachen], erstmals erschienen 1900) herausgegriffen und ausführlich diskutiert, weil sie – im Sinne dieses fachlichen Konsenses – einerseits Elemente aller genannten Theoriegruppen synthetisiert und andererseits die meisten Ansatzpunkte für eine Interpretation der Komik im Zusammenhang mit Behinderungen bietet.

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Auch Bergson weist gleich am Anfang seiner Überlegungen auf ein problematisches Verhältnis der Komik zur Sphäre des Ethischen hin. Das natürliche Element des Lachens sei eine »Unberührtheit der Seele«, Lachen bedürfe einer »vorübergehenden Anästhesie des Herzens, um sich voll entfalten zu können« (Bergson 2011, 14–15). Dass Lachen über Komik auch die Dimension einer subtilen Grausamkeit haben kann, zeigt Bergsons allererstes Beispiel, ein ›Klassiker‹: »Ein Mann läuft auf der Straße, stolpert und fällt. Die Passanten lachen« (ebd., 17). Dieses Beispiel steht in einer überlegenheitstheoretischen Tradition von Komiktheorien und taucht auch etwa in Baudelaires Essay »Vom Wesen des Lachens« auf. Mein Lachen entspringt, so Baudelaire, der »Vorstellung der eigenen Überlegenheit«, »eine[r] satanische[n] Idee, wenn es je eine gab!« (Bachmeier 2005, 67–68). Wir werden allerdings gleich sehen, dass Bergson das eigentlich Komische anders lokalisiert. Komik ist für Bergson direkt oder indirekt an eine Sphäre der Menschen gebunden. Der Mensch ist das Tier, das lachen kann, und zugleich das Tier, das lachen macht (Bergson 2011, 14). Für Bergson ist Lachen immer das Lachen einer sozialen Gruppe (Bergson 2011, 16). Damit verortet er Lachen zunächst, ganz ähnlich Helmuth Plessner (2003), in einer Sozialanthropologie. Sein Essay geht dennoch nicht deduktiv vor. Vielmehr greift Bergson durchgängig auf eine Analyse komischen Materials zurück. Es ist wichtig, sich das Spektrum seiner Beispiele in Erinnerung zu rufen, um zu verstehen, dass es darin schon immer um ›Behinderungen‹ geht, und zwar in dem weiten semantischen Feld, das dieses Wort in der deutschen Sprache aufspannt – etwas kann bei etwas durch etwas behindert werden: a) Bestimmte Merkmale von Personen, Tieren, Dingen, kontingente Eigenschaften des Körpers (s. Kap. 44) können für Bergson dann komisch sein, wenn sie auf mechanische oder starre Weise nachgeahmt bzw. nachgebildet werden können oder Resultat solcher Nachahmungen sind (Grimassen, stereotype Haltungen, Karikaturen, Masken). Sie behindern die Spontanität und Situationsangemessenheit von Verhalten bzw. machen diese offenbar. Hier nennt Bergson u. a. auch Behinderungen im engeren Sinne (»Buckligkeit«, Missbildungen/difformités; Bergson 2011, 26). b) Komisch sind missglückte, durch unerwartete und kontingente Einwirkung physikalischer/mechanischer Vorgänge unterbrochene Bewegungsabläufe oder Handlungen. Jemand läuft zunächst

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – A Bezugsrahmen

zielgerichtet, stolpert und fällt (Bergson 2011, 17). Jemand sitzt am Schreibtisch, will seiner Arbeit nachgehen, statt Tinte zieht er Schlamm aus dem Tintenfass, er setzt sich auf seinen Bürostuhl und plumpst zu Boden (ebd., 18). Jemand fällt, während er andächtig die Sterne besieht, in ein Wasserloch (ebd., 20). Hier hat Bergson die klassischen Effekte des in seiner Zeit entstehenden Slapstickfilms vor Augen: physische Hindernisse, die Tücke des Objekts, unglückliche Zufälle oder Ereignisverkettungen behindern abrupt die Fortsetzung zunächst sinnvoller, intentionaler Abläufe. c) In ähnlicher Weise komisch erscheinen maschinell oder mechanisch erzeugte bzw. wirkende Nachahmungen oder Symbolisierungen menschlicher Bewegungen (Lokomotion, in einen sozialen Kontext eintreten, Arm- oder Beinbewegungen). Besonders für Kinder sind Bewegungen von Clowns (Bergson 2011, 47) sowie Effekte von Spielzeugen wie Springteufel (ebd., 56) oder Hampelmann (ebd., 61) eine unerschöpfliche Quelle von Komik. Generell können Mechanik und starre Repetition den ›organischen‹, sinnhaften Ablauf von Verhalten, die Entfaltung einer nachvollziehbaren Sinnentwicklung in der Zeit behindern. Auch das betrifft wiederum Behinderungen im engeren Sinn, wie etwa Stottern, chronische Ticks, Bewegungsstereotypien (ebd., 26). Vorzugsweise die Gattung der Komödie erzeugt durch Techniken der Steigerung, durch Schneeballeffekte, mechanische Inversionen (ebd., 71) oder Interferenzen (ebd., 73) von Handlungsabläufen komplexere komische ›Behinderungsdynamiken‹, die aber im Kern repetitive Strukturen bleiben. d) Bergson nennt als Quelle der Mechanisierung und Repetition nicht nur physikalische oder physische, sondern auch kulturelle und sprachliche ›Mechanismen‹ und ›Automatismen‹. Sprache und Kultur beruhen immer auch auf dem Prinzip der Selektion und Rekombination von Versatzstücken und haben daher eine immanente Tendenz zur Wiederholung. Deshalb können auch psychosoziale Strukturen etwas Mechanisches bekommen, wenn sie erstarren und dadurch Situationsangemessenheit, die konkrete Sinnadäquanz von Verhalten ver- und behindern. Bergson nennt etwa bürokratische Handlungslogiken (Bergson 2011, 38), Charakter- und Typenkomik als eine Form der Automatisierung des individuellen Verhaltens (ebd., 106) sowie alle Formen der ›déformation professionelle‹, der »Komik der Berufe« (ebd., 123–125).

Bergsons Konzept des Komischen beinhaltet, wie gesagt, die Figur von Behinderung in dem generellen Sinn, den dieses Wort im Deutschen hat. Von Behinderung kann man nur vor dem Hintergrund einer Erwartung sprechen, die sich dann durch die kontingente Einwirkung eines Hindernisses nicht realisiert. In Bergsons Theorie ist dies die Erwartung eines Handlungsablaufes, der situationsbezogen, offen, fokussiert, zielgerichtet, intentional wäre und von einer bestimmten einmaligen situativen Konstellation her seinen Sinn und seine Bedeutung bezöge. Bergsons Oberbegriff hierfür ist »das Leben« oder »das Lebendige« (Bergson 2011, 23, 35), nicht gleichzusetzen mit einem biologischen Konzept. Gemeint ist vielmehr ein zugleich körperliches wie bewusstes, auf Erfahrung von Welt sinnhaft und spontan bezogenes Sein in der Wirklichkeit der Zeit, das sich durch Gespanntheit, Elastizität, Präsenz, Beweglichkeit, Anpassungs- und Ausdrucksfähigkeit auszeichnet (ebd., 18–26). Nicht jede ›Behinderung‹ oder ›Verhinderung‹ eines lebendigen Ablaufes, nicht der Hindernischarakter als solcher ist schon komisch. Zum einen gilt auch für Bergson das Aristotelische ›Harmlosigkeitspostulat‹. Er betont, das, was komisch sei, dürfe uns nicht zu nahe kommen, sondern bedürfe zumindest einer momentanen Suspension von Mitleid und Sensibilität (Bergson 2011, 14). Ist das nicht möglich, empfinden wir etwas auch nicht als komisch. Zum anderen aber ist eine notwendige Bedingung des Komischen die Amalgamierung der Äußerungs- und Ausdrucksformen des lebendigen Ablaufes selbst mit dessen ›Behinderung‹. Diese darf jenem nicht äußerlich bleiben, sondern wird als ihm inhärente Inkongruenz erfahren. Dabei lässt sich, wie die Beispiele Bergsons zeigen, eine eher statische und eine eher prozessuale Form unterscheiden. Statische Phänomene des Komischen ergeben sich für Bergson als Verdinglichungen lebendiger Prozesse (Bergson 2011, 46, 67). »Das Komische an einem Menschen ist das, was an ein Ding erinnert« (ebd., 67, vgl. auch 46). Die Verdinglichung realisiert sich als Umfokussierung der Aufmerksamkeit von den Bedeutungsaspekten einer Handlung auf einen (ihrer) materialen Aspekt(e). In der Erfahrung des Komischen lässt sich die Seele, sagt Bergson, von der Materie bzw. Materialität einer Handlung oder einer Person »faszinieren und hypnotisieren« (ebd., 27). Bergson spricht auch von der Erstarrung (ebd., 26– 29), Versteifung (ebd., 17, 23), Fixierung (ebd., 26), »Versteinerung« (ebd., 29) eines beweglichen, sinn-

45  Komik und Behinderung

haften und insofern prozessualen, zeitlich verfassten Vorgangs in eine unbewegliche Struktur der Materie (matière) und Materialität (materialité). Für die Komik von Abläufen und Prozessen stehen, wie gezeigt, die Begriffe des Mechanischen und des Automatischen als Inkongruenzkontraste im Zentrum von Bergsons Kategorienbildung. Hierbei ist es hilfreich, an die gemeinsame sprachliche Wurzel von Mechanik und Maschine in der Ableitung aus dem Altgriechischen zu erinnern: μηχανή und dorisch: μαχανά (vgl. lat. ›machina‹) sind dasselbe Wort mit der Bedeutung ›Vorrichtung, Werkzeug, Maschine‹. αὐτόματος bedeutet ›sich selbst bewegend, von selbst‹ sowohl im Sinne von ›von selbst geworden/natürlich‹ als auch im Sinne von ›zufällig, aus Zufall‹. Mechanisches und Automatisches zeichnet sich dadurch aus, dass es identische Abläufe beliebig wiederholt bzw. auf immer gleiche Weise in Abläufe einwirkt. Wie gesagt kann es sich dabei um physikalische, physische, aber ebenso um psychologische, soziale, kulturelle Mechaniken handeln. Sie können dazu führen, dass zunächst als intentional, sinnhaft und sinnvoll intendierte Prozesse selbst als »seelenloser Rhythmus« (Bergson 2011, 67) erfahren werden, dass etwas Mechanisches etwas Lebendiges »überdeckt« (ebd., 41, 35), das »Leben als Repetiermechanismus [...], mit Rückläufen und auswechselbaren Bestandteilen« (ebd., 76) behandelt wird. Wichtig ist dabei der wechselseitige Zusammenhang von Verdinglichung und Mechanisierung. Etwas am Körper kann sich versteifen, verhärten, unflexibel werden, erstarren. In diesem Sinne wird der in Teilen zum starren Ding gewordene Körper anfällig für mechanische Einwirkungen: Er stolpert, fällt, unterliegt der Schwerkraft, der Fliehkraft, greift daneben. Oder umgekehrt: Die Einwirkung einer physikalischen, biologischen oder sozialen Mechanik lässt den Körper zum Ding, zur Maschine werden. Auch die wichtige Rolle der Zerstreutheit für die Entstehung von Komik ergibt sich für Bergson daraus: Sie stellt sich als eine Verkrampfung oder Versteifung der Aufmerksamkeitsfunktion dar und führt ebenfalls zu einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber natürlichen oder sozialen Mechanismen und Automatismen. Besonders Bergsons Analysen zum Sprach- bzw. Wortwitz ist zu entnehmen, dass seine Inkongruenzformel der Mechanisierung des Lebendigen auch in der Gegenrichtung funktioniert. Die ›Verlebendigung‹ eines Mechanischen, Automatischen im Sinne einer Signifizierung, des Hervortretens von Sinn/Bedeutung beispielsweise aus einem Versprecher, einem

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Gleichklang von Worten oder einer zunächst inkohärenten Kombination sprachlicher Versatzstücke, kann ebenfalls komisch sein (Bergson 2011, 89–93). Auf diese Weise entstehen positive Sinneffekte aus Unsinn – so wie es Gottwalds Hofnarren gelingen kann, mit den Mitteln der Mechanik ihrer Behinderungen etwas zum Ausdruck zu bringen, zu enthüllen, zu entlarven. Komisch ist mithin nicht nur die unvermittelte Ersetzung des erwarteten sinnhaften Zusammenhangs (einer Bewegung, eines Gedankens, einer Bedeutung, eines Satzes) durch einen ›Mechanismus‹, die Verwandlung von etwas Sinnhaftem in etwas Sinnloses. Komisch kann auch sein, wenn etwas zunächst offensichtlich Unsinniges, ein Nichts, unvermittelt sinnstiftend wird. Bergsons Theorie des Komischen setzt insgeheim eine Anthropologie voraus, die man nicht dualistisch nennen muss, die aber von René Descartes’ bis heute nicht aufgelöster paradoxer Problemformulierung zehrt, die menschliche Wirklichkeit müsse zugleich als Mixtum und als Einheit von Körper und Seele verstanden werden. Das beinhaltet ein Verständnis des menschlichen Körpers, das diesen als Träger lebendiger Intentionalität und als physisches Ding zugleich ausweist. Der Körper ist immer auch Ding und Maschine, nicht nur als natürlicher, biologischer, sondern auch als sozialisierter und kultureller Körper. Nur deswegen kann es zu jener Art von Behinderung kommen, die Bergson ›Komik‹ nennt und nur deswegen kann Behinderung im engeren Sinn (als körperliche, kognitive oder psychische Beeinträchtigung) auch gelegentlich komisch sein. Komik ist so gesehen immer eine unvermittelte philosophische Erfahrung. Ihren Kern bildet die schlagartige Einsicht, dass der Körper, dass wir selbst immer zugleich auch »Ding unter Dingen« (MerleauPonty 1994, 180–181) sind und bleiben und dass genau das die Be-Dingung (!) für das Erfahren der Dinge ist, mithin das, was uns von bloßen Dingen abhebt. In der banalsten Komik wird uns so unsere Einschaltung in die Welt der Dinge deutlich, gewissermaßen dass wir selbst auch nur eine kontingente Ausformung kosmischer Materie sind, die aber ständig den Anspruch erhebt, sich darüber hinwegzusetzen, eine Hypothek auf einen eigenen Sinn aufnimmt. Das ist komisch. Man könnte sagen, im Lachen über Komik erfahren Menschen an sich selbst und ihresgleichen die kosmische und zugleich komische Kontingenz ihrer strukturellen Möglichkeiten. Sie bleibt solange komisch, wie man ihr nicht vollständig und bis zum Tod ausgesetzt ist, solange es also nicht ganz gefährlich

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – A Bezugsrahmen

wird und man sich noch im Schutz des sozialen Horizonts der lachenden Gruppe bewegt. Man könnte die doppelte Bewegung vom Sinnhaften zum Unsinn, vom Unsinn zum Sinn, die das Komische ausmacht, dann auch so fassen: Physische Kontingenz, Mechanik, Materialität kann buchstäblich und unvermutet (ohne Investition eigener Energie) Sinn machen (Freud), der schönste menschliche Sinn kann aber ebenso unvermutet buchstäblich in Nichts, in bloße Physik übergehen, in einen sinnlosen Energieaufwand (Kant). In beiden Fällen wird das vermeintlich sinngebende Subjekt überrascht. Diese Überraschung gehört – als zeitliches Moment, als Timing, als kurze Verdutztheit – zur Komik. Letztlich geht es dabei wie beim Orgasmus (mit dem das Lachen gewisse Ähnlichkeiten hat) um einen ›kleinen Tod‹ (›petite mort‹) oder eben auch: um eine ›kleine Geburt‹. Dem ›großen Tod‹ (und der ›großen Geburt‹) begegnen wir dagegen, wie Plessner zeigt (2003), mit der zum Lachen völlig komplementären Ausdrucksform des Weinens, mit – je nachdem – Tränen der Verzweiflung, Trauer oder Rührung.

45.3 Behinderung, Komik, Gewalt Körperliche, kognitive oder psychische Behinderungen sind, so gesehen, nicht auf andere Weise offen für komische Effekte als jedes andere menschliche Merkmal oder Verhalten auch. Sie sind weder per se komisch noch von vornherein aus der Sphäre des Komischen exkludiert. Sie werden komisch, wenn sie das Einfallstor für die von Bergson beschriebene Inkongruenz von Situativität und ihrer Verdinglichung oder Mechanisierung darstellen. Ob im Speisewagen des Zuges ein Stück Torte unfreiwillig zermatscht wird, weil eine Person dem kontingenten Umstand der Fliehkraft ausgesetzt ist, oder ob dies dem Umstand geschuldet ist, dass sie wegen Blindheit nichts sieht, ist für die Komik der Szene an sich unerheblich. Das Lachen könnte man aus ethischer Sicht in beiden Fällen mit den Worten tadeln: »Man lacht nicht über das Missgeschick eines Mitmenschen.« Allenfalls könnte man sagen, (manche!) Behinderungen böten – in ihren Schädigungsaspekten wie in ihrer sozialen Dimension – ein spezifisches Potential für komische Inkongruenzen. Ob diese als solche komisch sind oder ob sie komisch sind, weil die komischen Kontingenzen der Behinderung solche der sozialen oder kommunikativen Umwelt katalysieren, ist eine Frage der jeweiligen Konstellation der komischen Situation.

Ethisch gesehen, kann der mit Lachen verbundene Kränkungseffekt erheblicher sein, weil und wenn die auslösende Kontingenz (Behinderung) mit der Person gleichgesetzt und ihr zugerechnet wird. Das ist aber keineswegs zwingend, wenn die Norm ernstgenommen wird, dass eine Person nicht mit ihrer Behinderung identifiziert werden darf. Monty Pythons berühmter Sketch »Ministry of Silly Walking« (1970; https://www.youtube.com/watch? v=eCLp7zodUiI) ist komisch und anrüchig zugleich, weil und insofern damit wirkliche Gehprobleme, Ticks, Mobilitätseinschränkungen einschließlich Spastiken parodiert werden. Im Sinne von Bergsons Bestimmung, Missbildungen, Ticks oder Funktionseinschränkungen können durch den Eindruck ihrer Reproduzierbarkeit und Imitation komisch werden, verarbeitet der Sketch die Komik körperlicher Stereotypien als Komik durch Imitation, aber ebenso die sozialen Mechaniken der Bürokratie (ministry!) zu einem mehrschichtigen komischen Komplex. Sinnvolles Gehen wird dabei sinnlos. Sinnlose Bewegungen bekommen einen kritischen Sinn. Die soziale Mechanik, ja »Ideologie des Gehens« (Michael Oliver) wird plötzlich sichtbar. Insofern Behinderungen mit Bewegungs- oder Haltungsstereotypien einhergehen, können sie im Sinne Bergsons komisch wirken. Stottern kann so z. B. als geronnene Schüchternheit und – jedenfalls vorübergehend – komisch erscheinen (man denke etwa an die Rolle des stotternden Ken in dem Film A fish called Wanda; USA/UK 1988; Regie: Charles Crichton) (s. Kap. 69). Ticks können für sich komisch sein und zugleich soziale Abläufe auf komische Weise zum Entgleisen bringen. Der Youtube-Kanal »Gewitter im Kopf« (https://www.youtube.com/channel/UC h2Nc3OwjSwuXrUdFNXqFbQ) verdankt seine Popularität der mitunter fast experimentellen Inszenierung von Tourette-Symptomen in Alltagssituationen. Die Komik besteht durchweg in der Bergsonschen Inkongruenz einer (hier neurologisch bedingten) Mechanik mit den Normen einer sozialen Situation. In eine soziale Interaktion, z. B. die telefonische Bestellung bei einem Pizzaservice, platzt, wie durch einen Federmechanismus hervorgerufen, der Springteufel eines obszönen Wortes, der tourettebedingte Tick. Das ist für sich komisch, kann aber seinerseits wiederum komische soziale Mechaniken katalysieren und zu überraschenden, unwillkürlichen und unvermittelten Sinneffekten führen. In der 2002/2003 realisierten Fernsehserie Freakstars 3000, später zu einem Film kompiliert (D 2003;

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Regie: Christoph Schlingensief; s. Kap. 70), parodieren die Bewohner*innen eines Berliner Wohnheims für behinderte Menschen die Mechanismen von Fernseh-Casting-Shows, aber auch anderer Fernsehgenres (wie Nachrichten, Talkshows, Werbeeinblendungen). Sie greifen dabei – wie die von Gottwald und Müller analysierten Hofnarren – auf Ausdrucksformen zurück, die mit dem zu tun haben, was man als ihre Behinderungen bezeichnet: Grimassen, Wiederholungen, Charakterkomik, psychische, kommunikative, kognitive Ticks, Stile und Typiken. Dabei kommt das ganze Bergsonsche Arsenal der Erzeugung von Komik durch Verdinglichung und Mechanisierung zum Einsatz. Letztlich lacht man aber nicht über die Behinderungen oder die behinderten Darsteller, sondern über die kommunikative und kulturelle Mechanik der Fernsehgenres. Zugleich, das gibt dem Geschehen eine ständige Doppelbödigkeit, werden die sozialen Mechanismen des Behindertwerdens behinderter Menschen sichtbar. Ein gutes Beispiel dafür ist ein von Christoph Schlingensief und Achim von Paczensky inszeniertes Fernsehinterview (2003), das die von Bergson angesprochene ›Berufskomik‹ ingeniös mit einer Typenund Charakterkomik kombiniert (Schlingensief 2003, Extras – Interviews: 00:00–03:43). Schlingensief spielt einen Moderator aus dem Off, der ein Interview mit einem Mitarbeiter einer Werkstätte für behinderte Menschen führt. Er verwandelt sich aber sukzessive in einen wildgewordenen, vom ›Missbrauch‹ behinderter Menschen (fast mechanisch!) empörten Sozialarbeiter-Regisseur, der aber seinen ›Schützling‹ in der dargestellten Situation selbst (mechanisch!) ›missbraucht‹. Achim von Paczensky spielt sich selbst in den Mustern einer unwilligen, polternden, lakonischen Charakterkomik, verstärkt durch die Stereotypien eines Berliner Akzents. Die Szene führt eine absurde soziale Mechanik vor, wenn Achim von Paczensky, von Schlingensief manipulativ ›in Gang gesetzt‹, in mechanisch-schnoddrig-stichwortartig unwilligem Tonfall einen seinerseits grotesk mechanischen Vorgang schildert, nämlich das massenhafte Schlachten von Hühnern am Fließband für die »Firma Wiesenhof-Hähnchen«: »Da is’n Korb, da sind Hühner drin, die Hühner muss man rausnehmen mit de Hände und aufhängen. Und dann kommen se durch die Koppmaschine – Rupfmaschine – und dann kommen se auseinander geschnitten – und dann gehen sie weiter in der Firma – in den Kauf rein.« (Schlingensief 2003, 01:02–01:14)

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Die Mechanik wird nochmals ins Groteske gesteigert, wenn Schlingensief die Vorstellung weckt, Achim von Paczensky schlachte auf diese Weise täglich 63.000 Hühner, und anprangert, er werde als Behinderter missbraucht und sei selbst zu einer Killermaschine gemacht worden. In der Folge spitzt Schlingensief seine Empörung in einer wiederum mechanischen, sinnentleerten Gestikulation der Empörung und zugleich des Übergriffes auf Achim von Paczensky zu, den er – wie eine Marionette – dazu bringen will zu gestehen, er werde als Killermaschine missbraucht. Dieser verweigert sich, seinerseits in Gestalt einer mechanischen Geste des Nachäffens. Die Szene kulminiert in einem gemeinsamen rhythmischen und repetitiven Intonieren sinnlosen Silbenmaterials (»Hähähä«), das Schlingensief zunächst als Platzhalter für das von ihm gewünschte ›Geständnis‹ Achims vorgegeben hatte. Diese Beispiele sollen genügen, um die Produktivität einer – wie beschrieben – generalisierten Bergsonschen Theorie der Komik anzudeuten und ausführliche Analysen anzuregen. Nach wie vor ist mit Gottwald (2009, 15) festzuhalten: Ein ausbuchstabiertes Forschungsfeld ›Komik und Behinderung‹ gibt es bislang nicht. Die vorläufige Zwischenbilanz dieses Beitrags weist durchaus eine inklusive Dimension auf. Das Lachen über ›Komik und Behinderung‹ hat keine anderen Wurzeln als das Lachen über Komik überhaupt. Auch die ethischen Probleme unterscheiden sich nicht grundsätzlich, sondern allenfalls graduell. Der Kern der komischen Erfahrung ist amoralisch – mit und ohne ›Behinderung‹. Dass Komik sowohl für Aristoteles wie Bergson mit einem ›Harmlosigkeitspostulat‹ einhergeht, ist dagegen kein Einwand. Was die Kriterien für ›schmerzlos‹ und ›unschädlich‹ sind, für wen diese Kriterien gelten, ob dafür ästhetische Kategorien der harmlosen Darstellung ausreichen (Kaul 2012, 129– 131) – das sind Fragen, auf die eine Vielzahl situativer, psychologischer, sozialer und kultureller Faktoren einwirken und die deshalb nicht ein für alle Mal beantwortet werden können. Loriots Onkel hat sehr rigide Kriterien. Für ihn ist bereits das Lachen über die unfreiwillige Zerstörung eines Tortenstücks nicht mehr harmlos. Auf der anderen Seite der Skala finden sich Menschen, die Sportarten wie ›Zwergenwerfen‹ oder die physischen Misshandlungen der Hofnarren als komisch auffassen können, nicht zu reden von NS-Ärzten oder heutigen Neonazis, die noch der industriellen Massenvernichtung von Menschen krampfhaft komische Seiten abzugewinnen versuchen. Das sagt nur: Komik kann und darf

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – A Bezugsrahmen

nicht ohne Ethik gedacht werden, weil Komik und Gewalt einen gemeinsamen Bezugspunkt haben –hier behält Adorno Recht (vgl. Schörle 2003). Lachen ist, wie Bergson vermerkt, für Kälte und Grausamkeit anfällig, und genau deshalb muss es ethisch begrenzt werden. Wie die Diskussion um die Filme Quentin Tarantinos zeigt (Hoffstadt/Bothmann 2016), gibt es dafür auch keine verbindlichen Kriterien, die dem komischen Gegenstand oder seiner Ästhetik zu entnehmen wären. Man kann lachen, wenn jemand versehentlich im Supermarkt eine Überschwemmung mit geplatzten Milchbeuteln anrichtet. Ethisch gesehen ist entscheidend: Was geschieht dann? Helfe ich ihr/ihm, die Überschwemmung aufzuwischen? Entschuldige ich mich, kann ich das, was an meinem Lachen Kränkung war, reparieren? Gelingt es uns, das Lachen der Gruppe, von dem Bergson spricht, zu restituieren? Eine Solidarität in der Einsicht zu finden, dass ich an der Stelle des anderen und er an meiner sein könnte – nicht nur, weil wir uns emotional miteinander identifizieren, sondern weil wir erkennen, dass uns Menschen solche und andere Kontingenzen zustoßen – einschließlich der Kontingenzen der Behinderung? Wohlgemerkt: Das beseitigt nicht die strukturelle Amoralität des Komischen. Der ethische Diskurs über das Lachen über Komik bleibt ein hinzukommender kategorischer Imperativ. Aber es tut diesem Diskurs gut – schon um selbst nicht irgendwann als komisch zu erscheinen –, das auf der Grundlage einer realistischen Einsicht in die anthropologische Triftigkeit des Komischen zu tun. Man kann dann immer noch sehen, dass man die Spannkraft der komischen Inkongruenz von zwei Seiten aus schwächen kann. Je mehr ich meine emotionale Identifikation mit dem Anderen (und mir selbst!) generalisiere und totalisiere, desto gezwungener wird »die gemeinsame Fröhlichkeit, die aus dem Herzen kommt«, und tendenziell werde ich alle Kontingenzen, die Menschen passieren können, nur noch nach dem Muster sozialer und »persönlicher Tragödien« (Michael Oliver) betrachten. Auf der anderen Seite schwäche ich die komische Inkongruenz auch, je mehr ich die Reduktion des komischen Anderen auf die Spitze treibe und ihn tendenziell nur noch als Automatismen und Mechanismen unterworfenes ›Ding‹ erfahre. Denn auch dann resultiert daraus eine gewaltsame und gezwungene Komik. Was ich nur als Ding sehe, ist tendenziell nicht mehr komisch, und umgekehrt: Was komisch ist, hat auch immer bereits eine menschliche Dimension, sagt Bergson. Die Komik des

Sadisten ist strukturell unaufrichtig. Das ist wohlgemerkt noch keine ethische Bestimmung. Inklusion in das ›Lachen der Gruppe‹, eine inklusive Kultur der Komik, benötigt eine Selbstverständigung über ästhetische und ethische Standards. Filme

Bülow, Viktor von (Loriot): Pappa ante Portas. DVD Rialto Films/Warner Brothers 2004, auch https://www.youtube. com/watch?v=YLcWUKS0O80 (31.01.2020). Schlingensief, Christoph: Freakstars 3000. DVD Volksbühne Films 2003, auch https://www.youtube.com/ watch?v=W30gqTKkSpk (31.01.2020).

Literatur

Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Stuttgart 1982. Bachmaier, Helmut: Texte zur Theorie der Komik. Stuttgart 2005. Bergson, Henri: Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen. Hamburg 2011. Bergson, Henri: Le rire. Paris 132013. Busch, Stefan: Verlorenes Lachen. Blasphemisches Gelächter in der deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Tübingen 2004. Goffman, Erving: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt a. M. 1975. Gottwald, Claudia: Lachen über das Andere. Eine historische Analyse komischer Repräsentationen von Behinderung. Bielefeld 2009. Hoffstadt, Christian/Bothmann, Nils (Hg.): Quentin Tarantino zwischen Komik, Katharsis und Gewalt. Freiburg 2016. Kaul, Susanne: Komik und Gewalt. In: Dies./Oliver Kohns (Hg.): Politik und Ethik der Komik. München 2012. Kindt, Tom: Komik. In: Uwe Wirth (Hg.): Komik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2017, 2–6. Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare. München 1994. Müller, Klaus E.: Der Krüppel. München 1996. Plessner, Helmuth: Lachen und Weinen. In: Günter Dux/ Odo Marquard/Elisabeth Ströker (Hg.): Helmuth Plessner. Ausdruck und menschliche Natur. Gesammelte Schriften VII. Frankfurt a. M. 2003, 201–388. Schörle, Eckart: Das Lach-Seminar. In: Werkstatt Geschichte 35 (2003), 99–108. Schörle, Eckart: Die Verhöflichung des Lachens. Bielefeld 2007. Spanke, Kai: Fun ist ein Blutbad. Zur Komik von Gewalt und Tod im amerikanischen Verfolgungscartoon. In Susanne Kaul/Oliver Kohns (Hg.): Politik und Ethik der Komik. München 2012, 133–150. Dank an Karlheinz Kleinbach für das Beispiel mit den Milchtüten und den Gedanken der Solidarität in der Erfahrung von Komik!

Jörg Michael Kastl

B Überschneidungsbereiche 46 Intersektionalität und Diversität »The first principle of disability justice is a commitment to intersectional work (Berne 2015)« (Naples/Mauldin/Dillaway 2019, 10).

Wichtig für kulturwissenschaftliche Zugänge zu ›Behinderung‹ (bzw. dis/ability) ist, dass die Bedeutungen des Begriffs und seiner Implikationen sowohl im Kontext spezifischer Gesellschaftsverhältnisse betrachtet werden, als auch in Bezug auf andere Diversitätsdimensionen, wie beispielsweise Gender, soziale Herkunft und Alter. Machtkritische Auseinandersetzungen mit Diversität untersuchen Entstehungsbedingungen und Effekte sozialer Kategorisierungen. Behinderung wird hier als eine kulturspezifische, soziale und historische Konstruktion (Waldschmidt 2003) begriffen, die nicht für sich steht, sondern mit weiteren Differenz- und (Un)Gleichmachungsprozessen verwoben ist. Für diesen Zugang wird Behinderung in diesem Beitrag eingebettet in die Kritischen Diversity Studies (s. Kap. 4), die nicht ohne intersektionelle Perspektiven zu denken sind (Kaufmann 2019). Umgekehrt dazu geht es darum, Behinderung/dis/ablity als eine zentrale Dimension intersektioneller Analysen zu begreifen (Naples/Mauldin/Dillaway 2019). Was dies beinhaltet, soll im Folgenden näher erläutert und mit Hinweisen auf die soziale Öffnung des Bildungssystems veranschaulicht werden.

welt hinsichtlich »race, color, religion, sex and national origin« verboten wurde. Für Organisationen entwickelte sich darauf basierend der Ansatz des Diversity Management, welcher sich u. a. in Maßnahmen zur Anerkennung und Nutzbarmachung personaler Vielfalt äußert. Dabei unterscheiden sich die organisationalen Ziele und Zugänge zu Diversity insbesondere zwischen einer Gerechtigkeitsorientierung bzw. einer Wirtschaftsorientierung. Im deutschen Kontext trägt das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) von 2006 zum Vermeiden von Diskriminierung in der Arbeitswelt bei. Ziel des Gesetzes ist es, Formen der Benachteiligung, die aufgrund von rassistischem Verhalten, Geschlecht, Religion bzw. Weltanschauung, Behinderung, Alter oder sexueller Identität zustande kommen, zu verhindern oder zu beseitigen. Das AGG rechnet somit Behinderung zu den sechs zentralen Dimensionen von Ungleichbehandlung. Da es sich ausschließlich auf Beschäftigungsverhältnisse bezieht, bleiben beispielsweise Schüler*innen und Studierende außen vor. Im Bildungssystem wurden zwar 2009 mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtscharta durch Deutschland Benachteiligungen aufgrund von Behinderung und die Frage nach den Bildungszugängen thematisiert, doch werden beispielsweise den Hochschulen keine Mittel für Veränderungsprozesse zur Teilhabe zur Verfügung gestellt (Richter 2019, 121–122).

46.1 Begriff Diversität/diversity

46.2 Diversity Studies/Critical Diversity Studies

Die Aufmerksamkeit auf Diversität/diversity, im Sinne sozialer Vielfalt und Pluralität, kommt ursprünglich aus den sozialen Bewegungen, insbesondere der 1960er Jahre, die in den USA mit Affirmative Action gegen Diskriminierung im Bildungssystem, in der Gesetzgebung und in der Arbeitswelt eintraten. Die Forderungen erwirkten, dass im »Civil Rights Act« von 1964 (Title VII) die Diskriminierung in der Arbeits-

Aus den sozialen Bewegungen der 1960er/1970er Jahre entstanden über Gesetzesveränderungen hinaus jene Forschungsrichtungen, die sich einzelnen Dimensionen von Diversität widmen – insbesondere die Gender/Queer/Black Feminist/Postcolonial/Critical Whiteness Studies – und sich machtkritisch mit der Produktion sozialer Ungleichheit auseinandersetzen. Trotz der Fokussierung auf die einzelnen Dimen-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_46

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – B Überschneidungsbereiche

sionen gab es auch schon früh Ansätze, die auf Verbindungen, u. a. von Sexismus, Rassismus und Klassismus, eingingen. Die Disability Studies mit dem Schwerpunkt Dis/Ableismus kamen erst in den 1980er Jahren hinzu. Allerdings verbindet bereits Michel Foucault (1992) in seinem Konzept der Bio- und Körperpolitik über die Geschichte der Normierung und Bemächtigung des Körpers Ability mit der sozialen Reproduktion und der Idee von Nationalstaaten. Hierauf bezieht sich die feministische Kritik an Bevölkerungspolitik, der es sowohl um Frauen-/Geburtenkontrolle in Verbindung mit der Kontrolle der Qualität und Quantität des Lebens geht als auch um Sterblichkeits- und Migrationskontrollen und damit auch um Ausweisung und Vernichtung. Unter dem Dach der Diversity Studies versammeln sich unterschiedliche Ansätze: Seitens der Kulturwissenschaft bündelt z. B. der Ethnologe Steven Vertovec (2015) in dem von ihm herausgegebenen Handbuch verschiedene Konzepte im Umgang mit historischen und gegenwärtigen sozialen Differenzen und den sie betreffenden gesellschaftlichen und politischen Dynamiken. Aus den oben genannten, über die sozialen Bewegungen entstandenen dekonstruktiven Studienrichtungen wie Gender/Queer Studies, Black Studies und Critical Race Theories entstanden demgegenüber in den USA bereits seit Mitte der 1990er Jahre die Critical Diversity Studies (Benschop/Janssens/Nkomo u.  a. 2009). Diese üben Kritik an essentialistischen, positivistischen Verständnissen von Diversität und an den darauf basierenden, effizienzorientierten Diversity Management-Programmen und wollen die Machtverhältnisse, in denen soziale Ungleichheiten produziert werden, verändern (ebd., 9–10). Critical Diversity Studies nehmen soziale Diversität nicht als gegeben an, sondern gemäß dem Konzept des »Doing Diversity« (Kaufmann 2019, 61) als situative, interaktive Prozesse des Anders- bzw. Gleichmachens, also ›Othering‹ im Sinne von Ungleichmachung zwecks Unterordnung und ›Sameing‹ (ebd.) im Sinne von Gemeinsamkeiten, aber auch Homogenisierung. Hierbei geht es um das Aufzeigen von Prozessen der Zuordnung, Ausgrenzung und Verwerfung hinsichtlich Identitäts- und Differenzkategorien mit Blick darauf, dass je nach Kontext unterschiedliche Dimensionen von Diversität benachteiligungsrelevant sind. Dabei ist jeweils wichtig, für eine grundsätzliche Offenheit gegenüber der Komplexität und Kontingenz gesellschaftlicher Problemlagen einzutreten und dabei auch (selbst)reflexiv die Situiertheit und Positionalität unserer Wissensproduktion anzuerkennen (Haraway 1988).

Um dem aktuellen »Hype um Diversity« (Kaufmann 2016) machtkritisch zu begegnen, lässt sich Diversity als spannungsgeladenes Zeitgeist-Dispositiv (Kaufmann 2018) analysieren, wobei Dispositiv nach Foucault (1978) als herrschafts- und machtdurchdrungenes Netz miteinander verwobener diskursiver und nichtdiskursiver Elemente verstanden wird, die auf einen gesellschaftlichen Notstand reagieren. Als ein solcher Notstand, auf den das Diversity-Dispositiv antwortet, lässt sich das soziale Auseinandergehen (lat.: divertere) unserer Zivilgesellschaft wahrnehmen – verbunden mit einer zunehmenden kulturellen Diversifizierung, ökonomischen Transnationalisierung und technologischen Digitalisierung – in Verbindung mit brennenden Fragen nach sozialer Offenheit gesellschaftlicher Organisationen wie z. B. der Bildungsinstitutionen für alle Mitglieder der Bevölkerung.

46.3 Intersektionalität Zur Analyse des Dispositivs untersuchen jene Theorie- und Forschungsansätze, die sich mit verschiedenen Formen der Ungleichmachung beschäftigen, wie und wozu bestimmte Formen von Diversität im Kontext bestimmter Wissens-/Wahrheitsregimes und gesellschaftlicher Machtstrukturen hergestellt und (de-) stabilisiert werden. Sie fragen somit nach Entstehungsbedingungen und der Kontinuität von sozialer Ungleichheit und Unterdrückung, beispielsweise durch (Hetero-)Sexismus × Ableismus × Bodyismus × Altersdiskriminierung × Kolonialität × Rassismus × White Privilege × Ethnizismus × Nationalismus × Klassismus × religiös motivierte Diskriminierung. In Verbindung mit dem Ansatz der Intersektionalität (hier mit dem × angedeutet) setzen sich diese Ansätze mit ineinander verschränkten, sich wechselseitig beeinflussenden Formen von Othering bzw. Sameing und Fragen der Anerkennungs- und Verteilungsgerechtigkeit auseinander. Für solche Verschränkungen bzw. Wechselwirkungen von Formen der Ungleichmachung und Diskriminierung hat die BlackFeminist-Legal-Theoretikerin Kimberlé Crenshaw (1989) den Begriff intersectionality eingeführt. Sie wies nach, wie die aufgrund von Affirmative Action erreichten Antidiskriminierungsgesetze, die sich monokategorial entweder gegen Rassismus oder Sexismus wenden, den Erfahrungen von Women of Color, die sowohl rassistisch als auch sexistisch diskriminiert werden, keinen Schutz bieten. Der Komplexität und wechselseitigen Verstärkung von Diskriminierungs-

46  Intersektionalität und Diversität

formen wird auch die Aneinanderreihung von Kategorien, wie z. B. im AGG, nicht gerecht. Gestützt auf den strukturellen intersektionellen Ansatz von Leslie McCall (2005) und diesen erweiternd (Kaufmann 2019) lassen sich für Behinderung zwecks Vereinfachung von Komplexität und Widersprüchlichkeiten vier verschiedene Forschungs- und Praxiszugänge zu Diversity/Disability ausmachen, die ineinandergreifen: • Der (mono-)kategoriale Ansatz fokussiert Behinderung als Masterkategorie ohne Bezüge auf weitere Formen von Ungleichheit wie z. B. in der Rechtsprechung: Behindertengesetze teilen Personen nach unterschiedlichen Graden von Behinderung ein. Indem der Ansatz kategoriale Identitätsgruppen wie ›Behinderte‹ konstruiert und andere Unterdrückungsformen ausblendet, entgehen ihm beispielsweise Differenzen innerhalb der als ›behindert‹ Kategorisierten (Raab 2010, 6). • Der antikategoriale Ansatz lehnt die mit der Bezeichnung ›behindert‹ verbundenen Essentialisierungen, Stereotypisierungen und Gruppenzuordnungen ab und zielt auf das Überschreiten und Infragestellen von Kategorisierungen. Hierbei geht es in der Praxis um den wichtigen Kampf gegen Zuschreibungen. Der antikategoriale Ansatz braucht jedoch strategische Bezüge zur Kategorie, denn Identitätspolitiken benötigen für ihre Bündnisse die Fremd- und Selbstzuordnung. Und auch die Erfahrung der Beeinträchtigung, die, wie Swantje Köbsell (2010) betont, mit viel Leid verbunden ist, lässt sich durch die Dekonstruktion nicht aufheben. • Der intrakategoriale Ansatz widmet sich Differenzen, Ungleichheiten und dadurch bedingten Benachteiligungen innerhalb kategorial gesetzter Gruppen: Er fragt z. B. nach Differenzen innerhalb der als Masterkategorie gesetzten ›Behinderung‹ und nach Interdependenzen, d. h. wechselseitigen Abhängigkeiten, mit weiteren Formen von Ungleichheit. Damit widerspricht der Ansatz Vorstellungen von homogenen (kategorial definierten) Gruppen. • Der interkategoriale Ansatz schließlich entspricht dem, was meist unter ›Intersektionalität‹ verstanden wird: Der Ansatz verbindet verschiedene Kategorien miteinander, nimmt also mehrere Formen von Ungleichmachung in den Blick und fragt nach deren wechselseitigen Bedingtheiten. Behinderung wird hier nicht für sich betrachtet, sondern als stets verwoben mit weiteren Formen von

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Ungleichmachung, wobei die diversen Formen gleichwertig gelten – also weder hierarchisiert, noch addiert oder gleichgesetzt werden sollten. Hinsichtlich der Disability Studies haben sich seit den 2000er Jahren als intersektionelle Perspektiven vor allem die Feminist Disability Studies und Verbindungen der Queer × Disability Studies herausgebildet (Naples/Mauldin/Dillaway 2019). Hinzu kamen Untersuchungen von Verbindungen von Behinderung × Rassismus (Gummich 2010; Naples/Mauldin/Dillaway 2019) sowie von Disability × Status (Frederick/ Shifrer 2019). Aus der Perspektive der »Intersectional Critical Diversity Studies« (Kaufmann 2019) geht es um Aushandlungsprozesse mit dem Ziel, Macht- und Identitätsformationen, wie die hegemoniale Norm des Ableismus, in den Blick zu nehmen und sie zu verändern. Den kritischen Positionen geht es also nicht allein um die Analyse von Ungleichheitsverhältnissen, sondern vor allem auch um deren Aufhebung durch soziale, rechtliche und politisch-ökonomische Praxen. Solchen Theorie-Praxis-Verbindungen widmet sich u. a. auch das Projekt Social Justice.

46.4 Social Justice Gemäß dem feministischen Projekt Social Justice (Young 2011), das aus den sozialen Bewegungen kommt, geht es darum, über die eigene Perspektive und Betroffenheit hinaus offen zu sein für jegliche Art von sozialer Ungleichheit und Diskriminierung. Social Justice als ethisch-moralisches Projekt fordert, dass wir uns übergreifend darum bemühen, gerechtere Verhältnisse zu schaffen. Dabei verbinden sich die Ansätze der Studies mit den entsprechenden sozialen Praxen. Indem Social Justice auf Identitätsgruppen übergreifende Solidarität und Formen der Verteilungs- und Anerkennungsgerechtigkeit zielt, stärkt es den sozialen Zusammenhalt im Diversity-Dispositiv. Für die Disability Studies beinhaltet dies konkret, die Analysen der intersektionellen kritischen Forschungen in die Praxis einfließen zu lassen, um dort zu einer Transformation normativer Vorstellungen von Behinderung beizutragen – und dies unter der Perspektive von Wechselwirkungen und Mehrfachdiskriminierung. Für Bildungsinstitutionen, gerade auch Hochschulen, geht es dabei u. a. um das Teilen bzw. Abgeben von Privilegien und um solidarische Verbindungen zwischen einzelnen Fördermaßnahmen und Antidiskriminierungsbereichen (Kaufmann 2019). Als besondere Herausforderung sei hier der Theorie-Praxis-Gap

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – B Überschneidungsbereiche

zwischen Disability Studies und Praxen betont, den es zu überwinden gilt. Denn trotz des Konstruktionsansatzes basieren Normvorstellungen nach wie vor auf der Annahme eines bedürftigen, da funktional eingeschränkten, Subjekts und der Zuschreibung von Kompetenzdefiziten, wie Richter (2019, 118) in ihrer Bestandsaufnahme zu Tabuisierung und Exklusion unter der Fragestellung nach der (Un-)Möglichkeit von Nachwuchslaufbahnen und Teilhabe an den deutschen Hochschulen konstatiert.

46.5 Inklusion – Inclusion? Die Diversitätsorientierung, die sich mit Antidiskriminierung verbindet, hat die soziale Öffnung von Organisationen, z. B. im Bildungsbereich, zum Ziel. Dafür wird im englischen Sprachraum der Begriff inclusion verwendet, der, wie das Projekt Social Justice, diverse Dimensionen von Ungleichheit adressiert. Entsprechend laufen zahlreiche internationale Diversity-Programme an den Hochschulen unter ›Diversity & Inclusion‹. Im deutschen Sprachraum hingegen wird der Begriff der Inklusion noch immer vorwiegend mit Behinderung assoziiert. Für die Beschäftigung mit Behinderung im Kontext von Diversity ist es somit wichtig, die unterschiedlichen Bedeutungen von Inklusion und Inclusion mitzudenken: Ziel praktischer Umsetzungen intersektioneller kritischer Diversity-Perspektiven ist Inclusion, als soziale Öffnung und Teilhabe. Dazu sollten die Gründe von Exklusion genauer erkundet und entsprechend nachhaltige Maßnahmen getroffen werden, um diese zu verhindern. Durch intersektionelle Perspektiven, so ist zu erwarten, lassen sich sowohl die Komplexität struktureller Hürden besser erkennen und abbauen, als auch beim Alltagshandeln unterschiedliche Bedürfnisse und Möglichkeiten besser wahrnehmen, z. B. beim Lehren und Lernen. Zudem stellt sich darüber hinaus die Frage nach der Repräsentation sozialer Diversität und Intersektionalität auf allen Ebenen einer Organisation. Literatur

Benschop, Yvonne/Janssens, Mady/Nkomo, Stella/Zanoni, Particia: Unpacking Diversity, Grasping Inequality: Rethinking Difference Through Critical Perspectives. In: Sage Journals 17/1 (2009), 9–29. Crenshaw, Kimberlé: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics. In: University of Chicago Legal Forum 1 (1989), 139–167.

Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin, 1978. Foucault, Michel: Leben machen und sterben lassen. Zur Genealogie des Rassismus [1976]. In: Diss-Texte 25. Duisburg 1992, 6–26. Frederick, Angela/Shifrer, Dara: Disability at the intersections (2019), https://doi.org/10.1111/soc4.12733 (09.06.2020). Gummich, Judy: Migrationshintergrund und Beeinträchtigung. In: Jutta Jacob/Swantje Köbsell/Eske Wollrad (Hg.): Gendering Disability. Intersektionale Aspekte von Behinderung und Geschlecht. Bielefeld 2010, 131–151. Haraway, Donna: Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective. In: Feminist Studies 14/3 (1988), 575–599. Kaufmann, Margrit E.: Hype um Diversity – cui bono? Diversity in Unternehmen und an Hochschulen – aus der Perspektive intersektioneller Diversity Studies. In: Peter Pohl/Hania Siebenpfeiffer (Hg.): Diversity Trouble. Vielfalt – Gender – Gegenwartskultur. Berlin 2016, 83–101. Kaufmann, Margrit E.: Mind the Gaps – Diversity als spannungsgeladenes Zeitgeist-Dispositiv. In: Moritz Florin/ Victoria Gutsche/Natalie Krenz (Hg.): Diversität historisch. Repräsentationen und Praktiken gesellschaftlicher Differenzierung im Wandel. Bielefeld 2018, 211–232. Kaufmann, Margrit E.: Intersectionality Matters! Zur Bedeutung Intersektioneller Kritischer Diversity Studies für die Hochschulpraxis. In: Lucyna Darowska (Hg.): Diversity an der Universität. Diskriminierungskritische und intersektionale Perspektiven auf Chancengleichheit an der Hochschule. Bielefeld 2019, 53–83. Köbsell, Swantje: Gendering Disability: Behinderung, Geschlecht und Körper. In: Dies./Jutta Jacob/Eske Wollrad (Hg.): Gendering Disability. Bielefeld 2010, 17–33. McCall, Leslie: The Complexity of Intersectionality. In: Signs 30/3 (2005), 1771–1800. Naples, Nancy A./Mauldin, Laura/Dillaway, Heather: Gender, Disability, and Intersectionality. In: Gender & Society (2019), https://doi.org/10.1177 %2F0891243218813309 (09.06.2020). Raab, Heike: Shifting the Paradigm: »Behinderung, Heteronormativität und Queerness«. In: Jutta Jacob/Swantje Köbsell/Eske Wollrad (Hg.): Gendering Disability. Bielefeld 2010, 73–94. Richter, Caroline: Wissenschaft, Nachwuchslaufbahn und Behinderung. In: Lucyna Darowska (Hg.): Diversity an der Universität. Bielefeld 2019, 116–151. Waldschmidt, Anne: Behinderung neu denken: Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies. In: Dies. (Hg.): Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies. Kassel 2003, 11–22. Young, Iris Marion. Justice and the Politics of Difference. Princeton, N. J. 22011. Vertovec, Steven (Hg.): Routledge International Handbook of Diversity Studies. New York 2015.

Margrit E. Kaufmann

47  Behinderung und Geschlecht

47 Behinderung und Geschlecht Im vorliegenden Beitrag wird das komplexe Verhältnis der sozialen Kategorien Behinderung und Geschlecht ausgelotet. In den Fokus rückt das Wechselspiel zwischen verschiedenen Konstitutionsmechanismen und Konstruktionslogiken von Differenz. Solche gesellschaftlichen Konstruktionen von vermeintlich eindeutigen und nicht zu hintergehenden Unterschieden zwischen Menschen und zwischen sozialen Gruppen als entweder ›weiblich‹ oder ›männlich‹ sowie ›behindert‹ oder ›nicht-behindert‹ sind mit bewertenden Eigenschaftszuschreibungen und gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen verbunden. Sowohl Behinderung als auch Geschlecht sind demnach sowohl wandelbare kulturelle Konstruktionen, Zuschreibungen und Identitätszumutungen als auch Strukturgeber für die ungleichen Chancen von Menschen in modernen Gesellschaften. Wird vor diesem Hintergrund nach den Verflechtungen von Behinderung und Geschlecht gefragt, erhöht sich die Komplexität der Analyse von Prozessen der sozialen Differenzierung und Hierarchisierung. Dabei zeigt sich, dass die Relationen zwischen beiden Kategorien nicht statisch und ihre jeweiligen Gewichtungen kontextspezifisch sind.

47.1 Relationen und Gewichtungen Im Folgenden wird auf ausgewählte Ergebnisse einer Begleitstudie zu einem Förderprogramm für Studentinnen mit und ohne Behinderung Bezug genommen (Bereswill/Zühlke 2016a). Das Projekt mit dem Titel »Lebensweg inklusive« des Bonner Hildegardis-Vereins (http://www.hildegardis.de) wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unter dem Titel »Führungskompetenz, Leistungseinschätzung und Erfolgsstrategien vor dem Hintergrund der Erfahrung von Differenz. Ein Inklusions-Partnerschaftsprojekt für Studentinnen und Akademikerinnen – mit und ohne Behinderung (Frauen-Studium inklusiv(e))« gefördert (Kennzeichen 01FP1261). Im Rahmen der ebenfalls durch das BMBF geförderten qualitativen Längsschnittstudie wurden sowohl Interviews als auch Gruppendiskussionen erhoben. Eine Gruppendiskussion mit Teilnehmerinnen der Studie wurde von der Moderatorin mit der These eröffnet, dass Frauen mit einer Behinderung, die eine akademische Laufbahn anstreben, stärker mit Hürden konfrontiert seien als Männer (Bereswill/Zühlke 2016b, 141).

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Der vom Forschungsteam bewusst einseitig zugespitzte Diskussionsimpuls setzt differenzierte Reflexionen der Erfahrungen der Teilnehmerinnen in Gang und es werden pointierte politische Positionen diskutiert. Die Wirkmacht der Verknüpfung von Behinderung und Geschlecht wird dabei nicht als eindeutige Konstellation der sozialen Benachteiligung von Frauen gegenüber Männern eingeschätzt. Im Lauf der Diskussion werden vielmehr verschiedene Relationen von Behinderung und Geschlecht vergleichend durchgespielt. Kontrastiert werden Situationen von Akademikerinnen mit und ohne Behinderung. Ebenso werden die eingeschränkten Bildungswege von Menschen mit Behinderung, die keine höheren Bildungschancen haben, zum eigenen, als Privileg wahrgenommenen akademischen Bildungsprozess ins Verhältnis gesetzt – ohne weitere Geschlechterdifferenzierungen. Schließlich wenden sich die Diskussionsteilnehmerinnen einem Vergleich zwischen Frauen und Männern zu und eine Teilnehmerin stellt fest: »Männer, die Hilfe brauchen, da steht die Hilfsbedürftigkeit im Vordergrund, denn wenn einer nichtbehinderten Frau was runterfällt, kann es auch sein, es hebt jemand für sie auf, da es eben zu dem Frauenbild auch ein Stück weit gehört, sich mal helfen oder unterstützen zu lassen ...« (Bereswill/Zühlke 2016b, 146)

Mit dem Hinweis auf die selbstverständliche Verknüpfung von Weiblichkeit und »Hilfsbedürftigkeit« wird unterstrichen, dass Frauen mit und Frauen ohne eine Behinderung durchaus vergleichbaren Weiblichkeitszuschreibungen unterliegen können, da Weiblichkeit und »Hilfsbedürftigkeit« aneinander anschließen. Zugleich verweist der Redebeitrag auf eine komplementäre kulturelle Konstruktion von Geschlecht: Wird das manifeste sprachliche Bild vom ›Vordergrund‹ durch das latente Gegenbild ›Hintergrund‹ ergänzt, liegt die Assoziation nahe, dass die Zuschreibung von »Hilfsbedürftigkeit« – als eine Alltagserfahrung von Menschen mit Behinderung – die Wahrnehmung von Männlichkeit lenkt und verändert. Männlichkeit rückt dabei in den Hintergrund, weil Männlichkeitszuschreibungen und »sich mal helfen oder unterstützen zu lassen« nicht in gleicher Weise zueinander passen wie dies für Weiblichkeitszuschreibungen gilt. Die Relation von Behinderung und Geschlecht wird in diesem Beispiel also durch Behinderung, genauer durch »Hilfsbedürftigkeit« strukturiert und gewinnt im Zusammenhang mit der binä-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_47

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – B Überschneidungsbereiche

ren Kodierung von Zweigeschlechtlichkeit entsprechend unterschiedliche Bedeutungen. Auch wenn dies nicht manifest thematisiert wird, sprechen die Teilnehmerinnen hier über die Wirkmacht einer dominanten Männlichkeitskonstruktion. Es ist eine Version von Männlichkeit, die Verletzungsoffenheit, Abhängigkeit und »Hilfsbedürftigkeit« ausblendet und die, so ein Beitrag im weiteren Diskussionsverlauf, mit dem »Leistungsträger und Ernährer der Familie« assoziiert wird. Damit wird in der Gruppendiskussion implizit auf eine prototypische hegemoniale Männlichkeit verwiesen, die die Geschlechterverhältnisse von modernen westlichen Gesellschaften strukturiert und deren normative Wirkmacht auch für diejenigen gilt, die diesem Leitbild nicht folgen können oder wollen (Bereswill 2020; Connell 2015; Goffmann 1999/1975). Diese hegemoniale Konstellation einer betont unabhängigen und unverletzlichen Männlichkeit, so resümiert eine Teilnehmerin weiter, kann eine »vielleicht noch viel krassere Identitätsbedrohung für behinderte Männer« bedeuten (Bereswill/Zühlke 2016b, 146). »Viel krasser« beinhaltet einen impliziten Vergleich: auch für Frauen ist es »krass«, Zuschreibungen von Behinderung zu erleben. Solche Zuschreibungen sind zugleich kompatibel mit generellen Konstruktionen von Weiblichkeit als verletzungsoffen, abhängig und schwach. Behinderung und Geschlecht sind demnach Ko-Konstruktionen, indem die binären Kodierungen ›weiblich‹ – ›männlich‹ und Zuschreibungen von ›behindert‹ – ›nicht-behindert‹ sich wechselseitig verstärken. Für Weiblichkeit geschieht dies im ausgewählten Beispiel in gleichsinniger, für Männlichkeit in gegensinniger Weise. Denn im Kontrast zur Kompatibilität von Weiblichkeitszuschreibungen und Konstruktionen von Behinderung sind hegemoniale Männlichkeitskonstruktionen und Zuschreibungen von Behinderung inkompatibel. Wird eine Beeinträchtigung wahrgenommen, unterminiert dies hegemoniale Männlichkeit, und diese Konstellation bedeutet, dass Männer mit einer Beeinträchtigung möglicherweise drastischere Diskriminierungserfahrungen erleben als Frauen – so die Teilnehmerinnen der Diskussion. Im Fokus der hier herangezogenen Passagen steht das explizite und implizite Wissen von Frauen mit und ohne Behinderung, die widersprüchliche Verknüpfungen von Differenz und Hierarchie thematisieren (Bereswill 2016, 24–26). In der Diskussion wird so für einen Moment lang explizit, was im gesellschaftlichen Alltag oft implizit bleibt: Kulturelle Konstruktionen

von Weiblichkeit werden im Verhältnis zu Männlichkeitskonstruktionen abgewertet, kulturelle Konstruktionen von Behinderung geraten zugleich in Widerstreit zu Männlichkeitskonstruktionen und werten diese als ›unmännlich‹ und tendenziell effeminiert ab. Bezogen auf Ko-Konstruktionen von Geschlecht und Behinderung stellt sich dabei die grundsätzliche theoretische Frage, ob Behinderung die Bedeutung von Geschlecht in den Hintergrund rückt und es Konstellationen gibt, in denen Menschen ausschließlich als behindert, nicht aber als vergeschlechtlicht adressiert werden – was in einer Gesellschaft, deren Geschlechterordnung zweigeschlechtlich strukturiert ist, als eine starke Stigmatisierung eingeschätzt werden muss. Aus einer geschlechtertheoretischen Perspektive verweist die Frage auf eine paradoxe Dynamik, weil das Vorenthalten von einseitigen und einengenden Geschlechterkonstruktionen, deren Diskriminierungspotential hinlänglich bekannt ist und scharf kritisiert wird (Bereswill/Ehlert 2017), sich im Zusammenhang mit Konstruktionen von Behinderung in eine Missachtung verkehrt. Mit anderen Worten: Wird die Dekonstruktion von Geschlecht mit der Dekonstruktion von Behinderung zusammengedacht, gewinnt die binäre Kodierung von Zweigeschlechtlichkeit ihre spezifische Bedeutung durch das Vorenthalten oder zumindest die Relativierung von Vergeschlechtlichung. So betont auch eine Untersuchungsteilnehmerin in einem Einzelinterview, die Wahrnehmung und Bedeutung von Geschlecht würde in ihren alltäglichen Interaktionen mit anderen Menschen in den Hintergrund und die Betonung von Behinderung entsprechend in den Vordergrund treten (Bereswill/Zühlke 2016b, 137). Diese persönliche Alltagsbeobachtung schließt an wissenschaftliche Standpunkte an, wenn Swantje Köbsell schreibt: »Liegt eine Beeinträchtigung vor, wird das Merkmal ›behindert‹ so dominant, dass Geschlecht oftmals kaum oder keine Berücksichtigung findet« (2010, 20). Aus dieser Perspektive wirkt Behinderung wie eine Master-Kategorie, die Ungleichheitsverhältnisse hervorbringt und zugleich stabilisiert. Behinderung und Geschlecht stehen also in einer komplexen Relation zueinander und wirken entsprechend aufeinander ein. Bedeutungen von Geschlechterdifferenz und Bedeutungen von Behinderung kokonstruieren sich offensichtlich wechselseitig, wobei diese Differenzierungen zugleich auch Hierarchisierungen einschließen (Waldschmidt 2014). Entsprechend korrespondieren komplementäre gesellschaftliche Konstruktionen von Zweigeschlechtlichkeit (weiblich – männlich) eng mit Konstruktionen von Beein-

47  Behinderung und Geschlecht

trächtigung (behindert – nicht behindert). Aber auch wenn kulturell tradierte Weiblichkeitsbilder als »schwach, abhängig, passiv« (Köbsell 2007, 32) und Zuschreibungen als behindert direkt aneinander anschließen (ebd.), bedeutet das nicht, dass Frauen mit einer Beeinträchtigung auch gleichermaßen als weiblich kategorisiert werden wie andere Frauen. Aus der Perspektive von Marie-Theres Modes spitzt diese Überblendung von Geschlecht durch Behinderung sich weiter zu, wenn Menschen mit einer Behinderung zudem infantilisiert werden. Insbesondere in Hilfekontexten würden Bedeutungszuschreibungen von Geschlecht »[...] an die Tatsache des Erwachsenseins geknüpft. Offensichtlich scheint die in diesen Fällen vorgenommene Kategorisierung der angesprochenen Person als behindert dazu zu führen, sie als (noch) nicht erwachsen und somit als (noch) nicht zugehörig zur Gruppe der Männer und der Frauen zu betrachten.« (Modes 2019, 170)

Mit Blick auf die eingangs herangezogene Gruppendiskussion ist dem hinzuzufügen, dass die beschriebene Infantilisierung von Menschen sich mit der binären Unterscheidung von prototypischer abhängiger Weiblichkeit und prototypischer unabhängiger Männlichkeit verquickt. Diese verwickelte Dynamik von wechselseitigen Ausblendungen, Überblendungen und Auf- und Abwertungen von Differenz führt dazu, dass die Teilnehmerinnen der Gruppendiskussion betonen, dass die im Auftaktimpuls unterstellte soziale Benachteiligung von Frauen gegenüber Männern durchkreuzt wird, indem Behinderung mit einer Negierung von Weiblichkeit, aber auch mit einer Abwertung von Männlichkeit einhergehe. Zugespitzt gesagt, schützt die Verflechtung von Behinderung mit Weiblichkeit vor bestimmten Formen der Diskriminierung, indem Geschlechterkonventionen und die Abwertung von Behinderung ineinandergreifen. Dies bedeutet aber nicht – auch das wird in der Gruppendiskussion mit Nachdruck formuliert –, dass Frauen mit einer Beeinträchtigung keine Benachteiligung und Diskriminierung aufgrund ihres Geschlechts erführen.

47.2 Geschlecht als komplexe soziale Kategorie Alle bisherigen Ausführungen verdeutlichen, dass die wissenschaftliche Frage nach dem Verhältnis der sozialen Kategorien Behinderung und Geschlecht keine

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einfachen Antworten erwarten lässt. Diese beiden Dimensionen von Differenz und Ungleichheit addieren sich nicht einfach auf. Entsprechend ist die lange verbreitete Annahme, Frauen mit einer Beeinträchtigung unterlägen einer mehrfachen Benachteiligung oder »doppelten Diskriminierung« (Köbsell 2007, 33), zwar rein beschreibend nicht falsch, aus einer theoretisch-analytischen Perspektive aber deutlich zu einfach. Vor diesem Hintergrund wird die Frage nach dem Verhältnis von Behinderung und Geschlecht aktuell meistens mit Bezug zum Konzept Intersektionalität (s. Kap. 46) diskutiert (Raab 2010; Waldschmidt 2010; 2013; 2014; Bereswill/Zühlke 2016; Modes 2019). Mit anderen Worten verändert die strukturierende Wirkung von Geschlecht sich, sobald diese sich mit der strukturierenden Wirkung von Behinderung kreuzt (Crenshaw 1989). Das Bild der Überkreuzung lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass Ungleichheitsstrukturen in modernen Gesellschaften komplexe und mehrdimensionale Gefüge sind. Weder Behinderung noch Geschlecht können aus einer theoretisch-analytischen Perspektive demnach als Masterkategorien von Ungleichheit und Diskriminierung vorausgesetzt werden, auch wenn sich dies auf der alltäglichen Erfahrungs- und Beobachtungsebene von Menschen häufig anders darstellt und damit auch eindeutiger scheint, als es sich aus dem Abstand einer theoretisch sensibilisierten Forschungsperspektive heraus bestimmen lässt. Der mittlerweile selbstverständlich erscheinende Bezug auf Intersektionalität ist allerdings sehr anspruchsvoll, was die Berücksichtigung der komplexen Bedeutungsdimensionen und unterschiedlichen theoretischen Fassungen von Geschlecht betrifft (Knapp 2013). Denn die Prämissen von Intersektionalität fordern dazu auf, differenziert zu bestimmen, wie unterschiedliche Kategorien oder Achsen theoretisch gefasst, wie spezifische Verflechtungsmechanismen analysiert und wie sie empirisch untersucht werden können (Bereswill 2015). Vor diesem Hintergrund wird das Verhältnis von Behinderung und Geschlecht im Folgenden mit Bezug zu verschiedenen Bedeutungsdimensionen der Kategorie Geschlecht diskutiert. Der Fokus liegt dabei auf ausgewählten theoretischen Konzeptionen von Geschlecht und Geschlechterdifferenz mit der Frage, wie diese die Perspektive strukturieren: gesellschaftstheoretische Grundannahmen (Geschlecht als Strukturkategorie), interaktionsund handlungstheoretische Perspektiven (Geschlecht als soziale Konstruktion) und queertheoretische Prämissen (Heteronormativität).

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – B Überschneidungsbereiche

• Geschlecht als Strukturkategorie: Der Impuls für die oben zitierte Gruppendiskussion setzt bei einer klassischen Grundannahme der Frauen- und Geschlechterforschung an. Demnach ist die Sozialstruktur der modernen Gesellschaft dadurch strukturiert, dass Frauen als eine soziale Gruppe gegenüber der sozialen Gruppe ›Männer‹ sozial benachteiligt sind (Becker-Schmidt 1993; Bereswill 2008, 101–107). Das bedeutet, die gesellschaftliche Arbeitsteilung, die Rechtsverhältnisse und die Institutionen einer Gesellschaft sind entlang der Ungleichheitsachse Geschlecht strukturiert. Geschlecht ist eine Art Platzanweiser im Hinblick auf die sozialen Chancen von Frauen und Männern in der Gesellschaft. Frauen und Männer werden dabei nicht als Individuen, sondern als soziale Gruppen in den Blick gerückt, wobei keine homogenen Gruppen vorausgesetzt werden und die strukturierende Wirkung von Geschlecht immer mit der strukturierenden Wirkung von Ethnizität, Klasse, Alter oder Behinderung verflochten ist. Dabei stellt sich allerdings die theoretische Frage, ob Behinderung auch als Strukturkategorie erfasst werden kann oder ob es nicht angemessener wäre, von einer »Differenzierungskategorie« zu sprechen (Waldschmidt 2010, 38). Diese Frage verweist auf das soziologische Konzept ›soziale Differenzierung‹. Damit erfasst werden langfristige gesellschaftliche Prozesse der Entstehung und des Wandels von sozialen Positionen, Lebenslagen und Lebensstilen und deren Pluralisierung in der modernen Gesellschaft. Dies ist sowohl mit der horizontalen Vervielfältigung von Differenzen als auch mit vertikalen Differenzierungen und entsprechenden Auf- und Abwertungen von Unterscheidungen verbunden. In der eingangs besprochenen Gruppendiskussion wird die skizzierte strukturelle Ungleichheit im Geschlechterverhältnis unterstellt, wenn im Auftaktimpuls behauptet wird, Frauen seien »stärker als Männer« mit bestimmten Hürden konfrontiert. Geschlecht wird damit als eine Strukturkategorie gesetzt, die das gesamte gesellschaftliche Ungleichheitsgefüge durchzieht und somit auch auf die akademischen Karrieren von Frauen wirkt. Der theoretische Begriff ›Geschlechterverhältnis‹ verweist dabei auf Gesellschaft als Strukturzusammenhang mit hartnäckigen Ungleichheitsrelationen. Die Beiträge der Teilnehmerinnen differenzieren und relativieren die strukturierende Wirkung von Geschlecht, indem sie die strukturierende Wirkung von Behinderung für die Mechanis-

men von Geschlechterungleichheiten in den Fokus rücken und damit verbundene Effekte aufdecken. Dabei wird deutlich, dass die Relation von Behinderung und Geschlecht mit einer hegemonialen Position von Männlichkeit korrespondiert, die mit konkreten Zuschreibungen von Geschlechterdifferenz assoziiert ist. • Geschlecht als soziale Konstruktion: Mit Bezug zu geschlechtertheoretischen Ansätzen verdeutlicht die Gruppendiskussion, wie die Teilnehmerinnen ihre Erfahrungen mit Differenzzuschreibungen und ihr Wissen um solche Zuschreibungsprozesse reflektieren. Aus einer Theorieperspektive wird Geschlecht als soziale Konstruktion greifbar. Das bedeutet, die binären Codierungen von Weiblichkeit und Männlichkeit sind gesellschaftliche Konstruktionen im Zusammenhang mit verfestigten Geschlechterordnungen, die sich im Zuge sozialer Differenzierungsprozesse durchsetzen (Bereswill 2008, 107–111). Zuschreibungen wie ›hilfebedürftig‹ oder ›unabhängig‹ korrespondieren dabei eng mit Geschlechterkonstruktionen, und solche Differenzkonstruktionen werden in interaktiven Prozessen hervorgebracht. Dieses doing gender (West/ Zimmermann 1987) ist ein fortlaufender Prozess der wechselseitigen Vergewisserung von angeblich natürlichen und unveränderlichen Geschlechterunterschieden. Mit Bezug zur analysierten Gruppendiskussion öffnet sich durch diese Theoriebrille der Blick auf ein komplexes und widersprüchliches Wechselspiel, das als gesellschaftlicher Prozess eines doing gender while doing dis/ability oder umgekehrt als doing dis/ability while doing gender analysiert werden kann. Auf- und Abwertungen von Menschen in Bezug auf gesellschaftliche Normalitätskonstruktionen und Ordnungsvorstellungen werden dabei als ineinandergreifender Abgleich zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit sowie zwischen Behinderung und Nicht-Behinderung thematisch. Aus dieser Perspektive sind Geschlecht und Behinderung gesellschaftliche Ordnungskategorien, deren wechselseitige Wirkung sich verstärken oder auch abschwächen kann. Dabei folgt diese Dynamik ganz verschiedenen Logiken, auch das wird in der Gruppendiskussion thematisch. Aus einer sozialkonstruktivistischen Perspektive ko-konstruieren Geschlecht und Behinderung sich also wechselseitig. Die Frage, ob und wann eine der beiden Differenz- und Ordnungskategorien in den Vordergrund einer sozialen Situation tritt, kann nicht abstrakt, sondern nur im Zusammenhang von konkreten empirischen Be-

47  Behinderung und Geschlecht

funden beantwortet werden. Denn Geschlecht und Behinderung gewinnen ihre spezifische Bedeutung und Wirkmacht in konkreten Kontexten und ihre Relationen und Gewichtungen müssen aus einem konkreten empirischen Zusammenhang rekonstruiert werden. • Heteronormativität: Diskurs- und performativitätstheoretische Ansätze im Anschluss an die Arbeiten von Judith Butler (1991; 1995) stellen ein kategoriales Denken über Differenz grundsätzlich in Frage und entschlüsseln aus einer diskurstheoretischen Perspektive die Mechanismen der Konstruktion und Dekonstruktion geschlechtlicher Identitäten und die damit verbundene Gewalt einer heterosexuellen Matrix. Zweigeschlechtlichkeit wird als Heteronormativität entlarvt und Geschlecht als sprachliche wie körperbezogene Aufführungspraxis ohne jeden ontologischen Kern dekonstruiert. Mit anderen Worten: Weder Körper, noch Identitäten verweisen auf vorgängige Eigenschaften oder fixierte Unterschiede. Sowohl Geschlecht als auch Behinderung sind aus dieser Perspektive diskursiv hervorgebrachte Verkörperungen von Differenz, die im Kontext von Normalisierungsprozessen fixiert und naturalisiert werden sollen. In diesem Kontext ist die in der Gruppendiskussion zur Sprache gebrachte Inkompatibilität von Behinderung und hegemonialer Männlichkeit eine heteronormative Diskursfiguration, in der verschiedene Diskursstränge ineinandergreifen. Die queertheoretische Perspektive lenkt den Blick auf Körperpolitiken und den Körper als »zentralen Ausgangspunkt politischer und kultureller Interventionen« (Raab 2010, 80), mit dem Ziel, die heteronormative Geschlechterordnung zu dekonstruieren (ebd., 81). Heike Raab betont allerdings, dass die heteronormative Geschlechterordnung nicht, wie es aus ihrer Sicht bei Butler zu eng gefasst wird, »nur entlang von Sexualität und Geschlecht« (ebd.) funktioniere. »Als ein weiterer heteronormativer Schauplatz ist der Bereich der Behinderung zu nennen. Gleichwohl geschieht dies auf unterschiedliche Art und Weise: während Heterormativität einerseits heteropatriarchalische Zweigeschlechtlichkeit aufrechterhält, besteht im Fall von Behinderung die Gefahr, völlig aus dieser binären Geschlechterordnung herauszufallen.« (Raab 2010, 81)

Dieser theoretische Einwand gegen eine zu enge Fassung von Heteronormativität verweist ebenfalls auf

263

die weiter oben untersuchte Argumentationsfigur aus der Gruppendiskussion und auf weitere Forschungsbefunde, die verdeutlichen, dass Behinderungsdiskurse mit Positionierungen als nicht-geschlechtlich und nicht-sexuell einhergehen. Heteronormativität unterstellt demnach nicht nur heterosexuelles Begehren als ›normal‹. Heteronormativität ist zugleich an ganz bestimmte performative Verkörperungen von Geschlechterdifferenz und Begehren geknüpft, die eine deutlich erkennbare Position in der Geschlechterordnung repräsentieren. Behinderung, so das theoretische Argument dieser queertheoretischen Perspektive, ist möglicherweise nicht in die heteronormative Matrix eingetragen, so dass das Moment des heteronormativen Zwangs nicht dadurch zur Geltung gelangt, dass nur binäre Geschlechterkodierungen zur Verfügung stehen, sondern vielmehr dadurch, dass diese Kodierungen nicht zur Verfügung stehen, dadurch Zwang entfaltet wird und damit Menschen aus der heteronormativen Ordnung ›herauszufallen‹ drohen. Die diskurs- und performativitätstheoretische Brille auf Geschlecht und Sexualität öffnet den Blick für Identitätszwänge, aber auch für deren subversive Überschreitungen, indem angeblich ontologische Fixierungen von Identitäten und Körpern verschoben, überschritten oder auch betont reinszeniert werden (Raab 2010). Die Relation von Behinderung und Geschlecht entfaltet ihre Wirkmacht aus dieser Sicht im Kontext von Regulations- und Normalisierungsprozessen, deren kritische Durchquerung und Durchkreuzung zugleich immer an machtvolle Diskursfigurationen gebunden bleibt (Butler 2009, 71–76). Literatur

Becker-Schmidt, Regina: Geschlechterdifferenz – Geschlechterverhältnis: Soziale Dimensionen des Begriffs Geschlecht. In Zeitschrift für Frauenforschung 1/2 (1993), 37–46. Bereswill, Mechthild: Geschlecht. In: Nina Baur/Hermann Korte/Martina Löw/Markus Schroer (Hg.): Handbuch Soziologie. Wiesbaden 2008, 97–116. Bereswill, Mechthild: Komplexität steigern: Intersektionalität im Kontext von Geschlechterforschung. In: Mechthild Bereswill/Folkert Degenring/Sabine Stange (Hg.): Intersektionalität und Forschungspraxis – Wechselseitige Herausforderungen. Münster 2015, 210–230. Bereswill, Mechthild: Hat Soziale Arbeit ein Geschlecht? Antworten von Mechthild Bereswill. Freiburg im Breisgau 2016. Bereswill, Mechthild: Konkurrierende Männlichkeitsversionen und soziale Ungleichheiten. In: Barbara Rendtorff/ Claudia Mahs/Anne-Dorothee Warmuth (Hg.): Geschlechterverwirrungen. Was wir wissen, was wir glau-

264

III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – B Überschneidungsbereiche

ben und was nicht stimmt. Frankfurt a. M./New York 2020, 97–102. Bereswill, Mechthild/Ehlert, Gudrun: Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und der sexuellen Orientierung. In: Albert Scherr/Aladin El-Mafaalani/Gökçen Yüksel (Hg.): Handbuch Diskriminierung. Wiesbaden 2017, 499–509. Bereswill, Mechthild/Zühlke, Johanna [2016a]: Biographien (mit-)teilen. Qualitative Evaluierung des Programms »Lebensweg inklusive«. Kassel 2016. Bereswill, Mechthild/Zühlke, Johanna [2016b]: »Faktor Frau kommt meilenweit danach«. Eine qualitative Exploration zum Verhältnis von Behinderung und Geschlecht. In: Jürgen Budde/Susanne Offen/Anja Tervooren (Hg.): Das Geschlecht der Inklusion. Jahrbuch Frauen- und Geschlechterforschung in der Erziehungswissenschaft 12. Opladen/Berlin/Toronto 2016, 137–154. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M. 1991. Butler, Judith: Körper von Gewicht. Berlin 1995. Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen. Frankfurt a. M. 2009. Connell, Raewyn: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeit. Aktualisierte Neuauflage. Wiesbaden 2015. Crenshaw, Kimberlé W.: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics. In: University of Chicago Legal Forum 1989, 139–167. Goffman, Erving: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität [1975]. Frankfurt a. M. 1999. Jacob, Jutta/Köbsell, Swantje/Wollrad, Eske (Hg.): Gendering Disability. Intersektionale Aspekte von Behinderung und Geschlecht. Bielefeld 2010. Knapp, Gudrun-Axeli: Über Kreuzungen: Zu Produktivität und Grenzen von »Intersektionalität« als »Sensitizing

Concept«. In: Mechthild Bereswill/Katharina Liebsch (Hg.): Geschlecht (re)konstruieren. Zur methodologischen und methodischen Produktivität der Frauen- und Geschlechterforschung. Münster 2013, 242–262. Köbsell, Swantje: Behinderung und Geschlecht – Versuch einer vorläufigen Bilanz aus Sicht der deutschen Behindertenbewegung. In: Jutta Jacob/Eske Wollrad (Hg.): Behinderung und Geschlecht. Perspektiven in Theorie und Praxis. Oldenburg 2007, 31–49. Köbsell, Swantje: Gendering Disability: Behinderung, Geschlecht, Körper. In: Jacob/Köbsell/Wollrad 2010, 17–33. Modes, Marie: »Ist voll schwer zu sagen.« Konstruktion und Bedeutung von Geschlecht in der pädagogischen Begleitung von Erwachsenen. In: Mechthild Bereswill (Hg.): Geschlecht als sensibilisierendes Konzept. Weinheim/ Basel 2019, 155–174. Raab, Heike: Shifting the Paradigm: »Behinderung, Heteronormativität und Queerness«. In: Jacob/Köbsell/Wollrad 2010, 74–94. Waldschmidt, Anne: Das Mädchen Ashley oder: Intersektionen von Behinderung, Normalität und Geschlecht. In: Jacob/Köbsell/Wollrad 2010, 35–60. Waldschmidt, Anne: Geschlecht und Behinderung intersektional denken. Anschlüsse an Gender Studies und Disability Studies. In: Elke Kleinau/Dirk Schulz/Susanne Völker (Hg.): Gender in Bewegung. Aktuelle Spannungsfelder der Gender und Queer Studies. Bielefeld 2013, 151–163. Waldschmidt, Anne: Macht der Differenz. Perspektiven der Disability Studies auf Diversität, Intersektionalität und soziale Ungleichheit. In: Soziale Probleme 25/2 (2014), 173–193. West, Candace/Zimmermann, Don: Doing Gender. In: Gender & Society 2/1 (1987), 125–151.

Mechthild Bereswill

48  Behinderung und Armut/Unterentwicklung

48 Behinderung und Armut/Unterentwicklung Armut und Behinderung sind eng miteinander verbunden. Empirische Befunde zeigen, dass mit Behinderung ein erhöhtes Armutsrisiko einhergeht. Beide Phänomene können sich dabei wechselseitig bedingen und sich in einem ›Teufelskreis‹ aus Armut und Behinderung gegenseitig verstärken (Grech 2016, 220; Cloerkes 2007, 99). So vielfältig wie die Ursachen und Folgen sind, so unterschiedlich sind die politischen Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut als Folge einer Behinderung. Kulturell und medial hat sich der Zusammenhang von Armut und Behinderung so eingeschrieben, dass Bilder wie das des körperbehinderten oder blinden Bettlers (vgl. z. B. den Film Slumdog Millionaire; UK 2008, Regie: Danny Boyle) oder der aufgrund von Behinderung in Armut lebenden Familien (vgl. z. B. die Lebensgeschichten hinter den jährlichen Spendenaufrufen zu dem Adventskalender der Süddeutschen Zeitung) einen festen Platz in der Kulturlandschaft und den Medien haben. Bei globaler Betrachtung wird die Stärke des Zusammenhangs von Behinderung und Armut besonders deutlich. 80 % der ca. 1 Milliarde Menschen mit Behinderung leben in Entwicklungsländern. Dort werden Menschen mit Behinderungen häufig diskriminiert und ausgegrenzt und sind mehr als in entwickelten Ländern vom politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leben ausgeschlossen. Nur etwa ein bis zwei Prozent der Menschen mit Behinderung haben Zugang zu medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen. 90 % der Kinder mit Behinderungen in Entwicklungsländern gehen nicht zur Schule. Die Weltbank schätzt, dass bis zu ein Fünftel der absolut Armen auf der Welt Menschen mit Behinderungen sind (WHO 2011), so dass diese oft als »the poorest of the poor« (Oliver/Barnes 2012, 108) apostrophiert werden.

48.1 Definitionen von Armut Für den Zusammenhang mit Behinderung sind verschiedene Armutskonzepte relevant. • Am weitesten verbreitet ist das an einen Ressourcenansatz anknüpfende Verständnis von Armut als relativer Einkommensarmut. Demnach gilt jemand als arm, wenn das zur Verfügung stehende Nettoäquivalenzeinkommen unter 60 % des Medianeinkommens einer Vergleichspopulation liegt.

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In Deutschland lag 2018 diese Armutsschwelle für einen Alleinlebenden bei 1035 €, für einen Paarhaushalt mit zwei kleinen Kindern bei 2174 €, und 15,5 % der Gesamtbevölkerung lagen unter dieser Schwelle (Der Paritätische Gesamtverband 2019). • Der Lebenslagenansatz knüpft an das Konzept der ›Lebenslage‹ (Weisser) an, ist deutlich weiter gefasst und versteht Armut als Unterversorgung in verschiedenen Lebensbereichen wie Einkommen, Arbeit, Bildung, Wohnen, Gesundheit und Pflegebedürftigkeit. Armut wird bedrohlich und verfestigt, wenn sich Unterversorgungen in mehreren Lebensbereichen kumulieren und gegenseitig verstärken. • Das Konzept der (sozial-)politisch bekämpften Armut zielt auf sozialstaatliche Existenzsicherungspolitik. Eine solche Grundsicherung garantiert ein durch Rechtsprechung des Bundesverfassungsge­ richtes bestätigtes Existenzminimum. Empfänger von Grundsicherung sind nach dieser Logik nicht arm, weil ihr Existenzminimum gesichert ist. • Bei Fehlen einer solchen Grundsicherung kann absolute oder extreme Armut vorliegen. Das ist u. a. in Entwicklungsländern der Fall, wenn elementare Bedürfnisse nach Lebensmitteln, Wohnraum, sauberem Wasser und medizinischer Versorgung nicht befriedigt werden. Die Weltbank definiert dafür eine Armutsschwelle von 1,90 US$ pro Tag (United Nations 2019, 35).

48.2 Armut und Behinderung in empirischer Betrachtung Es ist ein gesicherter Befund, dass Menschen mit Behinderung in Deutschland (BMAS 2016), in Europa (Eurofound 2018) und weltweit (United Nations 2019) stärker von Armut betroffen sind als Menschen ohne Behinderung. • In Deutschland ist unter den Menschen mit Behinderung der Anteil an Grundsicherungsbeziehern mit 11,1 % deutlich höher als unter Menschen ohne Behinderung (5,3 %); auch ihr Risiko relativer Einkommensarmut ist mit 20 % deutlich höher als das der Menschen ohne Behinderung (13 %) (BMAS 2016, 204–208). Diese Benachteiligungen schlagen sich auch in subjektiven Bewertungen nieder: Menschen mit Behinderungen sind mit dem Haushaltseinkommen unzufriedener und sorgen sich stärker um ihre wirtschaftliche Situation (ebd., 215–216). Der zweite Teilha-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_48

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – B Überschneidungsbereiche

bebericht zeigt auch für ein an Lebenslagen orientiertes Armutskonzept die Unterversorgung von Menschen mit Behinderung in den meisten Teilhabebereichen (BMAS 2016). Besonders betroffen sind davon die ca. 200.000 Menschen mit Behinderungen, die stationär in Einrichtungen leben und dadurch sowieso finanzieller Armut und oft massiven Teilhabeeinschränkungen ausgesetzt sind (Rohrmann 2018). • In den Ländern der Europäischen Union wird ebenfalls die größere Armut aufgrund einer Behinderung mit verschiedenen Armutskonzepten deutlich. Auch fühlen sich Menschen mit Behinderung subjektiv deutlich stärker sozial ausgegrenzt (Eurofound 2018). • In globaler Hinsicht werden die Unterschiede zwischen einzelnen Ländern zum einen im Hinblick auf Armut und zum anderen im Hinblick auf die Bedeutung einer Behinderung noch größer. Die einzigen Länder, in denen eine Behinderung nicht das Armutsrisiko erhöht (Norwegen, Slowakei und Schweden), liegen alle in Europa (WHO 2011, 39). Bei globaler Betrachtung schwanken die Differenzen der Risiken von Einkommensarmut von Menschen mit und ohne Behinderung zwischen vier Prozentpunkten in Georgien und 22 Prozentpunkten in Süd-Korea (United Nations 2019, 34; weitere Beispiele für beträchtliche Unterschiede in WHO 2011, 40). Außerdem ist bei Berücksichtigung auch weniger entwickelter Länder absolute Armut von größerer Bedeutung, auch hier sind die Unterschiede aufgrund von Behinderung zwischen einzelnen Ländern beträchtlich (United Nations 2019, 41).

48.3 Wechselwirkungen von Behinderung und Armut Behinderung und Armt stehen in vielfachen Wechselwirkungen. Für entwickelte Länder sind zentrale, den Zusammenhang von Behinderung und Armut moderierende Merkmale Erwerbsstatus und Bildung, weil sich beide auf das Einkommen, auf Chancen zu einer Erwerbstätigkeit und auf den Zugang zu sozialem Schutz und sozialer Unterstützung auswirken. In der Kindheit und Jugend sind es oft Lebensverhältnisse in Armut, die das Risiko chronischer Erkrankungen, von Beeinträchtigungen oder von sonderpädagogischem Förderbedarf erhöhen (Weiß 2016, 419). Für Deutschland sind z. B. die geringere Inanspruchnahme von Früherkennungsuntersuchun-

gen oder die häufigere Sonderbeschulung bei niedrigerer Schichtzugehörigkeit belegt (Kastl 2017, 156). Weitere Faktoren wie beengte Wohnverhältnisse oder ein Mangel an Zeitressourcen, sich um ein Kind mit (drohender) Beeinträchtigung zu kümmern, erhöhen das Risiko von gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Entwicklungsverzögerungen. Im Erwerbsalter ist der Zusammenhang mit einer Erwerbstätigkeit entscheidend. Menschen mit Behinderungen haben eine geringere Erwerbsquote, verdienen in der Regel weniger und sind länger arbeitslos (BMAS 2016). Aber auch hier kann die Wirkungsrichtung entgegensetzt sein: Oft sind es gering entlohnte, körperlich anstrengende Tätigkeiten, die sowohl mit einem erhöhten Armutsrisiko als auch mit erhöhten Risiken von chronischen Erkrankungen und Behinderungen und als Folge Frühverrentung oder Erwerbsunfähigkeit einhergehen. Einige Mechanismen erhöhen in allen Lebensabschnitten das Armutsrisiko. Zusätzliche Ausgaben aufgrund der Behinderung für z. B. Therapien oder Medikamente senken das Wohlfahrtsniveau eines Haushalts. Außerdem hat die Behinderung eines Mitglieds Auswirkungen auf die gesamte Familie und führt in nicht wenigen Fällen zu Trennungen oder zu Einschränkungen der Erwerbstätigkeit aufgrund von familiärer Sorgearbeit. Solche familiären Zusammenhänge haben in den Gesellschaften des Globalen Südens eine noch stärkere Bedeutung (disabled families; Grech 2016, 231). Ferner spielen für das Wechselspiel von Armut und Behinderung auch Intersektionalitäten und Mehrfachdiskriminierungen, u. a. mit Geschlecht (z. B. in einer Lebenslaufperspektive LibudaKöster/Schildmann 2016) und mit Migrationserfahrung (z. B. BMAS 2016, 471) (s. Kap. 50), eine große Rolle. Sorgearbeit für Angehörige mit Behinderung wird vor allem von Frauen geleistet, die dadurch wiederum indirekt ihr eigenes Armutsrisiko erhöhen. In Entwicklungsländern werden Frauen mit Behinderung nochmals stärker diskriminiert, z. B. hinsichtlich des Schulbesuchs (Grech 2016, 220) oder bei der Verheiratung (Ingstad/Eide 2011, 6). Ein Migrationshintergrund kann aufgrund von sprachlichen Barrieren zu einer geringeren Inanspruchnahme von gesundheitlichen und sozialen Leistungen führen und dadurch Armutsrisiken weiter verstärken. Und schließlich spielt auch die Art und Schwere der Behinderung eine zentrale Rolle, weil die Benachteiligung von körperlich, geistig und psychisch behinderten Menschen, gerade im Hinblick auf eine Erwerbstätigkeit, sehr unterschiedlich ist.

48  Behinderung und Armut/Unterentwicklung

48.4 Armut und Behinderung in supranationaler Perspektive Armut wird auch in der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) von 2006 in Artikel 28 aufgegriffen. Die Vertragsstaaten anerkennen »das Recht von Menschen mit Behinderungen auf einen angemessenen Lebensstandard für sich selbst und ihre Familien, einschließlich angemessener Ernährung, Bekleidung und Wohnung« sowie das Recht auf sozialen Schutz (UN-BRK, Artikel 28) an. Gleichwohl sind zur Armutsbekämpfung auch andere Artikel wie 9 (Zugänglichkeit) oder 27 (Arbeit) hoch relevant. Die UN-BRK hat Politiken zur Inklusion von Menschen mit Behinderung sehr befördert und den Blick auf den Zusammenhang mit Armut geschärft. In Deutschland hat das Bundesteilhabegesetz von 2016 zu ersten Verbesserungen geführt, z. B. bei der Anrechnung von Einkommen und Vermögen, im Grunde aber die Benachteiligung von Menschen, die nicht erwerbstätig sind, auch wenn sie als erwerbsunfähig gelten – was für die meisten geistig und psychisch behinderten Menschen zutrifft –, fortgesetzt und damit die Armutslage und Teilhabedefizite dieser »Teilhabenichtse« festgeschrieben (Kellmann 2017). Da Armut sich nicht auf Einkommensarmut beschränkt, können auch andere Leistungen, z. B. das Budget für Arbeit oder selbstständigere Wohnformen, Verbesserungen bei der Unterversorgung in verschiedenen Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen bewirken. Europaweit zeigen sich empirisch zwischen 2011 und 2016 Verbesserungen hinsichtlich der Einkommenssituation und der subjektiven sozialen Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung (Eurofound 2018, 4). Auch auf globaler Ebene wird das Thema stärker bearbeitet (Grech 2016, 217). Für die deutsche Entwicklungspolitik wurde das Thema Behinderung vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ 2019) aufgegriffen. Inzwischen gibt es auch in einer Vielzahl von Ländern des Globalen Südens verstärkt Forschung und Initiativen zur Bekämpfung von Armut und Behinderung (Grech 2016; Eide/Ingstad 2011 mit Beispielen aus verschiedenen Ländern). Dabei lassen sich zwei Politikstränge identifizieren. • Zum einen eine auf allgemeine ›Entwicklung‹ zielende Politik entsprechend der Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen mit dem obersten Ziel der Armutsbekämpfung. Hierbei wird über allgemeine Entwicklungsziele wie Zu-

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gang zu sauberem Wasser oder Bildung eine Reduzierung gesundheitlicher Belastungen und damit der Risiken von Behinderung angestrebt. Diese Ziele dienen somit eher der Prävention von Behinderung. • Zum anderen gibt es viele Maßnahmen, die gezielt auf die Verbesserung der Lebensverhältnisse und der Armutsrisiken von Menschen mit Behinderung zielen und u. a. die Versorgung mit Hilfsmitteln und sozialen Leistungen sowie den Zugang zu ihnen fördern. Ein erfolgreiches Beispiel für eine soziale Innovation mit vergleichsweise einfachen Mitteln ist die Ein-Dollar-Brille (https:// www.eindollarbrille.de/), die vielen Menschen mit Sehbeeinträchtigungen soziale Teilhabe erleichtert und damit auch erfolgreich Armut bekämpft.

48.5 Fazit Auch wenn die unbedingte und starke gegenseitige Beeinflussung von Behinderung und Armut aufgrund methodischer und theoretischer Fragen u. a. für Länder des Globalen Südens zunehmend in Frage gestellt wird (Grech 2016), gibt es doch überwältigend viele Belege, die zeigen, wie über verschiedene soziale, politische und kulturelle Wirkmechanismen (Ingstad/ Eide 2011, 1) Armut das Risiko von Krankheit und Behinderungen erhöht und umgekehrt eine Behinderung hauptsächlich über Einschränkungen bei der Erwerbstätigkeit das Risiko von Armut steigert. Weiter gefasste Konzepte von Armut auf der einen Seite, die wie der Lebenslagenansatz auch z. B. die Versorgung mit Wohnen und Bildung berücksichtigen, sowie auf der anderen Seite das Konzept von Behinderung gemäß der »International Classification of Functioning, Disabilities and Health« (ICF) der WHO von 2001 mit einer starken Berücksichtigung sozialer und gesellschaftlicher Faktoren sind geeignet, das Zusammenspiel von Armut und Behinderung mit sozialen, strukturellen, politischen und kulturellen Mechanismen zunehmend genauer zu erfassen. Ferner haben die UN-BRK, die Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen und die nationale wie internationale Sozialberichterstattung (BMAS 2016; United Nations 2019; World Health Organization 2011) erheblich zu einer stärkeren Wahrnehmung des Zusammenhangs von Armut und Behinderung beigetragen. Gleichwohl müssen noch weitere quantitative und qualitative Forschungen unternommen werden, um den Zusammenhang von Behinderung

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – B Überschneidungsbereiche

und Armut weltweit besser zu verstehen und Grundlagen für Politiken zur Auflösung dieses vicious circle legen zu können. Literatur

BMAS/Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Zweiter Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen. Teilhabe – Beeinträchtigung – Behinderung. Berlin 2016. BMZ/Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Inklusion von Menschen mit Behinderung in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Berlin 2019. Cloerkes, Günther: Soziologie der Behinderten. Eine Einführung. Heidelberg 32007. Der Paritätische Gesamtverband: 30 Jahre Mauerfall – Ein viergeteiltes Deutschland. Der Paritätische Armutsbericht 2019. Berlin 2019. Eide, Arne H./Ingstad, Benedicte (Hg.): Disability and poverty. A global challenge. Bristol 2011. Eurofound: Die soziale und Beschäftigungssituation von Menschen mit Behinderungen. Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union. Luxemburg 2018. Grech, Shaun: Disability and Poverty: Complex Interactions and Ciritical Reframings. In: Shaun Grech/Karen Soldatic (Hg.): Disability in the global south. The critical handbook. Cham 2016, 217–235. Ingstad, Benedicte/Eide, Arne H.: Introduction. Disability

and poverty: a global challenge. In: Eide/Ingstad 2011, 1–13. Kastl, Jörg: Einführung in die Soziologie der Behinderung. Wiesbaden ²2017. Kellmann, Markus: Teilhabenichtse. In: Sozialpsychiatrische Informationen 47/4 (2017), 42–45. Libuda-Köster, Astrid/Schildmann, Ulrike: Institutionelle Übergänge im Erwachsenenalter. Eine statistische Analyse über Verhältnisse zwischen Behinderung und Geschlecht. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 85/1 (2016), 7–24. Oliver, Michael/Barnes, Colin: The new politics of disablement. Houndmills 2012. Rohrmann, Eckard: Zwischen selbstbestimmter sozialer Teilhabe und fürsorglicher Ausgrenzung. Lebenslagen und Lebensbedingungen von Menschen, die wir behindert nennen. In: Ernst-Ulrich Huster/Jürgen Boeck/Hildegard Mogge-Grotjahn (Hg.): Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung. Wiesbaden 32018, 619–640. United Nations: Disability and Development Report. Realizing the Sustainable Development Goals by, for and with persons with disabilities. 2018. New York 2019. Weiß, Hans: Armut. In: Ingeborg Hedderich/Gottfried Biewer/Judith Hollenweger/Reinhard Markowetz (Hg.): Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik. Bad Heilbrunn 2016, 417–422. WHO/World Health Organization (Hg.): World Report on Disability. Genf 2011.

Dieter Kulke

49  Behinderung und Alter

49 Behinderung und Alter 49.1 Alter und Altern aus kulturwissenschaftlicher Sicht ›Alter‹ kann in unterschiedlichen Kontexten Unterschiedliches bedeuten; dies zeigen nicht zuletzt der interkulturelle Vergleich und die Geschichte (Elwert 1992; Thane 2007). In jedem Fall ist ›Alter‹ eine identitätsbildende Kategorie, die ihren Gegenpol, die ›Jugend‹, braucht, um definiert werden zu können. Obwohl es oft mit Negativ-Stereotypen behaftet und Projektionsfläche für kollektive Ängste vor Krankheit, Abhängigkeit und Tod ist, wird das ›Alter‹ immer wieder auch idealisiert und mit Lebenserfahrung und Weisheit in Verbindung gebracht. Mit der Vielfalt der gelebten Erfahrung des Älterwerdens haben all diese Altersbilder in der Regel jedoch nur sehr wenig gemeinsam. Der Vorstellung vom Alter als einem vermeintlich bestimmbaren und beschreibbaren Zustand, dessen Erreichung die meisten Menschen lieber hinauszögern würden, steht das Altern als kontinuierlicher Prozess gegenüber. Dass der Körper altert, gilt als eine unvermeidbare Tatsache, der sich niemand entziehen kann, sofern er oder sie lange genug lebt. Das Altern, das im Grunde mit dem ersten Lebenstag beginnt und erst mit dem letzten endet, wird in der Regel als zunehmende Verschlechterung der physischen wie auch geistigen Kapazitäten des Menschen betrachtet, als Verfalls- und Verlustprozess, den es mithilfe der Medizin so weit wie möglich aufzuschieben, wenn schon nicht aufzuhalten, gelte und dessen unerwünschte Folgen durch Interventionen unterschiedlicher Art zu lindern bzw. abzufedern seien. Die Ursache des körperlichen Alterns ist Gegenstand einer Vielzahl von einander zum Teil widersprechenden Alternstheorien. Die Kulturwissenschaft fragt jedoch nicht nach solchen Ursachen, sondern nach den Bedeutungen, die Körpern im jeweiligen kulturellen Kontext zugeschrieben werden. Keinesfalls ist es so, dass Körper ihre Bedeutung in sich tragen und die Kultur diese nur abbildet oder widerspiegelt. Vielmehr gibt die Kultur einen Rahmen für die Bedeutungsgebung vor, und die Vorstellungen, die Menschen sich von der Welt, den Dingen und Körpern machen können, sind immer schon durch den Vorstellungshorizont begrenzt, den sie im Zuge ihrer Sozialisation und mit der Sprache erwerben. Dies gilt auch für den alternden Körper, der, wie Margaret Morganroth Gullette es ausgedrückt hat, erst »durch die Kultur alt gemacht« wird (»aged by culture«; Gul-

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lette 2004). Die kulturwissenschaftliche Alternsforschung (Age/Aging Studies) will diesen einschränkenden, auf Defizite und Verluste fokussierenden bedeutungsgebenden Rahmen bewusstmachen und damit den Vorstellungshorizont in Bezug auf Alter und Altern erweitern. Hierin zeigt sich schon ein gemeinsamer Ansatz von Alterns- und Behinderungsforschung: Sowohl aus der Perspektive der Aging als auch der Disability Studies befinden sich die körperlichen Voraussetzungen in einem ständigen Wechselspiel mit der Art und Weise, wie diese kulturell gedeutet werden und wie die Gesellschaft ihnen begegnet. Menschen mit einer Beeinträchtigung (impairment) ›sind‹, so gesehen, nicht behindert, behindert ›werden‹ sie vielmehr (disability) – von der Gesellschaft nämlich, die es unterlässt, Bedingungen zu schaffen, die beeinträchtigten Menschen Teilhabe ermöglicht (vgl. Marshall 2014, 32; Lamb 2015, 314–315). Ebenso ›sind‹ Menschen nicht einfach alt, sondern ›werden‹ es, indem sie mit bestimmten altersbezogenen Zuschreibungen ausgestattet und mit Rollenerwartungen konfrontiert werden, die, je nach Kontext, eine befähigende oder eben auch behindernde Funktion haben können. Immer aber stehen sowohl ›Alter‹ als auch ›Behinderung‹ in Bezug zu einer kulturellen Norm, an der sie gemessen werden: Sie erscheinen als das Andere des jungen, gesunden Körpers. Die Rede vom Altern ist in aller Regel eine Erzählung vom Verfall dieses jugendlichen, gesundheitlich unbeeinträchtigten Körpers – ein decline narrative –, und diesem ›Verfall‹ mithilfe von Medizin- und Kosmetikprodukten entgegenzuwirken bzw. ihn zu verbergen, gilt mittlerweile als Frage des Common Sense. Sich diesem Imperativ zu widersetzen und die Möglichkeiten, die Nahrungsergänzungsmittel, Hormonersatztherapien, Botox usw. bieten, nicht zu nutzen, erscheint als zumindest »begründungsbedürftig« (Amrhein/Backes 2007, 106). Sichtbare – bzw. sichtbar gelassene – Zeichen des ›Verfalls‹ tragen im schlimmsten Fall zu einer Einschränkung der Möglichkeiten und Untergrabung der Autorität älterer Menschen bei (Calasanti/Slevin 2006, 8). Die Verfallserzählung reicht weit in die Geschichte zurück und begegnet uns etwa im aus der bildenden Kunst hinlänglich bekannten Modell der Lebenstreppe, in dem einem steten Aufstieg des Menschen bis zur Mitte seines Lebens ein ebenso viele Stufen umfassender Abstieg folgt. Im Zuge der seit dem 20. Jahrhundert zunehmenden Medikalisierung, also Definition des Körpers unter medizinischen Gesichtspunkten, werden altersbedingte Veränderungen nun als Symp-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_49

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – B Überschneidungsbereiche

tome begriffen, also als riskante Zeichen von Krankheit oder mangelhafter Gesundheit (Joyce/Mamo 2006, 104). Dies betrifft vor allem auch den Geschlechtskörper, insbesondere den weiblichen: Die Konstruktion weiblichen Alterns als eines krankhaften und zugleich behandelbaren Vorgangs erhält eine ganze Pharma- und Kosmetikindustrie aufrecht: »[...] the HRT [hormone replacement therapy] industry [...] created a model of the aging female as a medical, emotional, psychological, sexual, and social problem, for which it positioned itself as the solution« (Marshall/Katz 2006, 82–83). Die Aging Studies stellen sich daher immer auch die Frage, wer von bestimmten Lesarten des alternden Körpers profitiert und welche realen Auswirkungen diese kulturellen Deutungen auf das individuelle Erleben des Älterwerdens haben. Mit dem Begriff der Medikalisierung lässt sich ebenso der gesellschaftliche Umgang mit Behinderung beschreiben. Doch handelt es sich, wie Sally Chivers (2011, 3) fragt, bei Alter und Behinderung tatsächlich um die gleiche Erfahrung von Anderssein, also um die »gleiche Differenz«?

49.2 Altern als Behinderung Demokrit meinte, das Alter sei »eine Verstümmelung bei ganzem Leibe, alles hat es, und allem fehlt etwas« (zit. nach Bovenschen 2008, 76). Ganz offensichtlich steht hier der beeinträchtigte Körper im Mittelpunkt: Das Alter wird als Behinderung konstruiert, und an dieser Sicht der Dinge hat sich seit Demokrit wenig geändert. Die Angst vor dem Älterwerden ist nicht nur eine Angst vor dem Tod, sie ist vor allem auch eine Angst vor dem Verlust an Selbstbestimmtheit und Würde, vor Abhängigkeit, eingeschränkter Handlungs- und Bewegungsfreiheit und Schmerz. Laut Chris Gilleard und Paul Higgs (2015) schreiben sich körperliche Beeinträchtigung, Gebrechlichkeit und Pflegebedürftigkeit in das soziale Imaginäre (social imaginary) des sogenannten Vierten Alters ein – also der Hochaltrigkeit im Unterschied zum noch ›jungen‹, aktiven und mobilen Dritten Alter. ›Erfolgreich‹ zu altern (successful aging) heißt dann, ein hohes Alter zu erreichen, ohne körperlich oder mental beeinträchtigt und von der Hilfe anderer abhängig zu sein. Beeinträchtigung bzw. Behinderung wird so zum Anderen einer Idealvorstellung von Altern. Wir haben es hier mit einem »ageism via ableism« (Chivers 2011, 31) zu tun, also einer weitgehenden Abwertung (bis hin zur Diskriminierung) des Alters im Gewande ei-

ner Abwertung von Behinderung. Chivers hat dies am Beispiel von Hollywood-Filmen analysiert, in denen ein Bild vom Altern als einer Behinderung vermittelt wird, die überwunden werden könne (Chivers 2011, 5–6). Umgekehrt ist im Idealbild des behinderten Menschen kein Platz für das Alter. Rollenvorbilder, die mit oder trotz ihrer Beeinträchtigung aktiv sind und ihr Leben ›erfolgreich‹ meistern (successful disability), sind in der allgemeinen Vorstellung und den medial dominierenden Repräsentationen keine alten Menschen: »The idealized visions of old age and disability are, then, to a large extent, created by the distance they mark from the added stigma of the other term – ›old‹ or ›disabled‹« (Lamb 2015, 314). Die Frage, wie mit den mit dem Alter einhergehenden Beeinträchtigungen am besten umzugehen sei und, damit in Zusammenhang stehend, welche Formen von Pflege bzw. Sorge (care im engeren und weiteren Sinn) den Bedürfnissen der Betroffenen am nächsten kämen, steht gegenwärtig stark im interdisziplinären Fokus der Aging Studies. Quantitative und qualitative Studien zu unterschiedlichen Konzepten und Szenarien der Pflege von gebrechlichen wie auch von demenzkranken Menschen treffen auf geistes-, kultur- und sozialwissenschaftliche Analysen gesellschaftlicher Mechanismen sowie kultureller Deutungsmuster und Repräsentationsprozesse. Amy Clotworthy (2017) etwa hat das pflegepolitische Konzept des ›Aging in Place‹ und dessen konkrete Umsetzung am Beispiel Dänemarks untersucht. Aging in Place bezeichnet den Entschluss eines älteren Menschen, in seinem eigenen Zuhause statt in einer Langzeitpflegeeinrichtung zu leben. Diese Entscheidung setzt voraus, dass die staatliche Gesundheitsund Pflegepolitik bestimmte Ressourcen, insbesondere mobiles Heimpflegepersonal, zur Verfügung stellt. Clotworthy zeigt, wie die dänische Gesundheitspolitik ihr Ziel von der Bereitstellung von Hilfe auf die Bereitstellung von Hilfe zur Selbsthilfe verschoben hat. Bezugnehmend auf Foucaults Theorem der Gouvernementalität argumentiert Clotworthy, dass die Altenpflegepolitik in Dänemark darauf abhebe, einen neuen Typ von staatsbürgerlichem Subjekt hervorzubringen, das, ungeachtet seiner Beeinträchtigungen, ein aktives Mitglied der Gesellschaft bleibt und dazu beiträgt, bestimmten (neoliberalen) Zielsetzungen zu dienen. Durch die Überschneidung zweier Diskurse – jenes Diskurses, der die Alten als eine Hochrisikogruppe von potentiell schlechter Gesundheit konstruiert, sowie des Diskurses vom ›gesunden Altern‹

49  Behinderung und Alter

(healthy aging) – konstituiere sich der Typ des selbstverantwortlichen Subjekts, das vom Staat befähigt wird, das Leben in den eigenen vier Wänden auch im hohen Alter zu bewältigen, den Staat dadurch aber gleichzeitig z. B. finanziell entlastet. Die Folge ist, wie Clotworthys qualitative Studie verdeutlicht, eine potentielle Überforderung der ›Konsumenten‹ von häuslichen Gesundheitsdienstleistungen – durch zum Teil ermüdende und auch schmerzhafte körperliche Übungen, die den älteren Menschen aufgenötigt werden und diesen beispielsweise das Verrichten einfacher Tätigkeiten im Haushalt (wie z. B. Staubsaugen) ohne fremde Hilfe ermöglichen sollen. Pflege stellt sich hier als Geschäftsbeziehung dar, die zwar dialogisch, zugleich aber asymmetrisch ist (Kunow 2015, 329): Die Angewiesenheit auf Hilfe – und sei es nur Hilfe zur Selbsthilfe – kompromittiert den älteren Menschen in seiner Autonomie, die ihm als erwachsenem Menschen selbstverständlich erscheint.

49.3 Behinderung und Alter(n) Wie im vorangegangenen Abschnitt gezeigt wurde, stehen die Kategorien ›Alter‹ und ›Behinderung‹ in einer engen Beziehung zueinander – insofern, als das Alter, insbesondere das hohe Alter, als Behinderung konstruiert wird. Doch auch in gängigen Vorstellungen von Behinderung ist die Kategorie ›Alter‹ wirksam: Beeinträchtige Menschen werden nicht selten als nicht vollwertige Erwachsene betrachtet und behandelt, die, wie Kinder, von der Unterstützung und Pflege durch Betreuungspersonen abhängig sind. In der Selbstwahrnehmung hingegen empfinden sich Menschen mit einer Behinderung – insbesondere, wenn diese nicht angeboren ist – als frühzeitig gealtert. Dies hat wohl mit der Erfahrung von Irreversibilität und Verlust zu tun, die in aller Regel – und in unterschiedlichen Zusammenhängen – als ›Altern‹ kodiert wird: »[T]he body will not – cannot – return to youth or disability. The inability to turn back time becomes a common ground for aged and disabled bodies« (Marshall 2014, 23). In ihren »Notizen« über das Älterwerden schrieb die – an Multipler Sklerose erkrankte und auf den Rollstuhl angewiesene – bekannte Literaturwissenschaftlerin und Essayistin Silvia Bovenschen: »Wenn Alter primär als körperliche Hinfälligkeit gesehen werden müßte, wäre ich früh ganz alt gewesen« (Bovenschen 2008, 39). Als eine Frau, die schon in relativ jungen Jahren lernen musste, mit ihren Beeinträchti-

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gungen zu leben, teilt sie viele Alltagserfahrungen älterer Menschen: »Wegen meiner gesundheitlichen Einschränkungen machte ich zeitversetzt früh schon Erfahrungen, die meistenfalls erst das Alter prägen. ›Wenn ich aufgestanden bin, mich geduscht, mich angezogen habe, dann bin ich so fertig und müde, daß ich gleich wieder ins Bett gehen könnte‹, sagt meine achtundachtzigjährige Freundin F. G. am Telephon. ›Das kenne ich‹, sage ich. ›Wenn ich kleine Arbeitsgänge im Haushalt erledigt habe, die ich früher so nebenbei hinter mich gebracht hätte, muß ich mich gleich wieder hinlegen‹, sagt sie. ›Das kenne ich‹, sage ich. ›Für alles, wirklich für alles, was ich tue, brauche ich jetzt die doppelte, wenn nicht dreifache Zeit‹, sagt sie. ›Das kenne ich‹, sage ich. ›Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an den Tod denke‹, sagt sie. ›Das kenne ich‹, sage ich. Dann erzählt sie mir übergangslos eine witzige Alltagsbeobachtung, die mir sagt, daß sie noch gerne lebt. Dieses Nebeneinander kenne ich auch.« (Bovenschen 2008, 17–18)

Das Alter schreibt sich aus der Perspektive der Disability Studies auch in die Nicht-Behinderung ein, die als ein Nicht-Behindertsein auf Zeit definiert wird: Die Anderen der Beeinträchtigten sind so die nur »vorübergehend nicht Behinderten« (»temporarily able-bodied«; Marshall 2014, 34). Das Alter ist unausweichlich mit dem Stigma der Behinderung behaftet, während Behinderung selbst zwar nicht ohne die Kategorie Alter, sehr wohl aber unabhängig von Vorstellungen von Altsein gedacht und dargestellt werden kann – und meistens auch wird (Chivers 2011, 8). Bemühungen, das Altern mit Behinderung (statt Alter als Behinderung) in den Blick zu nehmen, sind nach wie vor eher rar gesät. Chivers ist uneingeschränkt zuzustimmen, wenn sie feststellt: »Rather than merely read old age as disability, or disability as akin to old age, it is crucial to consider how an older person’s body read as having a disability is different from a younger person’s body read as having a disability.« (Chivers 2011, 22)

Dieses Gelesen-Werden des (jungen respektive alten) behinderten Körpers hängt nicht zuletzt mit dem Gesehen-Werden zusammen. Die Frage der sozialen Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit älterer Menschen ist ein von der Alternsforschung häufig aufgegriffenes Thema, insbesondere die Unsichtbarkeit älterer Frauen oder aber jene von Angehörigen diverser Minder-

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – B Überschneidungsbereiche

heiten, deren Älterwerden mit seinen spezifischen Bedingungen von der Gesellschaft, aber auch von den Aging Studies selbst, nicht immer ausreichend wahrgenommen und berücksichtigt wird. Im Unterschied zu dieser oft konstatierten Unsichtbarkeit der ›Alten‹ teilen Menschen mit Behinderung in der Regel die Erfahrung des AngestarrtWerdens, also einer Hyper-Sichtbarkeit (»hypervisibility«; vgl. Marshall 2014, 27–28). Letztere liegt in einer wahrgenommenen Andersartigkeit, einer offensichtlichen Abweichung von der Norm, begründet. Behinderung wird zu einem »Spektakel« (Garland-Thomson 2009). Da jedoch eine körperliche oder auch geistige Beeinträchtigung als eine mit dem Alter einhergehende Normalität begriffen wird, verändert sich mit dem Älterwerden der Betroffenen auch die Sichtbarkeit der Behinderung: Im – insbesondere hohen – Alter gilt vielmehr körperliche und geistige Fitness als Abweichung. Was in jungen Jahren ein Stigma ist – die Behinderung –, wird unter Umständen auf einer immer schon stigmatisierten »Bühne der Schwäche« (»arena of feebleness«), dem Alter, zur Norm (Chivers 2011, 20). Ein älterer Mensch, der im Rollstuhl sitzt oder eine Gehhilfe benötigt, zieht keine übermäßige Aufmerksamkeit auf sich; eher wird sein Anblick gemieden. Im Anstarren vergewissert sich die starrende Person ihrer eigenen Normkonformität; im Wegsehen verweigert sie den Blick auf die eigene Potentialität als ›nur vorübergehend nicht Behinderte‹. Die Normalisierung von Behinderung im Alter ist freilich nicht unproblematisch. Die speziellen Herausforderungen, vor denen Menschen, die mit einer Behinderung älter werden, stehen, geraten dadurch leicht aus dem Blickfeld. Die Betroffenen verschwinden aus dem »statistischen und kulturellen Register« (Chivers 2011, 20) und erfahren eine Art doppelter Unsichtbarkeit: als Alte einerseits und innerhalb dieser Gruppe noch einmal als Alte mit Behinderung. ›Alt‹ und ›behindert‹ zu sein ist nicht nur eine Summe von Attributen; weder ein rein additives Verhältnis noch ein hierarchisches. Wie die Intersektionalitätsforschung (s. Kap. 46) gezeigt hat, stehen identitätsbildende Merkmale in einem komplexen Wechselspiel miteinander, in dem sich die eine Kategorie über die andere artikuliert oder die andere auch überlagert. Judith Butler hat vorgeschlagen, sich vorzustellen, »[...] jemand müßte alle Namen zusammentragen, mit denen er jemals benannt wurde. Käme da nicht seine Identität in Verlegenheit? Würden nicht manche Namen den Effekt anderer auslöschen?« (Butler 1998,

49). Genau dies ist im Verhältnis von ›Alter‹ und ›Behinderung‹ der Fall. Bovenschen hat die »in Verlegenheit geratende« Identität einer »alternden behinderten Mehrfachkranken« auf den Punkt gebracht (Bovenschen 2008, 90): Sie ist etwas grundlegend anderes, als alt plus behindert plus krank zu sein. Die Behinderung löscht, um noch einmal Butlers Worte aufzugreifen, den Effekt der Jugendlichkeit aus, das Altern wiederum den hyper-sichtbaren Status der (als junge Frau) unheilbar Erkrankten und gehbehindert Gewordenen: »Wenn man über Jahrzehnte an einer unheilbaren Krankheit leidet, ist dieser Zustand irgendwann wie das Leben und das Altern selbst: Die besondere Befristung geht in der allgemeinen auf« (ebd., 109–110). Butler selbst hat die Komplexität ineinandergreifender Identitäten am Beispiel der Wechselbeziehungen von Gender, ›Rasse‹ und Klasse untersucht und dabei aufgezeigt, wie afroamerikanischen Frauen das »Durchgehen (passing) als weiß« Klassenmobilität gewährt sowie sexuelle Freiheit ermöglicht (Butler 1995, 226). Überzeugend legt Butler dar, dass keine Differenz grundlegender als andere Differenzen sei und auch keine »autonome Sphäre von Beziehungen oder Trennungen« darstelle (ebd., 223). Nira Yuval-Davis merkt an, dass z. B. die Kategorie ›Frau‹ nur dann als Einheit gedacht werden könne, wenn alle anderen Formen von Differenz, über die ein Individuum definiert wird, ausgeblendet würden, nämlich Klasse, ethnische Zugehörigkeit, ›Rasse‹, Nationalität, Alter, sexuelle Orientierung sowie Behinderung bzw. NichtBehinderung (Yuval-Davis 1997, 10, 38, 43). Mehr noch, universalisierende Betrachtungsweisen, welche die unterschiedlichen Positionen, die Subjekte in sozialen Beziehungen innehaben, außer Acht lassen, verschleierten meist ihre rassistischen, sexistischen, klassen-, alters- oder behindertendiskriminierenden Grundlagen (ebd., 57). Toni Calasanti spricht folgerichtig von einem »System« von sich überschneidenden Ungleichheiten (»system of intersecting inequalities«; Calasanti 2009, 473–474). Im Hinblick auf Intersektionalität ist es besonders aufschlussreich, Alter und Behinderung nicht nur unter dem Aspekt der Identität zu betrachten, sondern auch unter dem Aspekt der Fürsorge- bzw. Pflegebeziehungen, die Alter und Behinderung involvieren (Kunow 2015). Die demographische Alterung – die Tatsache, dass aufgrund der allgemein steigenden Lebenserwartung und sinkender Geburtenraten der Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung wächst – hat in der sogenannten Ersten Welt zu einem erhöh-

49  Behinderung und Alter

ten Bedarf an Pflegepersonal geführt; mitunter wird sogar schon der ›Pflegenotstand‹ ausgerufen. Der Bedarf an Personal, insbesondere für die häusliche 24-Stunden-Pflege, könnte in vielen Ländern ohne ausländische Arbeitskräfte nicht mehr gedeckt werden. Dadurch ist eine eigene Form der Arbeitsmigration entstanden, die sogenannte Care- oder Pflegekräftemigration. Diese ist geschlechtlich markiert, da sie überwiegend weiblich ist, und wirft Fragen über das Gefälle zwischen Zentren und Peripherien und damit einhergehend über Verteilungsgerechtigkeit auf. Letztlich geht es um »first world care at third world prices [...] under third world conditions« (ebd., 332), um nicht selten illegale Beschäftigungsverhältnisse und, damit verbunden, um ausbeuterische Arbeitsbedingungen. Die Pflege insbesondere älterer Menschen wird zu einer interkulturellen Begegnungszone, wobei diese Arbeit in Deutschland zu einem großen Teil von Polinnen verrichtet wird, in Österreich von Betreuerinnen aus der Slowakei und in den USA von Hispanoamerikanerinnen sowie zunehmend auch von Philippinerinnen. Die Folgen der Pflegekräftemigration werden unterschiedlich bewertet. Diese erscheint mitunter als Win-Win-Situation, denn die Aufnahmeländer profitieren von oft sehr qualifiziertem Personal, das es bevorzugt, in unterqualifizierten Anstellungsverhältnissen zu arbeiten, um wesentlich mehr zu verdienen, als eine qualifizierte Beschäftigung im Herkunftsland es erlauben würde. Das vergleichsweise hohe Einkommen ermöglicht Rücküberweisungen in die Heimat, die den zurückgebliebenen Angehörigen zugutekommen. Die Kehrseite dieses Care Drain – der Abwanderung von (qualifizierten) Pflegekräften – ist der Mangel an Betreuungspersonen in den Sendeländern. Gerade im östlichen und südöstlichen Europa ist in Ermangelung von Pflegeeinrichtungen, vor allem von solchen mit zufriedenstellend hohen Standards, die Pflege älterer Angehöriger nach wie vor eine Familienangelegenheit, und dies heißt: Sache der Töchter und Schwiegertöchter, die nun aber als Pflegemigrantinnen ins Ausland pendeln und für ihre eigenen pflegebedürftigen Nächsten nicht zur Verfügung stehen. Dies wirft ethische Fragen auf und bedeutet für jene, die Pflegeleistungen im Ausland erbringen, sie ihren pflegebedürftigen, im Herkunftsland zurückgebliebenen Eltern aber nicht zukommen lassen, oft einen moralischen, durch die Erwartungshaltung der kulturellen Herkunftsgemeinschaft geprägten inneren Konflikt (Radziwinowiczówna/Rosińska/Kloc-Nowak 2018).

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49.4 Aktuelle Forschungsfragen Alter(n) und Behinderung aus unterschiedlichen Perspektiven zusammenzudenken, eröffnet ein breites Forschungsfeld: Die Untersuchung der Wechselbeziehungen dieser beiden Kategorien liefert wertvolle Einsichten in Prozesse der Identitätsbildung, intersektionelle Herausforderungen und familiäre, soziale, interkulturelle, transnationale und globale, kommerzielle und nicht-kommerzielle sowie in aller Regel geschlechtlich markierte Sorge- und Pflegebeziehungen. Wiewohl es sich, wie oben gezeigt wurde, bei Alter und Behinderung nicht um die gleiche Differenz handelt, erweist es sich für die Aging wie auch für die Disability Studies als vielversprechender Zugang, einander »die Hände zu reichen« (»join hands«; Chivers 2011, 9). Entgegen früheren hartnäckigen »Versuchen, einander zu ignorieren« (ebd.), wird nun zum Gespräch aufgerufen (Lamb 2015). Leni Marshall plädiert für einen fruchtbaren Dialog in einem institutionalisierten Rahmen, den sie als Ageility Studies bezeichnet (Marshall 2014). Ihre sich aus den Wörtern age und ability zusammensetzende Wortneuschöpfung spielt nicht zufällig auf die Chance an, durch die disziplinübergreifende Zusammenarbeit zu einer Wendigkeit zu gelangen, die sich von starren Denkmustern und unhinterfragten Voraussetzungen – auch innerhalb der Alterns- und Behinderungsforschung – befreit und die einen Erkenntnisgewinn durch neue Interpretationsansätze verspricht. Einen solchen liefern die Disability Studies nicht zuletzt durch ihren Fokus auf Behinderung als Potential bzw. Befähigung, eine kritische Position gegenüber normativen Lebensentwürfen einzunehmen; nichtnormative Formen des Auf-der-Welt-Seins werden als Quelle von Wissen und Kreativität erkannt, wertgeschätzt und – nicht zuletzt für die Alternsforschung – nutzbar gemacht (Chivers 2011, 9). Ein breites Feld für disziplinübergreifenden Dialog tut sich unter dem Gesichtspunkt der Intersektionalität auf. Diesbezügliche Forschung hat ihren Fokus zunächst im Wesentlichen auf Gender und ›Rasse‹ bzw. auf Gender und Alter gerichtet und aufgezeigt, wie sich soziale Benachteiligungen nicht einfach kumulieren, sondern sogar »multiplizieren« (Palmore 1997, 4) und eigene Formen von Ungleichheit hervorbringen. Erst in jüngerer Zeit gerät das Zusammenwirken von Formen der Diskriminierung aufgrund von Alter und Behinderung zunehmend in den Blick von Forscherinnen und Forschern. Dass es sich dabei aber nach

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – B Überschneidungsbereiche

wie vor um eine grob vernachlässigte Fragestellung handelt, zeigt nicht zuletzt die fehlende Auseinandersetzung damit in einschlägigen alternswissenschaftlichen Handbüchern, selbst wenn diese dem Themenbereich »Intersektionalität und Alter« ganze Einträge widmen (z. B. Twigg/Martin 2015). Großes Interesse herrscht in der kulturwissenschaftlichen Alternsforschung gegenwärtig an dem Themenkomplex der Pflege, der Alter und Behinderung zusammenführt. Die Pflegebedürftigkeit ist integraler Bestandteil des Vierten Alters als eines ›sozialen Imaginären‹, das Projektionsfläche für kollektive Ängste vor dem Verlust von Status, Handlungsfähigkeit und dem des eigenen Zuhauses ist. Wie Gilleard und Higgs argumentieren, ist es dabei weniger die körperliche Beeinträchtigung, die für das Vierte Alter steht, als die geistige, und hierbei insbesondere die Alzheimer-Krankheit als häufigste Form der Demenz; sie sei der Signifikant, der im sozialen Imaginären die Hochaltrigkeit als ›eigentliches‹ Alter repräsentiere: »More perhaps than any other condition affecting people in later life, Alzheimer’s has come to symbolize all that is most terrifying about old age and to serve as the dominant discursive frame for the fourth age« (Gilleard/Higgs 2017, 232). Das Interesse an unterschiedlichen Demenznarrativen – an wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Diskursen sowie medialen und literarischen Repräsentationsformen in verschiedenen kulturellen Kontexten – überragt, so kann behauptet werden, in der aktuellen Alternsforschung alle anderen Fragestellungen. Untersucht wird speziell auch die Repräsentierbarkeit der Demenzerfahrung, sowohl aus der Sicht der Erkrankten selbst als auch aus jener der pflegenden Angehörigen. Kunstformen wie Literatur oder Film mit ihren jeweils spezifischen Ausdrucksmöglichkeiten (s. Kap. IV) geraten hierbei zunehmend in den Fokus der lange medizinisch dominierten Demenzforschung. Im Zusammenhang mit Demenz und Pflegebedürftigkeit steht auch die verstärkte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit historischen, aktuellen und alternativen Formen von Pflegebeziehungen. Aus geistes- und kulturwissenschaftlicher Perspektive werden traditionellerweise den medizinischen Wissenschaften vorbehaltene Themen und Konzepte analysiert und neu bewertet (Medical Humanities). Insbesondere herrschen Bemühungen vor, nicht zuletzt für die professionelle Pflege Konzepte zu entwickeln, die Pflege – care – im weiteren Sinne als reziproke Sorgebeziehung verstehen und nicht als hierarchisches

Machtgefälle, in dem die Entscheidungsautonomie und Handlungsfähigkeit des oder der Gepflegten gefährdet erscheint. Besondere Aufmerksamkeit erfährt daher auch das Pflegeheim als Institution, die wie keine andere für das Vierte Alter steht. Mit Blick auf die Geschichte des Altersheims stellen Gilleard und Higgs seit den 1990er Jahren eine »Verdichtung von Behinderung« in jener Institution fest, die früher keineswegs nur im Alter pflegebedürftig gewordene, sondern vor allem im Alter verarmte Menschen beherbergte (Gilleard/ Higgs 2017, 239). Im 21. Jahrhundert ist das Vorhandensein bzw. Nicht-Vorhandensein einer Demenzerkrankung zu jenem Faktor geworden, der ausschlaggebend dafür ist, ob ein Mensch in ein Altersheim kommen wird oder nicht: »In the new millennium, dementia and the nursing home have become indissoluble entities, the latter the institutional location where the former reaches its ultimate form. They serve as the collective representation of the fourth age, signifiers of the failure to age well, to age mindfully, and to sustain practices of selfcare.« (Gilleard/Higgs, 235)

Die Frage, wie gute Pflege in dermaßen veränderten Langzeitpflegeeinrichtungen aussehen könnte und sollte, beschäftigt Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Disziplinen und kann wohl auch nur von diesen gemeinsam beantwortet werden. Es ist nicht zuletzt die Literaturwissenschaft, die wertvolle Einsichten in das Gelingen und Misslingen von Pflegearrangements liefert und zur Klärung des Problems beiträgt, warum »Hundertjährige« in der (Pflegeheim-)Literatur so gerne »aus dem Fenster steigen«, wie es im Titel von Jonas Jonassons bekanntem Roman aus dem Jahr 2009 heißt. Literarische Texte vermitteln insbesondere auch die subjektive Wahrnehmung der Betroffenen; sie lassen unterschiedliche, auch widersprüchliche Anschauungen aufeinanderprallen und miteinander in einen produktiven Dialog treten (vgl. Chivers/Kriebernegg 2017, 20). Über die Geschichte ihres Alterns mit Behinderung schreibt Bovenschen: »Irgendwann fiel mir auf, daß ich mein Älterwerden in zwei kraß unterschiedenen Versionen erzählen könnte: als gesundheitliche Katastrophenabfolge. Eine Horrorgeschichte. Ich könnte damit Leute erschrecken. Zugleich aber kann ich mein Leben in eine helle Erzählung bringen.« (Bovenschen 2008, 104)

49  Behinderung und Alter

Diese unterschiedlichen und oftmals auch »hellen« Lesarten von Behinderung im Alter finden sich in der Literatur zuhauf. Bilder, so auch literarische Bilder, erlangen, in Silvia Bovenschens Worten, »Wirkmächtigkeit« – begegnen uns also als Rollenvorbilder, die häufig nur allzu reale Gestalt annehmen (Bovenschen 1979). Die literaturwissenschaftliche Alternsforschung (Literary Gerontology) hat es sich zur Aufgabe gemacht, bestehende Bilder zu hinterfragen und alternative Rollen verfügbar zu machen, nicht zuletzt durch resignifizierende Lektüren literarischer Texte. In diesen erhält die Beeinträchtigung des älteren Menschen oftmals eine neue Deutung und wird nicht als behindernd, sondern vielmehr als befähigend dargestellt. Das sichtbare Zeichen der Behinderung – ein Hörrohr, ein Rollstuhl, eine Gehhilfe – wird zum Instrument der Selbstermächtigung, das Signal der Schwäche wird zum Mittel der Stärke – so z. B. in der Erzählung Die Pikdame (Pikovaja dama, 1998) der bekannten russischen Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja, in der die Gehhilfe der tyrannischen alten Murr als deren »Kommandobrücke« erscheint, von der aus sie die Geschicke ihrer Familie lenkt (Ulitzkaja 1999, 73). In Leonora Carringtons Roman Das Hörrohr (The Hearing Trumpet, 1974) erlaubt Letzteres der Protagonistin Marian Leatherby, als sie es geschenkt bekommt und endlich wieder richtig hört, die Aufdeckung der Wahrheit. Und in Dubravka Ugrešićs Roman Baba Jaga legt ein Ei (Baba Jaga je snijela jaje, 2008) hindern ein Rollstuhl und fortschreitende Demenz die drei alten Damen Beba, Kukla und Pupa nicht daran, eine abenteuerliche Reise in ein postkommunistisches Kurbad zu unternehmen und als dreifache Inkarnation der schicksalsmächtigen russischen Mythengestalt Baba Jaga allerlei folgenschwere Taten zu vollbringen. All diese Texte fordern auf, körperliche und geistige Beeinträchtigungen nicht als Schwäche und Makel zu sehen, und erweitern dadurch, ganz im Sinne der Kulturwissenschaften, unseren Vorstellungshorizont in Bezug auf Behinderung und Alter. Literatur

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Dagmar Gramshammer-Hohl

50  Behinderung, Migration und Flucht

50 Behinderung, Migration und Flucht Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und der Fluchtmigration seit 2014 lässt sich ein wachsendes erziehungswissenschaftliches und (sozial)pädagogisches Interesse an der Schnittstelle von Migration, Flucht und Behinderung verzeichnen (ausführlich dazu Wansing/Westphal 2014; 2018). Familien im Kontext von Migration und Behinderung gelten als eine schwer durch das Hilfesystem zu erreichende Zielgruppe. Im Bundesteilhabebericht von 2016 heißt es, dass von den 16,6 Mio. Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland 1.580.120 Menschen eine Beeinträchtigung hatten; dies entspricht einem Anteil von 9,5 %. Dieser Anteil ist niedriger als der Anteil der Menschen mit Beeinträchtigungen an der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund (16,7 %) (ausführlich vgl. BMAS 2016, 455–456). Da der Erhalt von Leistungen durch das Hilfesystem auch immer abhängig ist von der sozialrechtlichen Definition von Behinderung bzw. von der Attestierung einer Behinderung, werden in der Interpretation der Daten Zugangsprobleme zum System der Behindertenhilfe als Ursache vermutet. Auf der Suche nach Gründen für die geringe Inanspruchnahme bzw. die fehlende Attestierung einer Behinderung dominieren meist kulturalistische Deutungsmuster, die z. B. kulturell oder religiös bedingte unterschiedliche Umgangsweisen mit oder Reaktionen auf Behinderung unterstellen. Im Folgenden werden diese kulturalistischen Deutungsmuster in Bezug auf ihre Rezeption in den oben genannten Forschungsund Arbeitsfeldern dargestellt und aus einer migrationspädagogischen Perspektive kritisch analysiert.

50.1 Religiös-spirituelle Konzepte Im Allgemeinen ist der Kulturbegriff wenig konturiert und beschreibt keinen spezifischen Gegenstandsbereich. Im Kontext der Kulturwissenschaften gilt ›Kultur‹ als eine Analyseperspektive, die einen »Gesamtkomplex von Vorstellungen, Denkformen, Empfindungsweisen, Werten und Bedeutungen« umfasst, »der sich in Symbolsystemen materialisiert« (Nünning/Nünning 2003, 6). In Diskursen um Migration zeigt sich allerdings, dass Kultur spezifisch situiert ist. Hier dominieren Ideen über Kulturen als ›geschlossene Container‹ in kulturell homogenen Nationalstaaten.

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Das Ziel migrationspädagogischer Theoriebezüge, ein verändertes, offeneres Verständnis von Kultur und Identität zu entwickeln, um dem »Gefängnis der binären Dichotomien« zu entkommen (Bachmann-Medick 1998, 21) und den totalitätsorientierten durch einen bedeutungsorientierten Kulturbegriff abzulösen (vgl. Reckwitz 2006), wird heute durch eine völkische Aufladung der Kulturdebatte torpediert. Dies zeigt sich auch in der Wiederbelebung der Leitkulturdebatte in Deutschland, in der insbesondere die ›islamische Kultur‹ als Gegenbild einer ›abendländisch-christlichen Kultur‹ konstruiert wird. Dabei dient der Kulturbegriff vor allem dazu, Zweifel an der Integrationsfähigkeit von Menschen sogenannter fremder Kulturen zu formulieren, um dies als Argument für migrationspolitische Regulierungen zu verwenden. Die Wiederbelebung des Kulturbegriffs lässt sich außerdem im Kontext von Bildungsbenachteiligung finden, in dem kulturalistische Bilder reaktiviert werden. Beispielsweise wird Eltern unterstellt, aufgrund traditionell geprägter pädagogischer Vorstellungen und einem für Migrant*innen spezifischen, angeblich kulturell bedingten Bildungsverhalten für die Benachteiligung ihrer Kinder im Bildungssystem selbst verantwortlich zu sein (Karakaşoğlu 2009, 180). Die folgenden Ausführungen zeigen, dass diese Bilder auch im Kontext von Migration und Behinderung (re)produziert werden – allerdings in verdichteter Form und mit einer Verschiebung in der Akzentuierung.

50.2 Besonderheiten von ›Kultur‹ Um Menschen im Kontext von Migration und Behinderung im Sinne der UN-BRK unterstützen zu können, werden in verschiedenen Praxisfeldern Strategien zur sogenannten ›interkulturellen Öffnung‹ des Hilfesystems diskutiert. In entsprechenden Handlungsempfehlungen werden Tipps formuliert, in denen die Kategorie ›Kultur‹ als zentrale Differenzkategorie für den Kontext von Migration und Behinderung fungiert. In dieser Sichtweise existieren die Barrieren im Zugang zu Unterstützung und Bildung vor allem innerhalb der Familie. Deren Umgang mit der Behinderung des Familienangehörigen und ihre kulturspezifische Deutung von Behinderung, so die Annahmen, entsprächen nicht den Vorstellungen vom Empowerment der Behindertenhilfe. Die diskutierten Kulturkonzepte gehen demnach von einer kulturellen Differenz zwischen ›eingewanderten‹ und ›alteingesessenen‹ Familien aus. Diese wird als mögli-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_50

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – B Überschneidungsbereiche

che Ursache für die mangelnde Inanspruchnahme des Hilfesystems in Betracht gezogen. Die Aneignung von Grundlagenwissen wird zum Hilfsmittel für die Interaktion zwischen Fachkräften und den Familien und gilt schließlich als Grundlage für die Entwicklung einer ›Kultursensibilität‹, die für die Beratung der Familien als notwendig erachtet wird (Kauczor 2008, 73). Im Fokus dieser Handreichungen stehen meist Familien, die als muslimisch positioniert werden. Sie vermitteln ein ›Wissen über den Volksglauben‹ sogenannter islamischer Kulturkreise (gemeint sind die Türkei, Iran und diverse arabische Länder) (z. B. Skutta 1998; Lanfranchi 1998; Polat 2002, 69–70; Rauscher 2003; Yenice-Cağlar 2008, 154–155; Van Dillen 2008, 43): Sie unterscheiden z. B. Formen des Naturalismus, Animismus, Magie und Mystik (vgl. Assion 2004) und erläutern Hintergründe zum ›Bösen Blick‹, der als neidvoller Blick der Anderen als Erklärung für ein negatives Ereignis gelte – ein Erklärungsansatz, der immer aktiviert werde, wenn ein Ereignis, beispielsweise eine Behinderung durch eine Infektion o. Ä., plötzlich und unerwartet auftrete. In islamischen Ländern seien zudem verschiedene Formen magischer Praktiken bekannt. Die schwarze Magie diene in der türkischen Volksmedizin u. a. als Erklärungsmodell für die verschiedensten Erkrankungen. Zum Schutz vor magischen Einflüssen werden wiederum magische Rituale z. B. durch einen Heiler durchgeführt. Die oben beschriebenen Einblicke in ›islamische Kulturkreise‹ werden schließlich als kulturelle Differenzen in der Migrationsgesellschaft erkannt und für die pädagogische Arbeit aufbereitet: Sie liefern die Begründung dafür, warum Familien diverse Unterstützungsangebote nicht in Anspruch nehmen (Beyer 2003, 11). Behinderung sei tabuisiert und führe in Familien häufig zu Scham und zu Ängsten. Dies mache Beratungen schwierig und die Weitergabe von Kenntnissen über Behinderungen unmöglich (Van Dillen 2008, 43). Die Ontologisierung der ›muslimischen Familie‹ wird dabei in zwei Schritten vollzogen: Zunächst betrachten die Autor*innen allgemeine Untersuchungen, die sich mit Behinderung und Krankheitsbildern im Islam, dem sogenannten Volksglauben und der Volksmedizin in sogenannten islamischen Kulturkontexten (böser Blick, Heiler und Hodschas, schwarze Magie etc.) befassen. Dieses Wissen sei für das Verstehen des Umgangs mit behinderten Kindern in ›türkischen Familien‹ notwendig (Rauscher 2003, 410). Die Forschungen zum Umgang mit Behinderung im Islam bzw. in der islamischen Theologie und die ethnologi-

schen Beobachtungen sogenannter islamischer Kulturkreise werden in einem zweiten Schritt in diversen Publikationen und in Fortbildungen als spezifisch für eine türkische Herkunft bzw. für muslimische Familien in Deutschland beschrieben und als Ratgeber an Fachkräfte vermittelt. Im Bemühen um einen differenzierteren und weniger defizitorientierten Blick auf muslimische Familien existieren auch allgemeine Arbeiten zur Stellung von behinderten Menschen im Islam. Darin werden Leitgedanken der islamischen Soziallehre vermittelt, die, so beispielsweise die Ausführungen von Al Munaizel, auf dem Grundgedanken basieren, dass eine etwa durch Krankheit oder Behinderung in Not geratene Person auf den Schutz der islamischen Gemeinschaft zählen könne (Al Munaizel 1995). Zur Untermauerung werden auch konkrete Bezüge zum Koran hergestellt, wie im folgenden Beispiel zu sehen ist. Al Munaizel zitiert die 4. und 24. Sure im Koran: »Und gebet nicht den ›sufaha‹ [hiermit sind alle Menschen gemeint, die aufgrund einer sog. geistigen Behinderung oder durch andere Gründe nicht in der Lage sein sollen, ihre Gelder selbst zu verwalten] euer Gut, das Gott euch gegeben hat zum Unterhalt. (stattdessen) Versorgt sie mit ihm und kleidet sie und sprecht zu ihnen mit freundlichen Worten. [...] Es ist kein Vergehen für den Blinden und kein Vergehen für den Lahmen und kein Vergehen für den Kranken und für euch selber, in euren Häusern oder den Häusern eurer Brüder oder den Häusern eurer Schwestern oder den Häusern eurer Vatersbrüder oder Häusern eurer Vatersschwestern oder Häusern eurer Mutterbrüder oder in denen, deren Schlüssel ihr besitzet oder eures Freundes, zu essen.« (Koran, 4. Sure, 4 und 24. Sure, 60 m zit. nach Al Munaizel 1995, 13)

Das Vorgehen, Zitate aus dem Koran losgelöst aus dem Kontext anzuführen, um einen bestimmten Umgang mit Behinderung zu begründen, bleibt nicht ohne Kritik. Ghaly kritisiert, dass damit die Komplexität der Diskussion um Behinderung in der islamischen Theologie kaum abgebildet werden kann. In seinen Ausführungen Islam and Disability zeichnet er den innerislamischen theologischen Diskurs nach und betont die große Uneinigkeit unter Theolog*innen bezüglich des Verstehens der religiösen und spirituellen Dimension von Behinderung (Ghaly 2009, 249). So gilt die ›Zeichnung‹ durch einen Gott, der ›Leid‹ zulässt, für einige theologische Schulen als unlösbares Problem (AntiTheodicy Approach). Für diverse Gruppen von Sufis

50  Behinderung, Migration und Flucht

und Philosoph*innen, so Ghaly, gelte hingegen, dass die Liebe zu Gott keine Behinderung durch eine Beeinträchtigung empfinden ließe. Im Gegenteil: Die Beeinträchtigung wird hier zum Zeichen der Liebe Gottes und einer Auszeichnung durch Gott. Zwischen diesen beiden Positionen stehe nach Ghaly die Mehrheit der islamischen Gelehrten. Sie sehen es als Aufgabe der Theologie, die Existenz von Behinderung zu ergründen und zu erklären. Letztlich betont Ghaly, dass zwischen der religiösen Lehre und dem Alltagshandeln der Gläubigen ohnehin große Unterschiede festzustellen seien und fordert: »[...] much work remains to be done in understanding the religious and spiritual dimensions of disability and rehabilitation. Specifically, more research is needed that examines not only the association of religious and spiritual involvement but also the ways people deploy their religion or spirituality to cope with the challenges of disability and rehabilitation.« (Ghaly 2009, 3)

Die den kulturspezifischen Ansätzen zugrundeliegende Annahme ist auch insofern problematisch, als sie davon ausgeht, in Deutschland lebende migrantisierte Familien seien ohne Unterschied von einer in sich homogenen und durch die Religion des Islam dominierten Kultur des Herkunftslands geprägt – und das selbst dann, wenn sie schon seit Generationen in Deutschland leben. Mit Hilfe einer hegemonialen Praxis werden aus einer kulturalistischen Perspektive heraus Wahrnehmungen von Verhaltensweisen ausschließlich auf eine Differenz zurückgeführt. Die Kategorie ›Kultur‹ konstruiert Gruppen, ordnet diesen Eigenschaften zu und schafft damit die machtvolle Unterscheidung zwischen einem ›Wir‹ und ›den Anderen‹ (vgl. Beck-Gernsheim 2004). Dieser Mechanismus kommt meist dann ins Spiel, wenn es um die Kultur der Anderen geht. Über die Ursachen der verschärften Form der Verwendung kulturspezifischer Ansätze im Kontext von Migration und Behinderung und der Stabilität des ›totalitätsorientierten‹ Kulturbegriffs sowohl in pädagogischen Handlungsempfehlungen als auch in empirischen Untersuchungen kann nur gemutmaßt werden. Es fällt auf, dass sich bislang vorwiegend die Heil- und Sonderpädagogik sowie die Behindertenhilfe mit dieser Schnittstelle befassen (was vermutlich mit den Verpflichtungen durch die Ratifizierung der UN-BRK zusammenhängt), während kaum Impulse aus der Migrationssozialarbeit bzw. aus der erziehungswissenschaftlichen Migrationsforschung kommen und

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damit auch die Auseinandersetzungen mit dem Kulturbegriff fehlen.

50.3 Qualitative Studien zur Schnittstelle von Migration und Behinderung Einblicke in die Deutungsmuster von Familien im Kontext von Migration und Behinderung geben neuere qualitative Studien, die die Berechtigung einer Verwendung kulturspezifischer Erklärungsansätze im Kontext von Behinderung und Migration zunehmend bezweifeln lassen. So können die Arbeiten von Halfmann (2012), Kohan (2012) und Sarimski (2013) dazu beitragen, gängige Klischees an der Schnittstelle von Migration und Behinderung zu hinterfragen und konkrete Hinweise auf Bedarfe der Familien geben. Die Studien heben die große Bedeutung hervor, die Eltern dem Hilfesystem beimessen, z. B. den Wunsch nach Entlastung im Alltag und bei der Beantragung von Unterstützung. Allerdings bleiben auch in diesen Studien die Ressourcen der Familien unberücksichtigt, stattdessen überwiegt eine defizitorientierte Perspektive auf Familie. So schildern in Sarimskis (2013) qualitativer Untersuchung nicht nur 16 Eltern türkischer Herkunft ihre Erfahrungen mit dem Hilfesystem, sondern es kommen auch diverse Fachkräfte des Hilfesystems zu Wort. Diese kritisieren den regen Kontakt der Familien zum Herkunftsland und mutmaßen, dass sich dort angewendete Methoden – z. B. vermeintliche Kontakte zu Heiler*innen – nachteilig auf die behinderten Kinder auswirken könnten. Die Einschätzung der Fachkräfte bleibt in der Studie unkommentiert. Gleichzeitig resümiert der Autor auf der Basis der Interviews mit den Eltern, dass kulturspezifische Ansätze zum Umgang mit Behinderung in den Familien nicht zum Tragen kommen. Diese Erkenntnis bestätigt auch Halfmann (2012). Die Ergebnisse ihrer Einzelfallanalysen zeigen, ähnlich wie bei Sarimski, dass Strategien im Umgang mit Behinderung kulturunspezifisch sind, und widersprechen den vorherrschenden Annahmen von Akteur*innen des Hilfesystems. Die Diskrepanz zwischen gängiger Vorannahme und Ergebnis ihrer Untersuchung erklärt Halfmann, indem sie spekuliert: Durch die komplexe Behinderung ihrer Kinder seien Eltern gezwungen, den Kontakt zu medizinischen Versorgungsstrukturen früh aufzunehmen und sich mit den hiesigen Sichtweisen auf Behinderung auseinanderzusetzen. Durch die Verknüpfung einer her-

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – B Überschneidungsbereiche

kunftsspezifischen mit einer deutschen Perspektive entwickelten die Eltern eine ›bikulturelle Perspektive‹ auf Behinderung (Halfmann 2012, 196). Diese Eltern lernten über die medizinische Versorgung die deutsche Struktur der Behindertenhilfe frühzeitig kennen und nutzen. Ärzt*innen aus demselben Herkunftsland wie die sie aufsuchenden Familien könnten allerdings diesen Prozess vereiteln. Ob kulturspezifische Ansätze in der Behandlung zum Tragen kämen, könne in diesen Fällen davon abhängen, wo die Ärzt*innen ihre Ausbildung absolvierten. Offen bleibt hier, wie die ›deutsche‹ Perspektive operationalisiert und von anderen trennscharf unterschieden wird. Für Halfmanns Ausführungen werden keine eigenen empirischen Daten als Belege herangezogen, um die kulturalisierenden Vorannahmen kritisch zu hinterfragen. Stattdessen wird nach Ansatzpunkten gesucht, um diese Vorannahmen trotz gegenteiliger Ergebnisse zu bestätigen. Die Annahme und Setzung einer Kulturdifferenz zwischen Herkunftsland und Deutschland trägt zur ›Besonderung‹ bei. Dabei wird das Othering von Familien im Migrationskontext in ein asymmetrisches Beziehungsgefüge eingeordnet. Aus einer eurozentrischen Perspektive werden Differenzen hierarchisiert (Rommelspacher 2008, 118). Während die ›deutsche Perspektive‹ auf Behinderung als förderlich und mustergültig dargestellt wird, ist der Umgang mit Behinderung in der Türkei (und anderen Herkunftsländern) in einer Weise beschrieben, die wenig förderlich, sogar schädlich ist. Beide Umgebungen werden argumentativ wenig ausdifferenziert; die Differenz liegt allein zwischen den als national konstruierten Kulturen. Vernachlässigt bleiben die vielfältigen möglichen Heterogenitätsdimensionen wie etwa der soziale oder rechtliche Status. Ihre Berücksichtigung könnte jedoch dazu beitragen, eine differenzierte Sichtweise auf die komplexen Umstände herauszuarbeiten, die zu spezifischen Umgangsweisen mit Behinderung in konkreten Situationen und Konstellationen beitragen. Dagegen führt der eindimensionale Zugang dazu, allen Familien – ungeachtet ihrer konkreten Situation und Bedürfnisse – die gleichen Ratschläge zu geben. Der angeblich optimale Umgang mit einer Behinderung folgt einem statischen Verständnis von Wissen und basiert auf keiner umfassenden Analyse. So verweist eine intersektional (s. Kap. 46) angelegte Studie zur Lebenssituation von Familien an der Schnittstelle von Migration und Behinderung (vgl. Amirpur 2016) auf die Relevanz und die Interdependenz weiterer Herrschaftsverhältnisse bei der Suche

nach Ursachen für die Schwierigkeiten im Zugang zum Hilfesystem: Es ist insbesondere die Verwobenheit von Klassismen und Geschlechterverhältnissen, Ableism (s. Kap. 47, 51) und Rassismus, die sich auf die Handlungsmöglichkeiten und Spielräume der Familien auswirken. Linguale Machtstrukturen im System der Behindertenhilfe, Benachteiligungen bei Antragstellungen und Erfahrungen mit rassistischen Diskriminierungen führen dazu, dass die Familien nicht im System ankommen. Gerade im Gesundheitswesen scheint eine ethnische Hierarchie wirksam zu werden, die nicht nur die »individuellen Begegnungen zwischen KlientInnen und Fachpersonal prägen, sondern auch die strukturellen Maßnahmen, die eine Institution ergreift« (Rommelspacher 2008, 202). Die Parallelen und Überschneidungen zum Behinderungsdiskurs sind deutlich: Kulturspezifische Ansätze, so scheint es, sind für die Migrationspädagogik das, was für die Disability Studies das medizinische Modell von Behinderung (s. Kap. 4) darstellt: Es werden Verschiedenheiten konstruiert, die in ein ›Wissen über die Andere/den Anderen‹ münden und dieser/diesem Abweichung oder Defizite unterstellen. Dieser Othering-Prozess hat die Funktion, das Machtverhältnis zwischen ›Wir‹ und ›die Anderen‹ zu legitimieren. Das vermeintliche Wissen über Migration und Behinderung wird dann in Strukturen, Handlungsabläufen, Regelungen und Umgangsweisen institutionalisiert, so dass, »auch wenn nicht von Migration und Behinderung die Rede ist, das hegemoniale Wissen über Behinderung und Migration und das, was es jeweils nicht ist, darin ein- und aufgeht« (Attia 2013, 14). Beide Forschungszweige, der zu Behinderung und der zu Migration, fordern strukturelle Maßnahmen und wissenschaftliche Perspektiven, die die Mechanismen aufzudecken vermögen, die Benachteiligung, Diskriminierung und Marginalisierung verursachen – ganz im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention. Literatur

Al Munaizel, Musa: Behinderung im Islam. In: Behinderung und Dritte Welt 1 (1995), 10–14. Amirpur, Donja: Migrationsbedingt behindert? Familien im Hilfesystem. Eine intersektionale Perspektive. Bielefeld 2016. Assion, Hans J.: Traditionelle Heilpraktiken türkischer Migranten. Berlin 2004. Attia, Iman: Rassismusforschung trifft auf Disability Studies. 2013, https://www.zedis-ev-hochschule-hh.de/files/attia_ rassismusforschung_ds.pdf (31.10.2019). Bachmann-Medick, Doris: Dritter Raum: Annäherungen an ein Medium kultureller Übersetzung und Kartierung. In:

50  Behinderung, Migration und Flucht Claudia Breger/Tobias Döring (Hg.): Figuren der/des Dritten: Erkundungen kultureller Zwischenräume. Amsterdam/Atlanta 1998, 19–35. Beck-Gernsheim, Elisabeth: Wir und die Anderen. Frankfurt a. M. 2004. Beyer, Ina: Im besten Sinne bunt. In: DAS BAND, Zeitschrift des Bundesverbandes für Körper- und Mehrfachbehinderte e. V. 3 (2003), 9–12. BMAS: Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen 2016, http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDFPublikationen/a125–16-teilhabebericht.pdf?__ blob=publicationFile&v= 9 (26.07.2018). Feuser, Georg: Geistigbehinderte gibt es nicht. 1996, http:// bidok.uibk.ac.at/library/feuser-geistigbehinderte.html (19.09.2019). Ghaly, Mohammed: Islam and Disability: Perspectives in Theology and Jurisprudence. New York 2009. Halfmann, Julia: Migration und Komplexe Behinderung. Eine qualitative Studie zu Lebenswelten von Familien mit einem Kind mit Komplexer Behinderung und Migrationshintergrund in Deutschland. 2012, http://kups.ub.unikoeln.de/4950/ (01.03.2013). Karakaşoğlu, Yasemin: Beschwörung und Vernachlässigung der Interkulturellen Bildung im ›Integrationsland‹ Deutschland – ein Essay. In: Wolfgang Melzer/Rudolf Tippelt (Hg.): Kulturen der Bildung. Beiträge zum 21. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft). Opladen 2009, 177–198. Kauczor, Cornelia: Migration, Flucht und Behinderung – Eine transkulturelle Behindertenhilfe als gesellschaftliche und institutionelle Herausforderung für Deutschland. In: Cornelia Kauczor/Stefan Lorenzkowski/Musa Al-Munaizel (Hg.): Migration, Flucht und Behinderung. Essen 2008, 69–81. Kohan, Dinah: Migration und Behinderung: eine doppelte Belastung? Freiburg 2012. Lanfranchi, Andrea: Vom Kulturschock zum Behinderungsschock. Beratung in der Frühförderung mit »Fremden«. In: Frühförderung interdisziplinär: Zeitschrift für Frühe Hilfen und frühe Förderung benachteiligter, entwicklungsauffälliger und behinderter Kinder 3 (1998), 116– 124. Nünning, Vera/Nünning, Ansgar: Kulturwissenschaften.

281

Eine multiperspektivische Einführung in einen interdisziplinären Diskussionszusammenhang. In: Dies. (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven, Stuttgart 2003, 1–8. Polat, Halil: Chancengleichheit und Hilfen auch für MigrantInnen! Behinderung und dritte Welt. Zeitschrift des Netzwerkes Behinderung und Dritte Welt 2 (2002), 68–70. Rauscher, Iris: Zur Situation von türkischen Migrantenfamilien mit behinderten Kindern in der BRD. In: Behindertenpädagogik 42 (2003), 402–416. Reckwitz, Andreas: Die Transformation der Kulturtheorien. Weilerswist 2006. Rommelspacher, Birgit: Tendenzen und Perspektiven interkultureller Forschung. In: Birgit Rommelspacher/Iris Kollak (Hg.): Interkulturelle Perspektiven für das Sozial- und Gesundheitswesen. Frankfurt a. M. 2008, 115–134. Sarimski, Klaus: Wahrnehmung einer drohenden geistigen Behinderung und Einstellungen zur Frühförderung bei Eltern mit türkischem Migrationshintergrund. In: Frühförderung interdisziplinär 1 (2013), 3–16. Skutta, Sabine: Leiden oder Bewältigen. Türkische Familien mit einem behinderten Kind. Anpassungs- und Bewältigungsformen. In: Eckhardt von Koch/Metin Özek/Wolfgang M. Pfeiffer (Hg.): Chancen und Risiken von Migration. Freiburg 1998, 124–133. Van Dillen, Ton: Erfahrungen aus Europa: Migration und Behinderung. Ein Thema in den Niederlanden, dem multikulturellen Staat? In: Cornelia Kauczor/Stefan Lorenzkowski/Musa Al-Munaizel (Hg.): Migration, Flucht und Behinderung. Essen 2008, 39–46. Wansing, Gudrun/Westphal, Manuela: Behinderung und Migration. Kategorien und theoretische Perspektiven. In: Gudrun Wansing/Manuela Westphal (Hg.): Behinderung und Migration. Inklusion, Diversität, Intersektionalität. Wiesbaden 2014, 17–48. Wansing, Gudrun/Westphal, Manuela: Migration, Flucht und Behinderung. Wiesbaden 2018. Yenice-Cağlar, Yüksel: Sozialpädagogische Familienberatung für türkische Familien mit behinderten Kindern. In: Cornelia Kauczor/Stefan Lorenzkowski/Musa Al-Munaizel (Hg.): Migration, Flucht und Behinderung. Essen 2008, 139–148.

Donja Amirpur

C Inklusion und Exklusion 51 Stigma, Tabu und Behindertenfeindlichkeit am Beispiel der Medien Stigmatisierung, Tabuisierung und Behindertenfeindlichkeit stellen für Menschen mit Behinderung vielfältige Einschränkungen und Barrieren hinsichtlich ihrer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben dar und erfahren vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) erhöhte Aufmerksamkeit. Im Folgenden geht es neben einem konzeptionellen Verständnis von Stigmatisierung, Tabuisierung und Behindertenfeindlichkeit um die Frage, wie mediale Repräsentationen von Behinderung dazu beitragen. Darüber hinaus soll auch beleuchtet werden, wie medial vermittelte Kommunikation und Mediendarstellungen diesen negativen Prozessen entgegenwirken und welche Potentiale für die gesellschaftliche, insbesondere kulturelle Teilhabe von Menschen mit Behinderung (s. Kap. 16) damit nutzbar gemacht werden können (vgl. Ritterfeld/Hastall/Röhm 2014). Mit dieser zweiseitigen Perspektive von negativen und positiven Aspekten von Medienwirkungen wird bereits deutlich, dass nicht eine Bewertung von Medien schlechthin, also etwa von Print- oder audiovisuellen Medien, das Ziel ist, sondern es vielmehr um die Art und Weise medialer Darstellungen von Behinderung geht. Da diese höchst unterschiedlich ausfallen können, sind auch die Wirkungsvalenzen unterschiedlich und können sowohl zur Stigmatisierung, Tabuisierung und Behindertenfeindlichkeit als auch zu Aufklärung, Bewusstseinsbildung und Inklusion beitragen.

51.1 Stigmatisierung, Tabuisierung und Behindertenfeindlichkeit Ausgehend von Erving Goffmans (1963) Grundlagenwerk Stigma. Notes on the Management of Spoiled Identity fand der Begriff ›Stigma‹ Einzug in die sozial-

wissenschaftliche und nicht zuletzt auch kulturwissenschaftliche Forschung. Demnach kann ein Stigma zunächst als das Merkmal einer Person definiert werden, das mit einem herabwürdigenden Vorurteil verbunden ist. Ein Stigma macht eine »vollkommene und gewöhnliche« zu einer »befleckten und abgewerteten« Person (vgl. Goffman 1963, 2–3). Goffman unterscheidet zwischen diskreditierten und diskreditierbaren Stigmata, die unterschiedliche Konsequenzen für die Identität der betroffenen Person haben können: Als diskreditiert gelten alle sichtbaren Merkmale wie Narben oder körperliche Behinderungen, die nicht verborgen werden können. Das Bewusstsein dieser Sichtbarkeit des Stigmas beeinflusst sowohl Gedanken, Gefühle und Verhalten der Betroffenen und damit deren soziale Identität als auch die Reaktionen anderer Personen. Als diskreditierbar können wiederum alle nicht sichtbaren Merkmale verstanden werden, wie etwa psychische Erkrankungen oder intellektuelle Beeinträchtigungen, die prinzipiell verborgen werden können, aber bei Offenlegung Stigmatisierung hervorrufen. Auch wenn die betroffenen Personen nicht in jeder Situation direkten Reaktionen ausgesetzt sind, können sich das Wissen um die potentielle Stigmatisierung sowie das Verbergen des Merkmals trotzdem auf die soziale Identität und soziale Interaktionen auswirken. Ähnlich zum Begriff des Stigmas definiert Horst Reimann ein Tabu als eine »intensive Kennung« von Personen, Objekten oder Verhalten, die u. a. »Gefährdung signalisiert und ein entsprechend angepasstes (vorsichtiges) Verhalten bei einer Begegnung« (Reimann 1989, 421) verlangt. Im Gegensatz zu einem Stigma, das immer mit einem konkreten Merkmal einer Person verknüpft ist, werden Tabus als unausgesprochene, internalisierte Selbstverständlichkeiten betrachtet, die soziale Kognition, Kommunikation oder Handeln regulieren und nicht oder nur selten reflektiert und in Frage gestellt werden. Der implizite Charakter von Tabus erklärt, dass hierfür kaum gesetzliche Regelungen oder Sanktionen Einsatz finden.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_51

51  Stigma, Tabu und Behindertenfeindlichkeit am Beispiel der Medien

Tabuisierungen können neben bestimmten Personen oder Orten auch Lebensbereiche wie Sexualität, Sucht, Armut und Tod sowie bestimmte Krankheiten oder Behinderungen betreffen. Die den Tabus zugrundeliegenden kulturabhängigen Normen werden von Kindheit an gelernt und über Generationen hinweg etabliert und tradiert. Gemäß Goffmans sogenanntem ›interaktionistischen Paradigma‹ ist eine Behinderung kein inhärentes Merkmal einer Person, sondern entsteht erst aus sozialen Reaktionen wie Stigmatisierung und Tabuisierung (vgl. auch Cloerkes 2007). Soziale Interaktionsprozesse erfordern, so Goffman, dass beide Interaktionspartner zur Herstellung einer »Scheinnormalität« (phantom normalcy) ihre soziale Identität am jeweiligen Gegenüber sowie an vorherrschenden Normen orientieren. Das Bewusstsein über ein von einem Stigma oder Tabu besetztes Merkmal kann dazu führen, dass die betroffene Person, aber auch das Gegenüber sich nicht, wie eigentlich erforderlich, orientieren und in den Interaktionsprozess einbringen können. Daraus können eingeschränkte Teilhabe oder sogar Exklusion (s. Kap. 15) des stigmatisierten oder tabuisierten Menschen resultieren. Zur Weiterentwicklung dieses prozesshaften Verständnisses von Stigmatisierung definieren schließlich Bruce G. Link und Jo C. Phelan (2001) in ihrer Labeling-Theorie Stigmatisierung als die Feststellung eines Merkmals (labeling), das mit Vorurteilen verbunden ist (stereotyping), und eine Abgrenzung (separating) sowie Statusverlust (status loss) der Betroffenen und damit Diskriminierung (discrimination) zur Folge hat, wenn die bestehende Machtkonstellation dies zulässt. Entscheidend ist dabei, dass nicht alle mit einem potentiellen Stigma verbundenen Merkmale automatisch zu negativen Konsequenzen für die betroffenen Personen und Gruppen führen müssen. Vielmehr kann gerade eine Ermächtigung der Betroffenen im Sinne eines Empowerments dazu beitragen, dass sich diese Prozesse nicht entfalten oder ihnen in expliziter Kommunikation widersprochen wird (vgl. Röhm 2016). Im Vergleich zu den bereits beschriebenen Begriffen ›Stigmatisierung‹ und ›Tabuisierung‹, die als Folge impliziter normativer gesellschaftlicher Überzeugungen häufig auch mit indirekten Reaktionen und nicht-intentionalem Verhalten verbunden sind, weist der Begriff ›Behindertenfeindlichkeit‹ eine höhere Deutlichkeit und Direktheit in den mit ihm assoziierten Einstellungen und Verhaltensweisen auf. Dies liegt nicht zuletzt auch an einer programmatischen

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Verknüpfung mit rechtsradikalen bzw. nationalsozialistischen Ideologien (vgl. Forster 2002). Im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs taucht der Begriff deshalb nur noch selten auf, sondern wird vielmehr durch ableism (dt.: Ableismus) ersetzt. Diese aus den Disability Studies (s. Kap. 4) stammende Bezeichnung beschreibt die Beurteilung von Personen anhand ihrer (eingeschränkten) Fähigkeiten, die als stereotypisierend, vorverurteilend und diskriminierend zu kritisieren sei, weil sie der sozialen Unterdrückung von Menschen mit Behinderungen Vorschub leiste (Bogart/Dunn 2019). Damit weist der ableism-Ansatz konzeptionelle Parallelen zu der oben beschriebenen Labeling-Theorie auf, bezieht sich aber explizit auf die Gruppe von Menschen mit Behinderungen und kritisiert eine defizitorientierte Sichtweise auf Leistungsfähigkeiten und Kompetenzen dieser Personen­ gruppe. Zusammengefasst weisen alle drei Begriffe – Stigmatisierung, Tabuisierung und Behindertenfeindlichkeit – konzeptionelle Ähnlichkeiten auf, unterscheiden sich jedoch zum Teil in den mit ihnen verbundenen Konsequenzen oder der Konkretheit der betroffenen Gruppen. Der Begriff der Stigmatisierung kann dabei durch seine Anwendbarkeit auf diverse Personengruppen und Kontexte (im Überblick: Röhm/ Hastall/Ritterfeld 2019) als der umfassendste angesehen werden und Prozesse der (De-)Stigmatisierung sind am besten erforscht. Behindertenfeindlichkeit bzw. Ableismus wiederum weisen einen spezifischen Bezug zu der Gruppe der Menschen mit Behinderung auf. Gemeinsam ist allen drei Konzepten ein Bezug zu erlernten oder vermittelten Einstellungen, Verhaltensweisen und Normen, die in einer Gesellschaft gültig sind und Menschen mit Behinderung bzw. ihre Interaktionspartner beeinflussen. Den Massenmedien als Ausdruck und Motor für die Entwicklung kultureller Werte kommt in diesem Zusammenhang eine entscheidende Funktion als Hauptinformationsquelle zur Bildung von Vorstellungen und Einstellungen über die soziale Realität sowie das soziale Geschehen und Personen und Gruppen (vgl. u. a. Bandura 2009) zu. Denn gerade in stigmatisierte oder sogar tabuisierte Lebensbereiche wie etwa Behinderung, Beeinträchtigung oder Benachteiligung haben viele Menschen keine oder wenig konkrete Einblicke und ihnen fehlen soziale Erfahrungen mit Betroffenen, so dass sie ihr Wissen darüber häufig aus den Medien beziehen.

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – C Inklusion und Exklusion

51.2 Problematische Darstellung von Menschen mit Behinderung in den Medien Bereits Mitte der 1970er Jahre stellten George Gerbner und Larry Gross (1976) im Kontext ihrer Kultivierungshypothese fest, dass der häufige Konsum von Medieninhalten ein verzerrtes Bild der Realität vermitteln kann, das Vorstellungen und Einstellungen der Rezipierenden beeinflusst. Was zunächst nur für die Wirkung von Gewaltdarstellungen belegt wurde, kann mittlerweile auch für Darstellungen von Menschen mit Behinderungen oder Erkrankungen – insbesondere psychische Erkrankungen – angenommen werden, wie jüngere Studien zeigen: Donald Diefenbach und Mark West (2007) stellten beispielsweise anhand einer Inhaltsanalyse von Repräsentationen von Personen mit psychischen Erkrankungen im Fernsehen fest, dass diese Gruppe mit einer zehnmal höheren Wahrscheinlichkeit als gewalttätig und kriminell dargestellt wurde als Personen ohne psychische Beeinträchtigungen. Eine anschließende Befragung von 419 Fernsehkonsumierenden zeigte zudem, dass mit zunehmendem Fernsehkonsum die Ansicht der Befragten zunahm, eine Ansiedlung psychischer Gesundheitsversorgung in Wohngebieten stelle eine Gefahr für die Bevölkerung dar. Auch waren Personen, die häufig Fernsehnachrichten schauten, weniger dazu bereit, neben einer Person mit einer psychischen Beeinträchtigung zu wohnen. Aus Sicht der Medienschaffenden erscheint die Konstruktion eines Zusammenhangs von psychischen Erkrankungen und Gewalt zielführend, weil sich damit ungewöhnliche, überraschende, irrationale und vor allem normverletzende menschliche Verhaltensweisen begründen lassen. Insbesondere das Crime-, Thriller- oder Horror-Genre lebt von diesen Normverletzungen. Die für das Storytelling verwendeten Einsichten in menschliche Abgründe werden mithin auf ein klinisch-psychiatrisches Profil, also auf Krankheit, attribuiert. Das verbreitete Menschenbild einer psychiatrisch nicht auffälligen, gesunden Persona kann damit gewahrt werden. Menschen werden dichotom als gut/unschuldig vs. böse/psychisch krank klassifiziert. Dass damit weder der komplexen Realität von psychischen Erkrankungen noch der Realität von Gewaltbereitschaft bei nicht beeinträchtigten Menschen entsprochen wird, liegt auf der Hand. Für die Betroffenen stellen diese falschen und simplifizierenden Darstellungen eine zusätzliche Barriere dar. Während bei der Darstellung von Menschen mit

psychischen Erkrankungen immer noch das beschriebene Stereotyp der Gefahr vorherrscht, werden Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen wiederum eher als hilfsbedürftig, unselbständig und mitleidserregend porträtiert (vgl. Sieff 2003). Damit wird eine Opferrolle inszeniert, die dem Gebot eines Empowerments im Sinne der Selbstbestimmung – auch im Hinblick auf mediale Darstellungen – zuwiderläuft (Röhm 2016). Da Medien der Allgemeinbevölkerung oftmals als die einzige Informationsquelle zur Bildung von Vorstellungen und Einstellungen über separierte und von Exklusion bedrohte Personengruppen dienen, kommt ihnen eine Bedeutung zu, die weit über den – fragwürdigen – Unterhaltungswert hinausgeht. Den Mediendarstellungen kann nicht mit eigenen Erfahrungen fundiert widersprochen werden, sondern im Gegenteil, sie vermitteln einen vermeintlich realistischen Eindruck psychischer Erkrankungen oder Behinderungen und geben sogar vor, wie man sich diesen Personen und Gruppen gegenüber verhalten sollte: nämlich mit Distanzierung. Die beschriebenen stigmatisierenden Darstellungsweisen beschränken sich nicht nur auf audiovisuelle Medien wie Film und Fernsehen, sondern finden sich ebenso im Radio, in Zeitungen, Zeitschriften, Comics und Cartoons sowie elektronischen Medien und auf Webseiten (Stout/Villegas/Jennings 2004). Gemäß der Kultivierungshypothese tragen alle Massenmedien auf diese Weise zu einer regelmäßigen Aktualisierung und Aktivierung stigmatisierender Einstellungen in nahezu jeder Altersgruppe bei. Zusätzlich werden längst nicht alle Behinderungsarten oder Erkrankungen gemäß ihrer Prävalenz in der Bevölkerung adäquat repräsentiert, was entweder zu einer Tabuisierung oder zu einer Überrepräsentation bestimmter Themen beiträgt. Beispielsweise werden statistisch häufige Erkrankungen wie Schlaganfall oder Diabetes eher vergleichsweise selten dargestellt, während psychische Erkrankungen oder Krebs häufiger inszeniert werden (vgl. Brunner/Amann 2011). Im Hinblick auf die Darstellung von körperlichen oder intellektuellen Behinderungen zeigt sich zudem, dass diese häufig von Schauspieler*innen ohne Behinderung gespielt werden. Wenn Menschen mit Behinderung hingegen selbst in den Medien auftreten, werden sie einerseits oft in eine stereotype Rolle gedrängt und dadurch auf ihre Behinderung reduziert. Andererseits werden sie, wenn sie besondere Leistungen erbringen, häufig – wie beispielsweise im Zuge der Berichterstattung über die Paralympischen Spiele

51  Stigma, Tabu und Behindertenfeindlichkeit am Beispiel der Medien

(s. Kap. 14) – als ›Superkrüppel‹ heroisiert (Silva/Howe 2012), womit eine besondere Leistungsfähigkeit trotz Behinderung hervorgehoben wird. Eindrücklich ist auch das wiederholte Medienporträt eines inselhochbegabten Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung, dessen Prävalenz damit erheblich überschätzt wird (Wedding/Niemiec 2014). Zusammengefasst zeigen die vorliegenden Annahmen und Erkenntnisse zur Darstellung von Menschen mit Behinderung in den Medien sowie deren Wirkung auf Einstellungen und Verhaltensweisen des Publikums ein zunächst ernüchterndes Bild. Insbesondere hinsichtlich der Forderung in der UN-BRK an die Massenmedien, »Menschen mit Behinderungen in einer dem Zweck dieses Übereinkommens entsprechenden Weise darzustellen« (UN-BRK Art. 8, Abs. 2c), ergeben sich verschiedene Herausforderungen und Fragen, von denen hier zwei exemplarisch thematisiert werden sollen: 1. Wie können Massenmedien generell zu einer De­ stigmatisierung und Enttabuisierung sowie zu positiven Einstellungen beitragen? 2. Welche unterschiedlichen Ansätze zur Destigmatisierung, Enttabuisierung und Einstellungsänderung können hinsichtlich verschiedener Medientypen (z. B. Unterhaltungsmedien vs. journalistische Medien) identifiziert werden?

51.3 Ansätze zur Destigmatisierung, Enttabuisierung und Einstellungsänderung Wie einleitend deutlich wurde, sind Medien nicht per se stigmatisierend. Vielmehr hängt ihre Wirkung von spezifischen Porträts der Menschen mit Behinderung ab. Damit lässt sich der beschriebene negative Einfluss von Medienporträts auch gezielt ins Positive wenden. Obwohl der Anteil von Studien zum stigmatisierenden Einfluss von Massenmedien überwiegt, weisen neuere Befunde auf die destigmatisierenden Potentiale von Massenmedien hin (z. B. Clement/Van Nieuwenhuizen/Kassam u. a. 2012; Ritterfeld/Röhm/Raeis-Dana u. a. 2020). In der klassischen Anti-Stigma-Forschung werden die drei Interventionsansätze Protest, Aufklärung und Kontakt als erfolgsversprechend beschrieben, die sich auch auf mediale Kontexte übertragen lassen (vgl. Röhm/Hastall/Ritterfeld 2019): • Unter Protest versteht man die (Selbst-)Vertretung stigmatisierter Personen und Gruppen, z. B.

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durch öffentliche Beschwerden und Boykottaktionen gegenüber unangemessenen Berichterstattungen oder politischen Entscheidungen. Vor allem sozialen Medien (s. Kap. 52) kommt hierbei eine entscheidende Funktion zu, da sie neue Möglichkeiten sowohl zur Selbstdarstellung als auch zur gesellschaftlichen und kulturellen Teilhabe bieten (Röhm 2016). Auf diese Weise können auch bislang unsichtbare Gruppen Sichtbarkeit erlangen und tabuisierte Themen in die Diskussion eingebracht werden. • Aufklärung wiederum beschreibt die Widerlegung von Mythen und Vorurteilen mit Fakteninformationen und kann dementsprechend vielfältig in Medien Anwendung finden (vgl. den folgenden Abschnitt »Einstellungsänderung durch unterhaltsame Medienformate«). • Der Kontakt-Ansatz basiert auf Gordon W. Allports (1954) Kontakthypothese, mit der angenommen wird, dass sich der Kontakt mit einer anderen Person oder Gruppe unter bestimmten Voraussetzungen (u. a. gemeinsame Ziele, Statusgleichheit, institutionelle Unterstützung) positiv auf die Einstellungen auswirkt (s. Kap. 53). Im Vergleich mit Protest- und Aufklärungsansätzen weisen Kontaktansätze insgesamt die stärksten destigmatisierenden Effekte auf. Filmische Porträts können beispielsweise geeignet sein, eine derartige Kontakterfahrung zu ermöglichen, und in gleichem Maße wie direkte Kontakte zu einer Reduktion von Stigmatisierung beitragen (Clement/Van Nieuwenhuizen/Kassam u. a. 2012). Dementsprechend kann es als vielversprechend erachtet werden, die Potentiale insbesondere unterhaltsamer Medienformate für Einstellungsänderungen näher zu untersuchen.

51.4 Einstellungsänderung durch unterhaltsame Medienformate Im Gegensatz zu Nachrichten verfolgen unterhaltsame Medienformate in ihrer Inszenierung und dramaturgischen Aufbereitung zunächst nicht das Ziel einer Informations- und Faktenvermittlung (vgl. Hastall/Sukalla/Bilandzic 2014). Dennoch weisen sie ein ebenso großes Potential auf wie Informationsformate, sowohl Wissen als auch Einstellungen gegenüber einem Thema zu beeinflussen. Dieser Gedanke findet u. a. Anwendung im sogenannten EntertainmentEducation-Ansatz (Singhal/Rogers 2011), der das Ziel verfolgt, in strategisch angelegten Geschichten durch

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – C Inklusion und Exklusion

spezifische Protagonisten-Antagonisten-Rollen Einstellungsänderungen zu erzeugen. Die Vertreter des Entertainment-Education-Ansatzes berufen sich auf die Erkenntnis, dass Unterhaltungsformate erstens Personengruppen erreichen, die für Informationsformate weniger zugänglich sind, und zweitens weniger Gegenargumentation (counter argumentation) evozieren (Slater 2002). Das Argument der Zugänglichkeit wurde insbesondere für den Bereich der Gesundheitsinformation und für tabuisierte Themen untersucht, lässt sich aber auf den Bereich Behinderungen übertragen. Während etwa eine Informationssendung über Barrierefreiheit auf ein eher geringes Interesse nicht betroffener Personen stoßen würde, können unterhaltsame Geschichten, die auch ein allgemeines Publikum interessieren, durchaus Informationen über Barrierefreiheit enthalten. Das zweite Argument der gehemmten Gegenargumentation beruft sich auf Erkenntnisse, wonach Narrationen anders verarbeitet werden als Sachinformationen (ebd.). Während bei Sachinformationen häufig ein Impuls des Widerspruchs ausgelöst wird, weil eine unter Umständen Reaktanz evozierende Informationsabsicht unterstellt wird (›Ich soll überzeugt werden‹), laden Geschichten zu einem intentionslosen Als-ob-Spiel ein. Die Reaktanzreaktion bleibt dann aus und die Information kann inzidentell verarbeitet werden. Zudem erhöht ein immersives Rezeptionserleben die Wahrscheinlichkeit für Einstellungs- und Verhaltensänderungen (Hastall/Sukalla/Bilandzic 2014). Vertreter dieses Ansatzes haben bahnbrechende Erfolge mit Medienproduktionen erzielen können, die Gesundheitsvorsorge und sexuelle Aufklärung fördern oder häusliche Gewalt reduzieren. Eine wichtige Voraussetzung für erfolgreiche Einstellungsänderungen war hierbei die korrekte inhaltliche Aufbereitung entsprechender Fakteninformationen. ›Hollywood, Health, and Society‹ (https://hollywoodhealthandso ciety.org/) etwa ist eine Institution in Los Angeles, die Medienschaffenden Expertise zur Verfügung stellt, um Geschichten realistisch zu erzählen und Fehlinformationen vorzubeugen. Die Anwendung auf den Bereich der sensorischen oder körperlichen Behinderungen sowie intellektuellen Beeinträchtigungen steht hier erst am Anfang. In Bezug auf psychische Erkrankungen hingegen finden sich erste Ansätze zu einer destigmatisierenden Mediendarstellung. Allerdings weisen einige Befunde darauf hin, dass eine realistische Darstellung die soziale Distanz der Rezipient*innen sogar noch verstärken kann, wenn etwa die tatsächlichen Symptome einer Erkrankung

oder die Hilflosigkeit von Angehörigen porträtiert werden (Ritterfeld/Jin 2006). Gleichzeitig können die Wirkungsprozesse, durch das individuelle Rezeptionserleben gefiltert, hoch spezifisch ausfallen (Röhm/ Hastall/Ritterfeld 2017). Vor dem Hintergrund des Entertainment-Education-Paradigmas wurde kürzlich untersucht (Ritterfeld/Röhm/Raeis-Dana u.  a. 2020), inwiefern die Rezeption der ZDF-Vorabendserie Dr. Klein oder des HBO-Formats Game of Thrones sowie die zusätzliche, experimentelle Präsentation eines sogenannten Public Service Announcements (PSA) zur Reduktion stigmatisierender und zur Förderung inklusionsbezogener Einstellungen gegenüber Menschen mit Körperbehinderung bzw. Kleinwuchs beiträgt. Als Gegenstück zur angenommenen impliziten Botschaft der Serien beinhaltete der PSA aus Originalfilmmaterial der Serie Dr. Klein eine explizite Inklusionsbotschaft, wonach Menschen mit Kleinwuchs ebenso ihren Alltag bewältigen, Familie haben und berufstätig sein können. Tatsächlich zeigen sich positivere Effekte der im Vergleich zu Game of Thrones realistischeren Darstellung in der ZDF-Serie sowie eine noch deutlichere positive Wirkung des PSA auf die Wahrnehmung von Menschen mit Kleinwuchs.

51.5 Ausblick Alles in allem bieten Massenmedien hinsichtlich der oben genannten Fragestellungen vielfältige Möglichkeiten für eine angemessene und stigmasensible sowie enttabuisierte Darstellung von Menschen mit Behinderungen. Zudem können mit ihrer Hilfe auch gezielt Protest-, Aufklärungs- und Kontaktansätze zur Einstellungsänderung sowie Destigmatisierung und Enttabuisierung unterstützt werden. Daraus eröffnen sich weitere relevante Anknüpfungspunkte für die kulturwissenschaftliche, aber auch interdisziplinäre Auseinandersetzung mit medialen Darstellungen von Menschen mit Behinderung sowie zur Förderung der kulturellen und nicht zuletzt auch gesellschaftlichen Teilhabe dieser höchst heterogenen Personengruppe. Dabei gilt es jedoch, sowohl Ziel und Ausrichtung der unterschiedlichen Medientypen und -inhalte als auch individuelle Rezeptionsprozesse stärker zu berücksichtigen. Zu beachten ist allerdings, dass aus der Art und Weise der medialen Darstellung von Menschen mit Behinderungen nicht per se auf deren Wirkung geschlossen werden kann. Selbst akkurate und vermeintlich positive Darstellungen können zu nicht-in-

51  Stigma, Tabu und Behindertenfeindlichkeit am Beispiel der Medien

tendierten und sogar gegenteiligen Effekten führen. Problematisch ist auch, dass viele der positiven Effekte häufig nur kurzfristig auftreten. Für längerfristige Einstellungsänderungen sollte beispielsweise versucht werden, durch entsprechend erfolgreiche Darstellungen ein Gegenmodell zu vorherrschenden stereotypen Darstellungsmustern zu kultivieren. Eine Möglichkeit ergibt sich auch aus der Verbindung von realistischen Fallbeispielen, die narrativ medial inszeniert werden (etwa in einem Film), und weiteren Informationen. Hier können z. B. Schauspieler*innen, Betroffene und Expert*innen in einem Interview die filmisch inszenierte Problematik noch weiterentwickeln (vgl. Ritterfeld/Jin 2006). Doch werden Menschen mit Behinderungen, vor allem in der deutschsprachigen Medienlandschaft, bislang immer noch vergleichsweise selten als Expert*innen in eigener Sache bei inhaltlichen Fragen hinzugezogen oder erhalten als Schauspieler*innen selbst kaum Rollen, die über die bloße Repräsentation ihrer Behinderung hinausgehen. Es gilt deshalb, die Forderung nach Inklusion von Menschen mit Behinderung nicht nur auf angemessene mediale Repräsentationen, sondern auch auf die Medienproduktion selbst zu beziehen. Mit diesem Maßnahmenkatalog könnte zur gesellschaftlichen Bewusstseinsbildung sowie kulturellen Teilhabe dieser Personen und Gruppen beigetragen und Stigmatisierung, Tabuisierung und Behindertenfeindlichkeit erfolgreich entgegengewirkt werden. Literatur

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – C Inklusion und Exklusion

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Alexander Röhm / Ute Ritterfeld

52  Soziale Medien und Netzwerke

52 Soziale Medien und Netzwerke 52.1 Disability Culture online und eine neue Behindertenbewegung Soziale Medien haben die Struktur von Öffentlichkeit in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert und neue Typen von Öffentlichkeiten geschaffen. In der Kommunikationswissenschaft wird von einer neuen ›Social Media-Öffentlichkeit‹ gesprochen, die sich zwischen den traditionellen Ebenen von Encounter-, Themen- und Versammlungs- sowie Medienöffentlichkeit aufspannt (Bentele 2016, 78). Soziale Medien schaffen einen neuen Raum zwischen massenmedialer und interpersonaler Kommunikation, in dem die Grenzen zwischen beiden Polen verschwimmen; Schmidt spricht deshalb von persönlicher Öffentlichkeit (Schmidt 2018, 27). Die öffentliche Kommunikation hat sich dadurch grundlegend verändert. ›Soziale Medien‹ dient als Oberbegriff für viele verschiedene Gattungen digital vernetzter Medientechnologien, die es Nutzer*innen erlauben, ohne professionelle technische Ausstattung und Wissen Inhalte zu veröffentlichen sowie soziale Beziehungen zu knüpfen und zu pflegen (Schmidt/Taddicken 2019, 1). Jan Hendrik Schmidt und Monika Taddicken unterscheiden zwischen Plattformen, auf denen ›user-generated content‹ veröffentlicht wird, und sozialen Netzwerken. Zu den Plattformen gehören YouTube oder Instagram sowie ›personal publishing‹-Plattformen für Blogs, Podcast oder Wikis. Netzwerkplattformen wie Facebook bieten den Nutzer*innen eine Infrastruktur, um sich miteinander zu verbinden und zu kommunizieren (Taddicken/Schmidt 2019). Verallgemeinern lassen sich für alle Gattungen die Funktionen, dass Nutzer*innen Inhalte aller Arten mithilfe der sozialen Medien erstellen und veröffentlichen und sich mit anderen User*innen vernetzen können. Dabei bestimmen sie häufig selbst, welchem Personenkreis sie die Inhalte zu Verfügung stellen: einem eingeschränkten Kreis an Follower*innen oder einer unbegrenzten Öffentlichkeit. Nutzer*innen abonnieren Inhalte, folgen Personen oder vernetzen sich gegenseitig. Soziale Medien sind auf Kommunikation angelegt, deshalb gehört das Erzeugen von Anschlusskommunikation über Bewertungen (Likes), Weiterleiten und Kommentieren zu ihren zentralen Funktionen (Schmidt/Taddicken 2019). Auf diese Weise können Inhalte sehr schnell und häufig unerwartet ›viral gehen‹ und eine große Öffentlichkeit erreichen. Soziale Medien sind weit verbreitet, vor allem, aber

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nicht nur, unter jüngeren Menschen. Im Zusammenhang mit Behinderung wird häufig auf das Potential für mehr Teilhabe und Inklusion verwiesen. Allerdings begegnen Menschen mit Beeinträchtigungen auch online technischen und sozialen Barrieren, die eine gleichberechtigte Teilhabe be- oder verhindern und zu einem ›digital disability divide‹ beitragen (Dobransky/Hargittai 2016; Goggin 2018; Vicente/López 2010). Je stärker gesellschaftliche Diskussionen und andere Bereiche der gesellschaftlichen Teilhabe (eGovernment, Banking, Shopping, eHealth etc.) ins Internet verlagert werden, desto mehr vergrößern Barrieren das Risiko der sozialen Exklusion (Haage/Zaynel 2018; Helsper/Reisdorf 2017). Wenige deutschsprachige und viele internationale Studien belegen ein hohes Engagement von Menschen mit Beeinträchtigungen in sozialen Medien, die sie nutzen, um soziale Kontakte aufrechtzuerhalten und neue Netzwerke zu knüpfen, Behinderungserfahrungen auszutauschen und dem häufig stereotypen Bild von Behinderung in den Massenmedien ein alternatives, eigenes Bild entgegenzusetzen. Nicht zuletzt haben sich die sozialen Medien als wirksames Werkzeug erwiesen, für die eigenen Rechte einzutreten (Ellcessor 2017; Ellis/Kent 2017; Sweet/LeBlanc/Stough u. a. 2019; Dobransky/Hargittai 2016).

52.2 Kommunikation entstigmatisieren Menschen mit Beeinträchtigungen fühlen sich häufiger als Menschen ohne Beeinträchtigungen einsam und haben weniger soziale Kontakte (BMAS 2016). Mobilitätseinschränkungen, eine nicht-barrierefreie Umwelt sowie das Leben in Sondereinrichtungen erschweren vielfältige soziale Kontakte. Der Aufbau von Beziehungen und Freundschaften wird häufig durch Stigmatisierungsprozesse behindert, die vor allem körperliche, psychische und Sprachbeeinträchtigungen betreffen (Bowker/Tuffin 2003; Furr/Carreiro/McArthur 2016; Caron/Light 2016). Bei ersten Begegnungen beherrschen diese Stigmata häufig die Kontaktaufnahme und verhindern den Aufbau von gleichberechtigten Beziehungen. Die ›visuelle Anonymität‹ in sozialen Medien neutralisiert hingegen die körperlichen und sprachlichen Differenzen, die sich auf direkte persönliche Kommunikationssituationen in der Regel tiefgreifend auswirken (Bowker/Tuffin 2003). In einer Reihe von qualitativen Studien berichten Betroffene von der immensen Erleichterung, die die Kommunikation über soziale Medien für sie bietet, weil stigmati-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_52

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sierende Situationen wegfallen. Für Menschen mit Körper- und Sprachbeeinträchtigungen sind vor allem die Möglichkeiten der asynchronen und schriftlichen Kommunikation zentral. So berichten Teilnehmer*innen von dem großen Vorteil, dass Kommunikationspartner*innen endlich darauf achten, was sie zu sagen haben, und nicht davon abgelenkt werden, dass sie mit den Füßen schreiben oder im Rollstuhl sitzen: »Instead of a wheelchair they see my thoughts« (Caron/ Light 2016, 30). Menschen ohne Lautsprache oder Menschen, deren Lautsprache nicht ausreichend verstanden wird, nutzen häufig Hilfsmittel der Unterstützten Kommunikation, sogenannte Talker. Die direkte Kommunikation mit Talkern braucht Zeit und Geduld, die Gesprächspartner*innen oft nicht aufbringen. In sozialen Medien mit asynchroner Kommunikation hingegen spielt Zeit keine Rolle. »[With social media] I have the opportunity to ACCURATELY represent myself to the world. The speed of communicating is nonexistent« (ebd., 30). Im Gegensatz zum direkten persönlichen Kontakt können Menschen mit sichtbaren Beeinträchtigungen in sozialen Medien selbst bestimmen, wann, was und wie viel Information sie über ihre Beeinträchtigungen preisgeben. Furr/Carreiro/McArthur (2016) haben in 16 semistrukturierten Interviews mit Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen drei verschiedene Ansätze identifiziert, wie die Befragten Informationen über ihre Beeinträchtigungen offenlegten. Die Art des Umgangs hängt vom Alter sowie vom Eintrittszeitpunkt der Beeinträchtigung ab, d. h. von der Zeitspanne, mit der die Betroffenen mit ihrer Beeinträchtigung leben. Eng damit verbunden sind ihre Erfahrungen mit sozialen Kontakten. Je länger die Teilnehmer*innen mit ihrer Behinderung leben, desto mehr negative Erfahrungen sammeln sie mit Ablehnung in persönlichen Begegnungen und mit sozialer Isolation. Informationen über ihre Beeinträchtigung posten diese Befragten nur an einen ausgewählten privaten Kreis von Kontakten, die mehrheitlich aus ebenfalls beeinträchtigten Peers bestehen. Mit ihnen tauschen sie sich häufig in Facebook-Gruppen über ihre Behinderung aus. Sie beschreiben ihren Umgang als sicher, geschützt und strategisch. Andere erzählen nur in privaten Kanälen nach und nach von ihren Behinderungserfahrungen. Sie haben meist langjährige Beeinträchtigungen und kaum Freundschaften mit nichtbehinderten Personen, weil sie häufig gezwungen waren, zu früh Fragen über private Details ihrer Beeinträchtigung zu beantworten. Informationen über die Beeinträchtigung in Text und Bild haben nur solche Befrag-

te veröffentlicht, die ihre Beeinträchtigung erst im Erwachsenenleben erworben haben. Sie beschreiben die Offenlegung als coming-out und Moment des Empowerments, mit dem sie die Kontrolle über das Narrativ ihrer Behinderung übernehmen. Allerdings sind auch sie sorgfältig bei der Auswahl ihrer Netzwerkkontakte. Furr/Carreiro/McArthur (ebd., 1363) führen den offeneren Umgang darauf zurück, dass die Personen weniger negative Erfahrung im direkten Kontakt gesammelt haben und gleichzeitig auf ein größeres Netzwerk stabiler Freundschaften und Kontakte offline zurückgreifen können, weshalb sie mehr Facebook-Freundschaften bereits persönlich kennen. Die Studien weisen darauf hin, dass soziale Medien nicht per se gesellschaftliche Vorurteile, Stigmatisierung, Ablehnung und Hass überwinden können (Ellis/Goggin 2014, 129). Ähnlich wie Feministinnen, LGBTQ-Angehörige und ethnische Minderheiten sind Menschen mit Beeinträchtigungen auch Opfer von Hate Speech (Sherry 2020). Menschen mit Beeinträchtigungen erhalten aber mehr Kontrolle über die soziale Interaktion und kommunizieren mehr auf Augenhöhe. Das gilt nicht gleichermaßen für alle Arten von Beeinträchtigungen und für alle soziale Medien. So können Menschen mit Lernschwierigkeiten oder Dyslexie bei Formen schriftlicher Kommunikation ihre Beeinträchtigung kaum verbergen. Blinde und stark sehbeeinträchtigte Menschen waren lange Zeit von vielen sozialen Medien ausgeschlossen oder zumindest stark eingeschränkt, weil diese nicht ausreichend barrierefrei waren. Vor allem in sozialen Medien, die stark auf Bild und Video basieren, sind viele Kanäle und Beiträge für sie auch heute noch unzugänglich, weil es wenig Bewusstsein für die Notwendigkeit von Bildbeschreibungen und Audiodeskriptionen gibt. Gehörlose und stark schwerhörige Menschen sind wiederum ausgeschlossen, wenn bei Videos Untertitel fehlen. Furr/Carreiro/McArthur (2016) belegen, wie andere Studien auch, dass viele Menschen ein großes Bedürfnis haben, ihre Behinderungserfahrungen als Teil ihrer Identität zu teilen. Das überraschendste Ergebnis ihrer Studie ist für die Autor*innen die Entdeckung einer vielfältigen ›disability culture‹ in den sozialen Medien. Menschen mit Beeinträchtigungen tauschen sich in zahlreichen privaten Facebook-Gruppen aus und unterstützen sich gegenseitig. Das Teilen von praktischen Informationen zählt zu den unschätzbaren Vorteilen sozialer Medien. Die Befragten berichteten von Gesprächen in ihren Gruppen, in denen sie Erfahrungen darüber austauschen, wie man ohne

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Hände Zahnpasta auf die Zahnbürste gibt oder sich um Jobs bewirbt (ebd., 1366).

52.3 Disability Culture online und Selbstvertretung Eine eigene disability culture entstand in den 1970er und 1980er Jahren mit dem Aufkommen der Behindertenbewegung zunächst in den angelsächsischen Ländern und in den 1980er Jahren auch in Deutschland (Barnes/Mercer 2001; Köbsell 2009). Sie markiert die Abkehr von dem medizinisch geprägten Verständnis von Behinderung als einem individuellen Problem, das vor allem medizinische Lösungen braucht, hin zu einem sozialen Modell, das Behinderung als gesellschaftliches Problem sieht, für das politische und soziale Lösungen nötig sind (s. Kap. 4). Aus diesem Bewusstseinswandel erwuchs das Bedürfnis, andersartige Erfahrungen von Menschen mit Beeinträchtigungen weiterzugeben. Im Zuge der Behindertenbewegung entstanden z. B. in Deutschland Alternativmedien wie ›Krüppelzeitungen‹ (Köbsell 2009). Mit dem Internet entsteht eine neue Dynamik (Dobransky/Hargittai 2016; Ellis/Kent 2017; Ellcessor 2017; Ellcessor/Kirkpatrick 2017). Das Merkmal sozialer Medien, einfach und ohne professionelle technische Ausrüstung Inhalte erstellen und veröffentlichen zu können, wird auch von vielen Menschen mit Beeinträchtigungen genutzt, um der seltenen und häufig stereotypen Darstellung in den Massenmedien ein anderes Bild entgegenzusetzen. Es gibt international und in Deutschland tausende von Blogger*innen oder Vlogger*innen, Podcaster*innen oder Twitter*innen mit Beeinträchtigungen, die ihre Kanäle nutzen, um von ihren Erfahrungen und ihrem Leben zu berichten. Der Aktivist Raul Krauthausen pflegt z. B. auf seinem Blog eine Liste von Blogger*innen und Projekten im Internet (https:// raul.de/links/). Nicht immer geschieht dies aus einem politischen Bewusstsein heraus, aber eine positive Identität von Behinderung eint alle Akteur*innen. Bei vielen Aktivitäten stehen die Bildung einer eigenen Gemeinschaft in Abgrenzung zu einer ableistischen Umwelt (s. Kap. 51) im Vordergrund, der Erfahrungsund Informationsaustausch sowie die gegenseitige Unterstützung wie in den oben beschriebenen privaten Facebook-Gruppen. Häufig treffen sich dort Menschen mit ähnlichen Beeinträchtigungen oder chronischen Krankheiten. Andere Gruppen bilden sich auf der Grundlage ähnlicher Lebenslagen wie z. B. ein Studium mit Beeinträchtigung.

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Offenere Formen von Gemeinschaften entstehen beispielsweise über Hashtags bei Twitter und anderen sozialen Medien. #Spooniechat und #MedTraumaChat sind Beispiele für Chats, bei denen sich Menschen regelmäßig zu bestimmten Zeiten bei Twitter treffen, um sich über Behinderungserfahrungen und gemeinsame Fragen auszutauschen (Wong 2019). #SpoonieChat bringt seit 2013 wöchentlich Menschen mit seltenen chronischen Krankheiten rund um die Fragen Selbstversorgung und Selbstbewusstsein (›selfcare and pride‹) zusammen. Als junge, farbige Frau suchte die Initiatorin Dawn Gibson aus den USA eine Alternative zu Patient*innenselbsthilfegruppen, die häufig von weißen Patient*innen dominiert waren und sich für ihre besondere Situation wenig offen zeigten. Aus einer ähnlichen Betroffenheit heraus organisierte die Kanadierin Alex Haargaard #MedTraumaChat, weil sie sich mit ihren Erfahrungen als chronisch Kranke im Gesundheitssystem isoliert fühlte. Sie kämpfte mit ihren traumatischen Erfahrungen im Gesundheitswesen, eine richtige Diagnose zu erhalten und angemessen behandelt zu werden. Patient*innengruppen auf Facebook empfand sie als Person mit einer queeren Identität als ausschließend und zu medizinisch orientiert. Ihr Chat beschäftigt sich übergreifend mit Erfahrungen von Ungerechtigkeiten im Gesundheitssystem. Die Twitter-Chats sind Beispiele für das Vernetzungspotential sozialer Medien, online Communities zu bilden, die sich im realen Leben nie gefunden hätten. Menschen mit seltenen chronischen Krankheiten und weiteren diskriminierten Identitäten sind häufig sozial und räumlich isoliert und ans Haus gebunden. Andere Betroffene sind in der eigenen Stadt oder Region schwer zu finden. Twitter-Chats können von Zuhause aus betrieben werden und sind durch die Zeichenbegrenzung der Tweets nicht zu aufwendig; man findet auch Formen der Beteiligung, wenn man physisch und psychisch erschöpft ist, wie Mitlesen, Liken und Retweeten (Wong 2019, 2). Tweets können zudem nachgelesen und ergänzt werden. Vor allem englischsprachige Initiativen überspringen schnell die Landesgrenzen und versammeln Betroffene aus unterschiedlichen Ländern. Viele Erfahrungen sind trotz unterschiedlicher Gesundheitssysteme universell (ebd., 2–3). Viel Wert legen beide Initiatorinnen darauf, für alle Teilnehmer*innen einen sicheren und positiven Raum für den Austausch zu schaffen, der barrierefrei für möglichst viele ist. Wertschätzung, ein achtsamer Umgang miteinander und eine hohe Sensibilität für Barrieren

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – C Inklusion und Exklusion

und intersektionelle Diskriminierungen (s. Kap. 46) sind zentrale Merkmale dieses Teils der disability culture. »Being ourselves in public, this is a victory«, beschreibt Dawn Gibson den Erfolg ihres Twitter-Chats, der immerhin bereits sechs Jahre existiert, für die schnelllebigen sozialen Medien eine halbe Ewigkeit. Die US-amerikanische Wissenschaftlerin Zahari Richter (2020), die selbst in der Internetcommunity von Aktivist*innen aus dem Autismus-Spektrum aktiv ist, hat in Anlehnung an Manuel Castells The Power of Identity (1997) den Begriff der ›survival identities‹ geprägt. Sie beschreibt Communities, für die das Internet und soziale Medien die einzigen Orte sind, an denen sie sich mit ihrer(n) Identität(en) offen ausdrücken können, weil ihre Umwelt häufig ablehnend oder mit Unverständnis reagiert. Zu den ›survival identities‹ im Internet zählt Richter Menschen aus dem Autismus-Spektrum, mit Psychiatrie-Erfahrungen und chronischen Krankheiten. In diesen Bereichen werden die öffentlichen Diskussionen häufig von Nicht-Betroffenen, das heißt Angehörigen und professionell Tätigen beherrscht. Erst die sozialen Medien haben den Betroffenen eine Stimme verliehen, die auch Gehör findet. Die Beispiele der Twitter-Chats stammen aus dem Disability Visibility Project, das die kalifornische Aktivistin Alice Wong seit 2014 betreibt (https://disabi­ lityvisibilityproject.com/). Auf ihrer Internetseite veröffentlicht Wong Geschichten und Informationen, um eigene Narrative und disability culture zu dokumentieren und zu fördern. Sie sammelt Oral History in Form von Podcasts, Audioclips, Blogbeiträgen und Fotos. In ihrem eigenen Podcast spricht sie regelmäßig mit anderen Aktivist*innen über Behindertenpolitik, -kultur und -medien. Auf der Internetseite sticht eine große Vielfalt an Menschen ins Auge, die sich über mehrere Identitäten definieren, als ›Asian‹ oder ›Native American‹, ›people of colour‹, ›queer‹ oder ›trans‹ und behindert. Sie alle nutzen soziale Medien, um ihre Identitäten zu feiern, die Gemeinschaft von Menschen mit ähnlichen Erfahrungen zu suchen und gleichzeitig ihren Platz in den jeweils größeren Communities zu reklamieren. Annie Segarra identifiziert sich z. B. als queere, lateinamerikanischstämmige beeinträchtigte Frau und betreibt als Annie Elainey u. a. einen YouTube-Kanal mit über 19.000 Abonnent*innen (Stand Januar 2020), auf dem sie sich mit Körperbild, Gender, LGBTQIA, Behinderung, psychischen und chronischen Krankheiten auseinandersetzt (https://www. youtube.com/user/theannieelainey). In Deutschland ist eine solche bewusst intersektionelle Szene kleiner, aber auch zu finden. Ash ist eine

deutsche Bloggerin und Aktivistin, die sich als »weiß, trans, beHindert [sic], pansexuell« definiert und Queerfeminismus mit Behinderungen verbindet (https://hirngefickt.wordpress.com/ueber-mich/). Sie rief Anfang 2016 das Hashtag #BeHindernisse ins Leben, unter dem Menschen mit Beeinträchtigungen ihre Behinderungserfahrungen twitterten. Das Hashtag fand eine so große Resonanz, dass es schnell Eingang in die aktuelle Medienberichterstattung fand. Daraus ist ein Blog entstanden (https://be-hindernisse.org/). Aktivist*innen und einzelne Communities sind gut untereinander vernetzt und unterstützen sich gegenseitig. In Flash Blogs, in Deutschland als Blogparaden bekannt, veröffentlichen Blogger*innen in einem bestimmten Zeitraum Beiträge zu einem Thema, das der Initiator/die Initiatorin vorgibt. Die Beiträge werden auf der Seite der Initiatorin/des Initiators verlinkt (Richter 2020, 197–198). Das vereinte Vorgehen stößt Diskussionen innerhalb der Communities an und verleiht den jeweiligen Themen größeres Gewicht. Die Verlinkungen erhöhen zudem das Ranking bei Suchmaschinen, und durch die Mischung aus mehr und weniger prominenten Blogger*innen wächst die Reichweite weniger bekannter Autor*innen. Ähnliche Formen gibt es auch bei anderen sozialen Medien. Dass ›survival identities‹ durch das Internet überleben, kann durchaus auch wörtlich verstanden werden. So verdienen viele mit ihren Social Media-Kanälen Geld, entweder durch Spenden ihrer Follower*innen oder als Influencer*innen auf YouTube, Instagram oder Twitch. Twitch ist ein Live-Streaming-Videoportal, das vorrangig zum Streaming von Videospielen und E-Sport, mittlerweile aber auch für andere LiveEvents genutzt wird. Die Unterhaltungen der Nutzer*innen untereinander und mit den Streamer*innen machen einen besonderen Reiz aus. Beispielsweise gibt es bei Twitch.tv eine wachsende Gemeinde von Menschen mit Beeinträchtigungen, die mit Live-Streaming Geld verdienen, das von einem kleinen Zuverdienst bis zur Deckung des Lebensunterhalts reicht (Johnson 2019). Wer Twitch-Kanäle kostenpflichtig abonniert, unterstützt seine Lieblingsstreamer*innen und ist bei diesen Unterhaltungen privilegiert, wird z. B. von den Streamer*innen begrüßt und direkt angesprochen. Mark Johnson hat 2016 und 2017 über 100 semi- und professionelle Live-Streamer*innen interviewt sowie hunderte Stunden von Live-Streaming beobachtet und dabei eine wachsende Community von Menschen mit Beeinträchtigungen ausgemacht, denen es gelungen ist, eine Nische zu besetzen, die sich durch eine unterstützende und wertschätzende Kommunikation aus-

52  Soziale Medien und Netzwerke

zeichnet, trotz allgegenwärtiger Trolle. Die beeinträchtigten Streamer*innen sind überwiegend jung und können aufgrund von körperlich-motorischen, psychischen oder chronischen Beeinträchtigungen nicht regemäßig das Haus verlassen und den Anforderungen des allgemeinen Arbeitsmarkts entsprechen. Twitch schätzen sie als eine leicht zugängliche Plattform (ebd., 517). Zentral ist für sie die Möglichkeit, die Community an Follower*innen und Abonnent*innen selbst zu steuern und negative Kommentare auszuschließen. Ein Streamer empfindet z. B. auf Twitch nicht die sozialen Ängste, die sein Leben sonst beherrschen. Die Beeinträchtigungen sind häufig Gegenstand der Unterhaltungen und manche Streamer*innen schätzen die Plattform als Möglichkeit, das Bewusstsein für psychische Beeinträchtigungen zu erhöhen. Twitch ist nur ein Beispiel dafür, dass die Architektur und die Regeln der verschiedenen sozialen Medien passende Plattformen für unterschiedliche Bedarfe bieten, eine eigene Nische und Gemeinschaft zu schaffen. Dabei sind soziale Medien alles andere als inklusive Paradiese. Ihre Ökonomie stellt hohe Anforderungen. Regelmäßige Uploads oder stundenlange LiveStreams sind bei YouTube, Instagram, Twitch und Co Bedingung für den Erfolg. Ein gewisses Selbstbewusstsein, mit Druck und negativen Reaktionen umzugehen, ist Voraussetzung. Jedes Medium hat spezielle Barrieren. Twitch-Streamer*innen mit Dyslexie berichten von der Anstrengung, schnell die schwierigen Phantasiebenutzernamen der Abonnent*innen zu lesen und sie anzusprechen. Die Plattformen bieten aber mehr Kontrolle als im direkten Kontakt, denn Kommentare können abgeschaltet oder gelöscht, Trolle und Hater geblockt werden.

52.4 Disability Mainstreaming In den klassischen Massenmedien sind Menschen mit Beeinträchtigungen als Medienschaffende deutlich unterrepräsentiert und das Bild von Behinderung von Stereotypen geprägt, die vom ›Superkrüppel‹ und ›inspiration porn‹ zum Sorgenkind und ›death porn‹ reichen (Maskos 2015; Barnes 1992). Diesen eigene Erzählungen entgegenzusetzen, ist ein wichtiges Motiv, in sozialen Medien aktiv zu werden. Eine Inhaltsanalyse des von der BBC herausgegebenen Webmagazins »Ouch: Disability Talk«, deren Redaktion Menschen mit Beeinträchtigungen betreiben, enthält überwiegend persönliche Erfahrungen und Storytelling (Thoreau 2006; https://www.bbc.co.uk/programmes/p02r6

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yqw). Die Art der Geschichten unterschied sich allerdings von der üblichen Mainstream-Berichterstattung: Es wurde ein positives Bild von aktiven Menschen mit einer Vielzahl von Interessen und Erfahrungen gezeigt, deren Beeinträchtigung ein Teil ihrer Persönlichkeit ist, auf den sie aber nicht reduziert werden. Die Beschreibungen der Beeinträchtigungen waren meist allgemein gehalten und kamen ohne medizinische Bezeichnungen aus, stigmatisierende Begriffe wurden ironisch umgedeutet (ebd., 454–455). Anders als erwartet, spiegelte sich in den untersuchten Artikeln nicht das soziale Modell von Behinderung wider, sondern das bio-psycho-soziale Modell, das auf der ICF (»International Classification of functioning«) der Weltgesundheitsorganisation beruht (WHO 2005). Behinderung entsteht danach aus dem Wechselspiel zwischen der persönlichen Beeinträchtigung und den Kontextfaktoren der sozialen und physischen Umwelt. In den Artikeln dominierten Geschichten über persönliche Erfahrungen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen; gesellschaftliche Ursachen wurden hingegen seltener thematisiert (Thoreau 2006, 462). In Deutschland sind Analysen der Selbstrepräsentation von Menschen mit Beeinträchtigungen in sozialen Medien weitgehend ein Desiderat. Eine oberflächliche Betrachtung vieler Blogs oder YouTube-Kanäle lässt annehmen, dass die Schlussfolgerung der schon ältere »Ouch«-Studie auch für Deutschland zutrifft. Viele Blogs, Instagram- oder YouTube-Kanäle bieten vor allem persönliche Geschichten, die vom Leben mit der Beeinträchtigung und von Behinderungen durch die Umwelt und die Gesellschaft erzählen. Viele sind explizit so angelegt, dass sie sich an ein nicht-behindertes Publikum richten, um das in der Öffentlichkeit vorherrschende stereotype und stigmatisierende Bild von Menschen mit Beeinträchtigungen zu verändern. Diese Blogs und Kanäle erreichen mitunter ein sehr großes Publikum und werden von Massenmedien aufgegriffen. Der Blog des Autors und Poetry-Slammers Tobi Katze über sein Leben mit Depression war so erfolgreich, dass er ihn als Kolumne des Magazins Stern weiter betrieb (https://www.stern.de/gesundheit/neuestern-stimme-tobi-katze-das-gegenteil-von-traurigist-depressiv-3124426.html). Marian und Tabea Mewes haben fast 24.000 Follower auf Instagram und wurden 2018 als Goldene Blogger ausgezeichnet (Fiene 2019). Ihr Projekt »Notjustdown« mit Blog, Instagramund Facebook-Account, YouTube- und Vimeo-Kanal handelt von ihrem Alltag als Geschwister (https:// www.notjustdown.com/blog). Marian hat das Down-

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – C Inklusion und Exklusion

Syndrom. Ungewöhnlich erfolgreich ist der YouTubeKanal »Das Gewitter im Kopf – Leben mit Tourette« (https://www.youtube.com/channel/UCh2Nc3OwjSw uXrUdFNXqFbQ/featured), der 2019 der am schnellsten wachsende YouTube-Kanal in Deutschland war (Winkler 2020) und Anfang 2020 über 1,6 Millionen Abonnent*innen hatte. Er wird seit Februar 2019 von Jan Zimmermann mit Tourette-Syndrom und seinem Freund Tim Lehmann betrieben. Beide zeigen mit Witz den Alltag mit Tourette oder inszenieren YouTube-typische Aktionen wie »Jan’s Tourette reagiert auf eure Fotos«, bei der Follower*innen Selfies schicken und ›Gisela‹ darauf reagiert. ›Gisela‹ nennen beide die unbewussten Ticks, die sich in unkontrollierten Bewegungen und Beschimpfungen äußern. Die Aufzählung ähnlicher Blogs und Vlogs ließe sich fortsetzen. Sie tragen zum ›disability mainstreaming‹ bei, d. h. dazu, dass im Bewusstsein der Öffentlichkeit verankert wird, dass Beeinträchtigungen Teil eines normalen Lebens sind. Die Interaktion mit den Follower*innen ist zentrales Merkmal sozialer Medien. Sie erlaubt es, Dinge zu fragen, die sich niemand anderswo zu fragen traut, so dass der ungewohnte Umgang mit Differenz entspannt wird. »YouTube or any social media is that safe place to look and to wonder and to ask a question«, bringt es die Mutter einer beeinträchtigten Vloggerin auf den Punkt (Chiu 2019).

52.5 Aktivismus und neue Formen der Behindertenbewegung Das soziale Modell von Behinderung vertreten Aktivist*innen, die soziale Medien nutzen, um die Öffentlichkeit für ihre Anliegen zu erreichen und gegen Barrieren und Diskriminierung zu kämpfen. Das Internet und insbesondere die sozialen Medien haben die Herausbildung einer eigenen politischen Identität und neuer Protestformen entscheidend befördert, die onund offline-Aktionen miteinander verbinden (Ellis 2020; Pearson/Trevisan 2015). Filippo Trevisan unterscheidet drei Gruppen von Aktivist*innen: Wohlfahrtsorganisationen, Behindertenverbände und internetaffine Aktivist*innen, die sich nahezu ausschließlich über soziale Medien organisieren (Trevisan 2017, zit. nach Ellis 2020, 208). In Deutschland steht als Beispiel für Wohlfahrtsorganisationen an erster Stelle die ›Aktion Mensch‹ (früher ›Aktion Sorgenkind‹), die einen wichtigen Teil ihrer Öffentlichkeitsarbeit über das Internet und social media-Kanäle abwickelt.

Neu sind öffentlichkeitswirksame Aktivist*innen, die sich z. T. von den traditionellen Organisationen abgrenzen. So führten Aktivist*innen aus dem Autismus-Spektrum eine Twitterkampagne mit dem Hash­ tag #FragWarum gegen die Förderung der umstrittenen ABA-Therapie für Kinder aus dem AutismusSpektrum durch die ›Aktion Mensch‹. Letztendlich war die Kampagne der Anlass für die ›Aktion Mensch‹, die Förderung zu überprüfen und einzustellen (https://fragtwarum.tumblr.com/foerderungsstopp). Beispiele von Protestaktionen, die überwiegend online geführt wurden und in gezielte offline-Aktionen münden, waren die Proteste gegen das Bundesteilhabegesetz 2016 (#NichtmeinGesetz). Mit dem gleichen Hashtag organisierten Betroffene im Sommer 2019 eine spontane Demonstration beim Tag der Offenen Tür der Bundesregierung in Berlin gegen einen Gesetzentwurf des Gesundheitsministeriums zur Intensivpflege von Menschen, die auf Beatmung angewiesen sind. Sie sammelten innerhalb weniger Wochen über 100.000 Unterschriften unter einer Online-Petition. In beiden Fällen führten die Proteste zu Gesetzesänderungen. Online-Mobilisierung wird vor allen von den internetaffinen Aktivist*innen vorangetrieben. Traditionelle Organisationen reagieren eher auf den Druck in sozialen Medien. So geriet der Sozialverband VdK im August 2019 unter Kritik, weil er sich nach Auffassung der Community, die unter dem Hashtag #NichtmeinGesetz protestierte, nicht klar genug gegen den Gesetzentwurf des Gesundheitsministeriums positionierte (https://twitter.com/VdK_Deutschland/status/ 1161970933046894592). Die Aktivist*innen sind lose miteinander vernetzt und finden temporär zu thematischen Anlässen über Hashtags zusammen. Diese neue Behindertenbewegung ist nicht formal organisiert und bezieht ihre Stärke aus der offenen und partizipativen Struktur, zu der jede*r entsprechend eigener Möglichkeiten und Vorlieben etwas beitragen kann (Ellis 2020, 208–209). In Deutschland stehen Raul Krauthausen und die von ihm mitgegründeten ›Sozialhelden‹ für diese neue Behindertenbewegung (https://raul.de/; https:// sozialhelden.de/). 2018 erhielt er den Grimme Online-Award für »unermüdliches Engagement als Inklusions-Aktivist«, der »bemerkenswert sichtbar den Dialog zu Aspekten der Inklusion führt« (GrimmeInstitut 2018). »Das Internet, so scheint es, ist das Habitat des Aktivisten Raul Krauthausen: Er bloggt über Inklusion, ist auf Twitter im direkten Dialog, gibt auf Facebook

52  Soziale Medien und Netzwerke Tipps und der von ihm gegründete Verein ›Sozialhelden‹ realisiert Webangebote zum Thema Behinderung. Oft trägt Krauthausen seine Themen mit Partnern an neue Personenkreise heran, so zum Beispiel bei der Facebook-Serie zur Bundestagswahl ›re:sponsive‹, im Projekt ›Blickwechsel‹ des ZDF oder in der Talkshow ›KRAUTHAUSEN – face to face‹.« (GrimmeInstitut 2018)

Sind Menschen mit Beeinträchtigungen online, nutzen sie die Möglichkeiten des Selbstausdrucks über soziale Medien aktiver als Menschen ohne Beeinträchtigungen (Berger/Caspers/Croll u. a. 2010; Dobransky/Hargittai 2016, 26). Die Formen des OnlineAktivismus unterscheidet sich kaum von denen anderer sozialer Gruppen. Fundamental ist jedoch der Unterschied, dass die Onlinemedien für viele Menschen mit Beeinträchtigung die einzige Möglichkeit der Partizipation sind (Johnson/Soldatic 2020, 330). Inzwischen ist eine disability culture online entstanden. In den Disability Studies und Disability Media Studies im englischsprachigen Raum gibt es zu den social media-Aktivitäten von Menschen mit Beeinträchtigungen bereits zahlreiche Studien und Veröffentlichungen. In Deutschland ist dieses breite Themenfeld hingegen noch ein einziges großes Forschungsdesiderat. Literatur

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Anne Haage

53 Kontaktzonen

53 Kontaktzonen Vorstellungen von Behinderung hängen eng mit Bildern zusammen. Diese werden nicht nur in den Medien (z. B. Bücher, Fernsehen oder Social Media) produziert, sondern auch durch tatsächliche Kontakte zwischen Menschen mit und ohne Behinderung. Welcher Art diese letztlich sind, hängt von der spezifischen Ausgestaltung und der Qualität der Kontakte ab. In diesem Beitrag werden am Beispiel der sogenannten ›geistigen Behinderung‹ zunächst die Erkenntnisse der Forschung zur Kontakthypothese von Allport (1958) referiert. Davon ausgehend wird diskutiert, inwiefern disruptive Kontakt-Erfahrungen zu einer DeKonstruktion defizitorientierter und von Fürsorglichkeit geprägter Bilder von ›geistiger Behinderung‹ beitragen können – und damit zu neuartigen kulturellen Deutungsmustern von Behinderung. Abschließend werden Beispiele für disruptive Kontakte zwischen Menschen mit und ohne Behinderung vorgestellt.

53.1 Kontakthypothese Ausgangspunkt der Überlegungen von Allport ist die Annahme, dass es insbesondere dann zu Vorurteilen gegenüber anderen Menschen kommt, wenn diese fremd sind. Kontakt zueinander, so die Grundannahme, könnte daher dazu beitragen, Vorurteile abzubauen. Empirische Untersuchungen zu dieser Hypothese zeigen jedoch, dass Intergruppenkontakte nicht zwangsläufig zu einer positiven Veränderung von Einstellungen führen (Woll 2017, 28). Vielmehr müssen die folgenden vier spezifischen Bedingungen gegeben sein, damit sich Intergruppenkontakte positiv auf den Abbau von Vorurteilen, Stereotypen und Stigmata (s. Kap. 51) auswirken: 1. Statusgleichheit. Die Interaktionspartner*innen müssen sich auf der gleichen Ebene eines etwaigen hierarchischen (Macht-)Gefüges befinden. Dies wäre beispielsweise nicht der Fall, wenn Studierende etwas für Menschen mit ›geistiger Behinderung‹ machten. Von Statusgleichheit (die sich im Kontext empirischer Studien nur schwer operationalisieren lässt) könnte man eher sprechen, wenn Studierende gemeinsam etwas mit Menschen mit Behinderung machen. 2. Gemeinsame Zielerreichung. Zwei unterschiedliche Personengruppen müssen im Kontakt ein gemeinsames Ziel verfolgen. Dabei besteht die Gefahr, dass das Nichterreichen des Ziels zur Verfes-

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tigung bestehender Vorurteile beiträgt. Von der erfolgreichen gemeinsamen Zielerreichung hingegen wird eine positive Auswirkung erwartet. Übertragen auf Studierende mit und ohne ›geistige Behinderung‹ könnte das beispielsweise bedeuten, dass ein Projekt mit einem klaren Ziel gemeinsam durchgeführt wird. 3. Kooperation. Für das Erreichen eines gemeinsamen Ziels ist Kooperation zwingend notwendig. Bezogen auf die Zusammenarbeit zwischen Studierenden ohne Behinderung und Menschen mit ›geistiger Behinderung‹ hieße das, dass das Projektziel ohne einen spezifischen Beitrag der Studierenden bzw. der Menschen mit Behinderung und ohne die konkrete Zusammenarbeit beider Gruppen nicht erreicht werden kann. 4. Unterstützung durch gesellschaftliche und institutionelle Instanzen. Der Kontakt zwischen unterschiedlichen Gruppierungen sollte gesellschaftlich oder institutionell nicht mit Sanktionen belegt sein, sondern im Gegenteil gefördert und geschützt werden, etwa wenn eine Hochschule die Zusammenarbeit zwischen Studierenden ohne Behinderung und Menschen mit ›geistiger Behinderung‹ ausdrücklich ermöglicht. Die Kontakthypothese von Allport ist in den letzten Jahrzehnten in unterschiedlichsten Bereichen mehrfach empirisch bestätigt und theoretisch weiterentwickelt worden. So konnte beispielsweise auch nachgewiesen werden, dass unter diesen vier Bedingungen stattfindende Kontakte zwischen Menschen mit und ohne Behinderung zum Abbau von Vorurteilen führen (Everett 2013). Gezeigt werden konnte zudem, dass nicht notwendigerweise alle vier Rahmenbedingungen vorliegen müssen, der Abbau von Vorurteilen jedoch am wirksamsten ist, wenn dies der Fall ist (Krämer/Zimmermann 2018). Auch mit Blick auf die Personengruppe der Menschen mit ›geistigen Behinderungen‹ konnten empirische Studien die Kontakthypothese bestätigen (Matteo/You 2012; McManus/ Feyer/Saucier 2011).

53.2 Disruptive Kontakte Bestenfalls finden Kontakterfahrungen im Alltag statt: »Gegen Behindertenfeindlichkeit hilft am besten Behindertenfreundlichkeit, also alltägliche Partnerschaften, vielfältige normale Kontakte, kurz: ›Leben in Nachbarschaften‹« (Wocken 2000, 306). Davon ist die Gesellschaft jedoch auch im Jahr 2020 noch weit ent-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_53

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – C Inklusion und Exklusion

fernt, was an systematischen Institutionalisierungsprozessen liegt, die geradezu zwangsläufig zu sozialer Isolierung führen, wie die folgenden Zahlen zeigen: • Rund 88 % aller Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt ›geistige Entwicklung‹ besuchen Förderschulen (KMK 2017). • Mehr als 90 % der Abgänger*innen der Förderschule mit dem Förderschwerpunkt ›geistige Entwicklung‹ wechselt in eine Werkstatt für behinderte Menschen (BMAS 2008). • Etwa 60 % der erwachsenen Menschen mit ›geistiger Behinderung‹ leben bei ihren Eltern (Groß 2014). Der Großteil der übrigen Erwachsenen lebt in stationären Wohneinrichtungen (Teilhabebericht 2016). Aus diesen Zahlen kristallisiert sich ein Bild von systematischer Trennung zwischen Menschen mit ›geistiger Behinderung‹ und Menschen ohne Behinderung heraus. Häufig sind die einzigen Kontakte zu Menschen ohne Behinderung Personen aus der Verwandtschaft, Förderschullehrkräfte oder Fachkräfte der Behindertenhilfe. Andere Kontakte sind alles andere als alltäglich oder selbstverständlich. Diese institutionalisierte Trennung führt zum Aufbau regelrechter Parallelwelten. Treffen diese aufeinander, kommt es nicht selten zu Extremreaktionen, die von mitleidiger und überzogener Fürsorglichkeit bis zu deutlicher Ablehnung bzw. zur Schau gestellter Behindertenfeindlichkeit reichen oder zu einfachem Ignorieren. Wo keine gemeinsamen Erfahrungen gemacht werden können, fehlt der Nährboden für gegenseitige Anerkennung. Gemeinsame Erfahrungen werden in Bezug auf Menschen mit ›geistigen Behinderungen‹ auch im (vermeintlichen) Zeitalter der schulischen Inklusion (s. Kap. 16) verhindert. So ist die sogenannte Förderschulbesuchsquote (also der Anteil der Schüler*innen, die in Förderschulen unterrichtet werden) in Bezug auf den Förderschwerpunkt ›geistige Entwicklung‹ nach der Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention von 0,935 (2008) auf 1,052 (2016) sogar angestiegen (KMK 2017, 7). Das bedeutet, dass sich die Anzahl der Schüler*innen, die eine Förderschule mit dem Förderschwerpunkt ›geistige Entwicklung‹ besuchen, nicht verringert hat – im Gegenteil. Zwar besuchen gleichzeitig auch mehr Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt ›geistige Entwicklung‹ Regelschulen; doch liegt dies wohl weniger an einem Abbau systematischer sozialer Isolierung eines Teils der Schülerschaft als vielmehr an einem veränderten Diagnoseverhalten: Mehr Menschen als zuvor werden

als geistig behindert bezeichnet. Zwar stellt ein Paradigmenwechsel von der Fürsorge zur Teilhabe derzeit die Leitorientierung bei der Weiterentwicklung der Behindertenhilfe dar – die Ermöglichung individuellerer Unterstützung und damit individualisierter Lebensstile –, doch schreitet dieser nur langsam voran, was an den genannten Zahlen deutlich wird. Das Modell von Allport zielt stark auf Gleichberechtigung, Kooperation und Statusgleichheit ab. Letztere lässt sich allerdings nicht qua Projektkonzeption verordnen. Menschen mit ›geistiger Behinderung‹ erleben in fast allen Lebensbereichen benachteiligende Statusdifferenzen. Ökonomisches Kapital, soziales Kapital, kulturelle Deutungshoheiten (etwa bezüglich der Bedeutsamkeit formaler Bildungsabschlüsse oder der Definition von individuellem Erfolg) sowie gesellschaftliche Erwartungen an Lese-, Schreib- oder Digitalkompetenz sind nur einige Beispiele dafür. Menschen mit ›geistiger Behinderung‹ befinden sich fast immer am unteren Ende einer Status-Hierarchie. Das führt dazu, dass Personen mit ›geistiger Behinderung‹ mit einem höheren Risiko in einen auf kooperative Zielerreichung ausgerichteten Kontakt gehen. Defizitorientierung, tendenzielle Behindertenfeindlichkeit, wenig Zutrauen in die Fähigkeiten der Menschen mit Behinderung oder Schwierigkeiten mancher Menschen ohne Behinderung, kooperativ mit Menschen mit Behinderung zusammenzuarbeiten, können schnell dazu führen, dass Kontakte Vorurteile eher festigen als abbauen. Deshalb ist die Frage berechtigt, ob womöglich Kontakt-Erfahrungen, in denen Menschen mit ›geistiger Behinderung‹ einen statusmäßigen Vorteil besitzen, zu einer positiven Veränderung kultureller Deutungsmuster von Behinderung beitragen können. Auch einer Verfestigung sozialer Isolierungsprozesse in der gesamten Lebensspanne könnte mit ungewohnten, disruptiven Kontakten begegnet werden. Im Folgenden wird skizziert, was unter disruptiven Kontakt-Erfahrungen verstanden werden kann. ›Disruptiv‹ bedeutet, laut Duden, u. a. ›(ein Gleichgewicht, ein System o. Ä.) zerstörend‹, und positiv gewendet kann Zerstörung Raum für Neues schaffen. Insofern ist mit Disruption hier gemeint, dass unerwartete, überraschende und ungewohnte Kontakt-Erfahrungen mit Menschen mit ›geistigen Behinderungen‹ zu veränderten, positiveren Deutungsmustern von Behinderung führen können. Dies setzt voraus, dass disruptive Kontakt-Erfahrungen auch von Menschen ohne Behinderung als positiv wahrgenommen werden. Die vier Bedingungen für positive Intergruppen-Kon-

53 Kontaktzonen

takt-Erfahrungen nach Allport aufnehmend, sind disruptive Kontakte wie folgt gekennzeichnet: 1. Statusvorteil für die Menschen mit ›geistiger Behinderung‹. Die Interaktionspartner*innen befinden sich nicht auf einer gleichen Ebene. Vielmehr haben diejenigen, die als geistig behindert bezeichnet werden, im Kontakt einen Statusvorteil, d. h. eine Rolle, die sie von den Menschen ohne Behinderung abhebt und die sie in die Lage versetzt, den Kontakt maßgeblich zu gestalten. Das könnte z. B. bedeuten, dass die Menschen mit ›geistiger Behinderung‹ eine anleitende Funktion haben, als Lehrende fungieren, als Kulturschaffende im Mittelpunkt stehen oder aufgrund ihrer Behinderungserfahrung einen Kompetenzvorteil haben. 2. Das Ziel wird von den Menschen mit ›geistiger Behinderung‹ vorgegeben. Als Anleitende, Lehrende, Kulturschaffende oder Kompetentere definieren Menschen mit ›geistiger Behinderung‹ das Ziel des Kontaktes. Als dessen maßgebliche Gestalter*innen prägen sie das Verständnis von dessen Sinn und Zweck. Menschen ohne Behinderung sind die Durchführenden, Lernenden, Konsumierenden oder Kund*innen. 3. Zielerreichung durch konstruktive Interaktion. Im Gegensatz zu Kontakten nach den Allport-Bedingungen sind disruptive Kontakt-Erfahrungen nicht unbedingt durch Kooperation geprägt. Konstruktive Interaktion im Sinne wechselseitigen Interesses oder eines sich aufeinander Einlassens ist jedoch notwendig. Dieser Aspekt ist deswegen hervorzuheben, weil Menschen ohne Behinde­ rung in der Regel gewohnt sind, Statusvorteile gegenüber Menschen mit ›geistiger Behinderung‹ zu besitzen, und wiederum nicht gewohnt sind, dass die Ziele des Kontakts von Menschen mit Behinderung vorgegeben werden. 4. Unterstützung durch gesellschaftliche und institutionelle Instanzen. Diese vierte Bedingung ist auch im Kontext disruptiver Kontakt-Erfahrungen von hoher Bedeutung. Gerade aufgrund des Ungewohnten, Überraschenden und Unerwarteten ist eine Sicherheit bietende Umrahmung des Kontakts wichtig. Die hier skizzierten Bedingungen für disruptive Kontakt-Erfahrungen zwischen Menschen mit ›geistiger Behinderung‹ und Menschen ohne Behinderung heben sich – abgesehen vom letzten Aspekt – deutlich von den von Allport beschriebenen vier Bedingungen für Kontakte, die zum Abbau von Vorurteilen beitragen, ab. Die Gefahren von Intergruppen-Kontakten,

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die in der klassischen Kontakthypothese als die Verfestigung von Vorurteilen benannt werden, gelten indes auch für disruptive Kontakte. Deshalb sind die folgenden Kriterien von zentraler Bedeutung. • Die am Kontakt teilnehmenden Menschen mit ›geistiger Behinderung‹ identifizieren sich mit ihrer Rolle bei der Erreichung eines Ziels, das der Kontakt anstrebt. • Die am Kontakt teilnehmenden Menschen ohne Behinderung bewerten die Statusungleichheit sowie das Ziel des Kontakts nicht als negativ. Die Zielsetzung solcher disruptiven Kontakte kann darin bestehen, dass Bilder und Vorstellungen von ›geistiger Behinderung‹ erschüttert werden – und zwar in einer positiven Art und Weise, die grundsätzliche Reflexionsprozesse anregt. Für solche disruptiven Kontakte gibt es etliche Beispiele. Einige von ihnen werden im Folgenden vorgestellt.

53.3 Beispiele für gezielt angebahnte disruptive Kontakt-Erfahrungen Als selbstständige, an die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel angegliederte, gemeinnützige Einrichtung ist das Institut für Inklusive Bildung die erste Einrichtung weltweit, die Menschen mit ›geistigen Behinderungen‹ eine dreijährige Vollzeit-Qualifizierung zur Bildungsfachkraft anbietet. Die Bildungsfachkräfte mit Behinderung sind schwerpunktmäßig als Lehrende an Hochschulen tätig. In unterschiedlichen Studiengängen besteht das Ziel ihrer Lehrtätigkeiten darin, die Lebensrealitäten von Menschen mit ›geistiger Behinderung‹ an Studierende in unterschiedlichen Bildungsformaten (z. B. semesterlange Seminarreihen, Vorträge, Vorlesungen, Workshops) zu vermitteln. Qualifi­ ziert werden ausschließlich Personen, die zuvor in einer Werkstatt für behinderte Menschen gearbeitet haben. Die Zielsetzung des Instituts besteht darin, dass die Bildungsfachkräfte nach Abschluss der Qualifizierung in sozialversicherungspflichtige Tätigkeiten auf den ersten Arbeitsmarkt wechseln (Van Essen 2017). Damit trägt das Institut in einmaliger Art und Weise zu einem Abbau strukturell herbeigeführter sozialer Isolierung bei. Behinderung wird in diesem Projekt-Zusammenhang nicht als etwas Defizitäres aufgefasst. Im Gegenteil stellt die Behinderungserfahrung ein Alleinstellungsmerkmal der Bildungsfachkräfte mit Behinderung im Bildungswesen dar. Als Betroffene wissen sie, wie es ist, sich in einer Welt zurechtzufinden, die

300

III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – C Inklusion und Exklusion

nicht für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen gestaltet ist. Die Qualifizierung am Institut für Inklusive Bildung befähigt sie, dieses Wissen in qualitativ hochwertiger Bildungsarbeit zu vermitteln. Im Rahmen der Arbeit des Instituts für Inklusive Bildung werden gezielt disruptive Kontakt-Erfahrungen angebahnt, indem die Bildungsfachkräfte mit ›geistiger Behinderung‹ als Lehrende agieren. Sie befinden sich damit in einem Statusvorteil gegenüber den Studierenden, die die Lernenden sind. Die Bildungsfachkräfte geben zudem das Ziel vor, sei es in Bezug auf die Inhalte einer Präsentation oder mit Blick auf die Zielsetzungen einer Seminarreihe. Bei der Zielerreichung geht es weniger um gleichberechtigte Kooperation als um konstruktive Interaktion zwischen den Studierenden und den Bildungsfachkräften. Umrahmt sind die Tätigkeiten der Bildungsfachkräfte von Kooperationsverträgen zwischen dem Institut für Inklusive Bildung und den Hochschulen. Empirische Untersuchungen zu dieser Form der Kontakt-Gestaltung kommen zu positiven Ergebnissen: »Die ersten Befunde hinsichtlich der positiven Einstellungsänderungen durch den Austausch mit qualifizierten Bildungsfachkräften mit Behinderungen sowie die Rolle des regelmäßigen Kontakts für die Verringerung sozialer Distanz gegenüber Menschen mit Behinderungen erscheinen vielversprechend« (Krämer/ Zimmermann 2018, 115).

Auch im Projekt PIKSL (›Personenzentrierte Interaktion und Kommunikation für mehr Selbstbestimmung im Leben‹) der ›In der Gemeinde leben gGmbH‹ werden Behinderungserfahrungen als Kompetenz aufgefasst. PIKSL verfolgt in erster Linie zwei Ziele: Zum einen sollen Menschen, die keine oder nur wenig Internetnutzungserfahrungen haben, befähigt werden, sich möglichst selbstständig in der digitalen Welt zurechtzufinden. Zum anderen sensibilisiert PIKSL digitale Unternehmen dafür, ihre Produkte und Dienstleistungen inklusiv und barrierefrei zu gestalten, und unterstützt sie bei der Umsetzung. Menschen mit ›geistiger Behinderung‹ sollen dabei ihre Behinderungserfahrung für den Prozess der Reduktion von Komplexität digitaler Angebote nutzen (teils in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen). Sie werden als Expertinnen und »Experten im Abbau von Komplexität« (Freese 2013, 24) verstanden. Eines der vielfältigen Angebote von PIKSL sind die Computer- und Internetkurse für Senior*innen. Menschen mit ›geistiger Behinderung‹ leiten die-

se Schulungen an und befähigen Senior*innen ohne Behinderung, sich am Computer und im Internet zurechtzufinden. Auch hier lässt sich von disruptiven Kontakt-Erfahrungen sprechen, da die PIKSL-Mitglieder die Schulung leiten und damit einen Statusvorteil haben; sie geben das Ziel der Schulung vor, konstruktive Interaktion steht im Vordergrund und der Kontakt ist institutionell durch PIKSL umrahmt. Das britische Projekt »Drag Syndrome« trägt zwar den Aspekt Behinderung im Namen – es handelt sich um eine Gruppe von Dragqueens und Dragkings, die mit Trisomie 21 leben und deren Shows Menschen auf der ganzen Welt begeistern –, doch steht die Kunst an erster Stelle. Creatice Director Daniel Vais betont: »›The starting point is the art... people see that actually, disability can be rock’n’roll and avant-garde and then they’re accepting it‹« (Morton 2018). Die chromosomenbedingte Abweichung gerät damit in den Hintergrund und die künstlerische Performance in den Vordergrund. 2019 gehören sieben Künstler*innen mit Trisomie 21 der Drag-Formation an. Alle verkörpern einen einzigartigen Charakter, verbunden mit individuellen Kleidungsstilen und Künstlernamen wie z. B. Horrora Shebang, Frozita Honkong oder Gaia Callas. Drag Syndrome existiert seit 2018, fügt der DragKunst eine neue Facette hinzu und macht ebenso außerhalb der Drag-Szene Schlagzeilen. Auch in diesem Projekt-Kontext lässt sich von disruptiven KontaktErfahrungen sprechen. Die Künstler*innen befinden sich im Statusvorteil, da sie mit ihrer Performance im Mittelpunkt stehen, und bestimmen die Zielsetzung einer Veranstaltung. Dabei geht es nicht um gleichberechtigte Kooperation, sondern um konstruktive Interaktion, denn die Aufführungen zielen darauf ab, das Publikum zu begeistern. Institutionell verankert ist das Projekt bei der Produktionsfirma Culture Device. Diese wiederum ist finanziert durch den Arts Council England. Literatur

Allport, Gordon: The nature of prejudice. A comprehensive and penetrating study of the origin and nature of prejudice. Boston 1958. BMAS: Entwicklung der Zugangszahlen zu Werkstätten für behinderte Menschen. Im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales 2008. Hg. ISB – Gesellschaft für Integration, Sozialforschung und Betriebspädagogik. https://www.bmas.de/DE/Service/Medien/Publikationen/ Forschungsberichte/Forschungsberichte-Teilhabe/ forschungsbericht-f383.html (19.12.2019). Everett, Jim A. C.: Intergruppen-Kontakttheorie: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In: In-Mind 2/17 (2013), https://de.in-mind.org/article/intergruppen-

53 Kontaktzonen kontakttheorie-vergangenheit-gegenwart-und-zukunft (15.11.2019). Freese, Benjamin: Barrieren und inklusive Medienbildung im PIKSL-Labor. In: SIEGEN: SOZIAL. Analysen, Berichte, Kontroversen 18/1 (2013), 50–53. Groß, Peter: Wohnen. In: Erhard Fischer (Hg.): Heilpädagogische Handlungsfelder. Grundwissen für die Praxis. Stuttgart 2014, 206–230. KMK: Sonderpädagogische Förderung an Schulen. 2017, https://www.kmk.org/dokumentation- statistik/statistik/ schulstatistik/sonderpaedagogische-foerderung-anschulen.html (15.11.2019). Krämer, Sonja/Zimmermann, Friederike: Vorbereitung auf Inklusion in der Lehramtsausbildung unter Einbezug qualifizierter Menschen mit Behinderungen – Erste Ergebnisse einer Evaluationsstudie. In: Birgit Brouër/ Andrea Burda-Zoyke/Jörg Kilian/Inger Petersen (Hg.): Vernetzung in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung. Ansätze, Methoden und erste Befunde aus dem LeaP-Projekt an der Christian-Albrechts- Universität zu Kiel. Münster 2018, 103–118. Matteo, Elizabeth K./You, Di: Reducing Mental Illness Stigma in the Classroom. Teaching of Psychology 39/2 (2012), 121–124. McManus, Jessica L./Feyes, Kelsey J./Saucier, Donald A.: Contact and knowledge as predictors of attitudes toward individuals with intellectual disabilities. In: Journal of Social and Personal Relationships 28/5 (2011), 579–590. Morton, Deana: The Drag Troupe For Kings and Queens

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With Learning Disabilities. 2018, https://www.vice.com/ en_us/article/7xyq4x/downs-syndrome-drag-queenskings-learning-disability (18.12.2019). Teilhabebericht: Zweiter Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen. Teilhabe – Beeinträchtigung – Behinderung. 2016. Hg. Bundesministerium für Arbeit und Soziales. 2016, http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/ PDF-Publikationen/a125–16-teilhabebericht.pdf?__ blob=publicationFile&v= 7 (03.06.2020). Thimm, Walter: Leben in Nachbarschaften. Hilfen für Menschen mit Behinderung. Freiburg 1994. Van Essen, Fabian: Menschen mit Lernschwierigkeiten gestalten Lehre: Inklusive Hochschulbildung. In: Behinderte Menschen. Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten (2017), 41–47. Wocken, Hans: Der Zeitgeist: Behindertenfeindlich? Einstellungen zu Behinderten zur Jahrtausendwende. In: Friedrich Albrecht/Vera Moser/Andreas Hinz (Hg.): Perspektiven der Sonderpädagogik. Disziplin- und professionsbezogene Standortbestimmungen. Neuwied/Kriftel/Berlin 2000, 283–306. Woll, Anke: Kontaktbedingungen zwischen Menschen mit und ohne Behinderung als Prädiktoren von Einstellungen zu Inklusion. Diss. Pädagogischen Hochschule Heidelberg 2017, https://opus.ph-heidelberg.de ›files‹ DissertationWoll21Juni2017 (15.11.2019).

Fabian van Essen

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – C Inklusion und Exklusion

54 Werbung Betrachtet man einen Abriss der aktuellen Werbelandschaft, so spürt man deutlich die Präsenz gutaussehender und körperlich fitter Werbedarsteller*innen, die die Durchschnittsrezipierenden zum Kauf eines Produkts animieren sollen (Schemer 2016, 452–453; Hemetsberger/Pirker/Pretterhofer 2009, 134–135). Angesichts dieser auf Attraktivität und Gesundheit fußenden Werbebilder wirft der beeinträchtigte Körper einige Fragen auf: In welchem Umfang findet Behinderung in der Werbung überhaupt statt? Welche Chancen und Risiken werden dem Casten von Darsteller*innen mit Behinderung für Werbeproduktionen zugeschrieben? Welche Werbestrategien lassen sich bezüglich Behinderung in aktuellen Werbungen ausmachen? Bezüglich des Umfangs, den Behinderung in der kommerziellen Werbelandschaft einnimmt, lässt sich in bisherigen Publikationen zu dieser Thematik eine deutliche Linie erkennen. Häufig wird von einer »Unterrepräsentation« (Eckert 2014, 32) oder schieren »Unsichtbarkeit« (Reinhardt/Gradinger 2007, 91) gesprochen. Die Journalistin Eva Keller (2011, 22) geht sogar so weit, bei dem Casten von Werbedarsteller*innen mit Behinderung von einem »Traum von Werbung« zu sprechen: ein zum Großteil unerfüllter Wunschgedanke also, der gerade angesichts des Potentials der werbemedialen Sichtbarkeit für eine normalisierende Alltagswahrnehmung von Behinderung an Drastik gewinnt (Reinhardt/Gradinger 2007, 91–92). Eine gute Gesamtübersicht zu bisherigen Erkenntnissen bietet Martin Eckert in Werbung mit Behinderung (2014, 17–42). Er verweist u. a. auf die unterschiedlichen Entwicklungen bezüglich werbemedialer Sichtbarkeit und Publikationsdichte im angloamerikanischen und deutschsprachigen Raum: Wenn auch in beiden Räumen Werbedarsteller*innen mit Behinderungen bis heute eher marginal vertreten sind, zeichnete sich in den USA schon früher die Bereitschaft ab, Behinderung in die Werbelandschaft zu integrieren. Diese stärkere Offenheit spiegelt sich, Eckert folgend, auch in den Forschungsbestrebungen zum Themenkomplex rund um Behinderung und Werbung wider. So umfasst der wissenschaftliche Diskurs im angloamerikanischen Raum mehr Publikationen als der deutschsprachige, zudem ist er auch durch eine positivere Kontextualisierung gekennzeichnet. Denn anstatt auf mögliche Risiken seitens der Werbenden zu fokussieren, werden zunehmend die Chancen hervorgehoben, die eine verstärkte werbemediale Wahrneh-

mung von Menschen mit Behinderung für deren Lebenswelt und Inklusion im Alltag haben könnte. Auch für die Unternehmen selbst sehe man in dem Werben mit Behinderung weniger ein riskantes Verlustgeschäft als vielmehr ein profitables Potential: Schließlich seien Menschen mit Beeinträchtigungen selbst eine attraktive (da zahlenmäßig starke) Werbe-Zielgruppe. Was sind nun die Risiken, aufgrund derer Unternehmen nur zögerlich Behinderung in ihre Werbungen integrieren? Zunächst ist hier die bereits zu Beginn angesprochene einflussreiche Kommunikator-Stellung von idealtypisierten Schönheits- und Gesundheitsbildern zu nennen. Wo das Zeigen von Attraktivität und Fitness als etablierte und vor allem gewinnbringende Strategie gilt, scheint Behinderung nicht ins Bild zu passen (Keller 2011, 23; Jäckel/Eckert 2012, 229). Ein weiteres Problem bildet die Überschreitung von »normative[n] Erwartungen des Zeigbaren und Gewohnheitsgrenzen« (Jäckel 2007, 14). Gefährlich ist diese u. a. deshalb, weil sie bei den Rezipierenden zu einer Aufmerksamkeitsverlagerung weg vom Produkt hin zum behinderten Körper als eigentliches Spektakel führen kann (Keller 2011, 22). Zudem schürt der »Tabu-Bruch« Behinderung (Jäckel/Eckert 2012, 229) die Sorge der werbenden Unternehmen vor einer möglichen Imageverletzung: So fürchtet man, die Rezipierenden könnten die Werbung als Provokation wahrnehmen oder sie gar als Ausbeutung der Darsteller*innen verstehen; bei Rezipierenden mit Beeinträchtigungen hingegen besteht die Gefahr, dass sich diese von (unbeabsichtigt) verzerrten Darstellungen ihrer selbst angegriffen fühlen könnten (Reinhardt/Gradinger 2007, 92 und 103–104; Jäckel/Eckert 2012, 229–230). Wie also wirbt man angesichts dieser potentiellen Problematiken mit der vermeintlichen ›Risikogruppe Behinderung‹? Der nachfolgende Blick auf verschiedene Werbespots soll – mittels eines semiotischen Zugangs (vgl. dazu ausführlich Krah 2017) – beispielhaft unterschiedliche Strategien aufzeigen. Den Anfang macht die »Look on the light side«-Kampagne des Süßwarenherstellers Mars. Die Kampagne für die kleinen Schokokügelchen ›Maltesers‹ setzt sich aus mehreren Werbespots zusammen, von denen drei Schauspieler*innen mit Behinderungen einbeziehen. Folgt man der Kategorisierung von Jäckel und Eckert (2012, 234), lässt sich die Kampagne als »behinderungsinklusiv« bezeichnen, da das darin beworbene Produkt sowohl für Menschen mit als auch ohne Behinderung von Interesse ist. Auffällig ist, dass alle Spots einem ähnlichen Aufbau unterliegen: In einer ungezwungenen Gesprächs-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_54

54 Werbung

situation an verschiedenen Orten erzählen die involvierten Personen auf humorvolle Art und Weise und meist unter Zuhilfenahme der Schokoladenkügelchen von einem kleinen Missgeschick (vgl. Macleod 2016). Die übergreifende Aussage ist, man solle angesichts von Nichtigkeiten locker bleiben – quasi ebenso lockerleicht wie das Produkt selbst. Betrachtet man gesondert die Werbespots mit Schauspieler*innen mit Behinderung, wird deutlich, dass deren Beeinträchtigung bei den erzählten Missgeschicken stets eine Rolle spielt: »Theo’s Dog« (Mars Chocolate UK 2016a) erzählt die Geschichte eines verschluckten Hörgerätes, im Spot »Dance Floor« (Mars Chocolate UK 2016b) wird von einem Zwischenfall mit dem Rollstuhl auf einer Hochzeit berichtet, und in »New Boyfriend« (Mars Chocolate UK 2016c) erzählt eine Frau ihren Freundinnen, wie ihr Freund einen ihrer Spasmen als sexuelle Handlung missinterpretierte. Dass in allen drei Spots die Beeinträchtigung der Figuren nicht unkommentiert bleibt, sondern Auslöser für die unangenehmen Situationen ist, kann als Abwertung der Beeinträchtigung kritisiert werden. Positiv ist jedoch, dass die Spots zumindest in Teilen Normalisierungsbestrebungen aufweisen: Die thematisierte amouröse Beziehung in »New Boyfriend« steht in Opposition zu dem in den Medien immer wiederkehrenden Stereotyp von Menschen mit Behinderung als asexuell und unattraktiv (vgl. Ellis 2015, 35–48; Waxman Fiduccia 1999, 277–278). Zudem zeigen zwei der drei Spots die Darstellerinnen in Arbeitsumgebungen, wodurch der Vorstellung, Menschen mit Behinderung seien weder unabhängig noch produktiv, widersprochen wird (vgl. Barnes 1992). Anstatt Behinderung in den Kontext von (mehr oder weniger) humorvollen Produktinszenierungen einzubetten, setzt der Spot »No Excuses« des Sportartikelherstellers Nike auf Inspiration als zentrale Werbestrategie. Zu Beginn ist der Profi-Sportler Matt Scott zu sehen, der in einer Turnhalle mit einem Basketball spielt. Auffällig ist, dass sein Körper für die Zeit des Spiels nie in seiner Gesamtheit zu sehen ist, lediglich sein Oberkörper wird in den Einstellungsgrößen Nahe und Halbnahe gezeigt. Begleitet von dem Geräusch des aufschlagenden Basketballs gibt Scott nacheinander mehrere kurze Sätze von sich – wie z. B. »I am not the athletic type« (Nike 2007, TC 00:00:45) –, die sich unter ›Ausreden, um sich nicht sportlich zu betätigen‹ subsummieren lassen. Dass Scott selbst die ganze Zeit über bei einer sportlichen Aktivität zu sehen ist, verdeutlicht, dass es sich bei den vorgebrachten Ausreden nicht um seine eigenen, sondern viel-

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mehr um die der breiten Masse handelt. Mit der letzten Ausrede: »And my feet hurt« (ebd., 00:53) wird auch die letzte Einstellung eingeleitet, in der nun plötzlich Scotts Unterkörper zu sehen ist – was dem Rezipienten verrät, dass Scott im Rollstuhl sitzt und Beinprothesen trägt. Durch das Zeigen dessen, was den Rezipierenden zuvor über die Wahl der Einstellungsgrößen noch vorenthalten wurde, wird im Spot ein Schockmoment inszeniert; dieser Moment zielt bei ›Sportfaulen‹ auf ein Gefühl des Ertappt-Seins ab, das gerade bei Rezipierenden ohne Behinderung – die (anders als der beeinträchtigte Scott) trotz körperlicher Unversehrtheit Ausreden wie schmerzende Beine vorschieben, um keinen Sport treiben zu müssen – seine volle Wirkung entfalten kann. Im Gegensatz zu den Maltesers-Spots, in denen den Schokokügelchen durch die lebhaften Erzählungen der Darsteller*innen viel Raum eingeräumt wird, spielen die Produkte (Basketball und Kleidung) beim Nike-Spot kaum eine Rolle. So wird hier mit der Transformation Scotts in eine Inspirationsquelle für die Rezipierenden geworben, deren neugewonnene Motivation zur körperlichen Betätigung sie zum Kauf von Nike-Produkten verleiten soll. Dadurch folgt die Darstellung dem Stereotyp des ›Superkrüppels‹, der für die Überwindung seiner Beeinträchtigung heroisiert wird (Barnes 1992). Dass Nike auch andere Schwerpunkte setzen kann, wird in einem Spot für den FlyEase-Sportschuh deutlich. Da der Schuh mit seiner speziellen Reißverschlusstechnik gezielt auf die Bedürfnisse von Sportfans mit eingeschränkter Motorik abzielt, bilden hier Menschen mit Beeinträchtigungen die primäre Zielgruppe. Im Gegensatz zu »No Excuses« präsentiert sich der Spot weniger als Werbung, sondern vielmehr als Dokumentation des Prozesses, der zu dem ›barrierefreien Schuh‹ führt. Als Inspirationsquelle für dessen Entwurf wird der junge Matthew Walzer vorgestellt, der sich einen coolen Schuh wünscht, den er sich als Paralytiker ohne fremde Hilfe anziehen kann. Vergleicht man die Darstellung des Jungen mit der von Matt Scott im »No Excuses«-Spot, zeigt sich das wesentlich differenziertere Bild Matthews: Anstatt ihn auf ein Objekt der Inspiration zu reduzieren, wird Matthew mit Hilfe von Animationen, die seine Beeinträchtigung veranschaulichen, und unter Rückgriff auf Fotos aus seiner Kindheit als eine wirkliche Person mit einer Vergangenheit, mit Freunden und Hobbys greifbar. Die damit suggerierte Authentizität nutzt der Spot, um Matthew als einen glaubhaften Garanten zu inszenieren, der für die Funktionalität des Produkts

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III Kulturwissenschaftliche Themenfelder – C Inklusion und Exklusion

bürgt. Darüber hinaus deklariert der Spot durch Aussagen wie z. B. »At some point, some people become less able sooner than others« (Nike 2015, TC 00:04:55– 00:05:00) Behinderung als etwas, das jeden betreffen kann und dann bestimmte Bedürfnisse mit sich bringt, und nicht als etwas Schockierendes wie im »No Excuses«-Spot. Werbungen

Mars Chocolate UK [2016a]: Maltesers. Theo’s Dog. 2016, https://www.youtube.com/watch?v=lYIEAIogarI (25.01.2020). Mars Chocolate UK [2016b]: NEW Maltesers Ad. Dance Floor. 2016, https://www.youtube.com/watch?v=UB8-PFAJDE&feature=emb_title (25.01.2020). Mars Chocolate UK [2016c]: Maltesers. New Boyfriend. 2016, https://www.youtube.com/watch?v=YgUqmKQ9Lrg (25.01.2020). Nike: Warhawk Matt Scott in Nike ›No Excuses‹ Commercial. 2007, https://www.youtube.com/ watch?v=obdd31Q9PqA (07.12.2019). Nike: Nike FLYEASE Story. In: Ann-Christiane Diaz: A Remarkable Athlete Inspires Nike’s Latest Shoe Innovation. 2015, https://adage.com/creativity/work/nikeflyease-story/42732 (25.01.2020).

Literatur

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Hemetsberger, Andrea/Pirker, Clemens/Pretterhofer, Herbert: Medienbilder von Schönheit in der Werbung. In: Andrea Gröppel-Klein/Claas Christian Germelmann (Hg.): Medien im Marketing. Optionen der Unternehmenskommunikation. Wiesbaden 2009, 131–150. Jäckel, Michael: Ambivalenzen des Konsums und der werblichen Kommunikation. In: Ders. (Hg.): Ambivalenzen des Konsums und der werblichen Kommunikation. Wiesbaden 2007, 9–18. Jäckel, Michael/Eckert, Martin: Menschen mit Behinderung als Werbeträger – Fortbestand der Ausblendungsregel? In: Hannes Haas/Katharina Lobinger (Hg.): Qualitäten der Werbung – Qualitäten der Werbeforschung. Köln 2012, 228–244. Keller, Eva: Ein Traum von Werbung. In: Menschen 4 (2011), 22–25, http://www.eva-keller.de/leseproben/ werbung.pdf (06.12.2019). Krah, Hans: Semiotische Grundlagen von Kommunikation. In: Ders./Michael Titzmann (Hg.): Medien und Kommunikation. Eine Einführung aus semiotischer Perspektive. Passau 2017, 11–34. Macleod, Duncan: Maltesers Look on the Light Side. 2016, http://theinspirationroom.com/daily/2016/malteserslook-on-the-light-side/ (25.01.2020). Schemer, Christian: Wirkung von Attraktivität und SexAppeals in der Werbung. In: Gabriele Siegert/Werner Wirth/Patrick Weber/Juliane A. Lischka (Hg.): Handbuch Werbeforschung. Wiesbaden 2016, 451–472. Reinhardt, Jan D./Gradinger, Felix: Behinderung in der Werbung – zwischen Unsichtbarkeit und Provokation. In: Michael Jäckel (Hg.): Ambivalenzen des Konsums und der werblichen Kommunikation. Wiesbaden 2007, 91–107. Waxman Fiduccia, Barbara Faye: Sexual Imagery of Physically Disabled Women. Erotic? Perverse? Sexist? In: Sexuality and Disability 17/3 (1999), 277–282.

Miriam Becker

IV Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

55 Einleitung: Behinderung in Kunst und Literatur Kunst und fiktionale Literatur, Theater, aber auch Film, (digitale) Objekte und ästhetisierte Bilder (im Folgenden der Einfachheit halber als ›Kunst und Literatur‹ bezeichnet) beeinflussen Vorstellungen von Behinderung zu unterschiedlichen Zeiten in jeweils konkreten kulturellen Kontexten. Ihrerseits werden sie von medizinischen, psychologischen, pädagogischen, alltagsweltlichen, medial vermittelten, persönlichen usw. Erzähl- und Darstellungsmustern geprägt, die Kunst und Literatur fortführen oder unterlaufen. Denn sie spiegeln die Gesellschaft nicht einfach nur wider, sondern beobachten sie und setzen sich mit ihr auseinander, wobei sie selbst ein Teil von ihr sind (vgl. Hartwig 2008). Behinderung wird dabei auf vielfältige Weise explizit oder implizit dargestellt oder als Erfahrung ausgedrückt.

55.1 Zwischen Stereotyp und Innovation Figuren, deren körperliche, psychische oder kognitive Abweichungen gemäß der Terminologie des beginnenden 21. Jahrhunderts als Behinderung klassifiziert werden können, bevölkern Kunst und Literatur zu allen Zeiten. In der Weltliteratur (vgl. Barker/Murray 2018a, 1) finden sich besonders prominente Beispiele in Shakespeares Richard III (um 1583), Herman Melvilles Moby-Dick (1851), William Faulkners The Sound and the Fury (1929), Harper Lees To Kill a Mockingbird (1960) oder Kenzaburo Ōes Eine persönliche Erfahrung (1964), um nur einige auch in den Literary Disability Studies häufig zitierte Werke zu nennen. Weniger bekannt ist, dass auch viele weltberühmte Autor*innen selbst eine Behinderung in unserem heutigen Verständnis hatten wie Homer, John Milton, Alexander Pope, John Keats, James Joyce oder Virginia Woolf. Diese Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderung in Kunst und Literatur sagt zudem nichts über die Qualität der Darstellung aus und verweist keineswegs auf soziale Partizipation oder gar politische Macht von Menschen mit Behinderung. Snyder/Mitchell stellen sogar die Gleichung auf: »[...] the degree to which an experi-

ence appears absent from social life determines the degree of interest lavished on that object in artistic discourses« (Snyder/Mitchell 2006, 1383). In künstlerischen Werken scheint Behinderung auch heute noch in weit höherem Maße als andere Werkelemente erklärungsbedürftig zu sein und fordert geradezu Hintergrundgeschichten ein: »It appears that we rarely represent disability without making automatic connections to the various stories we feel it might, as the consequence of its very existence, tell« (Barker/Murray 2018a, 2; vgl. Hall 2016, 3; Mitchell/ Snyder 2000, 6). So erscheint Behinderung in Kunst und Literatur traditionell als Bedeutungsträger für etwas Anderes und als ästhetisches Gestaltungsmittel, Metapher oder Symbol (vgl. Garland Thomson 1997; Mitchell/Snyder 2000; Heiner/Gruber 2003; Hall 2016, 36–38; Barker/Murray 2018). King Richards Hinken symbolisiert beispielsweise in Shakespeares Theaterstück einen Charakterdefekt, und Hamms Rollstuhl steht sinnbildlich für die desolate conditio humana in Samuel Becketts Fin de partie/Endgame (1956). Behinderung dient der Gesellschaftsanalyse, wie z. B. der ›Schwachsinn‹ und seine (gesellschaftlichen) Ursprünge und Konsequenzen in der russischen Weltliteratur (Nikolai Gogol, Fjodor Dostojewskij, Anton Tschechow), bei den französischen Realisten und Naturalisten (Gustave Flaubert, Émile Zola) oder im deutschen Expressionismus (in der Lyrik Georg Heym und Georg Trakl; in der Malerei Alfred Kubin, Otto Dix, Egon Schiele und Paula Modersohn-Becker) (vgl. hierzu Häßler/Häßler 2005, 100–102). Bei Mürner (1990, 241–243) findet sich eine Tabelle, die Metaphern für verschiedene Formen von Behinderung in der Literatur auflistet und prototypisch erläutert, beispielsweise ›blind‹ für ›planlos, sinnlos, willkürlich‹ oder ›schwerhörig‹ für ›verstockt‹ (ebd., 241). Darüber hinaus kann Behinderung als Symbol eingesetzt werden, z. B. für das Übel des Krieges – wie in dem Film Born on the Fourth of July (USA 1989; Regie: Oliver Stone) oder in Franz Xaver Kroetz’ Der Nusser (vgl. dazu Müller 2018) –, für Schuld – wie in Carne trémula (E 1998; Regie: Pedro Almodóvar) – oder für menschliche Tragik – wie in dem Film What’s eating Gilbert Grape (USA 1993; Regie: Lasse Hallström). Dabei ist insbesondere wichtig, welche Phase einer Behinderungserfahrung gezeigt wird: Eine kürz-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_55

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

lich erworbene Beeinträchtigung steigert das Potential für Tragik und Pathos, eine schon integrierte Beeinträchtigung das Potential für eine übertragene (oft negativ konnotierte oder heroisch überhöhte) Bedeutung. Behinderung als Metapher oder Symbol wird in der Regel auch mit einem (sozialen, religiösen, ökonomischen usw.) Werturteil verbunden. Sie erhält auf diese Weise eine tiefere Bedeutung und verliert ihren kontingenten Charakter (s. Kap. 44). In Kunst und Literatur werden Menschen mit Behinderung entsprechend oft stereotype Rollen zugewiesen. Mitchell/Snyder nennen folgende »representational possibilities«: »[...] the passively suffering angel of the house, the overcompensating supercrip, the tragically innocent disabled child, the malignant disabled avenger, and the angry war veteran« (Mitchell/ Snyder 2000, 25). Bei Ney (2007) finden sich darüber hinaus »Suizid-Kandidaten« und »Lehrmeister«, Cheyne nennt speziell für Kriminalgeschichten »the psychopathic perpetrator, the cognitively exceptional detective, or the disabled witness who possesses but cannot reveal key information« (Cheyne 2018, 193). So funktionalisiert, stören Menschen mit Behinderung die bestehende soziale Ordnung nicht; die Beeinträchtigung erscheint als individuelles Problem und wird nicht in ihrer Wechselwirkung mit Gesellschaftsstrukturen sichtbar. Stereotype (tragische, komische, melodramatische etc.) Erzählstrukturen, Narrative und Darstellungsmuster (s.  Kap.  51) sind beispielsweise der overcoming-, der compensate oder der tragic plot: Menschen (meist Einzelpersonen, oft Einzelgänger) überwinden ihre (ihnen persönlich zugeschriebene) Behinderung, helfen nicht-behinderten Menschen zu einem erfüllteren Leben oder scheitern sentimentalmelodramatisch. Viele Werke fokussieren auch den Übergang vom unversehrten zum behinderten Körper, so dass Letzterer zwangsläufig als (tragisch) defizitär erscheint. Zudem enden viele Geschichten mit »the erasure of impairments either through death or cure« (Snyder/Mitchell 2006, 1383). Alle Plots haben als Subtext, dass Behinderung ein (bedauernswertes) Defizit ist, alle weiteren Eigenschaften einer Person überstrahlt und höchstens einen ›übertragenen Wert‹ in einer ›normalen‹ Welt haben kann. Oft fehlen hingegen Bezüge auf konkrete soziale oder politische Kontexte. Eine weitere grundlegende Funktion von Behinderung in Kunst und Kultur ist schließlich, durch ihre Fremdartigkeit starke Emotionen bei der Rezeption hervorrufen zu können (vgl. Mitchell/Snyder 2000, 35). Vom »Skandalisierungseffekt« des verkrüppelten

Körpers spricht Müller (2018, 11) im Zusammenhang mit dem Auftritt des im Rollstuhl sitzenden Peter Radtke 1985 auf einer deutschen Theaterbühne. Zwar wäre ein derartiger Skandal im Jahr 2020 unwahrscheinlich, doch gilt weiterhin: Wer Geschichten affektiv aufladen will, kann dies auf einfache Weise, indem er auf (möglichst drastische) Abweichungen von der menschlichen Norm zurückgreift. Ende des 20. Jahrhunderts steigt die Zahl der Geschichten über Menschen mit Behinderung stark an (Hall 2016, 130) und die Art der Repräsentation wird vielfältiger. Die Potentiale von Kunst und Literatur für die Konstruktion einer (positiven) Identität von Menschen mit Behinderung und für die Darstellung von deren gelebter Realität werden dabei verstärkt erkundet, nicht zuletzt deshalb, weil viele Betroffene Erfahrungen aus erster Hand vermitteln. Seit 1990 boomt das life writing (s. Kap. 64) von Menschen mit Behinderung (Murray 2018, 101). In Kunst und Literatur der Gegenwart wird zunehmend versucht, traditionelle Symbolisierungen und Rollenzuschreibungen zu unterwandern und umzudeuten, so dass Behinderung als positive Identität erscheint oder sogar von disability gain die Rede ist. Siebers (2010) und Quayson (2007) zeigen, dass Behinderung Konzepte des Ästhetischen bereichert, weil sie die Repräsentation verändert.

55.2 Besonderes Potential ästhetischer Texte Künstlerische Texte stehen nicht oder nicht in erster Linie in einem pragmatischen Zusammenhang und sind daher nicht so eng an geltende Wissensordnungen gebunden wie Texte, die primär konkrete Zwecke verfolgen (wie Information, Appell, Manipulation usw.). Kommunikation durch Kunst und Literatur ist daher eine soziale Praxis, die besonders frei über kulturelle Denk- und Wahrnehmungsmuster verfügen kann. Passung bzw. Nicht-Passung von Menschen mit Behinderung sind entsprechend in einem ästhetischen Kontext weniger (durch Erwartungen, soziale Rahmungen, Narrative, Emotionen u. Ä.) festgelegt als im Kontext alltäglicher sozialer Praxis. Jenseits von Sachzwängen (wie im politischen Aktivismus) und von Wissenschaft (wie in der Theoriebildung) können Kunst und Literatur Möglichkeitsräume spielerisch erschließen und zweckfrei neue Formen des gesellschaftlichen Umgangs mit Behinderung erproben. Durch radikale Perspektivwechsel werden wiederum eingefahrene Wahrnehmungs- und Verhaltenserwar-

55  Einleitung: Behinderung in Kunst und Literatur

tungen bewusst gemacht und ggf. mithilfe alternativer körperlicher bzw. emotionaler Erfahrungen in Frage gestellt, verwandelt und neu konstruiert. Als Abweichung von menschlichen Normvorstellungen und als ästhetische Herausforderung kann Behinderung innovative Wahrnehmungen und Denkschemata hervorbringen, etwa bei der Kunstwahrnehmung im Art brut oder in inklusiven Theatern (s. Kap. 56, 68). Darstellung und Ausdruck von Behinderung(serfahrungen) in Kunst und Literatur sensibilisieren für die wichtige Funktion des Kontextes bei der Konstruktion von Vorstellungsbildern über Behinderung, weil sie eigene, ›uneigentliche‹ Kontexte erschaffen können (vgl. Hirschauer 2014, 187). Durch diese wird sichtbar, wie der semiotische Kontext den abweichenden Körper bzw. das abweichende Verhalten ›rahmt‹, kommentiert, ihn einem chronologischen und/oder kausallogischen Ordnungsprinzip unterwirft oder aber in ungewöhnliche, überraschende und verstörende Beziehungen bringt. So kann z. B. ein Körper ohne Arme als Bedrohung, als Tabubruch oder als tragische Folge der Einnahme von Contergan erscheinen (dieses Beispiel führt Kastl 2014, 151 an), je nachdem ob er in einer Science-Fiction-Umgebung mit Außerirdischen, einer Tanzszene oder einem Dokumentarfilm über Arzneimittel erscheint. Kunst und Literatur individualisieren und können damit die Heterogenität von Behinderung und ihre Kontextabhängigkeit komplexer darstellen als verallgemeinernd-abstrakte wissenschaftliche Theoriebildung. Das Verhältnis von Allgemein-Menschlichem und Besonderem, Privatem und Öffentlichem kann dabei auf prinzipiell unendlich viele Weisen zum Gegenstand werden, ohne dass verschleiert wird, dass das Besondere nicht nur aus dem Allgemeinen, sondern immer auch aus der Situation heraus verstanden werden muss. Das zentrale Potential von Kunst und Literatur als Mittel der Darstellung und des Ausdrucks von Erfahrungen mit Behinderung ist, dass sie sowohl Identifikation mit dem Dargestellten als auch Distanzierung von ihm anbieten können und dabei sowohl Kognition als auch Emotionen ansprechen. Da Kunst und Literatur idealerweise keinem Handlungs- oder Entscheidungszwang unterworfen sind, können sie auch Dilemmata und Ambivalenzen unentschieden lassen. Mehrdeutigkeit ist ja geradezu ein Konstituens von Kunst und Literatur; Brüche, Leerstellen, Ambivalenz und sogar Widersprüche sind ihnen geläufig. Nicht immer ist dabei allerdings steuerbar, ob Kunst und Literatur Stereotype aufbrechen und ob sie

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tatsächlich eine Alternative zur bloßen Assimilierung von Menschen mit Behinderung an die Welt ›der Normalen‹ (also eine ›Normalisierung‹, s. Kap. 42) darstellen – oder nicht ihrerseits zu (neuen) Stereotypen und der Festigung eines Normalitätskonzepts beitragen. Eine zweischneidige Rezeption zeigt sich beispielsweise sehr deutlich an einem Film wie Rain Man (USA 1988; Regie: Barry Levinson, s. Kap. 69), der das Phänomen Autismus erstmals für ein breites Publikum sichtbar macht, allerdings zugleich ein wirkmächtiges (verzerrendes) Stereotyp schafft: dass Menschen mit Autismus ›inselbegabt‹ sind, also in einem sehr eng begrenzten Bereich über geniale Fähigkeiten verfügen. Diese Vorstellung hat mit der gelebten sozialen Wirklichkeit der meisten Betroffenen wenig zu tun. Als Beispiel für den ambivalenten Status von Kunst zwischen Empowerment und Zwangsnormalisierung kann das in den 1970er Jahren in Kuba von Georgina Fariñas García und Alicia Alonso entwickelte psicoballet angeführt werden, eine spezielle Tanzform für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung, die Therapie und Kunst miteinander verbindet. Es schafft einen eigenen Ausdruck für die Tänzer*innen, kann aber auch als bevormundende ›Therapie‹ von (weiterhin stigmatisierter) kognitiver Abweichung erscheinen (zu Prüfsteinen inklusiver künstlerischer Arbeit vgl. Braun 2011, 98–105). Die Bewertung der einzelnen Werke und künstlerischen Aktivitäten fällt oft schwer, da zwar Negativbilder von Behinderung recht klar identifiziert werden können, aber sehr individuelle Vorstellungen von positiven Bildern bestehen (vgl. Pointon/Davies 1997, 1). Doch liegt eine Stärke von Kunst und Literatur gerade darin, diese Ambivalenz überhaupt erst sichtbar und damit bewusst bearbeitbar zu machen. Kunst und Literatur ermöglichen Menschen mit Behinderung, ihre Erfahrung auszudrücken und damit Gegenerfahrungen zur gelebten sozialen Realität anzubieten. Wie stark z. B. Autobiographien/Disability Life Writing zur Ausbildung einer eigenen Identität bei den Betroffenen führen kann, beschreibt Hall (2016, 129–131). Ausdrucksmöglichkeiten sind allerdings oft durch fehlende äußere Voraussetzungen eingeschränkt (vgl. dazu Braun 2011), und viele Werke und Produktionen (wie z. B. Aufführungen inklusiver Theater) werden nicht als Kunst anerkannt, sondern der Rehabilitation zugeordnet. In Kunst und Literatur greifen Ästhetisches, Soziales und Politisches eben immer stark ineinander. Die Verbindung von Wissen, Macht und Behinderung, von Diskurs, Gesellschaft und Politik zeigt sich auch in künstlerischen Schaf-

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

fens- und Vermarktungsprozessen und den Abhängigkeitsbeziehungen, die diese schaffen.

55.3 Untersuchungsfelder Forschungen zu Kunst und Literatur haben im Rahmen der Disability Studies die grundlegende Aufgabe, Vorstellungen über Behinderung zu analysieren. Die Literary Disability Studies beginnen sich in den 1990er Jahren zu formieren; sie widmen sich zunächst vordringlich dem Gebrauch von Behinderungen als Metaphern und zeigen vor allem Interesse an Motivgeschichte; erst später fragen sie nach der Repräsentation von Behinderung und ziehen kulturwissenschaftliche Theorien insbesondere über andere Diversitätskategorien wie Gender oder Ethnie sowie Überlegungen aus den Postcolonial Studies hinzu (Barker/Murray 2018a, 3). Ziel ist, die Beschreibungsinstrumente zu verfeinern, um Vorstellungen von Behinderung in literarischen und künstlerischen Werken synchron und diachron zu klassifizieren sowie zu ihren jeweiligen kulturellen Kontexten in Bezug zu setzen. In jüngster Zeit gilt das Interesse auch der Intersektionalität (s. Kap. 46), d. h. der ›Kreuzung‹ von Subjektpositionen im Individuum, die mit hybriden (theoretischen und empirischen) Methoden analysiert werden (Barker/Murray 2018a, 8–9; Antebi/ Jörgensen 2016). In den literatur-, film- und theaterwissenschaftlich orientierten Kulturwissenschaften sind Verbindungen zum Themenkomplex ›Behinderung‹ ein noch im Entstehen befindliches Forschungsgebiet. Insbesondere Möglichkeiten ästhetischer Texte für theoretische Erörterungen von Problemkomplexen im Zusammenhang mit Behinderung (z. B. Inklusion) werden erst am Rande erfasst (von Seiten der Soziologie z. B. bei Kastl 2015; 2017; von Seiten der Textwissenschaften z. B. bei Hartwig 2020). Als »early precursor to disability studies criticism« (Barker/Murray 2018, xiii) werden Erving Goffmans Stigma (1963) und Peter Hays’ The Limping Hero: Grotesques in Literature (1971) genannt. Stärker auf Literatur und Kultur bezogene Theorien mit der (sozial konstruierten) Leitunterscheidung ›Normalität vs. Abweichung‹ beginnen mit Lennard J. Davis (Enforcing Normalcy, 1995). Davis bringt 1997 erstmalig den Disability Studies Reader heraus (2017 in der 5. Auflage erschienen). Den wissenschaftlichen Diskurs dominieren – wie auch in anderen Bereichen der Disability Studies – bis heute Forscher*innen aus den USA

und aus Großbritannien, wobei erstere »minority group identity politics« betonen, letztere eher ein soziales Modell von Behinderung (vgl. zu beiden Sherry 2008, 10–11; vgl. auch Schneider/Waldschmidt 2012). Bolt (2009) stellt Autor*innen und Anliegen des neuen Forschungszweiges der Literary Disability Studies vor sowie das seit 2007 erscheinende Journal of Literary & Cultural Disability Studies als deren Sprachrohr; dabei werden vor allem britische Universitäten genannt, unter denen Leeds herausragt. Im 21. Jahrhundert entstehen auch Buchreihen wie die Literary Disability Studies. Übergreifende Theorien zur Funktion von Behinderung in der Literatur entstehen um die Schlagworte • »narrative prosthesis« (Mitchell/Snyder 2000) als die Ausnutzung von Behinderung zur Konkretisierung abstrakter Gedanken, die aber letztlich die Normalität bestätigen • »normate subject position« (Garland-Thomson 1997) als die Perspektive der Normalität, die den normate als das kulturelle Subjekt konstruiert • »aesthetic nervousness« (Quayson 2007) als die Möglichkeit, Dissonanzen in Texte und Werke zu bringen über Affekte, d. h. starke emotionale Reaktionen, die Behinderung sowohl in der realen Welt als auch in künstlerischen Texten und Werken auslöst. Für Theater und Performance allgemein sind Petra Kuppers’ Disability and Contemporary Performance (2008) bzw. Theatre & disability (2017), für den Komplex ›Disability und Ästhetik‹ allgemein Tony Siebers’ Disability Aesthetics (2010) richtungsweisend. Siebers bezieht sich vor allem auf bildende Künste und visuelle Kultur und geht davon aus, dass Behinderung einen distanzierenden Effekt von dominanten kulturellen Ideologien und Symbolisierungspraktiken hat. Der Theaterwissenschaftler Wihstutz entwirft in Anlehnung an Siebers die ›Disability Aesthetics‹ als »ästhetisch[e] Gleichheit, die das Aushebeln der Differenzierungen von Können und Nichtkönnen, von Verstehen und Nichtverstehen impliziert« (Wihstutz 2017, 64). Daneben werden einige gattungsspezifische Untersuchungen durchgeführt, z. B. in spezifischen historischen und kulturellen Kontexten (vgl. die Bibliographie in Barker/Murray 2018a, 7 sowie die Liste zum Themenkomplex ›Literatur und Behinderung‹ bei Barker/Murray 2018, xiii–xxi). Geradezu enthusiastisch feiern einige Kritiker die disability perspectives als eine übergreifende Theorie für die Analyse von Literatur (Bérubé 2005, 576; Hall 2016, 13) oder Kunst (Siebers 2010) schlechthin.

55  Einleitung: Behinderung in Kunst und Literatur

Kennzeichnend für Literatur- und Kunstkritik ist oft auch ein starkes politisches Anliegen, das deskriptive und wertende Aussagen, Ethik und Ästhetik nicht immer trennt und dabei übersieht, dass die Bereiche nicht fest miteinander gekoppelt sind. In den folgenden Unterkapiteln wird aufgezeigt, wie verschiedene Formen von Kunst und Literatur Bilder von Behinderung auf verschiedenen Ebenen transportieren: durch den Inhalt (Thema, Stoff, Motiv usw.), bei der Vermittlung (Schauspieler*innen, Präsentator*innen usw.), der Produktion (Schriftsteller*innen, Künstler*innen usw.) oder der Rezeption (Barrierefreiheit, Interpretation usw.). Dabei kann die Behinderung als bedeutsame Materialität in das Werk einfließen oder ein Attribut unter vielen bleiben – mit allen Zwischenstufen. Aufgrund der lückenhaften Forschungslage geht es in diesem Kapitel nicht um eine umfassende Darstellung der einzelnen Gebiete, sondern um einen z. T. sehr begrenzten Überblick über existierende Texte und Theorien. Der Fokus liegt dabei auf Europa und der ›westlichen Welt‹. Literatur

Antebi, Susan/Jörgensen, Beth E.: Libre Acceso. Latin American Literature and Film through Disability Studies. Albany 2016. Barker, Clare/Murray, Stuart (Hg.): The Cambridge Companion to Literature and Disability. Cambridge/New York 2018. Barker, Clare/Murray, Stuart [2018a]: Introduction. On Reading Disability in Literature. In: Barker/Murray 2018, 1–13. Bérubé, Michel: Disability and Narrative. In: Publications of the Modern Language Association of America/PMLA 120/2 (2005), 568–576. Bolt, David: Introduction: Literary Disability Studies in the UK. In: Journal of Literary and Cultural Disability Studies 3/3 (2009), 1–4. Braun, Elisabeth: Kleine Fluchten – Große Freiheit. Kulturarbeit mit Menschen mit Behinderung oder sozialer Benachteiligung. (Nur eine Freiheit auf Zeit?). In: Hildegard Bockhorst (Hg.): KUNSTstück FREIHEIT. Leben und lernen in der Kulturellen BILDUNG. München 2011, 93–106. Cheyne, Ria: Disability in Genre Fiction. In: Barker/Murray 2018, 185–198. Davis, Lennard J. (Hg.): The Disability Studies Reader. New York/London 52017. Garland Thomson, Rosemarie: Extraordinary Bodies. Figuring physical disability in American culture and literature. New York 1997. Goffman, Erving: Stigma. Notes on the Management of Spoiled Identity. New York/London/Toronto 1963. Häßler, Günther/Häßler, Frank: Geistig Behinderte im Spiegel der Zeit. Vom Narrenhäusl zur Gemeindepsychiatrie. Stuttgart/New York 2005.

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

Snyder, Sharon L./Mitchell, David T.: Representations of Disability, History of. In: Gary L. Albrecht (Hg.): Encyclopedia of disability. Thousand Oaks/London/New Delhi 2006, 1382–1394. Wihstutz, Benjamin: Nichtkönnen, Nichtverstehen. Zur politischen Bedeutung einer Disability Aesthetics in den Darstellenden Künsten. In: Friedemann Kreuder/Ellen

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Susanne Hartwig

56  Malerei und bildende Kunst

56 Malerei und bildende Kunst 56.1 Historische Skizzen Noch Anfang der 1990er Jahre ist es üblich, bildnerische Ausdrucksformen von Menschen mit Lernschwierigkeiten oder schweren mehrfachen Behinderungen in erster Linie vom Nicht-Können her zu betrachten: »Wie die Erfahrung lehrt, sind Debile und Imbezille besonders schlechte Zeichner. [...] Ganz allgemein lässt sich sagen, dass bei intellektuell Rückständigen, Debilen und Imbezillen, die Zeichnungen umso primitiver sind, je schwächer die intellektuelle Begabung ist.« (Bareis 1992, 29–30)

In dem Zusammenhang wird das Zeichnen nicht selten »als eine leicht zu handhabende Methode [...] zur Ermittlung eines Schwachsinns« (Bareis 1992, 29) und zur Begründung einer Überweisung betroffener Kinder in eine Sonderschule »für eine ihnen angemessene Beschulung« (ebd., 35) verwendet. Dieses Denken und Handeln wird durch das traditionelle psychiatrische Modell legitimiert, welches sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts etabliert und bei Menschen mit schweren (intellektuellen) Behinderungen ›absolute Bildungsunfähigkeit‹, einen pädagogischen und therapeutischen Nihilismus sowie eine Verwahrung in Anstalten propagiert (vgl. Theunissen 2012). Zudem werden Bildwerke von Menschen mit Behinderungen pathologisiert, indem nach krankhaften Ausdrucksformen, einer Störungsperspektive sowie nach Belegen für eine enge Verbindung von Genie und Wahnsinn Ausschau gehalten wird. Daran anknüpfend haben die Nazis leichtes Spiel, indem sie im Rahmen von Ausstellungen (z. B. ›entartete Kunst‹) durch Gegenüberstellungen der Bilder von Anstaltsinsassen mit Werken von Avantgarde-Künstler*innen die ›innere Verwandtschaft‹ zum Psychopathologischen und Abnormen zu belegen versuchen. Dabei werden sie von einigen einflussreichen Repräsentanten der deutschen Psychiatrie unterstützt. Gleichwohl gibt es vereinzelt auch Mediziner oder Pädagogen, die Gefallen an den Bildwerken von Anstaltsbewohner*innen finden und unter ihnen Talente entdecken, denen sie einen künstlerischen Entfaltungsraum bieten. Davon profitiert z. B. der Berner Künstler Gottfried Mind (1768–1814), dessen bis ins winzigste Detail fein ausgearbeitete, naturalistische, nahezu hyperrealistische Zeichnungen und Bildwerke

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von verschiedenen Tieren auf eine außergewöhnliche bildnerische Begabung schließen lässt. Mind ist ein Autodidakt, dessen Zeichnungen und Malerei derart imponieren, dass er seinerzeit als ›Katzen-Raphael‹ berühmt wird. Zugleich gilt er jedoch intellektuell und in seiner eigenständig-verantwortlichen Lebensführung als stark beeinträchtigt, so dass er Kriterien der sogenannte Idiot Savants entspricht (vgl. Theunissen/ Schubert 2010, 41–50). Um den stigmatisierenden Charakter dieses Begriffs zu vermeiden, sprechen wir heute nur noch von Savants. Unterschieden werden ›talentierte Savants‹, das betrifft mindestens 10 % aller Menschen aus dem Autismus-Spektrum, und ›außergewöhnlich hochbegabte Savants‹, darunter werden weltweit etwa 150 ›Wunderkinder‹ gefasst. Ferner bemühte sich Anfang des 20. Jahrhunderts der Heidelberger Psychiater Hans Prinzhorn (1922) um einen neuen Zugang zur Bildnerei von Menschen mit psychischen Störungen oder Behinderungen. Prinzhorn hatte über 5000 Werke aus mehreren europäischen Ländern zusammengetragen und wandte sich nicht nur gegen Entwertungen, sondern warnte zugleich auch vor dem Fehlschluss, von der Ähnlichkeit der Bildnereien sogenannter ›Geisteskranker‹ mit zeitgenössischen Kunstwerken auf den psychischen Gesundheitszustand ihrer Produzenten zu schließen. Zudem führten ihn seine Untersuchungen zu der Überzeugung, dass jedem Menschen eine ›ursprüngliche‹ Gestaltungskraft zukomme. Gleichwohl verlor er sich aber nicht in einem Euphemismus. Statt sein gesamtes gesammeltes Bildmaterial als künstlerischkreativ auszuweisen, differenzierte er zwischen außergewöhnlichen Kunstwerken und einfachen Bildnereien. Indem er den Prozentsatz künstlerisch begabter Menschen mit psychischen Störungen oder (intellektuellen) Behinderungen nicht höher veranschlagte als bei nicht-behinderten oder psychisch gesunden Personen, wollte er eine Hochstilisierung ihrer Bildnereien als Kunst vermeiden.

56.2 Art Brut In der Nachkriegszeit schlug dann die Stunde des französischen Künstlers Jean Dubuffet (1901–1985), der auf seiner Suche nach ›ursprünglicher‹ Kreativität bereits kurz vor Kriegsbeginn zu der Überzeugung gekommen war, dass der zeitgenössische Kunst- und Kulturbetrieb der größte Feind ›wahrer Kunst‹ und Kreativität sei (vgl. Theunissen 2008, 20). Wie viele andere Künstler*innen seiner Zeit entdeckte auch Du-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_56

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

buffet in Kinderzeichnungen und in Werken von nicht-professionell tätigen, autodidaktischen Künstler*innen eine spontane, intuitive und unverbildete Ausdruckskraft. Diese Bilderwelten animierten ihn dazu, eine systematische und intensive Erforschung der nicht-professionellen Kunst zu betreiben. Seine Untersuchungen nahmen in Heil- und Pflegeanstalten ihren Anfang und veranlassten ihn, die von ihm gesichtete nicht-professionelle, autodidaktische Bildnerei als ›Art Brut‹ zu bezeichnen, die er der ›Art Culturel‹ (der etablierten bildenden, zeitgenössischen Kunst) gegenüberstellte. Art Brut meint eine rohe, unverfälschte, unverbildete Kunst von Personen, die ihre Themen, Materialien, künstlerischen Mittel und Motivation aus ihrem eigenen Inneren beziehen, sich nicht nach künstlerischen Vorbildern, Stilarten oder Strömungen richten, kein Interesse an einer Veröffentlichung, kulturellen Würdigung oder Vermarktung ihrer Bilder bekunden und somit um ihrer selbst willen, quasi ›aus dem Bauch heraus‹ bildnerisch oder werkhaft tätig sind (vgl. Theunissen 2008, 21–22). Art Brut-Künstler*innen der ersten Stunde waren in der Regel Menschen in gesellschaftlich marginaler Position, vor allem Insassen psychiatrischer Krankenhäuser, Vagabunden oder sogenannte Sonderlinge, aber auch einfache Dorfbewohner, Bauern, Hirten, Tierpfleger, Feld- oder Hilfsarbeiter, die oftmals Analphabeten waren, kaum eine Schule besucht hatten oder eine mangelnde Schulbildung aufwiesen. Der hohe Anteil an (psychiatrisch) hospitalisierten Menschen könnte zu der Vorstellung verleiten, dass es sich bei den Werken von Art Brut-Künstler*innen in erster Linie um ›Leidensbilder‹ oder um eine ›psychopathologische Kunst‹ handelt. Solche Schlüsse sind jedoch für Dubuffet völlig inakzeptabel. In aller Deutlichkeit wendet er sich gegen starre Grenzen zwischen ›gesund‹, ›normal‹ und ›krank‹ – eine Position, der wir schon bei Prinzhorn begegnen. Dennoch gibt es eine Besonderheit, die Dubuffet übergeht, nämlich das Phänomen der sogenannten gebundenen Kreativität, die vor allem künstlerisch tätigen Menschen mit einer Schizophrenie nachgesagt wird. Diese Auffassung vertritt z. B. der Psychiater Leo Navratil (1965; 1999), der bei einigen Anstaltspatient*innen und auch bei intellektuell beeinträchtigten Personen mit affektiven Störungen immer wieder kehrende Stilmerkmale beobachten konnte, welche ihm Auskunft über Stadien der psychischen Erkrankung gaben (z. B. farbenreiche, ornamentalisierte Gemälde und Schlösser während einer Manie und ›leere‹ Bilder mit kleinen, primitiv und

schwarz gestalteten Häusern während einer Depression). Doch sollten wir uns davor hüten, Art BrutKünstler*innen in eine ›pathologische Ecke‹ zu drängen. Art Brut lässt sich nicht in ein Klischee zwängen oder einem bestimmten Kunststil zuordnen. Vielmehr sind Spielarten unkonventioneller Ausdrucksformen auszumachen, die mit dem persönlichen Erfahrungsbereich, mit individuellen Lebens- und Problemlagen eng verbunden sind und uns polyvalente Gestaltungsprinzipien (z. B. Kritzelformen, Formalisierung, Erzählform, Wiederholung, Verschmelzung, Röntgenprinzip, Farbigkeit, Ornamentalisierung, Symbolisierung) vor Augen führen. Dass es keine charakteristischen Merkmale einer eng umschriebenen Art Brut gibt, zeigen ebenso Analysen und Beobachtungen der zeichnerischen Entwicklung, des bildnerischen Verhaltens und des ästhetischen Gestaltungsprozesses von behinderten Künstler*innen. So haben wir es z. B. bei der Bildnerei von Autist*innen oder Savants häufig mit speziellen Interessen, Themen sowie selbstbezüglichen und selbsterarbeiteten bildnerischen Aktivitäten zu tun, die ohne Kenntnisse der Person und ihrer Lebensgeschichte kaum erschlossen werden können (vgl. Theunissen/ Schubert 2010). Bemerkenswert ist, dass inzwischen die Grenzen zwischen der Art Brut und der bildenden Kunst fließend geworden sind, da oftmals professionelle Künstler*innen die unkonventionellen Ausdrucksformen in der Bildnerei von Menschen mit Behinderungen und/ oder psychischen Störungen als Vehikel für ihr Schaffen nutzen. Zudem stellt sich die Frage, ob es Art Brut überhaupt noch gibt. Dubuffets Auslegung von Art Brut lässt sich jedenfalls schwer aufrechterhalten, da sich zumindest heute kaum jemand sozio-kulturellen und schulischen Einflüssen entziehen kann und da es den ›typischen‹ Langzeitpatienten nur noch selten gibt. Manche sehen in der Kunst von Altenheimbewohner*innen, ethnischen Minderheitsgruppen, politisch Verfolgten oder Kriegsflüchtlingen letzte Ausläufer der Art Brut.

56.3 Außenseiter-Kunst International ist anstelle von Art Brut (nicht zuletzt durch Dubuffets Alleinvertretungsanspruch) die aus dem angloamerikanischen Sprachraum stammende Bezeichnung ›Outsider Art‹ (Außenseiter-Kunst) geläufig. Sie bezieht sich auf alle self taught artists und nicht-professionellen Künstler*innen. Damit werden

56  Malerei und bildende Kunst

einerseits in Anlehnung an den Art Brut-Begriff Bildwerke von ›unverschulten‹ Menschen mit intellektuellen oder psychischen Behinderungen als Außenseiter-Kunst ausgewiesen; und sie gelten als ein Zeugnis ›roher Kunst‹ (raw visions), wenn sie frei bzw. unbeeinflusst von pädagogischen oder therapeutischen Ambitionen geschaffen wurden. Andererseits stoßen wir auf die Gepflogenheit, sämtliche Bildwerke von Menschen mit Behinderungen unter AußenseiterKunst zu fassen, die in sogenannten kreativen Werkstätten, Kunsttherapie- oder Kunstzentren oder Kunstabteilungen von Werkstätten für behinderte Menschen entstehen. Wir können daher von einer AußenseiterKunst im engeren bzw. im weiteren Sinne sprechen.

56.4 Kunstwerkstätten Wer die Entwicklung auf dem Gebiet der Behindertenhilfe beobachtet, wird unschwer erkennen, dass es in den letzten Jahren zu zahlreichen Gründungen von Kunstwerkstätten gekommen ist. Hierzu gibt es mehrere Beweggründe: Beispielsweise hat das Wissen um den therapeutischen Charakter von Kunst dazu beigetragen, dass künstlerisches oder kreatives Schaffen als Vehikel für psychische Gesundheit hoch eingeschätzt wird; ebenso spielt die Erkenntnis eine prominente Rolle, dass Kunst eine kulturstiftende Funktion hat. Daher werden von Seiten der Kunstwerkstätten und ihrer Träger immer häufiger öffentlichkeitswirksame (Wander-)Ausstellungen, Kunst- oder Kulturfestivals organisiert, um Menschen mit Behinderungen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen und die nichtbehinderte Bevölkerung über künstlerische Arbeiten für die Akzeptanz behinderter Menschen als Mitbürger*innen zu sensibilisieren. Solche Kunstprojekte sind zugleich prestigeträchtig für die Träger der Behindertenhilfe und nutzenbringend für ihre behindertenpolitischen Interessen. Konzeptionell zeichnen sich die Kunstwerkstätten häufig durch drei zentrale Angebote aus: • Erstens lässt sich ein kunsttherapeutisches Betätigungsfeld ausmachen, welches den (selbst-)heilenden Charakter von Kunst in Anspruch nimmt und ›nebenbei‹ künstlerische Produkte erzeugt, die auf Ausstellungen präsentiert werden. • Zweitens wird ein künstlerisches Schaffen fokussiert und gefördert, aus dem Bildwerke oder künstlerische (Auftrags-)Arbeiten hervorgehen, die zumeist für den Kunstmarkt und Verkauf bestimmt sind.

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• Drittens offerieren nicht wenige Einrichtungen ein ›offenes Atelier‹, welches im Sinne eines Freizeitangebots genutzt werden kann und darüber hinaus die Chance bietet, zu einer ›Brutstätte‹ von Außenseiter-Kunst zu avancieren. Was das Verständnis von Außenseiter-Kunst betrifft, so wird dieses kaum reflektiert, da Kunstwerkstätten oder Träger der Behindertenhilfe ein Gemisch aus angeleiteten und ›authentischen‹ Exponaten publikumswirksam präsentieren und zu vermarkten versuchen. Dies führt zu der augenfälligen Gefahr, dass die selbsterarbeitete (authentische) Bildnerei behinderter Menschen an Originalität, Kreativität, struktureller und psychologischer Tiefe verliert und der Begriff der Außenseiter-Kunst zu einer Leerformel gerinnt. Angeleitete Bildnereien sind nämlich nicht mit authentischen Arbeiten vergleichbar und häufig unter anderen Vorzeichen, z. B. mit einem kunsttherapeutischen oder ökonomischen Interesse, und unter auferlegten Bedingungen entstanden, die der ursprünglichen Kunst ihre Anziehungskraft nehmen. »Angelernte, antrainierte Fähigkeiten [...] verbergen eher und verhüllen, als dass sie etwas offenbaren. [...] Der wirkliche Charakter wird verfälscht. [...] Kunstfertigkeiten kann jedermann erlernen. Sie beruhen auf Abmachungen und Übereinkünften, sie sind Ergebnis von Übung, Fleiß und schließlich Routine. [...] Technische Fertigkeiten können ein Bild gefällig machen [...], aber [...] was bleibt dann noch?« (Hassbecker 1987, 58)

Um Authentizität, ›Ursprünglichkeit‹ und Originalität zu wahren sollten sich alle heilpädagogischen oder kunsttherapeutischen Assistent*innen zurückhalten. »Es ist wichtig, dass man die Künstler in Ruhe arbeiten lässt und ihnen keine Tipps gibt, wie sie etwas vermeintlich richtig malen sollen, das schadet nur. Im Mittelpunkt steht die Selbstentdeckung, auch wenn die in kleinen Schritten geschieht« (R. Laute, zit. bei Mürner 2008, 144).

56.5 Beispiele aus der Malerei zweier prominenter Künstler*innen Georg Brand Die zuletzt erwähnte Chance der Selbsterfahrung und Selbstwirksamkeit hat wohl der ›Maler und Einpacker‹ Georg Brand zu schätzen gelernt, dessen bildnerische Begabung und künstlerischen Fähigkeiten in

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

der Kreativen Werkstatt des St. Josefs-Stifts in Eisingen entdeckt und unterstützt wurden (vgl. Theunissen 2013, 137–138). Georg Brand (geb. 1960) stammt aus Würzburg und musste schon seine Kindheit in Heimen verbringen. Über 35 Jahre lebt er in einer großen Behinderteneinrichtung für Menschen mit geistiger und schwerer mehrfacher Behinderung, bevor er in eine Außenwohngruppe umziehen konnte. Georg Brand gilt als der populärste unter den Künstler*innen des St. Josefs-Stifts. Viele Jahre nutzt er das Angebot des ›offenen Ateliers‹ der Kreativen Werkstatt, heute malt er nur noch gelegentlich, wenn er Lust darauf hat oder auch Geld dafür bekommt. Für seine künstlerischen Aktivitäten benötigt er keine besonderen Anleitungen. Typisch für seine Bildnerei ist eine implizit gebahnte, sicher wirkende Linien- und Handführung, indem er mit Stiften zuerst vorzeichnet und dann die einzelnen Flächen zumeist mit Filzstiften in leuchtender Farbigkeit ausmalt. Ein großer Teil seiner Bildmotive bezieht sich auf Häuser, Kirchen, Stadtansichten und Großstädte. Deren Geometrisierung und Ornamentik erinnern an die Werke von F. Hundertwasser, von dem er sich jedoch nicht beeinflussen ließ. Georg Brands beliebteste Motive sind Frauen, »weil sie schön aussehen [...] und eine schöne Figur haben« (Georg Brand, zit. nach Theunissen 2013, 146). Besonders interessieren ihn die weiblichen Geschlechtsteile, die er gerne in seinen klar aufgebauten, farbenprächtigen und kontrastreichen Bildern hervorhebt. Daneben begegnen wir in Brands Bildern exemplarisch hervorgehobenen Details, z. B. in seinem Selbstbildnis (übergroße Pfeife des ›Pfeifenrauchers‹ Georg Brand). Ansonsten weisen seine Werke Tendenzen zur Formalisierung (Schematisierung) auf. Diese werden zum Teil geschickt nach selbsterfundenen bildnerischen Regeln (z. B. langes, welliges Frauenhaar als Bildhintergrund; Fischzacken als Häuser, Türme oder Turmspitzen) durch dynamische Gestaltungsprinzipien (z. B. gekringelte Handformen, Bögen, Kreisformen) mit akzentuierten, geometrisierten und ornamentalisierten, verschnörkelten Binnendifferenzierungen und Farbigkeit aufgelockert und zu einer ausdrucksstarken, geschlossenen Einheit mit symbolischer Bedeutung ästhetisch komponiert. Dadurch entsteht ein unverwechselbarer, persönlicher Stil, durch den sich Georg Brand als AußenseiterKünstler auszeichnet. Seine künstlerischen Außenseiter-Aktivitäten werden auch dort unter Beweis gestellt, wo er vor einigen Jahren aus Abfallprodukten einen raupenähnlichen ›Objekt-Wagen‹ mit Verstaumöglichkeiten persönlicher ›Schätze‹ montiert hatte.

Alles in allem lassen sich Georg Brands Werke der Außenseiter-Kunst im engeren Sinne zuordnen. So sind seine Bilder in hohem Maße originär, an keinen Kunststil gebunden, ohne Zugeständnis an künstlerische Normen, Traditionen oder Modeströmungen für sich geschaffen, abseits vom Kunstbetrieb, von Galerien oder Museen. Allerdings ist Brand daran interessiert, dass seine Bilder ausgestellt werden, weshalb er sie wohl auch mitunter signiert oder mit Titeln unterlegt; zudem freut er sich, wenn sie als ›schön‹ empfunden und wertgeschätzt werden. An dieser Stelle könnte eine Vereinnahmung durch den Kunstmarkt des St. Josefs-Stifts und somit ein Bruch mit der Art Brut vermutet werden, ließe sich nicht beweisen, dass der ›Außenseiter‹ Georg Brand bis heute seiner selbstbestimmten Linie treu geblieben ist: »Wann i mag, mal i« (Süddeutscher Rundfunk 1996, zit. nach Theunissen 2013, 150). Helen Rae Eine andere künstlerische Persönlichkeit, die durch ein ›offenes Atelier‹ profitiert, ist die kalifornische Außenseiter-Künstlerin Helen Rae. Sie ist taub, autistisch, mittlerweile 80 Jahre alt und zählt zu den Künstler*innen der ersten Stunde des First Street Gallery Art Center Claremont CA, jetzt umgezogen nach Upland CA. Leistungserbringer ist die Tierra del Sol Foundation (TdSF), die als Dienstleistungsorganisation für Menschen mit developmental disabilities (z. B. intellektueller und schwerer mehrfacher Behinderung, Autismus) im Großraum von Los Angeles tätig ist (vgl. Hamm/ Pringle 2013; Theunissen 2014, 98–99). US-amerikanische Art Center stellen z. B. in Kalifornien eine Alternative zu Werkstätten für behinderte Menschen dar, indem sie ganztägig Arbeitsplätze für freie künstlerische Tätigkeiten anbieten. Diese Möglichkeit wird von Helen Rae seit den 1990er Jahren in Anspruch genommen. Im First Street Gallery Art Center der TdSF wurde sie von Rebecca Hamm, Künstlerin und Leiterin der Kunstwerkstatt, entdeckt und protegiert. Helen Raes künstlerische Vorlieben gelten der Porträtmalerei und Charakterdarstellung, die eine lebendige, expressive, plastische und mitunter karikaturhafte Ausdrucksweise erkennen lassen. Hierzu erschließt sich die Künstlerin gerne die ›Welt der Mannequins‹ (Kleidermode, Modenschau, Laufsteg); ebenso imponiert sie mit bildnerischen Interpretationen im Anschluss an ihre genauen Beobachtungen unterschiedlicher Verhaltens- und Ausdrucksweisen von Personen aus dem Alltag sowie nach Betrachtung von Fotos oder

56  Malerei und bildende Kunst

anderen Bildern. Besonders fasziniert scheint sie von Accessoires (z. B. Hüten, Gürtel, Handtaschen, Ohrringen, Halsketten, Tüchern, Schmuck, Schirmen) zu sein, die sie als exemplarische Details bestimmten Gesichtern, Wesenszügen oder Ausdrucksformen zuordnet und durch diese ausdrucksstarke Bereicherung die Rezipient*innen ihrer Charakterdarstellungen begeistern kann. Im Laufe ihres etwa 40-jährigen Schaffens hat sich Helen Rae einen unverwechselbaren Stil angeeignet, welcher sich durch eine Raffinesse auszeichnet, indem z. B. unterschiedliche Charaktere in expressionistischer, zum Teil karikaturhafter, nahezu ›überzeichneter‹ Pose vor farblich abgesetzten, futuro-kubistisch-collagierten Hintergründen geschickt in Szene gesetzt werden. Derlei Bilder lassen eine gewisse Affinität zur modernen Kunst (z. B. zu A. von Jawlensky, W. Kandinsky, L. Kirchner, R. Delaunay, L. Feininger) erkennen. Ältere Bildwerke von Helen Rae signalisieren hierbei mitunter eine Affektperspektive, indem z. B. übergroße Hände, überdimensioniert lange Finger und lackierte Fingernägel aggressiv anmuten und zum Nachdenken herausfordern, vor allem dann, wenn ein entsprechendes Bild als »peace« bezeichnet wird. Mittlerweile sind ihre Arbeiten jedoch ›feiner‹ geworden, und ihre Malerei hat an plastischer Differenziertheit gewonnen. Bis heute werden vor allem Helen Raes Porträts sehr geschätzt und gewürdigt, indem sie in Galerien und Museen im Großraum von Los Angeles gezeigt werden. Einen Höhepunkt erfuhr die Wertschätzung, als zu Beginn des Jahres 2019 mehrere Werke von Helen Rae auf der Outsider Art Fair in New York ausgestellt wurden. Ferner fand im Februar 2019 eine Einzelausstellung in The Good Luck Gallery (Los Angeles) statt, die sich USA-weit als eine auf Außenseiter-Kunst spezialisierte Galerie einen Namen gemacht hat. Dieser kleine Einblick in die Außenseiter-Kunst lässt den Facettenreichtum erahnen, durch den sich die Malerei von Menschen mit Behinderung auszeich-

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nen kann. Charakteristisch ist der Rückgriff auf unkonventionelle Ausdruckssysteme, die selbsterarbeitete Ausdrucksformen zur Schau stellen und zumeist biographische Kenntnisse erfordern, um erschlossen zu werden. Es genügt aber auch schon die Ausstrahlungskraft, die von vielen Werken autodidaktischer Außenseiter-Künstler*innen ausgeht und die ein Zeichen dafür ist, dass sich diese außergewöhnliche Malerei nicht hinter der sogenannten bildenden Kunst verstecken muss. Literatur

Bareis, Alfred: Praxis der Kunsterziehung in der Grundschule. Donauwörth 1992. Hamm, Rebecca/Pringle, Seth: Beyond the Outside – mehr als ein Außenseiterdasein. In: Georg Theunissen (Hg.): Kunst als Ressource in der Behindertenarbeit. Schulische und außerschulische Ermöglichungsräume für Menschen mit Lernschwierigkeiten und komplexer Behinderung. Marburg 2013, 97–106. Hassbecker, Erich: Chichorro oder Art Brut. Heidelberg 1987. Mürner, Christian: An der Quelle der Kunst – Die Hamburger Ateliergemeinschaft »Die Schlumper«. In: Georg Theunissen (Hg.): Außenseiter-Kunst. Außergewöhnliche Bildnereien von Menschen mit intellektuellen und psychischen Behinderungen. Bad Heilbrunn 2008, 143–155. Navratil, Leo: Schizophrenie und Kunst. München 1965. Navratil, Leo: Art brut und Psychiatrie. Wien 1999. Theunissen, Georg (Hg.): Außenseiter-Kunst. Außergewöhnliche Bildnereien von Menschen mit intellektuellen und psychischen Behinderungen. Bad Heilbrunn 2008 Theunissen, Georg (Hg.): Kunst als Ressource in der Behindertenarbeit. Schulische und außerschulische Ermöglichungsräume für Menschen mit Lernschwierigkeiten und komplexer Behinderung. Marburg 2013 Theunissen, Georg: Lebensweltbezogene Behindertenarbeit und Sozialraumorientierung. Freiburg 2012. Theunissen, Georg: Der Umgang mit Autismus in den USA. Stuttgart 2014. Theunissen, Georg/Schubert, Michael: Starke Kunst von Autisten und Savants. Über außergewöhnliche Bildwerke, Kunsttherapie und Kunstunterricht. Freiburg 2010.

Georg Theunissen

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

57 Dis/ability Art, Art about Dis/ ability Der Begriff dis/ability kann eine Selbst- oder eine Fremdbezeichnung ausdrücken und beinhaltet eine sozio-kulturelle Dimension: dass Behinderung nicht in einer Person liegt, sondern auf Barrieren des gesellschaftlichen Umfelds zurückzuführen ist (s. Kap. 6). Im Folgenden wird der Begriff ›Dis/ability Art‹ verwendet. Er bezeichnet Werke, die von Künstler*innen mit Behinderungen angefertigt wurden, in Anlehnung an den Plural ›Disability Arts‹, der für den Zusammenschluss von Künstler*innen der Disability Rights-Bewegung steht (vgl. Cachia 2019, 140). ›Art about Dis/ability‹ wird hingegen für Werke von Künstler*innen gebraucht, die eventuell den Identitätsmarker ›Behinderung‹ zu ihrer Identität zählen, das aber nicht in der Öffentlichkeit kommunizieren und die von Dritten auch nicht als behindert wahrgenommen werden. Beide Begriffe sind enger gefasst als Tobin Siebers‹ Definition von Disability Aesthetics, die sehr abstrakt künstlerische Phänomene in den Blick nimmt, denen Fragmentierungen und der Bruch mit Schönheitsidealen inhärent sind, und diese mit der Kategorie ›Behinderung‹ zusammendenkt (vgl. Siebers 2010). Beide Begriffe sparen auch Künstler*innen aus, die ihre Behinderung in Kunstwerken nicht thematisieren, wie etwa Henri Toulouse-Lautrec. Wichtig ist zudem, dass durch die Begriffe keine Festschreibung im Sinne von ›entweder behindert oder nicht-behindert‹ erfolgt, sondern dass sie ähnlich dynamisch gedacht werden müssen wie das Verständnis von Behinderung als dis/ability. Was eine Betrachtung von Bildender Kunst unter den Prämissen von Dis/ability Art bzw. Art about Dis/ ability bedeutet, soll im Folgenden an einem Beispiel veranschaulicht werden: »Alison Lapper Pregnant« (2005–2007) von Marc Quinn. Es handelt sich dabei um die temporäre Installation einer überlebensgroßen Marmorskulptur auf der sogenannten Fourth Plinth, einem unbespielten Sockel der im 19. Jahrhundert gestalteten Denkmalanlage des Londoner Trafalgar Square. Die Skulptur stellt die im achten Monat schwangere Künstlerin Alison Lapper dar, die ohne Arme und mit verkürzten Beinen geboren wurde. Durch Material und Bearbeitungsweise besteht Nähe zu antiker sowie klassizistischer Skulptur, wodurch das Bezugsfeld von Schönheitsidealen aufgerufen wird (vgl. Millett-Gallant 2012, 56–61). Die Kontroverse um dieses Werk macht deutlich, dass in »Alison Lap-

per Pregnant« beide skizzierten Verständnisse zusammenwirken: Einerseits wurde die Skulptur als Art about Dis/ability wahrgenommen, weil sie das Kunstwerk eines renommierten, weißen und männlichen Künstlers ist; andererseits kann sie aufgrund der engen Kooperation zwischen Lapper und Quinn sowie ihrer Medienpräsenz und Vermarktung auch als Werk Lappers und somit als Teil der Dis/ability Art erscheinen. Ein Strang der erwähnten Kontroverse um »Alison Lapper Pregnant« konzentrierte sich auf den Künstler in Relation zu seinem Modell. So wurde beispielsweise der Vorwurf laut, dass Quinn sich auf Kosten einer anderen Person profiliere (vgl. Millett-Gallant 2012, 61). Ähnliche oder sogar noch harschere Kritik erhielten Jake und Dinos Chapman für die Plastik Ubermensch (1995), die einen jungen Stephen Hawking im Rollstuhl am Rande eines steilen Felsens porträtiert, oder auch Christoph Schlingensief, der in seiner TV-Serie und dem späteren Film Freakstars 3000 (2002–2003) gemeinsam mit Menschen mit geistiger Behinderung gängige TV-Formate wie etwa Castingshows persiflierte (s. Kap. 45, 68, 70). Alle sehen sich mit dem Vorwurf konfrontiert, Menschen für einen bloßen Schockeffekt auszubeuten und dadurch zu entwürdigen. Dies ist eine Anschuldigung, die häufig vorgebracht wird, wenn Künstler*innen, die als nicht-behindert gelesen werden, Menschen mit Behinderung in ihre Werke einbeziehen (vgl. Millett-Gallant 2012, 16). In diesem Sinne kann Art about Dis/ability zur sogenannten Transgressive Art gezählt werden. Diese zeichnet sich durch die Überschreitung moralischer Grenzen aus und wird oftmals als verstörend oder beleidigend empfunden. Doch nicht das Schockmoment allein ist wichtiger Bestandteil von Transgressive Art, sondern ebenso die moralische Reaktion der Rezipierenden darauf (vgl. Cashell 2009, 12). Denn Letztere kann negativ und positiv ausfallen, ist von den Künstler*innen intendiert und legt die sozio-kulturelle Prägung der Interpretierenden offen (vgl. Heindl 2014b; 2016). Bereits in der Annahme, dass nicht-behinderte Künstler*innen Menschen mit Behinderung ausbeuten, liegt die Aberkennung von Handlungs- und Entscheidungsgewalt der als behindert gelesenen Mitwirkenden. Behinderung erscheint in diesem Verständnis ebenso als negativ konnotierte Abweichung von der Norm wie auch in Stereotypen, die in anderen Medien zu beobachten sind (vgl. Longmore 2003) (s. Kap. 52). Die negative Konnotation von Behinderung wird in Werken von Künstler*innen mit Behinderung direkt aufgerufen. So ist die Analogie von »Alison Lapper Pregnant« zur antiken Skulptur kein origineller

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_57

57  Dis/ability Art, Art about Dis/ability

Einzelverweis Quinns, sondern ein wichtiger Bestandteil des Diskurses von Dis/ability Art. Lapper selbst hat mit frühen fotografischen Serien bereits ähnliche Bezüge hergestellt (vgl. Betterton 2006, 88), wie etwa auch Mary Duffy in einer ihrer Performances (vgl. Millett-Gallant 2012, 25). In diesen Arbeiten tritt der Körper der Künstler*innen zu kunsthistorischen Ikonen in Kontrast, wodurch kulturell erlernte Mechanismen ausgelöst werden: Antiken Skulpturen eignet das Fehlen von Gliedmaßen, die aber aufgrund soziokultureller Prägung von Rezipierenden gedanklich zu einem Idealkörper vervollständigt werden (vgl. Davis 1997, 56–57; Leader 2000, 16). In Lappers und Duffys Arbeiten sind die gezeigten Körper aber bereits vollständig – ein gedankliches Ergänzen von Körperpartien legt das normativ geprägte Verständnis von Körperidealen frei. Neben der körperlichen Dimension ist auch die Verhandlung gesellschaftlicher Barrieren ein wichtiger Bereich der Dis/ability Art. Dies thematisiert beispielsweise Christine Sun Kim in ihren Zeichnungen, Installationen und Performances anhand von Klang und Stille, Gehör und Gebärde. In diesen Arbeiten macht Kim darauf aufmerksam, welchen unüberwindbaren Hürden sich gehörlose Menschen in einer auditiv ausgerichteten Gesellschaft alltäglich stellen (s. Kap. 67). Eine der historischen Leitfiguren der Dis/ ability Art ist die mexikanische Malerin Frida Kahlo (1907–1954) mit ihren surrealen Gemälden und Zeichnungen, die bislang insbesondere auf den Zusammenhang von dis/ability und Leiderfahrung hin untersucht wurden (vgl. z. B. Zarzycka 2006). Kahlos Selbstbildnisse machen Facetten der Kategorie dis/ ability eindrücklich erfahrbar, indem Behinderung nicht statisch, sondern als sich dynamisch zeitigender Modus dargestellt wird, der unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann. Die Kunsthistorikerin Amanda Cachia bildet eine Schnittstelle zwischen künstlerischer und kunsthistorischer Beschäftigung mit der Kategorie dis/ability. Neben ihrer Forschung überträgt sie das kritische Vermögen von Dis/ability Arts in die Wissenschaftspraxis, indem sie Vorträge mit ihrem sogenannten ›Alterpodium‹ hält. Es handelt sich dabei um ein individuell für ihre kleinere Körpergröße angefertigtes Redner*innenpult, das neben das im Raum vorgefundene und normierte Pult gestellt wird (vgl. Cachia 2016). Durch diese Intervention werden unsichtbare Barrieren des Wissenschaftsbetriebs ausgestellt und im öffentlichen Raum Denkanstöße bezüglich vorherrschender Normierungsprozesse gegeben.

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In einer Spezialausgabe der Zeitschrift The Review of Disability Studies (2014) und in dem Sammelband Disability and Art History (2016) tragen die beiden Herausgeber*innen Elizabeth Howie und Ann MillettGallant wichtige Forschungsimpulse für verschiedene Gattungen und Epochen der Bildenden Kunst zusammen. Weitere grundlegende Forschungen finden sich bei Petra Kuppers in Bezug auf Performances (vgl. Kuppers 2003), bei Amanda Cachia mit dem Schwerpunkt kuratorische Praxis (vgl. Cachia 2018) sowie in Ann Millett-Gallants The Disabled Body in Contemporary Art (2012), das gleichermaßen Dis/ability Art und Art about Dis/ability abdeckt. Auch wenn Forschungen zu diesem Komplex noch am Anfang stehen, wird bereits das Potential beider Stränge – Dis/ability Art und gleichermaßen Art about Dis/ability – deutlich: die kritische Hinterfragung der soziokulturellen Prägung der Rezipierenden und deren unmarkierte gesellschaftliche Norm- und Wertvorstellungen. Literatur

Betterton, Rosemary: Promising Monsters: Pregnant Bodies, Artistic Subjectivity, and Maternal Imagination. In: Hypatia 21/1 (2006), 80–100. Cachia, Amanda: The Alterpodium: A Performative Design and Disability Intervention. In: Design and Culture: The Journal of the Design Studies Forum 8/3 (2016), 311–325. Cachia, Amanda: The politics of creative access: Guidelines for a critical dis/ability curatorial practice. In: Katie Ellis/ Rosemarie Garland-Thomson/Mike Kent/Rachel Robertson (Hg.): Interdisciplinary Approaches to Disability Looking Towards the Future. Bd. 2. London/New York 2018, 99–108. Cachia, Amanda: Disability and Contemporary Art. In: Tamar Heller/Sarah Parker Harris/Carol J. Gill/Robert Gould (Hg.): Disability in American Life. An Encyclopedia of Concepts, Policies, and Controversies. Bd. 1. Santa Barbara 2019, 139–142. Cashell, Kieran: Aftershock. The Ethics of Contemporary Transgressive Art. London/New York 2009. Davis, Lennard J.: Nude Venuses, Medusa’s body, and Phantom limbs. Disability and visuality. In: David T. Mitchell/ Sharon L. Snyder (Hg.): The Body and Physical Difference. Discourses of Disability. Ann Arbor 1997, 51–70. Garland Thomson, Rosemarie: Staring: How we look. Oxford 2009. Heindl, Nina (2014a): Temporär bespielt. Die plastischen Werke auf der Fourth Plinth zwischen Intervention und Denkmalsetzung. In: kunsttexte.de 4 (2014), http://edoc. hu-berlin.de/kunsttexte/2014–4/heindl-nina-4/PDF/ heindl.pdf (14.03.2020). Heindl, Nina (2014b): Becoming Aware of One’s Own Biased Attitude: The Observer’s Encounter with Disability in Chris Ware’s Acme Novelty Library No. 18. In: The Review of Disability Studies 10/3,4 (2014), 40–51. Heindl, Nina: Exploiting, Degrading, and Repellent. Against

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

a biased Interpretation of Contemporary Art about Disability. In: Elizabeth Howie/Ann Millett-Gallant (Hg.): Disability and Art History. London/New York 2016, 29–46. Howie, Elizabeth/Millett-Gallant, Ann: Introduction: Art History and Disability. In: The Review of Disability Studies 10/3,4 (2014), 6–7. Howie, Elizabeth/Millett-Gallant, Ann: Disability and Art History Introduction. In: Dies. (Hg.): Disability and Art History. London/New York 2016, 1–11. Kuppers, Petra: Disability and Contemporary Performance. Bodies on Edge. New York/London 2003. Leader, Darian: Sculpture between the living and the dead.

In: Germano Celant (Hg.): Marc Quinn. Mailand 2000, 14–19. Longmore, Paul: Screening Stereotypes. Images of Disabled People in Television and Motion Pictures. In: Ders.: Why I Burned My Book. And Other Essays on Disability. Philadelphia 2003, 131–146. Millett-Gallant, Ann: The Disabled Body in Contemporary Art. New York 2012. Siebers, Tobin: Disability Aesthetics. Ann Arbor 2010. Zarzycka, Marta: ›Now I Live on a Painful Planet‹. Frida Kahlo Revisited. In: Third Text 20/1 (2006), 73–84.

Nina Eckhoff-Heindl

58 Fotografie

58 Fotografie Als die beiden Erfinder William Henry Fox Talbot und Louis Daguerre geographisch unabhängig voneinander, aber nahezu zeitgleich in den 1830er Jahren ihre fotografischen Apparate und Verfahren entwickelten und diese der Öffentlichkeit vorstellten, waren sie beide gleichermaßen von der Idee angetrieben, damit die ›Realität‹ und die Wahrheit ein für alle Mal einzufangen und festzuhalten: In der Fotografie sollte sich die Natur selbst ganz unverstellt abbilden – ganz im Gegensatz zu den Fähigkeiten der Malerei, deren Entstehungsprozess einer (eigenen) Zeitlichkeit und dem subjektiven Blick des Künstlers unterliege. Der optische Einfall des Lichts auf die chemische Emulsion wurde von Forschern wie Fox Talbot oder Daguerre als objektiver Ausdruck der natürlichen Ordnung selbst verstanden. Tatsächlich unterliegen gerade der menschliche Körper und seine fotografische Darstellung in besonderem Maße historischen, sozialen und kulturellen Vorstellungen und Praktiken sowie technischen Voraussetzungen, die sich zum einen auf der Ebene der Produktionsbedingungen des fotografischen Aktes und zum anderen auf der Ebene der Rezeptionsbedingungen des fotografischen Erzeugnisses entfalten: Wie wird ein Mensch vor der Kamera in Szene gesetzt? Wo und von wem? Wie ist die kompositorische Anordnung, wie die Lichtsetzung, wie die Markierung der Pose? Und: Wer betrachtet später das fertige fotografische Produkt unter welchen Umständen? Welche ästhetisch-visuellen Vorkenntnisse hat der Betrachter? In welchen Kontext ist die Fotografie eingebunden, in welcher Größe? Werden andere Bilder im Vergleich gezeigt? Auch die fotografische Darstellung von Menschen mit Behinderung ist in diesem Spannungsverhältnis zwischen der Produktion des menschlichen Körpers im Bild und seiner diskursiven Produktion als Bild zu verorten. Ästhetisches wie soziales Wissen produziert Bilder von (Menschen mit) Behinderung, die wiederum Vorstellungen von (Menschen mit) Behinderung und ebenso Vorstellungen von Realität, Wahrheit und Norm bilden. Bilder allgemein und Fotografien von Menschen mit Behinderung im Besonderen sind deshalb mehr als stumme Mittler zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem. Fotografien sind auch immer Zeugen der medialen Verhandlung von gesellschaftlicher Normalität und Nicht-Normalität (s. Kap. 42). Folglich ist die Wahrnehmung von Abweichungen von der Norm immer an den Blick bzw. an das Sehen

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gebunden. Die Fotografie stellt sich dabei als Sonderfall ästhetischer Ausdrucksformen dar, da ihre mediale Eigenlogik – wie zur Zeit ihrer Erfindung – auch im 21. Jahrhundert auf die Annahme von Realitätsabbildung, ein »ça a été« [es ist gewesen] (Barthes 1980, 87) referiert. Das Foto genießt bis heute den Status einer indexikalischen Unhintergehbarkeit. Anstelle einer normativen ›Behindertenästhetik‹, die eigene Genres, Modi und Kategorien festlegt, fragen rezente kulturwissenschaftliche Untersuchungsansätze der fotografischen Produktion von Behinderung nach dem diskursiven Status von ›Behinderung‹ zwischen Bild und Blick, zwischen fotografischer Eigenlogik und ästhetischer Konvention, zwischen starer und staree – mit dem Ziel, spezifische Blickregime beschreibbar zu machen, die für die Bildproduktion wie die -rezeption leitend sind. Die Beurteilung, ob es sich bei der fotografischen Repräsentation von Menschen mit Behinderung um besonders gelungene, realistische oder angemessene Bilder handelt, tritt dann in den Hintergrund zugunsten der Frage, welchen Status jene Bilder in einem historischen, kulturellen, sozialen und ästhetischen Diskurs einnehmen, wie sie diesen prägen und dadurch neue, alternative Bilder und neue Diskurse über Behinderung hervorbringen. Die Ins-Bild-Setzung von geistiger Behinderung, psychischer oder chronischer Erkrankung erfordert andere Strategien der Sichtbarmachung von NichtNormalität als eine Körperbehinderung, da sich diese Phänomene nur selten auf der Oberfläche des fotografierten Körpers manifestieren und dem Betrachter keine Zeichen der verkörperten Devianz anbieten, wie es beispielsweise fehlende Gliedmaßen oder sichtbare Deformationen visuell anzeigen. Das hat zur Folge, dass etwa Fotografien von Menschen mit Down-Syndrom visuell häufig als symbolische Stellvertreter*innen für die soziale Kategorie ›geistige Behinderung‹ genutzt werden, da sich das Syndrom neben der unsichtbaren Lernbehinderung auch als sichtbares Merkmal hinsichtlich der Gesichtsform ausdrückt. Folglich haben neben dem konkreten Kontext, in dem eine Fotografie entsteht, und dem Kontext, in dem sie gezeigt wird, Darstellungskonventionen, fotografische Genres und das kollektive und das individuelle Bilderrepertoire einen hohen Anteil daran, wie das Sehen einer Abweichung von einer sozio-historisch stabilisierten Normalität konfiguriert und wie der menschliche Körper gelesen wird. Die folgenden Beispiele sind als im kulturellen Bilderrepertoire überdurchschnittlich häufig oder mit Nachdruck auftretende visuelle Topoi zu verstehen,

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_58

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

die den Diskurs um die fotografische Ins-Bild-Setzung von Behinderung besonders geprägt haben, bis heute prägen und das Verhältnis von visueller Normalität und der gleichsam damit entstehenden Nicht-Normalität immer wieder neu erzählen und verhandeln.

58.1 Institutionelle Patientenbilder Nur etwas mehr als ein Jahrzehnt nach der Erfindung der Fotografie durch Fox Talbot und Daguerre machte sich der erste Psychiater die Fotografie als Mittel der Wahrnehmungserweiterung zunutze: Hugh Welch Diamond, seit 1849 Leiter der Frauenabteilung des Springfield Hospitals im englischen Surrey, fertigte von seinen Patientinnen Porträtaufnahmen an, mit dem Ziel, diese und deren ›Krankheit‹ anhand von physiognomischen Studien besser erforschen zu können. Außerdem setzte Diamond die Bilder ein, um seine Patientinnen im Zuge therapeutischer Maßnahmen mit einem »accurate self-image« zu konfrontieren. Die Bilderserien dokumentieren seine Bemühungen, ›Krankheitsabläufe‹ von der Einweisung bis zur Entlassung fotografisch festzuhalten. Wenige Jahrzehnte später entstanden Aufnahmen Jean-Martin Charcots aus der Salpêtrière in Paris. Der französische Psychiater schrieb der von ihm erforschten Erkrankung der Hysterie unumstößliche physiognomische Kennzeichen zu, die fotografisch sichtbar zu machen er fest entschlossen war. Aus dieser Wiederholung oder Wiederaufführung des ›Wahnsinns‹ und seiner Arretierung im Bild schuf Charcot eine Sammlung, einem Museum gleich, die das in der Institution herrschende Blickregime konfigurierte und hinsichtlich der Ästhetik der Aufnahmen für die medizinisch-psychiatrische Fotografie in den folgenden Jahrzehnten tonangebend war. Charcot, Welch Diamond oder auch der italienische Anstaltsarzt Cesare Lombroso stellten die Fotografie als ein Instrument zur Verobjektivierung psychiatrischer Sichtweisen in den Dienst der Medizin, um das Sagbare mit dem Sichtbaren zu verbinden und ihren Expertenblick auf den gleichsam als nicht-normal markierten menschlichen Körper visuell festzuhalten. Ihre fotografischen Werke fanden Eingang in die Patientenakten, wurden in öffentlichen Räumen ausgestellt oder dienten der Illustration akademischer Debattenbeiträge in medizinischen Fachzeitschriften. Der ärztliche bzw. klinische Blick, wie ihn Michel Foucault in Die Geburt der Klinik (Naissance de la clinique: une archéologie du regard médical, 1963) formuliert

hat, wird in ein machtvolles klinisches Blickregime transponiert, mit dem Ziel, Abweichungen von einer gleichsam damit hergestellten Normalität festzustellen, sie dann in geeigneter Form zu behandeln und dadurch den behinderten Menschen auf diese Devianz zu reduzieren. Neben den ausführlichen Studien des US-amerikanischen Historikers Sander L. Gilman zu den Fotografien von Hugh Welch Diamond und der bildwissenschaftlichen Analyse der Aufnahmen Charcots aus der Pariser Salpêtrière hat sich u. a. die deutsche Kulturwissenschaftlerin Susanne Regener (2006) mit dem Zusammenhang zwischen Patientenfotografie und visueller Gewalt beschäftigt und dabei aufgezeigt, wie das fotografische Dispositiv die gezeigten Erkrankungen und Behinderungen erst hervorbringt.

58.2 Freaks und ›missing links‹ Abseits der Praxis der fotografischen Stillstellung des nicht-normalen Körpers in geschlossenen Institutionen wie Krankenhäusern, Anstalten und Gefängnissen, erfreute sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die Porträtfotografie als Genre großer Beliebtheit bei Menschen in allen gesellschaftlichen Milieus. Insbesondere das Bürgertum vergewisserte sich so seines eigenen Status’ und nutzte die Möglichkeiten der fotografischen Studio-Inszenierung zur Nobilitierung sozialer und familiärer Verhältnisse. Im Zentrum dieses fotografischen Genres stand »die unverwechselbare Individualität des Portraitierten als Kern der Darstellung« (Betancourt-Nuñez 2011, 8) bei gleichzeitiger Normierung durch die Anwendung einheitlicher Darstellungskonventionen. Neben der Archivierung der Fotografien im Familienalbum wurden Porträtaufnahmen im handlichen Carte-de-Visite-Format zu begehrten Sammelobjekten, unabhängig davon, ob das fotografische Subjekt dem Sammler persönlich bekannt war oder nicht. Besonders populär waren fotografische Porträts sogenannter Freaks, ferner solcher Menschen, die als Sideshow- oder Zirkusattraktionen ausgestellt wurden, z. B. Kleinwüchsige (›Zwerge‹), Mikrozephale (als missing links der menschlichen Abstammungslehre markiert), überdurchschnittlich behaarte Frauen und Männer (›die bärtige Lady‹) oder Menschen mit körperlichen Fehlbildungen wie der auch in Europa bekannte ›Mann ohne Unterleib‹ Charles Tripp. Für die Disability Studies besonders relevant sind hierbei die Analysen des US-amerikanischen Historikers Robert Bogdan, welcher der FreakFotografie ein eigenes visuelles Genre zuweist und auf

58 Fotografie

die Zusammenhänge seiner Entstehung mit sozialen Umwälzungen im viktorianischen bzw. post-viktorianischen Amerika aufmerksam macht. Durch ihre Einpassung in die Konventionen der bürgerlichen Atelierfotografie und der Ablichtung bei alltäglichen Verrichtungen wie Essen und Trinken oder beim Musizieren wurden diese Menschen einerseits ästhetisch normalisiert, andererseits aber auch entweder durch die Beigabe von Requisiten und edler Kleidung sozial überhöht bzw. exotisiert oder durch die Entblößung von Deformation oder Entstellung betroffener Körperteile für den Blick des neugierigen Betrachters aus sicherer medialer Distanz besonders zur Schau gestellt. Außerhalb des fotografischen Dispositivs reisten sie als Jahrmarktattraktionen mit ihren ›Besitzern‹ durch die Lande, wurden auf Bühnen und in Käfigen, in aufwendigen theatralischen Inszenierungen oder in Gruselkabinetten als Monstrositäten präsentiert. Einige von ihnen erlangten zu Lebzeiten international große Berühmtheit, während andere nach ihrem Tod als Forschungsobjekte der Medizin seziert und erneut ausgestellt wurden, z. B. in der Sammlung des Pathologen Rudolf Virchow (s. Kap. 28). Die deutsche Medienwissenschaftlerin Beate Ochsner stellt in ihrer Forschung zur medialen Repräsentation des Monströsen die fotografische Arretierung von körperlichen Abweichungen in einen für das 19. und 20. Jahrhundert bestimmenden Kontext von Literatur und Film und zeigt dabei die »Doppelstrategie von markierter Produktion und gleichzeitiger Negation von Differenz« (Ochsner 2010, 9) ausführlich auf, die sich in und an diesen Bildern entfaltet.

58.3 Zwischen den Kriegen: Kriegsversehrung, Neue Sachlichkeit und Propaganda Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs veränderte sich in Zentraleuropa und insbesondere in Deutschland die Sichtbarkeit von körperlicher Behinderung aufgrund der zahlreichen sichtbaren Kriegsverletzungen (s. Kap. 39). Vom Schlachtfeld zurückgekehrte Soldaten repräsentierten nicht nur den individuell verletzten Körper, sondern auch den amputierten Volkskörper, dem von außen unverschuldet Leid zugefügt worden war. Betroffen von Körperbehinderung waren in der öffentlichen Wahrnehmung nun nicht mehr nur die unteren Gesellschaftsschichten, sondern all jene (Männer), die ihren Körper als Zeichen ihrer soldatischen Tapferkeit dem Vaterland ›geopfert‹ hatten.

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Sozialpolitisches Ziel war ihre Reintegration, vor allem ins produktive Arbeitsleben. Dies geschah u. a. durch Rehabilitationsmaßnahmen und moderne Prothesen, deren Anfertigung und Einsatz fotografisch dokumentiert wurde und so als Beleg für die Innovationskraft deutscher Ärzte und Techniker galt. Für Kriegstraumatisierte und psychisch Erkrankte galt diese positiv besetzte Veränderung gesellschaftlicher Sichtbarmachung jedoch kaum, ebenso wenig für Menschen mit geistiger Behinderung oder jene, deren Behinderung angeboren war. Ihre fotografische Repräsentation erfolgte nach wie vor hauptsächlich in den oben beschriebenen Dispositiven der Psychiatrie-, Anstalts- oder Freakfotografie. Auf der Suche nach einer neuen gesellschaftlichen Ordnung in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, dem damit verbundenen Ende des Kaiserreichs sowie den politischen und sozialen Umwälzungen in der jungen Weimarer Republik entstand die Fotografie der ›Neuen Sachlichkeit‹, deren Vertreter*innen u. a. anhand von künstlerisch-dokumentarischen Porträtaufnahmen den Wandel von sozialen Hierarchien festzuhalten und gleichsam herbeizuführen suchten. Der wohl bekannteste deutsche Fotograf der Weimarer Republik, August Sander, beruft sich in seinem Werk auf die Kraft der Fotografie als Instrument zur Analyse der Wirklichkeit und verkündet dabei eine stabilisierte wie auch stabilisierende gesellschaftliche Ordnung, wie sie von vielen seiner künstlerisch aktiven Zeitgenoss*innen nach dem Ersten Weltkrieg herbeigesehnt worden war. Für seine Sammlung mit dem Titel Menschen des 20. Jahrhunderts hatte er von 1892 bis 1954 zahlreiche Fotografien gesammelt, mit dem Ziel, diese in über 45 Mappen mit Ansätzen eines zyklischen Gesellschaftsmodells aufzugliedern. In der 16 Fotografien umfassenden Mappe »Die letzten Menschen« (Gruppe VII: »Idioten, Kranke, Irre und die Materie«) sind so zum einen Auftragsfotografien einer Blindenanstalt in Düren aus dem Jahr 1930 vereint, zum anderen Porträtfotografien behinderter, kranker und alter Menschen sowie Totenbilder. Mit dieser Einordnung hat Sander nicht nur eine in seinem Sinne die Wirklichkeit abbildende Aussage darüber getroffen, wie sich die Position der Abgebildeten innerhalb der Gesellschaft – nämlich ganz unten und zuletzt – gestaltet. Zugleich weist er ihnen anhand seines künstlerischen Zugangs eine Bildwürdigkeit, eine Normalisierung und eine Sichtbarwerdung in Form einer Einordnung in sein Mappensystem zu. Ein realer Einfluss auf konkrete soziale Verhältnisse ist nicht nachweisbar.

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

Bereits kurz nach der Machtergreifung durch Adolf Hitler erschienen fotografische Schautafeln für Erbund Rassenhygiene, welche u. a. für die Sterilisierung bzw. die Tötung sogenannter ›Minderwertiger‹ oder ›Erbkranker‹ warben (s. Kap. 28). Auf ihnen abgebildet waren beispielsweise im Stil einer Balkenstatistik Fotografien von Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung in Anstaltskleidung sowie sportliche, blonde, junge Männer. Mit der Zeitachse des Diagramms werden die behinderten Figuren im Vergleich zu den nicht-behinderten Figuren immer größer, um damit den zahlenmäßigen Vorteil gegenüber diesen ›Höherwertigen‹ zu signalisieren. Diese Propaganda begleitete die politischen Vorbereitungen der Euthanasie- und Tötungsaktion T4, wie sie ab 1939 im gesamten Deutschen Reich stattfand und über 260.000 Menschen mit Behinderung das Leben kostete. Fotografische Zeugnisse des alltäglichen Lebens von Menschen mit Behinderung aus der Zeit zwischen 1933 und 1945, die nicht in den Diskurs um ihre Daseinsberechtigung einzuordnen sind, sind heute in erster Linie in den Bildarchiven und -konvoluten der zahlreichen deutschen Behindertenanstalten zu finden, wo Amateurfotografen sich aufgrund der immer günstiger werdenden Foto-Ausrüstung am ›Knipsen‹ versuchten.

hinderung als Objekt der Fürsorge, das vom paternalistisch überhöhten Spender aus dieser Lage errettet werden kann. Wenngleich sich das Ansinnen späterer Fotokampagnen der heutigen ›Aktion Mensch‹ hin zur Inklusion von Menschen mit Behinderung in die ›Normalgesellschaft‹ wandelte, sind auch heutige werbeorientierte Inszenierungen von Behinderung davon geprägt, dass eine visuelle Unterscheidung zwischen Normalität und Nicht-Normalität vorgenommen wird. Dies dient als visuelle Voraussetzung dafür, die rhetorische Bewegung des Inkludierens nachzeichnen zu können und dies zur Motivation für eine erhöhte Spendenbereitschaft zu machen. Modefotografische Kampagnen wie beispielsweise von Benetton mit vom Down-Syndrom betroffenen Kindern oder von Levis mit sehbehinderten Models veränderten in den 1990er Jahren nicht nur die Sichtbarkeit von Behinderung im öffentlichen Raum, sondern auch die Funktion dieser visuellen Inklusionsbewegung hin zu einer Ausweitung bestimmter Konsumzielgruppen, was wiederum zu einer Erweiterung des kulturellen Bilderrepertoires im europäischen und US-amerikanischen Raum führte.

58.4 Spendenkampagnen und Werbefotografien

Wenngleich es das Ansinnen vieler zeitgenössischer Fotograf*innen ist, ihre Modelle so ›normal‹ und/oder authentisch und ausdrucksstark wie möglich zu zeigen, so erzeugen Bilder von Menschen mit Behinderung Irritationen und Unbehagen, da sie auf Bildstrategien zurückgreifen, welche den behinderten Körper in fotografische Konventionen und normalisierende Dispositive einschreiben. So sind die oben skizzierten Diskurse nach wie vor maßgeblich für das Sehen von Behinderung seit der Erfindung der Fotografie und damit für das gesellschaftliche Bild von Andersartigkeit. Gerade die immer lauter werdenden Rufe nach einer nicht diskriminierenden, angemessenen und weniger spektakularisierenden medialen Darstellung von Menschen mit Behinderung zeitigen durchaus ungewollte Effekte der Exklusion. Indem sie einerseits darauf aufmerksam machen, dass sie zur sogenannten ›Normalgesellschaft‹ gehören, müssen sie sich selbst als ›anders‹ markieren, um im Zuge einer rhetorischen einladenden Geste sowohl sozial als auch visuell inkludiert zu werden. Das bedeutet für die fotografische Repräsentation von menschlicher Vielfalt (diversity), dass

Mit der Gründung der ›Lebenshilfe für das behinderte Kind‹ 1958 und der ›Aktion Sorgenkind‹ 1964 tauchten zum ersten Mal nach Ende des Zweiten Weltkriegs wieder Bilder von Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung in der breiten medialen Öffentlichkeit auf. Im Zuge der Berichterstattung und der Spendenkommunikation nach Bekanntwerden des Contergan-Skandals wurden vor allen Dingen Kinder mit angeborener Behinderung in Form von sichtbaren Fehlbildungen gezeigt. Dies geschah zum einen im Sinne der Aufklärung über deren Lebensverhältnisse, zum anderen aber wurden sie visuell als mitleiderregende Kreaturen, eben als Sorgenkinder, markiert, denen nur aufgrund der Spendenbereitschaft der Betrachtenden eine ›gesunde‹ Kindheit in speziellen therapeutischen bzw. pädagogischen Sondereinrichtungen geschenkt werden könne. Dieses »karitativ-verbrämte« (Schaffer 2008, 21) Blickregime erzeugt ein asymmetrisches Verhältnis zwischen Betrachter und fotografischem Referenten und markiert den (jungen) Menschen mit Be-

58.5 Inklusive Fotografie heute

58 Fotografie

sie mit einer politischen, sozialen und kulturellen Normalisierung einhergeht (s. Kap. 42), die immer neue Ausschlüsse produziert. Die Herausforderung für die fotografische Repräsentation einer inklusiven Gesellschaft besteht darin, eben nicht in Klischees und Stereotype zu verfallen (s. Kap. 51), die Menschen mit Behinderung als etwas ›Besonderes‹ oder als ›Helden‹ (z. B. im Behindertensport, s. Kap. 14) markieren und sie so auf ein medizinisch geprägtes Blickregime und ein vereinfachtes medizinisches Modell von Behinderung als dominante Sichtweise zurückwirft. Erfolgreiche fotografische Projekte, die der Selbstermächtigung und Selbstpositionierung von Menschen mit Behinderung dienen und dazu einladen oder drängen, die eigene Wahrnehmung und die damit verbundene soziale Akzeptanz von Vielfalt zu überprüfen, wenden sich gegen den klinischen Blick. Sie geben den fotografischen Referent*innen die Möglichkeit, sich so darzustellen, wie sie sich selbst sehen, und versuchen, den Fokus von der Behinderung weg und hin zu nicht-diskriminierenden Identitätszuschreibungen zu verschieben. Dazu gehört auch, die Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Fotografien aktiv mitzugestalten, z. B. durch die Bereitstellung nicht-diskriminierender digitaler Stockfotos (z. B. die kostenfreie Bilddatenbank http://www.gesellschaftsbilder.de), durch die Erweiterung von Set-Karteien von Model-Agenturen (z. B. die ZeeBeeDee-Agentur in Großbritannien), das wiederholte Anprangern stereotyper Darstellungsformen (z. B. durch https://leidmedien.de) oder die Nutzung von sozialen Netzwerken zur Gestaltung und Verbreitung subjektiver und persönlicher Sichtweisen auf die eigene Behinderung (z. B. auf Instagram oder TikTok) (s. Kap. 52). Eine kulturwissenschaftliche Perspektive auf fotografische Disability Visibility als Strategien der (Selbst-)Ermächtigung auf digitalen Plattformen birgt dabei großes Erkenntnispotential, da einerseits neue, im besten Fall barrierefreie Zugangsmöglichkeiten geschaffen werden, aber andererseits die intransparenten Algorithmen und Moderationspraktiken dafür sorgen, dass fotografisch arretierte Abweichungen von der gleichsam hergestellten Norm nicht mehr gezeigt oder gar blockiert werden.

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Literatur

Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie [1980]. Frankfurt a. M. 2008. Betancourt-Nuñez, Gabriele (Hg.): Portraits in Serie. Fotografien eines Jahrhunderts. Bielefeld 2011. Bogdan, Robert: Picturing Disability. Beggar, freak, citizen, and other photographic rhetoric. New York 2012. Didi-Huberman, Georges: Invention of Hysteria: Charcot and the Photographic Iconography of the Salpêtrière. Cambridge MA 2004. Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks [1963]. Frankfurt a. M. 1993. Garland-Thomson, Rosemarie: Staring. How we look. New York 2009. Gilman, Sander L. (Hg.): The face of madness. Hugh W. Diamond and the origin of psychiatric photography. New York 1976. Grebe, Anna: »Inklusion heißt: ...« Anmerkungen zur visuellen Teilhabe von Menschen mit Behinderung. In: Augenblick. Konstanzer Hefte zur Medienwissenschaft 58 (2013), 34–47. Grebe, Anna: Fotografische Normalisierung. Behinderung im Fotoarchiv der Stiftung Liebenau. Bielefeld 2016. Harrasser, Karin: Körper 2.0. Über die technische Erweiterbarkeit des Menschen. Bielefeld 2013. Lingelbach, Gabriele: Konstruktionen von »Behinderung« in der Öffentlichkeitsarbeit und Spendenwerbung der Aktion Sorgenkind seit 1964. In: Elsbeth Bösl/Anne Klein/Anne Waldschmidt (Hg.): Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung. Bielefeld 2010, 127–150. Möhring, Maren: Kriegsversehrte Körper. Zur Bedeutung der Sichtbarkeit von Behinderung. In: Anne Waldschmidt/Werner Schneider (Hg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld. Bielefeld 2007, 175–197. Ochsner, Beate: DeMONSTRAtion. Zur Repräsentation des Monsters und des Monströsen in Literatur, Fotografie und Film. Heidelberg 2010. Ochsner, Beate/Grebe, Anna (Hg.): Andere Bilder. Zur Produktion von Behinderung in der visuellen Kultur. Bielefeld 2013. Regener, Susanne: Visuelle Gewalt. Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts. Bielefeld 2006. Schaffer, Johanna: Ambivalenzen der Sichtbarkeit. Über die visuellen Strukturen der Anerkennung. Bielefeld 2008. Siebers, Tobin: Zerbrochene Schönheit. Essays über Kunst, Ästhetik und Behinderung. Bielefeld 2009. Tervooren, Anja: Von Sonnenblumen und Kneipengängern. Repräsentationen von geistiger Behinderung in Bild und Performance. In: Forum Kritische Psychologie 44 (2002), 14–21. Ziemer, Gesa: Verletzbare Orte. Entwurf einer praktischen Ästhetik. Zürich/Berlin 2008.

Anna Grebe

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

59 Comics, Graphic Novels, Graphic Memoirs Seit seinen Anfängen als Bildgeschichte und Zeitungsstrip inszeniert der Comic Alltagsszenen, und nicht erst seit dem Aufkommen US-amerikanischer Comichefte und japanischer Manga stellt er Körper facettenreich und mitunter fantastisch dar. Behinderung als von Mitchell und Snyder (2001) als narrative prosthesis bezeichnete Zweckmetapher oder als stigmatisiertes, ausgegrenztes Objekt der Lächerlichkeit ist daher kein seltenes Motiv in der Geschichte des Mediums. Auch liefert diese Geschichte Beispiele für sogenannte supercrip-Darstellungen, ambivalent-ermächtigende behinderte Figuren, die durch überzogene Heldenhaftigkeit ein Begehren nach (trotz oder wegen Behinderung) ›inspirierenden‹ Erlebnissen befriedigen. Es hat sich darüber hinaus in den letzten drei Jahrzehnten ein Feld von oft autobiographischen Comics in Langform von oder über (chronische) Krankheit und/ oder Behinderung entwickelt. Hier werden Betroffene selbst gesehen oder gehört, oder es werden Darstellungsformen gefunden, die als näher am Erleben von Behinderung wahrgenommen werden. Wenn im Folgenden von ›Comics‹ die Rede ist, ist das Erzählen in Bildfolgen, zumeist in gezeichneter Form und mit Text kombiniert, gemeint. Jenseits von eher kulturspezifischen Formaten wie Comicheften, Comicalben oder Mangas gewinnen ›Graphic Novels‹ an Bedeutung, d. h. in Buchform erscheinende Comics, die sich an Kinder, Jugendliche oder Erwachsene richten können und in Stil und Genre vielfältig sind. Vor diesem Hintergrund fokussiert dieser Beitrag nicht auf den Cartoon, der im deutschen Sprachraum in der Regel einen aus Einzelbild und gegebenenfalls Textbausteinen bestehenden Gag bezeichnet, und auch nicht auf die damit verwandte Tradition der politischen Karikatur. Auch Stopmotion- und Zeichentrickfilme (im Englischen oft als Cartoons bezeichnet) stehen nicht im Zentrum des Interesses, auch wenn klar sein muss, dass hier, wie auch in anderen Ausdrucksformen jenseits von gedruckten Panelsequenzen, die Abgrenzung zwischen chronischer Krankheit und Behinderung als Selbstbezeichnung und Fremdzuschreibung so vielschichtig und kontrovers wie in den akademischen und aktivistischen Diskursen ist (Herndl 2005). Stattdessen konzentriert sich dieser Beitrag zunächst auf das Phänomen autobiographischer Comics. Im Rückgriff auf die Forschung zu Literatur und Medizin werden diese Werke

im anglophonen Diskurs als ›Graphic Pathographies‹ oder ›Graphic Illness/Disability Narratives‹ bzw. ›Graphic Illness/Disability Memoirs‹ bezeichnet oder unter ›Graphic Medicine‹ als Sammelbegriff für Forschungsfeld wie Publikationslandschaft gefasst. Im Anschluss daran geht es um Werke und Diskurse jenseits des Autobiographischen, die das Thema Behinderung auf verschiedene Weisen fiktionalisieren.

59.1 Autobiographische Narrative Dass sich Comicschaffende wie auch Theoretiker*innen und Wissenschaftler*innen mit dem Thema Behinderung auseinandersetzen, dafür gibt es verschiedene im Medium und seiner Kulturgeschichte angelegte Erklärungsansätze. In der jüngeren Auseinandersetzung wurde darauf hingewiesen, dass beim Thema Behinderung, im Gegensatz etwa zu ähnlichen Diskussionen zu race oder gender, erst spät strukturelle Exklusionsmechanismen ins Zentrum eines in der Behindertenbewegung wie auch im wissenschaftlichen Diskurs entwickelten sogenannten sozialen Modells gerückt sind. Dieses sieht Behinderung als von gesellschaftlichen Machtstrukturen Behindert-Werden an und nicht etwa als individuelles Defizit oder medizinisch zu behandelnde Pathologie (vgl. Køhlert 2019, 124). Andere Forschende argumentieren, dass mit dem Aufkommen der Disability Studies zwar für Literatur-, Medien- und Kulturwissenschaften eine neue Bezugsdisziplin und ein aktivistischer Diskurs entstand, sich das Interesse jedoch primär auf andere Ausdrucksformen wie Prosa-Autobiographien oder Gemälde richtete. Comics hingegen blieben in mehreren einflussreichen Überblicksdarstellungen ohne Erwähnung (vgl. Smith/Alaniz 2019, 30n5). Auch Erklärungsansätze mit Blick auf die Geschichte des Mediums wurden vorgeschlagen. Comics und andere Formen graphischen Erzählens haben sich unabhängig von ihren Sujets verhältnismäßig spät zu einem breit untersuchten kulturwissenschaftlichen Forschungsgegenstand entwickelt. So lautet eine oft wiederholte Beobachtung, die dann in der Regel mit dem Spielfilm als Vergleichsphänomen begründet wird, einem ähnlich alten, aber viel früher akademisch diskutierten Medium (vgl. Squier 2008). Innerhalb der kritischen Diskurse zum Comic, die Form und Inhalt diskutierten, war das Thema Behinderung wiederum für lange Zeit kaum vertreten. Gesine Wegner (2020, 60–61) nennt drei Gründe für die inzwischen verstärkte Präsenz des Forschungs-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_59

59  Comics, Graphic Novels, Graphic Memoirs

themas. Einerseits sind Graphic Illness/Disability Narratives Teil einer stark angestiegenen Popularität autobiographischer Comics im frühen 21. Jahrhundert. Andererseits können sie als Weiterentwicklung des sich diversifizierenden Feldes von New Disability Memoirs verstanden werden, wie sie G. Thomas Couser für die Jahre des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts beschreibt — als autobiographische Narrative in verschiedenartigen Medien, deren emanzipatorischer Gestus unverkennbar ist (s. Kap. 64). Drittens hätten sich Graphic Illness/Disability Narratives dadurch hervorgetan, dass sie oft einen in den feministischen Disability Studies (s. Kap. 47) seit langem propagierten Zugang wählten: das Ersetzen von strikt sozialen Modellen durch persönliche und verkörperlichte Erfahrungsnarrative (2020, 61). Eine steigende Zahl an autobiographischen Erzählungen über Krankheit und Behinderung in Webcomics und Comicalben — laut Wegners Zählung über 150 — ist in den letzten Jahren allein im englischen Sprachraum auszumachen. Graphic Illness/Disability Narratives sind wohl auch deshalb im Begriff, sich als Forschungsgegenstand von Netzwerken, Drittmittelprojekten, Workshop- und Lehrkontexten, Websites und Buchreihen zu etablieren, weil sie überdurchschnittlich oft interdisziplinär diskutiert wurden. Für das Graphic Medicine Manifesto (2015) etwa, das Graphic Illness/Disability Narratives als eines der zentralen Themen behandelt, zeichneten Literaturwissenschaftler*innen, Künstler*innen, Kulturwissenschaftler*innen und Fachleute aus dem Gesundheitswesen verantwortlich. Das Thema Behinderung ist ebenfalls Teil der Graphic Medicine-Konferenzen und des gleichnamigen Netzwerks, das Fächer- sowie Theorie- und Praxis-Grenzen überwindet. Ebenso interdisziplinär ausgerichtet, nämlich durch eine Zusammenarbeit von Theoretiker*innen und Comicschaffenden, waren zwei Projekte, die ganz explizit auf das Thema Behinderung in Comics ausgerichtet waren und in je einem Sammelband resultierten: Disability in Comic Books and Graphic Narratives, herausgegeben von Chris Foss, Jonathan W. Gray und Zach Whalen (2016), und Uncanny Bodies: Superhero Comics and Disability, herausgegeben von Scott T. Smith und José Alaniz (2019). Damit ist aber primär etwas über den akademischen Diskurs und noch wenig über die eigentlichen Werke gesagt. Graphic Illness/Disability Narratives stehen im englischsprachigen Raum in der Tradition sogenannter alternative comics. Um den als Korsett empfundenen Genregrenzen und der de-facto-Selbstzensur der Mainstream- und insbesondere Superhel-

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dencomics zu entkommen, entwickelten sich in den 1960er und 1970er Jahren comicspezifische Gegenkulturen: Kollektive von Comicschaffenden, die oft im Eigenverlag publizierten und deren Werke stilistisch eigenständig waren, die aber auch thematisch neue Wege beschritten, etwa indem sie feministische oder auf LGBT+ ausgerichtete Themen ins Zentrum stellten. Bereits in dieser Bewegung — oft als underground comix zusammengefasst — tauchten erste autobiographische Narrative auf. Viele davon befassten sich mit Marginalisierung und der Abweichung von einer als gesellschaftlich-hegemonial empfundenen Norm, was oft mit medizinischen Begriffen unterfüttert wurde — so etwa Neurosen in den 1972 erschienenen Binky Brown Meets the Holy Virgin Mary von Justin Green und Goldie: A Neurotic Woman von Aline Kominsky (s. dazu Wegner 2020, 59–60). In den folgenden Jahren erweiterte sich das Themenspektrum der englischsprachigen autobiographischen Werke etwa auch auf Tetraplegie (John Callahans Don’t Worry, He Won’t Get Far on Foot: The Autobiography of a Dangerous Man von 1989), Parkinson (Peter Dunlap-Shohls My Degeneration von 2015), bipolare Störungen (Ellen Forneys Marbles: Mania, Depression, Michelangelo, and Me von 2012), Sehbehinderungen (David L. Carlsons und Landis Blairs The Hunting Accident: A True Story of Crime and Poetry von 2017) und Sprechbehinderung (David Smalls Stitches: A Memoir von 2009). Häufig spielen hier Beeinträchtigungs-, Diskriminierungs- und Körpererfahrungen zusammen. Der Miteinbezug weiterer Sprachräume, etwa des französischen und spanischen, würden zudem das Spektrum noch einmal bedeutend erweitern; man denke etwa an Titel wie La Parenthèse (Élodie Durand, 2010), Ce n’est pas toi que j’attendais (Fabien Toulmé, 2014) oder Habla María: Una novela gráfica sobre el autismo (Bernardo Fernández, 2018). Die Publikation von Graphic Disability Narratives in Buchform ist indes eine Art von Sichtbarkeit, die vielen Künstlerinnen und Künstlern bisher verwehrt bleibt. Initiativen wie die Disabled Cartoonists Database, von der Comiczeichnerin MariNaomi nach dem Vorbild ihrer wichtigen Cartoonists of Color Database ehrenamtlich ins Leben gerufen, versuchen dies zu ändern. So sollen nicht nur Narrative über Behinderung zirkulieren, sondern behinderte Künstlerinnen und Künstler jenseits ihrer Genres unterstützt werden, da die Comickunst ohnehin oft eine prekäre Beschäftigung ist. Was ist aber nun das Comicspezifische an ComicDarstellungen von Behinderung und Beeinträchti-

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

gung — etwa in autobiographischen Werken? Gibt es so etwas überhaupt, oder werden zur Nobilitierung des Mediums überzogene Behauptungen gemacht? In seinem Kapitel zu Al Davison greift Frederik Byrn Køhlert (2019) auch auf das Fragmentierte, das Multimodale und die Suggestion von subjektiver Darstellung in Comics zurück, um diesen Fragen nachzugehen. Køhlert kontextualisiert die Untersuchung der Ästhetik mit Diskursen zu Körpernormen und visueller Darstellung. Pathologisierendes und reißerisch-voyeuristisches Othering von körperlicher Normabweichung hat eine lange Tradition mit dunklen Kapiteln, aber das Visuelle kann auch eine andere Form entwickeln, wie Køhlert mit Rückgriff auf Garland Thomsons Theorie des ›Stare‹ aufzeigt: eine Form der Interaktion, in der die angestarrte Person — ›the Staree‹ — das Potential hat, sich der Objektifizierung zu widersetzen und stattdessen ein Narrativ entwickeln kann, das ihre spezifische Subjektivität ins Zentrum rückt. Im Gegensatz zum gänzlich hegemonialen ›Gaze‹ wohnt dem ›Stare‹ eine intersubjektive Komponente inne; er ist nicht statisch, sondern ergebnisoffen, so Garland Thomson. Hier setzt Køhlerts (2019) Idee des ›Counter-Stare‹ an. Comics unterscheiden sich von anderen visuellen Medien etwa dadurch, dass das Gezeichnete und Linienbasierte eine Art von Subjektivität impliziert, die nicht der Momentaufnahme eines fotografischen Schnappschusses entspricht, sondern vielmehr die Temporalität des Zeichnens, der Produktion, mitreflektiert. Darüber hinaus ergibt sich, so Køhlert, durch die fragmentierte Comicseite und das multimodale Zusammenspiel von Text und Bild eine Vielzahl von Möglichkeiten, durch die das dargestellte Subjekt nicht statisch und festgelegt, sondern dynamisch und veränderbar erscheint. Zusammen wirken diese Charakteristika der Gefahr der Objektifizierung entgegen. Der Counter-Stare ist zudem verbunden mit einem kontinuierlichen interpersonalen Sehen und Wahrnehmen, das sich aus dem Dekodieren der komplexen Comicseite und des Comicganzen ergibt (Køhlert 2019, 132–133). Eine Verbindung formaler Analyse von ComicMechanismen mit (fach-)politischer Perspektive schlug jüngst Gesine Wegner (2020) mit ihrer Kritik am Okularzentrismus vieler Diskurse zu Comics und insbesondere zu Graphic Illness/Disability Narratives vor. Während sie die Beachtung von Comics als Forschungsgegenstand wie auch als potentiell edukatives Erzählmedium emphatisch unterstütze, sei, so Wegner, doch die omnipräsente Behauptung, dass die vi-

suelle Komponente von Comics Graphic Illness/Disability Narratives zu etwas grundsätzlich Neuem und auch für die Thematik ›besser‹ Geeignetem machten, kritisch zu hinterfragen. Das Lob des Mediums bezieht sich oft auf eine behauptete Zugänglichkeit und verknüpft damit ein didaktisches mit einem politischen Argument. Wegner zitiert bestehende Forschung, nach der z. B. Menschen im autistischen Spektrum sich erfolgreich mit Comics auseinandersetzen. Gern vergessen würden allerdings andere Hürden, etwa für Menschen mit Sehbehinderung oder der höhere Kaufpreis von Graphic Novels. Wegner fragt ebenfalls kritisch nach der häufig nichtbehinderten impliziten Leserschaft, in deren Rezeption ein Risiko für Voyeurismus liege. Dieses müsse nicht als reißerisch oder in diskriminierender Absicht verstanden werden, stehe aber in einer langen Tradition etwa der US-amerikanischen visuellen Kultur, sich Schicksalsschlägen aus einer betonten Außenperspektive zu nähern. Menschen suchten nach visuellen Darstellungen dessen, was ihnen widerfahren könnte, sich in der Sicherheit wissend, dass sie von besagten Schicksalsschlägen bisher verschont blieben — so Wegner mit Verweis etwa auf Susan Sontags (2005) Gedanken zur Fotografie sowie Ingrid Gessners und Susanne Leikams (2013) Überlegungen zu »Iconographies of the Calamitous«. Das relativiere einerseits die Hypothese, Graphic Illness/Disability Narratives seien etwas noch nie Dagewesenes, und führe andererseits auf problematische Weise Behinderung mit den Konzepten von Schicksalsschlag oder gar Unheil eng. Besonders erhellend ist Wegners Mahnung, die spezifischen Methoden und theoretischen Prämissen der zeitgenössischen Disability Studies ernstzunehmen, wie sie etwa G. Thomas Couser zusammenfasste. Hier komme eine Forderung ins Spiel, die dem visuellen Darstellungsfokus auf Körper mit Beeinträchtigungen sogar entgegenlaufe: Im Gegensatz zu den Medical Humanities seien die Disability Studies gemäß dem sozialen Modell gerade daran interessiert, diesen Fokus mit einem Blick auf soziale Praxen des Behinderns zu ersetzen. Auch wenn die Engführung auf die soziale Dimension heute vielfach kritisiert und eine kritische Perspektive auf körperliche Beeinträchtigungserfahrung häufiger eingeschlossen wird (vgl. Squier 2008), ist es wichtig, dieses Zusammenspiel zu bedenken. Auch die Praxis von cartoonhafter Repräsentation — des bewussten Überzeichnens mit humoristischem, fiktionalem oder abstrahierend-erklärendem Effekt — kann laut Wegner durchaus verschieden aufgefasst

59  Comics, Graphic Novels, Graphic Memoirs

werden. Einerseits bietet das Cartoonhafte einen Gegenpol zur als rein dokumentarisch konnotierten Fotografie (s. Kap. 70) und zu fotorealistischen Zeichnung: einen Gegenpol, der entfremdend und fiktionalisierend wirken kann und die Materialität und Gemachtheit des Endprodukts herausstellt. Das kann die Möglichkeit schaffen, Menschen mit anderen Lebenserfahrungen Einblicke zu gewähren, die sie realweltlich vielleicht deshalb nicht erhalten könnten, weil genaues Beobachten mit Stigmatisierung einhergehen kann und weil nüchterne Symptombeschreibungen in medizinischen Narrativen viele Aspekte aussparen. Andererseits suggerieren Graphic Illness/Disability Memoirs in Kombination mit der paratextuellen Versicherung, dass es sich um autobiographische Narrative handle — etwa Untertitel wie ›Memoir‹, ›True Story‹, ›Autobiography‹ — eine verschwommene und verschwimmende Grenzlinie zwischen Realität und Fiktion, was die Trope des Gefühls des Sublimen (nach Nicholas Mirzoeff) hervorrufen kann: das potentiell befriedigende Gefühl, detailliert zu erfahren, wie die Natur das Handlungsvermögen eines menschlichen Individuums einzuschränken vermag, ohne als Leser*in aber von dieser Einschränkung selber betroffen zu sein. Nach Wegner sind Graphic Illness/Disability Narratives also keinesfalls so radikal neu, wie es ein enthusiastisch-affirmativer Diskurs suggeriert. Sie ordnen sich vielmehr in bereits genannte Erzähl- und Visualisierungstraditionen ein. Darüber hinaus sind sie letztlich auch als logische Fortsetzung des historischen Paradigmenwechsels in der Medizin zum Visuellen zu verstehen — zur Tendenz, in Diagnostik Visualisierungen und bildgebende Verfahren als dem Haptischen und dem anamnestischen Gespräch überlegen anzusehen.

59.2 Jenseits des Autobiographischen Obwohl ihnen in zeitgenössischen Diskursen eine zentrale Rolle zukommt, sind autobiographische Comics nicht die einzige Form der Auseinandersetzung mit Behinderung in graphischer Literatur. Ein berühmtes fiktionales Beispiel ist Chris Wares Protagonistin in Building Stories, einem 2012 publizierten physisch-materiellen Experiment aus vierzehn modularen Büchern, Heften und weiteren Elementen. Diese Bausätze greifen zusammen das titelgebende Thema auf, nämlich die im Wortspiel angelegten Geschichten, die sich allgemein in Gebäuden und besonders auf deren Etagen abspielen. Auf einem der Geschosse

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lebt die Protagonistin, eine Frau mit Beinprothese, deren Namen wir nicht erfahren. Margaret Fink Berman argumentiert in ihrer Besprechung von Building Stories, hier finde eine Demystifizierung von körperlicher Behinderung statt, indem die Protagonistin schlicht im Alltag und in ihrem gewohnten Umfeld gezeigt werde — ebenso verwoben in Abläufe, Gewohnheiten und Rituale, wie es die anderen Bewohnerinnen und Bewohner des Gebäudes sind (Fink Berman 2010). »Idiosyncratic belonging« nennt Fink Berman dieses Phänomen (ebd., 192): Dem vermeintlich außergewöhnlichen Körper werde das Gewöhnliche attestiert; es liege eine Präsentation von körperlicher Beeinträchtigung vor, die nicht sofort nach dieser Beeinträchtigung als Marker frage, sondern von Anfang an den Fokus auf den betroffenen Menschen als Individuum lege. Todd A. Comers »The Hidden Architecture of Disability Studies: Chris Ware’s Building Stories« (2016) weicht von diesem Gedanken ab mit dem Argument, dass wir als Lesende gerade durch das hervorgehoben Gewöhnliche wieder auf die Normabweichung zurückgeworfen würden: Gerade indem wir rezipierend so wenig Konkretes über die Behinderung der Protagonistin erfahren, so Comer, werden wir immer neugieriger. Das geschieht auf die gleiche Art, in der Lesende von dem Bedürfnis getrieben werden, die Kohärenz eines Werkes zu erfassen. Dieses Begehren sieht Comer in der Form des Werks angelegt. Die dargestellte Behinderung bleibe am Schluss als groß angelegte Metapher über Werk und Rezeption stehen, konkret: über den Vorgang, der herausgestellten körperlichen Normabweichung ebenso einen kohärenten narrativen Sinn zuzuweisen wie dem Gesamtprojekt Building Stories. Dass Fink Berman und Comer zu sehr verschiedenen Schlüssen über dasselbe Werk kommen, illustriert die zunehmende Dynamisierung und Diversifizierung der Diskurse zu Behinderung im Comic. Gleichzeitig reflektiert es aber auch das Medium des Comics und in diesem Zusammenhang den Werkbegriff an sich. Comics wurden vom Feuilleton und der akademischen Kritik traditionellerweise nicht oder höchstens als peripher künstlerisch wertvolle Ausdrucksformen wahrgenommen. Als solche waren sie Teil von ephemeren massenmedialen Verbreitungstechniken. Während viele der genannten Titel unter dem Label Graphic Novel in aufwendigen Büchern daherkommen, darf nicht vergessen werden, dass insbesondere in den USA weite Teile der frühen Comicgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert von einer auf

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

billigem Papier gedruckten, seriellen und auf EinwegGebrauch ausgerichteten Produktion geprägt waren. Mit diesem Spektrum an materiellen und produktionstechnischen Möglichkeiten spielt auch Wares Werk: Fink Berman wie Comer betonen die unterschiedlichen Lesarten, die sich aus den seriell im New York Times Magazine vorabgedruckten, einheitlichformatigen Comicseiten einerseits und dem letztlich als Gesamtwerk verkauften Baukastenexperiment andererseits ergeben. Für solch formale Überlegungen interessiert sich auch Margaret Galvans Aufsatz »Thinking through Thea« (2016). In der Rezeption von Alison Bechdels zum Klassiker avancierten Fun Home ist dem Obsessive-Compulsive Disorder (OCD) der Protagonistin viel zu wenig Beachtung geschenkt worden, so Galvan. Gleichzeitig beschreibt sie, wie die Darstellung von Behinderung und Beeinträchtigung in einem seriell publizierten Sitcom-Format, wie es Bechdels queerfeministisches Dykes to Watch Out For (1983– 2008; festes Set an Figuren ab 1987) war, ganz andere Formen annehmen kann. Die ab den 1990er Jahren auftretende Figur Thea, eine lesbische Frau, die einen Rollstuhl nutzt, kann über die Jahre hinweg quasi metareferentiell im Dialog mit anderen Figuren Fragen von Visibilität und Handlungsvermögen reflektieren bzw. ihre eigene Darstellung als fiktionales Token kritisieren. Der Zeitpunkt von Theas Miteinbezug in Dykes to Watch Out For, das als Serie oft aktivistische Communities beleuchtet, kann darüber hinaus als Statement zu Intersektionalität verstanden werden. Einem deutschsprachigen Publikum wurde unlängst das Kapitel »Intersektionale Comicanalyse« der Kollektiv-Monographie Comicanalyse. Eine Einführung (Packard/Rauscher/Sina u. a. 2019) an die Hand gegeben, ein auf methodische Fragen ausgerichteter Beitrag, bei dessen zentralem Anschauungsbeispiel, Kaisa Lekas I Am Not These Feet, Verbindungen von Gender und Behinderung im Zentrum stehen. Die reiche Publikationslandschaft von Comics bietet weitere offensichtliche Kandidaten für solche Analysen — etwa Farid Boudjellals Geschichte eines Minderjährigen, in dessen Leben Kinderlähmung ebenso wie rassistische Zuschreibungen von Bedeutung sind. Zu diesen intersektionalen Analysen im Sinne der Disability Studies (vgl. auch Korff-Sausse 2019) gehört, die eigene Position transparent zu machen, indem man z. B. in diesem Falle darauf hinweist, dass die Autorin und die Autoren des vorliegenden Texts selbst keine eigenen Erfahrungen mit Behinderung haben oder diese lediglich in ihrem nahen Umfeld erlebt ha-

ben. Dorothee Schneiders »The Affected Scholar: Reading Raina Telgemeier’s Ghosts as a Disability Scholar and Cystic Fibrosis Patient« (2018) nähert sich dem Werk zwar über zeitgenössische literatur- und comicwissenschaftliche Interpretationsverfahren, erschöpft sich aber nicht darin. Schneider thematisiert gleichzeitig ihr eigenes Leben mit Mukoviszidose (engl. Cystic Fibrosis CF) sowie die Art, wie dieses ihre Leserinnenerfahrung von Ghosts prägt und ihr andere interpretative Zugänge zum Werk ermöglicht. Damit lädt sie zum Nachdenken über Methodologie ein: erstens, indem sie den geisteswissenschaftlichen Affective Turn als solchen reflektiert, d. h. indem sie ausführlich die Infragestellung des Mythos einer neutral-objektiven Sichtweise nachzeichnet, die gleichzeitig Emotionslosigkeit vorgibt; zweitens, indem sie als Affected Scholar Diskurse aus der CF-Community prominent zur Sprache bringt. Schneider legt u. a. dar, wie intendiertes Empowerment auch einen verkürzenden Effekt haben kann. Vordergründig dreht sich Ghosts um Maya, das ungefähr achtjährige an Mukoviszidose erkrankte Mädchen, das trotz des Bewusstseins um ihre derzeit unheilbare chronische Krankheit kaum je ihre Lebensfreude verliert. Genau genommen aber wird Mayas Schicksal aus der Sicht ihrer älteren Schwester erzählt, was mehrere Besonderheiten mit sich bringt. Erstens wird das Informationspotential des explizit auch an Kinder gerichteten Comics nicht gänzlich ausgeschöpft, weil etwa wichtige medizinische Errungenschaften und Möglichkeiten in der Darstellung Mayas unerwähnt bleiben. Zweitens betont diese Wahl der Sichtweise das Mit-Leiden und die Verlustängste von Angehörigen. Weitgehend ausgeblendet wird bei Telgemeier die Frage danach, wie die Betroffene sich selbst, die physischen Schmerzen, die alltagspraktischen Einschränkungen, die Stigmatisierung und ihre eigenen Ängste und Sorgen darstellen würde. Die Resilienz und die positive Einstellung Mayas scheint weniger einer authentischen Darstellung einer Mukoviszidose-Erfahrung zu dienen als vielmehr zu ermöglichen, die Sorgen und Verlustängste ihrer älteren Schwester in den Mittelpunkt zu rücken. Letztlich — so Schneiders Argumentation — partizipiert das Comicalbum wohl ungewollt am inspiration porn, also der Objektifizierung einer betroffenen Person oder Figur (hier: Maya) zum Zweck der Befriedigung eines Bedürfnisses nach Inspirationsangeboten zu ›positiver‹ Lebenseinstellung. Hier schließt sich der Kreis zu dem Negativbegriff des supercrip, der sich gegen die Glorifizierung erfolg-

59  Comics, Graphic Novels, Graphic Memoirs

reicher behinderter Menschen wendet, die aus der­ ableistischen Sicht (d. h. behindertenfeindlichen Sicht, nach ableism in Analogie zu sexism, racism etc., s. Kap. 51) für die Überwindung meist körperlicher Einschränkungen in unzähligen populären Narrativen gefeiert und als Inspirationsquelle für ein breites Publikum medienwirksam inszeniert werden. In den 1970er Jahren als abwertende Aussage über sogenannte overachiever mit Behinderung innerhalb der Disability Rights Community entstanden, fand die Bezeichnung supercrip (super + cripple) in den späten 1990er Jahren Eingang in die Diskurse der Disability Studies, wo man sich verstärkt gegen stark sentimentalisierte oder spektakuläre Darstellungen außergewöhnlicher Menschen mit Behinderung verwehrt (Schalk 2016, 74–75). Denn in diesen als supercrip narratives bezeichneten und meist primär an ein nichtbehindertes Publikum adressierten Erzählungen wird Behinderung zum einen als Manko gehandelt, dessen Überwindung den beeinträchtigten Menschen erst zum gleichberechtigten Mitglied der Gesellschaft macht. Zum anderen erwecken diese Erzählungen unrealistische Erwartungen an die Leistungsfähigkeit physisch oder psychisch eingeschränkter Menschen im Alltag und verdecken bzw. negieren so Ausgrenzung von Behinderten u. a. durch soziale und infrastrukturelle Barrieren (Schalk 2016, 74). Wie José Alaniz (2014; Smith/Alaniz 2019) in seiner Forschung zum Genre des Superheldencomics gezeigt hat, weist der Begriff des supercrip nicht zufällig eine Verwandtschaft mit der Figur des superhero auf. Denn in den Comics von Verlagen wie DC und Marvel steht der mit übermenschlichen Fähigkeiten ausgestattete und damit nicht normkonforme Körper im Zentrum des Geschehens und fungiert seit den Anfängen des Genres in den späten 1930er und 1940er Jahren als Sinnbild des US-amerikanischen Exzeptionalismus. Der Superheldenkörper, so Alaniz, ist konventionell gesund, muskulös, und zumeist unverwundbar; er entsteht als quasi-faschistischer Gegenentwurf zur Fragilität des echten menschlichen Körpers, dessen Anfälligkeit für Krankheit, Behinderung und Tod weitgehend ausgeblendet wird (2014, 6). Selbst Batman (Kane/Finger, DC Comics, seit 1939), einer der wenigen Superhelden, die über keine übermenschlichen Kräfte verfügen und ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten allein durch hartes Training und strikte Selbstdisziplin erworben haben, steht für dieses Körperideal. Darüber hinaus ist die Logik des supercrip bereits in den Grundzügen des Genres angelegt. Der ›Schwäch-

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ling‹ Steve Rogers (Kirby/Simon, Marvel Comics, seit 1941) muss zunächst mit ansehen, wie er aufgrund seiner körperlichen Defizite ausgemustert wird und nicht für sein Land in den Krieg gegen Nazi-Deutschland ziehen darf. Allerdings wird er als Testperson für ein neues Wunderserum auserkoren, das den amerikanischen Streitkräften eine Garde von Supersoldaten bescheren soll. Der Test gelingt, doch ein NaziSpion tötet den für das Experiment verantwortlichen Wissenschaftler. So mutiert allein Rogers zum Superhelden, der fortan für die USA kämpfen wird und lange das Ideal weißer männlicher Unversehrtheit verkörpert. Ein weiteres Beispiel für die Prominenz solch fantastisch-fiktionalisierter supercrip narratives ist Matt Murdock alias Daredevil (Everett/Lee, Marvel, seit 1964), ein Anwalt, der durch radioaktive Strahlung sein Augenlicht verliert, diesen Verlust aber durch die bei dem Unfall gleichzeitig verstärkten Hör-, Tast- und Geschmackssinne überkompensiert. Als serielle populäre Genreerzählungen sind Superheldencomics jedoch keine statischen Artefakte; sie müssen sich gesellschaftlichem Wandel anpassen, um relevant zu bleiben, und können diesen Wandel gleichzeitig thematisieren und unterschiedliche Positionen dazu entwickeln. Ein Beispiel hierfür sind die flawed superheroes des Marvel-Verlags, die in den 1960er Jahren auf den Markt kommen und eine deutlich veränderte Körperpolitik repräsentieren. Bei den Fantastischen Vier (Kirby/Lee, seit 1961), Spider-Man (Ditko/Lee, seit 1962), Hulk (Kirby/Lee, seit 1962), Iron Man (Heck/Kirby/Lee, seit 1963) und den X-Men (Kirby/Lee, seit 1963) handelt es sich allesamt um Mutanten, die durch körperliche Veränderung zwar zu Superhelden werden, deren Körper aber keineswegs zwingend dem tradierten Ideal der Unverwundbarkeit und Stärke verpflichtet sind. So kann der durch eine Explosion lebensgefährlich verwundete Tony Stark nur durch ein künstliches Exoskelett überleben, welches sein Herz vor Metallsplittern in seinem Körper schützt und ihm in Verbindung mit einer hochtechnisierten Rüstung, einer Art ganzheitlicher Prothese, zum Superhelden macht. Bruce Banner sieht sich durch ein fehlgeschlagenes wissenschaftliches Experiment mit dem Problem konfrontiert, zum Hulk zu werden und einer unkontrollierbaren Zerstörungswut zu verfallen (»Hulk smash!«), sobald er in Rage gerät. Die Mitglieder der Fantastischen Vier müssen nach einem Weltraumunfall mit den Vor- und Nachteilen ihrer dadurch erworbenen Superkräfte leben lernen, darunter Ben Grimm alias das Ding, der damit fertig werden muss, dass er sich nicht mehr in seine mensch-

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

liche Form zurückverwandeln kann. Und als Mutanten, die zunächst keine Kontrolle über ihre übermenschlichen Fähigkeiten haben, müssen die X-Men sowohl mit dem Misstrauen großer Teile der Bevölkerung als auch mit ihren Superkräften, die häufig zu Handicaps werden, klarkommen (Fawaz 2016). Auch wenn Behinderung hier nicht explizit benannt wird, eignen sich diese Erzählungen potentiell als Projektionsfläche für die realweltlichen Erfahrungen von Leserinnen und Lesern mit Behinderung. Dennoch bleibt die Frage bestehen, wie ein populärkulturelles Genre, das so eng mit der graphischen Inszenierung und narrativen Ausgestaltung von bisweilen grotesken, aber in der Regel idealisierten Superkörpern verknüpft ist, Behinderung angemessen thematisieren kann (Charles Hatfield in Smith/Alaniz 2019, 219). Immerhin muss bedacht werden, dass mit der Figur des Superschurken körperlicher Mangel (bzw. das, was als solcher ausgewiesen wird) konventionell als Signum des Bösen und Perversen identifiziert und Behinderung damit zumindest implizit als negativ zu wertende Normabweichung ausgestellt wird. Als Antwortversuch wäre hier zum einen die Forumsfunktion des Genres zu nennen, das gesellschaftlich relevante Fragen immer wieder zum Thema der Geschichten macht und innerhalb einzelner Episoden und Serien durchaus differenziert verhandelt (die Beiträge in Smith/Alaniz 2019 belegen diesen Tatbestand; sie analysieren u. a. die Darstellung von Autismus, Dissoziativer Identitätsstörung, Taubheit und Progressiver Muskeldystrophie in den Comics). Zum anderen erschöpft sich die kulturelle Funktion des Comics längst nicht in den Inhalten und den Themen, mit denen er sich beschäftigt. Durch die für Serienerzählungen grundlegende zeitliche Überschneidung von Produktion und Rezeption und durch die in der sequenziellen bild-sprachlichen Medialität der Comics angelegten elliptischen Erzählweise, die Leserinnen und Leser besonders eng in den Akt der Bedeutungskonstitution einbindet, wird der Blick auf die Rezeption des Genres bzw. einzelner Figuren oder Serien wichtig. Hier finden sich unzählige Reaktionen auf die Darstellung von Superkörpern, die diese mehr oder weniger kritisch reflektieren und in vielen Fällen ergänzen, differenzieren oder gar unterminieren. Darunter sind Einträge auf Szeneportalen wie »More Than Able: 15 Disabled Superheroes Who Inspire Us« von Joanne M. Weselby (http://www.cbr.com, 20. November 2016), die inspirierende Superheld*innen (u. a. die Querschnittgelähmten Barbara Gordon/ Oracle und Charles Xavier/Professor X) mit Behin-

derung auflisten und auf diese Weise das supercripNarrativ bedienen. Ebenfalls zu nennen aus dem Bereich der Kunst sind die Werke des französischen Künstlers Gilles Barbier, der in seiner Installation Nursing Home (2002) Superhelden als gealterte und fragile Wesen in Wachs inszeniert, deren Körper ihre frühere Vitalität beinahe vollends verloren haben (Alaniz 2014, 3–4). Ein weiteres Beispiel sind Comics abseits des Mainstreams, z. B. von Zeichnern wie dem Briten Dan White, Vater einer einen Rollstuhl nutzenden Tochter mit Spina Bifida, der die Unterrepräsentanz von behinderten Superhelden zum Anlass nahm, 2016 ein Superheldenteam namens Department of Ability ins Leben zu rufen, bei dem die Mitglieder ihre unterschiedlichen Behinderungen in Superkräfte verwandeln (Rollstuhlräder als Schutzschilder usw.). Die Trope von ambivalenten Superkräften wird immer wieder in Comics jenseits des Mainstreams eingesetzt, so z. B. in der Superman-Referenz von Seagles und Kristiansens It’s a Bird oder dem Werk El Deafo von CeCe Bell. Ein drittes und in seiner Komplexität kaum darstellbares Beispiel sind die zahllosen Webseiten, Diskussionsforen, Blogs und ähnliche Online-Formate, in denen Superheldencomics aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln analysiert und kommentiert werden und wo das Thema Behinderung, neben vielen anderen, immer wieder zum Gegenstand der Diskussion wird. Dies geschieht nicht zuletzt durch die wachsende Präsenz von Comic-Superhelden im öffentlichen Diskurs, wie die Aussage der Klima-Aktivistin Greta Thunberg, ihr Asperger-Syndrom sei keine Einschränkung, sondern eine Superkraft, zeigt. Dieser Beitrag fokussiert auf den US-amerikanischen Raum, dessen populäre Kultur den Begriff ›Comic‹ geprägt hat. Insbesondere zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler sind oft auch von Mangas und der frankobelgischen BD-Tradition inspiriert, die vergleichbare Berühmtheit erlangt haben, oder von Comics in anderen kulturellen Kontexten, die im internationalen Comicdiskurs noch unterbelichtet sind. Wie eingangs erwähnt, gibt es ebenfalls Bezüge zur Karikatur, zur Kunst und zum Animationsfilm, sowie sich stetig wandelnde Verbreitungsformen von Comics, die z. B. in sozialen Medien neue Überschneidungspunkte mit Behindertenrechtsdiskursen entwickeln. Die international besonders sichtbare anglophone akademische Forschung zu Comics und Behinderung, die hier diskutiert wird, ist wie fast alle Comicforschung von vielen Bezugsdisziplinen geprägt und verdankt viele ihrer Erkenntnisse der Arbeit

59  Comics, Graphic Novels, Graphic Memoirs

von Praktikerinnen und Praktikern. Von der Multizu einer tatsächlichen Interdisziplinarität zu gelangen, die gleichzeitig historisch und kulturell kontextualisiert und einen intersektionalen Ansatz verfolgt, ist auch im Forschungsfeld ›Comics und Behinderung‹ ein fortschreitendes Projekt. Literatur

Alaniz, José: Death, Disability, and the Superhero. The Silver Age and Beyond. Jackson 2014. Comer, Todd A.: The Hidden Architecture of Disability: Chris Ware’s Building Stories. In: Foss/Gray/Whalen 2016, 44–58. Fawaz, Ramzi: The New Mutants. Superheroes and the Radical Imagination of American Comics. New York 2016. Fink Berman, Margaret: Imagining and Idiosyncratic Belonging: Representing Disability in Chris Ware’s ›Building Stories‹. In: David M. Ball/Martha B. Kuhlman (Hg.): The Comics of Chris Ware: Drawing is a Way of Thinking. Jackson 2010, 191–205. Foss, Chris/Gray, Jonathan W./Whalen, Zach (Hg.): Disability in Comic Books and Graphic Narratives. London 2016. Galvan, Margaret: Thinking through Thea: Alison Bechdel’s Representations of Disability. In: Foss/Gray/Whalen 2016, 187–202. Garland Thomson, Rosemarie: Extraordinary Bodies. Figuring Physical Disability in American Culture and Literature. New York 1997. Garland Thomson, Rosemarie: Staring. How We Look. Oxford 2009. Gessner, Ingrid/Leikam, Susanne: Introduction: Iconographies of the Calamitous in American Visual Culture. In: Amerikastudien/American Studies 58/4 (2013), 533–542. Herndl, Diane P.: Disease versus Disability: The Medical Humanities and Disability Studies. Publications of the Modern Language Association of America/PMLA 120/2 (2005), 593–598, http://www.jstor.org/stable/25486190 (15.04.2020).

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Køhlert, Frederik Byrns: Serial Selves. Identity and Representation in Autobiographical Comics. New Brunswick NJ 2019. Korff-Sausse, Simone: Un invité indésirable. Le handicap acquis dans la clinique et la littérature. In: Anne Boissel (Hg.): Quand le handicap s’invite au cours de la vie. Toulouse 2019, 11–26. McIlvenny, Paul: The Disabled Male Body ›Writes/Draws Back‹. In: Nancy Tuana/William Cowling/Maurice Hamington/Greg Johnson, Terrance MacMullan (Hg.): Revealing Male Bodies. Bloomington 2002, 100–124. Mirzoeff, Nicholas: An Introduction to Visual Culture. Abingdon 1999. Mitchell, David T./Snyder, Sharon L.: Narrative Prosthesis. Disability and the Dependencies of Discourse. Ann Arbor 2001. Packard, Stephan/Rauscher, Andreas/Sina, Véronique/Thon, Jan Noël/Wilde, Lukas R. A./Wildfeuer, Janina: Intersektionale Comicanalyse. In: Dies. (Hg.): Comicanalyse. Eine Einführung. Stuttgart 2019, 151–184. Schalk, Sami: Reevaluating the Supercrip. In: Journal of Literary & Cultural Disability Studies 10/1 (2016), https://doi. org/10.3828/jlcds.2016.5 (09.06.2020). Schneider, Dorothee: The ›Affected Scholar‹: Reading Raina Telgemeier’s Ghosts as a Disability Scholar and Cystic Fibrosis Patient. In: Closure. Kieler e-Journal für Comicforschung 5 (2018), 125–149, http://www.closure.uni-kiel. de/closure5/schneider (12.12.2019). Smith, Scott T./Alaniz, José (Hg.): Uncanny Bodies. Superhero Comics and Disability. University Park 2019. Sontag, Susan: On Photography. New York 2005. Squier, Susan M.: So Long as They Grow Out of It: Comics, The Discourse of Developmental Normalcy, and Disability. In: Journal of Medical Humanities 29/2 (2008), 71–88. Wegner, Gesine: Reflections on the Boom of Graphic Pathography: The Effects and Affects of Narrating Disability and Illness in Comics. In: Journal of Literary & Cultural Disability Studies Studies 14/1 (2020), 57–74.

Christina Maria Koch / Daniel Stein / Lukas Etter

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

60 Roman Die Gattungsgeschichte des Romans gilt als Erfolgsund Aufstiegsgeschichte, deren Ausgang um 1800 angesetzt wird und die sozialgeschichtlich mit der Emanzipation des Bürgertums in Verbindung steht. Hervorgegangen aus dem antiken Epos, wird der bürgerliche Roman zur Reflexions- und Artikulationsform bürgerlicher Subjektivität und zur literarischen Kunstform, die die ästhetische Moderne vorantreibt. Als Großform des fiktionalen Erzählens individueller Lebenswirklichkeit entwickelt er sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert für ein stetig wachsendes Lesepublikum zur populären Massenliteratur. Die Entwicklung des Romans zur Leitgattung der Moderne geht zunächst zeitlich mit dem Aufkommen des Konzepts ›Behinderung‹ in dem bis heute leitenden Verständnis einer (dauerhaften) Beeinträchtigung der gesellschaftlichen Teilhabe (Hartung/Nusser 2005) einher. Phänomene körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung begegnen in der Romanliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts vor allem in Figuren des Blinden, des Invaliden, des ›Krüppels‹ oder ›Irren‹, zudem finden sich Beschreibungen körperlicher Deformität, etwa des Hinkenden oder Buckligen. In den literaturwissenschaftlichen Disability Studies ist gerade die Romanliteratur zum Ausgangspunkt von Überlegungen zur (verborgenen) Repräsentanz von Behinderung in der Literatur geworden (GarlandThomson 1997; Mitchell/Snyder 2000; Quayson 2007; Nusser/Hartung 2007). Verwiesen wurde dabei meist auf einzelne prägnante Beispiele aus der Literatur des 19. Jahrhunderts, wie den einbeinigen Captain Ahab aus Herman Melvilles Roman Moby-Dick (1851) oder Dostojewskijs an Epilepsie leidenden Fürst Myschkin (Der Idiot, 1868/69). Abgesehen von diesen Beispielen lässt sich jedoch für die kanonische westliche Literatur feststellen, dass die Darstellung von Behinderung meist auf Nebenfiguren beschränkt bleibt und zudem vielfach an stereotype Charakterdarstellungen (s. Kap. 51) geknüpft ist. Behinderung, so die übereinstimmende Beobachtung der Literary Disability Studies, werde damit als Phänomen und Erfahrung in literarischen Werken marginalisiert, gleichzeitig aber symbolisch aufgeladen und mit dem Defizitären oder auch einer charakterlichen Negativität assoziiert (vgl. Helduser 2020). Wie im Folgenden dargestellt werden soll, ändern sich die Phänomene von Behinderung in der Geschichte der Gattung ebenso wie die Darstellungsweisen. Eine konkrete Thematisierung von Behinderung

im Roman findet spätestens seit dem 20. Jahrhundert statt, Behinderung rückt seitdem mitunter auch ins Zentrum der literarischen Fiktion. Über die Frage nach der Darstellung von Behinderung im Roman lässt sich zudem in einer weiterreichenden Perspektive die Poetik des Romans mit der Geschichte von Behinderung in Verbindung bringen. So hat der US-amerikanische Disability Studies-Forscher Lennard J. Davis den Aufstieg der Gattung Roman im 19. Jahrhundert in einen Zusammenhang mit dem Aufkommen des Paradigmas der Normalität gebracht (Davis 1995; 1998), das entscheidend für die Konstruktion von Behinderung ist. Davis konstatiert ein Spannungsverhältnis zwischen der ästhetischen Repräsentation von Behinderung und der Poetik des Romans, das sich auch über das 19. Jahrhundert hinaus betrachten lässt. Die folgenden Ausführungen gehen deshalb der ›Darstellung von Behinderung im Roman‹ im Zusammenhang mit der Poetik der Gattung nach und verfolgen diese Bezüge – in einzelnen Schlaglichtern – vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart.

60.1 Roman und Monstrosität um 1800 In einem eindrücklichen Bild hat der französische Gelehrte Pierre Daniel Huet den Roman 1670 mit einem (menschlichen) Körper verglichen und damit ein Ordnungsprinzip verbunden: Die »vornehmste That oder Haupthandlung« des Romans müsse »gleichsam das Haupt« bilden, dem sich die einzelnen Glieder »unterwerffen«. Der wohlgeordnete Romankörper sei durch die hierarchische Gliederung mit dem einen Haupt an der Spitze gekennzeichnet, sonst müsse es »ein Leichnamb von vielen Hauptern / ein Monstrum und garstig sein« (Huet 1966, 127–128). Der in Huets normativer Poetik getroffene Vergleich des ›regellosen‹ Romans mit einem monströsen Körper liefert eine prägnante und nachhaltig wirksame Bildlichkeit, die sich bis in den Roman der Moderne verfolgen lässt. Steht sie bei Huet im Kontext der klassizistischen Vorbehalte gegenüber dem noch jungen Genre, so sind Bilder des ›ganzen‹, ›regelmäßigen‹ Körpers (im Gegensatz zum ›fragmentierten‹, ›ungestalten‹) auch für die Herausbildung des bürgerlichen Romans seit dem 18. Jahrhundert konstitutiv. Im Sinne der philosophischen Anthropologie bildet die innere und äußere Vervollkommnung des Protagonisten das Telos des Bildungsromans, beispielhaft wird dieses Modell etwa in Christoph Martin Wie-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_60

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lands Geschichte des Agathon (1766/67) im Rückgang auf das antike Konzept der Kalokagathie entwickelt. Dagegen gehören groteske und beschädigte Körper zu den zentralen Motiven des satirischen Romans. In Laurence Sternes The Life and Opinions of Tristram Shandy (1758–67) ist nicht nur die Titelfigur durch mehrere ›Unfälle‹ – einer davon direkt während der Geburt – deformiert, auch weitere Figuren des Romans, etwa der kriegsversehrte Onkel Toby, sind mit körperlichen Deformationen ausgestattet. Bereits bei Sterne lässt sich die körperliche Versehrtheit der Figuren mit den ›Deformationen‹ des Erzählens, den zahlreichen Digressionen und Auslassungen in Verbindung bringen. In zugespitzter Form zeigt sich dieses diskontinuierliche, von Digressionen bestimmte Erzählen auch in Jean Pauls Roman Dr. Katzenbergers Badereise (1809), der von einem ›Missgeburten‹ sammelnden und kauzigen Teratologen handelt. Zeitgenössisches Wissen über körperliche Normalität und Abweichung wird hier direkt mit einer Poetik des Monströsen assoziiert. Besonders wirkmächtig ist das Motiv des ›monströsen‹ Körpers in zwei Romanen der Romantik geworden: in Mary Shelleys Roman Frankenstein or The new Prometheus (1818) über ein künstlich geschaffenes Monster und in Victor Hugos Roman Notre-Dame de Paris 1482 (1831) mit der Hauptfigur des ›missgebildeten‹ Glöckners Quasimodo. Beide Romane verhandeln Stigmatisierung und Exklusion und reflektieren die ›Missgestalt‹ im Kontext einer Fortschrittserzählung biopolitischer Regulierung. Shelleys Dr. Frankenstein begründet seine medizinischen Experimente zur Schaffung künstlichen Lebens mit dem Ziel der Überwindung von Krankheiten und Beeinträchtigung: »[W]hat glory would attend the discovery, if I could banish disease from the human frame, and render man invulnerable to any but a violent death« (Shelley 1993, 23). Während der künstliche Körper des Monsters bei Shelley zeichenhaft für eine monströse Zukunft menschlicher Selbstermächtigung steht, stellt Hugos im ausgehenden Mittelalter handelnder Roman das Monströse als Relikt einer vergangenen Zeit dar. In der Figur des Quasimodo schildert Hugos Roman das Schicksal eines aufgrund seiner extremen ›Missgestalt‹ ausgesetzten Kindes. Wird Quasimodo zunächst in einem Akt christlicher Mildtätigkeit durch den Archidiakon Claude Frollo adoptiert, so richtet dieser seinen Schützling zum willenlosen Werkzeug zu. Die durch die Tätigkeit als Glöckner im Turm der Kathedrale Notre-Dame erworbene Taubheit verstärkt Quasimo-

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dos Exklusion. Mit der Feier des Narrenfestes und der Krönung Quasimodos zum Narrenkönig reflektiert der Roman kulturelle Praktiken des Umgangs mit dem ›anderen Körper‹ in der ästhetischen Tradition des Grotesken. Scheint die karnevalistische Volkskultur in ihrer Umkehr ästhetischer und sozialer Ordnungen zunächst die Integration des abweichenden Körpers zu ermöglichen (Bachtin 1987), so wird dieser hier schließlich zur Projektionsfläche kollektiver Entladung von Gewalt. Quasimodo, der in seiner tragischen Liebe zu der schönen Zigeunerin Esmeralda zur gewaltvollen Abwehr der Stürmung der Kathedrale veranlasst wird, changiert zwischen Sentimentalisierung und Dämonisierung. Über die hyperbolische Beschreibung des grotesken Körpers Quasimodos, dessen Gestalt mit der gotischen Kathedrale überblendet wird, verhandelt Hugo ästhetische Konzeptionen und entwickelt in Umkehr der klassizistischen Kategorien von Harmonie und Proportion eine Ästhetik des Hässlichen. Der Körper des Monsters wird zum Zerrbild (»grimace«) des klassizistischen Ideals (Hugo 1976, 61, 266), gerade in seiner Hässlichkeit erreicht er »Vollkommenheit« (ebd., 62). Shelleys und Hugos Romane stehen an der Schnittstelle eines diskursiven Umbruchs im Verständnis von körperlicher Abweichung. Der Begriff der ›Monstrosität‹ als Synonym des ›Irregulären‹ wird im medizinischen Wissensdiskurs zunehmend durch den der ›Miss‹- oder ›Fehlbildung‹ abgelöst, ihm liegt ein Verständnis von Normalität und Abweichung zugrunde. Das Monströse entfaltet in der Folgezeit seine Wirkung in der Schauerromantik und der fantastischen Literatur und vor allem in der Populärkultur des 20. Jahrhunderts (Helduser 2016). Dagegen wird im Roman des Realismus das Verhältnis von Normalität und Abweichung zentral, die literarische Repräsentation von Behinderung steht nun vielfach in direktem Austausch mit der Medizin.

60.2 Normalität und Abweichung im Roman des Realismus Lennard J. Davis hat in mehreren Schriften (Davis 1995, 23–72; 1998) den Zusammenhang zwischen dem Aufkommen der Episteme der Normalität im 19. Jahrhundert (s. Kap. 42) und der Entstehung des bürgerlichen Romans untersucht. Der Aufstieg der Normalität als gesellschaftliche Kategorie vollzieht sich im 19. Jahrhundert im Zuge der mit der Industrialisierung einhergehenden Prozesse der Standardisie-

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

rung und Normierung und erweist sich damit als Motor des gesellschaftlichen und technischen Fortschritts. Normalität, die Orientierung am ›Durchschnitt‹, ist auf diese Weise zugleich gesellschaftlich mit dem Aufstieg des Bürgertums als einer neuen ›Mittelschicht‹ verbunden. Repräsentiert wird diese Normalität durch den von dem Statistiker Adolphe Quetelet postulierten homme moyen, der laut Quetelet physische und moralische Normalität verkörpert. Die ›Hegemonie der Normalität‹, so Davis (1995, 24), kann aber literarisch nur durch ihr Anderes, die Abweichung, hergestellt werden. Hier liege dann die Funktion von dargestellten Behinderungen im Roman. Als literarisches Beispiel für die Reflexion von Normalität über Disability diskutiert Davis eine Episode aus Gustave Flauberts Roman Madame Bovary (1856), die operative Korrektur eines Klumpfußes des Stalljungen Hippolyte durch den Arzt Charles Bovary. Angestiftet durch den Apotheker Homais unternimmt der Landarzt Bovary, der sich davon fachliche Reputation und die Zuneigung seiner Frau verspricht, die Operation des Beines des jungen Mannes nach der neuesten in der Fachliteratur verfochtenen Methode. Die Fußoperation wird hier als Fortschrittsprojekt mit der Perspektive einer medizinischen Abschaffung von Behinderung gefeiert (Davis 1995, 11). Gegenüber dem zögernden Stallburschen wird die vorgesehene Normalisierung mit Hinweis auf die Verbesserung seiner Arbeitskraft und seine militärische Eignung als notwendig begründet und zugleich als ästhetische Verbesserung propagiert, die seinem Erfolg bei Frauen zugutekomme. Allerdings scheitert das Projekt, und Hippolytes nach der Operation entzündetes Bein muss schließlich amputiert werden. Damit wird der medizinische Fortschrittsdiskurs zum Gegenstand erzählerischer Ironie. Der medizinischen Optimierungsutopie wird die Schilderung des jungen Hippolyte entgegengehalten, dessen abweichendes Bein vor der scheiternden Operation weniger eine Behinderung (disability) darstellte als vielmehr eine ›ability‹ (Davis 1995, 40): »Er hatte einen Fuß, der mit dem Bein eine fast gerade Linie bildete; außerdem war er nach innen gedreht, als ein Equinus, der ein wenig zum Varus neigte, oder gar ein leichter Varus, der sehr nach Equinus aussah. Aber mit diesem Equinus, der tatsächlich breit war wie ein Pferdefuß, mit runzliger Haut, dürren Sehnen, dicken Zehen und schwarzen Zehennägeln, die Hufnägeln glichen, galoppierte der Strephopode von morgens bis abends wie ein Hirsch umher. Man sah ihn ständig auf

dem Marktplatz, wo er um die Leiterwagen herumhüpfte und dabei seine mißgestaltete Stütze nach vorn warf. Dieses Bein schien sogar kräftiger als das andere. Durch fortgesetzte Beanspruchung hatte es gewissermaßen moralische Eigenschaften der Ausdauer und der Energie angenommen, und wenn man Hippolyte eine schwere Arbeit gab, so stützte er sich vorzugsweise darauf.« (Flaubert 1990, 181–182)

In der Überblendung der (modernen) medizinischen Klassifikation mit der vormodernen Bildlichkeit der (in der medizinischen Terminologie noch fortlebenden) Tierähnlichkeit ironisiert der Roman allerdings den auf Normalisierung setzenden Fortschrittsdiskurs. Denn gerade seine vermeintliche Beeinträchtigung verleiht Hippolyte eine besondere Fähigkeit, der einem Pferdehuf gleichende Fuß verfügt über eine überlegene Stärke und steht zudem für die moralische Qualität besonderer Ausdauer und für unermüdliche Tätigkeit. Die Episode der scheiternden Klumpfußoperation führt so zu einer literarischen Kritik von Normalitätsvorstellungen, die auch im Zentrum der Haupthandlung des Romans steht, dem Leiden der Protagonistin Emma Bovary an der bürgerlichen Normalität: »Indeed, the whole focus of Madame Bovary is on Emma’s abnormality and Flaubert’s abhorrence of normal life« (Davis 1995, 41). Davis betont damit die symbolische Dimension von Behinderung im Roman: Über die körperliche Abweichung wird das für die Gattung konstitutive Verhältnis von Normalität und Abweichung reflektiert. Die narrative Konstruktion von Normalität wird durch eine symbolische Abweichung und ihre Bewältigung erreicht. Wie Davis weiter ausführt, enthält das Konzept der Normalität auch eine Utopie der Verbesserung. Die Normalität erweist sich als regulierende Macht, mit der sich Quetelet zufolge die Perspektive verbinde, ›Abweichungen‹ und ›Monstrositäten‹ endgültig verschwinden zu lassen (Davis 1995, 28). Nicht zuletzt der Roman des Realismus reflektiert diese Ausrottungsideen. In Honoré de Balzacs Roman Le médecin de campagne [Der Landarzt] (1833) wird etwa die Austreibung der ›Kretins‹ in einem entlegenen Bergdorf zur kultivierenden Leistung eines Arztes, der den zurückgebliebenen Dorfbewohnern allmählich die Segnungen des Fortschritts nahebringt. Die Romane des Realismus und Naturalismus haben damit, wie auch Davis bemerkt, an dem sich im 19.  Jahrhundert entfaltenden eugenischen Diskurs (s. Kap. 12) teil (vgl. Davis 1998, 330). In den (naturalistischen) Familienromanen des 19. Jahrhunderts ge-

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schieht dies über Vorstellungen generationeller Weitergabe im Rekurs auf zeitgenössisches Vererbungswissen und die Degenerationslehre. Eines der markantesten Beispiele dafür dürfte Émile Zolas Romanzyklus Les Rougon-Maquart (1871–93) darstellen. Die groß angelegte, in zwanzig Bänden erzählte (mehrfach verzweigte) Familiengeschichte schildert den über mehrere Generationen verlaufenden gesellschaftlichen und ökonomischen Niedergang einer Familie, der mit Krankheit und Behinderung einhergeht. In der Versuchsanordnung des ›Experimentalromans‹ erscheint Behinderung als Resultat eines Zusammenspiels von ›Vererbung‹ und ›Milieu‹. Körperbehinderungen zeigen sich bei den Kindern von Alkoholikern wie der hinkenden Gervaise aus La Fortune des Rougon (1871), können aber auch durch die schlechten Lebensbedingungen verursacht sein, wie im Fall der Hunger leidenden Bergarbeiterkinder in Germinal (1884, vgl. Marzel 2017). Am Ende der Familiengeschichte steht mit dem letzten Band Le Docteur Pascal die Überwindung der Degeneration: Aus der Verbindung des Mediziners Pascal Rougon und seiner Nichte Clothilde geht ein Sohn hervor, der keine erbliche Belastung aufweist. Der Roman schließt mit dem Bild des sich an der Mutterbrust stärkenden Kindes als Sinnbild der Gesundheit und des Lebens. Damit evoziert der Roman ein Gegenmodell zum Narrativ der Degeneration, etabliert zugleich aber eine Dichotomie von gesund vs. krank, mit der die Konzeption von Behinderung als defizitär verfestigt wird. Das Modell der Degeneration findet sich in zahlreichen Romanen der Jahrhundertwende 1900 und im frühen 20. Jahrhundert. Krankheit und Behinderung werden unter dem Gebot des ›Realismus‹ und in enger Orientierung an medizinisch-naturwissenschaftlichen Darstellungs- und Erzählverfahren repräsentiert. Behinderung erscheint hier als individuelles ›Problem‹ (vgl. Waldschmidt 2005), dessen Bewältigung im Sinne einer »narrativen Heilung« (Nusser/ Hartung 2007, 155) Gegenstand des Erzählens ist.

60.3 Modernes Erzählen und Behinderung als Erfahrung Eine zunehmende Innensicht und die Schilderung von Behinderung als Erfahrung lässt sich seit dem 20. Jahrhundert beobachten. Behinderung wird jetzt auch mit den Erzählverfahren der Moderne verbunden, etwa dem stream of consciousness oder der Montage. Auch William Faulkners 1929 erschienener Roman

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The Sound and the Fury partizipiert an dem im 19. Jahrhundert aufkommenden Paradigma der Degeneration, indem er eine im gesellschaftlichen Abstieg begriffene Familie im amerikanischen Süden des beginnenden 20. Jahrhunderts schildert. Der sittliche Verfall und ökonomische Niedergang der Familie Compson wird hier aus verschiedenen Figurenperspektiven erzählt. Das erste Kapitel nimmt die Innensicht Benjamins, genannt Benjy, des als ›Idiot‹ bezeichneten Sohnes, ein. Faulkners Roman rückt damit auf neue Weise (geistige) Behinderung in das Zentrum literarischen Erzählens – an die Stelle des Erzählens über Behinderung tritt hier das Erzählen einer behinderten Figur. Diese ist nicht mehr Nebenfigur, sondern eine Schlüsselgestalt des Romans. Auf diese Weise etabliert die Erzählung eine Spannung zwischen der (durch die anderen Figuren vertretenen) diskursiven Ebene, die dem ›Idioten‹ Sprach- und Bewusstseinsfähigkeit gerade abspricht, und dem dennoch sinnvermittelnden Erzählen Benjys im stream of consciousness. Das kognitive Vermögen der Figur wird so zum Vehikel modernistischen Erzählens des Unmittelbaren, Ungeordneten und Diskontinuierlichen. Benjys auf die unmittelbare sinnliche Wahrnehmung fixierte Bewusstseinsinhalte werden auch mit dem im Romantitel zitierten Motto aus Shakespeares Macbeth in den Fokus gerückt: »Life’s but a walking shadow, a poor player / [...] It is a tale / Told by an idiot, full of sound and fury, / Signifying nothing« (Akt V, Szene 5). Faulkners Roman ist deshalb auch als literarische Reflexion einer Sprachkrise gelesen worden, die in der Bewusstseinsrede des ›Idioten‹ zum Ausdruck komme. Gegen eine solche Sicht, die der Behinderung metaphorischen Status zuweist, ist inzwischen in den Disability Studies darauf verwiesen worden, dass mit Faulkners Roman Behinderung selbst thematisch werde und darüber hinaus mittels Sprache auch die Erfahrungswelt der Figur ins Zentrum rücke. So hat Alice Hall betont, dass über Benjys Sprechen, seine disparaten Bewusstseinsinhalte und seine besondere (Körper-)Wahrnehmung die Eindeutigkeit logozentrischer Sprache aufgebrochen und eine Innensicht auf individuelle, subjektive und physische Aspekte der Erfahrung von Behinderung ermöglicht werde (Hall 2012, 25). Gegen eine Sicht auf Benjys kognitive Beeinträchtigung als defizitär lasse sich sein Vermögen zur Narration von Sinneswahrnehmungen, Gerüchen und Geräuschen geltend machen. Ebenso wie unterschiedliche Sinneswahrnehmungen synästhetisch überblendet werden, kommt es auch zu einer Überblendung unterschiedlicher Zeitebenen in Benjys Er-

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

zählen; damit, so Hall, werden realistische Konventionen der Wahrnehmung und des (linearen) Erzählens suspendiert (ebd., 36). Die sich in der Innensicht artikulierende, auf der unmittelbaren körperlichen Erfahrung basierende erzählerische Vielfalt kontrastiert daher mit der Außensicht der anderen Figuren auf den ›Idioten‹ Benjy und sein als infantil abgetanes Bewusstsein. In der von Abscheu bis Fürsorge reichenden Haltung der Figuren verhandelt der Roman auch zeitgenössische Diskurse über Behinderung. Benjamin ist der jüngste der drei Brüder der Familie Compson, bei seiner Geburt erhält er zunächst den Namen Maury, nach dem Bruder seiner Mutter. Diese besteht aber auf eine Umbenennung, als die Behinderung des Kindes offensichtlich geworden ist. Zuwendung erfährt Benjamin vor allem von seiner Schwester Candace, die jedoch nach einer scheiternden Ehe aus seinem Umfeld verschwindet, und von der schwarzen Köchin Dilsey und ihrem Sohn Luster. Seine Mutter betrachtet ihren Sohn als Strafe. Mit der Geschichte Benjamins erzählt Faulkner das Schicksal eines sogenannten ›Schwachsinnigen‹ in den USA des frühen 20. Jahrhunderts und von der Popularisierung der Eugenik. Benjy wird entsprechend der üblichen zeitgenössischen Praxis als junger Mann ›kastriert‹, nach dem Tod seiner Mutter steht ihm die Unterbringung in einem ›Asyl‹ bevor: »Where you can hold the bars all day long with the rest of the looneys and slobber« (Faulkner 2014, 37). Die Exklusion des ›Idioten‹ Benjy ist zudem diskursiv mit dem Rassismus der weißen Mittelklasse verknüpft, die ihren ökonomischen Abstieg fürchtet: »[S]he would have to work some to feed a few invalids and idiots and niggers« (ebd., 161). Faulkners Roman markiert eindrücklich eine zunehmend drastischere Darstellung von Behinderung in der Moderne. Die erzählerische Ausstellung des ›abjekten‹ Körpers, des ›sabbernden‹, auf das unmittelbare Triebleben reduzierten Benjamin vollzieht eine Abgrenzung von poetischen Konventionen etwa des (poetischen) Realismus des 19. Jahrhunderts. Reflektiert der Roman hier zunächst zeitgenössische Konstruktionen von Behinderung, wie sie im eugenischen Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts aufkommen, so werden diese Konstruktionen einer Umwertung unterzogen, indem sie für ein modernistisches Erzählverfahren fruchtbar gemacht werden. Die Innensicht ermöglicht nicht nur die Öffnung für das gerade entdeckte Unbewusste, sondern darüber hinaus auch eine Ästhetisierung unmittelbarer sinnlicher Erfahrung, des Triebhaften und des vorsprachlichen

Empfindens. Auf diese Weise erzeugt der Text eine Spannung zwischen Benjys geringem Sprachvermögen und der Sprachlichkeit des literarischen Erzählens. Die kognitive Behinderung Benjys wird somit zum Modell einer poetologischen Reflexion. In der Romanliteratur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begegnen den Leser*innen Figuren körperlicher und geistiger Versehrtheit immer wieder als Bilder von Fragmentierung und Desintegration, auch im Sinne einer verlorenen (organischen) Ganzheit und Totalität, wie sie Georg Lukács in seiner Theorie des Romans 1916 als gattungsbestimmend dargelegt hat. Seit dem Ausgang des Ersten Weltkrieges finden sich in der amerikanischen und deutschen Romanliteratur Figuren des Kriegsinvaliden (z.  B. William Faulkner Soldier’s Pay, 1926, A Fable, 1954) (s. Kap. 39). Vielfach schildern Romane ›Kriegskrüppel‹ als Massenphänomen der großstädtischen Öffentlichkeit, in deren Versehrtheit kollektive Verlusterfahrungen reflektiert werden: Bilder von Kriegsblinden, Männern mit Prothesen, verstümmelten Körpern oder Gesichtern, die vielfach als Bettler auf den großstädtischen Straßen präsent sind, symbolisieren die Gräuel des Kriegs und seine Folgen der Zerstörung und Armut bis hin zur politischen Symbolik der ›versehrten‹ oder ›amputierten‹ Nation (vgl. Mohi-von Känel 2018). Als Nebenfiguren gehören Kriegsversehrte gewissermaßen zum Setting der Zeitromane der Zwischenkriegszeit, etwa der im Ersten Weltkrieg versehrte Dr. Otternschlag in Vicki Baums ›Kolportageroman‹ Menschen im Hotel (1929) oder der Kriegsblinde in Irmgard Keuns Das kunstseidene Mädchen (1932), für den die Titelfigur Doris visuelle Eindrücke der Großstadt Berlin sammelt. An der Figur des (einzelnen) Kriegsinvaliden verhandeln Romane der Neuen Sachlichkeit Behinderung als konkrete Zeiterfahrung. So schildert Joseph Roths 1924 erschienener Roman Die Rebellion das Schicksal des Kriegsheimkehrers Andreas Pum, der aus dem Ersten Weltkrieg mit nur einem Bein zurückkehrt und vergeblich auf versprochene staatliche Unterstützung – u. a. auf eine Prothese – hofft. Roth konfrontiert in seinem Roman das individuelle Schicksal Pums mit der gesellschaftlichen Diskussion um Kriegsversehrte: Während auf den Berliner Straßen eine Demonstration von Kriegsinvaliden stattfindet, gerät der eigentlich unpolitische und an der Demonstration unbeteiligte Pum in einer Straßenbahn in einen Konflikt, was ihm eine polizeiliche Strafe wegen Widerstands gegen Uniformierte einbringt. Für Pum hat das den Verlust seines bürgerlichen Lebens

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samt Ehefrau zur Folge, damit die Degradierung zum »[e]lende[n] Krüppel« (Roth 2019, 66), was schließlich zu Pums Aufbegehren, seiner »Rebellion« führt. Durch die Innensicht auf Andreas Pum wird in Roths Roman Behinderung als konkrete Lebenserfahrung dargestellt. Dabei vollführt der Roman auch eine Umkehr von Normalität und Abweichung: »Längst hatte er sich damit abgefunden – ja, es war ihm kaum jemals eingefallen, darüber empört zu sein, daß andern Menschen kein Bein fehlte. Aber die körperliche Unversehrtheit dieses einen Herrn verdroß Andreas. Es war ihm, als machte er jetzt erst die Entdeckung, daß er ein Krüppel und die anderen Menschen gesund waren.« (Roth 2019, 60)

In Roths Roman wird ähnlich wie in anderen Invaliden-Erzählungen des frühen 20. Jahrhunderts die Kriegsversehrung den »erbliche[n] Fehler[n]« gegenübergestellt (Roth 2019, 49). Als Gegenbilder zu den zeitgenössischen Darstellungen ›angeborener‹ und ›vererbter‹ Defekte, Vorstellungen des ›ererbten Schwachsinns‹, partizipieren die KriegsversehrtenFiguren an der sich entfaltenden diskursiven Konstruktion einer Dichotomie zwischen angeborenen und erworbenen Behinderungen und problematisieren zugleich Konzepte der Verbesserung im Sinne der Eugenik. Roth kontrastiert in seinem Roman Kriegsversehrung als Massenerscheinung einerseits – etwa in der Schilderung des Lazarettalltags oder der Demonstration der Kriegsversehrten – und als individuelle Erfahrung andererseits. In dieser individuellen Perspektive wird die Versehrung zum kontingenten Phänomen (s. Kap. 44), zur schicksalshaften Fügung und zur Prüfung des Protagonisten. Die Kriegsverletzung ist zudem bei Roth wie in anderen Invaliden-Erzählungen mit Konstruktionen von Männlichkeit verknüpft: Die als ›Krüppel‹ aus dem Krieg heimkehrenden Soldaten müssen mit ›gesunden‹ vitalen Männern um (Ehe-)Frauen konkurrieren, in Roths »Rebellion« ebenso wie in D. H. Lawrences Lady Chatterley’s Lover (1920). Die Versehrtheit des heimkehrenden Soldaten geht einher mit der Erfahrung einer Auflösung der patriarchalen Geschlechterordnung durch die weibliche Emanzipation im Zuge des Krieges. Insofern thematisieren die Romane eine Krise männlicher Subjektivität, die auch für die Romanpoetik bestimmend ist. Die in Georg Lukács’ Theorie des Romans impliziten Geschlechterkonnotationen und Vorstellungen körperlicher ›Ganzheit‹ und Geschlos-

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senheit werden hier zur Disposition gestellt. An die Stelle der »gereiften Männlichkeit« (Lukács 1984, 63) tritt eine ›versehrte Männlichkeit‹. Körperliche Fragmentierung geht mit der »Krisis des Romans« (Benjamin 1991) einher. Die amputierten oder verstümmelten Körper sind mit den ästhetischen Verfahren des Fragments und der Montage im Roman der Moderne verbunden. In Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz mündet das zeitgenössische Motiv auf diese Weise in eine erzählerische Strategie. Auch Döblin inszeniert Kriegsversehrtheit und Behinderung als Phänomene des Großstadtstraßenbildes, indem er einschlägige Dokumente wie Zeitungsausschnitte oder Tarifauskünfte des Nahverkehrs montiert: »Der Fahrschein für Erwachsene kostet 20 Pfennig, der Schülerfahrschein 10 Pfennig. Fahrpreisermäßigung erhalten Kinder bis zum vollendeten 14. Lebensjahr, Lehrlinge und Schüler, unbemittelte Studenten, Kriegsbeschädigte, im Gehen schwer behinderte Personen auf Ausweis der Bezirkswohlfahrtsämter.« (Döblin 2013, 54)

Diese dokumentarische Perspektive liefert die Kulisse für die Handlung um den Protagonisten Franz Biberkopf, in dessen im Roman geschilderten Entwicklungsgang ein Unfall bzw. ein gezieltes Attentat mit der Folge des Verlusts eines Armes zum bewusstseinsverändernden Ereignis wird. Der entlassene Gefängnishäftling Franz Biberkopf hatte sich einer kleinkriminellen Bande angeschlossen; nach einem Überfall wird er von seinem Freund und Rivalen Reinhold aus dem Fluchtauto gestoßen und überfahren, er überlebt diesen Anschlag, allerdings muss sein Arm amputiert werden. Biberkopf stellt seine Behinderung als Kriegsverletzung dar, nicht nur, weil dies soziale Reputation verspricht, sondern auch, weil er den Verlust des Arms auf den Krieg mit Reinhold zurückführt und er sein Leben als fortdauernden Krieg erlebt: »[...] seinen Arm bindet er um, den haben wir im Krieg verloren, immer geht es in den Krieg. Der Krieg hört nicht uff, solange man lebt, die Hauptsache ist, daß man uff die Beene steht« (Döblin 2013, 451). Geschildert werden unterschiedliche Affekte der Figuren aus Biberkopfs Umfeld zu seinem verlorenen Arm: Während für die (Ex-)Geliebte Eva der Schulterstumpf zum erotischen Objekt wird (Döblin 2013, 291), löst die Leerstelle des Ärmels bei Franz’ Rivalen Reinhold – dem Verursacher der Verletzung – einen Wutanfall aus, bei dem der Hass auf das Schwache und Unterlegene in den Wunsch nach Vernichtung gipfelt:

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

»Ick kann Krüppel nicht leiden, Krüppel ist vor mir ein Mensch, der zu nischt taugt. Wenn ick nen Krüppel sehe, sag ich: denn mal lieber ganz weg damit« (ebd., 331). Damit werden auch in Döblins Roman zeitspezifische Umgangsweisen mit Behinderung verhandelt, der machtbewusste Ganove Reinhold wird zum Sprachrohr eines faschistoiden Kults der Stärke, der auch sein Verhältnis zu Biberkopf strukturiert. In Romanen wie Roths Rebellion oder Döblins Berlin Alexanderplatz ist – wenn auch auf unterschiedliche Weise – die (erworbene) Körper-Behinderung als schicksalhafter lebensgeschichtlicher Einschnitt dargestellt, der eine charakterliche Entwicklung des (stets) männlichen Helden auslöst. Die Behinderung und ihre Bewältigung werden zur Station eines Bildungsgangs. Ähnlich ist in Roths Roman Hiob (1930) die Behinderung eines Kindes eine Prüfung für die Eltern. In den Romanen Roths und Döblins mag sich eine Zunahme der Thematisierung von körperlicher Behinderung in der Literatur der Zwischenkriegszeit artikulieren. Hierzu gehören auch Romane der 1930er Jahre, in denen körperliche Versehrtheit als grotesksatirisches Element genutzt wird. Hier sind es vielfach Frauenfiguren, deren körperliche ›Deformationen‹ – Buckel, Hinken, Kleinwüchsigkeit, fehlende Extremitäten – in teils drastischer Überzeichnung dargestellt werden. Figuren wie Frieda Runkel aus Veza Canettis Roman Die gelbe Straße oder Max HermannNeißes Bernert Paula, beide um 1933 entstanden, aber erst postum publiziert, provozieren durch die hyperbolische Schilderung körperlicher Entstellung in einer regelrechten Ästhetik des Hässlichen. Die Romane lassen sich auch als Auseinandersetzungen mit zeitgenössischen Körperdiskursen des Nationalsozialismus lesen, als Gegenbilder zum faschistischen Idealkörper, aber auch als Zitate der NS-Propaganda und ihrer Perhorreszierung des behinderten und des jüdischen Körpers. Nicht zuletzt liegt die Provokation dieser Figuren auch in der mit den Körperbildern verknüpften Unterlaufung sentimentalisierender Darstellungen vom ›guten Geist im hässlichen Körper‹. Vielmehr entspricht die äußere ›Missgestalt‹ hier auch ›hässlichen‹ Charaktereigenschaften der Boshaftigkeit und der Ausnutzung Schwächerer. Die Ladenbesitzerin Frieda Runkel ist eine in karikaturistischer Überzeichnung dargestellte ›Ausbeuterin‹, Paula Bernert erweist sich in grotesk-parodistischer Erotisierung ihres deformierten Körpers als Femme fatale, die ihre egoistischen Interessen rigoros durch sexuelle Unterwerfung ihrer Opfer verfolgt. Dennoch wird in den Romanen

Behinderung auch als Erfahrung thematisiert, die charakterliche Devianz der Figuren ist in ihrer sozialen Exklusion begründet. Verfügen beide Frauen über (ökonomische) Unabhängigkeit und Autonomie, so zeigt sich darin auch, dass ihnen traditionelle weibliche Rollenmuster verwehrt sind. Das Stilmittel des Grotesken ist auch in weiteren Romanen des 20. Jahrhunderts mit der Darstellung von Behinderung verbunden. Das Groteske fordert normative Konstruktionen des Körpers heraus, bedient sich jedoch gleichzeitig der Behinderung als Mittel des Komischen und der Karikatur (s. Kap. 45). Körperliche Anormalität wird so zum Mittel der ästhetischen Provokation der ›nicht mehr schönen Kunst‹. Die vielfach stereotypen Bilder des ›Krüppels‹, des ›Hinkenden‹ oder ›Blinden‹ stehen jedoch auch in Auseinandersetzung mit der Erfahrung von Behinderung. Allerdings geschieht das nicht mehr aus der Perspektive subjektiver Wahrnehmung als vielmehr in bildhafter Form. In wohl nicht nur zeitlicher Nähe zur Entstehung der Werke Hermann-Neißes und Veza Canettis ist auch der Roman Die Blendung von Veza Canettis Mann Elias Canetti entstanden, der zunächst 1935 erscheint, dann aber erst nach einer Neupublikation in den 1960er Jahren entdeckt wird. Die Hauptfigur, der bibliomane Sinologe Kien, wird in der Ehe mit der Haushälterin Therese in den Wahnsinn getrieben. Der Hypertrophie des Geistigen bei Kien steht die Körperlichkeit nicht nur Thereses gegenüber, sondern zum Gegenspieler wird ebenso der bucklige jüdische Zwerg Siegfried Fischer, genannt Fischerle, ein passionierter Schachspieler im kleinkriminellen Milieu, der eine Bande (falscher) blinder Bettler und Invaliden kommandiert. Immer wieder kommt es im Roman zu Gewaltexzessen, die sich gegen die ›verkrüppelten‹ Existenzen richten. Fischerle, der versucht hatte, sich seines ›Buckels‹ durch einen maßgeschneiderten Anzug zu entledigen, um eine neue Existenz als Schachweltmeister in Amerika aufzubauen, wird schließlich von einem Rivalen und Bandenmitglied, dem ›Blinden‹, ermordet, der ihm den Buckel ›abschneidet‹. Der Roman bezieht seine groteske Komik aus der Übersteigerung solcher Bilder körperlicher Abweichung und verhandelt zugleich zeitgenössische Haltungen der Abwehr gegenüber dem anderen Körper: »Krüppel gehören ausgerottet. Alle Verbrecher seien Krüppel. Nein, alle Krüppel Verbrecher. Warum er so blöd dreinschaue wie eine Unschuld vom Land. Er solle lieber was arbeiten. Er solle den Leuten nicht das Brot

60 Roman vom Mund wegnehmen. Was fange er mit den Perlen an, so ein Krüppel, und die Judennase gehöre abgehackt!« (Canetti 1965, 357)

In den Gewalt- und Vernichtungsfantasien gegen den ›anderen Körper‹ vermischen sich Elemente des rassistischen Antisemitismus, der Misogynie und der Behindertenfeindlichkeit: »[A]lle Weiber sind Krüppel« (Canetti 1965, 362). Die Inszenierung körperlicher Behinderung in der Gestalt Fischerles und seiner ›Krüppel‹-Bande steht in Elias Canettis Roman in Spannung zu der Fixierung auf das Geistige bei dem Protagonisten Kien, der am Höhepunkt seines Wahnsinnsausbruchs seine eigene Bibliothek anzündet. Damit lässt sich der Roman auch als Psychopathographie lesen. Die ins Extreme gesteigerte Darstellung von Behinderungen erzeugt in Canettis Roman in besonderer Weise eine symbolische Indienstnahme für die gegensätzlichen Prinzipien von Körper und Geist. Zugleich suspendiert die Übertreibung und künstliche Stilisierung der Figuren vollständig die Möglichkeit der Einfühlung in ein Subjekt des Romans. Bereits bei seinem ersten Erscheinen 1936 wurde Canettis Roman aufgrund dieses völligen Fehlens von Subjektivität als »Experiment« gewertet, mit dem »eine Grenze der Kunstform Roman erreicht ist oder vielleicht ein Weg zu neuen Möglichkeiten« (Haselberg 1985, 286). Auch Günter Grass’ 1959 erschienener Schelmenroman Die Blechtrommel stellt mit seiner Hauptfigur, dem kleinwüchsigen, als Insasse in einer Heilanstalt im Nachkriegs-Westdeutschland lebenden Ich-Erzähler Oskar Matzerath Behinderung ins Zentrum grotesken Erzählens. Mit der Perspektive des ›behinderten‹ Oskar auf die Erwachsenenwelt vollzieht der Roman eine (groteske) Vertauschung von Normalität und Abweichung. Der im Nationalsozialismus aufwachsende Zwerg Oskar, der den Stigmatisierungen der ›Gesunden‹ ausgesetzt ist, knapp der NS-Medizin entkommt, als Mitglied eines ›Liliputaner‹-Fronttheaters den Zweiten Weltkrieg überlebt und nach dem Krieg seinen ›verkrüppelten‹ Körper als Modell an einer Kunstakademie ausstellt, erweist sich nicht zuletzt darin als Picaro-Gestalt, dass er Selbstbestimmung erfolgreich zur Handlungsmaxime macht. Das reicht hier so weit, dass Oskar sogar seine Kleinwüchsigkeit selbst als Resultat seines eigenen Wunsches ausgibt. Mit diesem Autonomieanspruch greift der Roman – wenn auch auf paradoxe Weise – ein Thema auf, das für die Behindertenbewegung in der Folgezeit (s. Kap. 29) zum zentralen Anliegen wird.

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60.4 Ausblick: Gesellschaftlicher Aufbruch und Genre-Ausdifferenzierung Stehen Romane wie Grass’ Blechtrommel noch in der Auseinandersetzung mit eugenischen Diskursen des frühen 20. Jahrhunderts und einem Blick ›von außen‹ auf Behinderung als individuelles Problem, so wird spätestens seit den 1960er Jahren der Roman auch zur Ausdrucksform von Menschen mit Behinderungen. Bekannt wurden zunächst Romane über die Erfahrung mit psychischen Krankheiten wie Sylvia Plaths The Bell Jar (1963), Ken Keseys One Flew Over the Cuckoo’s Nest (1962) oder Rainald Goetz’ Irre (1983). Rezipiert wurden diese Texte auch als Kritik an der Institution der Medizin und Psychiatrie, wie sie dann in der Antipsychiatriebewegung (s. Kap. 38) manifest wurde. Seit dem Ausgang des 20. Jahrhunderts haben sich verschiedene Romangenres herausgebildet, die Behinderung als soziale Realität und Erfahrung verhandeln, vor allem autobiographische und autofiktionale Formen, Jugend- und Adoleszenzromane (Benjamin Lebert, Crazy, 1999; Mark Haddon, The Curious Incident of the Dog in the Night-time, 2003) haben in jüngster Zeit an Aufmerksamkeit gewonnen, ähnlich neue Genres wie die Graphic Novel (s. Kap. 59). Zeitgenössische Romane reflektieren die aktuelle mediale und gesellschaftspolitische Aufmerksamkeit für Phänomene wie Autismus oder Demenz (Krüger-Fürhoff 2015; Bérubé 2016). Auch aktuelle Diskurse des Posthumanismus gehen in die literarische Reflexion von Behinderung ein. So verhandeln etwa die Science-Fiction-Romane des USamerikanischen Cyberpunk-Autors William Gibson Theoriedebatten der Disability Studies. In den Romanen Gibsons (Bridge trilogy, 1993/­1996/1999; Bigend Trilogy 2003/2007/2010) kommt es zur Infragestellung normativer Körperkonzepte und zu einer subversiven Aneignung der Prothetik (Tarapata 2018). Somit geht es zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr um Behinderung in der einen ›Großgattung‹ Roman, deren Ende mehrfach angekündigt worden ist, sondern vielmehr um unterschiedliche Verfahren des Erzählens von Behinderung in verschiedenen Genres und poetologischen Orientierungen. Literatur

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342

IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

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Urte Helduser

61  Märchen und andere Volkserzählungen

61 Märchen und andere Volkserzählungen Menschen mit Behinderung haben in den verschiedenen Kulturen und unter verschiedenen historischen Bedingungen unterschiedliche Einschätzungen und Behandlungen erfahren – von extremer Ablehnung bis zu höchster Wertschätzung. Die soziale und rechtliche Stellung Behinderter war in früheren Zeiten eingeschränkt. Die Begegnung mit diesen galt als unheilvoll. Ebenso wurden sie aber auch als Glücksbringer angesehen oder als besonders fähige Liebhaber. Die Abwehr und Diskriminierung des Anormalen trägt gleichzeitig zu einer Eigenstabilisierung bei. Diese Einstellung hat in zahlreichen Märchen und anderen Volkserzählungen und Sprichwörtern einen Niederschlag gefunden (Mot.; ATU; DMK/Uther; Holden 1991; zum Folgenden vgl. Uther 1981).

61.1 Arten der Behinderung In populären Überlieferungen spielen alters- oder geburtsbedingte Behinderungen seltener eine Rolle. Allerdings weisen übernatürliche Wesen des Mythos und der Sage oft einen körperlichen Defekt auf, der ihre Boshaftigkeit symbolisieren soll oder ihre Besonderheit anzeigt. Die Erscheinung jenseitiger Wesen lässt sich allerdings als eine groteske Überzeichnung menschlicher Körpermaße auffassen und hebt den Jenseitigen vom Normalen ab. Exemplarisch zeigen dies Schilderungen über den einäugigen und kannibalistischen Zyklopen Polyphem, die seit Homer in Umlauf sind und sich rudimentär über mehrere Zwischenstufen bis in Märchen unserer Zeit erhalten haben. Dem körperlichen entspricht einerseits ein psychischer Defekt; das Verhältnis zwischen Gesunden und Behinderten erscheint insofern negativ. Andererseits sind in Mythologien zahlreicher Völker übernatürliche Wesen wie Kulturheroen häufig einäugig oder hinkend gedacht. Gerade aus diesen körperlichen Defekten, so heißt es, resultierten deren außergewöhnliche Fähigkeiten wie übermenschliche Kräfte oder herausragende Sehschärfe des einen Auges: Man denke nur an Odin, den allwissenden einäugigen germanischen obersten Gott des Göttergeschlechts. In diesem Zusammenhang ist die Figur des mythischen Schmieds Wieland ebenso von Interesse. Er ist als Hinkender oder Einäugiger dargestellt, zeichnet sich aber durch vortreffliche Schmiedekunst aus. Seine

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magische Begabung ist der Ausgleich für den körperlichen Defekt. Solche Stereotypen – auch zur Verstärkung von Alterstypologien (etwa bei Kinderschreckfiguren wie der Percht) – finden sich in Volksbüchern, Comics (s. Kap. 59), in der Science-Fiction-Literatur, im Kriminalroman, in Horrorgeschichten und in der Kinder- und Jugendliteratur (s. Kap. 63). Außerdem gelten Körperdeformierungen als Charakteristika von Wesen aus fremden Kulturen, die über frühe Weltbeschreibungen, Bestiarien, Naturgeschichten, landeskundliche Literatur und Reiseberichte vermittelt wurden, die Prodigienliteratur bestimmten und die geistige Auseinandersetzung mit dem Fremden, Exotischen widerspiegeln, die u. a. vorstellbar ist in abnormen Wesen wie Monstren, Fabelwesen (etwa den Hundsköpfigen) oder Tieren. Der Teufel hat einen Bocks- oder Pferdefuß, er zieht das Bein nach sich. Einbeinige Zwerge gelten als Schadenstifter, die Eindringlinge bis zur magischen Grenze zwischen Diesseits- und Jenseitswelt unbarmherzig verfolgen. Das nicht der Norm Entsprechende ist aber andererseits auch oftmals dem Vollständigen überlegen, wenn ein einbeiniger Läufer alle Konkurrenten übertrifft (vgl. KHM 71, ATU 513 A: Six Goes through the Whole World). Körperliche Behinderung bedeutet in Volkserzählungen primär Strafe, die von Menschen, insbesondere aber auch von Jenseitigen, für Normverletzungen verhängt wird. Dabei sind inhaltlich zwei Themenbereiche wichtig, die vor allem durch Exempla und Sagen verbreitet sind. Dauerhafte oder zeitweilige Körperbehinderung (oft auch Blendung) als Strafwunder tritt ein (1) bei Abweichen von allgemein akzeptierten moralischen und ethischen Normen (Amputation eines Beins wegen ungerechter Behandlung der eigenen Mutter) oder Rechtsprinzipien (etwa Kirchenraub, Kultbildfrevel, Verkrüppelung der meineidigen Hand); (2) der Begegnung von Menschen mit Jenseitigen oder der Beobachtung Jenseitiger (Buckligkeit, Lähmung). Anders als bei Verbrechen oder Vergehen, die infolge bestehender Gesetze oder mehrheitlich gebilligter Übereinkunft geahndet werden, ist in diesen Erzählungen eher ein Abschreckungsmoment zu sehen. Es soll die Rezipienten und Rezipientinnen zu konformem Verhalten anleiten. Das Motiv der magischen Behinderung verweist auf den repressiven Charakter von Sagen. Der Mensch ist jenseitigen Wesen schutz- und hilflos ausgeliefert (KHM 182, ATU 503: The Gifts of the Little People). So bezeugen die Jenseitigen ihre Macht über den Menschen und ihre Menschenfeindlichkeit. Andere Schädigungen erfolgen

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_61

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

zur Sicherung von Besitz und Herrschaft und aus Gründen der Ausschaltung von Konkurrenten als vorbeugende Maßnahmen. Sie betrafen vor allem Verwandte. In anderen Sagen begegnet das Motiv der vorbeugenden Verkrüppelung gelegentlich, wobei es zum einen um Künstlerneid (Verstümmelung des Lehrlings aus Eifersucht; DMK/Uther *1100: Meister und Geselle beim Bauen), zum andern um die Rache des Betroffenen an seinem Peiniger geht (vgl. etwa den akkadischen Mythos The Poor Man of Nippur [ATU 1538: The Revenge of the Cheated Man] oder die germanische Heldensage über Wieland). Zur Schädigung durch andere tritt die Selbstschädigung. Diese ist bei vielen Völkern aus kultischen und religiösen Gründen bekannt, um Versuchungen zu entgehen – etwa Ehelosigkeit durch das Opfer der Zeugungsfähigkeit anzustreben (unter Berufung auf die Bibel, Mt 18,8 und 19,12) oder sexuelle Enthaltsamkeit. Märtyrerlegenden enthalten eine Fülle von Nachrichten über Mutilationen zur Bewahrung der Keuschheit. Dabei lassen sich drei Arten der Selbstschädigung unterscheiden: (1) Verstümmelung der Hand, (2) Abschneiden von Nase, Ohren, Zunge oder Brüsten (vgl. auch ATU 706B: The Chaste Nun), (3) Selbstschädigung der Augen (z. B. Odilia vom Elsaß).

61.2 Behinderung und Heilung Zu den zentralen Themen von Märchen und Legenden gehören nach Max Lüthi (1970) Behinderung und (magische) Heilung. Behinderung bedeutet Bedürftigkeit und äußert sich in einer scheinbaren Hilflosigkeit von Held oder Heldin. Dieser Mangel ist aber auch die Voraussetzung für Hilfe. Daher treten oft Behinderte als Handlungsträger auf, ohne dass die Behinderung näher erklärt wird. Lüthis phänomenologischer Ansatz deckt sich in diesem Punkt mit der von Vladimir Propp (1972) anhand russischer Zaubermärchen entwickelten strukturalistischen Methode, dass eine Mangelsituation (Funktion VII, VIIa) wiedergutgemacht werden muss (Funktion XIX), beide Funktionen also als ein Paar anzusehen sind. Es entspricht der Gesamtstruktur des Märchens: Aufgabe und Lösung und Beseitigung des Mangels. Nach Hans-Jörg Uther (1981, 105–135) lassen sich drei Grundformen unterscheiden. (1) Ein kranker, blinder König bekommt durch eine rettende Substanz seine Sehkraft zurück, (2) der Defekt wird beseitigt als Belohnung für uneigennützige Hilfe, (3) die Behin-

derung wird durch einen kriminellen Akt (z. B. Blendung) verursacht. Der Held oder die Heldin besorgen sich ein Heilmittel oder erhalten Ratschläge zur Heilung. Den Behinderten wird geholfen. Sie verlieren ihre Defekte (besonders oft: Blindheit) durch selbst besorgte oder von anderen geschenkte Substanzen. Die Auswahl der Heilmittel (meist Lebenskraut, Lebenswasser, Löwenmilch, Blut, Speichel) ist verglichen mit volksmedizinischen Praktiken jedoch eher begrenzt, aber effizient im Sinn eines optimistischen Märchenschlusses. In der dritten Grundform gelangen Behinderte trotz ihrer Defekte zu besonderer Entfaltung, wachsen über Böswillige hinaus und überwinden stärkere Gegner. Hierin ist nicht nur eine Protesttendenz des Märchens zu sehen, sondern es ist auch ein Teil Wunscherfüllung, den Märchen hier widerspiegeln. Der den Märchen eigenen Ironie folgend, wird Böses zu Gutem. Der böswillige Gegenspieler schädigt sich selbst. Die ausgleichende Gerechtigkeit sorgt für eine gleichartige Bestrafung des/der Antagonisten (similia similibus). Das Märchen schafft mithin Leitbilder für Behinderte selbst. Diese Feststellung gilt ebenso für Erzählungen, in denen Selbstschädigungen erfolgen, um anderen Hilfe zu gewähren oder sich selbst zu helfen. Die Mutilation ist zeitlich begrenzt, wird wieder aufgehoben und gereicht den betreffenden Personen zum Vorteil. Der Kompensationsgedanke wird in Fabeln und Exempla vor allem durch das Figurenpaar Lahmer und Blinder (Mot. N 866) verkörpert. Solche Fabeln über Behinderte, die ihre Fähigkeiten miteinander kombinieren und sich gegenseitig helfen, haben eine lange literarische Tradition. Es liegt der Gedanke zugrunde, dass die Gebrechen des Lahmen und des Blinden gelindert würden, wenn der Blinde den Lahmen trägt und jener dem Blinden den Weg weist. Bei der allgemeinmenschlichen Gültigkeit der Motivik könnte man versucht sein, an eine Ubiquität solcher Erzählungen zu denken. Die ältesten europäischen Zeugnisse liegen vermutlich in griechischen Epigrammen vor. Die gegenseitige Hilfe steht gleichfalls im Vordergrund der Erzählung vom Blinden und Lahmen, die einen Obstgarten bewachen sollen und stattdessen die Früchte stehlen. Die wohl älteste Fassung befindet sich in der Sammlung Tausendundeine Nacht (Die Geschichte von dem Blinden und dem Krüppel). Sie gilt als Parabel darüber, dass Leib und Seele nach dem Tod – im Guten wie im Schlechten – zusammengehören. Durch die symbolische Ausdeutung wird die komische Wirkung von Behinderten als Wächter eingeschränkt.

61  Märchen und andere Volkserzählungen

61.3 Behindertenkomik und Spottbilder Behindertenkomik (s. Kap. 45) begegnet schon in der klassischen griechisch-römischen Komödie und im antiken Spottepigramm. Die Defektenkomik (zum Folgenden vgl. Uther 1981, 96–104) wirkt allein durch die Verletzung des Ebenmaßes (Kontrasttheorie) und spielt daher in einer auf Komik basierenden Handlung eine bedeutende Rolle, was bereits Aristoteles (Ars Poetica V, 1449a) erkannt hatte. Danach ist das Lächerliche ein Teil des Hässlichen und das Hässliche wiederum ein Gegenbild zum Erhabenen. Körperliche Defekte erzeugen Lachen (ATU 1536B: The Three Hunchback Brothers Drowned). Witze, aber auch Sagen und bildliche Darstellungen suggerieren die Vererbbarkeit von körperlichen Gebrechen, eine weithin verbreitete Vorstellung. So zeigt auf einem Bilderbogen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Hebamme dem frischgebackenen Vater den neugeborenen Sohn, der alle körperlichen Gebrechen der Eltern (Holzbein, Einarmigkeit, Gurkennase) aufweist. Auf Flugblättern des 19. Jahrhunderts ist dargestellt, wie ein Ehemann seine Frau beim Ehebruch mit dem Pfarrer, der ein Holzbein hat, ertappt. Sie bringt ein Kind mit einem Holzbein zur Welt. In der Funktion der Durchbrechung von Tabus nehmen sich Witze über Behinderte, so absurd sie auch sein mögen, gar nicht mehr ›komisch‹ oder ›lustig‹ aus. So verweist Anton C. Zijderveld (1976, 32– 33) auf die Durchbrechung mehrerer Tabus des soziokulturellen Gefüges, die mit Witzen über Behinderte erreicht werde. Auch wenn irreale Behindertenwitze nicht besonders häufig in Witzsammlungen aufgenommen worden sind, ist ihre tatsächliche Zahl sicher höher, als sich aus den Witzsammlungen selbst ergibt, unterliegen diese doch den Kontrollmechanismen der Medien (Gottwald 2009). Die Komik lässt Behinderte in den absurdesten Situationen agieren. Sie erscheinen als Zeugen vor Gericht (ATU 1698: Deaf Persons and Their Foolish Answers), einbeinige Hochzeiter (ATU 1379***: One-Eyed Man Marries), als durch Schreck Geheilte (ATU 1791: The Sexton Carries the Clergyman) oder als mutige und tapfere Soldaten, die ihr Ersatzbein im Koffer gleich mitgebracht haben. Lügengeschichten zeigen die grotesken Abenteuer dreier Behinderter als Jäger: Der Blinde schießt mit dem Gewehr auf einen Hasen, der Lahme fängt ihn, und der Nackte steckt ihn in die Tasche (KHM 138, ATU 1965: The Disabled Comrades). Solche seit der Antike beliebten Adynata – rhetorisches Stilmittel zum Ausdruck von Unmöglichem –

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tauchen besonders reichhaltig seit dem Spätmittelalter in der Volksliteratur auf. Nicht immer sind Behinderte dem Spott preisgegeben, sondern sie wissen sich auch durch Schlagfertigkeit zur Wehr zu setzen. Doch scheinen die dazugehörigen Erzählungen aus dem Umfeld der Clever verbal retorts (Mot. J1250–J1499) in der Besetzung der Handlungsträger austauschbar. In Sigmund Freuds klassischem Witzbeispiel (ATU 1620*: The Conversation of the One-eyed Man and the Hunchback) siegt von zwei Behinderten der Redegewandtere: Riesenkrach zwischen einem Blinden und einem Einbeinigen. Der Einbeinige wutschnaubend: »Ich trete dich gleich in den Hintern!« Darauf der Blinde: »Das möchte ich wirklich sehen!« Eine im weitesten Sinn zu verstehende Andersartigkeit bildet das Grundmuster für diese und andere Witze, die sich seit jeher großer Beliebtheit erfreuen und oftmals auf der Doppelbedeutung von Wörtern basieren.

61.4 Zusammenfassung Die Darstellung Behinderter in Volkserzählungen der Neuzeit lässt eine ambivalente Einstellung deutlich erkennen. Das Spektrum der Erzählungen reicht thematisch von der Ausgleichung/Behebung des Mangels und der Sympathie für Behinderte bis zu beißendem Spott und zu negativen, zum Teil in die Antike zurückgehenden Vorstellungen. Die Rollenzuweisungen in der Erzählüberlieferung hängen vom jeweiligen Genre ab und unterliegen daher bestimmten Gesetzmäßigkeiten. Legende, Mirakel und Exempla sind durch religiöse Grundideen bestimmt. Dies schlägt sich in Einstellungen zu Körperbehinderten (Pflicht zur Barmherzigkeit, Almosen) nieder. Heilungen von Behinderten durch Heilige erweisen die Macht Gottes und seiner irdischen Vertreter über Mensch und Materie (Bestätigungswunder). Das Erdulden von Martern und von damit verbundenen Verstümmelungen, auch die freiwillige Mutilation zu höheren Zwecken, sind im Dienst der Idee gerechtfertigt. Sagen hingegen wollen primär Normen bestätigen. Hier dient die Behinderung als Strafwunder der sozialen Kontrolle. In Märchen hingegen können Behinderungen aufgrund zeitweiligen sozialen Verhaltens mittels magischer Helfer aufgehoben werden. In schwankhaften Erzählungen dominiert die nicht selten mit Diskriminierung einhergehende Behindertenkomik. Figuren mit Defekten agieren in grotesken Situationen, ihre Behinderungen erscheinen verzerrt und sind oftmals ad absurdum ge-

346

IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

führt. Populäre Erzählungen der Neuzeit vermeiden negative Rollenzuweisungen von Behinderten weitgehend. In Sagen und Märchen kommt eher Mitleid mit behinderten Handlungsträgern und Respekt vor ihnen zum Ausdruck. Doch darf diese Bewertung nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Defektenkomik (vor allem der aggressive Witz) virulent ist. Literatur

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Hans-Jörg Uther

62 Schwankerzählungen

62 Schwankerzählungen Behinderung spielt in der vormodernen Literatur, speziell in der deutschen Literatur des Mittelalters, eine geringe Rolle. In den höfischen Dichtungen wie z. B. im Minnesang und in höfischen Romanen wie Hartmanns von Aue Erec (um 1180), die im 12. bis 14. Jahrhundert vor allem an den Adelshöfen entstanden sind, liegt das Augenmerk auf Jugend, Schönheit, körperlicher Intaktheit und – bei den Männerfiguren der Großepik – Kampfkraft des adligen Personals. Dies ist eine literarische Vorliebe, die ihre Wurzeln in der Antike hat und im Mittelalter mit dem Wunsch nach Freude als idealem höfischem Lebensgefühl korreliert. Mutmaßlich konträre Lebensumstände, die aus körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen, aus chronischen Krankheiten und dauerhaften Schwächezuständen sowie altersbedingten Einschränkungen resultieren, werden in der weltlichen Literatur des Mittelalters selten dargestellt bzw. bestenfalls an Nebenfiguren vorgeführt (z. B. in Wolframs von Eschenbach Parzival [um 1205/1210]; vgl. Kerth 2013). Allenfalls ›Wahnsinn‹ und ›Aussatz‹ und ihre behindernden Folgen erhalten eine größere Aufmerksamkeit (z. B. in Der Bussard [14. Jh.] und in Konrads von Würzburg Engelhard [13. Jh.]). Auch in heldenepischen Texten wie den Erzählungen um Dietrich von Bern, die seit dem 13. Jahrhundert regelmäßig Ernstkampf und Krieg in den Mittelpunkt der Handlung stellen, finden sich kaum dauerhaft versehrte Figuren: In der Regel sterben die Helden entweder oder aber sie erholen sich vollständig von ihren Wunden und stehen im nächsten Kampf ›wie neu‹ zur Verfügung (Kerth 2002). Heiligenlegenden berichten zwar regelmäßig über Heilungswunder vor allem an blinden, lahmen, gehörlosen und aussätzigen Menschen, beschränken sich aber in der Regel darauf, den Vollzug des Wunders in der Nachfolge des heilenden Christus zu konstatieren (vgl. allerdings die höfische Legende Der arme Heinrich von Hartmann von Aue [um 1200?]). Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Lebensbeschreibungen und Familienbücher berichten ebenfalls über Behinderung, chronische Krankheiten und altersbedingte Einschränkungen, wenn dies den Verfasser bzw. Auftraggeber oder ein Familienmitglied betrifft (Frohne 2014). Insgesamt ist Behinderung, die in der Lebensrealität des Mittelalters viel gegenwärtiger gewesen sein muss als heute, aber wenig sichtbar in der vormodernen deutschen Literatur. Signifikant anders ist dies bei den Schwankerzäh-

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lungen des Spätmittelalters und der beginnenden Neuzeit – in Mären, Fazetien, frühen Novellen und z. T. bei den meist aus kürzeren Episoden bestehenden Schwankromanen wie vor allem Wolfgang Büttners Historien von Claus Narr. Normabweichende Körperlichkeit und Behinderung spielen hier eine große Rolle. Sie werden meist mit klar negativen ethisch-moralischen und ästhetischen Zuschreibungen verbunden, wenn das sich normwidrig verhaltende Personal groteske, abstoßende, zerstückelte und beeinträchtigte Körper aufweist und dem Verlachen preisgegeben wird.

62.1 Forschungsstand und Forschungsperspektiven Diesen Befunden entspricht die Aufarbeitung des Themas Behinderung in der Forschung, zumindest in der deutschsprachigen germanistischen Forschung. Im Gegensatz zum angelsächsischen Raum, wo englische, französische, italienische und spanische Texte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, darunter besonders auch schwankhafte Texte wie die Canterbury Tales des Geoffrey Chaucer (um 1390), eingehend untersucht wurden (z. B. Eyler 2010; Pearman 2010; Turner/Pearman 2010; Wheatley 2010; Singer 2011; Barker/Murray 2018), liegen erst wenige Untersuchungen zu Behinderung in der mittelhochdeutschen und frühneuhochdeutschen Literatur vor. Diese Untersuchungen beschäftigen sich z. B. mit Behinderung im Kontext der Disability History, der Intersektionalitäts- und Komikforschung sowie mit ihrer konzeptionellen Nähe zu Monstrosität (vgl. z. B. Nolte/Frohne/Halle u. a. 2017, 35–36; Kerth 2015; Röcke 2005; Antunes/Reich 2012; Antunes/Reich/Stange 2014). Eine Überblicksdarstellung zu Behinderung in der deutschen Literatur des Mittelalters fehlt noch. Überholt sind Motivforschung älteren Typs, Zugangsweisen gemäß einem veralteten medizinischen Modell (s. Kap. 4), das literarische Texte retrospektiven Diagnosen unterzieht, und Studien, die mit einem einseitigen religiösen Modell arbeiten, das sich isoliert auf den Aspekt ›Behinderung/Krankheit als Strafe Gottes‹ beschränkt. Auch die Interpretation von behindert geborenen Kindern als göttliche Mahnung bzw. als warnendes Vorzeichen, die antike Erklärungsmuster weiterführt, deckt nur einen Teil des Bedeutungsspektrums von Behinderung und Monstrosität in der deutschen Literatur und Ikonographie des Mittelalters und der Frühen Neuzeit ab.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_62

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

Schwankerzählungen bilden gesellschaftliche und rechtliche Strukturen sowie soziokulturelle Phänomene oft differenzierter ab als andere vormoderne Literatur, wenn sie verschiedenartige Normbrüche durchspielen (Grubmüller 2006). Damit rücken auch die körperlich-sensuelle und geistig-seelische Differenz stärker in den Vordergrund. Für die Frage nach Behinderung in der vormodernen weltlichen Erzählliteratur stellen Schwankerzählungen daher das zentrale Textkorpus dar, das sich immer wieder des literarisierten Musters der ›bösen Späße‹ über Behinderte bedient (Althaus 2005, 7, 14; vgl. Velten 2017; Nolte/ Frohne/Halle u. a. 2017, bes. 390–397). Die Forschung hat sogar eine spezifische Korrelation zwischen der Art der Texte und ihrem Thema erkannt: In der relativen Kürze der Texte sei der enge Raum der Lebensbewältigung, der den schwachen, versehrten, zu kurz gekommenen Figuren verbleibt, oft auch strukturell präsent (Althaus 2005, 14). Die Frage nach Beeinträchtigung als einer Art Funktionsstörung, die bei der Ausübung (literarisch konzipierter) Rollen z. B. als Herrscher und Herrscherin, Kämpfer, Geistlicher und Nonne, Ehemann und Ehefrau im Rahmen der Handlung behindert, rückt erst in letzter Zeit ins Bewusstsein der Forschung. Diese Auffassung von Behinderung als soziokultureller disability entspricht am ehesten der derzeit dominierenden Auffassung bezüglich der Vormoderne (Nolte/Frohne/Halle u. a. 2017). Ähnlich wie neuere medizinische und religiöse Modelle sind aber auch soziale bzw. soziokulturelle Modelle von Behinderung für mittelalterliche Literatur (im engeren Sinn) nur teilweise brauchbar (zum Folgenden vgl. Nolte/Frohne/Halle u. a. 2017, 23, 402–404, 407–409). Ästhetische, (semi-)fiktionale, didaktische und schwankhaftkomische Texte sind von Eigengesetzlichkeiten geprägt, die zu berücksichtigen sind. So werden in der Literatur meist Einzelfiguren in den Mittelpunkt gerückt, die mit spezifischen ästhetischen und narrativen Verfahren im Rahmen der (für uns) fiktionalen Handlungen in Szene gesetzt werden. Aus diesen anthropologischen Modellentwürfen lassen sich keine direkten Rückschlüsse auf soziale Gruppen und ihre alltagsweltlichen Einstellungen zu Behinderung ziehen. Gesellschaftliche Kontexte werden oft nur andeutungsweise aufgerufen und treten hinter Stoff, Gattungsmuster, Figurenkonzeption und Handlung, Erzählstrategie und Sinngebung des Textes zurück. Behinderung und chronische Krankheit erscheinen daher nur teilweise kontingent (s. Kap. 44).

Ein für die Vormoderne passendes literaturwissenschaftliches Modell von Behinderung in der vormodernen Literatur, das im Kontext der Kulturwissenschaften die spezifische Verfasstheit entsprechender Narrative berücksichtigt, steht noch aus. Es könnte Schwankerzählungen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit paradigmatisch in den Mittelpunkt stellen, denn spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Schwänke diskutieren eine Vielzahl von Behinderungen und Einschränkungen in unterschiedlichen Konstellationen und Kontexten. In Schwankmären, die vor allem im 15. und 16. Jahrhundert entstanden, werden besonders häufig blinde, an den Genitalien verstümmelte und durch Alterserscheinungen eingeschränkte Figuren präsentiert. Gehörlosigkeit und Mobilitätseinschränkungen spielen insgesamt eine weitaus geringere Rolle; der für die Vormoderne insgesamt schwer greifbare Bereich geistigseelischer Beeinträchtigung (Metzler 2016; Nolte/ Frohne/Halle u. a. 2017, 430–432) ist auch in den Schwankmären nur ansatzweise erkennbar. Auffällig häufig betrifft Behinderung männliche Figuren; in Volrats Die alte Mutter tritt allerdings eine blinde und schwerhörige alte Frau auf. Verwundungen bzw. Verstümmelungen von Frauen kennen z. B. Sibotes Frauenerziehung, Hans Rosenplüts Der Hasengeier und der anonyme Rosendorn (vgl. auch Die Rache des Ehemanns, unten). Im Folgenden sollen am Beispiel mittelhochdeutscher bzw. frühneuhochdeutscher Schwankerzählungen exemplarische Deutungsmöglichkeiten von Behinderung vorgestellt werden (vgl. Kerth 2019).

62.2 Beispielanalyse 1: (Genital-)Verstüm­ melung in Schwankmären – Heinrich Kaufringer: Die Rache des Ehemanns In Die Rache des Ehemanns des Heinrich Kaufringer (15. Jh.) vollzieht ein betrogener und im Auftrag des geistlichen Liebhabers von seiner Frau gequälter Ritter grausame Rache an den Ehebrechern: Er schneidet dem Geistlichen Hoden und Skrotum ab, als der nach dem Liebesspiel unaufmerksam ist. Diese lässt er zu einem wertvollen Beutel mit Knöpfen verarbeiten, den er dem immer noch schwer verwundet darniederliegenden Priester beim Krankenbesuch als Geschenk überreicht. Nachdem der Ritter den Pfarrer über die Natur des Geschenkes aufgeklärt hat, zwingt er ihn unter Androhung des Todes, beim nächsten Treffen der Ehefrau die Zunge abzubeißen.

62 Schwankerzählungen

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Der Priester wird nach Aussage des Erzählers durch den Schnitt ein »arm man« (v. 242; ein kastrierter Priester durfte in der Lebensrealität sein Amt nicht mehr ausüben und hatte keine Einkünfte mehr). Es wird aber auch die körperliche und emotionale Verfasstheit des Pfaffen erwähnt: Er erholt sich nur schwer vom Blutverlust und der Verwundung und empfindet »jamers pein« und »ungemach« (v. 300–301), auch über das zwangsweise Ende seiner Liebesbeziehung. Als der Ritter nach einem Monat zu Besuch kommt, geht es ihm noch sehr schlecht; er fühlt sich aber erleichtert durch das mitgebrachte hübsche Geschenk – bis er erkennt, was es ist. Der Pfaffe wird also gewaltsam einem zölibatären Lebensstil zugeführt und Gegenstand von Spott und Grausamkeit durch den Ehemann und den Erzähler. Ein ähnliches Schicksal erleidet auch die verstümmelte Ehefrau: Sie kann fortan nur noch »läll läll läll« sagen, wird von ihrem Mann zu ihrer Familie zurückgebracht und muss dort abhängig, ohne Sprache und eheliche Sexualität weiterleben (vgl. Kiening 2008, 333–335). In einem Tribunal bringt der Ritter die Familie der Frau dazu, sich auf seine Seite zu stellen und die Rechtmäßigkeit seines Handelns anzuerkennen – und dasselbe sollen offensichtlich auch die Leser*innen/Hörer*innen des Märes tun.

Als der blinde Künstler die Schlafzimmertür zu erreichen versucht, um zu entkommen, ergreift ihn der Ehemann als angeblichen Dieb. Zusammen mit seinen Knechten verprügelt er den Eindringling und droht ihm an, dass er am nächsten Morgen gehenkt werde. Der Blinde wird später mit ausgerissenen Haaren und zerschunden im Kot vor dem Haus des Gastgebers von seinem »blindenzügel« (v. 127, d. h. von dem Jungen, der ihn führt) gefunden. Der körperliche Defekt, der den Mann als Werber, nicht aber als Künstler abwertet, wird narrativ zu einer »Komödie des Missbrauchs« an einer blinden Figur genutzt (Coxon 2010, 63). Sowohl Kastration als auch Blindheit können als typische Formen der Behinderung gelten, da sie das besondere Interesse der Schwankerzählungen am Körper in seinen gesellschaftlichen und (ehe)rechtlichen Kontexten zeigen. Für ›böse Späße‹ eignen sich normverletzende Sexualität sowie – im Fall von Blindheit – Erkenntnisschwäche besonders gut; die (über)pointierte, von Aggression getragene Komik erscheint als angemessen und gibt eine Lizenz zum Lachen ohne Raum für Mitleid. Eine andere Form der Erkenntnisschwäche, nämlich das auch heute schwer eingrenzbare Feld geistiger Behinderung, spielt in Schwankerzählungen eine geringere Rolle.

62.3 Beispielanalyse 2: Blindheit in Schwankmären – Der blinde Hausfreund

62.4 Beispielanalyse 3: Geistige Behinderung in Schwankmären? – Tor Hunor

Als lebensbedrohlichen Spaß inszeniert Der blinde Hausfreund (anonym, wohl 15. Jh.) den Umgang mit einer blinden Figur: Ein angesehener, wohlhabender, blinder Künstler missbraucht das Gastrecht seines Gönners, indem er dessen Ehefrau trotz massiver Abwehr immer wieder nachstellt. Dies wird als große »torheit« bezeichnet (v. 44), ohne dass klar ist, ob damit der Versuch der Verführung angeprangert wird oder die Behinderung des Künstlers, die ihn als potentiellen Liebhaber von vornherein ausschließt. Das Ehepaar inszeniert im Einvernehmen miteinander ein scheinbares Stelldichein und nutzt die Blindheit des Künstlers für bösartige Tricks, seelische und körperliche Gewalttaten aus. So kündigt der scheinbar schlaftrunkene Ehemann an, Wasser lassen zu müssen, und gießt dem Blinden aus einem vorher bereitgestellten Behälter Wasser über Kopf und Rumpf, so dass dieser annehmen muss, es handle sich um den Urin des Gastgebers.

Unter den Mären lassen sich am ehesten noch Erzählungen über extreme Einfalt auf eine konzeptionelle Nähe zu geistiger Behinderung hin untersuchen. Diese Einfalt wird konstruiert über sexuelles Unvermögen, auffälliges und nicht situationskonformes Verhalten sowie die Unfähigkeit, metonymisches und (sexuell konnotiertes) zweideutiges Sprechen zu verstehen. Entsprechend spielen auch moralische und ggf. religiöse Aspekte eine Rolle beim »tor« oder »narr«. Dies demonstriert das Schwankmäre um den »toren« Hunor (anonym, wohl 15. Jh.), der von seinem reichen Vater verheiratet wird in der Hoffnung auf Besserung und klügere Nachkommen. Aufgrund seiner Einfalt kann Hunor die Ehe aber nicht vollziehen und überlässt seine hübsche Frau aus armer Familie unter allgemeinem Spott einem adligen Liebhaber.

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

62.5 Beispielanalyse 4: Geistige Behinde­ rung im Schwankroman? – Wolfgang Büttner: Sechs hundert / sieben vnd zwantzig Historien / Von Claus Narren Der Schwankroman Historien von Claus Narren hat im Gegensatz zu den Mären einen historischen Kern (Bernuth 2009): Ein ›natürlicher Narr‹ namens Claus Narr ist als Hofnarr am ernestinisch-sächsischen Hof belegt und lebte bis 1515. An ihm setzt die literarische Figur der Schwänke an, ohne eine authentische Biographie anzustreben; auch die Möglichkeit einer retrospektiven Diagnose tatsächlicher geistiger Behinderung ist nicht gegeben. Die Bezeichnung ›natürlicher Narr‹ unterscheidet Claus von den ›künstlichen‹ oder Schalksnarren, die ebenfalls beliebte Hofentertainer waren, aber nur in der Rolle eines Menschen mit mentaler Differenz auftraten. Claus Narr brachte es zu großer Bekanntheit. Die Figur taucht z. B. in Johannes Paulis Schimpf und ErnstAusgaben von 1533 und 1555, in Jörg Wickrams Rollenwagenbüchlein (1560) und in Schwänken des Hans Sachs (entstanden wohl Mitte 16. Jh.) auf. Am wirkungsmächtigsten waren freilich die bis ins 18. Jahrhundert immer wieder gedruckten und breit rezipierten Historien von Claus Narr des Wolferstedter Pfarrers Wolfgang Büttner (Erstdruck 1572). Die (eigentlich 626) Historien in 16 Kapiteln bilden einen lockeren biographischen Handlungsrahmen von der Geburt und ›Entdeckung‹ des Narren durch hertzogen Friderich (I, 1–2) bis zu seinem Tod (XVI, 18). Sie bieten kurze, teilweise thematisch verbundene Episoden, denen teils komische, teils moraldidaktische Auslegungen folgen. Claus Narr wird dabei in verschiedenen Rollen vorgeführt: als einfältiger Narr, als Schalk und Provokateur, als unschuldsvoller Weiser und Prophet, als unfreiwilliges Vorbild und Ratgeber sowie – eher selten – als Negativexempel und Bösewicht. Auf geistige Behinderung deutet nur ein Teil der Historien hin; eine klare Abgrenzung von Konzeptionen wie unschuldiger Einfalt, Melancholie, Wahn und Hellseherei, aber auch von Inszenierungen unfreiwilligen Sprachwitzes und meist unbeabsichtigt provozierender Performanz bezüglich gesellschaftlicher und religiöser Normen ist kaum möglich. Dass Claus’ Narrheit von den Rezipienten mit geistiger Behinderung in Verbindung gebracht werden soll, lässt sich dementsprechend nur für einen Teil der Historien annehmen. Zu nennen sind z. B. Episoden, in denen er Körperteile so behandelt, als würden sie unabhängig von ihm existieren: Als Claus die Nase blutet und er den Rat be-

kommt, den mutmaßlichen Schläger vor Gericht zu verklagen, weist er dieses Ansinnen zurück; seine Nase könne dies freilich tun, wenn sie wolle (Historie II, 5). Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung und Einschätzung der Realität kennzeichnen eine weitere einschlägige Historie: In II, 17 bedauert Claus tote Fische, die in einem Kübel für die Hofküche angeliefert werden, denn diese seien im Wasser »jemerlich ersoffen«. I, 8 führt vor, wie Claus nach dem Genuss von Meerrettich annimmt, in seiner Nase sei ein Feuer ausgebrochen; in XVI, 8 glaubt der Narr angesichts seines Spiegelbildes im Brunnen, hineingefallen und ertrunken zu sein. Ein Beispiel sexueller Ahnungslosigkeit liefert die Historie IX, 31, in der Claus erklärt, Kinder wüchsen auf Bäumen und würden von den Frauen abgebrochen, wenn sie reif seien. In VI, 18 gibt Claus Narr einem ihm fremden Boten den (falschen) Rat, man könne an der bezeichneten Stelle einen Fluss bedenkenlos überqueren. Nachdem der Bote fast ertrunken ist, rechtfertigt Claus sich damit, er habe am Vortag drei Enten den Fluss problemlos durchschwimmen sehen. Ob diese Episoden und andere geschilderte Normbrüche tatsächlich geistige Behinderung repräsentieren, bleibt letztlich offen. Die gereimten Auslegungen, die – wie auch in den Schwankmären – meist moralisch-didaktischer oder religiöser Natur sind und nur teilweise einen direkten Bezug auf den Erzählteil aufweisen, stützen die Annahme in der Regel nicht explizit. Sie verweisen eher allgemein auf soziales, religiöses und sexuelles Fehlverhalten. Dass man in der Vormoderne geistige Behinderung generell nicht als solche wahrgenommen hat, ist daraus allerdings nicht zu schließen (vgl. Metzler 2016, 230–232).

62.6 Ausblick: Schwankerzählungen und Lebenswirklichkeit Die Frage, ob vormoderne Schwankerzählungen den alltäglichen gesellschaftlichen Umgang mit Behinderung abbilden, kann man verneinen. Dagegen sprechen die thematische Ausrichtung der Texte, die Typik der Figuren in den erzählten Konstellationen und die Pointenhaftigkeit der Handlungen. Auffällig ist auch, dass der Armutsdiskurs und das verbreitete Almosengeben eine geringe Rolle in den vormodernen Schwankerzählungen spielen. Die Darstellung und Bewertung von Behinderung ist in erster Linie den literarischen Erfordernissen und Usancen dieses Texttypus’ geschuldet, weniger der vormodernen Lebenswirklichkeit.

62 Schwankerzählungen Literatur

Althaus, Thomas: »Wie gehts, sagte ein Blinder zu einem Lahmen«. Böse Späße in der Kleinen Prosa der Frühen Neuzeit oder: Was alles hinter Lichtenbergs SudelbuchEintrag E 385 steckt. In: Lichtenberg-Jahrbuch (2005), 7–29. Antunes, Gabriela/Reich, Björn (Hg.): (De)formierte Körper. Die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter/ Corps (Dé)formés. Perceptions et l’Altérité au MoyenÂge. Göttingen 2012. Antunes, Gabriela/Reich, Björn/Stange, Carmen (Hg.): (De)formierte Körper 2. Die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter/Corps (Dé)formés 2. Perceptions et l’Altérité au Moyen-Âge. Göttingen 2014. Barker, Clare/Murray, Stuart (Hg.): The Cambridge Companion to Literature and Disability. Cambridge 2018. Bernuth, Ruth von: Wunder, Spott und Prophetie. Natürliche Narrheit in den ›Historien von Claus Narren‹. Tübingen 2009. Der blinde Hausfreund. In: Heinrich Niewöhner (Hg.): Neues Gesamtabenteuer [...]. Die Sammlung der mittelhochdeutschen Mären und Schwänke des 13. und 14. Jahrhunderts. Bd. 1. Berlin 1937, 138–143. Büttner, Wolfgang: Sechs hundert / sieben vnd zwantzig Historien / Von Claus Narren. Erstausgabe 1572. Mit einem Vorwort von Heinz-Günter Schmitz und einem Glossar von Erika Schmitz. Hildesheim/Zürich/New York 2006. Coxon, Sebastian: der spott wirt iu wol gevallen. Komischer Spott und spöttische Komik in mittelalterlichen Kurzerzählungen. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 57 (2010), 53–66. Eyler Joshua R. (Hg.): Disability in the Middle Ages. Reconsiderations and Reverberations. Franham 2010. Frohne, Bianca: Leben mit kranckhait. Der gebrechliche Körper in der häuslichen Überlieferung des 15. und 16. Jahrhunderts. Überlegungen zu einer Disability History der Vormoderne. Affalterbach 2014. Grubmüller, Klaus: Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter. Fabliau – Märe – Novelle. Tübingen 2006. Kaufringer, Heinrich: Die Rache des Ehemanns. In: Klaus Grubmüller (Hg.): Novellistik des Mittelalters. Märendichtung. Frankfurt a. M. 1996, 738–767. Kerth, Sonja: Versehrte Körper – vernarbte Seelen. Konstruktionen kriegerischer Männlichkeit in der späten Heldendichtung. In: Zeitschrift für Germanistik 2 (2002) (Themenheft: Uwe Peter Hohendahl/Inge Stephan (Hg.): Männerbilder und Männlichkeitskonstruktionen), 262– 274.

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Kerth, Sonja: sîme volke er jâmers gap genuoc. Der im Kampf versehrte Herrscher in Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹. In: Cordula Nolte (Hg.): Phänomene der »Behinderung« im Alltag. Bausteine zu einer Disability History der Vormoderne. Affalterbach 2013, 189–211. Kerth, Sonja: Wolframs Greise. Alter(n) im ›Parzival‹, ›Titurel‹ und ›Willehalm‹. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 144 (2015), 48–76. Kerth, Sonja: Homo debilis. Dis/ability und Alter(n) in klein­epischen Verserzählungen. In: Ingrid Bennewitz/ Jutta Eming/Johannes Traulsen (Hg.): Gender Studies – Queer Studies – Intersektionalität. Eine Zwischenbilanz aus mediävistischer Perspektive. Göttingen 2019, 269– 292. Kiening, Christian: Verletzende Worte – verstümmelte Körper. Zur doppelten Logik spätmittelalterlicher Kurzerzählungen. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 127 (2008), 321–335. Metzler, Irina: Fools and idiots? Intellectual disability in the Middle Ages. Manchester 2016. Nolte, Cordula/Frohne, Bianca/Halle, Uta/Kerth, Sonja (Hg.): Dis/ability History der Vormoderne. Ein Handbuch. Premodern Dis/ability History. A Compendium. Affalterbach 2017. Pearman, Tory Vandeventer: Women and Disability in Medieval Literature. New York NY 2010. Röcke, Werner: Die getäuschten Blinden. Gelächter und Gewalt gegen Randgruppen in der Literatur des Mittelalters. In: Ders./Hans Rudolf Velten (Hg.): Lachgemeinschaften. Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Berlin/New York 2005, 61–82. Singer, Julie: Blindness and Therapy in Late Medieval French and Italian Poetry. Cambridge 2011. [›Tor Hunor‹] Daz mer von dem toren. In: Ursula Schmid (Hg.): Codex Vindobonesis 2885. Bern/München 1985, 196–202. Turner, Wendy J./Pearman, Tory Vandeventer (Hg.): The Treatment of Disabled Persons in Medieval Europe. Examining Disability in the Historical, Legal, Literary, Medical, and Religious Discourses of the Middle Ages. Lewiston NY 2010. Velten, Hans Rudolf: Scurrilitas. Das Lachen, die Komik und der Körper in Literatur und Kultur des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Tübingen 2017. Wheatley, Edward: Stumbling Blocks Before the Blind. Medieval Constructions of a Disability. Ann Arbor 2010.

Sonja Kerth

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

63 Kinder- und Jugendliteratur Zu den zentralen Merkmalen neuerer Kinder- und Jugendliteratur, worunter Texte verstanden werden, die entweder an Heranwachsende adressiert oder die ihnen empfohlen werden, zählt ihr mitunter deutlich herausgestelltes zeitdiagnostisches Potential. Ursächlich dafür ist eine veränderte Auffassung von Kindheit und Jugend, die ihre Entstehung den grundlegenden gesellschaftskulturellen Wandlungsprozessen verdankt, die Ende der 1960er Jahre ihren Anfang nehmen. Kinder und Jugendliche werden nun als Teil der sie umgebenden Wirklichkeit angesehen; die Kinder- und Jugendliteratur erhält die Aufgabe, diese Wirklichkeiten literarisch abzubilden. Auf diese Weise sollten die heranwachsenden Leser*innen in die Lage versetzt werden, die Welt in ihrem So-Sein zu verstehen (Weinkauff/ Glasenapp 2018, 83–84). Seitdem »eignet kinder- und jugendliterarischen Texten ein ausgeprägtes Gespür für gesellschaftlich relevante Verschiebungen im öffentlichen Diskurs«, wodurch sie in die Lage versetzt werden, »auf soziale, politische und gesellschaftliche Veränderungen frühzeitig zu reagieren und deren diskursiven Überbau zu beeinflussen. Dies gilt auch für den literarischen Umgang mit Krankheit und Behinderung« (Schwahl 2020, 75). Vor diesem Hintergrund sollen im Folgenden die Darstellungen von Akteur*innen mit Behinderung innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur in den Blick genommen werden. Aus Platzgründen wird sich dieser Überblick jedoch ausschließlich auf fiktionale Formate beschränken, da sich der Anteil an Sachliteratur, in der die Behinderung von Heranwachsenden behandelt wird, deutlich geringer ausnimmt.

63.1 Historische Dimension Die Geschichte von Figuren mit Behinderung innerhalb von Werken, die der Kinder- und Jugendliteratur zugerechnet werden, reicht weit zurück; bereits in den Märchen der Romantik finden sich Akteure, die aus heutiger Wahrnehmung im weitesten Sinne als ›behindert‹ bezeichnet werden können (Schaller 2007; Dettmar 2014). Ihre Darstellung unterliegt jedoch den Konventionen des Märchens, d. h. die Figuren stellen keinen Anspruch, die außertextuelle Wirklichkeit abzubilden. Anders verhält es sich mit einer der bekanntesten Kinderfiguren des 19. Jahrhunderts: der an ihren Beinen gelähmten und daher auf den Rollstuhl angewie-

senen Klara Sesemann aus Frankfurt. Sie entstammt den Heidi-Romanen von Johanna Spyri und ist zunächst als Antagonistin der Hauptfigur angelegt. Doch diese Gegensätze nivellieren sich im Verlauf der Handlung zunehmend: Die Mädchen werden Freundinnen, und schließlich kommt Klara in die Schweizer Berge, wo ihr Rollstuhl zerstört wird und sie wieder gehen lernt. Obwohl Spyri ihre Romane durchaus als realistisches Format konzipiert hat, macht spätestens Klaras unvermutete Heilung, die hier in Form einer religiös konnotierten Erlösung inszeniert ist, deutlich, dass der Figur weniger ein realistischer denn ein allegorischer Charakter inhärent ist. Das Narrativ von den sich verringernden Antagonismen zwischen behindertem Individuum und den es umgebenden (nicht behinderten) Figuren erweist sich jedoch auch in anderen Kontexten als äußerst wirkmächtig, so auch in Wilhelm Matthießens Jugendroman Das rote U (1932; Glasenapp 2014). Fünf Jugendliche erhalten von einem Unbekannten mehrfach gefährliche Aufträge. Am Ende stellt sich heraus, dass der Unbekannte »der bucklige Ühl« (Matthießen 1963, 13) ist, der zum »Hauptmann« der Kinder avanciert. Dem Roman ist es jedoch nicht um die Rolle von Menschen mit Behinderung während der Weimarer Republik zu tun, denn er bleibt auf der Handlungsebene den Gattungskonventionen der Abenteuer- und Detektiverzählung verhaftet. Neben den sich verringernden Antagonismen zwischen behinderten und nicht behinderten Figuren scheint in dieser Erzählung ein zweites, in der Zukunft nicht minder wirkmächtiges Narrativ auf – jenes des sogenannten »Muster- oder Superkrüppels« (Backofen 1987). Darunter fasst die Forschung Figuren, die ob ihrer Behinderung von der Gesellschaft ausgegrenzt werden, dieses Unrecht aber dergestalt konterkarieren, dass sie auf einem bestimmten Gebiet über herausragende Fähigkeiten verfügen, durch die sie sich der Gesellschaft als überlegen erweisen. Diese Überlegenheit erhält ihre Anerkennung in der gesellschaftlichen Integration des zuvor Ausgegrenzten. Auch wenn die ›entlastende‹ Funktion dieses Narrativs unübersehbar ist, wird ›Behinderung‹ nunmehr als ein real existierendes gesellschaftliches Phänomen identifiziert, dem keine religiöse Allegorese mehr unterlegt ist. Die kinder- und jugendliterarische Repräsentation von behinderten Akteuren vollzieht sich in Form eines Aushandlungsprozesses zwischen einem Individuum mit Behinderung und der Gesellschaft, in der es lebt; die Darstellungsmodi dieses Aushandlungsprozesses

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_63

63  Kinder- und Jugendliteratur

werden im Verlauf des 20. und 21. Jahrhunderts allerdings von gravierenden Veränderungen geprägt sein. Nicht alle Erzählungen gestalten das intrikate Verhältnis zwischen heranwachsenden Menschen mit Behinderung und der sie umgebenden Gesellschaft jedoch in Form eines Aushandlungsprozesses. Eine prominente Ausnahme bilden die biographischen Erzählungen über die taubblinde amerikanische Schriftstellerin Helen Keller. Kellers Autobiographie (1905) sowie Dokumentar- und Spielfilme hatten den Stoff über das Mädchen, das durch seine Lehrerin Anne Sullivan lernt, mit der Umwelt zu kommunizieren, auch zu einem Gegenstand für die Kinder- und Jugendliteratur gemacht. Bereits Ende der 1940er Jahre erschien das erste an Jugendliche adressierte »Lebensbild« (Clevé 1947), dem wenige Jahre später eine gekürzte Version von Kellers erster Autobiographie folgte (1953). Weitere Darstellungen und Graphic Novels erschienen in den nächsten Jahren (u. a. Marchon 1982; Waite 1986; Macdonald 1992; Behrens 2001; Lambert 2015). Helen Keller ist die erste und bis heute auch die einzige Persönlichkeit, die nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Behinderung seit bald einhundert Jahren biographiert wird. Eine entscheidende Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Umgang mit den Behinderungen. Fokussiert wird nämlich vor allem deren ›Überwindung‹ in Form einer erfolgreichen Selbstermächtigung der Protagonistin, die es ihr gestattet, sich nahezu vollständig an ihre nichtbehinderte Umwelt zu assimilieren. Die andauernde Popularität von Helen Keller beruht in hohem Maße auf diesem Assimilationsprozess; bis heute ist sie die Inkarnation des ›Du-schaffst-es-Prinzips‹, eine Wahrnehmung, der zumindest implizit auch eine Aussage über die Wahrnehmung behinderter Menschen eingeschrieben ist: Je ›unsichtbarer‹ ihre Behinderung ist, desto integrationsbereiter zeigt sich die Mehrheitsgesellschaft. Der Grad der Integration liegt so ausschließlich in der Verantwortung des Menschen mit Behinderung.

63.2 Kinder- und jugendliterarische Moderne Der große Erfolg der Erzählungen über Helen Keller beruht auch auf dem Paradigmenwechsel innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur seit den 1970er Jahren, deren Werke nun bevorzugt die Alltagswelten der Heranwachsenden fokussierten, darunter erstmals

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auch unterschiedliche Formen von Behinderung (vgl. Pattensen 2004; Reese 2007; 2010; Ernst 2010). Unter der Vielzahl an Texten müssen zwei exemplarische Erzählungen herausgehoben werden – zuerst Das war der Hirbel (1973) von Peter Härtling. Im Zentrum der Handlung steht ein neunjähriger, geistig behinderter Junge, der in einem Heim lebt. Der Zugang zu ihm ist schwierig und gelingt nur einzelnen Personen. Erzählt wird vor allem die Geschichte einer gesellschaftlichen Ausgrenzung: Auf der einen Seite steht Hirbel, auf der anderen Seite der Rest der Gesellschaft, darunter auch die anderen Kinder des Heims und Hirbels Mutter. Die auf diese Weise evozierten Antagonismen sind unüberbrückbar, die fortschreitende Exklusion durch eine Gesellschaft, die selbst für die Behinderung des Jungen verantwortlich zeichnet, denn diese resultiert aus einem ärztlichen Fehler bei seiner Geburt, unaufhaltbar. Deutlich wird, dass der Fokus nicht auf Hirbel, sondern auf jenen ruht, die die Exklusion des Jungen verantworten und vorantreiben, bis zu dem Moment, als Hirbel in eine geschlossene Klinik eingewiesen wird und damit gleichsam aus der Gesellschaft ›verschwindet‹. Innovativ an Härtlings Erzählung erscheint vor allem die Radikalität, mit der der Antagonismus zwischen behindertem Protagonisten und Gesellschaft dargestellt wird. Bis heute gilt Härtlings Erzählung als ein Schlüsseltext innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur, die sich mit dem Thema Behinderung beschäftigt. Aber trotz der Tatsache, dass sie seit langem zum Kanon der Schullektüre zählt, ist sie kein Muster kinderliterarischen Erzählens über behinderte kindliche Akteure geworden. In ihrer übergroßen Mehrheit sind die in den folgenden Jahren veröffentlichten kinder- und jugendliterarischen Werke durch gänzlich andere Strukturen geprägt. Das gilt insbesondere für einen weiteren zentralen Text aus den 1970er Jahren, Max von der Grüns Kinderroman Vorstadtkrokodile (1976). Bereits der Paratext lässt eine gänzlich andere Rezeptionslenkung erkennen als im Falle von Härtlings Werk; von Beginn an werden die Leser*innen gegenüber dem behinderten Protagonisten gleichsam in die Pflicht genommen; so heißt es in der Vorbemerkung: »Weil ich selber einen Sohn habe, der im Rollstuhl gefahren werden muss, habe ich diese Geschichte von den Krokodilern geschrieben. [...]« (Grün 1998, 5) Durch diese Authentizitätsbeteuerung erhält die Erzählung zudem den Anschein, hier werde die Wirklichkeit mimetisch abgebildet, ein Signal, das durch zahlreiche Gegenwartsbezüge sowie realgeographi-

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

sche Referenzpunkte zusätzlich verstärkt wird. Analog zu Matthießens Roman Das rote U (der erkennbar als Prätext fungiert hat) erzählt auch von der Grün die Geschichte einer gelingenden Integration – hier des querschnittgelähmten Kurt, der nach Jahren der Nichtbeachtung (und damit der impliziten Ausgrenzung) Aufnahme in die Kinderbande der ›Krokodiler‹ und damit in die Gesellschaft findet. Auch in dieser Erzählung dominiert zwar zu Beginn der Antagonismus zwischen der nicht behinderten Mehrheitsgesellschaft und dem im Rollstuhl sitzenden Protagonisten. Zur Verringerung dieser Gegensätze tragen jedoch die kindlichen Akteure selbst in entscheidender Weise bei: In der Kinderbande beginnen sich jene Kräfte durchzusetzen, deren Entscheidungen nicht mehr wie bisher auf Stärke begründet sind, sondern auf Verstand und Affektkontrolle – anstelle der alten Bande ist eine ›neue‹ Gesellschaft getreten, in die Kurt gleichsam selbstverständlich integriert ist. Die gesellschaftliche Utopie, der sich Härtlings Erzählung so vollständig verweigert hatte, wird in von der Grüns Roman zu einem entscheidenden Element der Handlung. Wieder ist der Fokus weniger auf den Protagonisten mit Behinderung, als vielmehr auf die ihn umgebende Gesellschaft gerichtet. Sie erweist sich nunmehr als ein wandlungsfähiger Akteur – und erhält für diese Wandlung auch umgehend ihre Gratifikation: Denn nur mit Hilfe von Kurt können die Kinder eine Bande von Dieben auffliegen lassen. In von der Grüns Roman zeigen sich überdeutlich jene Prinzipien, die die kinder- und jugendliterarische Moderne kennzeichnen: Eine Darstellung von behinderten heranwachsenden Akteuren, die signalisiert, die außertextuelle Realität mimetisch abzubilden, hingegen bestrebt ist, den genuin utopischen Charakter des Texts nur implizit in Erscheinung treten zu lassen. Der Paradigmenwechsel manifestiert sich darüber hinaus in der Tatsache, dass sich nicht nur die Anzahl behinderter Figuren beträchtlich erhöht (vgl. Pattensen 2004, 5–6), sondern auch das Spektrum der Behinderungsformen, von denen erzählt wird: Zur Vielfalt der körperlichen kommen geistige Behinderungsformen sowie Mehrfachbehinderungen. Kennzeichnend für die neuen kinder- und jugendliterarischen Erzählungen ist weiterhin ein veränderter Blickwinkel: Im Zuge des Aufschwungs des psychologischen Romans wird nun vielfach aus der Innensicht erzählt, d. h. aus der Perspektive von Geschwistern, Freunden oder Mitschülern. Weiterhin dominant ist also der Blickwinkel der nicht behinderten Mehrheitsgesellschaft auf das Individuum mit Behinderung.

Dabei erweist sich dieses vielfach als statische, eindimensionale Figur, die nahezu ausschließlich durch ihre Behinderung definiert wird. Weitaus differenzierter und dynamischer erscheinen die nicht behinderten Figuren; sie durchlaufen komplexe Entwicklungsprozesse, an deren Ende durchgängig die vorbehaltlose Annahme des Menschen mit Behinderung steht. Diese gesellschaftliche Akzeptanz ist bis heute daran gekoppelt, dass behinderte Figuren zwar nicht mehr als überlegene ›Superkrüppel‹ dargestellt werden, aber immer noch als eine Art Ausnahmepersönlichkeit, die es in ihrem So-Sein ›wert‹ ist von der Gesellschaft akzeptiert zu werden – trotz ihrer Behinderung. Kennzeichen der neueren Erzählungen ist auch ein deutlich erweitertes Gattungsspektrum. Gehören die Werke zunächst ausnahmslos zum Textverwendungstypus der problemorientierten Kinder- und Jugendliteratur, werden nun auch die Gattungsmuster des psychologischen oder Abenteuerromans, in Ausnahmefällen auch des Kriminal- oder Horrorromans, in Anwendung gebracht. Kaum Veränderungen unterlegen ist jedoch das Narrativ der verdeckten Gesellschaftsutopie, denn in nahezu allen Erzählungen gelingt am Ende die Integration der behinderten Figur. Die Tatsache, dass der Fokus der Texte weniger auf die Figuren mit Behinderung als auf die sie umgebende Gesellschaft gerichtet ist, stellt paradoxerweise jedoch eine Verbindung zur außerliterarischen Realität her. Denn das Realphänomen Behinderung wird – gemäß dem Selbstverständnis der Disability Studies – mittlerweile nicht mehr als ein festgeschriebener Zustand begriffen, sondern als eine soziale und kulturelle Konstruktion, über deren Existenz allein die Gesellschaft befindet (vgl. Waldschmidt 2005; Nowicki 2019), weshalb die Erzählungen mehrheitlich ein positives Selbstbild jener Gesellschaft evozieren, der Verfasser*innen und Leser*innen angehören. Die Texte konfrontieren die Leser*innen daher weniger mit behinderten Akteuren, sondern vorrangig mit dem eigenen gesellschaftlichen Selbstbild.

63.3 Das Konzept Inklusion Kennzeichnend für die seit den 2010er Jahren erscheinende Kinder- und Jugendliteratur ist ein nochmaliger signifikanter Anstieg von Werken, die sich mit unterschiedlichen Formen von Behinderung befassen, von der Forschung nun jedoch aus neuer Perspektive, jener der Inklusion, in den Blick genommen werden. Dabei wird Inklusion als ein gesamtgesellschaftlicher Prozess

63  Kinder- und Jugendliteratur

angesehen, mit dem Ziel, allen Menschen Teilhabe an der Gesamtheit der gesellschaftlichen Felder zu ermöglichen (Ziemen 2012). Inklusion in ihrer engeren Bedeutung, d. h. in der Fokussierung auf unterschiedliche Formen von Behinderung, wird mittlerweile als ein gesellschaftspolitisches Projekt von so hoher Relevanz eingestuft, dass die Kinder- und Jugendliteratur als populäres Kommunikationsmedium dazu aufge­ rufen ist, literarische Modelle zur Verfügung zu stellen, die die entsprechenden Diskurse ausgestalten und im Alltagsbewusstsein der Rezipient*innen verankern sollen. Dieser Aufgabe hat sich die Kinder- und Jugendliteratur bereitwillig angenommen – Inklusion ist mittlerweile das Thema, das innerhalb der Kinderund Jugendliteratur zur Zeit mit am häufigsten verhandelt wird (Glasenapp 2020). Die große Aufmerksamkeit, die gerade dem Konzept der Inklusion (s. Kap. 16) innerhalb der Kinderund Jugendliteratur zuteil wird, resultiert nicht zuletzt aus der Tatsache, dass sie mit z. T. etablierten Themen der Kinder- und Jugendliteraturwissenschaft wie Krankheit, Alter und Behinderung korrespondiert und hier auf eine längere Tradition zurückgegriffen werden kann (vgl. Frickel/Kagelmann/Seidler u. a. 2020, 12–13). Explizit gefragt wird nun nach dem inklusiven Potential kinder- bzw. jugendliterarischer Texte. Insbesondere wird in diesem Zusammenhang abgehoben auf die grundlegende Differenz zwischen Integration und Inklusion: Anders als ältere Texte, die den Leser*innen Modelle einer gelingenden Integration in die Gesellschaft offerieren, gehen inklusive Settings gerade »nicht von einer Integrationsleistung eines Individuums in eine Gemeinschaft aus [...]. Eine Leistung wird [...] nicht mehr primär vom Individuum erwartet, sondern strukturell vom Staat bzw. der Gemeinschaft« (Frickel/Kagelmann 2016, 13). Das an die Kinder- und Jugendliteratur angelegte Inklusionskonzept kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Texte auch weiterhin den ›bewährten‹ Integrationsszenarien sowie den ihnen inhärenten Narrativen und Figurationen folgen – wenngleich mit zeittypischen Modifikationen. Das gilt auch für Andreas Steinhöfels wirkmächtigen Roman Rico, Oskar und die Tieferschatten (2008), dem mittlerweile drei weitere Bände (2014–2017), Verfilmungen und Comics gefolgt sind. Der ›tiefbegabte‹ Rico, der aufgrund von ›Bingokugeln‹ in seinem Kopf ein Lernförderzentrum besuchen muss, entwickelt sich im Laufe der Handlung zu einem Helden, ist er doch als Einziger in der Lage, einen Kindesentführer zu überführen und dingfest zu machen. Modifiziert wird dieses

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bewährte Narrativ durch die Erzählperspektive – Rico erzählt selbst von den Ereignissen und seiner Tiefbegabung, und die Gesellschaft, die ihn umgibt, ist kaum weniger versehrt als er; die Antagonismen zwischen behindertem Individuum und nicht behinderter Mehrheitsgesellschaft erscheinen deutlich nivelliert, ein Muster, das mittlerweile prototypisch für das Gros der nach 2010 erscheinenden Kinder- und Jugendliteratur ist. Sowohl die Kinder- und Jugendliteratur selbst als auch die aktuelle Forschung zur Darstellung von Behinderungsformen machen auf diese Weise deutlich, dass die Texte zumindest ansatzweise Aspekte von Inklusion aufgreifen, die auch eine Reflexionsfläche für die Etablierung und Stabilisierung inklusiver Settings in der außerliterarischen Realität offerieren und vielleicht sogar präfigurieren. Literatur

Backofen, Ulrike: »Musterkrüppel, Tyrann, Held ... Musterkrüppel, Tyrann, Held ...« und andere »Strickmuster«. In: Wiebke Ammann/Ulrike Backofen/Klaus Klattenhoff (Hg.): Sorgenkinder – Kindersorgen. Behindert-Werden, Behindert-Sein als Thema in Kinder- und Jugendbüchern. Oldenburg 1987, 18–23, http://oops.uni-oldenburg. de/490/ (15.12.2019). Behrens, Katja: Alles Sehen kommt von der Seele. Die außergewöhnliche Lebensgeschichte der Helen Keller. Weinheim/Basel 2001. Clevé, Evelyn: Helen Keller. Ein Lebensbild. Berlin 1947. Dettmar, Ute: Von Hans Dumm zu Hans im Glück. MärchenKarrieren mit Behinderung. In: kjl&m 66/3 (2014), 45–51. Dommes, Grit: »Hoffentlich [...] nicht normal«. Behinderung als Theorie der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur. In: Matthias Luserke-Jaqui (Hg.): Literary Disability Studies. Theorie und Praxis in der Literaturwissenschaft. Würzburg 2019, 45–83. Ernst, Alexandra: Das Leben der Anderen. Behinderte und Behinderung in der KJL. In: Bulletin Jugend & Literatur 41/4 (2010), 8–16. Frickel, Daniela A./Kagelmann, Andre: Der inklusive Blick. Die Literaturdidaktik und ein neues Paradigma. In: Dies. (Hg.): Der inklusive Blick. Die Literaturdidaktik und ein neues Paradigma. Frankfurt a. M. 2016, 11–34. Frickel, Daniela A./Kagelmann, Andre/Seidler, Andreas/ Glasenapp, Gabriele von: Kinder- und Jugendmedien im inklusiven Blick. Analytische und didaktische Perspektiven. In: Dies. (Hg.): Kinder- und Jugendmedien im inklusiven Blick. Analytische und didaktische Perspektiven. Frankfurt a. M. 2020, 9–26. Glasenapp, Gabriele von: Simple Stories? Die Darstellung von Behinderung in der Kinder- und Jugendliteratur. In: kjl&m 66/3 (2014), 3–15. Glasenapp, Gabriele von: Möglichkeitsräume. Zur kinderund jugendliterarischen Repräsentation von Inklusion avant la lettre. In: Frickel/Kagelmann/Seidler/Glasenapp 2020, 27–47.

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

Grün, Max von der: Vorstadtkrokodile. Eine Geschichte vom Aufpassen [1976]. Reinbek bei Hamburg 1998. Härtling, Peter: Das war der Hirbel. Wie der Hirbel ins Heim kam, warum er anders ist als andere und ob ihm zu helfen ist [1973]. Neuausgabe. Weinheim/Basel 1998. Keller, Helen: Die Geschichte meines Lebens. Stuttgart 1905. Keller, Helen: Dem Leben gewonnen. Berlin-Grunewald 1953. Lambert, Joseph: Sprechende Hände. Die Geschichte von Helen Keller. Berlin 2015. Linsmann, Maria: Vom »Schau-mal, wie der das macht« zum »Schau mal, was ich alles kann«. Zur Darstellung von Behinderung, Integration und Inklusion in Bilderbüchern seit den 1970er Jahren. In: Frickel/Kagelmann/Seidler/ Glasenapp 2020, 337–355. Macdonald, Fiona: Helen Keller. Die blinde und gehörlose Frau, die zum »Engel der Blinden« wurde. Würzburg 1992. Marchon, Anne: Helen lernt leben. Die Kindheit der taubblinden Helen Keller. Lahr 1982. Matthießen, Wilhelm: Das rote U. Eine abenteuerliche Jungensgeschichte [1932]. Köln 1963. Nickel, Sven: Gesellschaftliche Einstellungen zu Menschen mit Behinderung und deren Widerspiegelung in der Kinder- und Jugendliteratur. 1999, http://bidok.uibk.ac.at/ library/nickel-einstellungen.html (15.12.2019). Nowicki, Anna-Rebecca: Raus aus der semiotischen Falle. Die Herausforderungen und Potenziale einer Disability Studies-Perspektive der Germanistik. In: Matthias Luserke-Jaqui (Hg.): Literary Disability Studies. Theorie und Praxis in der Literaturwissenschaft. Würzburg 2019, 9–44. Oetken, Mareile: b-b-b-barrierefrei? Inszenierungen von Behinderung im Bilderbuch. In: kjl&m 66/3 (2014), 34–44. Pattensen, Henryk: Behinderte in der Kinder- und Jugendliteratur. In: Kurt Franz/Franz-Josef Payrhuber (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon. Teil 6: Themen/ Motive/Stoffe. Meitingen 2004, 1–30.

Reese, Ingeborg: Behinderung als Thema in der Kinder- und Jugendliteratur. Hamburg 2007. Reese, Ingeborg: Strickmuster und Stereotypen. Die Darstellung von Behinderung im Kinder- und Jugendbuch. In: JuLit 36/1 (2010), 3–8. Schäfer, Iris (2014): Körperliche Behinderung im aktuellen (deutschsprachigen) Jugendroman. In: kjl&m 66/3 (2014), 25–33. Schaller, Esther: Von Mangelwesen und vom gelingenden Leben. Figuren der Behinderung im europäischen Volksmärchen. In: Fitzgerald Crain (Hg.): Dummlinge, bucklige Hexen, böse Stiefschwestern und Zwerge. Vom Umgang des Märchens mit Behinderung. Bern/Stuttgart/ Wien 2007, 41–66. Schwahl, Markus: Der exklusive Blick. Diskurse der Ab- und Ausgrenzung in Finn-Ole Heinrichs Erzählband ›Gestern war auch schon ein Tag‹. In: Frickel/Kagelmann/Seidler/ Glasenapp 2020, 75–90. Spyri, Johanna: Heidi’s Lehr- und Wanderjahre. Eine Geschichte für Kinder und auch für Solche, welche die Kinder lieb haben. Gotha 1880. Spyri, Johanna: Heidi kann brauchen, was es gelernt hat. Gotha 1881. Steinhöfel, Andreas: Rico, Oskar und die Tieferschatten. Hamburg 2008. Waite, Helen E.: Öffne mir das Tor zur Welt. Das Leben der taubblinden Helen Keller und ihrer Lehrerin Anne Sullivan. Stuttgart 1986. Waldschmidt, Anne: Disability studies. Individuelles, soziales und/oder kulturelles Modell von Behinderung? Psychologie und Gesellschaftskritik 29/1 (2005), 9–31. Weinkauff, Gina/Glasenapp, Gabriele von: Kinder- und Jugendliteratur. Paderborn 32018. Ziemen, Kerstin: Inklusion. In: Inklusion Lexikon. 2012, http://www.inklusion-lexikon.de/Inklusion_Ziemen.pdf (15.12.2019). Zimmermann, Rosmarie: Behinderte in der Kinder- und Jugendliteratur. Berlin 1982.

Gabriele von Glasenapp

64  (Auto-)Biographie und Erfahrungsbericht

64 (Auto-)Biographie und Erfahrungsbericht 64.1 Terminologische Abgrenzungen Die Autobiographie weist Deckungsgleichheit von Autor, Erzähler und Subjekt/Protagonist auf und stellt literarisch das eigene Leben oder größere Abschnitte daraus dar. Im Unterschied zum Tagebuch handelt es sich bei der Autobiographie um eine textuelle Form mit erklärtem Öffentlichkeitsbezug und relativ homogener Schreibweise und Perspektive: Im Rückblick kann das Leben als Ganzes überschaut, gedeutet und erzählt werden. Autobiographien sind meist in IchForm und in Prosa geschrieben, seltener in der dritten Person (vgl. Gfrereis 2005, 15). • Die Autobiographie wird mehrheitlich als eine Erzählung begriffen, die versucht, Zusammenhänge und Verständnis herzustellen in Bezug auf das eigene Leben und dessen Verlauf bis zum Zeitpunkt der schriftlichen Abfassung oder des festgehaltenen, ursprünglich mündlichen Berichts. Sie stellt eine Reihe ausgewählter Erfahrungen und Erlebnisse meist chronologisch dar und weist ihnen einen einmaligen, charakteristischen Sinn zu (vgl. Mürner 2018, 179). Dabei werden Brüche, Einschnitte und unvorhergesehene Wendungen des Lebens nicht ausgeblendet. • Die Biographie charakterisiert sich dadurch, dass der Autor/die Autorin mit dem Subjekt bzw. dem Protagonisten/der Protagonistin nicht identisch ist. Die Lebensgeschichte eines Menschen wird dargestellt mit dem Anspruch, die Fakten wiederzugeben; oftmals werden hierbei auch Techniken der fiktionalen Literatur genutzt (vgl. Gfrereis 2005, 20). • Der Erfahrungsbericht nimmt eine punktuelle Darstellung von Erfahrungen in Bezug auf konkrete Lebensereignisse, sogenannte ›life time events‹ wie z. B. Scheidung, Tod oder Krankheit, vor. Autor*in und erlebende Person sind im Erfahrungsbericht identisch. • ›Life Writing‹ wird als Cluster-Begriff insbesondere im US-amerikanischen (Forschungs-)Kontext verwendet. Er bezeichnet eine hochflexible literarischdokumentarische Kategorie als textuelles Kontinuum zwischen Autobiographie, Biographie und Erfahrungsbericht. Texte können aus der Perspektive der ersten oder dritten Person verfasst sein und umfassen mehr als nur eine Facette des im Fokus ste-

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henden Lebens (vgl. Banerjee 2018, 16). Life Writing geht zum Teil aus kollaborativ geschriebenen Arbeiten hervor und präsentiert sich auf neuen Medien-Plattformen wie Blogs, Tweets, Newsfeeds, YouTube-Videos und Websites (vgl. Hall 2016, 10) (s. Kap. 52). Es beinhaltet bisweilen über die rein sprachliche Vermittlung hinausgehende mediale Formen wie Fotografie, Tanz und/oder Musik (vgl. Banerjee 2018, 2) (s. Kap. 66). Thomas Couser hält fest: »The term ›life writing‹ came into use as an umbrella term to cover a wide range of not necessarily literary discursive practices devoted to representing the lives of real individuals« (2009, 12).

64.2 Autobiographien von Menschen mit Behinderung In den letzten 25 Jahren ist ein nahezu explosionsartiger Anstieg von autobiographischen Erzählungen im Zusammenhang mit geistiger und körperlicher Behinderung zu verzeichnen. Dies ist u. a. darauf zurückzuführen, dass in jüngster Zeit immer mehr Geschichten gewöhnlicher Menschen publiziert werden, während zuvor vor allem berühmte Persönlichkeiten im Fokus standen (vgl. Hall 2016, 129). Autobiographische Texte behinderter Autor*innen berichten über Erfahrungen, die – so Christian Mürner – »eine Dissonanz gegenüber Erwartungen« (2018, 179) enthalten können. Claudia Franziska Bruner spricht als Betroffene von »biografischer Eigenarbeit« (2005, 10). Die Autor*innen beschäftigen sich intensiv mit ihrem Körper und mit der verkörperten Differenz. Sie bringen diese in einen Zusammenhang mit ihrer Identität, ihren Selbstbestimmungsmöglichkeiten sowie mit gesellschaftlichen Barrieren und Chancen. Oft dokumentiert der autobiographische Text eine kritische Auseinandersetzung mit ihrem Umfeld. Die Ausformulierung kann auf einen emanzipativen Prozess im Sinne der potentiellen subjektiven Autonomie hinauslaufen (vgl. Mürner 2018, 184–185). Im Zuge des Anstiegs von Autobiographien von Menschen mit Behinderung ab Mitte der 1990er Jahre ist Behinderung mittlerweile zu einem nahezu allgegenwärtigen Thema des Life Writing avanciert (vgl. Couser 2009, 3). Insbesondere im Hinblick auf Autobiographien autistischer Menschen sind vermehrt Publikationen zu verzeichnen. Während Autismus zunächst häufiger durch Eltern oder Geschwister und nicht von der autistischen Person selbst dargestellt wurde (›Elternbiographien‹), ist diese Form des Life

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_64

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

Writing in den letzten 20 Jahren derartig angestiegen, dass sich im US-amerikanischen Kontext eine eigene Gattungsbezeichnung etabliert hat: die »autie-biography« (ebd., 5). Damit ist das Life Writing bzw. die Autobiographie zu einer Plattform geworden, von der aus die Autorschaft von Menschen mit Behinderung Einzug gehalten hat in die öffentliche kulturelle Wahrnehmung insbesondere in Nordamerika und Europa. Ihre Verbreitung kann die Präsenz des Themas ›Behinderung‹ auch auf der Ebene der politischen Agenden stärken (vgl. ebd.). Zudem ist dieser Anstieg im US-Kontext in Zusammenhang mit der Bürgerrechtsbewegung des letzten Viertels des 20. Jahrhunderts zu sehen (vgl. ebd.). Autobiographische Autor*innen mit Behinderung haben im 20. Jahrhundert oftmals aus marginalisierten Positionen herausgeschrieben (vgl. Couser 2009, 7). In den letzten zehn bis fünfzehn Jahren haben die größere Zugänglichkeit und die fallenden Kosten von sogenannten self-publishing technologies jedoch dazu beigetragen, die Reichweite von Disability Life Writing und von autobiographischen Schreibweisen von Menschen mit Behinderung zu vergrößern. Durch Inkorporierung neuer Publikationsmöglichkeiten und -plattformen wurde auch die Definition des Life Writing selbst erweitert. Dabei überschreiten die Autobiographien bisweilen den gattungstechnischen Rahmen (vgl. Banerjee 2018, 42). Denn das digitale Zeitalter erschließt neue Repräsentationsformen für autobiographische Schreibweisen. Online veröffentlichte Autobiographien entgehen (ebenso wie im Eigenverlag publizierte Bücher) Selektionsprozessen und in gewisser Weise auch den (kapitalistischen) Marktregularien, die in einem herkömmlichen Publikationsprozess greifen und die vielfach durch gatekeeper bestimmt und vollzogen werden. In diesem Sinne hat die Digitalisierung einen starken Demokratisierungseffekt auf autobiographische Schreibweisen von Menschen mit Behinderung ausgeübt (vgl. Couser 2009, 12–13). Die radikale Veränderung von der deutlichen Unterrepräsentierung in der Mitte des 20. Jahrhunderts hin zu einer Tendenz der ›Über-Repräsentierung‹ innerhalb der letzten 25 Jahre, zeigt nach Alice Hall eine signifikante kulturelle Veränderung der gesellschaftlichen Haltung gegenüber öffentlichen Repräsentationen von Behinderung an (vgl. Hall 2016, 130). Jüngere Beispiele von Autobiographien von Menschen mit Behinderung weisen häufig eine reflexive Bewusstheit dieser entwicklungsgeschichtlichen Veränderung der Produktions- und Rezeptionssituation auf und thematisieren diese auch (vgl. Hall 2016, 131).

Den Autor*innen geht es dabei weniger um die Darstellung körperlicher oder kognitiver Beeinträchtigungen. Sie dokumentieren vielmehr beispielsweise alltägliche Erlebnisse, soziale Beziehungen, Vorurteile, Gesetzesänderungen und kulturelle Repräsentationen, durch die komplexe Identitäten konstruiert und in einem weitergefassten sozialen Kontext verortet werden (vgl. ebd., 132). Während Menschen mit Behinderung lange Zeit den Klassifizierungen, Prüfungen und objektivierenden Perspektivierungen durch Andere unterworfen waren, können sie nunmehr selbst die Initiative ergreifen und zum Subjekt werden. Mürner sieht dabei eine »Chance der Ambivalenz« (s. Kap. 44) in den Autobiographien, die Behinderung einerseits hervorheben und andererseits als selbstverständlichen Teil des Lebens darstellen: »Die Behinderung erscheint etabliert und zugleich als Besonderheit und Eigenart, die Erfahrung mit ihr bestimmt den Umgang und die Emanzipation im Rahmen eingeschränkter Möglichkeiten und bestehender Barrieren« (Mürner 2018, 193).

64.3 Zielsetzungen, Funktionen, Kontroversen Mürner nennt sechs Hauptmotivationen, die sich im autobiographischen Schreiben von Menschen mit Behinderung ausmachen lassen: Information, Dokumentation, Aufklärung, Beispielgabe, Wahrheitsanspruch und Selbstdarstellung (vgl. Mürner 2018, 13). Die Lebensberichte sind auch als »Selbstannäherungen« (ebd., 194) zu bezeichnen. Es geht nicht um ›Fallbeispiele‹ oder ›Problemlösungsgeschichten‹ im Sinne der Bewältigung oder Überwindung der Behinderung, sondern um die Dokumentation eines Lebensstils (vgl. ebd.). Im Gegensatz zum 20. Jahrhundert wird Behinderung seit dem 21. Jahrhundert zunehmend nicht als Makel oder Abweichung dargestellt, sondern als individueller Bestandteil der Persönlichkeit. Im Vordergrund stehen die persönlichen Fähigkeiten und Aktivitäten. Die autobiographische Auseinandersetzung mit der Behinderung ist Bestandteil des Lebens und zugleich Lebensleistung (vgl. ebd., 194). In gesellschaftspolitischer Hinsicht können Life Writing-Texte und Autobiographien darauf abzielen, zu erziehen und zu protestieren; sie erhalten so vielfältige Funktionen der Sensibilisierung der Mehrheitsbevölkerung, der zivilgesellschaftlichen Information und Bildung sowie der Ermächtigung von Minder­ heiten-Identitäten (vgl. Hall 2016, 133). Der Slogan der

64  (Auto-)Biographie und Erfahrungsbericht

Disability Rights-Bewegung »Nothing about us without us« hebt die Funktion der Selbstermächtigung durch Selbst-Repräsentation besonders hervor und ist zugleich als Aufruf zu kollektivem Handeln zu verstehen. Entsprechend legen autobiographische Narrative, insbesondere im US-amerikanischen Kontext, Zeugnis ab von der Arbeit der Disability Rights-Bewegung und bringen sie wesentlich voran. In dem Bewusstsein, dass ihre eigenen Lebensbedingungen kulturell konstruiert sind und von anderen geteilt werden, können die Autor*innen herkömmliche Formen der Autobiographien von Menschen mit Behinderung überschreiten und Wege aufzeigen, die zu einer breiteren Kritik an der Konstruktion von Behinderung in der westlichen Welt führen (vgl. Couser 2009, 48). Autobiographische Schreibweisen werden in diesem Zusammenhang zu Bestandteilen von sozialen Bewegungen, die sich für kulturelle und juristische Veränderungen einsetzen. Auch das coming-out-Narrativ kursiert in zahlreichen jüngeren Formen des Disability Life Writing bzw. der Autobiographien von Menschen mit Behinderung und suggeriert einen Übergang vom Privaten zum Öffentlichen (vgl. Hall 2016, 133). Das comingout auf der Basis von Autobiographien stärkt nicht nur die instrumentelle wie didaktische Funktion eines politischen Aktivismus, sondern erkennt das performative Potential der Sprache selbst an, das einen Wandel auf persönlicher Ebene einleiten kann. Viele jüngere Texte des Disability Life Writing hinterfragen zugleich den status quo und die Konventionen der autobiographischen Gattung selbst. So verlegen sie oftmals den autobiographischen Fokus von individuellen Projekten hin zu Narrativen, die an der Konstituierung einer kollektiven Identität beteiligt sind (vgl. ebd.). Life Writing-Narrative und Autobiographien von Menschen mit Behinderung tragen zudem zur Vervielfältigung und Flexibilisierung von Akteurskonstellationen bei. Sie können etwa die Dichotomie und Hierarchie zwischen Ärzt*innen und anderen medizinischen Expert*innen auf der einen und Laien auf der anderen Seite aufbrechen (vgl. Banerjee 2018, XIV), indem wissenschaftliche Diskurse durch Lebenserfahrungen ergänzt und ggf. korrigiert werden. Der autobiographische Akt der Selbst-Erzählung kann auch den Effekt haben, Nähe und Zusammenhalt zwischen Autor*in und Leser*in herzustellen, so etwa, wenn Appelle und Wünsche in direkter Ansprache an die Leserschaft formuliert werden. Autobiographische Schreibweisen vermitteln zudem der Mehrheitsbevölkerung einen Zugang zum alltäglichen Leben von Menschen mit Behinderung

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(vgl. Barrett 2014, 1574). Diese können dabei zeigen, dass sie häufig Lebensentwürfe und Lebensverläufe haben, die von den (stereotypen) Erwartungen Anderer produktiv abweichen (vgl. Couser 2009, 7). So tragen Autobiographien dazu bei, kulturelle Vorstellungen davon, wie eine Beeinträchtigung erfahren wird – z. B. als tragisch und/oder widerständig – zu dekonstruieren (vgl. Barrett 2014, 1575). Auf diese Weise bilden Narrative von anormalen körperlichen Bedingungen einen wichtigen, wenn nicht einzigartigen Ausgangspunkt, um die Verantwortlichkeiten der zeitgenössischen Zivilgesellschaft zu erkunden und zu benennen und ggf. auch neu zu justieren (vgl. Couser 2009, 15). Die Stärke von Life Writing-Texten und Autobiographien von Menschen mit Behinderung liegt in der Betonung, dass es viele Wege gibt, ein erfülltes Leben zu führen (vgl. Banerjee 2018, 370). Das Disability Life Writing bzw. die Autobiographie kann darüber hinaus zum Ort ethischer Selbst-Befragungen werden. Couser schlägt in diesem Zusammenhang sogar vor, von einer Untergattung der »auto/somatography« (2009, 4; 2016, 3) zu sprechen: Aus der Innenperspektive geschrieben, eröffnet sie als Form der SelbstRepräsentation die Möglichkeit einer persönlichen (Neu-)Bewertung der eigenen Situation (vgl. Couser 2004, 13). Kontroversen werden durch Fragen nach agency, Autorschaft und Authentizität der Selbst-Repräsentation ausgelöst, wenn Autobiographien von Menschen mit Behinderung beispielsweise unter Mitwirkung Anderer (etwa Verwandter oder Lektor*innen) entstehen (vgl. Couser 2009, 32). Hierbei sind auch innerhalb der Forschung unterschiedliche Positionen zu beobachten: So hält Couser fest, Autonomie im Schreiben könne am besten umgesetzt werden, wenn den Autor*innen ein gewisser Grad von Kontrolle über ihre Texte gewährt werde (vgl. 2004, 22). Mürner dagegen meint, selbstbestimmte Perspektiven könnten auch mit Assistenz entstehen (vgl. 2018, 10). Gerade bei Formen des kollaborativen Disability Life Writing reichen die ethischen Bedenken von der konkreten Produktionsweise der Erzählung bis hin zu dem Verhältnis, das der Text zu den sozio-kulturellen, historischen und politischen Umständen seiner Entstehung einnimmt (vgl. Couser 2004, 34). Darüber hinaus ist es mit der Produktion eines Manuskriptes nicht getan: Die Erzählung eines Lebens zu publizieren, setzt voraus, Zugang zur Leserschaft zu gewinnen; dies geschieht notwendigerweise über Vermittlerfiguren (Verleger*innen, Literaturagent*innen, Lektor*innen), die mitunter ihre eigenen Zielsetzun-

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

gen verfolgen. Die zunehmenden Möglichkeiten des self-publishing erlauben zwar einen leichteren Zugang zur Veröffentlichung von Manuskripten, doch sind diese selten lektoriert, werden unzulänglich beworben und erreichen im Normalfall nur eine kleine Leserschaft (vgl. Couser 2009, 32). Ein weiteres Problem, das sich im Publikationsprozess stellt, ist, dass die Autobiographien innerhalb eines literarischen Marktes veröffentlicht werden, der seine mitunter hegemonische Handschrift einer marginalisierten und benachteiligten gesellschaftlichen Gruppe aufdrücken kann in dem Sinne, dass die autobiographischen Geschichten bevorzugten und erwarteten plots und rhetorischen Schemata genügen müssen. Diese hinterfragen Stigmata und Formen der Marginalisierung oftmals (wenn überhaupt) nur indirekt und auf wenig effiziente Weise (vgl. Couser 2009, 33). Einige der häufigsten erwarteten rhetorischen Muster sind, laut Couser, die Narrative des Triumphs, des Schreckens, der spirituellen Kompensation und eventuell der Emanzipation von gesellschaftlichen Erwartungshaltungen in Bezug auf den Umgang mit Behinderung (vgl. ebd.) (s. Kap. 51).

64.4 Forschungsperspektiven In verschiedenen, z. T. interdisziplinären Forschungsfeldern und Fächern wird zu Autobiographien von Menschen mit Behinderung geforscht: Soziologie/Sozialwissenschaften, Disability Studies, Medical Humanities, Literatur- und Kulturwissenschaften sowie Behinderten- und Sonderpädagogik sind hier vorrangig zu nennen. Disziplinenübergreifend besteht die Tendenz, die Autobiographien nicht als ›Bedürftigkeitszeugnisse‹ zu lesen, die aus einer ›Betroffenheitsperspektive‹ heraus berichten, sondern als sozio-kulturell verortete und bedingte Berichte über Behinderung aus der Perspektive des erlebenden Subjekts. »Each of these narratives, it must be stressed, performs a life, not an illness« hält etwa Mita Banerjee (2018, 16) fest. Aus der Sicht der Medical Humanities plädiert sie dafür, Autobiographien nicht als Patient*innenberichte, sondern als wissensgeschichtliche Dokumente zu lesen (vgl. ebd., XIV). Aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Sicht werden Autobiographien von Menschen mit Behinderung zunehmend als komplexe ästhetisch und rhetorisch konfigurierte Texte untersucht. Für die Geisteswissenschaften hat die Forschung über Disability Life Writing-Narrative und Autobiographien von Menschen mit Behinderung generell ei-

ne neue Aufmerksamkeit auf die materiellen Dimensionen des menschlichen Lebens ermöglicht und die Relevanz des Körpers für jedwede Form menschlicher Identität herausgestellt (vgl. Banerjee 2018, 36). Die Disability Studies betrachten die Texte durchaus kontrovers. Couser (1997) etwa liest sie als politisch fortschrittliches und positiv-produktives Gegengewicht zu medizinisch-objektiven Diskursen, die den behinderten Körper umgeben; Andere (vgl. etwa Davis 1995; Mitchell 2000) kritisieren sie als überzogen sentimental und verdächtigen sie, sowohl einen bürgerlichen Individualismus als auch hegemonische Assoziationen zwischen Behinderung und persönlicher Tragödie zu vertreten (vgl. Barrett 2014, 1570). Auch wird bemängelt, Behinderung werde als eine primär individuelle Erfahrung dargestellt, die psychologisierte Gemeinplätze von Kampf und Überwindung perpetuiert und weniger die Muster struktureller Unterdrückung in den Blick nimmt. So tendiere die Gattung zu einem problematischen Individualismus, der die Konfigurierung von Behinderung als soziales Phänomen unterläuft und die Darstellung von Menschen mit Behinderung als isolierte Ausgestoßene ebenso reproduziert, wie die meritokratischen Mythen persönlicher Erfolge, die den zeitgenössischen westlichen Kapitalismus bestimmen (vgl. ebd., 1569). Schließlich sei noch der Einwand in einigen Positionen der Disability Studies erwähnt, dass autobiographische Texte von Menschen mit Behinderung eine Art narzisstische Selbstentdeckung vornähmen, indem sie das Private und Persönliche betonen (vgl. Barrett 2014, 1573). Diese Perspektiven stellen offenkundig nicht in Rechnung, dass Disability Life WritingNarrative und Autobiographien von Menschen mit Behinderung gerade aufgrund ihres persönlichen coming-out emanzipatorische Ziele für Betroffene und für die Mehrheitsgesellschaft verfolgen können.

64.5 Beispiele aus verschiedenen kulturellen Kontexten Im Folgenden werden Beispiele aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten vorgestellt, die verschiedene Arten von Behinderung thematisieren. Georgina Kleege: Sight unseen Die 1999 veröffentlichte Autobiographie der aus den USA stammenden Georgina Kleege möchte erklärtermaßen mit herkömmlichen, stereotypen Vorstellun-

64  (Auto-)Biographie und Erfahrungsbericht

gen von Blindheit aufräumen. Die Autorin, die im Alter von elf Jahren an einer Makuladegeneration erkrankt ist und bei der die Sehfähigkeit im zentralen Sehbereich stark eingeschränkt ist, stellt eine innovative, gleichsam hybride Art autobiographischen Schreibens vor. So gliedert sie ihren Text in drei große thematische Kapitel, in denen sich die persönliche Erfahrung von Blindheit mit ihrer kulturellen und gesellschaftlichen Repräsentation verschränkt. Die Autorin behandelt zunächst die Darstellung von Blindheit im Film und in der Literatur des 20. Jahrhunderts im anglophonen Raum, gibt dann eine phänomenologische Beschreibung von ihren eigenen ›Seherlebnissen‹ (beispielsweise in der Schule, bei der Aufführung eines Theaterstücks, beim Besuch eines Kunstmuseums oder bei einer Lesung) und schließt mit einem Kapitel zum Zusammenhang von Blindheit und Lesen. Durch alle Kapitel zieht sich als Leitlinie eine persönliche, autobiographische Perspektive der Autorin, die als Schriftstellerin und Universitätsdozentin arbeitet. So wird u. a. Bezug genommen auf ihre Tanzausbildung, den familiären Umgang mit ihrer Erblindung, die ärztliche Begleitung, die schulische Sozialisation sowie die soziokulturelle Konstruktion von Normativität. Insgesamt präsentiert sich Kleeges Text als Mischung aus persönlichem coming-out narrative und kulturgeschichtlicher Betrachtung von Blindheit. Den Kapiteln stellt Kleege ein programmatisches Vorwort voran, in dem sie sich von anderen ›blinden Autobiographien‹ absetzt, die auf tendenziell linearen Narrationen von Blindheit basierten und entsprechend stets eine Entwicklungsgeschichte vom Konflikt zur Lösung repräsentierten. Auf diese Weise suggerierten solche autobiographischen Schreibweisen, dass Blindheit den Blinden/die Blinde entweder triumphieren oder scheitern lässt (vgl. Kleege 1999, 4). Demgegenüber stellt die Autorin ihre Erfahrung von Blindheit als Normalität und Teil ihrer Persönlichkeit dar (ebd.). Kleege setzt sich zum Ziel, nicht nur stereotype Vorstellungen von Blindheit, sondern auch die starren und entgegengesetzten Kategorisierungen von ›Sehen‹ und ›Nicht-Sehen‹ aufzubrechen. Insofern ist auch der metaphorisch gewählte Titel Sight unseen programmatisch zu verstehen. Ihr Ansinnen setzt die Autorin über verschiedene Verfahren um: Zum einen spricht sie an verschiedenen Stellen ihres Textes die (sehende) Leserschaft direkt an, durchaus auch mit der Motivation, diese aufzuklären: »I invite the reader to cast a blind eye in both vision and blindness, and to catch a glimpse of sight unseen« (Kleege 1999, 5). Sie

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invertiert auf diese Weise ihre persönliche Situation, indem sie – wie mehrfach im Text beschrieben – sich selbst als Sehende imaginiert bzw. die sie umgebende Welt visualisiert. »I find it easy to imagine what it’s like to be sighted. I had to write this book to learn what it means to be blind« (ebd., 3). Zum anderen ist die Makuladegeneration, bei der die Raumorientierung erhalten bleibt, eine Form gradueller Blindheit. Obgleich Kleege im juristischen und medizinischen Sinne als blind gilt, behält sie physisch ein geringes Sehvermögen und besitzt zudem – nicht zuletzt durch ihre kulturelle Prägung – eine imaginative Sehfähigkeit, die sie in einer Welt entwickelt hat, die ›sehend‹ ist, d. h. stark von Visualität und von visuellen Medien geprägt wird. Kleege fokussiert in ihrer Autobiographie wiederholt diese Abstufungen zwischen Sehen und Nicht-Sehen und kann so Vorstellungen berichtigen, Blindheit bedeute etwa absolute Dunkelheit (vgl. Kleege 1999, 14). Sie spricht in diesem Zusammenhang von »invisible blindness« oder auch »peripheral vision« (ebd., 105). Das Auffächern eines Kontinuums des Sehens wird somit zum zentralen Bestandteil einer Abhandlung über das besondere und das universelle Sehen und unterläuft dichotome Sicht- und Darstellungsweisen von Blindheit (ebd., 5). Blindheit wird als Element einer reziproken »verkörperten Differenz« (Gugutzer/Schneider 2007, 32) gefasst: Das Nicht-Sehen ist vom Sehen so unterschieden wie das Sehen vom Nicht-Sehen. Zugleich wird hierbei die Kategorie ›Blindheit‹ als ein Stereotypen-Reservoir entlarvt und dekonstruiert, das einseitige, kulturell tradierte Vorstellungen ›der Sehenden‹ über ›die Blinden‹ enthält. Naoki Higashida: The reason I jump. One boy’s voice from the silence of autism Die von Naoki Higashida im Alter von 13 Jahren verfasste Autobiographie ist 2007 in Japan erschienen und wurde anschließend ins Englische übersetzt. Der eigentliche Hauptteil des Textes, bestehend aus 58 Fragen, die Higashida zum Autismus und zu seinem Alltagsleben auf jeweils etwa einer Seite beantwortet, wird von zahlreichen Paratexten gerahmt, die einen ersten Hinweis geben auf den hohen Vermarktungsgrad dieser Autobiographie. So folgt auf eine kurze Vorstellung von Higashida mit einigen Informationen zu seiner Biographie, seiner schriftstellerischen Tätigkeit, seinen Vorträgen und seinem Blog, die insgesamt einer editorischen Notiz ähnelt, eine Doppelseite mit Pressestimmen englischer Printmedien, die als eine

362

IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

Art Sammlung von »promotional statements« (Klingenböck 2014, 91) dazu angetan ist, das Interesse der Leserschaft zu wecken. Es schließt sich die Einleitung von David Mitchell an, der die Autobiographie und ihren Entstehungskontext inhaltlich vorstellt. Darin informiert Mitchell über das alphabet grid, eine Methode nicht-sprachlicher Kommunikation, mit deren Hilfe Higashida über die Zeigebewegung auf bestimmte Buchstaben und mithilfe eines Assistenten Wort für Wort seines Textes zusammensetzt. Mitchell – selbst Vater eines autistischen Sohnes – gibt des Weiteren sehr intime Erfahrungen seines Lektüreprozesses von The reason I jump preis, hebt die persönliche Bedeutung des Buches für sich selbst hervor und situiert es im Feld weiterer Texte zu Autismus (v. a. akademische Aufsätze und Elternbiographien), so dass das Alleinstellungsmerkmal von Higashidas Text hervortritt: ein Bericht aus der Sicht eines Betroffenen, der zudem in sehr jungem Alter verfasst wurde (Mitchell 2013, 7). In einem weiteren Vorwort beschäftigt sich Higashida mit der gesellschaftlichen Konstruktion von Normativität und Normabweichungen: »If autism was regarded simply as a personality type, things would be so much easier and happier for us than they are now« (Higashida 2013, 16). Auch legt Higashida die Motivation seiner Autobiographie offen: »[...] my big hope is that I can help a bit by explaining, in my own way, what’s going on in the minds of people with autism. I also hope that, by reading this book, you might become a better friend of someone with autism. [...] From your point of view, the world of autism must look like a deeply mysterious place. So please, spare a little time to listen to what I have to say. And have a nice trip through our world.« (Higashida 2013, 16–17)

Der Hauptteil der Autobiographie besteht neben dem Frage-Antwort-Dialog aus kurzen fiktiven Erzählungen Higashidas und schließt mit einer Kurzgeschichte ab. Themen sind etwa das emotionale und körperliche Empfinden Higashidas, seine soziale Interaktion, seine Alltagsstruktur, seine Wahrnehmung der Welt, sein Zeiterleben, seine Selbstwahrnehmung, seine Kommunikationsfähigkeit, aber auch konkretere Aspekte wie sein Wiederholungszwang oder seine Vorliebe für Zahlen. Die in den Fragen enthaltenen Feststellungen – z. B. »Why do people with autism talk so loudly and weirdly?« (Higashida 2013, 21), »Why can’t you have a proper conversation?« (ebd., 39), »Why do you do

things the rest of us don’t?« (ebd., 85) – sind nicht immer unproblematisch. Zunächst wird im Text nicht transparent gemacht, wer diese Fragen entwickelt hat und wer sie Higashida auf welche Art und Weise stellt. Ein Dialog, bei dem sich die Gesprächspartner*innen auf Augenhöhe begegnen, wird so tendenziell erschwert. Zudem schreiben die Fragen (die bisweilen naiv anmuten und repetitiv sind) ein kategorisches Differenzdenken fest, das von einer dichotomen Scheidung zwischen Normalität und Anormalität, zwischen Nicht-Behinderung und Behinderung ausgeht. Die Fragen werden aus einer vermeintlichen Normalsicht gestellt und markieren autistisches Verhalten als normabweichend. In seinen Antworten nimmt Higashida die Position eines Sprachrohrs für eine community ein. Häufig spricht er in der ersten Person Plural und stiftet auf diese Weise eine ›autistische Gemeinschaft‹. Zudem wird deutlich, dass er seinen Leser*innen die autistische Welt empathisch näherbringen möchte: Er stellt Rückfragen oder bittet die Leserschaft, sich in seine Position zu versetzen. Oftmals enthalten seine Antworten am Ende Wünsche bzw. Appelle und konkrete Handlungsanweisungen: »Please, understand what we really are, and what we’re going through« (ebd., 122). Weiterhin zeigt er sich immer wieder bemüht, Missverständnisse auszuräumen und stereotype Vorstellungen von Autismus aufzubrechen. Im Nachwort heißt es: »I hope that by reading my explanations about autism and its mysteries, you can come to understand that all the obstacles which present themselves don’t come from our selfishness or from ego. If all of you can grasp this truth about us, we are handed a ray of hope.« (Higashida 2013, 177)

Higashida überwindet hier selbst ein Differenzdenken, das bisweilen in den Fragen enthalten war. Autismus und Behinderung werden nicht als das ›Andere‹, sondern als besondere Ausprägung des ›Einen‹ dargestellt. Verena Elisabeth Turin: Superheldin 21. Mein Leben mit Down-Syndrom Die Autobiographie, die die in Deutschland geborene 37-jährige Verena Elisabeth Turin mithilfe der Lektorin Daniela Chmelik verfasst und 2017 im Rowohlt Taschenbuch Verlag veröffentlicht hat, setzt sich aus 21 Kapiteln und einem von Turin geschriebenen Nachwort zusammen. Über einen Zeitraum von ca.

64  (Auto-)Biographie und Erfahrungsbericht

sechs Monaten hinweg haben Turin und Chmelik sich getroffen und an dem Buch gearbeitet. Turin beschreibt die Arbeitsweise folgendermaßen: »Kaum hatte ich mich hingesetzt, hat sie mir schriftlich ganz viele und in Einzelheiten Fragen gegeben. Und auch mündlich. Alle Texte, die ich mit der Hand schreibe, tippt sie in ihren Laptop. Und bearbeitet sie ein bisschen und macht Kapitel und noch mehr Ideen für Themen.« (Turin 2017, 154)

Im Nachwort gibt Turin Auskunft über die Zielsetzung und den Entstehungsprozess des Buches: »In diesem Buch geht es für andere Menschen um mich und meine Gefühle. Damit die Menschen mit anderen Augen sehen. Ich bin eine Frau mit einer Lernschwierigkeit, die nicht darunter leidet« (Turin 2017, 154). Einer impliziten Leidvermutung von Seiten der Leserschaft wird hier entgegengewirkt. Die Kapitel sind jeweils mit einem thematischen Stichwort betitelt, etwa ›Ich‹, ›Heimat‹, ›Zukunft‹, ›Anders‹, ›Superheldin‹, ›Wasser‹, ›Glück‹ und ›Normal‹. Der inhaltliche Schwerpunkt liegt überall auf der Schilderung des Alltags; Zukunftswünsche und Erinnerungen an besondere Ereignisse (Geburtstage, Reisen etc.) spielen eine wichtige Rolle. An wenigen Stellen sind explizite Reflexionen über die Behinderung eingefügt; häufig wird in diesen Passagen Bezug genommen auf die ausgrenzende und stigmatisierende Fremdwahrnehmung, die Turin in Form von starrenden Blicken erfährt. Im ersten Kapitel des Buches, »Ich«, schreibt sie: »Ich habe das Down-Syndrom. Und ich bin okay damit. Ab und zu spüre ich, dass ich behindert bin. Weil Mitmenschen mich komisch anschauen. Wenn ich alleine unterwegs bin. Zum Glück schauen nicht alle. Oft denke ich für mich im Stillen: Was wollen die von mir? Wer interessiert sich wirklich für meine Person und wie ich im Herzen bin?« (Turin 2017, 9)

Das Down-Syndrom stellt Turin als Teil von sich dar, auf den sie jedoch nicht reduziert werden möchte. Diese Autobiographie ist als kollaboratives Projekt anzusehen; tatsächlich ist der Eigenanteil Turins an diesem Text schwer zu ermitteln bzw. es ist nicht auszumachen, wie groß die Eingriffe der Lektorin gewesen sind. Dass der Text jedoch gewissen stereotypen Erwartungen des Literaturmarktes nicht entkommt, zeigt sich exemplarisch auf paratextueller Ebene: Auf der Umschlagseite ist ein Spannungsverhältnis aus-

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zumachen zwischen Turins eigenen Sätzen, die Stereotypisierungen vermeiden wollen (»Normal ist einfach, wie wir selbst sind. Wir allein bestimmen das. Nicht die anderen Menschen«, Turin 2017, 152), und dem übrigen Text, der neue kategorisierende Wahrnehmungsperspektiven aufbaut. So heißt es etwa: »Sie hat Träume wie jeder andere auch. [...] Selbstbewusst erzählt sie vom Leben mit Down-Syndrom [...]. Turin möchte mit Vorurteilen aufräumen, denn das Down-Syndrom, hindert sie nicht daran, ein wunderbares Leben zu führen«. Mögliche Erwartungshaltungen der Leserschaft, dass hier jemand den mit dem Down-Syndrom verbundenen Nachteilen tapfer Widerstand leistet – gewissermaßen ein ständiger Modus des ›dennoch‹ – werden hier scheinbar bedient. Medium YouTube Das YouTube-Video »In my Language« mit einer Länge von 8:36 Minuten wurde von der US-Amerikanerin Amanda Baggs 2007 erstellt und ist seitdem rund 1,5 Millionen Mal aufgerufen worden. Es zeigt im ersten Drittel anhand der Bilder einer Handkamera, wie die Autistin Baggs verschiedene Körperbewegungen mehrfach wiederholt und mit verschiedenen Gegenständen interagiert. Dazu ist ihre Stimme zu hören; Baggs gibt bloße Laute von sich und summt. Nach ca. drei Minuten Laufzeit erscheinen die Worte »A translation« und die Bilder werden nun durch die Stimme eines Sprachcomputers ›übersetzt‹ und untertitelt. Baggs beschreibt ihre individuelle Art und Weise, die Welt sinnlich wahrzunehmen und mit ihr zu kommunizieren. Sie gibt Auskunft darüber, dass sie aufgrund ihres autistischen Zugangs zur Welt häufig diskriminiert wird: »They doubt that I am a real person« (Baggs 2007, 00:06:12). Entsprechend betont sie für die Zielsetzung ihres Videos: »This has not been intended as a voyeuristic freak show« (ebd., 00:07:03). Was dagegen transportiert werden solle, sei der Wunsch, ihr Verhalten nicht zu ›anormalisieren‹ und sie nicht zu stigmatisieren. Sie wehrt sich gegen die Kategorien ›difference‹ oder ›failure‹ und beendet ihr Video mit dem Appell: »Only when the many shapes of personhood are recognized will justice and human rights be possible« (Baggs 2007, 00:07:45). Wie auch in den vorherigen Beispielen liegt ein Fokus dieser autobiographischen (Re-)Präsentation auf der Re-Normalisierung des von der Mehrheitsgesellschaft zu Unrecht als abweichend und andersartig wahrgenommenen Verhaltens von Menschen mit Behinderung.

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

Elternbiographie Der Titel der (Auto-)Biographie von Sandra Schulz, »Das ganze Kind hat so viele Fehler«. Die Geschichte einer Entscheidung aus Liebe (2017), zitiert die Aussage eines Arztes, der die Autorin während ihrer Schwangerschaft begleitet hat. Der Text besteht aus tagebuchartigen Aufzeichnungen, in die teilweise SMS-Nachrichten und Arztberichte eingefügt sind. Die Aufzeichnungen hat Schulz während und nach der Schwangerschaft mit ihrer behinderten Tochter angefertigt. Sowohl die Diagnosen (Trisomie 21, Hydrozephalus und Herzfehler) als auch die Konsequenzen in Form von Kopf- und Herz-OPs in den ersten Lebenswochen werden detailliert beschrieben. Insgesamt umfasst der (auto-)biographische Bericht die Zeit der Schwangerschaft und die ersten beiden Lebensjahre des Kindes. Das Buch stellt den langen und schwierigen Entscheidungsprozess für ein behindertes Kind dar und verschweigt dabei nicht die Erwägung einer Abtreibung. Dabei hinterfragt Schulz in kritischer Weise die Möglichkeiten und Grenzen der Pränataldiagnostik sowie den gesellschaftlichen Umgang mit Behinderung. So spricht sie von der »gläserne[n] Schwangerschaft« (Schulz 2017, 46) und stellt die Vermutung an, »dass wir normabweichendes Leben als vermeidbares Übel von Anfang an verhindern wollen, weil wir es eben verhindern können« (ebd., 227). Diese Tendenz werde nicht zuletzt durch ein umfangreiches Aufklärungsangebot in Frauenarztpraxen gestützt, das die Suche nach Auffälligkeiten und Abweichungen als normal und wünschenswert darstelle (vgl. ebd.). So wird auch die gesellschaftliche Wahrnehmung von Behinderung kritisiert. Auch hier steht am Ende ein Appell: »Ich will, dass Menschen wie Marja leben dürfen« (ebd., 227). Literatur

Baggs, Amanda: In my language. 2007, https://www. youtube.com/watch?v=JnylM1hI2jc (11.03.2020). Banerjee, Mita: Medical Humanities in American Studies. Life Writing, Narrative Medicine, and the Power of Autobiography. Heidelberg 2018.

Barrett, Timothy: De-individualising autobiography: a reconsideration of the role of autobiographical life writing within disability studies. In: Disability & Society 29/10 (2014), 1569–1582. Bruner, Claudia Franziska: KörperSpuren. Zur Dekonstruktion von Körper und Behinderung in biographischen Erzählungen von Frauen. Bielefeld 2005. Couser, Thomas: Recovering Bodies: Illness, Disability, and Life Writing. Madison 1997. Couser, Thomas: Vulnerable Subjects. Ethics and Life Writing. Ithaca/London 2004. Couser, Thomas: Signifying Bodies. Disability in Contemporary Life Writing. Ann Arbor 2009. Couser, Thomas: Body Language: Illness, Disability, and Life Writing. In: Life Writing 13/1 (2016), 3–10. Davis, Lennard: Enforcing Normalcy: Disability, Deafness and the Body. London 1995. Gfrereis, Heike (Hg.): Literatur. Stuttgart/Weimar 2005. Gugutzer, Robert/Schneider, Werner: Der ›behinderte‹ Körper in den Disability Studies. Eine körpersoziologische Grundlegung. In: Anne Waldschmidt/Werner Schneider (Hg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Bielefeld 2007, 31–53. Hall, Alice: Literature and Disability. New York 2016. Higashida, Naoki: The reason I jump. One boy’s voice from the silence of autism. Introduced by David Mitchell. Translated by KA Yoshida and David Mitchell. London 2013. Kleege, Georgina: Sight unseen. New Haven/London 1999. Klingenböck, Ursula: Text-Packungen. Überlegungen zum Paratext und seiner Funktion. In: Michael Fisch/Ute Seiderer (Hg.): Hülle und Haut – Verpackung und Umschlag. Techniken des Verkleidens und Umschließens. Berlin 2014, 86–108. Mitchell, David: Body Solitaire: The Singular Subject of Disability Autobiography. In: American Quarterly 52/2 (2000), 311–315. Mitchell, David: Introduction. In: Naoki Higashida: The reason I jump. One boy’s voice from the silence of autism. Introduced by David Mitchell. Translated by KA Yoshida and David Mitchell. London 2013, 1–12. Mürner, Christian: Autobiografie und Behinderung. Markante Lebensberichte seit 1950. Weinheim 2018. Schulz, Sandra. »Das ganze Kind hat so viele Fehler«. Die Geschichte einer Entscheidung aus Liebe. Reinbek bei Hamburg 2017. Turin, Verena Elisabeth: Superheldin 21. Mein Leben mit Down-Syndrom. Reinbek bei Hamburg 2017.

Berit Callsen

65  Lyrik und Lied

65 Lyrik und Lied 65.1 Typische Merkmale von Lyrik und Lied Lyrik wird allgemein als diejenige literarische Gattung angesehen, die zu bestimmen am schwierigsten fällt. So ziehen sich etwa auch anerkannte literaturwissenschaftliche Nachschlagewerke auf eine Negativ-Bestimmung zurück, wie z. B. das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, in dem es heißt, »Lyrik« sei die Bezeichnung für all jene »Verstexte, die nicht episch oder dramatisch sind« (Fricke/Stocker 2000, 499). In Anbetracht der Tatsache, dass lyrische Texte (die man im Deutschen häufig auch als ›Gedichte‹ bezeichnet, vgl. Burdorf 1997, 1) aber durchaus auch mehr oder weniger episch und auch mehr oder weniger dramatisch sein können und sich etwa eine SubGattung wie die Ballade gerade über die Vermischung erzählender Rede, in Rollenrede sprechender Figuren und »Einzelrede in Versen« (Lamping 2000, 63) definiert, ist eine reine Negativ-Explikation, die auf eine Liste notwendiger und zusammen hinreichender oder auch nur mehr oder weniger typischer Merkmale der Lyrik verzichtet, in ihrer Anwendung problematisch. Merkmale wie der Vers, sprachliche Besonderheiten wie Reim und Metrum, strophische Gliederung, relative Kürze, Selbstreflexivität der Sprache, eventuell sogar Sangbarkeit/Liedhaftigkeit oder Nähe des Sprachmaterials zur Musik werden immer wieder als typische Merkmale von Lyrik genannt. Einige dieser Merkmale sind in der literaturwissenschaftlichen Forschung äußerst strittig, wie z. B. die von einigen Forschenden behauptete Fiktionalität aller lyrischen Texte (für einen Einstieg in die komplexe Debatte vgl. die Rezension von Zymner 2015 zu Hempfer 2014): Kann ein sich im Gedicht äußerndes ›Ich‹ direkt auf den oder die empirische/n Autor/in verweisen? Bedeutet ästhetische Gestaltung eines Textes automatisch Fiktionalisierung der in ihm enthaltenen Äußerungen? – Unstrittig ist dagegen, dass es Lyrik gibt, die politische, soziale oder religiöse Anliegen vertreten soll (sog. ›engagierte Lyrik‹). Die Anlage dazu, Lyrik – verstanden als eine ›besondere‹ Sprachverwendung, bei der »graphisch oder phonisch repräsentierte Sprache« durch »›poetische‹ Verfahren der Symbolisierung, Stilisierung oder auch Fiktionalisierung« zu etwas Besonderem gemacht wird und besondere ästhetische Erfahrungen ermöglicht werden (»making special« von Sprache im Symbol- oder im Sozialsystem Literatur, vgl. Zymner 2013, 14–26) – produzieren zu können, gehört wohl zur anthropologischen Grundausstattung des Menschen.

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Auch in vormodernen oder lokalen Gesellschaften sowie innerhalb der modernen Gesellschaft jenseits des Höhenkamms (als ›Volksvermögen‹ oder ›Populärpoesie‹, vgl. Zymner 2013, 27) gibt es Lyrik. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts setzte sich in der westlichen Welt jedoch die Vorstellung von Kunstautonomie durch: Literatur wurde zunehmend aus ihren ursprünglichen funktionalen Zusammenhängen herausgelöst, ästhetisiert, ökonomisiert und professionalisiert. Dabei wurde insbesondere die Lyrik zu derjenigen Gattung, in der sich ein Ich in seinen persönlichen Befindlichkeiten ausspricht, und das Lied wurde zum Inbegriff dieser gefühlsbetonten subjektiven Lyrik (vgl. Krummacher 2013). Obwohl diese Idee bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von den Modernen verworfen wurde, hält sie sich bis heute in breiten Teilen des öffentlichen Bewusstseins: Lyrik wird – neben der Autobiographie (s. Kap. 64) – häufig als diejenige Gattung angesehen, die für persönlichen Ausdruck authentischer Erfahrungen besonders geeignet ist.

65.2 Menschen mit Behinderung in der Lyrik des 18. und 19. Jahrhunderts Die Darstellung von Menschen mit Behinderung findet sich in der Lyrik vermutlich aller Kulturen. Bereits in den sogenannten Bänkelliedern und den Moritaten des Mittelalters tauchen Menschen mit körperlichen, seelischen oder geistigen Beeinträchtigungen auf. Sie werden dort nicht selten ausgestellt im Sinne eines Spektakels und dienen als Kuriositäten, über die der Rest der Bevölkerung staunt und lacht (vgl. Zeun 2001). Es gibt jedoch auch Lieder und Gedichte, die um christlich motiviertes Mitleid für die Betroffenen werben und somit der Kuriositäten-Ausstellung in der populären Literatur zumindest intentional entgegenstehen – obwohl sie die alten Sehgewohnheiten nicht selten weiterhin bedienen und somit verfestigen. In einem vermutlich älteren Volkslied, das Clemens Brentano und Achim von Arnim 1808 in den dritten Band ihrer romantischen Lieder-Sammlung Des Knaben Wunderhorn (1806 bis 1808 in drei Bänden erschienen) aufnahmen, findet sich z. B. ein Text mit dem Titel »Das bucklige Männlein«. Im Lied äußert sich eine Frau (erkennbar an der in Strophe 6 erwähnten Tätigkeit des Spinnens) und berichtet von ihren Alltagserfahrungen im Zusammenleben mit einem körperlich und vermutlich auch geistig behinderten Menschen. Die besonderen sprachlichen

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_65

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

Mittel des Gedichts – parallel gebaute Strophen und stilistische Einfachheit – erzeugen eine hohe Eindringlichkeit, aber auch eine gewisse Komik: »Will ich in mein Stüblein gehen, / Will mein Müslein essen; / Steht ein bucklicht Männlein da, / Hats schon halber gessen. // Will ich auf mein Boden gehen, / Will mein Hölzlein holen; / Steht ein bucklicht Männlein da, / Hat mirs halber g’stohlen.« Was auch immer die Frau tut, sie wird dabei gestört von jenem »bucklicht Männlein«, das immer schon da ist oder gerade dazu kommt, ihr das Geschirr zerbricht, ins Spinnrad fasst oder sie am Einschlafen hindert. Auffällig abwesend ist eine emotionale Reaktion der Frau auf all diese Störungen. Auch wird ihr Verhältnis zu dem »Männlein« nicht näher bezeichnet: Ist es eventuell ihr Sohn? Der Blick auf das »Männlein« ist der von außen: Auch über seine Gefühle verrät das Gedicht nichts. In der letzten Strophe kulminiert das Lied in einer direkten Adressierung eines wohl gesunden Kindes, das zu Mitgefühl und christlicher Nächstenliebe erzogen werden soll: »Liebes Kindlein, ach ich bitt, / Bet’ fürs bucklicht Männlein mit« (Brentano 1977, 290–291). Die Kommunikation im Gedicht findet also zwischen der Frau und einem Kind – beide ohne Behinderung – statt. Durch die Perspektivierung wird nicht das Schicksal des Betroffenen selbst dargestellt, sondern vielmehr das seiner ihn pflegenden Angehörigen. In der Aufklärung wurde dagegen, ganz im Sinne der angenommenen Perfektibilität des Menschen, eine aktive Haltung der gegenseitigen Solidarität unter Betroffenen und der Selbsthilfe propagiert. Bei Christian Fürchtegott Gellert wird 1776 aus der Behinderung explizit eine Chance, nicht auf Defizite zu fokussieren, sondern sich auf die eigenen Stärken zu besinnen und diese vorteilhaft ins Gemeinwesen einzubringen. Im Gedicht »Der Lahme und der Blinde« spricht Ersterer zu Letzterem: »Entschließe dich, mich fortzutragen / So will ich dir die Stege sagen / So wird dein starker Fuß mein Bein / Mein helles Auge deines sein« (Gellert 1979, 50). Die Moral von der Geschichte folgt in der letzten Strophe: »Beschwer’ die Götter nicht mit Klagen / Der Vorteil, den sie dir versagen / Und jenem schenken, wird gemein / Wir dürfen nur gesellig sein« (ebd.). So wird das Konzept der Behinderung allerdings auch relativiert, da eingeschränkte Mobilität und Blindheit als Metapher für prinzipiell jede Form von Einschränkung oder Unbegabtheit gedeutet werden könnten. Der Zusammenhang von Behinderung und Armutsrisiko (s. Kap. 48) war wohl schon immer augenfällig, so dass sich die Frage nach dem Umgang nicht

nur des Individuums mit Betroffenen in seiner Umgebung, sondern auch einer Gesellschaft mit Behinderung als Phänomen stellte. Armenpflege, und somit auch die Pflege von Menschen mit Behinderung, war seit dem Mittelalter vor allem Aufgabe der Klöster. Erst im 18. und zunehmend im 19. Jahrhundert nahm die Zahl der staatlichen Einrichtungen zu, für die wiederum die Gattung der »Anstaltslieder« entwickelt wurde. 1828 erschienen beispielsweise in Wien die »Lieder für Blinde und von Blinden. Gesammelt und herausgegeben von Johann Wilhelm Klein«, dem dortigen Direktor der Blindenanstalt und einem Pionier der Blindenbildung. In seinen christlich motivierten Liedern sprechen gedichtintern teils Betroffene und drücken eigene Erfahrungen aus, teils spricht der Lehrer zu seinen »Kindern«, um ihnen Mut zu machen: »Dunkel sind uns manche Pfade, / Die den Sehenden so heiter sind; / Doch das Urlicht Deiner Gnade / Leitet uns im dunkeln Labyrinth« (Klein 1828, 8). Die speziellen Heime sollten Menschen mit Behinderung Schutz vor Verelendung bieten, wurden jedoch von den Betroffenen nicht selten auch als Stigmatisierung und Ausgrenzung erlebt, weshalb es etwa in den 1980er Jahren vermehrt ›Anti-Anstaltslieder‹ gab, z. B. »Der Junge aus dem Heim« (1980) von Klaus W. Hoffmann (vgl. Zeun 2001). Auch in so manchem nicht-realistischen Text finden sich Zeugnisse der historischen Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderung, so etwa in Conrad Ferdinand Meyers »Fingerhütchen« (1881/82), einer Ballade in volksliedhaften Strophen, die einen Stoff aus der von Jakob und Wilhelm Grimm herausgegebenen Sammlung Irische Elfenmärchen (1826) lyrisch gestaltet. Erzählt wird die Geschichte eines Mannes, der aufgrund seiner körperlichen Besonderheit ausgegrenzt wird und allein leben muss: »Aber schon in jungen Tagen / Muß er einen Höcker tragen, / Geht er, wunderlicher nie / Wallte man auf Erden. [...] // [...] Und er gäbe sich zufrieden, / Wär er nicht im Volk gemieden / Denn man zischelt mancherlei: / Daß ein Hexenmeister, / daß er kräuterkundig sei / Und im Bund der Geister« (Meyer 1975, 32). Ironischerweise ist dies zu Beginn der Geschichte nur üble Nachrede. Die Pointe ist, dass der Mann am Ende tatsächlich durch Feenzauber – als Dank für einen den Feen erwiesenen Dienst – von seinem Buckel befreit wird. Körperliche Besonderheit wird in der Schlusswendung dabei selbst von den ›guten Feen‹ als etwas bestätigt, das der gängigen Normvorstellung angepasst (›geheilt‹) werden muss: »Weh! Was müssen wir erblicken! / Fingerhütchen, welch ein Rücken! / Auf der

65  Lyrik und Lied

Schulter, liebe Zeit, / Trägst du eine grause Bürde! / Ohne hübsche Leiblichkeit / Was ist Geisteswürde?« (ebd., 34). Die ›Heilung‹ ist ein ›Geschenk‹ der Feen, die sich trotz ihrer Bewunderung und Dankbarkeit – genau wie die Menschen im Dorf – vor dem Mann mit Buckel entsetzen und ihm ›helfen‹ wollen. Körperliche Abweichung wird hier mit moralischer Unzulänglichkeit gleichgesetzt. Auch die Feen mit ihrer Magie folgen letztlich denselben Einstellungen wie die Menschen im Dorf, die ›Fingerhut‹ ausgrenzen. Anzeichen dafür, dass die Textintention von Meyers Märchenballade diese Sichtweise hinterfragen würde, sind nicht auszumachen. Doch nicht nur körperliche Besonderheiten wurden in der Lyrik dargestellt. Auch mentale Abweichungen von der geforderten Norm (gerade im Bereich des Sozialverhaltens) wurden in letzter Zeit in älteren Texten identifiziert. Immer wieder erwähnt wird etwa »Die Geschichte vom Zappel-Philipp« im Kinderbuch-Klassiker Der Struwwelpeter (1844) von Heinrich Hoffmann, die man als frühe Darstellung einer ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung) in der Kinderlyrik und somit als Beleg dafür sieht, dass es ADHS als Störungsbild schon immer gegeben hat (vgl. z. B. Beerwerth 2012, 16–17). Dabei wird gerne behauptet, Hoffmann sei selbst Nervenarzt gewesen und habe sich im Struwwelpeter mit Krankheitsbildern beschäftigt, die ihm in seiner ärztlichen Praxis begegnet seien. Dies erscheint bei näherem Hinsehen jedoch unplausibel, da Der Struwwelpeter zu einer Zeit entstand, als Hoffmann noch in der Chirurgie tätig war (vgl. Zekon-von Bebenburg 2009). Es handelte sich auch nicht um ein Buch im medizinischen Kontext, sondern um ein zunächst als Weihnachtsgeschenk für seinen eigenen Sohn verfasstes Kinderbuch mit zeittypisch primär »pädagogisch-didaktischer Ausrichtung« (Weinkauff/Glasenapp 2014, 24–25): Das Zappeln wird, genau wie das Zündeln (»Die gar traurige Geschichte mit dem Feuerzeug« von Paulinchen), das Tiere-Quälen (»Die Geschichte vom bösen Friederich«) und das Auslachen von Menschen mit dunkler Hautfarbe (»Die Geschichte von den schwarzen Buben«), klar als kindliche Unart, die es durch die drastisch illustrierten Mahngeschichten den Kindern abzugewöhnen gelte, und nicht als Krankheit dargestellt. Menschen mit einer Veranlagung zu den heute unter ›ADHS‹ als Störungsbild zusammengefassten Verhaltensweisen wurden erst im Laufe des 20. Jahrhunderts pathologisiert (vgl. Beerwerth 2012, 22–28). Was als Grund für eine ›psychiatrische Diagnose‹ (im

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Sinne einer Behinderung) angesehen wird und was als akzeptierte Normvariante gilt, unterliegt historischen Wandlungen. So hat die WHO beispielsweise Homosexualität erst 1990 von der Liste der psychischen Krankheiten gestrichen, was aus heutiger Sicht absurd spät erscheint. Die Frage nach der Darstellung ›psychischer Störungen‹ in der Lyrik setzt somit nicht nur voraus, dass man nach Darstellungen von begrifflich damals noch nicht so benannten Konstitutionen sucht, die man heute als Geburtsgebrechen klassifizieren würde, sondern auch, dass man das Konzept der ›psychischen Störung‹ (im Sinne einer nicht akzeptierten, gesellschaftlich sanktionierten Normabweichung) erst einmal für den Entstehungszeitraum eines Textes historisch rekonstruiert. Nicht nur körperliche, auch geistige und seelische Normabweichungen sind (allerdings nicht immer als ›Behinderung‹ gedacht) in lyrischen Textgattungen aber durchaus auch schon vor dem Entstehen der Psychiatrie als Teildisziplin der Medizin im 19. Jahrhundert thematisiert worden. Man kann sogar die These vertreten, dass vorpsychologisches und vorpsychiatrisches Erfahrungswissen besonders häufig gerade in der Dichtung (Poesie) und/oder im Nachdenken über Dichtung (Poetik) verhandelt wurde. Schon in der Antike übte etwa der vermutete Zusammenhang von Dichtkunst und psychischer Besonderheit eine anhaltende Faszination aus. Der Topos vom ›Enthusiasmos‹, dem ›göttlichen Wahnsinn der Dichter‹ (furor divinus sive poeticus, wie er im Neuplatonismus heißt), findet sich bereits in Platons Phaidros, ist fester Bestandteil der griechischen und römischen Mythologie und war auch im Mittelalter »als Gemeinplatz« verbreitet (Curtius 1993, 467). Das Faszinosum der Inspiration (woher nimmt der Dichter seine Ideen?) wird dabei als ein (nicht selten tragisches) Auserwähltsein durch die Götter, die Musen oder den christlichen Gott verstanden. Spekulationen über vermeintliche psychiatrische Erkrankungen gewisser Dichter gehören zudem zum Tenor der Literaturrezeption seit den frühen Phasen der Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Belegt sind Phasen psychischer Akuterkrankung etwa von Friedrich Hölderlin, Friedrich Nietzsche, Georg Trakl oder Sylvia Plath. Dies gab gerade seit den 1960er Jahren im Zuge psychoanalytischer Literaturwissenschaft vermehrt Anlass zu Lesarten literarischer Texte als Darstellungen psychischer Störungen des empirischen Autors oder der empirischen Autorin (vgl. z. B. Fitzgerald 2005; Bevilacqua 2010; Schuetze 2010; Schenk 2017). In derartigen Beiträgen wird u. a. diskutiert, inwieweit

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

eine psychische Ausnahme-Konstitution die Grundlage von künstlerischer Kreativität überhaupt sei. Stützen können sich solche Ansätze z. B. auf zahlreiche Gedichte seit der Jahrhundertwende (um 1900), in denen Dichter sich z. T. explizit mit Psychologie, Psychiatrie und vor allem der aufkommenden Psychoanalyse beschäftigten (z. B. Hermann Hesses Gedicht »Schizophren« von 1926; vgl. dazu Padularosa 2017; vgl. auch Nau 2003). Immer wieder thematisiert wird auch der Zusammenhang von Melancholie, Trauer und dichterischer Produktion (vgl. Häfner 2014; Hayer 2018). In der zeitgenössischen Kunstpädagogik und Psychotherapie gibt es mittlerweile viel Fachliteratur und Lebenshilfe-Bücher zum Thema Dichten als Selbsttherapeutikum bzw. Einsatz von Gedichteschreiben in der Förderdidaktik an Schulen (vgl. für einen neueren Literaturüberblick Mehli 2018, 94–96; Bramberger 2018, 203–234).

65.3 Sozial engagierte Lyrik über Menschen mit Behinderung im 20. Jahrhundert Gerade in der Lyrik um die Jahrhundertwende (1900) werden körperliche Beeinträchtigungen wie etwa Blindheit aber auch idealisiert und sakralisiert. Detaillierte Untersuchungen liegen etwa zu Rainer Maria Rilkes »Poetik des Blinden« (Hlukhovych 2007; Landgren 2012) vor. Einen eigenen, die Idealisierung nicht selten kontrastierenden Teilbereich bildet jedoch die sogenannte ›Krüppellyrik‹, die häufig im Zusammenhang mit großen Kriegen entstand. Während des Ersten Weltkriegs erlangten pazifistische Gedichte wie Albert Ehrensteins »Dem ermordeten Bruder« (1917) Berühmtheit, weil sie die körperliche und geistige Versehrtheit von Menschen nach einem Fronteinsatz ungeschönt thematisierten – während ein Großteil der zeitgenössischen Lyrikproduktion der pathetischen Inszenierung von Kampf und Heldentum verpflichtet war. Auch Wilfred Owens Gedichte aus den Schützengräben und Lazaretten wären hier zu nennen. In jüngster Zeit gibt es jedoch literaturwissenschaftliche Debatten, auf welche Art Gedichte wie Owens »Disabled« (1917) kontextualisiert werden müssten (»He sat in a wheeled chair, waiting for dark, / [...] / Legless, sewn short at elbow. [...] / Now he will never feel again how slim / Girl’s waists are, or how warm their subtle hands; / All of them touch him like some queer disease«; Owen 1952, 75). Aus heutiger Sicht erregt ein solcher Text, geschrieben »50 years before the modern disability movement«, offen-

bar Unmut: Durfte Owen einen kriegsversehrten jungen Mann im Gedicht derart melancholisch über seinen Verlust sinnieren und sich selbst als passives Opfer erleben lassen? Sozialhistorische Forschungen betonen jedoch, die Darstellung von Erfahrungen der Kriegsversehrten in Owens Lyrik sei vor allem ein sozialkritisches Statement und als solches »related to early-twentieth-century British society: in particular to the initial patriotic enthusiasm for the War, to the influence of gender roles and to the limitations of state provision« (Borsay 2015, 499). Es gehe weniger darum, den Betroffenen wirklich eine Stimme zu geben, als vielmehr darum, die Nicht-Betroffenen für die Notwendigkeit politischer Veränderungen zu sensibilisieren. In Deutschland war es u. a. Erich Kästner, der mit seiner sozialkritischen Lyrik auf die wirtschaftliche Misere, aber auch auf die soziale Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung aufmerksam machte, z. B. im Gedicht »Der Blinde an der Mauer« von 1931. Das Gedicht berichtet aus der Perspektive eines Betroffenen von der Erfahrung, blind zu sein und übersehen bzw. ignoriert zu werden: »Ohne Hoffnung, ohne Trauer / Hält er seinen Kopf gesenkt. / Müde hockt er auf der Mauer. / Müde sitzt er da und denkt: // Wunder werden nicht geschehen. / Alles bleibt so, wie es war. / Wer nichts sieht, wird nicht gesehen. / Wer nichts sieht, ist unsichtbar« (Kästner 1936, 94). Der transzendentale Trost, den Kleins »Lieder für Blinde und von Blinden« (1828) versprochen hatten, fehlt dem Blinden in der modernen Großstadt. Kästners Blinder wirbt für Verständnis durch imaginierte Perspektivübernahme, indem er die achtlos Vorübergehenden anspricht: »Tretet näher! Laßt euch nieder, / bis ihr ahnt was Blindheit ist. / Senkt den Kopf, und senkt die Lieder, / bis ihr, was euch fremd war, wißt« (ebd.). Diese Art von sozialkritischer Lyrik, in der (imaginierte) Betroffene sich als Lyrisches Ich äußern, ihre (von meist nicht betroffenen Autor*innen imaginierten) Erfahrungen schildern und somit für Verständnis und Respekt werben oder diese einfordern, wird in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer verbreiteter (zu »[b]linde[n] Figuren in Texten sehender Autoren« vgl. grundsätzlich Merkle 2000). 1974 veröffentlichte beispielsweise die österreichische Kinderbuchautorin Christine Nöstlinger (zunächst in Mundart) ihren sozialkritischen Gedichtband »Iba de gaunz oaman Kinda«. Im gleichnamigen Gedicht spricht in jeder Strophe ein auf je andere Weise besonderes Kind (»I scheangl« [Auf Hochdeutsch: Ich schiele] / »I schtotta« [Ich stottere] / »I hadsch« [Ich hinke] / »I zuzl« [Ich lispele] / »I bin blad« [Ich bin blöd], Nöstlinger 1996, 13–15)

65  Lyrik und Lied

und berichtet in reimlosen Freien Versen unterschiedlicher Länge, die die kindliche Alltagssprache imitieren, aus der Betroffenenperspektive von seinen je eigenen Erfahrungen der Ausgrenzung und Abwertung. Das schielende Kind wird ausgelacht, vor allen Dingen, wenn es auch noch mit einem vom Augenarzt abgeklebten Auge zur Schule gehen muss. Die Pointe am Schluss dieser Strophe ist, dass das Ausgrenzen als Reaktion der anderen Kinder auf ihre Angst, selbst ausgegrenzt zu werden, entlarvt wird: »Und am lautesten lacht der Karli. / Der lacht dann so viel und so laut, / daß die anderen gar nicht merken, / daß er noch viel mehr schielt als / ich«. In dieser hochdeutschen Übersetzung hat es die erste Strophe des Gedichtes (unter dem Titel »Ich schiele«) in zahlreiche Lesebücher und GedichtAnthologien für Kinder geschafft (z. B. Die Wundertüte 1989, 219). Die anderen Strophen sind weniger bekannt. Das gehbehinderte Kind etwa berichtet von den diskriminierenden Reaktionen anderer Menschen: »De an schaun wegga, / ois dedads di / goa ned gem, / und de aundan / schaun bled / und frogn: / Wia isn bassiad? / Daun dazöd / mei Mama / de gaunze Gschichd / und i schde danem / und huach ma des au. / Aum liabsdn / rennad i daun davau, / owa des kaun i ned, / weuli hadsch!« [Die einen schauen weg, / als täte es dich / gar nicht geben, / und die anderen / schauen blöd / und fragen: / Wie ist es denn passiert? / Dann erzählt / meine Mama / die ganze Geschichte / und ich steh daneben / und hör mir das an. / Am liebsten / würde ich dann davonrennen, / aber das kann ich nicht / weil ich hinke!] (Nöstlinger 1996, 14)

Bezeichnend ist die Erfahrung, von anderen übersehen und sogar von den eigenen Bezugspersonen mundtot gemacht zu werden, ist es doch die Mutter, die in dieser Strophe »die ganze Geschichte« erzählt, während das Kind »daneben« steht und sich sehr unwohl fühlt in seiner Lage. Erst in der Schlussstrophe taucht ein neues Selbstbewusstsein des betroffenen Kindes auf, das auf die Ausgrenzung mit Trotz reagiert: »I bin blad. / Dass mi olle / Blade / hassn, / schdead mi ned. / Und / dass iba mi / lochn / a ned« [Ich bin blöd. / Dass mich alle / Blöden / hassen, / stört mich nicht. / Und / dass sie über mich / lachen / auch nicht.] (ebd., 15).

Doch endet auch diese letzte Strophe in einer negativen Erfahrung von Selbstentfremdung: Das Kind kommt sich, abends nackt in der Badewanne, vor, als wenn es gar nicht es selbst wäre: »daun / grausd ma /

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vua mia, / so / wia wauni / goa ned / i söba wa!« [dann / graust mir / vor mir / so / als wenn ich / gar nicht / ich selber wäre!] (ebd., 15).

65.4 Lyrik für Betroffene und Lyrik von Betroffenen Neben der Kunst-Literatur gibt es mittlerweile auch eine große Anzahl von Projekten, in denen ein ganz praktischer Umgang mit Lyrik oder sogar die Produktion eigener Gedichte für oder mit Betroffene(n) gepflegt wird. Sprachliche Phänomene wie Reim und Vers (als rhythmisierte, »durch Wiederholung/Parallelisierung« und »prosodische Äquivalenz geprägte Lautäußerungen«, Zymner 2013, 293) sprechen offenbar auch Personen mit Alzheimer positiv an. Hierbei können pränatal angelegte (›protolyrische‹) Kompetenzen aufgerufen werden, wie etwa die ›Verdrahtung‹ von Laut, Rhythmus, Bewegung und Emotionen, die jeder Fötus bereits im Mutterleib erfahren hat, so dass auch bei Menschen mit Alzheimer lyrische Sprache, gerade auch in Kombination mit Bewegung, zum Auslöser eigener Emotionen werden, zur Stressregulation und zu Formen des Selbsterlebens führen, aber auch als »Verfahren zur Kommunikation von Erlebnisqualitäten« dienen kann (vgl. ebd., 296–303). Der Wortwitz, der sich z. B. aus dem Ringen nach Ausdruck der von Alzheimer betroffenen Personen manchmal ergibt, kann dann auch nicht-betroffene Leser*innen und Zuhörer*innen begeistern, wie etwa der deutschlandweit erfolgreiche Poetry-Slammer Lars Ruppel mit seinem Buch Geblitzdingst: Slam-Poetry über Demenz (2016) zeigt. Im Bereich der Kunsttherapie und der Gerontologie haben sich die therapeutischen, Kreativität, Teilhabe und Lebensfreude befördernden Einsatzmöglichkeiten von Lyrik und poetischer Produktion inzwischen gut bewährt, wie etwa Gary Glanzers »Alzheimer’s Poetry Project« (http:// www.alzpoetry.com/company) in den USA zeigt. Die Veränderung des Blickwinkels, aus dem Behinderungen und körperliche wie geistige Abweichungen von der Mehrheit der Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten und vor allem in den letzten Jahren betrachtet werden, schlägt sich auch in der Populärkultur nieder. Die Defizitorientierung ist vielerorts einer Ressourcenorientiertheit gewichen. Statt von Störungen wird in vielen sozialen und gesellschaftlichen Kontexten zunehmend von Besonderheiten oder schlicht von Gegebenheiten gesprochen. So lehnen es führende Fachvertreter*innen beispielsweise mittlerweile ab, von ›Au-

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

tism Spectrum Disorder‹ zu sprechen, und nennen das Phänomen mittlerweile ›Autism Spectrum Condition‹ (Baron-Cohen/Scott/Allison 2009), da viele Menschen mit Autismus ihr Sosein nur als Behinderung erfahren, wenn von ihnen erwartet wird, in einer für sie ungünstigen Umgebung zu funktionieren. Behinderung wird auch nicht mehr als angeborene körperliche Eigenschaft gesehen, sondern als Einschränkung, die erst in der Interaktion von persönlichen, sozialen und gesellschaftlichen Verhältnissen entsteht, in denen betroffenen Menschen keine volle Teilhabe möglich ist. Die neue Perspektive auf Behinderung wird auch dadurch befördert, dass vermehrt Betroffene selbst als Produzierende von Lyrik und Songs hervortreten. Im Zuge des ›Disability Poetics Movement‹ seit den 1960er Jahren entwickelten sich beispielsweise – ausgehend von den USA – sogenannte ›Deaf Slams‹ als Events, bei denen Gehörlose nach den Regeln des Poetry Slams ihre Gedichte – geräuschlos, dafür aber mit vollem Einsatz von Gebärdensprache und Mimik – auf einer Bühne vortragen (vgl. dazu z. B. Kuhnert 2013) (s. Kap. 67). Um über die Community der Gehörlosen hinaus ein breiteres Publikum zu erreichen, werden diese Auftritte gelegentlich auch simultan übersetzt in Lautsprache (vgl. z. B. http://www.sichtbar-gehoer lose.ch/integration-veranstaltungen/kultur/deafslam -2/). Dabei steht meist der spielerisch-kreative Umgang mit der Gebärdensprache im Mittelpunkt. Auch wenn das Format klar dem Poetry Slam, also der Präsentation eigener Lyrik in gesprochener Sprache in Form eines Wettstreits, nachempfunden wird, ist beim Deaf Slam die Gattung des vorgetragenen Textes weniger bestimmend als vielmehr die Performance und der Akt der Selbstermächtigung des Gebärdenden: »[...] come up and rap, rhapsodize and rehash or just relate in sign language« (https://www.aslslam.com/), so die Aufforderung eines der prominentesten Veranstalter in Amerika. Ein anderer Ausdruck des ›Disability Poetics Movement‹ sind die von sich selbst ironisch als ›crip poets‹ bezeichneten Künstler*innen, die lyrische Formen in ihrer Verbindung zur Performance gestalten und auf diese Art ihre eigenen, von Wahrnehmungsgewohnheiten und Bevölkerungsmehrheiten abweichenden Körper frei vorzeigen und feiern, wie etwa Jim Ferris, Kenny Fries und Petra Kuppers (vgl. dazu Kuppers/ Marcus 2008). Als erste englischsprachige Anthologie und gleichzeitig als wirkmächtiger Prototyp ›authentischer‹ Lyrik über die Erfahrung von Behinderung von selbst betroffenen Autor*innen gilt in den USA die Sammlung Toward Solomon’s Mountain. The Experi-

ence of Disability in Poetry von 1986. Allerdings muss aus literaturwissenschaftlicher Sicht auch bemerkt werden, dass sich hier ein Lyrik-Bild des 19. Jahrhunderts re-aktualisiert, wenn vorausgesetzt wird, Lyrik sei diejenige Gattung, in der solch subjektive Erfahrungen besonders gut ›kommuniziert‹ werden könnten (vgl. Baird/Workman 1986, 3) – während die Sprache in Gedichten ja eigentlich gerade gegenüber der Alltagssprache verfremdet und ›ästhetisiert‹ ist. Bekannt wurde in letzter Zeit auch die ähnlich aufgebaute Anthologie Beauty is a colour von 2011 (vgl. hierin auch die Einleitung »Short History of American Disability Poetry« von Michael Northen): »[T]his new disability poetry include the desire to challenge stereotypes, to celebrate disabled experience, and to explore the possibilities of the new poetic forms that are generated from the perspectives of ›abnormal‹ bodies and minds« (Hall 2015, 156). In Deutschland betätigen sich z. B. auch Menschen mit Trisomie 21 als Lyriker*innen. Einige ihrer Texte werden im Magazin Ohrenkuss (https://ohren kuss.de/projekt/) veröffentlicht, das 1998 gegründet wurde, um der breiten Öffentlichkeit zu zeigen, dass Menschen mit Down-Syndrom sehr wohl ihre eigene Zeitschrift herausgeben und alle Beiträge (u. a. auch die literarischen) selbst verfassen können.

65.5 Behinderung im Kinderlied Kinder können bekanntlich grausam sein. Um Verständnis für Kinder, die von Behinderung betroffen sind, wird daher auch in zahlreichen Kinderliedern geworben, z. B. im schweizerdeutschen »Mini Farb und dini« [Meine Farbe und deine], das bis heute in vielen Kindergärten gesungen wird. Mit Zeilen wie »Lachsch ab däm, wo e Brille hät. / Meinsch ned au, dass er kini wett?« [Lachst du über den, der eine Brille trägt. / Meinst du nicht auch, dass er lieber keine hätte?] und »S hät mol eine en Buggel gha. / Hilf ihm doch, s isch en alte Maa!« [Es hat einmal jemand einen Buckel gehabt. / Hilf ihm doch, es ist ein alter Mann!] (http:// www.swissmom.ch/chinder-musig-waelt/lied/minifarb-und-dini/) wird jedoch auch die Einstellung zementiert, körperliche oder geistige Normabweichungen seien etwas Schlimmes, Nicht-Betroffene müssten Mitleid haben und die Betroffenen wünschten sich immer, lieber auch ›normal‹ zu sein wie die Anderen. Neuere Kinderlieder tragen dem Disability Rights Movement mehr Rechnung und fordern statt Mitleid ein unaufgeregtes Verhältnis zu Menschen mit Behinderung und volle Teilhabe der Betroffenen an allen so-

65  Lyrik und Lied

zialen Bereichen. Ein Beispiel ist »Nelli oder was heißt schon normal«: »Meine Schwester Nelli, die hab’ ich wirklich gern / Wenn wir zusammen spielen, dann sollt’ ihr uns mal hörn! / Quatschen, kichern, toben [...] / Neulich war’n wir in der Stadt ein Geschenk für Papa kaufen / Weil der bald Geburtstag hat und wie wir da so laufen / Da dreh’n sich Leute nach uns um und das hat seinen Grund / Denn Nelli ist behindert, doch ich sag’ ›na und‹! // Was heißt schon behindert und was heißt schon normal? / Wie man auf die Welt kommt, da hat man keine Wahl / Dass keiner wie der andre ist, das ist doch normal! / Ob so, ob so, ob so, na und! / Dass wir so verschieden sind, das macht die Welt erst rund.« (Sarholz/Meier 2007)

65.6 Popsongs über Menschen mit Behinderung Nicht nur im Liedgut für Kinder, auch in der Populärkultur, im Rock- und Popsong und bei Liedermachern und Chansonniers der letzten Jahrzehnte finden sich eine große Zahl von lyrischen Texten, in denen es um Behinderung geht (für eine recht ausführliche Liste vgl. z. B. Zeun 2001) (s. Kap. 66). Dabei wurde gelegentlich der Topos variiert, dass die Behinderung eigentlich eine Chance sei und Betroffene gerade aus ihrer Besonderheit und/oder den damit in ihrem sozialen Umfeld gemachten negativen Erfahrungen auch etwas Großartiges machen könnten, so etwa im Song »Johnny Blue« (1981) von Lena Valaitis. Hier wird die Kindheit eines blind geborenen Jungen als besonders traurig beschrieben. Johnny habe sich gewünscht, mitspielen zu dürfen und von den anderen Kindern akzeptiert zu werden; da das jedoch nicht der Fall gewesen sei, habe er seine Traurigkeit in Musik umgewandelt und sei so in der Lage gewesen, die ergreifendsten Lieder zu spielen. Die deutsche Erfolgsband Pur widmete sich gleich in mehreren Liedern verschiedenen Besonderheiten, so etwa im Lied »Ich will kein Inmich mehr sein« (1998 auf dem Album Mächtig viel Theater), in dem ein nicht-personaler Erzähler die Krankengeschichte eines Jungen aus der Perspektive seiner Eltern beschreibt, ehe im Refrain – angelehnt an die Autobiographie des Autisten Birger Sellin (1993) – der Betroffene selbst zu Wort kommt und sich über sein eigenes Erleben und seine Wünsche nach zwischenmenschlicher Interaktion äußert: »Einsam, traurig, Kasten-

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mensch / Lebendig begraben, ein steinernes Wesen / Das mich im Kerker gefangenhält / Wo ist der Weg in die wichtige Welt? / Ich will raus hier / Aus der Kistenwelt / In die wirre Welt / Ich will kein Inmich mehr sein« (Pur). In einem anderen Lied, »Mein Freund Rüdi« (1991 auf dem Album Nichts ohne Grund), beschreibt der Texter und Frontman der Band, Hartmut Engler, seine Beziehung zu einem Menschen mit Trisomie 21. Dabei wird betont, dass in Bezug auf Musik und Freundschaft die Behinderung nicht nur keine Rolle spiele (»Keiner rockt, wie er das tut. / Er hat den Groove total im Blut. / Er muß da mit, er grinst vor Glück: / Mein Freund Rüdi lebt Musik. // Vor und zurück, er flippt und schwitzt / oft stundenlang, kennt jedes Lied. / Und wer den Tiger tanzen sieht, / vergißt den Zufallsunterschied«; ebd.); der Behinderung wird vom ›Ich‹ im Lied sogar etwas Positives abgewonnen, denn durch die besondere Begeisterungsfähigkeit Rüdis wird das Ich selbst auch achtsamer und fühlt sich wieder an den Wert des Lebens und der Freundschaft erinnert. Diese positive Einstellung prägt auch die PurLieder »Frau Schneider« (über eine ältere Dame mit Alzheimer-Demenz, 2009 auf dem Album Wünsche) und »Leonie Tamina« (2012 auf Schein & Sein) über ein Mädchen mit Spina Bifida und Hydrocephalus. Ähnlich auf die positiven Seiten fokussiert ist die Darstellung von Behinderung auch in Herbert Grönemeyers Song »Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist« (1983 auf dem Album Gemischte Gefühle, einem der ersten Alben, die sozialkritische Positionen in die Mainstream-Popmusik hineinholten) über ein Mädchen mit Schwerhörigkeit, das es liebt und genießt, die Vibrationen lauter Musik zu spüren. Anfang der 1980er Jahre widmeten sich sonst eher Liedermacher und sozialkritische Punkbands dem Thema Behinderung, etwa in den Songs »Depperts Kind« (1980) von Georg Danzer oder »Kaspar Hauser« (1981) von Reinhard Mey. Bei so manchem Popsong entsteht der Bezug zu Behinderung auch nicht durch die Lyrics selbst, sondern nur durch ›Epitexte‹, wenn z. B. Schlagerstar G. G. Anderson in Interviews verlauten lässt, der Song »Du bist mein kleiner Diamant« (auf dem Album Alles wird gut von 2019) sei seinem autistischen Sohn gewidmet.

65.7 Songs von Betroffenen All dies sind Lieder über Betroffene. Im Zuge des Disability Rights Movements melden sich aber auch zunehmend Menschen mit Behinderung zu Wort, um

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

trotz oder gerade wegen ihrer Behinderung als Akteure an der Musikbranche teilzunehmen und/oder ihre Besonderheit in Form von Song-Lyrics zu thematisieren. Unter Teenagern beliebt sind beispielsweise momentan die Rap Songs von Mister S. »Zusammen sind wir stark« (https://www.youtube.com/watch?v=BY_ Ib1pfdTA), »Fluch oder Segen« (https://www.you tube.com/watch?v=aE7iNnv3wrc) und »Einfach nur autistisch« (https://www.youtube.com/watch?v=9uOz bQvSpj4) über sein Leben mit dem Asperger-Syndrom. In »Klartext« (2014, einsehbar unter https:// leidmedien.de/aktuelles/graf-fidi-song-klartext-rapueber-medien-und-behinderung/) fordert der im Rollstuhl sitzende Rapper Graf Fidi die Medien auf, ihn nicht ständig als leidendes Opfer darzustellen, sondern sich mit seinen Texten zu beschäftigen: »Lieber Journalist, ich bin nicht an den Rollstuhl gefesselt, schreib doch lieber, dass ich Spaß hab und auch voll gut im Rap bin. Mhm, nein, ich leide nicht an einer Behinderung, ich fühl mich gut, so wie du, schreibt das auf, ich bin gesund. Durch solche Sätze entstehen negative Bilder, als wären wir hilflose, 10jährige Kinder. Ich bin 32 und kein Baby auf dem Wickeltisch [...].« (https://leidmedien.de/aktuelles/graf-fidi-songklartext-rap-ueber-medien-und-behinderung/)

Texte wie diese dürfen wohl trotz der künstlerischen Selbstinszenierung als vor allem autorfaktual (Zymner 2009, 11–12) gelten, d. h. im Gedicht spricht der Autor/die Autorin erkennbar nicht mit der Stimme einer fiktiven Figur, sondern als er/sie selbst, und er/sie äußert sich über Tatsachen aus der Wirklichkeit und vertritt einen Standpunkt, für den er/sie als empirische Person außerhalb des Gedichtes einsteht. Ein anderes Beispiel für solch selbstbewusste Darstellungen bietet das Rapper-Duo ›Gewitter im Kopf › – zwei Teenager, einer mit Tourette-Syndrom und einer ohne, die ihren eigenen Youtube-Kanal betreiben und etwa im mittlerweile fast drei Millionen mal geklickten Song »Zeig dein Gesicht« (https://www. youtube.com/watch?v=smgAYfAEBjQ) zu mehr Stolz und Teilhabe ermutigen (s. Kap. 52): »Versteck dich nicht [...] / Zeig dein Gesicht der ganzen Welt die nur den Standard kennt / Du bist einzigartig lässt dir nichts verbieten [...] / Wenn sie gehen weil du anders bist haben sie dich nicht verdient / Lass sie stehen denn es gibt genug Menschen, die dich lieben / Und es geht hey / Du musst einfach nur den Mut haben, wir entrümpeln alle Schubladen / Wir können je-

dem unsere Hand reichen / Lassen uns von nichts und niemandem mehr angreifen / Also bitte sei wie du bist / Bleib wie du bist / Du kannst hier sein wer du bist / Zeig dein Gesicht / Im Scheinwerferlicht / Auch wenn es nicht der Norm aller Zweifler entspricht / [...] / Zeig ihnen wer du bist und lass sie sagen / Du wärst anders, genau darauf bist du stolz [...].« (https://www.youtu be.com/watch?v=smgAYfAEBjQ)

Zum Teil werden solche Lieder auch nicht von Betroffenen gemacht, sondern in Auftrag gegeben. 2013 gab die Antidiskriminierungsstelle des Bundes beispielsweise den Titelsong zum Themenjahr »Selbstbestimmt dabei. Immer« (https://www.youtube.com/ watch?v=DGFbNRQxjMc) heraus, oder das vertonte Vereinsmotto »AndersSein vereint – Inklusionssong für Deutschland« von »Grenzen sind relativ e. V.« (https://www.youtube.com/watch?v=KPi9ZNp-YJQ). – Bereits 1981 zeigte der selbst nach einer Kinderlähmung in seiner Mobilität eingeschränkte Ian Dury jedoch mit seinem provokativen Song »Spasticus Autisticus« (auf dem Album Lord Upminster), geschrieben als Protest gegen das International Year of Disabled Persons und die Praxis des ›Charity Songs‹, dass solche Anlässe und Lieder auch als ›Patronisierung‹ (als Bevormundung und Gängelung) erlebt werden können. Gerade wenn es um die Performance von Menschen mit Behinderung bei Anlässen des populären Mainstream-Showbusiness geht, entstehen noch immer häufig Kontroversen. Beim Eurovision Song Contest 2015 beispielsweise war Finnland durch die Punk-Metall-Band Pertti Kurikan Nimipäivät vertreten, die aus vier Männern mit geistiger Behinderung besteht. Kontrovers wurde diskutiert, ob solche Auftritte ein Ausdruck gelingender Inklusion (s. Kap. 16) seien oder ob sie von Teilen des Publikums immer noch aus Voyeurismus geschaut würden, ähnlich wie es bei der Zurschaustellung von Menschen mit besonderen Merkmalen auf Jahrmärkten bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein (s. Kap. 28) Praxis war. Literatur

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Sonja Klimek

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

66 Musik 66.1 Musik als alternative Kommunikationsform Musik kann als Ausdrucks- und Kommunikationsmedium eine Alternative zu sprachbasierten Interaktionsformen bieten. Dadurch ist Musik besonders geeignet, um Menschen zu erreichen, die aufgrund von kognitiven, emotionalen oder körperlichen Besonderheiten Schwierigkeiten mit den verbreiteten verbalen Ausdrucks- und Kommunikationsformen haben. Menschen mit Behinderungen unterscheiden sich nicht von der Gesamtbevölkerung in ihrem Interesse und ihrer Freude an Musik (Bhatara/Quintin/ Fombonne u. a. 2013). Diese Freude an Musik ist ein wichtiger intrinsischer Motivator, der musiktherapeutischen Interventionen besondere Relevanz verleiht. Im geschützten Rahmen einer Musiktherapie können beispielsweise zwischenmenschliche Interaktionen auf spielerische und angenehme Weise erprobt werden. Zwischenmenschliche Erfahrungen und Beziehungen sind für die kognitive und emotionale Entwicklung eines jeden Menschen essentiell (Stern 1985). Gerade für Menschen, die aufgrund einer Behinderung nicht am gesellschaftlich üblichen Austausch teilhaben können, ist es wichtig, dass alternative Kommunikationsformen und Situationen angeboten werden, in denen soziale Interaktionen erlebt, geübt und genossen werden können. Der Psychiater Daniel Stern hat nicht nur die Bedeutung von wechselseitiger Kommunikation für die Entwicklung betont, sondern auch darauf hingewiesen, dass die frühen Interaktionen zwischen Babys und Bezugspersonen eine ausgeprägt musikalische Qualität haben. Diese inhärente Musikalität der ersten Kommunikation bildet einen wesentlichen Bestandteil früher sozialer Erfahrungen (Pavlicevic 2005). Die auffallenden Ähnlichkeiten zwischen Eltern-KindKommunikation und musikalischer Interaktion umfassen die Verwendung von Rhythmus, Melodie, Dynamik, Intensität, Struktur und Zeitmaß (Papousek 1996). Darüber hinaus sind beide Interaktionsformen nonverbal, intuitiv, spontan und spielerisch (Oldfield/ Bunce 2001). Die Mutter oder der Vater passen sich dem emotionalen Ausdruck des Kindes oft automatisch an, indem sie beispielsweise ihren Sprachrhythmus mit den kindlichen Bewegungen synchronisieren oder indem sie die Tonhöhe ihrer Stimme auf die des Kindes abstimmen. In ähnlicher Weise passen sich auch Musiktherapeut*innen ihren Klient*innen

an und imitieren, spiegeln, unterstützen oder ergänzen deren musikalischen Ausdruck. Dadurch wird der Person dabei geholfen, eigene Emotionen zu spüren und zu regulieren, sich selbst und das Gegenüber besser wahrzunehmen und in einen Austausch mit ihm zu treten. Menschen aller Kulturen und mit allen körperlichen, geistigen und psychischen Voraussetzungen besitzen diese angeborene communicative musicality (Malloch/Trevarthen 2009) und können deshalb auf der vorsprachlichen Ebene Gefühle austauschen und Gemeinschaft erleben.

66.2 Musiktherapie mit Menschen mit Behinderungen »Musiktherapie ist der gezielte Einsatz von Musik im Rahmen der therapeutischen Beziehung zur Wiederherstellung, Erhaltung und Förderung seelischer, körperlicher und geistiger Gesundheit« (Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft 2020). Musiktherapie bezeichnet eine Profession, deren Ausübung einer speziellen Ausbildung bedarf und die Kompetenzen wie Musikalität, Sensibilität und Reflexionsfähigkeit sowie umfassende Kenntnisse insbesondere der Psychologie, Musikwissenschaft und Pädagogik voraussetzt. Das Gesundheitssystem in Deutschland bietet primär verbal ausgerichtete Psychotherapieformen an, die gerade für viele Menschen mit geistigen Behinderungen nicht oder nur unzureichend zugänglich sind. Diese Versorgungslücke kann besonders gut durch Musiktherapie ausgefüllt werden (Neugebauer 2008). Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Behinderungen stellen damit auch eine wichtige Zielgruppe der Musiktherapie dar, die von Anfang an die Entwicklung und Praxis des Berufsfeldes geprägt hat. Musiktherapie für Menschen mit Behinderungen wird in sehr verschiedenen Kontexten angeboten. Kinder und Jugendliche nehmen an den Therapiesitzungen häufig in Frühförderzentren, Kindergärten oder Schulen teil. Erwachsene nehmen Musiktherapieangebote vorwiegend in Wohnheimen, Tagesförderstätten oder Berufsförderwerken wahr. Musiktherapeut*innen bieten Sitzungen aber auch in inklusiven Freizeitzentren, eigenen Praxen oder im Zuhause der Teilnehmer*innen an. Übliche Therapieformate umfassen Einzeltherapie, offene und geschlossene Gruppenangebote sowie Sitzungen für Familien. Die Wahl des Settings wird von den individuellen Bedürfnissen, Vorlieben und therapeutischen Zielen bestimmt. Gruppentherapien werden z. B. gewählt, wenn die

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_66

66 Musik

Teilnehmer*innen ihre sozialen Fähigkeiten ausbauen und einen positiven Kontakt mit ihren Mitmenschen erleben sollen. Familienzentrierte Therapieformen werden bevorzugt, wenn ein Kind mit Behinderung noch sehr jung und an familiäre Bezugspersonen gebunden ist oder wenn Beziehungs- oder Kommunikationsschwierigkeiten zwischen den Familienmitgliedern auftreten und Rollenmuster hinterfragt werden sollen. Darüber hinaus helfen Musiktherapiesitzungen für Familien den Angehörigen oft dabei, positive Eigenschaften und Stärken des Familienmitglieds mit Behinderungen wahrzunehmen (Oldfield 2011). Positive Erfahrungen wurden auch dokumentiert, wenn andere Berufsgruppen aus dem Umfeld des Klienten/ der Klientin in die Therapie mit einbezogen werden, z. B. Logopäd*innen, Lehrer*innen oder Betreuer*innen der Person mit Behinderung (Tomlinson 2016). Sowohl aktive als auch rezeptive Interventionen und ihre Mischformen werden in der musiktherapeutischen Arbeit mit Menschen mit Behinderungen angewandt, wobei aktive Interventionsformen deutlich häufiger eingesetzt werden. Die aktive Musiktherapie zeichnet sich dadurch aus, dass die Klient*innen in den Sitzungen mit ihrer Stimme und/oder mit Instrumenten musizieren, wohingegen die rezeptive Musiktherapie das Musikhören fokussiert. Auch verschiedene Theorien und Modelle liegen den verwendeten musiktherapeutischen Interventionen zugrunde. Vor allem psychotherapeutische und psychodynamische Ansätze spielen neben der Creative Music Therapy nach Nordoff und Robbins (1976) und der Community Music Therapy (genauere Beschreibung unten) eine große Rolle. In Deutschland ist darüber hinaus insbesondere der Ansatz der Orff-Musiktherapie zu nennen, welche in den 1970er Jahren mit der Gründung der Sozialpädiatrischen Zentren entstand (Orff 1978). Grundprinzipien sind ein klientenzentrierter, ressourcenorientierter und entwicklungsorientierter Ansatz. Untersuchungen zur Orff-Musiktherapie zeigen die Entwicklung sozial-kommunikativer Fähigkeiten, von Wahrnehmung, Motorik und Emotion auf der Grundlage von Spiel und emotionalen Prozessen (Scholz/Voigt/Wosch 2007). Musiktherapeut*innen, die mit Menschen mit Behinderungen arbeiten, beschreiben in der Fachliteratur auch eine große Bandbreite an therapeutischen Methoden und Techniken. Dazu zählen vorrangig instrumentale und vokale Improvisationen, Singen von Liedern, therapeutisches Songwriting, musikalische Spiele, Bewegung und Tanz zu Musik sowie das Hören von Musik. Diese Vielfalt verdeutlicht, dass in Musik-

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therapie sehr spezifisch auf die individuellen Bedürfnisse, Vorlieben und Stärken der Klient*innen eingegangen wird. Die meisten Ansätze verbindet aber, dass die therapeutische Beziehung als ein entscheidendes Element verstanden wird, welches Entwicklungen und Veränderungen ermöglicht. In den letzten Jahren haben Therapeut*innen und Forscher*innen außerdem vermehrt darauf aufmerksam gemacht, dass Musiktherapie weniger auf eine Reduzierung singulärer Symptome als auf eine Betrachtung des ganzen Menschen mit seinen vielfältigen Bedürfnissen und Stärken sowie auf eine Verbesserung von Lebensqualität und Resilienz abzielen sollte (Blauth 2019). Diese Position wird gestärkt durch die Disziplin der Disability Studies (s. Kap. 4) und die Neurodiversitätsbewegung, welche zunehmend auch die Praxis und Forschung vieler Musiktherapeut*innen beeinflussen. Joseph Straus (2014) kritisiert das in unserer Gesellschaft nach wie vor dominierende medizinische Modell von Behinderung. Damit werden viele Aspekte der menschlichen Vielfalt als pathologisch abgewertet. Straus weist darauf hin, dass im Gegensatz dazu die Musiktherapie eine geeignete Intervention ist, um im Rahmen eines stärkenbasierten statt eines defizitorientierten Ansatzes die Aspekte des Seins und des Wohlbefindens zu berücksichtigen, die außerhalb der Bezugsrahmen Fähigkeit, Gesundheit und Normalität liegen. Dadurch können Menschen mit Behinderungen in wertschätzender Weise darin unterstützt werden, ihr Selbst auszudrücken, zu erkunden und zu realisieren. Die Fachliteratur zu Musiktherapie und Menschen mit Behinderungen jeden Alters wird in einem systematischen Literaturreview (McFerran/Lee/Steele u. a. 2009) analysiert, welches zu dem Schluss kommt, dass die vorwiegend aktiven Musiktherapieinterventionen positive Ergebnisse in den Bereichen Verhalten, soziale Fähigkeiten, Kommunikation, Lernen und körperliche Fähigkeiten erzielen. Die deutsch- und englischsprachige Literatur im speziellen Bereich ›Musiktherapie für Erwachsene mit Behinderungen‹ wurde in ihrer Gesamtheit erstmals von Evelyn Seidel (2017) in einem Scoping Review erfasst und dargestellt. Sie ordnet die in Praxisberichten und Studien genannten Ziele musiktherapeutischer Arbeit vor allem drei Bereichen zu. Diese umfassen den sozialen Funktionsbereich (z. B. Stärkung von Kommunikationsfähigkeit und Beziehungen), den kognitiven Funktionsbereich (z. B. Förderung der Aufmerksamkeitsspanne und der kognitiven Fähigkeiten) und den Bereich der Lebensqualität (z. B. Verbesserung des Selbstwertgefühls und des Wohlbefindens).

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

Besonders viele Texte und Forschungsstudien finden sich zu Musiktherapie mit der Zielgruppe autistische Kinder. Die große Anzahl an quantitativen und qualitativen Wirkungsstudien in diesem Bereich wurde in Literaturstudien (Simpson/Keen 2011), MetaAnalysen (Whipple 2012) und Cochrane Reviews (Geretsegger/Elefant/Mössler u. a. 2014) erfasst und analysiert. In den genannten systematischen Übersichtsarbeiten wird die positive Wirkung von Musiktherapie auf verschiedene Bereiche herausgestellt, z. B. auf die verbale und nonverbale Kommunikationsfähigkeit, auf die sozial-emotionale Reziprozität, auf die Beziehungsqualität zwischen Betroffenen und Angehörigen und auf das Spielverhalten. Aufgrund dieser positiven Ergebnisse wird Musiktherapie auch in interdisziplinären Diskursen als eine der wenigen vielversprechenden Interventionen für Menschen mit Autismus erkannt (Rossignol 2009). Die internationale musiktherapeutische Forschungsstudie TIME-A (Bieleninik/Geretsegger/Mössler u. a. 2017), die die Wirkung von aktiver Musiktherapie auf die sozialkommunikativen Fähigkeiten von autistischen Kindern untersucht, ist bis heute die größte randomisiert kontrollierte Studie einer nicht-pharmakologischen Intervention im Bereich Autismus überhaupt. In der musiktherapeutischen Fachliteratur sind zum jetzigen Zeitpunkt Nutzermeinungen von Betreuungspersonen und -organisationen sowie vor allem von Menschen mit Behinderung unterrepräsentiert. Diese sollten einen größeren Stellenwert bekommen, damit sie zukünftige musiktherapeutische Praxis und Forschung mitbeeinflussen können. Um auf diese Art Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit nicht nur für die verbalen Klient*innen zu ermöglichen, müssen angemessene Formen der Meinungs- und Datenerhebung gefunden werden. Die Entwicklung von Instrumenten, die eine Evaluierung von Musiktherapiesitzungen mit nicht sprachbasierten und unterstützenden Kommunikationsmedien ermöglichen (Austin 2019), zeigt, wie die Bewertungs- und Deutungshoheit von Therapiezielen und Ergebnissen auf nonverbale Therapieteilnehmer*innen ausgeweitet werden kann.

66.3 Der Ansatz der Community Music Therapy und inklusive Musikensemble Der Ansatz der Community Music Therapy wurde erstmals in den 1960er Jahren von Florence Tyson beschrieben (Tyson 1968). Er wurde in den USA von

Carolyn Kenny ab den 1980er Jahren als Ecological Music Therapy weiterentwickelt (Bruscia 1998). Die europäische Forschung und Weiterentwicklung der Community Music Therapy ist u. a. mit Brynjulf Stige verbunden (Stige 2012), der mit Kolleg*innen vorwiegend die Forschungsmethoden ethnographic research, action research und philosophical inquiries einsetzte (Wheeler/Murphy 2016). Als Ausgangspunkt der europäischen Entwicklung von Community Music Therapy wird von Stige ein Praxisauftrag beschrieben. In einer kommunalen Musikschule in Norwegen stand 1983 der Auftrag, Menschen mit Behinderung Zugang zum Musikschulunterricht zu geben. Für die beauftragten Musiktherapeut*innen war das ein neues Feld, da sie bis dahin ausgebildet waren, Symptome und Entwicklungsstörungen gezielt zu bearbeiten. Diese Zielstellung und die dafür effektiven Methoden waren für den Inklusionsauftrag nicht relevant. So ließen sie sich von einem Jugendlichen mit Down-Syndrom leiten. Dieser entdeckte in den Räumen der Musikschule Fotos von Auftritten der örtlichen Blaskapelle. Begeistert fragte er, ob seine Gruppe nun also lernen wird, wie diese Blaskapelle zu spielen und aufzutreten. Dies war der Beginn einer Entwicklung von Community Music Therapy, in der im Dialog der Gruppe von Menschen mit Down-Syndrom und der örtlichen Blaskapelle und unter Einbeziehung der jeweils spezifischen musikalischen Kompetenzen beider Gruppen in einem zweijährigen Prozess neue Musik- und Konzertformate entwickelt, geprobt und aufgeführt wurden (Stige 2003). Unzählige Weiterentwicklungen und Untersu­ chungen folgten (Thurn 2020). Die Kernprinzipien der Community Music Therapy sind partizipatorisch, ressourcenorientiert, ökologisch (im Sinne systemischer Bedingtheit und Wechselwirkungen), performativ (u. a. öffentliche Aufführung), aktiv, reflexiv, ethisch und entwicklungsoffen (Stige 2012). Folgender Fokus der Community Music Therapy wird herausgestellt: »We have discussed the emergence of community music therapy in relation to late modern developments and argued for the relevance of reflexive adaptability and the capacity to work in partnership. This suggests that participatory principles should be prominent [...] and that ethical performance is seen in light of the values of respect, freedom, equality, and solidarity.« (Stige 2012, 286)

66 Musik

66.4 Musik über Menschen mit Behinderungen In der Musikgeschichte tritt vereinzelt die Thematisierung von Menschen mit Behinderung in Opern auf. Beispiele dafür sind Guiseppe Verdis Rigoletto und Louise Bertins La Esmeralda. Beide entstanden im 19. Jahrhundert in Italien bzw. in Frankreich. Sowohl der buckelige Hofnarr Rigoletto als auch der als Krüppel bezeichnete Glöckner von Notre Dame, Quasimodo, verkörpern in diesen Opern zunächst negative Stereotype (s. Kap. 51), welche sich in der Handlung beider Opern wandeln. Rigoletto verhöhnt als Hofnarr die Hofgesellschaft und schmiedet Entführungspläne. Als aber seine Tochter entführt und misshandelt wird, trachtet er voller Liebe nach ihrer Rettung, welche tragischerweise misslingt. Quasimodo beteiligt sich in La Esmeralda zu Beginn an der Entführung von Esmeralda. Am Ende rettet er sie vor ihrer Hinrichtung und bringt sie in den Schutz seiner Kirche. Jedoch endet auch diese Oper tragisch (Wagner 2011). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind andere Thematisierungen von Menschen mit Behinderung zu beobachten. Diese sind primär in der populären Musik verankert und umfassen verschiedene Aspekte, u. a. die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung. Beispiele dafür sind die Songs »Behindertenurteil« von Diether Dehm und »Wellensittich und Spatzen« von Gerhard Schöne (Zeun 1994). Kritisch wird sich in beiden Songs gegen die Ausgrenzung von Kindern und Erwachsenen mit Behinderung im Alltag positioniert. Ein zweiter Aspekt ist die Normalisierung und Überhöhung von Behinderung. Beispiele für diesen Aspekt sind »Musik nur wenn sie laut ist« von Herbert Grönemeyer und »Blinde Katharina« von Klaus Hoffmann (ebd.). In beiden Songs wird die Wahrnehmung und Besonderheit von Menschen mit Sinnesbehinderungen beschrieben. Weitere Beispiele sind »Bastian (Blaulicht in der Nacht)« von Matthias Reim, »Mein Freund Rüdi« von der Band Pur und »Scorn not his simplicity« von Phil Coulter, u. a. in der bekannten Interpretation von Sinead O’Connor. Hier wird über Menschen mit Schwerstmehrfachbehinderung und mit Down-Syndrom gesungen, über ihr Anderssein, die Liebe und Sorge um sie und über ihre Besonderheiten im positiven Sinne. Nach 2000 ist ein neues Phänomen zu beobachten, welches das Ideal von Normalisierung, Inklusion und Teilhabe (Theunissen 2016) zunehmend umsetzt (s. Kap. 16, 42). Dies geschieht u. a. mit Bands, deren

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Mitglieder auch oder ausschließlich Menschen mit Behinderung sind, die ihre Themen und Musik auf die Bühne bringen, sowie mit einer sich langsam verändernden Wahrnehmung von Musiker*innen mit Behinderungen.

66.5 Musiker*innen mit Behinderungen Musiker*innen mit Behinderungen ziehen seit jeher Aufmerksamkeit und Interesse auf sich. Menschen außerhalb starrer Normalitätskonzepte scheinen prädestiniert dafür zu sein, tiefes emotionales Empfinden, Leid oder unkonventionelle Wahrnehmungen und Interpretationen unserer Realität authentisch in Musik auszudrücken. Das Publikum genießt neben der Faszination für den Anderen auch die Erkenntnis, ›gesund‹ zu sein, und kann gleichzeitig das eigene Gewissen durch empfundenes Mitgefühl und Wohlwollen beruhigen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass einzelne Musiker*innen vielleicht auch wegen ihrer Behinderungen bekannt geworden sind. Darüber hinaus gibt es allerdings eine Vielzahl an erfolgreichen Musiker*innen mit sensorischen, körperlichen oder geistigen Behinderungen, deren Kunstfertigkeit und Talent herausragend sind. Mehrere Musiker*innen mit Sehbehinderungen haben internationale Berühmtheit erlangt. Bei dem amerikanischen Musiker Stevie Wonder führte eine Netzhauterkrankung zur Erblindung. Als musikalisches Ausnahmetalent machte er bereits als Kind auf sich aufmerksam und landete im Alter von 13 Jahren seinen ersten Nummer 1-Hit in den Billboard Charts. Seitdem hat Stevie Wonder 25 Grammy Awards gewonnen und zählt mit mehr als 100 Millionen verkauften Platten zu den erfolgreichsten Musikern aller Zeiten. Unter seinen bekanntesten Hits befinden sich die Songs »Superstition« und »I Just Called to Say I Love You«. Auch der Sänger, Komponist und MultiInstrumentalist Ray Charles erblindete in seiner Kindheit. Mit seiner Fähigkeit, verschiedene musikalische Stile wie R&B, Jazz, Soul, Gospel und Pop zu bedienen und zu kombinieren, landete er mehrere internationale Erfolge. Zu seinen bekanntesten Stücken zählen »Hit the Road Jack« und »Georgia on My Mind«. Das einflussreiche Magazin Rolling Stone platzierte Ray Charles 2008 auf Rang 2 der Liste »100 Greatest Singers of All Time«. Besonders bemerkenswert sind die Leistungen und Erfolge von gehörlosen Musikern, die durch ihre Behinderung scheinbar der Grundlage für ihren Beruf

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

beraubt werden. Herausragend ist hier sicherlich Ludwig van Beethoven, der bereits als junger Mann einen immer weiter fortschreitenden Gehörverlust erlitt, der schließlich zur vollständigen Taubheit führte. Beethoven komponierte trotz dieser Einschränkung weiter und schuf einige seiner meistgespielten Werke in dieser Zeit. Er zählt heute zu den bedeutendsten Komponisten klassischer Musik überhaupt. Eine Musikerin der heutigen Zeit, die trotz Gehörlosigkeit internationale Erfolge feiert, ist die schottische Perkussionistin Evelyn Glennie. Sie spielt mit verschiedenen namhaften Orchestern, gibt Meisterklassen und mehr als 100 Konzerte im Jahr. Sie ist seit ihrem 12. Lebensjahr hochgradig schwerhörig. Musik höre und fühle sie seitdem mit anderen Körperteilen als ihren Ohren (Glennie 2015). Um dies zu erleichtern, spielt sie bei Konzerten und Studioaufnahmen meist barfuß. Auch Musiker*innen mit körperlichen Beeinträchtigungen haben die Weltbühnen erobert. Der israelisch-amerikanische Geiger Itzhak Perlman zählt zu den besten und erfolgreichsten Violinisten seiner Zeit. Eine Polio-Erkrankung in seiner Kindheit führte zu Lähmungen in seinen Beinen, weswegen Perlman die Geige sitzend spielt und Konzertbühnen nur mit Gehhilfen betreten kann. Zahlreiche Grammy Awards und weitere internationale Auszeichnungen und Ehrungen zeugen von seinem Ausnahmetalent. Der Sänger Thomas Quasthoff, der 1959 mit einer Contergan-Schädigung geboren wurde, verbrachte seine ersten Lebensjahre in einer Einrichtung für Menschen mit schwersten Behinderungen. Als Schüler wurde er von der Musikhochschule Hannover aufgrund seiner körperlichen Einschränkungen abgelehnt. Trotzdem zählt Quasthoff heute zu den besten Baritonen der Welt, der vor allem mit seinen Liedinterpretationen auf sich aufmerksam gemacht hat. Über seine Erfahrungen und den Umgang mit seiner Behinderung berichtet er in seiner Autobiographie (Quasthoff 2004). Ein Beispiel für erfolgreiche Bands, deren Mitglieder verschiedene Beeinträchtigungen haben, ist die Punkrockband Pertti Kurikan Nimipäivät, die Finnland im Jahr 2015 bei dem Eurovision Song Contest vertrat. Drei der vier Musiker haben das Down-Syndrom. Der autistische Pertti Kurikka war Gitarrist und Bandleader. Die Gruppe gründete sich 2009 während eines Workshops für Menschen mit Entwicklungsstörungen und verabschiedete sich 2016 aus dem Showbusiness. Rudely Interrupted ist eine australische Rockband von internationaler Bekanntheit, die fünf Studioalben herausgebracht hat und Konzerte in

Amerika, Australien und Europa spielt. Auch deren Mitglieder leben mit unterschiedlichen Behinderungen. Der Leadsänger und Gitarrist Rory Burnside beschreibt selbst sein Asperger-Syndrom als die Besonderheit, die ihm die meisten Schwierigkeiten bereitet. Er wurde außerdem ohne Augen und mit einer Gaumenspalte geboren und leidet an Epilepsie. Weitere Bandmitglieder haben das Down-Syndrom, autistische Züge und sensorische oder körperliche Besonderheiten. Die Band wurde von Rohan Brooks 2006 gegründet, nachdem er in Musiktherapiesitzungen auf die Talente der heutigen Bandmitglieder aufmerksam geworden war. Brooks nimmt eine wichtige begriffliche Differenzierung vor, die einen grundsätzlichen Wandel in der Wahrnehmung von Musiker*innen mit Behinderungen verdeutlicht: »Meine Kollegen sind keine Behinderten, die musizieren. Sie sind Musiker, die auf verschiedene und vielfältige Art behindert sind« (Welt 2011). Literatur

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Laura Blauth / Thomas Wosch

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

67 Gebärdensprachpoesie 67.1 Gebärdensprachpoesie und Deaf Studies Die Beschäftigung mit Gebärdensprachpoesie ist eine heikle Angelegenheit, denn worüber sprechen wir, wenn wir von Gebärdensprachpoesie sprechen? Zum einen geht es um eine Sprache, zum anderen um die Sprecher dieser Sprache. Tatsächlich ist Gebärdensprache unmittelbar verbunden mit tauben Menschen, für die sie das wichtigste Merkmal einer gemeinsamen Identität ist; und gleichzeitig ist Gebärdensprache eine Sprache, die an Universitäten, Hochschulen und Volkshochschulen gelehrt wird und zwar keineswegs nur Menschen, die ›irgendwie‹ etwas mit Gehörlosen zu tun haben, sondern auch für diejenigen, die von dieser Sprache angesprochen und berührt werden, die sie erlernen wollen, weil sie ihnen gefällt, weil sie sie gerne sprechen oder mit ihr arbeiten oder weil sie ihr sprach- bzw. kulturwissenschaftliches Interesse weckt. Als zu Beginn der 1960er Jahre Sprachwissenschaftler*innen in den USA begannen, die Sprachhaftigkeit von Gebärdensprachen nachzuweisen, stellte sich sehr bald die Frage: Wenn Gebärdensprachen als ein vollständiges Sprachsystem zu verstehen sind, wie sieht es dann mit poetischen Formen innerhalb dieses Systems aus? Für die sprachwissenschaftliche Beschäftigung mit Gebärdensprachen blieb die Frage nach ihren poetischen Formen eher ein Randbereich. Kulturwissenschaftlich jedoch beinhaltet die Frage nach Gebärdensprachpoesie und nach Kunstformen in Gebärdensprache sowie die Frage danach, wer sie betreibt, ein hohes Maß an Konfliktpotential. Gerade die Zusammenarbeit tauber Künstler*innen mit hörenden Kolleg*innen, Regisseur*innen und Choreograph*innen eröffnet Möglichkeiten, neue Kunstformen auszuprobieren, bedeutet jedoch gleichzeitig auch oft eine Überforderung. Schnell entsteht der Eindruck, ausführendes, oder besser: gebärdendes Organ eines Interesses an Gebärdensprache, nicht jedoch an der Kultur Gehörloser zu sein, denn tatsächlich geht es in laut- und gebärdensprachlichen Produktionen meistens um das Spiel der Sprachen, nicht der Kulturen. Anders als die linguistische Beschäftigung mit Gebärdensprache, der es um die Analyse der von Gehörlosen produzierten Sprechakte geht, erkennt die kulturwissenschaftliche Beschäftigung ein interkulturelles Abhängigkeits- und Produktionsverhältnis,

d. h. eine die Gebärdensprachen und taube Menschen umgebende und mit ihr verwobene Gesellschaft, in der Hören bzw. Nicht-Hören Lebenserfahrungen beinhaltet, die sich fundamental voneinander unterscheiden. Diese Sichtweise auf (Nicht-)Hören hinterfragt Normalität kritisch und betont mithin Forderungen nach Inklusion. Akademischer Austragungsort des kulturwissenschaftlichen Ansatzes sind die neugeschaffenen Deaf Studies, die sich an Universitäten und Hochschulen etabliert haben, in denen Gebärdensprachen gelehrt werden. An Studierende der Deaf Studies richten sich Fragen wie: Was gelingt und misslingt Hörenden und Tauben anders? Worin unterscheiden sich ihre Lebenserfahrungen? Mit welchen akademischen Disziplinen und in welcher (poetischen) Sprache lassen sich diese beschreiben und zum Ausdruck bringen (vgl. Vollhaber 2018, 394–409)? Dem steht eine normative Sichtweise der Deaf Studies gegenüber, die vor allem von tauben Wissenschaftler*innen und Lehrenden vertreten wird, und die in Seminaren und Sprachlehrveranstaltungen eine Vorstellung von Deaf Studies vermittelt, die in fremdphilologischen Studiengängen das Teilfach ›Landeskunde‹ erfüllt. Den Studierenden werden Einblicke in die Kultur und in unterschiedliche Lebensbereiche tauber Menschen gewährt, wobei die Taubengemeinschaft als eine geschlossene Sprachgemeinschaft angesehen wird. Vermittelt wird das Bild einer Gemeinschaft, die sich ihrer Traditionen, Geschichte(n) und Kultur bewusst ist und vom Band der gemeinsam geteilten Gebärdensprache zusammengehalten wird. Zweifellos hat das Erlernen der Deutschen Gebärdensprache viele Ähnlichkeiten mit dem Erlernen einer anderen Fremdsprache. Eigentlich bedürfte es keiner landeskundlichen Unterweisung, denn DGS ist eine Sprache, die in Deutschland gesprochen wird, einem Land also, das den Studierenden vertraut ist. Im Unterschied zu anderen fremdphilologischen Studiengängen ist in Gebärdensprach-Studiengängen hingegen die grundlegend andere Lebenserfahrung des Nicht-Hörens zu denken. Eine Reflexino dieser anderen Lebenserfahrung bleibt jedoch tabu. Stattdessen wird mit dem Konstrukt des Lebens in einer Welt der ›Gehörlosen‹, die mit der ›Welt der Hörenden‹ in keiner Verbindung steht, eine normative und substanzielle Trennung der Lebensbereiche hörender und tauber Menschen vorgenommen.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_67

67 Gebärdensprachpoesie

67.2 Jürgen Endress’ »Mysteriöse Macht« und das Gebärdensprachfestival Von grundlegender Bedeutung für das Selbstverständnis und den Stolz von Gehörlosen sind kulturelle, vor allem gebärdensprachliche Artefakte. Regelmäßig finden Festivals statt, bei denen Gehörlose Gebärdensprach-Poesien zeigen. Ein prominenter Vertreter ist Jürgen Endress, dessen Präsentation »Mysteriöse Macht« beispielhaft vorgestellt werden soll (vgl. https://poesiehandverlesen.de/bibliotheksein trag.php?p=36). Die mysteriöse Macht erweist sich als die drohende und unerbittliche Zeit, der Endress die Maske eines Marionettenspielers aufsetzt, der die Menschen an seinen Fäden hält, als Turmuhr verächtlich auf sie herabblickt und ihnen zuruft: »Es ist zu spät.« Zu spät für den Liebhaber, der seine Verabredung verpasst, dessen Blumenstrauß verblüht und dem das Herz bricht; zu spät für den Fahrer, den während der Fahrt ein Anruf ereilt, dass er seine Arbeit verloren hat; zu spät für einen anderen Autofahrer, der einen Passanten tödlich verletzt. Die Menschen rotten sich zusammen und wollen die Uhr zum Stehen bringen. Doch vergeblich: Der Mensch hat sich zum Sklaven der Zeit gemacht. Er hat die Uhr erfunden als Sonnenuhr, Sanduhr, mechanische Uhr, Digitaluhr, und heute flimmern ihn von allen Seiten Uhren an. Seine Wut geht ins Leere. Dass die Geschichte etwas inkonsistent erzählt wird, ist dabei nebensächlich, denn letztendlich verfolgt die Poesie vor allem einen Zweck: etwas zeigen zu wollen. Endress erhält beim Gebärdensprachfestival 2006 in Berlin den ersten Preis. In einem (unveröffentlichten) Handout für die Mitglieder der Jury beim Gebärdensprachfestival 2006 in Berlin legt die Jury ihre Bewertungskriterien wie folgt fest: 1. Sprache: Werden Gebärden klar und sauber ausgeführt, entsprechen Sinnausdrücke den Regeln der DGS-Grammatik, wird der Gebärdenraum richtig genutzt usw.? 2. Aufbau und Inhalt: Ist der Beitrag gut aufgebaut? Hat er einen Spannungsbogen/eine Pointe? Welche gebärdensprachlichen Strukturierungsmerkmale werden eingesetzt? Werden Emotionen deutlich? 3. Persönliche Ausdrucks- und Gestaltungsmittel: Hier werden individuelle Gestaltungsmittel zur Darstellung einer Prosa- oder Poesieerzählung genau unter die Lupe genommen, z. B. Reim-Maß nach Parametern (gestalterische Wiederholung

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von Handformen, Bewegungen, Ausführungsorten), Erzählfluss (zeitlupenartig, gleichbleibender oder unterschiedlicher Rhythmus der Gebärden) sowie eigene kreative Gestaltungsmittel und Formen der Gebärdensprache. Der Körper des Vortragenden dient als Medium, und seine Gebärden werden in ihrer ästhetischen Ausführung und referentiellen Funktion rezipiert. Gefordert sind ein hohes Maß an Körperbeherrschung und Konzentration. Die Bewertungskriterien der Jury zeigen sehr deutlich Spuren der Geschichte des Gebärdensprachfestivals aus der Gebärdensprachbewegung und folgen bei der Beschreibung von Gebärdensprachpoesie anerkannten sprachwissenschaftlichen Parametern. Anerkannte poetische Merkmale der Lautsprachpoesie wie Alliteration und Reim werden auf Gebärdensprachpoesie übertragen und folgen einem Verständnis von Poesie als ›schöner Sprache‹. Bestimmt ist diese Poesie für ein gehörloses Publikum.

67.3 Peter Cook, Kenny Lerner und das Flying Words Project Seit Mitte der 1980er Jahren betreibt das hörend-gehörlose Dichterduo Peter Cook und Kenny Lerner das Flying Words Project. Die beiden präsentieren Gebärdensprachpoesie als ein inklusives Projekt, das davon ausgeht, dass Gehörlose ohne Hörende und Hörende ohne Gehörlose nicht denkbar sind. Vorbildhaft ist der Umgang mit Laut- und Gebärdensprache, der die Besonderheiten der jeweiligen Sprache würdigt. »Poetry« ist eine Poesie des Flying Words Project (vgl. https://www.youtube.com/watch?v=JnU3U6qEi bU), die aus einer Ansammlung von Bildern besteht, die in keinem narrativen Zusammenhang miteinander stehen, Poesie jedoch als etwas zeigen, das die ganze Welt durcheinanderzuwirbeln vermag. Peter Cook präsentiert Bilder in Gebärdensprache, während Kenny Lerner aus dem Off keine Übersetzung liefert, sondern allein lautsprachliche Hinweise, die dabei helfen, die Bilder zu deuten. Bedeutsam ist »Poetry« aber nicht nur als eine lautund gebärdensprachpoetische Präsentation, sondern auch durch die Verortung von Gebärdensprach-Poesie in einer poetologischen Tradition. Die in keinem narrativen Zusammenhang stehenden Bilder, die Cook aufruft, erinnern an Allen Ginsbergs Text »Howl«, der wie andere Texte der Beat-Poeten in einer Lyriktradition namens Imagismus stand und vor al-

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

lem mit dem Namen Ezra Pound verknüpft ist. Das Neue, das mit Pound in die Lyrik einbrach, waren dessen Vorstellungen von image, dem Bildhaften. »Das image ist das Wort jenseits des Formulierten« (Pound 1957, 116–133), also etwas, das jenseits der Wortbedeutung über diese hinausweist und keine Aussage treffen will. Zu den imagistischen Grundregeln gehören der Gebrauch einer einfachen, aber genauen Sprache, gerade auch des Slangs, neue Rhythmen als Ausdruck des poetischen Aufbruchs und keine Scheu vor noch so trivialen Gegenständen (vgl. Vollhaber 2009, 168–186). Mit der Aufforderung, sich einer einfachen und genauen Sprache zu bedienen und auch das Alltägliche zum poetischen Gegenstand und Slang zum Sprachmaterial zu machen, läutete der Imagismus das Ende jener Vorstellung einer Poesie ein, wonach Dichtung schön und erhaben zu sein hat. Und genau darin folgen Peter Cook und Kenny Lerner ihren imagistischen Vorbildern (vgl. Vollhaber 2019, 208–222).

67.4 Lutz Foerster und »The Man I Love« Manche Menschen erlernen die Gebärdensprache, weil sie ihnen gefällt. Dies trifft sicherlich auf den Tänzer Lutz Foerster zu, der Gershwins Song »The Man I Love« in Gebärdensprache übersetzt (https://www. youtube.com/watch?v=LymY908nQGc). Die Übersetzung bedient sich aber nicht der Grammatik der Gebärdensprache; vielmehr ordnete Foerster jedem Wort des Lieds eine Gebärde aus der Gebärdensprache zu. In der für sie typischen Arbeitsweise fragte Pina Bausch bei der Vorbereitung einer neuen Produktion die Mitglieder ihrer Company, zu der auch Foerster gehört, nach etwas, was sie gut können und worauf sie stolz seien. So kam Foersters Interpretation von »The Man I Love« in ihre Produktion Nelken.

Gebärdensprachpoesie bleibt eine heikle Angelegenheit, voller Isolations- und Unterdrückungserfahrungen, Frustrationen und Einsamkeit, Erfahrungen des Nicht-Verstehens und des Nicht-VerstandenWerdens, aber auch voll von Freude, Lust und Glück – Erfahrungen, die jeder Mensch kennt. Der körperliche und sprachliche Ausdruck schafft einen Raum der Veränderung für jeden, der sich darin befindet. Homi Bhabha nennt ihn den »Dritten Raum« und schreibt dazu: »Indem wir diesen Dritten Raum erkunden, können wir der Politik der Polarität entkommen und zu den anderen unserer selbst werden« (Bhabha 2000, 58). Literatur

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Tomas Vollhaber

68  Theater und Performance

68 Theater und Performance Performative Kunst von, mit oder für Menschen mit Behinderung kann unterschiedliche Bezeichnungen haben: Integratives Theater, Inklusives Theater, Disability Arts, Disability Performance, Mixed-Abled Theatre, Gehörlosentheater, Blindentheater, Accessible Theatre, Inklusiver Tanz, Deaf Poetry, Rollstuhltanz, Theater von Menschen mit und ohne Behinderung usw. Die genannten Begriffe unterscheiden sich sowohl in Bezug auf verschiedene Genres der Kunst als auch hinsichtlich der Selbstbezeichnung der Beteiligten. Begriffe wie ›taub‹, ›blind‹, ›neurodivers‹, ›lernbehindert‹, ›Autist*in‹ oder ›Rollstuhlfahrer*in‹ sind dabei genauso einem historischen Wandel unterworfen wie die zeitweise synonym verwendeten Begriffe ›Integration‹ und ›Inklusion‹ (s. Kap. 16). Während in den 1980er und 1990er Jahren im deutschsprachigen Diskurs vorwiegend von integrativem Theater die Rede war, wenn Menschen mit Behinderung auf der Bühne standen, wird dieser Begriff heute von behinderten Künstler*innen überwiegend abgelehnt, da er im Sinne des individuellen Modells von Behinderung (s. Kap. 4) interpretiert wird, das davon ausgeht, dass das ›Problem‹ Behinderung grundsätzlich beim Individuum liege. Der neuere Begriff ›Inklusives Theater‹ wird hingegen eher mit dem sozialen Modell assoziiert, das die Gesellschaft in der Pflicht sieht, Barrieren abzubauen, um die gleichberechtige Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen und kulturellen Leben zu gewährleisten (s. Kap. 6). Inklusives Theater steht somit für eine Inszenierungs-, Darstellungs-, und Arbeitsweise, die Inklusion als gesamtgesellschaftliche Aufgabe betrachtet und Menschen mit und ohne Behinderung zugutekommt. Darüber hinaus können Theater und Performance, insbesondere wenn es sich – wie im Fall von Deaf Poetry (s. Kap. 67) oder Blindentheater – um eine performative Praxis spezifischer Communities handelt, im Sinne des »kulturellen Modells« (Waldschmidt 2005) als Erweiterung kultureller Vielfalt betrachtet werden. So werden Gehörlosentheater und Deaf Poetry etwa in einer der Community eigenen Sprache (z. B. Deutsche Gebärdensprache oder American Sign Language) präsentiert und adressieren damit ein Publikum, das in konventionellen Theateraufführungen aufgrund von Sprachbarrieren ausgeschlossen bleibt. Während sich die Begriffe ›Integratives‹ und ›Inklusives Theater‹ seit ihrer Etablierung in den 1980er und 2000er Jahren auf die künstlerische Praxis und Präsenz behinderter Schauspieler*innen und Perfor-

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mer*innen auf der Bühne beziehen, ist die Diskussion um Barrierefreiheit für ein inklusives Publikum vergleichsweise jung. Seit einigen Jahren wird ›Inklusives Theater‹ jedoch zunehmend in diese Richtung erweitert. So kann der Begriff etwa für den Einsatz sogenannter Accessibility Tools wie Audio-Deskription, Gebärdensprache, Übertitel oder gelockerte Verhaltensnormen im Saal (›relaxed performance‹) in Anspruch genommen werden. Diese Maßnahmen für mehr Barrierefreiheit im Theater bringen zugleich neue Ästhetiken des Zugangs (vgl. Ugarte Chacon 2015) hervor, welche vielfältige Rezeptions- und Wahrnehmungsmöglichkeiten gewähren und auf einen respektvollen, inklusiven Umgang aller Beteiligten zielen, ohne sich auf die Kompensation spezifischer Impairments zu beschränken. Diese einleitenden Bemerkungen legen nahe, dass sich Aufführungen von, mit und für Menschen mit Behinderung aus mindestens drei verschiedenen Perspektiven betrachten lassen, die sich häufig stark überschneiden: • Erstens aus einer historischen Perspektive, welche die Entwicklung und den geschichtlichen Wandel von Theater und Performance behinderter Künstler*innen sowie deren Rezeption in den Blick nimmt. • Zweitens aus einer politischen Perspektive, welche die diversen Formen und Entwicklungen inklusiven Theaters auf ihre Beziehungen zur Behindertenrechtsbewegung, die auf der Bühne thematisierten soziopolitischen Inhalte und die damit verknüpften Debatten um Machtpositionen, Arbeitsteilung und -bedingungen, gesellschaftliche Teilhabe und Barrierefreiheit hin untersucht. • Drittens aus einer ästhetischen Perspektive, welche die Art und Weise der Darstellung und Inszenierung, die besondere Ästhetik behinderter Körper sowie die mit inklusivem Theater verknüpften ästhetischen Normen und Urteile näher betrachtet. Ausgehend von dieser Trias wird im Folgenden der Versuch unternommen, die Entwicklung von Theater und Performance mit behinderten Akteur*innen weitgehend chronologisch zusammenzufassen und dabei politische und ästhetische Aspekte einzubeziehen. ›Theater‹ und ›Performance‹ sind Begriffe, die sich im Grunde auf jede Art szenischen Spiels und jede Art öffentlicher Darbietung vor Publikum beziehen können und daher auch in Bezug auf die Geschichte inklusiven Theaters eine kaum zu überblickende Vielfalt umfassen. Implizit mitgedacht, aber nicht explizit er-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_68

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

wähnt wird in den folgenden Ausführungen etwa die vielseitige und oftmals herausragende Arbeit zahlreicher inklusiver Amateur-Theatergruppen im Rahmen von Wohn- und Werkstätten für die Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung. Aufgrund ihrer Pionierarbeit sowie ihrer Bekanntheit und ihrer Reichweite werden hier lediglich besonders prominente Gruppen und Institutionen mit geistig behinderten Schauspieler*innen wie Theater Thikwa (Berlin), Atelier Blaumeier (Bremen) oder Theater HORA (Zürich) erwähnt, die über Jahre hinweg professionelle Strukturen aufgebaut sowie inklusive Probe- und Ausbildungsbedingungen geschaffen haben und aufgrund ihrer ästhetisch anspruchsvollen Arbeit eine anerkannte Stellung innerhalb der jeweiligen Kulturund Theaterlandschaft einnehmen. Als weitere Einschränkung sei erwähnt, dass der vorliegende Beitrag fast ausschließlich von einer Perspektive des Globalen Nordens ausgeht, welche die Emanzipation und Partizipation behinderter Künstler*innen in eine vor allem europäisch und nordamerikanisch geprägte Theatertradition und -kultur einordnet. Dass sich aus einer post- oder dekolonialen Perspektive womöglich ganz andere Kontexte und Geschichten von Theater und Performance mit behinderten Künstler*innen erschließen lassen, deuten erste Studien über Theater mit behinderten Schauspieler*innen im Globalen Süden an (vgl. Konar 2019). Allerdings steht eine globale Theater- und DisabilityForschung hier noch ganz am Anfang. Schließlich wird auch das Verhältnis von Theater und Behinderung in vormodernen und frühneuzeitlichen Kulturen weitgehend ausgeklammert. Zwar wäre es durchaus lohnenswert, Darsteller*innen und Figuren frühneuzeitlichen Theaters, etwa der Commedia dell’Arte, den Harlekin oder die Geschichte des Hofnarren, aus einer Perspektive der Disability History (Bösl/Klein/Waldschmidt 2010) in den Blick zu nehmen. Auch behinderte Figuren des Antiken Theaters, etwa der blinde Seher Teiresias (in Aischylos’ Tragödie Sieben gegen Theben) oder Homers Kyklopen, weisen auf die lange Tradition der Mythisierung von Behinderung hin, die zweifellos maßgeblichen Einfluss auf die Dramengeschichte und die Darstellung von Behinderung in unterschiedlichen Epochen hatte und dies auch heute noch auf Drehbücher und Theatertexte der Gegenwart hat. Aus einer theaterwissenschaftlichen, auf die Aufführungspraxis bezogenen Sichtweise liegt es hingegen nahe, die Geschichte von Theater und Performance behinderter Künstler*innen in der Moderne zu beginnen.

68.1 Von der Freakshow zur Leistungsschau Dass Menschen mit Behinderung vor Publikum auftreten, ist kein neues Phänomen, sondern kann Jahrhunderte zurückverfolgt werden. Die Geschichte der Bühnenauftritte behinderter Akteur*innen ist dabei ethisch äußerst ambivalent, denn sie ist bis weit ins 20. Jahrhundert hinein auch eine Geschichte der Zurschaustellung, des Spektakels, der Freakshow und der Zirkusattraktionen (s. Kap. 28). Rosemarie Garland-Thomson (1996) hat jene Geschichte des ›Enfreakments‹ mit dem Titel »From Wonder to Error« beschrieben. ›Wonder‹ steht hierbei für das Staunen über die andersartigen, mythenumwobenen Körper in den Kuriositätenkabinetten und Schaubuden auf Jahrmärkten von der Frühen Neuzeit bis zum Beginn der Moderne. Bestaunt und gefürchtet wurden dort etwa ausgestellte ›Hermaphroditen‹, ›siamesische Zwillinge‹, bärtige Frauen, Kleinwüchsige und ›Riesen‹ als »Monster und Wunder« (so ein gleichnamiger Bildband von Ambroise Paré von 1573), die mithilfe von meist übertriebenen, ausschmückenden und exotisierenden Geschichten als sondersame und fremde Wesen dargestellt oder auch mit Tiernamen wie Löwenmensch, Monkey Girl, Elephant Man oder Schlangenfrau versehen wurden. Keineswegs alle der ausgestellten Menschen hatten eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung – Schwertschlucker, Ganzkörpertätowierte oder dehnbare Kontorsionisten (›Schlangenmenschen‹) traten ebenso als ›Freaks‹ auf. Die Unterscheidung zwischen ›born freaks‹ und ›made freaks‹ ist dabei insofern zweifelhaft, als alle Auftritte von übertriebenen, fiktional ausschmückenden oder erfundenen Präsentationen begleitet wurden. So machte nicht die Recklinghausen-Krankheit oder das ProtheusSyndrom aus John Merrick (1862–1890) den Elephant Man, sondern der Name selbst sowie die erfundene Geschichte, Merricks Mutter sei in der Schwangerschaft von einem Elefanten in den Bauch getreten worden. Vor allem im 19. Jahrhundert zeugen die Präsentationen und Darbietungen von Freakshows von einer engen Verwandtschaft des Genres mit kolonialistischen Völkerschauen sowie der Geschichte der Zoologischen Gärten und des Zirkus (Macho 2005). Die Präsentation des Fremden und Animalischen in der Freakshow diente nicht zuletzt der Konstruktion und Selbstvergewisserung einer Normalität des weißen europäischen Mannes (s. Davis 1995). ›Error‹ steht in Garland-Thomsons oben

68  Theater und Performance

genannter Überschrift entsprechend für die Betonung der Fehlerhaftigkeit und Abweichung von einer Norm, welche die zunehmend medikalisierten Freak-Präsentationen des 19. Jahrhunderts prägten. Freakshowbetreiber traten nicht selten selbst als falsche Ärzte oder Wissenschaftler in Erscheinung, um die Performer*innen als fehlerhafte, deformierte, abnormale, kranke oder bemitleidenswerte Geschöpfe dem Publikum vorzuführen. Eine dritte Art der Präsentation kommt schließlich gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit Auftritten hinzu, die mittels dargebotener Kunststücke und unerwarteter Leistungen vor Publikum die Kompensation und Überwindung von Behinderung in Szene setzten. Robert Bogdan beschreibt diese Art der Präsentation als »aggrandized status mode« (Bogdan 1996, 30) und damit als eine den ›Freak‹ überhöhende Zurschaustellung, die durch zwei verschiedene Typen performativer Darbietung gewährleistet wurde: »The first type involved doing tasks that one might assume could not be done by a person with that particular disability. A person without legs, for example, might show how he walked with his arms. The emphasis was on how the person exhibited compensated for the disability. The second kind of performance was more standard show business. Freaks sang, danced, and played musical instruments, emphasizing their conventional talents and accomplishments.« (Bogdan 1996, 30)

Auftritte in Freak- und insbesondere Sideshows von Zirkustruppen waren häufig geprägt von Szenen, Performances und Kunststücken, welche Narrative einer unerwarteten Leistung ›trotz Behinderung‹ in Szene setzten. Peter Sloterdijk beschreibt anhand solcher Überwindungsnarrative, etwa am Beispiel des armlosen Geigers Carl Hermann Unthan (1848– 1929), der als Virtuose durch Europa tourte, eine »Trotzanthropologie« der Jahrhundertwende, die den menschlichen Glauben an Disziplin, Übung und Willenskraft exemplarisch vorführt (Sloterdijk 2009). Tatsächlich war die Aufnahme von ›Freaks‹ in Zirkustruppen und das Engagement in Vaudeville und Varieté-Theatern im 19. und frühen 20. Jahrhundert für einige erfolgreiche Darsteller*innen mit Behinderung lukrativ. Durch Gagen und den Verkauf von Freak-Postkarten konnten sie ihr eigenes Geld verdienen und, zieht man etwa den Vergleich zu Heimanstalten der damaligen Zeit heran, sogar relativ

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selbstbestimmt leben (vgl. Gerber 1996). Die zunehmende moralische Ächtung der Freakshow im 20. Jahrhundert wurde somit für jene Darsteller*innen zum Problem, die sich mit ihren Auftritten mühevoll eine Existenz aufgebaut hatten. Bezeichnend für den Abstieg der Freak- und Sideshows ist die Zensur von Tod Brownings berühmtem Film Freaks (1931), der aufgrund des Mitwirkens echter Darsteller*innen mit Behinderung in zahlreichen Ländern jahrzehntelang auf dem Index stand und nicht gezeigt werden durfte. Eine berühmte Szene des Films enthält zudem das Leistungs- und Überwindungsprinzip in nuce: Der arm- und beinlose Performer Prince Randian (Spitzname ›the living torso‹) steckt darin nur mit dem Mund ein Streichholz und damit eine Zigarette an; eine Kompensationsperformance, die er jahrelang in P. T. Barnums Sideshows dem staunenden Publikum vorführte (vgl. Nowak 2011). Als Leistungsschauen sind jene Darbietungen von Freak- und Sideshows gewissermaßen Vorläufer virtuoser Rollstuhl-Artistik oder sogar des paralympischen Sports (s. Kap. 14). Die österreichische Kulturwissenschaftlerin Karin Harrasser legt anhand des Paralympics-Werbeclips 2012 mit dem Titel »Meet the Superhumans« (Channel 4) dar, auf welche Weise mediale Repräsentationen solcher Überwindungsnarrative Prothesensportler*innen gewissermaßen zu Pionieren der Selbstoptimierung machen (Harrasser 2013). Selbst Spitznamen von Paralympioniken wie Armless Archer, Blade Runner oder die als Cheetah Legs (›Gepardenbeine‹) bezeichneten Sprintprothesen in der Leichtathletik lassen in dieser Hinsicht die Freak-Performances des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nachhallen. Von Seiten der Disability Studies werden aus diesem Grund Performances und Narrative, die es auf Überwindung und Kompensation anlegen, meist kritisch als ›Inspiration Porn‹ (Stella Young) betrachtet, da sie einerseits Menschen mit Behinderung als Inspirationsquelle instrumentalisieren, andererseits aber auch an einer Betrachtung von Behinderung als individuellem, zu überwindendem Problem festhalten, was nicht zuletzt all jenen Menschen mit Behinderung, die keine Höchstleistungen vollbringen, unterstellt, sich nicht genug anzustrengen (vgl. Mitchell/Snyder 2015). Ein ganz anderes Narrativ impliziert hingegen die Faszination für das Imperfekte, Unkontrollierbare und Deviante, das in den Avantgarden des 20. Jahrhunderts für das Verhältnis von Kunst und Behinderung eine zentrale Rolle spielt.

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

68.2 Disability Aesthetics und die Avantgarden des 20. Jahrhunderts Der 2015 verstorbene Literaturwissenschaftler Tobin Siebers hat den Begriff ›Disability Aesthetics‹ eingeführt, um damit all jene Ästhetiken zu bezeichnen, die mithilfe alternativer Körperbilder Normen von Schönheit und Perfektion infrage stellen und stattdessen Behinderung als »ästhetischen Wert« anerkennen (Siebers 2010, 3). Anhand zahlreicher Beispiele aus der Kunstgeschichte legt Siebers nahe, dass behinderte Körper keine marginalisierte Rolle einnehmen, sondern spätestens seit der Moderne im Zentrum einflussreicher Kunst stehen: »If Modern Art has been so successful, it is because of its embrace of disability« (ebd., 9). So haben die Bilder und Skulpturen Picassos und Giacomettis, Bacons oder Modiglianis mit den Plastiken der erfolgreichen geistig behinderten Bildhauerin Judith Scott gemein, dass sie, Siebers zufolge, dem Publikum eine ›zerbrochene Schönheit‹ präsentieren. Ihre Repräsentation versehrter, fragmentierter und imperfekter Körper stellten konventionelle Normen von Schönheit infrage und stünden für eine Anerkennung von Diversität sowie physischer und geistiger Differenz. Auch für die Geschichte von Theater und Performance in den Avantgarden des 20. Jahrhunderts kann konstatiert werden, dass zahlreiche Künstler*innen die Faszination für andersartige Körper sowie von der Norm abweichende Geisteszustände teilen. Über die Darstellung ›zerbrochener Schönheit‹ hinaus kann Disability Aethetics in den performativen Künsten mithin als eine Ästhetik verstanden werden, bei der Behinderung auf der Bühne eine Kritik an Normen perfektionierter Ausführung, körperlicher Beherrschung und Disziplin sowie schauspielerischer oder tänzerischer Leistung impliziert (Wihstutz 2017). Im Kontext der Avantgarden lässt sich diesbezüglich an die gesteigerte Affektion und Ekstase des Ausdruckstanzes von Isadora Duncan und Mary Wigman ebenso denken wie an Antonin Artauds Vergleich des Schauspielers mit dem Pestkranken oder einem ›rasenden Irren‹. Wie kaum ein anderer Theatermacher und -theoretiker hat Artaud mit seiner Faszination für den entstellten Körper, für die Gebärden und Schreie des Balinesischen Theaters oder für den Wahn des alchimistischen Theaters (Artaud 2012/1964) die performative Kunst der Avantgarde im Sinne einer Disability Aesthetics beeinflusst. Dass er selbst wiederholt in psychiatrischer Behandlung war und sich dabei der Zwangsmedikation und Elektroschocktherapie unter-

ziehen musste, zeugt zudem von einer biographischen Nähe zu Künstler*innen mit Behinderung. Insbesondere im New York der 1960er Jahre knüpfen prominente Gruppen experimentellen Theaters wie das Living Theater, The Performance Group oder auch der Regisseur Richard Foreman mit einer das Publikum direkt affizierenden und verstörenden Bühnenästhetik an Artauds Theater der Grausamkeit an. Anstelle einer rationalen, repräsentativen Aufführung dramatischer Stoffe wollen sie das Irrationale, Unbewusste und psychisch Deviante auf die Bühne bringen. So berichtet etwa die Regisseurin des Living Theatre Judith Malina von ihrer Arbeit an The Brig (1967), dass die Auseinandersetzung des Ensembles mit der physischen Gewalt des Militärs in den Proben so real war, dass sich die Schauspieler*innen wiederholt in medizinische Behandlung begeben mussten, weil sie bewusst Schmerzen, Verletzungen und (vorübergehende) Behinderungen in Kauf nahmen: »We have certainly had a rash of illnesses, disabilities, broken ribs, and every agony known to man and beast« (Schechner 1964, 210). Auch Performances der Body Art können entsprechend in den Kontext dieser Art von Disability Aesthetics eingeordnet werden: die Zurschaustellung von Selbstverletzungen, Imperfektionen und körperlichen Abhängigkeiten von anderen Körpern waren ebenso kennzeichnend für einige Arbeiten von Künstler*innen wie Marina Abramović, Valie Export, Yoko Ono, Chris Burden, Bruce Naumann oder Carolee Schneemann wie körperliche Erweiterungen und Deformationen bei späteren Body Art und Cyborg-Künstler*innen, z. B. bei dem australischen PerformanceKünstler Stelarc, der sich u. a. eine dritte künstliche Hand sowie ein künstliches Ohr in seinen Unterarm implantieren ließ. Der Performance-Künstler Paul McCarthy experimentierte wiederum mit Inszenierungen von Gesichtsentstellung und -deformierung und provozierte das Publikum mit Bühnenaktionen als vermeintlich geistig behinderter oder autoaggressiver Performer (vgl. Siebers 2010, 14–15). Heute werden solche Darstellungen behinderter Rollen durch nichtbehinderte Schauspieler*innen oder Performer*innen – auch Cripping Up genannt (Kasch 2018) – häufig kritisch gesehen, handelt es sich doch um ein Ausstellen von Andersartigkeit und Differenz, welches nur bedingt mit der Anerkennung und Inklusion tatsächlich behinderter Menschen zu tun hat. Dennoch haben auch diese Auseinandersetzungen der Avantgarde mit körperlichen und geistigen Differenzen das ästhetische Interesse an Behinderung auf der

68  Theater und Performance

Bühne deutlich gesteigert, obschon sie keineswegs frei von Risiken der Instrumentalisierung oder Exotisierung für den nichtbehinderten Blick sind. Die Faszination des postdramatischen Theaterregisseurs Robert Wilson für die Taubheit von Raymond Andrews, der als Performer im stillen Stück Deafman Glance (1970) gemeinsam mit Wilson und sechzig Performer*innen auftrat, kann aus heutiger Sicht ebenfalls als Idealisierung einer fremden Wahrnehmung und Kommunikation bewertet werden. Zugleich handelt es sich um eine der ersten bekannten Theaterarbeiten überhaupt, in denen ein gehörloser Performer die Handlung und Choreographie maßgeblich beeinflusst hat. Die von Wilson inszenierte Oper Einstein on the Beach (1976) geht hinsichtlich der Zusammenarbeit mit dem Autisten Christopher Knowles noch ein Stück weiter, indem dieser zum Autor des Librettos gemacht wird. Vertont vom Komponisten Philipp Glass und choreographiert von Lucinda Childs, steht die assoziative und asemantische Lyrik von Knowles im Zentrum des fünfstündigen Musiktheaterstücks. Obschon Wilson ohne Zweifel Behinderung in beiden Fällen für seine ganz eigene spezifische Ästhetik instrumentalisierte und auch seine auf Präzision und Disziplin beruhende Arbeitsweise kaum barrierefrei genannt werden kann, leistete er mit seiner Wertschätzung für Andrews’ Bewegungen und Knowles’ Dichtkunst wichtige Pionierarbeit für mehr Inklusion im Theater (vgl. McCaffrey 2019).

68.3 Lust am Scheitern (von Schlingensief bis Back to Back Theatre) Die Arbeiten des 2010 verstorbenen Theater- und Aktionskünstlers Christoph Schlingensief knüpfen insofern an Wilson und die Avantgarden an, als sie trotz einer fast konträren Inszenierungsweise und Ästhetik ebenfalls anarchischen, teils unverständlichen und irritierenden Ausdrucks- und Darstellungsweisen von geistig behinderten und neurodiversen Akteur*innen eine Bühne gaben. Anders als Wilson nutzte Schlingensief jedoch vor allem die Spontaneität und Unberechenbarkeit der mit ihm arbeitenden Performer*innen, um die Kontrolle des Regisseurs über die Inszenierung sowie des Publikums über den Rahmen der Aufführung wiederholt aufs Spiel zu setzen. Performer*innen mit Behinderung wie Mario Garzaner, Achim von Paczensky, Kerstin Graßmann oder Horst Gellonek traten seit den 1990er Jahren regelmäßig auf höchst unkonventionelle Weise in Schlingensiefs Fil-

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men, Theaterproduktionen und öffentlichen Aktionen auf, indem sie sich nur in den seltensten Fällen an ein Skript oder einen Dramentext hielten und stattdessen den Regisseur und Performer Schlingensief maßgeblich dabei unterstützten, die für seine Arbeiten kennzeichnenden Momente des Unberechenbaren und Dilettantischen ins Absurde zu steigern (s. Kap. 45, 70). So sprengten Gellonek und Garzaner regelmäßig Aufführungen im Theater, indem sie etwa plötzlich anfingen, nicht enden wollende Ansprachen ans Publikum zu richten oder mit disharmonischen Gesangs- und Musikeinlagen die Geduld der Zuschauenden auf die Probe zu stellen. Performer*innen mit Behinderung traten bei Schlingensief einerseits als Ensemblemitglieder an der Seite berühmter Schauspieler*innen wie Sophie Rois, Martin Wuttke, Irm Hermann oder Volker Spengler auf, wurden andererseits aber auch außerhalb von Theater und Film zu Protagonist*innen anarchischer Kunst- und Politik-Aktionen. So wurde der geistig behinderte Achim von Paczensky zum Spitzenkandidaten der von Schlingensief anlässlich der Bundestagswahl 1998 gegründeten Partei ›Chance 2000‹ gekürt. Der Slogan der Partei, »Scheitern als Chance«, war für Schlingensief zugleich ästhetisches und politisches Programm. So ging es ihm in der Zusammenarbeit mit den behinderten Performer*innen, die er als seine ›Familie‹ bezeichnete, weder um die Kompensation von Behinderung noch um die Idealisierung einer fremden und unzugänglichen Welt, sondern um eine dezidierte Wertschätzung des Imperfekten. Mit der Fernsehshow Freaks 3000, in der behinderte Performer*innen Volkslieder vor einer Jury zum Besten gaben, persiflierte Schlingensief etwa erfolgreich das Prinzip der Casting-Show (Kroß 2015). Wie wichtig Schlingensief die Arbeit mit und die Beziehung zu seiner ›Familie‹ war, zeigte sich u. a. an einem Konflikt mit dem Komponisten Moritz Eggert, der sich 2007 bei der Zusammenarbeit an der von Tod Browning inspirierten Oper Freax entzündete. Während Eggert nicht zuließ, dass behinderte Schauspieler*innen anstelle von Opernsänger*innen in der Uraufführung seines Werks auf der Bühne standen, weigerte sich Schlingensief, seine ›Familie‹ von der Bühne zu verbannen, was schließlich zu einem Scheitern der Zusammenarbeit führte. Als Chance nutzte Schlingensief selbst dieses Scheitern, indem er anstelle der Oper einen Film und eine Performance der Akteure über Stigmatisierung im Foyer inszenierte (Wihstutz 2012). Das Imperfekte und Spontane anstelle von Leistung und Kompensation ins Zentrum inklusiver Theater-

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

arbeit zu stellen, ist ein Prinzip, das sich auch bei anderen inklusiv tätigen Theaterschaffenden wiederfindet: So heißt eine der erfolgreichsten Produktionen des Zürcher Theater HORA Die Lust am Scheitern, die seit dem Jahr 2000 mehr als achtzigmal in ganz unterschiedlicher Weise aufgeführt wurde. Es handelt sich um eine sogenannte Nullimprovisation, bei der vier Schauspieler*innen zusammen mit vier Musikern ohne jegliche Vorgaben oder Absprachen bis zu 24 Stunden lang ununterbrochen Szenen entwickeln. Das Experiment führt zu äußerst kreativen und energiegeladenen Momenten, bei denen Musizierende und Schauspielende symbiotisch miteinander interagieren. Insbesondere in der 24-Stunden-Fassung kommt es aber auch zu Szenen des Stillstands oder minutenlangen Leerlaufs, welche die Geduld des Publikums auf die Probe stellen. Um einen zusätzlichen BleibeAnreiz für die Zuschauenden zu schaffen, wendet HORA einen Trick an: Der Eintrittspreis variiert je nach Dauer der eigenen Anwesenheit. Pro Stunde wird einer der zu Beginn entrichteten 24 Franken zurückerstattet, für die bis zum Ende Ausharrenden ergibt diese Regel entsprechend eine kostenlose Langzeit-Performance. Die HORA-Produktion Disabled Theater, die mit dem französischen Choreographen Jérôme Bel entwickelt wurde, setzt das Imperfekte wiederum auf andere Weise in Szene: Jede*r der elf Schauspieler*innen hat sich eine eigene Choreographie zu einem selbst gewählten Popsong ausgedacht, die von ihm/ihr selbst vorgeführt wird. Dass Bel mit den Schauspieler*innen dabei bewusst nicht geprobt hatte, sondern ihnen lediglich diese und einige andere Aufgaben stellte, brachte dem weltweit tourenden Tanzstück kontroverse Debatten ein. Während einige Bel dafür kritisierten, die mangelnden Fähigkeiten der Performer*innen als Authentizität auszustellen, lobten ihn andere dafür, den Schauspieler*innen weitgehend selbstbestimmt eine Bühne zu überlassen, ohne auf die Sehgewohnheiten und den Geschmack des Publikums Rücksicht zu nehmen. Dass die Arbeit im Jahr 2013 außerdem zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde, schlug in der deutschsprachigen inklusiven Theaterszene nachhaltig hohe Wellen. In der Folge des unerwarteten Welterfolgs von HORA (Disabled Theater tourte u. a. in Südkorea, Brasilien und den USA) wurden neue konzeptuelle und experimentelle Ansätze ausprobiert sowie mit weiteren Regisseuren und Gruppen der Freien Szene wie Milo Rau (Die 120 Tage von Sodom, 2017), Das Helmi (Mars Attacks!, 2014) oder Kraut Produc-

tion (Human Resources, 2015) zusammengearbeitet. In ihrem Langzeitprojekt Freie Republik Hora (2014– 2019) führten die Schauspieler*innen in kleineren Projekten schließlich sogar mehrfach selbst Regie, bekamen Produktionsmittel zu ihrer freien Verfügung und konnten auch das Casting für ihre Produktionen selbst durchführen. Einen verwandten Ansatz verfolgte das Kollektiv Monster Truck, das in Regie (2014) drei Schauspieler*innen von Theater Thikwa einzelne Szenen live auf der Bühne inszenieren ließ. In Dschinghis Khan (2012) hatte Monster Truck bereits einige Jahre zuvor stark polarisiert, als auf scheinbar autoritäre Weise Schauspieler*innen mit Down-Syndrom Mongolen in Fellen und Kampfausrüstung spielten und im zweiten Teil des Stücks das Publikum mit Totenschädeln aus Styropor bombardierten. Dass Monster Truck beide Male mit Schauspieler*innen von Theater Thikwa zusammenarbeitete, ist kein Zufall, denn auch Thikwa zeichnet sich durch eine experimentelle, häufig auf Improvisation beruhende Inszenierungsweise aus, die sich weniger am dramatischen Sprechtheater (wie z. B. das erfolgreiche Berliner Theater RambaZamba) denn an der Freien Szene und an postdramatischen Theaterformen orientiert. In der von Martin Clausen inszenierten Arbeit Möchten Sie noch? Nein, danke! (2018) wird eine feine Dinnerparty auf die Bühne gebracht, bei der jede*r Schauspieler*in in einem ganz eigenen Tempo agiert, auf der Bühne isst und trinkt und so die Seh- und Essgewohnheiten des Publikums durcheinanderbringt (Umathum 2021). Auch das von Anne Tismer inszenierte Musical Dave (2017) überschreitet mit asynchronen Hip Hop-Tanzformationen und einer idiosynkratisch gespielten Handlung die Grenzen gewohnter Bühnendarstellungen. Thikwa gehört mit diesen Arbeiten ebenso wie I can be your Translator (Hamburg) zu einer kleineren Zahl erfolgreich arbeitender inklusiver Theatergruppen in Deutschland, bei der die Stücke von behinderten und nichtbehinderten Künstler*innen gemeinsam als ›devised theatre‹ entwickelt werden, somit in der Regel kein fertiger dramatischer Stoff inszeniert, sondern ein Stoff erst in den Proben kollektiv entwickelt wird. Zahlreiche inklusive Kompanien im englischsprachigen Raum, wie Mind the Gap, Candoco oder Different Light Theatre, folgen seit langem diesem Modell des devised theatre, bei dem die behinderten Schauspieler*innen von Beginn an am Text mitschreiben respektive die Choreographie mitentwickeln. International besonders erfolgreich sind in dieser Hinsicht die Arbeiten der australischen Kompanie

68  Theater und Performance

Back to Back Theatre, die weltweit tourt und auch hinsichtlich einer möglichst gleichberechtigten Organisation und Arbeitsweise als Pionierin gilt. So wird laut Statement der Kompanie jedes neue Mitglied des Ensembles inklusive des Regisseurs von allen Mitgliedern gemeinsam ausgewählt. Alle Stücke werden gemeinsam geschrieben, Texte, Figuren und Inszenierungsweise kollektiv entwickelt. Auch das Spiel mit dem Scheitern nimmt in den Arbeiten von Back to Back Theatre eine entscheidende Rolle ein, wenn auch auf andere Art als bei Christoph Schlingensief. So setzen die neurodiversen und geistig behinderten Schauspieler*innen immer wieder gezielt Ironie und Witz ein, um Erwartungen des Publikums zu entlarven, diskriminierende Bilder von Behinderung in der Gesellschaft zu dekonstruieren (z. B. bei Food Court, 2007) oder ihren eigenen Probenprozess und die damit verbundenen Machtfragen (Ganesh versus the Third Reich, 2011) auf der Bühne nachzuspielen und zu problematisieren. Dies geschieht häufig im Zusammenspiel mit nichtbehinderten Performer*innen, die als Gegenspieler*innen fungieren und dabei an ihren eigenen Macht- und Kontrollansprüchen scheitern oder von Schauspieler*innen mit Down-Syndrom wie Mark Deans zum Narren gehalten werden (z. B. in Soft, 2001). Selbstreflexiv sind die Performer*innen, wenn sie die Übertitelung ihrer schwer verständlichen Aussprache als ableistisch (s. Kap. 51) anprangern (The Shadow Whose Prey the Hunter Becomes, 2019). Dass sich das Back to Back Theatre zudem ausschließlich aus Eintrittsgeldern und kulturellen Fördertöpfen finanziert (und nicht etwa aus sozialen Mitteln), kann zudem als besondere Errungenschaft gelten. Ihr globaler Erfolg und ihre besondere Stellung im Bereich inklusiven Theaters lässt sich zudem auch daran ablesen, dass die Truppe regelmäßig zu renommierten internationalen Festspielen wie den Wiener Festwochen (2012), dem Holland Festival (Amsterdam 2017) oder Theater der Welt (Düsseldorf 2021) eingeladen wird und dort wie selbstverständlich neben nichtbehinderten Ensembles auftritt.

68.4 Disability Arts und Aesthetics of Access Während bei Stücken von Back to Back Theatre bereits politische Machtfragen der Zusammenarbeit zwischen Künstler*innen mit und ohne Behinderung sowie auch biopolitische Themen wie das Recht auf Leben etwa in Bezug auf Pränataldiagnostik in Soft the-

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matisiert werden, sind es häufig Solo-Performer*innen, die ihre Theaterarbeit und ihre Kunst dezidiert politisch-aktivistisch interpretieren. Der eingangs genannte Begriff ›Disability Arts‹ wird häufig auf solche politische Arbeiten behinderter Künstler*innen bezogen, die eine eigenständige Perspektive von Menschen mit Behinderung durch ihre Kunst zum Ausdruck bringen und damit auch bestimmte Rechte der Teilhabe, Anerkennung und Gleichberechtigung explizit einfordern. So tritt der Umwelt- und Disability Rights-Aktivist James Leadbitter alias The Vacuum Cleaner in seinem Solo Mental (2013) im Schlafzimmer einer angemieteten Privatwohnung auf, wo er im Bett liegend aus seinen Polizei- und Krankenakten vorliest, um anhand dieser den um das Bett gruppierten Zuschauenden seine psychiatrische Leidensgeschichte samt zahlreicher Suizidversuche zu erzählen. Im Vordergrund steht bei Mental keine Kompensation, keine Disability Aesthetics und keine Lust am Scheitern, sondern ein ernsthaftes Ringen um das eigene Leben und die eigene Psyche sowie um die Anerkennung einer prekären Borderline-Existenz. Für die Zuschauenden gibt es bei Mental kein virtuoses Spiel und keine faszinierende Fremdheit zu entdecken; stattdessen ist das Stück die Begegnung mit einem Outsider der Gesellschaft, der ein ihn zermalmendes System aus Psychiater*innen, Polizist*innen, Sozialarbeiter*innen und Gutachter*innen anprangert. In einer Szene kippt Leadbitter hunderte leere Schachteln von Antidepressiva aufs Bett, die ihm zeitlebens verschrieben wurden. Arbeiten wie Mental sind mithin weniger Performance als Anti-Performance, weniger ästhetisches Spiel für ein Publikum als vielmehr Schutzraum und Selbsttherapie, weniger Aufklärung denn politische Geste in der Tradition der Antipsychiatrie (s. Kap. 38). Die Arbeiten der Künstlerin und Aktivistin Jess Thom alias Tourette’s Hero sind dagegen sehr viel lebensbejahender. Thom betrachtet die Ticks ihres Tourette-Syndroms nicht als Einschränkung, sondern als nichtintentionale ästhetische Kreativität, die ihre Kunst auf entscheidende Weise prägt und erweitert. So postet sie täglich ihre besten Ticks als #Dailyoutbursts auf Twitter und Facebook (z. B. am 24. Februar 2020: »Do you want to eat grass platted with platypus piss?«) und betont in jeder Performance, dass sie sich aufgrund ihrer Ticks an kein Script und keinen Dramentext halten kann. In einer Inszenierung von Samuel Becketts Not I (2017) spricht sie dennoch den kompletten Originaltext, unterbrochen von hunderten »Biscuit«- und »Hedgehog«-Rufen, die als wieder-

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

kehrende Ticks eine Art Markenzeichen von Tourette’s Hero sind und auch in Performance-Titeln wie Backstage in Biscuit Land (2015) auftauchen. Aktivistisch sind die Arbeiten Thoms aber nicht nur aufgrund ihres offensiven Umgangs mit Tourette, sondern auch, weil sie gezielt ein inklusives Publikum adressieren. So hat Thom in Not I eine Gebärdendolmetscherin an ihrer Seite, die nicht nur Becketts Text, sondern auch all ihre Ticks übersetzt. Thom integriert zudem Audio-Deskription in den Text ihrer Performances, etwa bei ihrer Vorstellung und Bühnenbeschreibung, und schließlich sind alle Aufführungen von Tourette’s Hero explizit sogenannte relaxed performances, bei der auch die Zuschauenden keine Ticks unterdrücken müssen sowie ihren Sitzplatz jederzeit verlassen und wieder aufsuchen dürfen (FletcherWatson 2015). Inklusives Theater bedeutet hier mithin auch die Verabschiedung bestimmter Normen des Zuschauens und der Rezeption und impliziert somit den Appell, alternative Arten der Wahrnehmung und des Verhaltens zuzulassen, was eine gleichberechtigte Teilhabe aller behinderten und nichtbehinderten Mitglieder des Publikums gewährleistet. In den Theatertexten der körperbehinderten Autorin Kaite O’Reilly (O’Reilly 2016) kommt dieses Nachdenken über Normen der Rezeption ebenso zur Sprache wie in den Stücken der körperbehinderten Choreographin Claire Cunningham. Letztere integriert in ihre Arbeit sogenannte Accessibility Tools auf eine inklusive Weise, so dass diese kaum als Zusatz der Aufführung erkennbar sind, sondern wie selbstverständlich zur Bühnenästhetik dazugehören. Auf diese Weise findet keine extra eingerichtete Übersetzung oder Assistenz für behinderte Zuschauende statt; vielmehr sind die Aufführungen insgesamt geprägt von einer Aesthetics of Access, die mittels unterschiedlicher barrierefreier Zugangs- und Wahrnehmungsmöglichkeiten einen möglichst diskriminierungsfreien Raum schafft. So bietet etwa Cunninghams Performance The Way you Look (at me tonight) (2017) den Zuschauenden ganz unterschiedliche Sitzmöglichkeiten im Raum (auf einem Stuhl auf der Bühne, auf dem Bühnenboden, auf den Sitzplätzen im Saal etc.), durch die sich die beiden Tänzer*innen Claire Cunningham und Jess Curtis hindurch bewegen. Die Choreographie wird dabei zugleich immer wieder auditiv beschrieben, ohne dass sich dies als spezielle Maßnahme für Blinde zu erkennen gäbe. Inklusives Theater auch in Bezug auf ein diverses Publikum zu verstehen, trägt somit dem kulturellen Modell von Behinderung Rechnung, indem die Normalität ei-

ner Theateraufführung hier generell hinterfragt und zugunsten einer Vielfalt von Rezeptions-, Kommunikations- und Verhaltensweisen geöffnet wird.

68.5 Probleme der Inklusion im Mainstream von Theater und Performance Betont eine Aesthetics of Access in progressiven Theaterproduktionen die vielseitigen Wahrnehmungsmöglichkeiten eines diversen Publikums, sind die Produktions- und Rezeptionsbedingungen im MainstreamTheater nach wie vor geprägt von zahlreichen Missverständnissen und Unsicherheiten, sobald behinderte Künstler*innen einen Platz auf der großen Bühne beanspruchen. Als 1985 Peter Radtke, ein Schauspieler mit Glasknochen, in George Taboris Stück M als erster behinderter Schauspieler in den Münchner Kammerspielen auf der Bühne stand, schrieb der Theaterkritiker Gerhard Stadelmeier nur: »P. R., der den Sohn spielt, ist nicht rezensierbar« (Radtke 1997, 69). Zieht man in Betracht, dass die HORA-Schauspielerin Julia Häusermann knapp 30 Jahre später für Disabled Theater den Preis der besten Nachwuchsschauspielerin beim Berliner Theatertreffen gewann, könnte man nun den falschen Schluss ziehen, Schauspieler*innen mit Behinderung seien inzwischen im Mainstream des Theaters angekommen. Dass davon keine Rede sein kann, wird schon allein deutlich, wenn man bedenkt, dass in den Ensembles aller deutschen Stadt- und Staatstheater derzeit lediglich drei fest engagierte Mitglieder mit Behinderung vertreten sind – Samuel Koch in Mannheim, Lucy Wilke und Erwin Aljukić in München. Diese immer noch verschwindend geringe Quote von Schauspieler*innen mit Behinderung im Sprechtheater, aber auch in Film und Fernsehen, steht dabei im starken Kontrast zu all jenen nichtbehinderten Schauspieler*innen, die mit der Darstellung behinderter Rollen regelmäßig von der Kritik gefeiert und mit Preisen überschüttet werden (s. Kap. 69). Träte hingegen ein Rollstuhlfahrer als Hamlet auf, würde vermutlich auch heute noch die Theaterkritik nach allen möglichen Erklärungen für diesen ›Regieeinfall‹ der Besetzung suchen, anstatt den behinderten Schauspieler lediglich als Hamlet-Darsteller anzuerkennen. Die Vorbehalte gegenüber der Inklusion sind jedoch ebenso auf Seiten der Theaterinstitutionen zu finden. Dies fängt bereits bei den Schauspielschulen an, für welche die Einübung normierter Techniken (man denke nur ans Bühnenfechten) häufig relevanter

68  Theater und Performance

zu sein scheint als ein kreativer Umgang mit dem eigenen Körper. Carrie Sandahl hat in diesem Zusammenhang von der »Tyranny of Neutral« gesprochen, der sich jede*r Schauspieler*in in der Ausbildung unterwerfe (Sandahl 2005). Die im Falle von Darsteller*innen mit Behinderung meist unmögliche Vorstellung, den Körper als neutrale Darstellungsfläche für dramatische Figuren zu betrachten und ihn für die schauspielerische Darstellung möglichst zum Verschwinden zu bringen, erweist sich hierbei als zentrale Barriere der Schauspieltheorie. Die Markierung des behinderten Körpers auf der Bühne ist dabei womöglich das, was Stadelmeier mit der ›Nichtrezensierbarkeit‹ von Radtke meinte. Tatsächlich berief sich auch Thomas Thieme, der als Juror Häusermann beim Theatertreffen auszeichnete, in seiner Laudatio nicht auf Kriterien gelungener Schauspielkunst (»Meine Kriterien gingen den Bach runter«), sondern auf Häusermanns »Selbstvergessenheit«, die er der »Bemühtheit« und den eingeübten Techniken der in seinen Augen belanglosen Stadttheaterschauspieler*innen gegenüberstellte (Thieme 2014). Selbst diese überraschende Auszeichnung Häusermanns zeigt daher, dass auch im 21. Jahrhundert mit der Präsenz behinderter Schauspieler*innen auf der Bühne häufig noch Ambivalenz (s. Kap. 44) verknüpft wird, die sich mit Tobin Siebers als »Un/Sichtbarkeit von Behinderung« bezeichnen lässt (Siebers 2013): Da Menschen mit sichtbarer Behinderung bereits im Alltag auffallen, erlangen sie, laut Siebers, entgegen der geforderten Unsichtbarkeit des (besonderen) Schauspielerkörpers, der die gelungene Transformation in eine Figur erst ermöglicht, auf der Bühne eine Art Hypersichtbarkeit, die ihre Behinderung (anstelle der Figur oder der künstlerischen Performance) in den Vordergrund stellt und nicht selbstverständlich erscheinen lässt. Dieses Problem der Hypersichtbarkeit von Behinderung auf der Bühne verlangt somit von jeder inklusiven Theaterpraxis eine bewusste Positionierung: Entweder wird die Hypersichtbarkeit offensiv angegangen, indem die Behinderung auf der Bühne von den Künstler*innen selbst thematisiert wird, oder die sichtbare Behinderung erscheint als indifferent, indem sie bewusst im Spiel ignoriert und ausgeblendet wird. Ethisch und politisch lassen sich für beide Varianten stichhaltige Argumente finden: Im ersten Fall gilt es, offensiv mit ästhetischen Mitteln und politisch-sozialen Argumenten für eine Anerkennung, Partizipation und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung auf der Bühne zu werben. Im zweiten Fall wird Inklusion als bereits vollzogen

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vorgeführt, indem so getan wird, als mache es gerade keinen Unterschied, ob ein*e Performer*in mit oder ohne Behinderung auf der Bühne steht. Erfolgreiche körperbehinderte Schauspieler wie Peter Radtke, Samuel Koch oder Erwin Aljukić schlagen in der Regel eher den zweiten Weg ein und versuchen, soweit wie möglich als gewöhnliches Ensemblemitglied eines Stadttheaters zu fungieren. Gleichzeitig haben gerade sie wertvolle Pionierarbeit geleistet, die Schauspielschulen und Schauspielhäuser barriereärmer zu gestalten, was vor allem den Alltag hinter den Kulissen bezüglich der Probenarbeit, der Arbeitszeiten sowie der Kooperation mit sozialer Assistenz betrifft. Ein dritter Ansatz, der Inklusion vorlebt und dennoch die Perspektive von Menschen mit Behinderung auf der Bühne thematisiert, könnte in die Richtung der Beispiele gehen, die oben als Aesthetics of Access beschrieben wurden. Hier wird der Blick der Zuschauenden von der Bühne ein Stück weit in Richtung des Publikums gelenkt. Sind Accessibility Tools wie Gebärdensprache, Übertitelung oder Audio-Deskription selbstverständliche Bestandteile des Theaters, werden die Zuschauenden implizit darauf hingewiesen, dass Theater sich eigentlich nur dann inklusiv nennen kann, wenn auch im Publikum Menschen mit Behinderung barrierefrei daran teilhaben können. Dass etwa ein Theaterbesuch mit Tourette-Syndrom nach wie vor für Betroffene eine Qual darstellen kann, wird eindrucksvoll aus autobiographischer Sicht von Christian Hempel im dokumentarischen Theaterstück Chinchilla Arschloch waswas (2019) von Rimini Protokoll auf der Bühne beschrieben. So ist es nicht zuletzt Aufgabe des Publikums, Inklusion im Theater zu ermöglichen, indem dessen Normen, Konventionen und Regeln in Produktion und Rezeption überdacht werden. Literatur

Artaud, Antonin: Das Theater und sein Double 1964. Berlin 2012. Bogdan, Robert: The Social Construction of Freaks. In: Rosemarie Garland-Thomson (Hg.): Freakery. Cultural Spectacles of the Extraordinary Body. New York 1996, 23–37. Bösl, Elsbeth/Klein, Anne/Waldschmidt, Anne (Hg.): Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung. Bielefeld 2010. Davis, Lennard: Enforcing Normalcy. Disability, Deafness and the Body. London 1995. Fletcher-Watson, Ben: Relaxed performance: Audiences with Autism in Mainstream Theatre. In: The Scottish Journal of Performance 2/2 (2015), 61–89. Garland-Thomson, Rosemarie: From Wonder to Error. A

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

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Benjamin Wihstutz

69 Spielfilm

69 Spielfilm 69.1 Spielfilm und Behinderung In ihrem viel beachteten Kinodebüt Jenseits der Stille (DE 1996) erzählt die deutsche Regisseurin Caroline Link von den Konflikten der heranwachsenden Lara mit ihren gehörlosen Eltern. Von der Kritik wurde das für einen Oscar nominierte Familiendrama einhellig für seine realitätsnahe, einfühlsame und weitgehend klischeefreie Auseinandersetzung mit den alltäglichen Problemen Behinderter gelobt. Die Regisseurin selbst erklärte jedoch in Interviews, dass sie ursprünglich gar nicht vorgehabt habe, das Thema Gehörlosigkeit aufzugreifen. Vielmehr sei sie darauf gestoßen, als sie nach einem Mittel suchte, um die von ihr geplante Coming-of-Age-Geschichte wirkungsvoll zu dramatisieren (vgl. Heiner 2003, 171, 173). In Jenseits der Stille scheint es ihr tatsächlich gelungen zu sein, den Anspruch auf eine angemessene Darstellung der Lebenswirklichkeit von Behinderten mit den Anforderungen an einen kommerziell erfolgreichen und publikumswirksamen Spielfilm zu verbinden. Dennoch verweist das Beispiel auf eine grundlegende Problematik, die sich bei der Produktion und Rezeption von Spielfilmen über Menschen mit Behinderung stellt. Sie resultiert aus dem Spannungsverhältnis zwischen der Gattung des Spielfilms, der in seinem Doppelcharakter als Kunstform und Ware eigenen Gesetzen gehorcht, und einem gesellschaftlichen Diskurs über den richtigen Umgang mit behinderten Menschen, der sich in den letzten Jahren – Stichwort Inklusion und Diversität – deutlich intensiviert hat. Im Gegensatz zum Dokumentarfilm (s. Kap. 70) definiert sich der Spielfilm durch die Inszenierung einer fiktionalen Handlung. Er erzählt Geschichten, die unabhängig davon, ob sie fiktiv (= erfunden) sind oder auf wahren Begebenheiten beruhen, erst in der Vorstellung der Zuschauer Realität annehmen. Der Spielfilm verfügt damit über Darstellungsmöglichkeiten, die dem Dokumentarfilm eigentlich versagt sind, auch wenn sie von diesem nicht selten ebenfalls verwendet werden. Er kann mit den Augen seiner Protagonist*innen auf die Welt blicken oder Einsicht in ihr Inneres gewähren, etwa durch Traumsequenzen. Die Inszenierung vollzieht sich dabei auf drei Ebenen: • das Agieren der Schauspieler*innen in einem entsprechend arrangierten und ausgeleuchteten Raum vor der Kamera • die Abbildung dieses Geschehens durch die Kamera sowie

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• der später erfolgende Schnitt und die Montage von Bild und Ton. Als primär narrative Gattung hat der Spielfilm unterhaltenden und mitunter auch belehrenden/informierenden Charakter, er spricht die emotionale und die kognitive Seite der Rezipient*innen an. Als dominant visuelles Medium stimuliert er die Schaulust und befriedigt die elementare Freude an moving pictures. In der Regel ist die Herstellung von Spielfilmen mit hohen finanziellen Investitionen verbunden, die sie in besonderer Weise vom Markterfolg abhängig machen. Behinderungen üben seit jeher eine große Attraktion auf den Spielfilm aus. Im Hinblick auf die umfassende Präsenz von Behinderten in mehr als hundert Jahren Filmgeschichte behauptet Davis sogar: »media loves disability« (2017, 39). In der Tat geht die Zahl der Filme, in denen Menschen mit Behinderungen vorkommen, in die Tausende. Entsprechende Listen im Internet oder in Fachpublikationen (vgl. Heiner/Gruber 2003, 188–203; Tacke 2016b, 32–35) können davon immer nur einen Ausschnitt vermitteln. Dabei haben die unterschiedlichsten Formen körperlicher, geistiger und psychischer Behinderung Eingang in den Spielfilm gefunden, von der Querschnittlähmung bis zur Dyslexie. Statistisch gesehen stehen die Körperbehinderten an erster Stelle, gefolgt von den Blinden (vgl. Bartmann 2002, 87). Behinderung kann im Spielfilm als Motiv und als Thema vorkommen. Als Motiv bildet sie eine kleinere Geschehenseinheit, als Thema ist sie von zentraler Bedeutung für die Geschichte eines Films. Demzufolge ist das Stottern des Tierschutzaktivisten Ken in der Kriminalkomödie A Fish Called Wanda (US/GB 1988; Regie: Charles Crichton) ein Motiv, als Handicap des britischen Königs Georg VI. in The King’s Speech (GB/US/AU 2010; Regie: Tom Hooper) wird es hingegen zum Thema. Die bekanntesten Regisseur*innen des Weltkinos haben Behinderungen als Motiv oder Thema aufgegriffen, von Charlie Chaplin bis Pedro Almodóvar und von David Wark Griffith bis Isabel Coixet. Die berühmtesten Schauspielerinnen und Schauspieler, darunter Bette Davis und Marion Cotillard, Jean Gabin und Leonardo DiCaprio, haben in Behindertenrollen brilliert. Außerdem gibt es heute Behinderten-Film-Festivals u. a. in Paris, München, Moskau, Helsinki und Basel. Woher kommt die Faszination des Spielfilms für Behinderungen aller Art? Im Hinblick auf einen möglichen intrinsischen Zusammenhang zwischen Behinderung und Erzählen weisen Mitchell/Snyder darauf hin, dass sich der Wunsch zu erzählen generell mit Vorliebe an Abweichungen von der Normalität ent-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_69

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

zündet und durch die Hervorhebung des Ausnahmecharakters des Erzählten legitimiert: »The anonymity and normalcy is no story at all. Deviance serves as the basis and common denominator of all narrative« (2000, 54–55). In ableistischen Kulturen, also solchen, die den nicht-behinderten Körper und Geist zur Norm erheben und von einer Spannung zwischen Normalität und Abweichung bestimmt sind (s. Kap. 42), muss Behinderung also als Ausnahme, als das Andere konstruiert werden, um der Erzählung Aufmerksamkeit und Interesse zu sichern. Hinzu kommt, dass es kaum einen anderen Erzählgegenstand gibt, der so gut geeignet ist, die in der aristotelischen Wirkungspoetik favorisierten Affekte ›Furcht und Mitleid‹ auszulösen (vgl. Fiedler 1982). Die in der narrativen Konstruktion der Behinderung angelegten widersprüchlichen Reaktionsmöglichkeiten der Abwehr und der Anziehung werden durch die visuelle und akustische Komponente des Films noch verstärkt. Der auf Narration und Fiktion beruhende Nachahmungscharakter des Spielfilms bringt es mit sich, dass er immer nur eine bestimmte Haltung gegenüber der Wirklichkeit von Behinderten vermitteln kann, nie aber mit ihr identisch ist. Innerhalb dieses Rahmens ist das Spektrum der Darstellungs- und Wirkungsmöglichkeiten aber sehr groß, so dass sich darüber kaum allgemeine Aussagen treffen lassen. Es reicht von simplifizierenden, stereotypen, stigmatisierenden, herabwürdigenden, sensationsgierigen, die Vorurteile gegenüber Behinderten ausnutzenden und bestätigenden Darstellungen bis hin zu solchen, die durch eine differenzierte, realistische und verständnisvolle Sichtweise zum Abbau von Wissensdefiziten und Vorurteilen beizutragen versprechen und zur Reflexion einladen. Gerade dem konventionellen Spielfilm kommt hier über seine genuin filmischen Qualitäten hinaus eine wichtige pädagogisch-didaktische Verantwortung zu, der sich insbesondere neuere Produktionen erkennbar verpflichtet fühlen (vgl. Tacke 2016b, 22). Inwiefern Spielfilme tatsächlich in der Lage sind, konkrete Einstellungsveränderungen zu bewirken, ist ungeklärt. Aufgrund ihrer Breitenwirksamkeit sind sie aber zweifellos in der Lage, einem Massenpublikum Einblicke in das Leben von und mit Behinderten zu geben, mit dem die meisten Zuschauer wenig vertraut sind. Man muss sich nur einmal vergegenwärtigen, dass die Zuschauerzahlen bei manchen besonders erfolgreichen Behindertenfilmen wie Barry Levinsons Rain Man (US 1988) über einen Autisten, Olivier Nakaches und Éric Toledanos Intouchables (FR

2011) über einen Tetraplegiker oder Till Schweigers Honig im Kopf (DE 2014) über einen an Alzheimer Erkrankten im zwei- und dreistelligen Millionenbereich liegen. Dass derartige Blockbuster eine emanzipatorische und aufklärerische Absicht verfolgen sollten, ist nicht nur eine Erwartung oder politische Forderung, die ihnen von außen, seitens der betroffenen Minderheiten und ihrer Interessenvertreter*innen entgegengebracht wird. Sie ist oft auch schon Bestandteil des bewussten Agenda Settings, das viele jüngere Spielfilme nicht zuletzt aus ökonomischem Kalkül von sich aus betreiben. Indem sie gesellschaftlich relevante Themen aufgreifen oder diese sogar antizipieren, folgen sie einer auf Neuigkeit und Überbietung des Vorhandenen ausgerichteten Marktlogik und verschaffen sich dadurch Wettbewerbsvorteile. Ob die von erfolgreichen Spielfilmen transportierten Bilder über Behinderung für den öffentlichen Diskurs über das Thema Behinderung eher nützlich oder hinderlich sind, bleibt umstritten. Aus der Perspektive von Behindertenaktivist*innen, die Filme primär danach bewerten, inwiefern sie zur gesellschaftlichen Inklusion, zur Gleichberechtigung und zum Empowerment von Behinderten beitragen, läuft die Einschätzung dieser Frage meistens auf eine Kosten-NutzenRechnung hinaus: Während die gesteigerte Sichtbarkeit von Behinderten als positiv verbucht wird, richtet sich die Kritik vor allem gegen die Tendenz, die wahren Härten eines Lebens mit Behinderung zu beschönigen, um die Zuschauer*innen nicht nachhaltig mit negativen Gefühlen zu belasten. Im Hinblick auf die möglichen Folgen solcher Darstellungen ist angemerkt worden, dass nicht nur diskriminierende, sondern auch unrealistisch idealisierende Bilder von Behinderten schädliche Wirkungen haben könnten, weil sie falsche Erwartungen und Schuldgefühle bei den Betroffenen und allen, die mit ihnen Umgang haben, erzeugen würden (vgl. Anders 2014, 49–51, 63). Auch in der bisherigen Forschung bildet sich dieser Konflikt ab. Die Disability Studies interessierten sich verdienstvollerweise als erste für die Darstellung von Behinderungen im Spielfilm. Bis in die 1990er Jahre hinein waren sie von einer ideologiekritischen Perspektive geprägt. Sie hatten sich vorwiegend der Einforderung von Political Correctness und der Entlarvung von Stereotypen (s. Kap. 51) als Ausdruck eines ›falschen Bewusstseins‹ gegenüber Behinderten verschrieben (z. B. Longmore 1987; Norden 1994). Seitdem ist die Einsicht gewachsen, dass auch filmästhetische Belange stärkere Berücksichtigung finden müssten. Wegweisend sollte hier in Übereinstimmung mit

69 Spielfilm

Tacke (2016b, 26) die von Hoeksema/Smit ausgegebene Devise sein: »You can’t study film and disability ... without film« (2001, 33). In der Tat zeichnen sich jüngere Studien durch einen stärkeren medien- und kulturwissenschaftlichen Ansatz aus (z. B. Heiner/Gruber 2003; Chivers/Markotić 2010; Anders 2014; Markotić 2016; Fraser 2018). In den letzten Jahren hat sich die Forschung bemerkenswert differenziert. Neben Studien zu einzelnen Behinderungsformen, die längst jeweils ihre eigene Filmgeschichte ausgebildet haben wie Autismus (Osteen 2008) oder Blindheit (Ripplinger 2008; Reschke 2010; Tacke 2016a), existieren Arbeiten zu verschiedenen Genres wie der Komödie (Ljuslinder 2014) und dem Roadmovie (Grebe 2016). Andere widmen sich einzelnen Ländern wie Deutschland (Anders 2014) oder Spanien (Fraser 2013; Marr 2013; Checa/Hartwig 2018), Regionen wie Lateinamerika (Antebi/Jörgensen 2016) oder nehmen eine globale Perspektive ein (Fraser 2016).

69.2 Behinderung im Mainstream- und Arthouse-Kino Um ein differenzierteres Bild der Repräsentation von Behinderungen im Spielfilm zu erhalten, empfiehlt es sich, zunächst idealtypisch zwischen Mainstreamund Arthouse-Kino zu unterscheiden. Unter Mainstream-Kino versteht man den konventionellen, massentauglichen, nach Hollywoodmustern gestrickten und primär auf Unterhaltung der Zuschauer*innen setzenden Spielfilm. Das Arthouse-Kino, zu dem auch der Autorenfilm zählt, widersetzt sich dagegen den Seh- und Erzählgewohnheiten des Mainstream-Kinos und verteidigt eine persönliche künstlerische Vision, die sich eher an ein cineastisches Publikum richtet. Ein zentrales Merkmal des Mainstream-Kinos ist die Verwendung von Figurenklischees und Plotmustern, die meistens den dramaturgischen Regeln und Darstellungskonventionen bestimmter Genres folgen. Diese Konventionen haben entscheidenden Einfluss darauf, wie Behinderte im Film erscheinen. Der Rekurs auf feststehende Formen (Topoi) garantiert die Wiedererkennung durch das Publikum, erlaubt es aber auch, das begrenzte Repertoire nach den Prinzipien der Variation und der Überbietung immer wieder neu zu arrangieren. Gleichzeitig laden Konventionen dazu ein, gegen den Strich gebürstet, parodiert, dekonstruiert und reflektiert zu werden. Gerade neuere Komödien wie etwa die Low-Budget-Produktion Aaltra (BE/FR 2004; Regie: Gustave Kervern/Benoît

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Delépine) machen von dieser Möglichkeit häufig Gebrauch. Zu den filmischen Genres, denen man eine starke Affinität zum dramaturgisch-funktionalen Einsatz von Behinderten attestieren kann, gehören neben der Komödie auch Melodram, Kriminalfilm, Thriller, Roadmovie sowie Kriegs- und Horrorfilm. Im Mittelpunkt steht dabei immer die Absicht, durch negative oder positive Darstellungen von Behinderten Abscheu oder Anteilnahme, Bewunderung oder Spott zu erzeugen und so gezielt die Emotionen der Zuschauer zu stimulieren. Wie sich einzelne Genres das Thema Behinderung anverwandeln, lässt sich z. B. mit Grebe (2013) anhand der Roadmovies Vincent will Meer (DE 2010; Regie: Ralf Huettner), Hasta la Vista (BE 2011; Regie: Geoffrey Enthoven) und Verrückt nach Paris (DE 2002; Regie: Eike Besuden/Pago Balke) genauer betrachten. Darin wird die traditionell dreiteilige Erzählstruktur des Roadmovies (Aufbruch, Reise, Ankunft) mit dem Schicksal unterschiedlich behinderter Figuren verknüpft. Dem Ausbruch aus den jeweiligen Betreuungsinstitutionenen (Familie, Heim, Klinik) folgt der Weg nicht – wie sonst im Roadmovie – aus der, sondern in die Normalität der Nichtbehinderten (Selbstbestimmung und – ein Standardmotiv im Behindertenfilm – der erste Sex). Für den Schluss gibt es mehrere Optionen (Reintegration in die Institution, Tod, offenes Ende). Umgekehrt ist es aber auch so, dass bestimmte Behinderungsformen in verschiedenen Genres zur Ausprägung derselben Erzählmuster führen. So hat beispielsweise Baker gezeigt, wie Autismus vom Actionthriller bis zum Science-Fiction-Film als »formulaic plot device« (2008, 231) funktioniert. Das ›Rezept‹ sieht in diesem Fall folgendermaßen aus: Man führe einen nicht-autistischen Protagonisten und einen gut als Autisten erkennbaren Charakter ein, der eingeschränkt und verlangsamt spricht, Blickkontakt meidet, Ticks kultiviert und zu Zwangshandlungen neigt. Den autistischen Charakter statte man mit sympathischen Schrullen aus, verdeutliche, wie abhängig er von der Fürsorge anderer ist, und verleihe ihm eine Sonderbegabung. Dann wird der Autist aus seiner angestammten Umgebung entfernt und in Gefahr gebracht, aus der ihn schließlich der nicht-behinderte Protagonist rettet, wodurch zwischen beiden eine emotionale Verbindung gestiftet wird. Ebenso wie das rührende, blinde, mittellose Blumenmädchen in City Ligths (US 1931; Regie: Charlie Chaplin) oder der liebenswürdige, tollpatschige, geistig behinderte Jugendliche in What’s Eating Gilbert Grape (US 1993; Regie: Lasse Hallström) entspricht

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

insbesondere der mit einer Inselbegabung ausgestattete Autist einem der zahlreichen Figurenklischees, auf die das Mainstream-Kino so gerne zurückgreift (vgl. Ney 2007, 40–51; Anders 2014, 72–76). Er ist ein supercrip, der außergewöhnliche Leistungen vollbringt, zu denen ›normale‹ Menschen nicht fähig wären. Andere Beispiele sind das von Russel Crow dargestellte schizophrene Mathematikgenie John Forbes Nash in A Beautiful Mind (US 2001; Regie: Ron Howard) oder der von Tom Hanks gespielte, geistig und körperlich behinderte Titelheld in Forrest Gump (US 1994; Regie: Robert Zemeckis), der als Soldat, Footballstar und erfolgreicher Unternehmer in märchenhafter Weise über sich hinauswächst. In einer gemäßigten Variante der Sonderbegabtenrolle treten Behinderte als Erlöser und Lehrmeister von vorgeblich ›normalen‹ Menschen auf, die aber als ›Gefühlskrüppel‹ eigenen Beschränkungen unterliegen oder die Freude am Leben verloren haben. So geschieht es z. B. in der Tragikomödie Le huitième jour (BE/FR/GB 1996; Regie: Jaco Van Dormael), in der ein suizidgefährdeter Bankmanager (Daniel Auteuil) von einem jungen Mann mit Down-Syndrom (Pascal Duquenne) ›geheilt‹ wird. Wie stark zudem bestimmte Behinderungen im Mainstream-Kino gegendert sind, kann man besonders gut am Beispiel der Blindheit oder der Körperbehinderung studieren. Dabei zeigt sich, dass »blinde Männer in der Regel nicht als wehrlose Opfer, sondern als begehrte Helden« (Reschke 2010, 264) auftreten: der blinde Privatdetektiv in Eyes in the Night (US 1942; Regie: Fred Zinnemann) oder der tangotanzende Colonel (Al Pacino) in Scent of a Woman (US 1992; Regie: Martin Brest). Blinde Frauen erscheinen dagegen bevorzugt als hilflose, Beschützerinstinkte weckende Opfer, wie die von einem Psychopathen verfolgte Audrey Hepburn in dem Blindenthriller Wait until Dark (US 1967; Regie: Terence Young). Unter den Körperbehinderten überwiegen bei weitem die männlichen Figuren. Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass es sich in vielen Fällen um ›Kriegskrüppel‹ handelt, wie in The Best Years of Our Lives (US 1946; Regie: William Wyler) über Veteranen des Zweiten Weltkriegs oder in Coming Home (US 1978; Regie: Hal Ashby) und Born on the Fourth of July (US 1989; Regie: Oliver Stone), in denen das Schicksal der Vietnamheimkehrer im Fokus steht. Versehrte Frauenkörper wie in Luis Buñuels Literaturverfilmung Tristana (ES 1970) oder Jacques Audiards Liebesdrama De rouille et d’os (FR/ BE 2012) sind wesentlich seltener und werden viel eher als schockierend wahrgenommen, zumal wenn die beinamputierten Protagonistinnen von Ikonen weibli-

cher Schönheit wie Catherine Deneuve und Marion Cotillard verkörpert werden. Damit klingt zugleich das Motiv der Erotisierung des versehrten Körpers an, das in Crash (CA/GB 1996; Regie: David Cronenberg) in Form einer »Erotik der Prothese« (Seeßlen 2003, 39) provokant ausgespielt wird. Das europäische und amerikanische Arthouse-Kino zeichnet sich tendenziell durch eine Distanzierung gegenüber den Stereotypen des Mainstream-Kinos aus. Einige seiner prominentesten Vertreter, etwa Luis Buñuel, Pedro Almodóvar oder Lars von Trier, haben sich wiederholt mit Behinderung beschäftigt. Dabei reflektieren sie immer auch ihr eigenes Medium, das Kino, und ihre eigene exzentrische Position als Filmemacher. So stechen die unsentimentalen, realistischen, provokant-blasphemischen Behindertenporträts, die der Spanier Luis Buñuel in Los olvidados (MX 1950), Nazarín (MX 1958/59) oder Viridiana (MX/ES 1961) lieferte, aus der zeitgenössischen Produktion heraus. Ein weiterer Spanier, Pedro Almodóvar, schafft früh schon eine inklusive Filmwelt, in der körperliche Handicaps – Querschnittlähmung in Carne trémula (ES 1997), Koma in Hable con ella (ES 2002), Blindheit in Los abrazos rotos (ES 2009) – neben anderen Formen sozialer und geschlechtlicher Marginalität stehen. Auch der Däne Lars von Trier ist mehrfach auf verschiedene Behinderungsmotive zurückgekommen: die geistige und körperliche Behinderung in seinem Melodram Breaking the Waves (DK/SE/FR u. a. 1996) und die Blindheit in seinem Musicalfilm Dancer in the Dark (DK/DE/NL u. a. 2000). Eine Sonderstellung nimmt in diesem Kontext Idioterne (DK 1998) ein. Dieser radikale Film, der durch seine Machart die Zuschauer nachhaltig aus der Reserve lockt, zeigt eine Gruppe ›normaler‹ junger Leute, die vorspielen, geistig und körperlich behindert zu sein, um auf diese Weise die vermeintliche Scheinheiligkeit der Gesellschaft im Umgang mit Behinderten zu entlarven und die ihnen gegenüber bestehenden Unsicherheiten auszunutzen.

69.3 Behinderung als Vehikel Ein zentraler Aspekt bei der Diskussion über die Darstellung von Behinderungen und Behinderten im Spielfilm ist die Frage, inwiefern es dabei tatsächlich um diese selbst geht oder ob sie lediglich für etwas Anderes stehen, d. h. als Vehikel benutzt werden, um Bedeutungen zu transportieren, die den Bedürfnissen und Normalitätsvorstellungen einer Kultur von mehrheitlich Nicht-Behinderten entsprechen. Mitchell/

69 Spielfilm

Snyder (2000) haben für diese Funktion von Behinderungen in Erzählungen den Begriff der ›narrative prosthesis‹ geprägt. Dahinter steht eine lange kulturgeschichtliche Tradition, die offenbart, wie sehr die Behinderung das kulturelle Imaginäre seit jeher beschäftigt hat. Die Forderung, Behinderte nicht in diesem Sinne zu instrumentalisieren, ist dagegen erst im Zuge eines gewachsenen gesellschaftlichen Bewusstseins für die Rechte und Anliegen von Minderheiten aufgekommen. Im Hinblick auf den Spielfilm als künstlerische Gattung ist darüber hinaus zu betonen, dass die Annahme der Möglichkeit, »dass Behinderung einfach nur so im Film vorkommt, ohne gleich eine dramaturgische Funktion zu haben« (Heiner 2003, 175), illusorisch ist. Denn selbst wenn Behinderung im Spielfilm nur ganz beiläufig erscheint und keine starken Gefühle – Furcht, Mitleid, Bewunderung, Spott – auslösen soll, konnotiert sie doch zumindest die Selbstverständlichkeit, mit der Behinderung als ein Teil der Gesellschaft zu betrachten sei: »In an ableist culture disability cannot just be – it has to mean something. It has to signify« (Davis 2017, 44). Ob die starken Zusatzbedeutungen, die Behinderungen – heute seltener als früher – aufgepfropft werden, rhetorisch korrekt als Metonymien, Symbole, Metaphern oder Allegorien zu bezeichnen sind – alle diese Begriffe sind dafür im Umlauf –, muss vom Kontext abhängig gemacht werden. Metonymisch ist zweifellos der Zusammenhang zwischen moralischem und körperlichem Defekt im Fall des im Rollstuhl sitzenden mad scientist Dr. Seltsam in Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb (GB/US 1964; Regie: Stanley Kubrick) oder des eine Handprothese aus schwarzem Leder tragenden Schurken in dem James-Bond-Film Dr. No (GB 1972; Regie: Terence Young). Als Zeichen der Schuld, Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit sind Behinderungen ebenso geläufig wie als Zeichen der Unschuld und Reinheit. In Jane Campions The Piano (AU/NZ/FR 1993) symbolisiert die Stummheit der nach Neuseeland ausgewanderten Protagonistin die Unterdrückung und Selbstbefreiung der Frau. In María Novaros Las buenas hierbas (MX 2010) fungiert der individuelle Erinnerungsverlust einer an Alzheimer erkrankten Ethnobotanikerin als Metapher für den Verlust kulturellen Wissens (vgl. Prout 2016, 83, 93). In Fernando Meirelles’ Literaturverfilmung Blindness (BR/CA/JA 2008) über eine Stadt, die von einer Blindheitsepidemie heimgesucht wird, verweist die Blindheit auf die moralische Orientierungslosigkeit der Menschen und die sprichwörtliche ›Blindheit der Herzen‹.

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Zum Vehikel wird Behinderung auch dann, wenn sie der Selbstreflexion des Kinos dient. Das trifft vor allem auf Beeinträchtigungen wie Blindheit, Stummheit und Taubheit zu, aber auch auf Autismus oder Querschnittlähmung, wird doch »der Zuschauer im Kino in seinem Sessel ähnlich stillgestellt wie ein Rollstuhlfahrer« (Tacke 2016b, 14). Die Darstellung dieser Behinderungen verleiht dem Bild-, Ton- und Bewegungsmedium Kino nahezu von selbst eine reflexive Dimension, die sowohl ästhetisch, als Spiel mit Wahrnehmung und Vorstellung, als auch ethisch, als symbolischer Ausdruck von Solidarität – und nicht nur der ästhetischen Ausbeutung –, gedeutet werden kann. Behinderte werden unter diesen Bedingungen zu ›Reflexionsfiguren des Kinos‹ (vgl. Reschke 2010, 259). Als ›narrative Prothese‹ eigener Art kommt das Medium Film bisweilen ins Spiel, wenn eine Behinderung symbolisch mit Hilfe filmischer Mittel kompensiert wird. Im Fall der Einschränkung der Bewegungs- oder Artikulationsfähigkeit kann das etwa durch die Darstellung des Innenlebens der betroffenen Figuren, ihrer Träume, Vorstellungen und Erinnerungen geschehen. Zu diesem Mittel greift u. a. der vieldiskutierte Film Mar adentro (ES/FR/IT 2004; Regie: Alejandro Amenábar) über den querschnittsgelähmten galicischen Seemann Ramón Sampedro, der engagiert das Thema Sterbehilfe aufwirft (vgl. Tschilschke 2018). Weitere Beispiele sind The Piano, in dem die stumme weibliche Hauptfigur ihre Gedanken per Voice-Over-Stimme mitteilt, und Chce się żyć (dt. In meinem Kopf ein Universum; PL 2013; Regie: Maciej Pieprzyca), in dem derselbe Kunstgriff zur Anwendung kommt. So wird dem Zuschauer durch die filmische Fiktion ein privilegierter Zugang zur Erlebniswelt der behinderten Figuren eröffnet.

69.4 Das Ideal der Authentizität Ein entscheidendes Kriterium für die Bewertung der Darstellung von Behinderten im Spielfilm ist aus heutiger Sicht ihre Authentizität, das heißt wie wahrscheinlich und lebensecht sie wirken. Erstaunlich viele Behindertenfilme beziehen einen Teil ihrer Glaubwürdigkeit aus der Tatsache, dass sie auf autobiographischen Geschichten beruhen. Dazu gehören My Left Foot: The Story of Christy Brown (IE/GB 1989; Regie: Jim Sheridan), Mar adentro, Le scaphandre et le papillon (FR/US 2007; Regie: Julian Schnabel) oder Yo, también (ES 2009; Regie: Álvaro Pastor/Antonio Na­

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

harro). Hinzu kommt, dass in den meisten Fällen eine intensive Vorbereitung der Drehbuchautor*innen, Regisseur*innen und Schauspieler*innen durch Recherchen und Dokumentationen, die Heranziehung von Fachleuten und Berater*innen sowie die Beteiligung von Betroffenen stattgefunden hat. Eine immer wieder erörterte Problematik dreht sich darum, ob Filme über Behinderte nicht auch mit Behinderten gemacht werden sollten. Nun ist das an kommerziellem Erfolg orientierte Mainstream-Kino im Wesentlichen ein Starkino, das auf die Attraktionskraft beliebter Schauspieler*innen setzt. Gleichzeitig gilt es als besondere Herausforderung für die – heute gegebenenfalls von Computertechniken unterstützte – Verwandlungsfähigkeit eines nichtbehinderten Schauspielers, überzeugend einen Behinderten zu verkörpern. Die Schauspielleistung in einem Behindertenfilm kommt im Urteil der Zuschauer deshalb in der Regel auch am besten weg, selbst wenn der Film in seiner Gesamtheit weniger gut abschneidet. Wie stark die beiden Faktoren Prominenz und performance zusammenwirken, lässt sich an der langen (hier unvollständigen) Liste der Schauspieler*innen ablesen, die für eine Behindertenrolle in den Kategorien »beste/r Hauptdarsteller/in« mit einem Oscar ausgezeichnet wurden: Jane Wyman in Johnny Belinda (US 1948; Regie: Jean Negulesco), Anne Bancroft in The Miracle Worker (US 1963; Regie: Arthur Penn), Marlee Matlin in Children of a Lesser God (US 1986; Regie: Randa Haines), Dustin Hoffman in Rain Man, Daniel Day-Lewis in My Left Foot: The Story of Christy Brown, Al Pacino in Scent of a Woman, Holly Hunter in The Piano, Tom Hanks in Forrest Gump, Hilary Swank in Million Dollar Baby (US 2004; Regie: Clint Eastwood) und Colin Firth in The King’s Speech. In dieser Reihe ist die gehörlose Marlee Matlin die einzige tatsächlich behinderte Schauspielerin. Dass Behindertenrollen mit behinderten Schauspieler*innen besetzt werden, ist zwar die Ausnahme, kommt aber durchaus vor. Schon in Freaks (US 1932; Regie: Tod Browning) spielten ›echte‹ Behinderte mit. Harold Russell, der Hauptdarsteller von The Best Years of Our Lives, hatte als Soldat selbst beide Hände verloren und trug stattdessen Haken. Das Elternpaar in Jenseits der Stille wird von den gehörlosen Schauspielern Emmanuelle Laborit und Howie Seago dargestellt. Immer häufiger kommen auch Menschen mit Down-Syndrom als Schauspieler*innen zum Einsatz, z. B. Pascal Duquenne in Le huitième jour oder Pablo Pineda in Yo, también, der in der deutschsprachigen Version des Films (Me too – Wer will schon normal sein?) von Se-

bastian Urbanski, einem deutschen Schauspieler mit Down-Syndrom, synchronisiert wird. In der Diskussion um behinderte und nichtbehinderte Schauspieler zirkulieren verschiedene ernstzunehmende Argumente, die eine allzu kategorische Sichtweise unangebracht erscheinen lassen (vgl. Davis 2017). Festzuhalten ist auf jeden Fall, dass die Sensibilität für diese Thematik in den letzten Jahren zugenommen hat. Zusammenhänge bestehen u. a. mit der ethnisch fokussierten Debatte um das Blackfacing, die Darstellung schwarzer durch weiße Menschen. Für die Wahl nichtbehinderter Schauspieler*innen sprechen unter Umständen die spezifischen Erfordernisse der jeweiligen Rolle und die Anstrengungen der Dreharbeiten, die Behinderte schneller an ihre Grenzen geraten lassen. Auch das grundsätzliche Argument, dass das Wesen des Theaters und der Schauspielkunst in Frage gestellt sei, wenn man daran Anstoß nehme, dass Nichtbehinderte Behinderte spielen, bleibt zu bedenken. Wer dagegen fordert, dass Behinderte in erster Linie von Behinderten verkörpert werden sollten, kann zunächst darauf verweisen, dass es bereits viele gute behinderte Schauspieler*innen gibt. Uneinigkeit herrscht darüber, ob man nicht durch diese Forderung Behinderte auf ihren angeblich authentischen Selbstausdruck reduziert. Noch weiter geht der Schritt, für das Recht auf universelle Besetzbarkeit von Behinderten einzutreten, also Behinderte auch Rollen von Nichtbehinderten spielen zu lassen (vgl. Davis 2017, 49). Neben der Frage der angemessenen Besetzung von Behindertenrollen steht auch Seeßlens Behauptung, »dass es keinen erzählenden Film gibt, der konsequent aus der Perspektive eines Behinderten gedreht ist« (2003, 33) weiterhin im Raum. Ein spektakuläres Gegenbeispiel aus der jüngeren Geschichte des Behindertenfilms ist Julian Schnabels Le scaphandre et le papillon (2007) über den nach einem Schlaganfall an einem Locked-in-Syndrom leidenden französischen Journalisten Jean-Dominique Bauby, der nur über das Klimpern seines linken Augenlides mit der Außenwelt kommunizieren kann. Der Film ist konsequent aus der Ich-Perspektive erzählt, die sich in der Voice-OverStimme des Protagonisten und – über weite Strecken – in der Übernahme seiner stark eingeschränkten subjektiven Sicht manifestiert. Auch in Filmen wie Mar adentro oder Yo, también lassen Kameraverhalten und Montage durchgehend eine identifikatorische Nähe zu den behinderten Hauptfiguren erkennen. Neben der Beteiligung am Inneren der Figuren über die Visualisierung ihrer Erinnerungen und Träume oder die Auskünfte, die sie als Ich-Erzähler über sich selbst geben,

69 Spielfilm

sind immer wieder auch Versuche zu verzeichnen, sich an die Weltwahrnehmung von Behinderten anzunähern. So wird signalisiert, dass man bereit und willens ist, sich auf die Perspektive des Anderen einzulassen, auch wenn diese selbst natürlich immer nur unzureichend nachgeahmt werden kann. In Aaltra verlässt die Kamera z. B. in der Horizontalsicht demonstrativ die normale Augenhöhe und passt sich an die Perspektive der im Rollstuhl sitzenden Figuren an. Am Ende des Thrillers Wait until Dark bleibt das Bild für längere Zeit vollständig dunkel, um die Zuschauer*innen in die Lage seiner blinden Protagonistin zu versetzen. Der Film Jenseits der Stille ist zwar aus der Perspektive einer hörenden Figur erzählt, öffnet sich jedoch auf der Tonebene dem Erleben Gehörloser, indem er häufig Stille eintreten lässt oder Geräusche nur stark gedämpft wiedergibt, wie in der Eingangssequenz, in der sich die Kamera aus den Tiefen eines zugefrorenen Sees zu den Eisläufern auf der Oberfläche hinbewegt (vgl. Ellenbürger 2016, 22).

69.5 Behinderung im frühen Film Die Darstellung von Behinderten im Kino ist nahezu so alt wie das Kino selbst. Das gilt auch für den Spielfilm (vgl. Norden 1994). Die vorherrschenden Stilregister sind im Einklang mit der kulturellen Tradition das Groteske, Komische, Hässliche, Fremde, Schockierende, Monströse, aber auch das Sentimentale, Rührende und Märchenhafte. In den allerersten Kurzfilmen tauchen vor allem Körperbehinderte in humoristischen Minimalhandlungen auf. Die Titel lauten entsprechend The Nearsighted School Teacher (US 1898), Don’t Pull My Leg (US 1908) oder The Cripple’s Marriage (US 1909). Auch die ersten behindertenbezogenen Melodramen entstehen, von denen allein David Wark Griffith während seiner Tätigkeit für die Biograph Company (1908–1913) mehr als ein Dutzend drehte. In Deutschland hatte der acht Minuten lange Film Das Liebesglück der Blinden (DE 1910/11; Regie: Curt A. Stark, Heinrich Bolten-Baeckers) großen Erfolg: Ein körperbehinderter Arzt schenkt einer blinden Patientin das Augenlicht, die ihn auch dann noch liebt, als sie ihn sehen kann. Das Motiv der wundersamen Heilung durch eine Augenoperation und die Fortdauer der Liebe unter den neuen Umständen spielt auch in Chaplins City Lights (1931) eine wichtige Rolle. Die erbauliche Botschaft, dass sich hinter einem monströs entstellten Äußeren ein empfindsamer Mensch verbergen kann, verbindet sich vor allem mit der literarischen Figur des

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Quasimodo, der in der Verfilmung The Hunchback of Notre Dame (US 1923; Regie: Wallace Worsley) zum wiederholten Mal spektakulär in Szene gesetzt wird. Zur gleichen Zeit nutzt die künstlerische Avantgarde das Motiv der Behinderung zu surrealen Verfremdungseffekten: Beinamputation in Entr’acte (FR 1924; Regie: René Clair), Blindheit in Un chien andalou (FR 1929; Regie: Luis Buñuel) und Fortbewegung im Rollstuhl in À propos de Nice (FR 1930; Regie: Jean Vigo). Eine Sonderstellung unter den frühen Behindertenfilmen nimmt Freaks (1932) von Tod Browning ein, der als Horror- und Monsterfilm vermarktet wurde. Die Mehrzahl der Darsteller bestand aus realen geistig und körperlich Behinderten. Die Handlung spielt unter den Mitwirkenden einer Kuriositätenshow beim Zirkus: Der kleinwüchsige Hans verliebt sich in die schöne normalwüchsige Trapezkünstlerin Cleopatra, die ihn aber nur heiratet, um an seine Erbschaft zu gelangen. Zur Strafe stutzen die unter sich solidarischen ›Freaks‹ Cleopatra mit Gewalt zu einem entenartigen Wesen und machen aus ihr ebenfalls einen ›Freak‹ (»one of us«). Der Film wurde lange Zeit als so skandalös empfunden, dass er in Großbritannien bis 1963 verboten blieb. Die zentrale, bis heute erörterte Frage bezieht sich darauf, »ob in diesem Film ›Freaks‹ à la Side-Show ausgestellt werden oder ob der Film in aufklärerisch-emanzipatorischer Manier mit den ›Freaks‹ als Menschen wie du und ich bekannt und vertraut machen möchte« (Helmes 2017, 43). Im Hinblick darauf, dass sich der im Film gezeigte Alltag der ›Freaks‹ kaum von dem Nichtbehinderter unterscheidet und sich die ›normalen‹ Menschen in moralischer Hinsicht als die wahren ›Freaks‹ erweisen, überwiegt indessen eindeutig die humanistisch-aufklärerische Komponente. Ein spätes Echo der frühen Kinotradition findet sich in David Lynchs The Elephant Man (US 1980), der einen historischen Fall vom Ende des 19. Jahrhunderts aufgreift: Der von extremer körperlicher Missbildung betroffene John Merrick wird von einem Arzt aus den Händen eines Schaustellers befreit und wieder in Kontakt mit der Gesellschaft gebracht. Lynch macht daraus auch eine Reflexion über den Voyeurismus im Kino und dessen eigene Vergangenheit als Jahrmarktsattraktion.

69.6 Der neuere Behindertenfilm In der klassischen Hollywood-Ära und den nachfolgenden Jahren bewegt sich die Darstellung von Behinderten weitgehend innerhalb der vorgezeichneten

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

Bahnen. Dabei entstehen durchaus Produktionen, die, wie The Miracle Worker (1963), die individuelle Bewältigung des Lebens mit der Behinderung durch die Betroffenen und ihr Umfeld mit großer Intensität beschreiben. Grundsätzliche Veränderungen im Hinblick auf die Darstellungsweise von Behinderten im Spielfilm zeichnen sich jedoch erst seit Ende der 1980er Jahre ab, reziprok zur wachsenden soziopolitischen Anerkennung der Ansprüche von Minderheiten und den verstärken Bestrebungen zur Inklusion von Menschen mit Behinderung (vgl. Tacke 2016b, 15, 20–21). Der allmähliche Wandel des Behindertenbildes im Spielfilm erfolgt auf mehreren Ebenen: 1. Naturalisierung: Was bisher primär als negative oder positive Ausnahmeerscheinung galt, wird entstigmatisiert und entdramatisiert. Es verwandelt sich tendenziell in etwas Alltägliches und Normales, das bestenfalls überhaupt nicht mehr problematisiert werden muss. 2. Amplifikation: Statt nur als verstreutes, isoliertes, marginales Motiv vorzukommen, wird Behinderung häufiger zum Hauptgegenstand und Thema. 3. Multiplikation: Es gibt generell mehr Filme, in denen Behinderung von Belang ist. 4. Diversifizierung: Das Spektrum der Darstellungen differenziert sich, indem einzelne Behinderungen eine eingehendere, weniger stereotype Beschreibung erfahren und neue Formen der Behinderung hinzutreten. Das sind z. B. der Autismus wie in Rain Man und Testről és lélekről (dt. Körper und Seele; HU 2017; Regie: Ildikó Enyedi), das Tourette-Syndrom wie in The Tic Code (US 1998; Regie: Gary Winick), Vincent will Meer und Ein Tick anders (DE 2011; Regie: Andi Rogenhagen) oder zuletzt die Demenz wie in Amour (FR/ DE/AT 2012; Regie: Michael Haneke), Honig im Kopf, Still Alice (US 2014; Regie: Richard Glatzer/ Wash Westmoreland) und The Roads Not Taken (GB 2020; Regie: Sally Potter). 5. Intersektionalität: Behinderung wird zunehmend mit anderen Benachteiligungsmerkmalen gekoppelt (Ethnizität, Geschlecht, Klasse etc.; vgl. Fraser 2013, xiii). Im Folgenden sollen zwei besonders signifikante Beispiele für die schrittweise Transformation des Behindertenbildes im Spielfilm zwischen Abweichung und Normalisierung etwas genauer beleuchtet werden.

Beispiel 1: Rain Man (1988) Barry Levinsons Film Rain Man gilt als »foundational text in cinematic representations of autism« (Murray 2008, 244). Der Film brachte zum ersten Mal überhaupt ein Massenpublikum mit dieser Art der Behinderung in Berührung und diente daher in der Folge als »the public’s primary definitional text for autistic spectrum disorders« (Baker 2008, 229). Das sehr effektvolle, unterhaltsame, tragikomische Behinde­ rungsnarrativ, das der Film etablierte, trug ihm seitens der Disability Studies aber auch Kritik ein. Der Film kombiniert das Plotmuster des Roadmovies mit dem Figurenklischee des supercrip. Erzählt wird die Geschichte der beiden ungleichen Brüder Charlie Babbit (Tom Cruise) und Raymond Babbitt (Dustin Hoffman). Charlie ist ein egoistischer Yuppie und Autohändler aus Kalifornien mit finanziellen Problemen. Sein älterer Bruder Raymond ist Autist und lebt in einem Wohnheim für geistig Behinderte. Eine Erbschaftsangelegenheit ist der Anlass dafür, dass Charlie seinen Bruder aus dem Wohnheim entführt und sich mit ihm auf eine Autofahrt nach Kalifornien begibt. Im Verlauf der Reise lernt er, auf die Ticks seines Bruders Rücksicht zu nehmen, nutzt aber auch dessen besondere Fähigkeiten zu seinen Gunsten aus. Die Figur Raymonds entspricht ganz der Inszenierung des Autismus als Spektakel, die nach Baker folgendermaßen entsteht: »With the combination of the autistic character’s mysterious idiosyncrasies and special talents, autism becomes a spectacle« (2008, 231). Zu Raymonds zahlreichen Idiosynkrasien gehören seine Flugangst und seine Weigerung, bei Regen das Zimmer zu verlassen, zu seinen Talenten ein extrem gutes Gedächtnis und eine besondere Rechengabe. Obwohl die Figur des Autisten Raymond und ihre Oscar-prämierte schauspielerische Verkörperung durch Dustin Hoffman das Zentrum des Interesses bilden, ist die Geschichte funktional gesehen auf den nichtbehinderten Antihelden zugeschnitten, der wie im Märchen eine Reihe von Prüfungen bestehen muss, um am Ende ein besserer Mensch zu werden. Der Behinderte wird dagegen – wie so oft – »zur Probe für die anderen, zur emotionalen Entwicklungshilfe« (Seeßlen 2003, 35). Nachdem er diese Funktion erfüllt hat, kehrt er wieder in die fachliche Obhut der Pflegeinstitution zurück, in der er nach Überzeugung aller Beteiligten am besten aufgehoben ist. Am Ende steht die Exklusion des Autisten aus der Gesellschaft. Das ist auch einer der Kritikpunkte, die Baker aus der Sicht der Betroffenen gegen Rain Man vorbringt. Die »spec-

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tacularization of autism« (2008, 234) reduziere den Autisten auf das, was er für andere leiste oder bedeute. Ohne seine Superkräfte wäre Raymond nichts als eine Bürde für seinen Bruder und verlöre seine filmische und – in den Augen der Zuschauer – möglicherweise auch seine gesellschaftliche Existenzberechtigung. Durch die Fokussierung auf das unter Autisten relativ seltene Savant-Syndrom (10 %) werde der Öffentlichkeit ein falsches Bild der Behinderung vermittelt. Außerdem erscheine der Autist als inhumaner, fremdbestimmter und manipulierbarer Roboter, beherrscht von seinen kindlichen Obsessionen und unfähig, sich zu entwickeln. Zugunsten dramaturgischer Erfordernisse trete die wichtige Bedeutung von Eltern, Familie und häuslicher Umgebung in den Hintergrund. Das leiste dem Vorurteil Vorschub, dass Autismus durch Vernachlässigung entstünde, und verstärke die Schuldgefühle der Angehörigen. Beispiel 2: Yo, también (2009) Álvaro Pastors und Antonio Naharros Film Yo, también erschien zwanzig Jahre nach Rain Man. Während in der Hollywoodproduktion der Ausnahmecharakter der Behinderung und die Unvermeidlichkeit der Exklusion den Ton bestimmten, plädiert der spanische Film entschieden für die Inklusion, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung behinderter Menschen – und das schon im Titel (wörtlich: »Ich auch«). Fraser bezeichnet ihn deshalb als »particularly path-breaking« (2013, xxiii). Im Fokus steht der 34-jährige Daniel Sanz mit Down-Syndrom, der von Pablo Pineda dargestellt wird, dem ersten Europäer mit Down-Syndrom, der einen Universitätsabschluss erreichte und nach dessen Vorbild die Figur konzipiert ist (vgl. Rivera-Cordero 2013, 66, 70). Der erste spanische Film mit einem Hauptdarsteller mit Down-Syndrom war allerdings León y Olvido (ES 2004; Regie: Xavier Bermúdez). Am Beispiel von Daniel spielt der Film die Integration von Behinderten und ihren Anspruch auf Normalität in verschiedenen Lebensbereichen durch: Familie, Arbeit und Privatleben. Von seinen Eltern wurde Daniel intensiv in seiner intellektuellen Entwicklung gefördert. Zu seinem Bruder, der mit seiner Frau eine (tatsächlich existierende) Tanzakademie für Behinderte leitet, unterhält er ein freundschaftliches Verhältnis. Sein Universitätsabschluss ermöglicht es ihm, einer regulären Tätigkeit auf dem Sozialamt in Sevilla nachzugehen. Das Problem, auf das sich der Film konzentriert

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und womit er durchaus an Tabus rührt, ist das der Liebe, Partnerschaft und Sexualität zwischen Behinderten und Nichtbehinderten als dem eigentlichen Prüfstein für die ›Normalisierbarkeit‹ ihres Verhältnisses. Daniel verliebt sich in seine nichtbehinderte Arbeitskollegin Laura (Lola Dueñas), die nach und nach seine Gefühle erwidert. Die junge Frau ist mit ihrer instabilen Persönlichkeit und ihren familiären Problemen auf ihre Weise ebenfalls eine Außenseiterin. In diesem Fall gestaltet sich die Beziehung zwischen behinderter und nicht behinderter Figur komplementär: »Beide verhelfen einander zu einem vollständigeren Leben« (Hartwig 2016, 232). Am Ende kommt es zwischen Laura und Daniel sogar zu dem von ihm herbeigesehnten Sex, der ihm bestätigt, ein ›normaler Mann‹ zu sein. Doch der von der Kamera nur angedeutete Akt bleibt ambivalent. Daniel bezieht daraus ein gesteigertes Selbstbewusstsein, Laura besteht darauf, dass es bei diesem einen Mal bleibt. Exemplarisch gespiegelt wird die prekäre Sexualität zwischen Laura und Daniel durch zwei weitere Beziehungen: die glückliche Ehe zwischen Daniels Bruder Santis und dessen schwangerer Frau Reyes und die Liebe zwischen den jungen Erwachsenen Pedro und Luisa, die beide kognitiv beeinträchtigt sind, sich in der Tanzgruppe kennenlernen und gegen den anfänglichen Widerstand ihrer Umgebung zusammenfinden. Um der Handlung von Yo, también vorbehaltlos folgen zu können, muss man allerdings den Grundwiderspruch akzeptieren, dass das Plädoyer des Films auf einer Tautologie beruht, denn der Anspruch auf Normalität wird ausgerechnet von einer Figur erhoben, die selbst verhältnismäßig ›normal‹ ist. Gerade wegen seiner ›Normalität‹ ist auch Daniel ein Ausnahmecharakter. Zwar bekennt er Laura gegenüber bei einem Strandbesuch stolz: »Ich habe das Syndrom von Kopf bis Fuß: Down. Wie im Lehrbuch«, aber abgesehen von seinem Äußeren und seiner Sprache ist er den Nichtbehinderten in Intelligenz, Bildung, Empathie, Charme und Witz ebenbürtig oder sogar überlegen. Das betont auch Hartwig: »Daniel ähnelt im Film so stark den Figuren ohne Behinderung (und so wenig z. B. Luisa und Pedro), dass zwar seine Forderung nach normaler Behandlung uneingeschränkt nachvollziehbar ist, sein Beharren auf dem Recht auf Verschiedenheit allerdings farblos bleibt – er hat ja selbst keine sichtbaren kognitiven Beeinträchtigungen, geschweige denn moralische oder emotionale Defizite.« (Hartwig 2016, 234)

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

69.7 Behinderung und Intersektionalität Heute mehren sich die Feststellungen, dass sich Behinderte inzwischen zu Lieblingen der Popkultur entwickelt haben und das Kino eine seiner Hauptaufgaben offenbar darin sehe, Diversität zu produzieren. In der Tat scheinen neuere Blockbuster wie The Shape of Water (US 2017; Regie: Guillermo del Toro) dieser Beobachtung Recht zu geben. Gerade The Shape of Water gibt ein vorbildliches Beispiel für intersektionale Diversität (s. Kap. 46) ab: Zur Rettung des amphibienartigen Naturwesens, das im Mittelpunkt des Films steht, verbünden sich Elisa, eine junge Putzfrau, die stumm ist und sich mit Gebärdensprache verständigt, Zelda, ihre Freundin und Arbeitskollegin, die schwarz ist, und Elisas Nachbar Giles, ein einsamer, alter homosexueller Künstler. Ganz neu ist das Bewusstsein für die Überschneidung verschiedener Diskriminierungsformen allerdings nicht. In dem in Paris spielenden Abschnitt seines Episodenfilms Night on Earth (US 1991) hatte beispielsweise schon Jim Jarmusch diesen Aspekt in einer sehr amüsanten Szene zwischen einer blinden jungen Frau und einem aus der Elfenbeinküste stammenden Taxifahrer auf den Punkt gebracht. Auch die extrem erfolgreiche Komödie Intouchables über die Freundschaft zwischen dem reichen, im Rollstuhl sitzenden Philippe und seinem aus dem Senegal stammenden, vorbestraften jungen Pfleger Driss, der in der Pariser Banlieue aufgewachsen ist, wird Behinderung mit weiteren Diskriminierungsfaktoren wie der ethnischen und sozialen Herkunft verknüpft. Diesem Rezept folgt noch die jüngste Inklusionskomödie des Regieduos Olivier Nakache und Éric Toledano. In Hors normes (FR 2019) erzählen sie von den tragikomischen Anstrengungen der beiden Pariser Sozialarbeiter Bruno und Malik – Jude der eine, Muslim der andere – bei ihrer alltäglichen Beschäftigung mit schwer autistischen Jugendlichen. Die Tatsache, dass es vor allem Komödien sind, die sich in den letzten Jahren des Themas Behinderung angenommen haben, ist nicht nur ein Anzeichen dafür, »wie marktkompatibel Screening Disability längst geworden ist« (Tacke 2016b, 21). Es zeigt auch, dass Spielfilme, die mit Klischees spielerisch bis subversiv umgehen und sich dem Thema realitätsnah und humorvoll, ohne Rührseligkeit und bevormundende Rücksichtnahme widmen, dem aktuellen Stand der medialen Auseinandersetzung mit Behinderung am besten zu entsprechen scheinen.

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Christian von Tschilschke

404

IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

70 Dokumentarfilm 70.1 Besonderheiten des Dokumentarfilms Von seinem Selbstverständnis her erscheint der Dokumentarfilm – im Folgenden in erster Linie verstanden als eigenständiger Autorenfilm im Kinoformat – als besonders geeignetes Genre für die Vermittlung eines komplexen und realitätsgetreuen Bildes von Behinderung. Im Gegensatz zum Spielfilm erhebt er den Anspruch, nicht-fiktional zu sein. Durch seine Länge (in der Regel zwischen 60 und 90 Minuten), seine zeitliche Distanz zum Geschehen und eine mehr oder weniger ausgeprägte ästhetische und rhetorische Gestaltung – oft mit didaktischem oder politischem Anspruch – unterscheidet er sich von verwandten realistischen Fernsehformen wie Reportage, Lehrfilm oder Feature (vgl. Niney 2012, 52). Das dokumentarische Rohmaterial ist bereits durch die Auswahl von Ort, Zeit und Personen, die vor der Kamera erscheinen, vorgeformt. Durch Bildkomposition (Einstellung/Kadrierung, Perspektive/point of view, Licht, Farbe, sequentielle Einbindung der Bilder und Szenen, Schnitt, Montage und Tongestaltung) verdichtet der Dokumentarfilm dieses Material zu einer Aussage oder verleiht ihm eine bestimmte Wirkung. Damit bildet er die Haltung (des Regisseurs/der Regisseurin) zur Realität und nicht eine vermeintlich objektive Realität ab, ist also – auf einer thematischen Ebene ebenso wie durch seine Struktur – interpretierte Realität. Dennoch ist ein herausstechendes Merkmal des Genres, dass ihm vom Zuschauer eine besondere Nähe zur Wirklichkeit und hohe Glaubwürdigkeit zugesprochen werden (vgl. Niney 2012, 24). Gilt in den Anfängen des Films jeder Film als dokumentarisch (vgl. Niney 2012, 27), bildet sich bald eine eigene Untergattung ›Dokumentarfilm‹ heraus, die Wissen inszeniert und didaktisch vermittelt. Als Folge der Entwicklung von kleinen, tragbaren Handkameras und der Synchrontongestaltung entsteht in den 1960er Jahren das Direct Cinema, das die ungefilterte Teilhabe des Zuschauers an der Realität verspricht und den technischen Aufwand sowie die ästhetische Gestaltung auf ein Minimum reduziert (Lipp 2016, 99–101). Das etwa zur gleichen Zeit entstehende Cinéma vérité bringt hingegen durch sichtbare massive Eingriffe in die Realität die gefilmte Realität erst hervor. Ab den 1960er Jahren wird der Dokumentarfilm mehr und mehr von dem neuen Massenmedium Fernsehen vereinnahmt und zur Fernsehgattung, die sich an den Programmablauf anpasst. Das Genre spal-

tet sich in reportageähnliche, faktenorientierte und oft didaktische Fernsehfilme und (kreative) cineastische Filme, die dem Zuschauer weniger quantifizierbares Wissen als vielmehr eine Erfahrung anbieten (Niney 2012, 153). Regisseur*innen sind bis ins 21. Jahrhundert fast ausschließlich Menschen ohne Behinderung, denn die Erzeugung und die Verarbeitung der Bilder und Texte setzt konkrete physische und kognitive Fertigkeiten, aber auch eine gesellschaftliche Stellung voraus, über die die meisten Menschen mit Behinderung lange Zeit nicht verfügten. Angesichts neuer Produktions- und Distributionsmöglichkeiten im digitalen Zeitalter und mit den neuen sozialen Medien steigt die Zahl der Amateur-Dokumentationen schließlich explosionsartig an. Jeder Besitzer einer Handy-Kamera ist nunmehr in der Lage, seinen eigenen Dokumentarfilm herzustellen und diesen über Kanäle wie YouTube zu publizieren und unter den Filmemacher*innen befinden sich immer mehr Menschen mit Behinderung. Das Verhältnis zwischen Original, Abbild und Kopie verändert sich durch die Möglichkeiten digitalisierter Bildbearbeitung, wie insgesamt augmented oder virtual reality das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit grundlegend erneuern. Computeranimationen und Drohnenaufnahmen ermöglichen nichtmenschliche points of view. Webbasierte interaktive Dokumentarfilme lassen die Grenze zwischen Produzent*in und Rezipient*in verschwimmen (»open space documentary«; vgl. Zimmermann/De Michiel 2018; vgl. auch den partizipatorischen bzw. interaktiven Modus bei Nichols 2017, 138, 156).

70.2 Geschichte des Dokumentarfilms über Behinderung Eine traditionelle Funktion des Dokumentarfilms im Zusammenhang mit Behinderung ist die Archivierung von Fallbeispielen bzw. Prototypen, z. B. die typologisierende Abbildung von körperlichen Abweichungen für medizinische Zwecke bzw. Aufzeichnungen von Gebärdensprache (vgl. Zdrodowska 2017). Menschen mit Behinderung werden dabei zum Objekt des forschenden Blicks. In der Frühzeit des Dokumentarfilms handelt es sich bei solchen Darstellungen auch um die (normative) Vermittlung von Wissen über Behinderung (als etwas Negatives). Eine gezielte Einflussnahme auf Vorstellungen über Menschen mit Behinderung als ›lebensunwert‹ streben die Nationalsozialisten in Deutschland an (s. Kap. 28). Propagan-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_70

70 Dokumentarfilm

dafilme wie der Stummfilm Erbkrank des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP (1935/36) führen missgestaltete ›Irre‹ und ›Schwachsinnige‹ vor und beklagen deren Kosten für die ›Volksgemeinschaft‹. Für die nationalsozialistische Rassenhygiene wirbt auch der Tonfilm Opfer der Vergangenheit (DE 1937; Regie: Gernot Bock-Stieber). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden Filme über Menschen mit Behinderung im Gegensatz dazu auch in den Dienst sozialer Anklage gestellt. Vielbeachtet ist z. B. Frederick Wisemans Titicut Follies (1967) über das Bridgewater-Krankenhaus in Massachusetts. Kommentarlos zeigt der Film entmenschlichende Lebensbedingungen und entwürdigende Behandlungsmethoden für psychisch Erkrankte auf derartig skandalöse Weise, dass seine öffentliche Aufführung zeitweilig verboten wird. Als Folge der Forderungen nach Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung im Umkreis des Disability Rights Movement (s. Kap. 29) sprechen im Dokumentarfilm ab den 1960er Jahren zunehmend Menschen mit Behinderung selbst. Sehr bekannt wird der zweiteilige, im Stil des Cinéma vérité gedrehte Film Nessuno o Tutti (Tre Storie und Matti da Slegare; IT  1975; Regie: Marco Bellocchio/Silvano Agosti/Sandro Petraglia/ Stefano Rulli) mit Berichten von Bewohnern einer Anstalt für psychisch Erkrankte, der für eine Abschaffung dieser Institution plädiert (vgl. Stastny 1998, 80; vgl. dort auch weitere Filmbeispiele). Gegen Ende des 20. Jahrhunderts treten die Beziehungen zwischen Menschen mit und ohne Behinderung bzw. zwischen Regisseur*innen und Gefilmtem in den Vordergrund (vgl. Stastny 1998, 83). Menschen mit Behinderung werden zum Subjekt der Dokumentarfilme, weil sie selbst sprechen, die Filmemacher beraten oder eigene Filme drehen. Entwickelt werden Formate wie filmische Biographien, Tagebücher, Essays oder Manifeste. Auch experimentelle Filme nehmen zu (Beispiele ebd., 86–87). Le regard des autres (FR 1980; Regie: Fernando E. Solanas/Monique Saladin) enthält z. B. Interviews von 24 Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen hauptsächlich in Porträt-Aufnahmen, die von einer gestörten Beziehung zu ihren Mitmenschen sprechen. Am Ende steht die Forderung nach mehr Sichtbarkeit im öffentlichen Raum. Der preisgekrönte Dokumentarfilm Der Pannwitzblick (DE 1991; Regie: Didi Danquart; vgl. die Studie von Brady 2010) belegt eindrucksvoll, wie in unterschiedlichen geschichtlichen Kontexten ein vernichtender Blick auf Menschen mit Behinderung ausfallen kann.

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Nach Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2006 setzen sich viele Dokumentarfilme mit dem Thema Inklusion auseinander. Auch nehmen Darstellungen der Geschichte des Konzepts von Behinderung bzw. des gesellschaftlichen Umgangs mit Behinderung sowie individuelle Porträts von Menschen mit Behinderung zu. Oft handelt es sich um Independent-Filme (vgl. z. B. viele der im Sammelband Brylla/Hughes 2017 genannten Filme), in der Regel produziert mit geringem Budget (vgl. Mitchell/Snyder 2017, 180). Sie verstehen sich häufig als »counter-cinema, forming an inherent critique of past and present disability representations in mainstream films, news and entertainment media« (Brylla/Hughes 2017a, 2). Historisch hat sich damit die Darstellung von Behinderung von der Problematisierung einer individuellen Lage zur Problematisierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens, von der Belehrung zur Vermittlung von Erfahrungen verschoben. Kaum ein Dokumentarfilm arbeitet indes mit Ironie oder Humor (eine Ausnahme sind z. B. Niko von Glasows unten noch näher charakterisierte Filme). Auch gibt es keinen prototypischen Dokumentarfilm mit internationaler Breitenwirkung wie im Bereich des Spielfilms Freaks oder Rain Man (s. Kap. 69). In jüngster Zeit wird auch das Publikum stärker einbezogen, z. B. über Aktionen wie der deutschlandweit organisierte Diskussionsabend am 15. Mai 2019 (vgl. https://www.diekinderderutopie.de/) über Inklusion im Anschluss an den Film Die Kinder der Utopie (DE 2005 bzw. 2019, Regie: Hubertus Siegert). Der Zuschauer soll nicht länger passiver Beobachter bleiben, sondern den Umgang mit Behinderung und Betroffenen selbst mitgestalten.

70.3 Dokumentarfilm und Behinderung Oberstes Ziel des Dokumentarfilms ist nicht Unterhaltung, sondern die Übermittlung von (oft gesellschaftspolitisch relevanten) Informationen sowie die Einflussnahme auf die Gesellschaft (soziales und politisches Interesse). Dem Genre steht dabei eine Palette von Darstellungsformen zur Verfügung, die von der neutralen Beobachtung bis zum offenen Appell reicht und kognitiv-rationale, ethisch-moralische oder affektiv-emotionale Aspekte umfasst sowie Bild und Ton unterschiedlich gewichten kann. Doch werden Weltbilder nicht nur vermittelt, sondern auch produziert (eben als documentum, ›Modell, Beispiel‹), was

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

auch für Vorstellungsbilder und Konzepte von Behinderung gilt. Dokumentarfilme sind soziale Praxis, die über soziale Praxis reflektiert, diese bekräftigt oder kritisiert. Sie können über Menschen mit Behinderung und den gesellschaftlichen Umgang mit ihnen gemäß dem individuellen/medizinischen, dem sozialen oder dem kulturellen Modell (s. Kap. 4) informieren. So berichtet Frederick Wisemans vierteiliger Filmzyklus (auch als Deaf and Blind-Zyklus bezeichnet) über die Bildungswege und Arbeitsvorbereitungen gehörloser, nichtsehender oder mehrfachbehinderter Kinder, Jugendlicher und junger Erwachsener in Deaf (USA 1986), Multi-Handicapped (USA 1986), Blind (USA 1987) und Adjustment and Work (USA 1987). Derartige Filme können ein Bewusstsein dafür schaffen, dass nicht jede soziale Gruppe angesichts bestehender Machtstrukturen die gleichen Chancen auf Durchsetzung ihrer (politischen und sozialen) Interessen hat. Sehgewohnheiten und bestehende Überzeugungen können durch Filme verstärkt oder unterminiert werden. Metadiegetische Elemente (z. B. die Reflexion über den Vorgang des Filmens) und Verfremdungseffekte (wie der Einsatz von Animationen) regen die Relativierung eingefahrener Standpunkte an. Auch Ambivalenzen verstören Wahrnehmungsgewohnheiten. Diese können vor allem zwischen den Polen zentraler Spannungsfelder auf kognitiver (logischer bzw. ethischer) oder emotionaler Ebene entstehen, die im Folgenden kurz vorgestellt werden. Blicke: Zwischen Voyeurismus und Selbstbehauptung Der Dokumentarfilm macht Behinderung sichtbarer, als sie im Alltag ist, und im Gegensatz zum Alltag wird der Zuschauer aufgefordert, genau hinzusehen. Dies kann einerseits zu Voyeurismus führen, der Vorurteile verfestigt (Pointon 1997 spricht von »spectacle«), andererseits aber auch neue Seherfahrungen ermöglichen und das Selbstbewusstsein betroffener Personen stärken. Im ersten Fall bleibt Behinderung stigmatisiert, weil sie als Abweichung von der Norm Aufmerksamkeit erhält, was das Anderssein der Menschen mit Behinderung und die Distanz zu den als normal hingestellten Zuschauer*innen zementiert. Pointon nennt als Beispiele Born Survivors (UK 1987, eine Folge der investigativen Doku-Serie World in Action), The Tin Lids (UK 1991) und Katie and Eilish: Siamese Twins (UK 1992; Fernsehdokumentation von Mark Galloway). Pointon kommentiert: »Why we are wat-

ching, except perhaps out of sheer curiosity, is unclear« (Pointon 1997, 90–91). Das selbstbewusste Zeigen eines abweichenden Körpers kann aber auch einer Eroberung des öffentlichen Raums gleichkommen, die dem verschämten Verstecken entgegentritt und höhere gesellschaftliche Akzeptanz erzeugt. Garland-Thomson (2009, 9–10) unterscheidet ein stigmatisierendes und ein ›generatives‹ Anstarren, das von Anstarrendem und Angestarrtem gleichermaßen gestaltet wird. Frei von Zensur Abweichungen zu erkunden, ist nach Cloerkes (2014, 136) eine Grundvoraussetzung für die Verbesserung des Verhältnisses zwischen Menschen mit und ohne Behinderung (vgl. auch Garland-Thomson 2009, 189–191). Auch kann die Kamera im Stil einer aufklärerischen Sozialreportage beschämende soziale Kontexte anprangern, die im Alltag unsichtbar bleiben und die beseitigt werden könnten. Für Betroffene kann die Zurschaustellung eine befreiende Wirkung haben und neue Rollenmodelle schaffen. Niko von Glasow zeigt in Nobody’s perfect (DE/UK 2008) Aktfotos von Menschen mit Contergan-Schädigungen und verstört damit nicht nur eingefahrene Wahrnehmungsmuster, sondern gewinnt am Ende des Films auch ein neues Verhältnis zum eigenen behinderten Körper. Entsprechend heißt ein anderer 45-minütiger TV-Dokumentarfilm von Glasows Schau mich an (DE 2007). In Nobody’s perfect und einem weiteren Dokumentarfilm von Glasows, Alles wird gut (DE 2012), erfolgt ein ›looking back‹ von Menschen mit Behinderung: Sie blicken ihrerseits auf die ›Mehrheitsgesellschaft‹ und entlarven deren Normalitätserwartungen und Vorurteile. Im Sinne eines kritischen Blicks der Filmschaffenden mit Behinderung auf ihre Zuschauer*innen (vgl. Samuels 2013) präsentieren sich auch die zusammengewachsenen Zwillinge Abigail und Brittany Hensel in Joined for Life (2001) und Joined for Life: Abby and Brittany Turn Sixteen (2006) selbst und schaffen sich damit einen eigenen Rezeptionskontext. Das Zeigen von Behinderung kann schließlich auch zur Bildung von Interessensgruppen führen, insbesondere mit den Möglichkeiten des Internets und der Smartphones (Biressi 2017, 216). Ein individualisierender Kamerablick kann mit einer Abweichung vertraut machen. So schreiben Snyder/Mitchell zu Maternité interdite (FR 2002; Regie: Diane Maroger): »Long shots, close-ups, and nonstandard framing gives audiences an intimacy with disabled bodies usually reserved for private or clinical settings« (Snyder/Mitchell 2010, 195). Der Alltag und die Beziehung zur Umwelt können in den Fokus rü-

70 Dokumentarfilm

cken und die Behinderung entdramatisieren. Niko von Glasows Dokumentation über die Paralympics (Mein Weg nach Olympia; D 2013) zeigt z. B. Spitzensportler*innen des Behindertensports (s. Kap. 14), an deren zunächst fremdartig anmutende Körper sich der Zuschauer mit der Zeit gewöhnt. Da Bilder mehrdeutig sind, lassen sie für die Erfahrung der Behinderung Spielraum. Ungewöhnliche oder sogar schockierende Bilder können Auseinandersetzungen mit alternativen sozialen Realitäten anregen. Tabubereiche sind im Zusammenhang mit Behinderung Erotik und Sexualität, die vor allem im Zusammenhang mit geistiger Behinderung immer noch als anormal oder inexistent gelten (vgl. García-Santesmases Fernández 2017, 159–160). Ein Dokumentarfilm wie Yes, We Fuck! (ES 2015; Regie: Antonio Centeno/Raúl de la Morena) zeigt abweichende Körper als attraktiv, begehrenswert und begehrend und Sexualität jenseits gängiger Normen. Adina Pintilia erzielt auf der Berlinale 2018 mit Touch me not (europäische Koproduktion) einen Skandalerfolg; der Film handelt vom Begehren von Menschen, die nicht körperlichen und mentalen Normalitätserwartungen genügen. Bilder sprechen dabei direkter die Emotionen der Zuschauer an als kognitive Erläuterungen. Viele neuere Dokumentarfilme enthalten sich jeder Interpretation und geben sich als ergebnisoffene experimentelle Erforschung der Abweichung, wie etwa Mapping perception (GB 2002; Regie: Andrew Kötting/Mark Lythgoe), der die Grenzen der menschlichen Wahrnehmung auslotet (vgl. Hughes 2017 und die Webpage http://proboscis.org.uk/mappingperception/). Erzählungen: Zwischen Stereotyp und neuen Referenzpunkten Das filmische Material wird im Dokumentarfilm häufig so organisiert, dass die Sequenzen in einer zeitlichen und logischen Beziehung zueinander stehen. Im Laufe der Filmgeschichte haben sich Darstellungsmuster (Plots) herausgebildet, die eine Bewertung des Gezeigten vorstrukturieren, wie die häufig im Dokumentarfilm anzutreffende »problem/solution structure« (vgl. Nichols 2017, 64). Oft werden Dokumentarfilme über Behinderung durch Plots aus dem Mainstream-Spielfilm dramatisiert. Einige Beispiele sind: • Tragödien über einen vom Schicksal Heimgesuchten, der sein Los tapfer erträgt und bisweilen eine spirituelle Kompensation erfährt (vgl. Pointon 1997, 88). Pointon nennt als Beispiel When it Happens to You (UK 1992; BBC). Ein typisches Erzähl-

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element ist z. B. die pathetische Hervorhebung des Moments, in dem der unversehrte zu einem versehrten Körper wird bzw. eine Diagnose, die jemanden plötzlich mit einer Behinderung konfrontiert. • Heldengeschichten über außergewöhnliche Leistungen, die die Behinderung kompensieren. Brylla nennt Dokumentarfilme über nichtsehende Menschen wie Blindsight (GB 2006; Regie: Lucy Walker) – ein blinder Bergsteiger nimmt Schüler einer tibetanischen Blindenschule mit auf eine Tour – Going Blind (USA 2010; Regie: Joseph Lovett) oder Notes on Blindness (GB 2016; Regie: Pete Middleton/James Spinney) – beide über den (krankheitsbedingten) Verlust des Sehsinnes – oder High Ground (USA 2012; Regie: Michael Brown) – über Kriegsveteranen bei einer Bergbesteigung –, die allesamt dem Menschen mit Behinderung »almost magical, superhuman abilities« zuschreiben (Brylla 2017, 62). Auch im Dokumentarfilm gibt es den supercrip. • Erlösungsgeschichten, in denen die Behinderung überwunden (The Horse Boy; USA 2000; Regie: Michael Orion Scott) oder zumindest auf ein akzeptables Niveau gebracht wird wie in Life, animated (USA 2016; Regie: Roger Ross Williams), der von der ›Rettung‹ aus der Sprachlosigkeit des Autismus erzählt. • Heldengeschichten über das aufopferungsvolle Umfeld des Menschen mit Behinderung. Wain verweist auf die Protagonisten von My Flesh and Blood (USA 2003; Regie: Jonathan Karsh) oder A Mother’s Courage: Talking Back to Autism (IS 2009; Regie: Fridrik Thor Fridriksson) (Wain 2017, 52; vgl. Pointon 1997, 88). Pointon (1997) spricht von wiederkehrenden Subtexten wie ›transformation‹, ›tragedy‹, ›normalisation‹ oder ›spectacle‹, die zur Festigung von Stereotypen über Behinderung beitragen und diese als problematische Abweichung eines Individuums darstellen. Immer entsteht Distanz zwischen ›Normalen‹ und Menschen mit Behinderung wie z. B. in Werner Herzogs Land des Schweigens und der Dunkelheit (DE 1971), der den Verweis auf ein Defizit schon im Titel trägt. Dokumentarfilme des 21. Jahrhunderts schaffen hingegen oftmals Kontexte fern von stereotypen Plots oder Subtexten, die alternative Erzählungen über das Leben mit Behinderung anbieten, z. B. »the joyous discovery of a new person’s unfolding into a fullness of their unique version of humanity« (Wain 2017, 49) in Wains Film über die kognitiv beeinträchtigte Tochter,

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

18-q. A different kind of normal (AU 2011; vgl. http:// www.18q-adifferentkindofnormal.com/). Die Regisseurin spricht von sich als »the anti-heroic mother figure« (ebd., 53). Dennoch enthält auch Wains Film Elemente des ›Tragödien-Plots‹ in der Darstellung der Trauer über das allmähliche Entdecken der Behinderung der Tochter. Dieses Element zeigen selbst viele Dokumentarfilme, die sich um eine Vermeidung erzählerischer Stereotypen bemühen. So bringt der spanische Zeichner Miguel Gallardo beim Porträt seiner Tochter mit Autismus im Comic María y yo (2007) medizinische Ausführungen lediglich in einem angehängten Kommentar, wohingegen der gleichnamige Film (ES 2010; Regie: Félix Fernández de Castro) breit über das traurige erste Lebensjahr der Tochter berichtet und von ärztlichen Einschätzungen erzählt. Dadurch wird indirekt auch ein Bild der Kompetenzen der Zuschauer*innen deutlich, denn mit welchen Informationen und Erfahrungen Regisseur*innen sie konfrontieren, verrät, wie sie deren Vorkenntnisse, Betroffenheit oder Aufgeschlossenheit einschätzen. Um stereotypen Erzählelementen auszuweichen, porträtieren gerade neuere Dokumentarfilme nicht Lebensgeschichten, sondern z. B. einen Tagesablauf, oder sie weisen gleich eine assoziativ-fragmentierte Struktur auf, die eine Bewertung des Gezeigten vermeidet. Statt Informationen zu vermitteln, scheinen sie eher Fragen an Menschen mit Behinderung zu stellen. Die Zuschauer*innen sollen selbst Schlüsse ziehen, wie z. B. in Planet of Snail (KR 2012; Regie: Seung-jun Yi), der vom Alltag eines Paares berichtet, das aus einem taubblinden Mann und einer kleinwüchsigen Frau besteht. Erleben: Zwischen Bestätigung und Dissonanz Bild und Ton wirken nicht nur kognitiv, sondern auch unmittelbar, d. h. vorbegrifflich, emotional-assoziativ auf Zuschauer*innen ein und bewirken ein gesamtkörperliches, multisensorisches, empathisches Erleben. Remter (2017, 114) spricht von ›Resonanz‹, Hughes (2017, 278) von »a form of empathetic perception«, Nichols (2017, 151) schließlich von einem »performativen« Modus des Dokumentarfilms, in dem der Zuschauer »on a visceral level« nachempfinden könne, wie sich eine bestimmte Situation anfühlt. Dies kann bis hin zu einem immersiven Erlebnis gehen; so schreibt Callus zu einem Filmporträt eines Menschen mit Seh- und Hörschädigung: »[...] the close shots have a haptic quality [...], as they enable us to get as phy-

sically close to [the protagonist]’s world as possible [...], [and to] his own gradual building of tactile information« (Callus 2017, 150–151). Ziel vieler Dokumentarfilme der Gegenwart ist, Zuschauer*innen eine Erfahrung mit Menschen mit Behinderung machen zu lassen ohne eindeutige Bewertung, also eine Art teilnehmende Beobachtung ohne rationale Analyse. Besonders wirksam sind Bilder im Kontext einer elliptischen, fragmentierten Erzählweise, die Spielraum für spontane Assoziationen und diffuse Stimmungen lassen. So kann der Dokumentarfilm Zuschauer*innen überraschende Erfahrungen ermöglichen. Mittel der Emotionalisierung – zu der oft die persönliche Betroffenheit der Filmemacher*innen beiträgt – sind z. B. extreme Close-ups oder Musik. Animationen können Gefühle oft besser visualisieren als reale Bilder, und die Gegenläufigkeit von Bild und Sprache (Text-Bild-Scheren) kann Dissonanzen erzeugen, die traditionelle Sehgewohnheiten aufbrechen. Der Nachteil eines vor allem auf Erleben abzielenden Dokumentarfilms liegt darin, dass ein Bild ohne kontextuelle Einbindung so vieldeutig bleibt, dass es schlecht politisch wirksam werden kann. Dann geht es um bloße Emotionalisierung, die Behinderung als ›bewegendes‹ Spektakel effektvoll inszeniert, aber ohne soziale Aussage bleibt oder gar lediglich auf Mitleid zielt (vgl. die Kritik bei Pointon 1997, 87). Stimmen: Zwischen Monolog und Mehrstimmigkeit Wer über wen spricht und wer angehört wird, bestimmt fundamental, welche Perspektive ein Dokumentarfilm in Bezug auf Behinderung einnimmt und welche Distanz er zu ihr bewahrt. Über die Auswahl der Sprecher*innen werden z. B. Rollen wie ›Opfer‹ und ›Retter‹ festgelegt (vgl. Pointon 1997, 86). Wird vor allem über Menschen mit Behinderung gesprochen – insbesondere, wenn Ärzt*innen und Pflegepersonal im Mittelpunkt stehen –, entsteht der Eindruck von Bevormundung. Auch exzessives Umsorgen ist eine Form, Menschen mit Behinderung nicht zu respektieren, wie Snyder/Mitchell (2010, 196) anmerken. In zahlreichen traditionellen Dokumentarfilmen kommen Menschen mit Behinderung kaum zu Wort oder illustrieren mit ihren Aussagen nur das, was der Kommentator sagt. Sie werden mit fremder Bedeutung belegt und nicht selbst als Quelle von Bedeutung anerkannt. Das stereotype Bild des passiven Behinderten als Objekt der Fürsorge kann sich dabei sogar

70 Dokumentarfilm

verstärken. Spricht ein Mensch mit Behinderung von sich, erscheint er nur dann als Experte/Expertin in eigener Sache – buchstäblich selbst-bestimmt –, wenn ihm der Kontext seine Stellungnahmen nicht vorgibt. In einigen Dokumentarfilmen äußern sich Betroffene zwar selbst, doch bestimmt der Regisseur (ohne Behinderung) den Fokus. Le regard des autres (s.o) etwa reiht Interview an Interview, aber die Fragestellung lenkt den Film von vornherein in Richtung auf ein desolates Bild von Behinderung als soziales Problem; positive Aspekte kommen nicht zum Tragen. Nicht immer garantiert zudem der Mensch mit Behinderung auch einen emanzipatorischen Blick auf Behinderung. Über einen »voyeuristic able-bodied gaze« eines querschnittsgelähmten Mannes auf sich selbst im Rahmen eines politischen Werbefilms spricht Markotić (2012, 1) bezüglich Citizen Sam (CA 2006; Regie: Joe Moulins). Ist es schon nicht immer leicht festzustellen, wer tatsächlich in einem Film spricht und ob ein Dialog gleichberechtigt ist, so ist es noch schwieriger zu beurteilen, ob einem Menschen mit Behinderung wirklich zugehört wird. Seine Kommunikationspartner (oft Menschen ohne Behinderung) können seinen Aussagen nämlich die eigenen Sichtweisen überstülpen. Auch wie und wie viel gesprochen wird, prägt das Bild von Behinderung. Schließlich kann die Filmstruktur eine Aussage nahelegen (etwa wenn Menschen mit Behinderung vorwiegend in therapeutischer Umgebung gezeigt werden), aber auch durch Doppeldeutigkeiten, Ellipsen oder Widersprüche zu einem kritischen Standpunkt anregen. Eine Stimme bzw. Einstellung zu Behinderung prägt in jedem Fall den Film: die der Regisseur*innen (meist ohne Behinderung) und deren potentielle ableist perspective (d. h. Blickwinkel eines ›normal‹ leistungsfähigen Körpers und Geistes, s. Kap. 42, 51), die noch durch eine voice-over-Stimme in ihrer Autorität verstärkt werden kann. Dem Ableismus können Filmschaffende entgegenwirken, wenn sie z.  B. ihren Standpunkt als subjektiv und relativ hinstellen oder indem sie sich als Mediator*/Vermittler*innen und nicht als Erzähler*innen ausgeben. Dokumentarfilme können in diesem Sinne die Erforschung einer Beziehung sein, wie der bereits genannte 18q (s. o.), den die Regisseurin als »the quest for greater understanding of my daughter and her place (and, by inference, ours) in the world« (Wain 2017, 53) bezeichnet. Filmschaffende können auch explizit ihre eigene Auseinandersetzung mit Behinderung zeigen. In When Billy Broke His Head (USA 1995; Regie: Billy Golfus/David E. Simp-

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son) besucht Golfus, der erst kurze Zeit von einer Behinderung betroffen ist, Aktivist*innen »who suddenly populate his social landscape with a variety of previously unfamiliar disability perspectives« (Snyder/ Mitchell 2006, 174). Die Auseinandersetzung kann auch erst beim Zuschauer in Form einer Meta-Beobachtung geschehen, wenn er etwa Filme ›gegen den Strich‹ liest und als Kritik an einem ableist point of view auffasst. Vier Leben (DE 2008; Regie: Cornelia Thau) etwa besteht aus Interviews und Alltagsbeobachtungen an vier Kindern mit Down-Syndrom, die nie selbst zu Wort kommen. Ihre Eltern erzählen vom Schock der Diagnose und der Akzeptanz der Kinder. Eine Lektüre gegen den Strich könnte erforschen, inwiefern der Film eher die Eltern und die Regisseurin und deren Berührungsängste mit Behinderung porträtiert als die Kinder mit Down-Syndrom. Die Kamera wird für Filmschaffende mit Behinderung zur Chance, eigene Ausdrucks- und Darstellungsformen von einem Leben mit Behinderung zu entwickeln und Identitätspolitik zu betreiben. Das Persönliche wird zum Sprachrohr für Politisches, Selbstanalyse geht in Systemanalyse über. Dies gilt z. B. für zahlreiche filmische (Auto-)Biographien (vgl. allgemein zu diesem Subgenre Decker 2008) (s. Kap. 64). Gefahren sind die Übernahme ableistischer Erzählmuster und die Homogenisierung von Behinderungserfahrung. Zurechnungen: Zwischen Individuum und Gesellschaft Ein weiteres wichtiges Kennzeichen für die Darstellung von Behinderung ist die Frage, ob ein Individuum im Zentrum steht oder auch dessen Umwelt. Davon hängt ab, ob Behinderung als individuelle Schädigung (gemäß dem medizinischen Modell) oder als Folge (gesellschaftlicher) Beziehungen (gemäß dem sozialen Modell) erscheint, als individuelles Problem oder als soziale Aufgabe. Vor allem Dokumentarfilme bis in die 1960er Jahre beschreiben Behinderung als medizinischen Fall, rechnen sie also Personen zu und heben Defizite und Pathologien hervor. Behinderung erscheint auch dann als individuelles Schicksal, wenn der Fokus auf Leistungen der Pfleger*innen und nicht auf (fehlender) gesellschaftlicher Unterstützung liegt (vgl. Pointon 1997, 89) oder auf Mitleid und Bedauern statt auf realen Schwierigkeiten, die prinzipiell beseitigt werden könnten (z. B. Barrieren für Rollstuhlfahrer). Erst wenn ein Individuum in sozialen Bezügen porträtiert wird, ist

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

Behinderung nicht mehr dessen privates Problem, sondern (auch) eine Folge exkludierender Strukturen. Auseinandersetzungen mit einer behindernden Umwelt finden sich im Dokumentarfilm verstärkt seit den 1980er Jahren (Beispiele nennen Steyger/Clarke 2017, 203). Snyder/Mitchell sprechen von einem »new disability documentary cinema«, das nicht den Körper als Gegenstand eines Eingriffs von außen zeigt, sondern die Revisionsbedürftigkeit der »social services, rehabilitation, and medical industries« (Snyder/ Mitchell 2010, 202). Als Beispiel für eine entlarvende Darstellung von Entmenschlichung durch die »medical industry« nennen Snyder/Mitchell an anderer Stelle (2006, 180) ihren eigenen Film Vital Signs. Crip Culture Talks Back (USA 1995). Steyger/Clarke zeigen in Paralympics 1984 (GB 1984; Regie: Tony Steyger) den Sport als positives Beispiel für eine Infrastruktur, die Teilhabe ermöglicht (Steyger/Clarke 2017, 206). In solchen Fällen wird Behinderung als soziale Praxis sichtbar und nicht als festes Merkmal einer Person ausgewiesen. In einem weiteren Schritt kann die Unterscheidung ›behindert‹ vs. ›nicht-behindert‹ irrelevant werden. Gerade Ambiguität, so Brylla, kann dabei »such ableist binary oppositions as [...] normal/abnormal« (Brylla 2017, 74) aushebeln. Wain spricht von »different imaginings of what a ›normal‹ life might look like« (Wain 2017, 55). Abweichungen: Zwischen Normalisierung und Identität Eine normalisierende Darstellung sieht die Abweichung, die physische, psychische oder mentale Besonderheiten hervorrufen, als zu beseitigendes Defizit an, während eine akzeptierende Darstellung sie als Teil der Identität einer Person auffasst. Eine akzeptierende Darstellung gelingt leichter, wenn Menschen mit Behinderung sich selbst präsentieren und vom Objekt der Normalisation zum Subjekt ihres Identitätsentwurfs werden. Der Dokumentarfilm berührt dabei grundlegende Fragen wie die, was Können, Wissen und Menschsein bedeuten. Explizite Normalisierung stellt Menschen mit Behinderung dann als positiv dar, wenn diese sich an die gesellschaftlichen Normen anpassen; die Abweichung selbst bleibt negativ konnotiert. Pointon spricht von einem »developing narrative«, das »social skills, personality, powers of acceptance and adaptation« der Menschen mit Behinderung herausstreiche und deren »overcoming of disability« lobe (Pointon 1997, 89).

Als Beispiel nennt sie Forty Minutes: I, Alison (UK 1988; BBC). Viele Themen legen eine Normalisierung nahe, wie z. B. die Darstellung des Einstiegs in das Berufsleben, die das Paradigma der ›Reintegration‹ vertritt (vgl. Stock 2017, 233–234). Aber selbst dort, wo Behinderung als Folge ausgrenzender sozialer Strukturen erscheint, erfolgt nicht automatisch eine Anerkennung von Abweichung. Zwar prangert z. B. Werner Herzog in Behinderte Zukunft (DE 1970) soziale Ausgrenzung und fehlende inklusive Infrastrukturen für Kinder mit Contergan-Schäden an, doch werden die Behinderungen durchweg als schwere Bürde hingestellt, obwohl viele Bilder durchaus starke Persönlichkeiten zeigen (vgl. Brady 2010, 224). Normalisierung kann implizit und subtil bleiben. Sie liegt z. B. vor, wenn mit filmischen Mitteln eine Behinderung nachgeahmt wird, die dann nur als Defizit erscheint, z. B. eine Sehminderung durch verschwommene Bilder (vgl. Brylla 2017, 62–63). Letztere stellen nämlich nicht die Fähigkeiten jenseits des Sehsinns dar, über die nicht-sehende Menschen auch verfügen, z. B. den Tast- oder Hörsinn. Eine nicht-normalisierende Darstellung rückt hingegen Fähigkeiten in den Mittelpunkt, ohne dass diese zur Kompensation für ein Defizit werden. Dabei muss die Abweichung nicht rein positiv dargestellt sein; vielmehr ist wichtig, dass Lebensqualität sichtbar wird. Dokumentarfilme können in diesem Sinne schlicht den Alltag eines Menschen mit Behinderung einfangen und ihn entdramatisieren (vgl. Snyder/Mitchell 2006, 173–174), indem sie Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Porträtierten – und damit Fähigkeiten – in den Vordergrund rücken (vgl. Avery 2017, 21). Dokumentarfilme heben oft übermäßig die Abweichung hervor, was die Alltagsrealität verzerrt. Über den Film Thomas Quasthoff – The Dreamer (DE 2004/05; Regie: Michael Harder) schreiben Drum/ Brady beispielsweise: »The camera’s fascination with Quasthoff ’s physical appearance on and off-stage is not matched by a corresponding curiosity about his intellectual and artistic disposition« (Drum/Brady 2017, 111). Viele Filmschaffende versuchen entsprechend, Behinderung nur als ein Merkmal unter vielen herauszustellen, indem sie Menschen mit Behinderung in sehr unterschiedlichen Kontexten und mit verschiedenen Charaktereigenschaften zeigen (vgl. z. B. Tucker/Lemelson 2017, 35; Schillmeier 2006). Auch Differenzen zwischen Menschen mit und ohne Behinderung müssen weder hervorgehoben noch überspielt werden (vgl. Brylla 2017, 64). In Hay alguien allí (VE 2014; Regie: Eduardo Villo-

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ría), dem ersten venezolanischen Langfilm über Autismus, werden historische und aktuelle Umgangsformen mit Betroffenen gezeigt. Mehrdeutige Montagen, Gegenläufigkeit von sprachlicher und visueller Botschaft, Sichtbarmachung des filmischen Prozesses u. Ä. relativieren immer wieder die Aussagen über die Protagonistin, die selbst nie in die Kamera spricht. Dabei zeigt sich u. a. die Gewalt eines normalisierenden Kontextes. Der Diskurs des ›Heilens einer Pathologie‹ wird dem des Akzeptierens einer Identität gegenübergestellt (vgl. Hartwig 2018). Einige Dokumentarfilme zeigen Behinderung als (positiv konnotiertes) Potential, oft im Bereich der Kunst. So kann man Second to None (GB 1983; Regie: Tony Steyger) als »an account of disabled artists whose work is informed by the disability rather than produced in spite of disability« ansehen (Steyger/Clarke 2017, 201). Über Mapping perception (GB 2002; Regie: Andrew Kötting) schreibt Hughes: »The film does not ignore the fears, anxieties and difficulties of life with a disability, but it does emphasise the creative impulses that these emotions also engender« (Hughes 2017, 287). Qué tienes debajo del sombrero (ES 2006; Regie: Iñaki Peñafiel/Lola Barrera) zeigt, wie tief das Werk der Künstlerin Judith Scott mit ihrer Identität als nicht-hörende Frau mit Down-Syndrom verbunden ist; nicht trotz, sondern aufgrund ihrer besonderen körperlichen und kognitiven Voraussetzungen ist sie so kreativ, eine Aussage, die sich auch über die Künstler*innen des Berliner Theaters RambaZamba treffen lässt, die in Liebe Dich... (DE 2005; Regie: Sylvie Banuls/Sabina Engel) porträtiert werden. Snyder/Mitchell schreiben über den new disability documentary: »What shifts most radically [...] is [...] the way one comprehends disability experience as fuel for creativity — as opposed to tragedy, burden, or misfortune« (Snyder/Mitchell 2006, 178). Dokumentarfilme über Behinderung können zur Bildung von communities Betroffener beitragen, die eigene Ausdrucksmöglichkeiten für ihre Identität entwerfen und sich für ihre Interessen einsetzen, ohne die Vielfalt ihrer Erfahrungen auszublenden. Ein früher Film dieses Typs ist Le pays des sourds (FR 1992; Regie: Nicolas Philibert) über Taubheit. Snyder/Mitchell nennen als Beispiel ihren Dokumentarfilm Vital Signs: Crip Culture Talks Back (s. o.), der die verschiedenen Perspektiven von Menschen mit Behinderung selbstbewusst porträtiert (Snyder/Mitchell 2006, 176). Filme können damit zu Referenzpunkten für Behinderung »as a productive social identity in its own right« (Mitchell/Snyder 2017, 178) werden.

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Der Dokumentarfilm kann schließlich utopisches Potential entfalten und Beispiele mit Vorreiterfunktion publik machen, etwa zum Thema Inklusion. In Klassenleben und Die Kinder der Utopie (s. o.) wird über Schüler*innen der 5. Klasse einer Berliner Schule bzw. deren Leben nach Verlassen der Schule berichtet. Gerade beim Thema Inklusion zeigen Dokumentarfilme nicht selten, wie Normalisierung auch Menschen ohne Behinderung aufgezwungen wird, etwa im Schulbetrieb in Ich, Du, Inklusion (DE 2017; Regie: Thomas Binn). Beim Aufbrechen der Unterscheidung zwischen ›normal‹ und ›behindert‹ spielen Etiketten eine wichtige Rolle; in Klassenleben wird z. B. keine Behinderung namentlich genannt oder Schüler*innen zugeordnet, sondern lediglich erwähnt, dass das Spektrum von Hochbegabung bis kognitive Einschränkung reicht.

70.4 Besondere Formen und verwandte Gattungen Eine schrittweise Auflösung der Grenzen zwischen Spiel-, Dokumentar- und Animationsfilm erhöht vor allem in jüngster Zeit die Komplexität des Dokumentarfilms. Zunehmend wird die Unterscheidung zwischen ›Abbild der Realität‹ und ›Vorstellungsbild einer Realität‹ verwischt. So entstehen Genres wie das Doku-Drama oder Reality-TV. AnimaDok, die Mischung aus Dokumentar- und (fiktionalem) Animationsfilm (vgl. Hoffmann 2012), besteht partiell oder durchgehend aus animierten Bildern, d. h. aus Zeichnungen, ausgeschnittenen Flächen und Figuren (cut-out-animation), Fotos oder computergenerierten Darstellungen. Animationen können konkrete Sachverhalte veranschaulichen, wie die sehr komplexen Vorgänge bei der menschlichen Wahrnehmung (z. B. Andrew Köttings Mapping Perception, s.o) oder einen bewegten Lebenslauf (wie der eines Kameramanns in Sebastián Alfies Gabor; E 2013); sie können aber auch einen anderen Wahrnehmungsmodus (subjektive Vorstellungen, Erinnerungen, Gefühlswelten usw.) anzeigen wie in María y yo (s. o.): Hier ›übersetzen‹ cut-out-animation und animierte Zeichnungen die Vorstellungen eines Vaters vom Innenleben seiner Tochter mit Autismus bzw. wie sich das Zusammenleben anfühlt; die Bilder illustrieren dabei wie Metaphern die Wahrnehmungen und Ausdrucksformen von Autismus (zu Funktionen von Animationen im Dokumentarfilm allgemein vgl. Honess Roe 2013, 22– 26). Animationen eignen sich besonders für Selbst-

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

beschreibungen innerer Vorgänge z. B. bei psychischen Beeinträchtigungen wie Asperger-Syndrom, Schizophrenie oder Depression, wie in Animated Minds (UK 2003/2009/2015; Produktion: Andy Glynne; https:// animatedminds.com/). Animationen bereiten zudem das Thema Behinderung kurzweilig und didaktisch auf wie in dem knapp sechs Minuten dauernden Film über Autismus El viaje de María (2010; https://www. youtube.com/watch?v=qxLeb5y6p7s) oder in Academia de especialistas über Individuen in einer Förderschule (2012; https://www.youtube.com/watch?v=fCo Bk1tWYEg; beide Filme sind von Miguel Gallardo). Schwer Nachvollziehbares wird durch bildliche Analogien fühlbar gemacht. Auch können Behinderungen so verfremdet werden, dass neue Perspektiven entstehen, etwa wenn Menschen durch Knetfiguren-Tiere dargestellt werden (Creature Discomfort; UK 2007, Aardman Animations). Der Essay-Film ist eine experimentelle Zwischenform zwischen Dokumentar- und Spielfilm, die stark subjektiv ist, Bilder wie Metaphern einsetzt und oft assoziativ ein Thema oder eine Fragestellung erforscht. Der Erzähler und seine Haltung zum Erzählgegenstand treten in den Vordergrund, so dass auch rein imaginäre oder poetische Passagen möglich sind. Realität und Imagination gehen ineinander über wie z. B. in Die dritte Option (AT 2017; Regie: Thomas Fürhapter), eine Reflexion über Pränataltests und die dahinterstehende gesellschaftliche Haltung zu Behinderung. Die Dokufiktion mischt dokumentarisches Material und inszenierte Spielszenen; oft steht beides gleichberechtigt (und unmarkiert) nebeneinander (vgl. Hickethier 2012, 190–191). Die Aussage des Films kann damit präziser kontrolliert und emotionaler übermittelt werden als nur mit (meist lückenhaftem) dokumentarischem Filmmaterial. Doch wirken die gespielten Szenen oft künstlich oder effektheischend (vgl. Niney 2012, 193). Dokufiktion handelt selten von Behinderung. Ein besonders bekanntes Beispiel ist der nonverbale Dokumentarfilm Suite Habana (CU 2003; Regie: Fernando Pérez). Er handelt von Bewohnern der kubanischen Hauptstadt in einem typischen Tagesablauf, darunter auch einem Schuljungen mit DownSyndrom. Dieser zeigt sich stets fröhlich und scheint im Gegensatz zu allen anderen Personen im Hier und Jetzt und nicht in Zukunftsträumen zu leben. Menschen seines familiären Umfeldes kümmern sich liebevoll um ihn. Damit wird er zu einem verdichteten Bild von Solidarität in einer ansonsten eher nüchternen Realität vieler nicht-realisierter Träume. Als »experimental docudrama« nennen Stock/Ochsner (2013, 9)

Antoine (CA 2010; Regie: Laura Bari), bei dessen Produktion der sechsjährige Protagonist mitarbeitet und damit seine Phantasien über sich selbst als Privatdetektiv umsetzt, was Stock/Ochsner als interaktiv und reflexiv bezeichnen (ebd.). Die Dokuserie als Fernsehformat verfolgt ein Thema in mehreren Episoden (s. Kap. 71). In Deutschland ist 2013 die vierteilige Serie Zeig mir Deine Welt des Unterhaltungsmoderators Kai Pflaume zu sehen. Dieser befragt junge Erwachsene mit Down-Syndrom nach ihrem Alltagsleben. Born This Way (A&E, vier Staffeln 2015–2018) ist eine US-amerikanische unscripted reality show (der Company Bunim/Murray) über sieben Erwachsene mit Down-Syndrom und vielfach auch Migrationshintergrund, was die Diversität der Porträtierten noch erhöht. Ähnliche TV-Serien gibt es in Schweden über Menschen mit Lernbehinderung (I en annan del av Köping; TV4, vier Staffeln 2007–2017) und in Norwegen (Tangerudbakken Borettslag; TVNorge, 2009–2014; vgl. Biressi 2017, 223). Weitere Mischformen faktualen und fiktionalen Erzählens nennen sich ›Dokutainment‹ oder ›DokuSoap‹ und gehen vielfach in Richtung scripted reality (d. h. einer bloßen Vortäuschung realer Ereignisse im Fernsehformat). Docusoaps gaukeln in mehreren Folgen Realitätsbeobachtung vor, sind allerdings z. T. drastisch inszeniert. Im britischen Fernsehen ist besonders die sehr erfolgreiche Docusoap The Specials (2009/2014) zu erwähnen, die das Leben einer Gruppe Hausbewohner*innen mit kognitiver Beeinträchtigung (fast alle haben das Down-Syndrom) in Brighton/ England porträtiert (vgl. Biressi 2017). In Richtung reality TV geht die australische Show The Dreamhouse (ABC 2014), in der Menschen mit Behinderung ein unabhängiges Leben in einer Vorstadt von Perth erproben. Kritisiert wird die relative Homogenität und eine (künstlich wirkende) ›Fernseheignung‹ der Bewohner*innen (vgl. Biressi 2017, 219–220). Die Gefahr ist groß, dass das Fernsehformat eher Voyeurismus als Reflexion fördert und Stigmata fortschreibt, wie etwa in der britischen Show The Undateables (Channel 4, ab 2012) mit als ›schwer vermittelbar‹ dargestellten Menschen mit Behinderung auf der Suche nach einem Partner. Das Filmgenre Mockumentary täuscht mit typischen Merkmalen eines Dokumentarfilms (Interviews, verwackelte Kamera, mangelhafte Tonqualität o. Ä.) vor, sie fange spontan die Realität ein. Der Film ist jedoch komplett fiktional und damit ein kritischer Kommentar zur Dokumentation bzw. zum dargestellten Thema. Das bekannteste Beispiel ist wohl Lars von

70 Dokumentarfilm

Triers Idioten (Idioterne; DK 1998). Hier entlarven Menschen, die eine Behinderung nur vortäuschen, die Verlogenheit der Gesellschaft, indem sie Hemmungen im Umgang mit Menschen mit Behinderung für ihre Zwecke ausnutzen; eine ähnliche Täuschung liegt auf der Ebene des Films vor, der den Wahrheitsanspruch eines echten Dokumentarfilms nachahmt, ohne ihn einzulösen. Eine Verbindung von Mockumentary und TV-Docusoap ist Christoph Schlingensiefs sechsteilige Serie Freakstars 3000 aus dem Jahr 2002 (Musikkanal Viva) (s. Kap. 70). Zur Serie erscheint ein gleichnamiger Film 2004. Die Show sucht in einem Wohnheim für Menschen mit Behinderung in der Nähe von Berlin Mitglieder für die Band ›Mutter sucht Schrauben‹, die in der Berliner Volksbühne auftreten wird. Schlingensief hinterfragt ebenso das Fernsehformat der Casting-Shows wie auch die Institution der Pflegeheime. Die Unterscheidung zwischen Abbildung und Inszenierung wird im digitalen Zeitalter und mit den sozialen Medien immer schwieriger. Mit diesen steigt die Zahl der (Pseudo-)Dokumentationen explosionsartig an. Immer wichtiger werden im 21. Jahrhundert Smart-phones und Internetplattformen wie YouTube für die Schaffung von communities. Auch der Kontext der Filme verändert sich und beeinflusst durch Zusatzmaterial, graphische Gestaltung, Likes oder Klickzahlen (Ochsner 2017, 262) die Rezeption der Filme. Literatur

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

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Susanne Hartwig

71 Fernsehserien

71 Fernsehserien Einige Episoden der Sitcom Big Bang Theory aus den 2010er Jahren bieten den Zuschauenden die Möglichkeit nachzuverfolgen, wie eine der Hauptfiguren, Sheldon Cooper, der viele Züge von Asperger-Autismus zeigt, im Laufe der Episoden und Staffeln immer mehr soziale Kompetenzen erlernt, z. B. Sarkasmus erfolgreich und gezielt anzuwenden. Die lange Dauer vieler Sitcoms über mehrere Jahre, ihr Hang dazu, Dinge zu wiederholen und immer wieder zu thematisieren und dabei Entwicklungen darzustellen, sind mit der Serialität von Fernsehen verbunden. Tatsächlich ist die Entwicklung, die bei Big Bang Theory vorgeführt wird, aber immer auch ein Prozess der Normalisierung und Anpassung der exzentrischen, nerdigen Figuren, die bei den meisten von ihnen in der Affirmation einer heterosexuellen Beziehung endet. Big Bang Theory entfaltet hier ein zwiespältiges Potential in der Repräsentation von Menschen mit Behinderung. Das Ziel dieser Sitcom und auch des Fernsehens allgemein ist, Figuren in die Gesellschaft zu integrieren und zu normalisieren, Probleme zu überwinden und damit auch ihre Behinderungen zu ›therapieren‹ (vgl. Davis 2017, 47). Die fünfteilige deutsche Serie Unser Walter, die 1974 im ZDF ausgestrahlt wurde, realisiert ein anderes Potential des Fernsehens. Sie führt die Entwicklung einer Figur mit Down-Syndrom von ihrer Geburt bis zum Erwachsenenalter vor. Gleichzeitig wird dabei auch auf sehr komplexe Weise die Entwicklung der deutschen Gesellschaft in ihrem Umgang mit Menschen mit Behinderung nachgezeichnet: von der Ausgrenzung und Unsichtbarkeit in den immer noch von virulenten Euthanasievorstellungen der Nazi-Zeit (s. Kap. 28) geprägten 1950er Jahren über die mühsamen und frustrierenden Versuche der Mutter, ihren Sohn in den 1960er Jahren in ein Schulsystem zu integrieren, in dem Menschen mit Behinderung einfach nicht vorgesehen waren, bis zu einem Emanzipationsprozess der Familie, der alle Mitglieder erfasst und auch den Vater dazu bringt, für die Rechte von Menschen mit Behinderung auf selbstbewusste Weise einzutreten und sich nicht mehr als Bittsteller und demütigen Empfänger von Mitleid zu empfinden. In einer Szene aus dem letzten Teil der sechsteiligen Serie sehen wir Walter als jungen Erwachsenen, wie er mit einem Betreuer in seiner Heimatstadt München erlernen soll, selbständig die U-Bahn zu benutzen. Die Serie hat eine einfache, spröde, fast dokumentarische Ästhetik, aber es gelingt ihr sehr gut, die Einstellungen der Menschen dieser Zeit einzufangen. In der Szene in

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der U-Bahn sind es die Blicke der Menschen, die in den 1970er Jahren einen Menschen mit Down-Syndrom im öffentlichen Raum unverhohlen anstarren. Es bleibt dabei offen, ob diese Szenen das zufällige Nebenprodukt einer dokumentarischen Vorgehensweise sind, ob sie aus der Aufmerksamkeit resultieren, die dem Filmteam und den Dreharbeiten galt, oder ob sie tatsächlich bewusst als Einstellungen der Menschen in den 1970er Jahren inszeniert wurden. Der Serie gelingt es damit auch, einen fernsehtypischen Blick auf die Lebenswelten von Menschen auszuschöpfen, ein Potential, das schon immer mit der Metapher vom Fernsehen als Fenster zur Welt verbunden war (vgl. Pleister in Grisko 2009, 85). In beiden Beispielen geht es um Eigenschaften des Mediums, die sich mit dem Aspekt des Gewöhnlichen und Alltäglichen assoziieren lassen. Das Fernsehen und die Fernsehserie eröffnen im Vergleich zu dem Medium Film (s. Kap. 69) besondere Möglichkeiten der Darstellung von Menschen mit Behinderung. Ihre Eigenschaft, eher im Häuslichen angesiedelt zu sein, wurde von der Theorie schon sehr früh erfasst, meist aber negativ gedeutet. So wirft Günther Anders in seiner Auseinandersetzung mit Fernsehen aus dem Jahr 1956 dem Medium eine Veränderung oder gar Zerstörung des Familienlebens durch das Eindringen in den häuslichen Raum und eine Verbiederung vor (Anders 2009, 108). Damit spricht er an, was im Aspekt der Normalisierung bei Big Bang Theory deutlich wurde: Das Fernsehen versucht, Inhalte zu verharmlosen und an die häusliche Wahrnehmung anzupassen. Auch Adorno beschreibt das Fernsehen in den 1950er Jahren als Medium, das die Verhältnisse nur zu bestätigen vermag. Durch die zu große Nähe zum Alltag, was Inhalte und Rezeption angehe, könne uns das Fernsehen niemals herausfordern oder verändern (Adorno 2009, 56). Dieser Ansatz von Kritik findet sich bis heute etwa in dem Vorwurf wieder, dass Serien nur stereotype Darstellungen von Behinderung liefern können. Spätere Texte sprechen weniger wertend von einer grundlegenden Differenz von Kino und Fernsehen. So betont etwa John Ellis, dass die Bilder des Fernsehens uns gerade wegen des häuslichen Rahmens der Rezeption und aufgrund der Größe des Bildschirms nicht dominieren (Ellis 2001, 44). Tania Modleski stellt in einem berühmten Text aus den 1980er Jahren heraus, dass sich bestimmte Serien wie die Soap Opera an ihre Rezipierenden und deren häusliche Arbeit anpassen und damit eine potentiell abschweifende Aufmerksamkeit bedienen (Modleski 2001, 382–383). Serien sind wirkungsvolle Medien für die häusliche Rezepti-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_71

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

on, weil sie eben nicht so genau geschaut werden müssen. Diese Offenheit und Zeitlichkeit des Seriellen spielt für die Darstellung von gesellschaftlich relevanten Themen eine spezifische Rolle. So scheint Ellis zwar Adornos Vorwurf, dass die Serie nur die bestehenden Verhältnisse bestätige, zuzustimmen, wenn er darauf hinweist, dass die Serie durch ihre repetitiven und episodischen Strukturen immer nur zum Status Quo zurückkehren könne (Ellis 2001, 56). Allerdings bieten die Wiederholung und die Dauer einiger Serien die Möglichkeit, sich an Figuren zu gewöhnen, sie zu verstehen und lieb zu gewinnen, sie alltäglich und vertraut erscheinen zu lassen: In Serien werden selbst die negativen Charaktere, wie J. R. Ewing in Dallas (USA 1978–1991), von den Zuschauenden geliebt (ebd., 67). Fernsehen hat durch den Gewöhnungseffekt auch das Potential, Behinderung als alltäglich und vertraut, als nicht mehr abweichend von der Norm erscheinen zu lassen. Big Bang Theory mag sich über Sheldon lustig machen, aber die Sitcom ist weit davon entfernt, ihn vorzuführen, auszustellen und zu einem Spektakel zu machen, das sich beispielsweise in den Freakshows am Anfang des 20. Jahrhunderts (s. Kap. 28) manifestiert hat (Dederich 2007, 97). Auch wenn sich das populäre Medium Fernsehen nicht häufig mit Behinderung beschäftigt, finden sich in der Geschichte des Fernsehens doch viele Beispiele. In den 1940er und 1950er Jahren wiesen die Fernsehprogramme in den USA durchaus gesellschaftlich relevante Inhalte auf. Gerade in der Frühzeit waren sogenannte Live-Dramen und Fernsehspiele als Anthologie-Serien relativ ambitionierte Produktionen, die auch heikle Themen ansprachen und von der Kritik sehr geschätzt wurden (vgl. Boddy 1993, 50). Es ist nicht unüblich für diese Zeit, dass Inhalte, die später in einer Filmversion bekannt wurden, zunächst für die Anthologieprogramme des Fernsehens geschrieben wurden. So adaptierte William Gibson die Geschichte der taubblinden Helen Keller mit The Miracle Worker 1957 für die Fernsehreihe Playhouse 90, bevor daraus ein erfolgreiches Broadway-Stück und 1962 ein ebenso erfolgreicher Film mit Anne Bancroft und Patty Duke wurde (dt. Titel: Licht im Dunkel). The Miracle Worker erzählt in dramatischer Form die wahre Geschichte der taubblinden Helen Keller, die durch ihre Bücher und ihre pädagogische Arbeit zu einer wichtigen, frühen Aktivistin für Menschen mit Behinderung wurde. Die für das frühe US-Fernsehen typischen LiveDramen und Fernsehfilme wurden zwar seit den späten 1950er Jahren durch episodische Serien und Genres wie Krimi- und Westernserien mehr und mehr ver-

drängt (vgl. Schwaab 2014, 24), spielten aber in bestimmten Programmformen lange Zeit immer noch eine wichtige Rolle. Julie Passanante Elman setzt sich beispielsweise in einem Beitrag des Bandes Disability Media Studies (2017) mit der Anthologieserie After School Specials des Senders ABC auseinander, die von 1972 bis 1995 mit etwa fünf bis sechs Episoden im Jahr ausgestrahlt wurde. Elman betont, dass die Fernsehfilme in ihrem pädagogischen Ansatz und ihrer Auseinandersetzung mit Problemen, die Jugendliche betreffen, ein bestimmtes erzählerisches Muster hervorbringen: Adoleszenz wird als eine Phase des Übergangs und der Entwicklung betrachtet, die durch Krisen geprägt ist. In der Fokussierung auf Krisen geht es immer auch um ihre erfolgreiche Behandlung und die Veränderung dieses Zustands, auf die das Ende der Erzählung jeweils zuläuft (Passanante Elman 2017, 52). Behinderung wurde in dieser Reihe immer wieder thematisiert, beispielsweise in The Brad Silverman Story (1987), die sich mit einem Jungen mit DownSyndrom beschäftigt. Die Geschichten folgten dabei dem Muster eines ›rehabilitative edutainments‹ (ebd.), bei dem (soziale, körperliche oder sexuelle) Abweichungen und deren Reintegration in die gesellschaftlichen Normen dargestellt werden. Eine rehabilitative Logik führte dazu, Behinderung mit Kindlichkeit zu assoziieren und eine Entwicklung des Erwachsenwerdens nachzuzeichnen, die mit der Überwindung von Behinderung, dem Erwerb von Fähigkeiten, aber auch dem Eintritt in eine heterosexuelle Ordnung endet (ebd., 61): »[...] the Specials transformed stories of disability into stories of growing up, overcoming disability, and getting the girl (or boy)« (ebd., 52). Die Episode The Skating Rink von 1975 verdeutlicht dieses Muster. Tuck, ein schüchterner junger Mann mit Sprachbehinderung, freundet sich mit einem Eislauftrainer an und wird von ihm ermutigt, Eiskunstlaufen zu lernen. Zunächst deutet der Film die Probleme an, die mit diesem eher als ›unmännlich‹ deklarierten Sport verbunden sind. Aber am Ende zeigt der Film nicht nur, dass die Figur durch den Erfolg in dieser Sportart selbstbewusst und in die Gemeinschaft integriert wird, sondern affirmiert auch die Norm einer heterosexuellen Identität, die durch den erfolgreichen Paartanz mit einer Partnerin Ausdruck findet (ebd., 71). Da Fernsehfilme wie die Beiträge zu den After School Specials nicht Teil einer fortlaufenden Serie sind und daher keine Zuschauerbindung erzeugen können, versuchen sie sich häufig als spektakuläre Fernsehereignisse zu inszenieren und sprechen gesellschaftlich kontroverse Themen wie Drogensucht oder Vergewal-

71 Fernsehserien

tigung an (vgl. Schulze 1990). Fernsehfilme folgen aber viel stärker als Serien einer Dramaturgie, die ein klar bestimmtes Ende und eine Lösung vorsehen, während Serienformen wie die Soap Opera und die Endlos-Serie sich eher dadurch auszeichnen, dass sie ein Ende unentwegt aufschieben, keine Lösungen anbieten und als kumulative Erzählungen eher Probleme ansammeln. So betont Tania Modleski in einem Text aus den 1970er Jahren, dass eine Soap Opera niemals Probleme löst (Modleski 2001, 63), aber auch, dass dieses häufig als eskapistische Unterhaltungsform gebrandmarkte Serienformat sich tatsächlich erstaunlich oft mit gesellschaftlichen und sozialen Problemen beschäftigt (ebd., 62). Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich die Soap Opera auch mit dem Thema Behinderung auseinandersetzt (Wilde 2007, 1). So orientierte sich beispielsweise die seit 1985 produzierte deutsche Serie Lindenstraße (D 1985–2020) an der britischen Soap Opera Coronation Street (Bleicher 2012, 184), die in ihrem Interesse für den Alltag von Arbeiterfamilien ein typisches Beispiel für die größere Realitätsnähe britischer Endlos-Serien ist. Die Lindenstraße ist bekannt für ihren manchmal plakativen Rückbezug auf Themen wie Krankheit, Arbeitslosigkeit, Homosexualität oder auch Behinderung. So sitzt eine ihrer Hauptfiguren, Dr. Dressler, seit 1988 im Rollstuhl. Mit Martin, dem Sohn der Serienfiguren Anna Ziegler und Hans Beimer, wird sogar ein Mensch mit Down-Syndrom in die Serie dauerhaft integriert. Lindenstraße hat ähnliche Wirkungen auf die Zuschauenden wie typisch episodische Serien, die in den USA produziert wurden. So bietet die Krimiserie Ironside (USA 1967–1975), eine von Raymond Burr verkörperte Hauptfigur mit Behinderung an. Ironside wird als Polizeidetektiv durch einen Schusswechsel verletzt und querschnittsgelähmt, arbeitet aber dennoch im Rollstuhl sitzend erfolgreich als Sonderermittler weiter für die Polizei von Los Angeles. Die Serie, die auch im deutschen Fernsehen populär war, mag eine der wenigen Serien sein, in der Menschen mit sichtbaren Behinderungen eine Hauptrolle spielen. Aber dafür wird seine Hauptfigur zu dem, was in den Disability Studies kritisch als ein supercrip bezeichnet wird, eine behinderte Figur, die nur deswegen akzeptiert wird, weil sie noch besser als die nichtbehinderten Figuren ist. Lennard J. Davis identifiziert die Hauptfigur Monk aus der gleichnamigen Serie (USA 2002–2009) als einen supercrip, dessen OCDSymptom ihn nicht nur zu einem liebenswerten Charakter macht, sondern auch ein Zeichen seiner außergewöhnlichen Beobachtungsgabe ist, mit der er Fälle

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zu lösen vermag. Monk setzt gar Medikamente ab, die seine Zwangshandlungen lindern, weil sie sich zu stark auf diese besondere Fähigkeit auswirken würden (Davis 2017, 40). Monk ist in dem Sinne ein supercrip, weil seine Fähigkeit nicht nur die Folge seiner Beeinträchtigung ist, sondern weil die Beeinträchtigung und die komischen Momente, die sie produziert, auch ein Grund dafür sind, warum die Menschen die Serie lieben (ebd.). Ironside mag bereits in den 1970er Jahren ein Beispiel für den supercrip geboten haben, dennoch leistet die Serie etwas, was nur dieses Format leisten kann: Es bietet in seiner episodischen Form wenig Veränderung der Charaktere, ihrer Ansichten und Entwicklungen an, aber es gewöhnt die Zuschauenden an den Anblick von Menschen mit Behinderung und macht sie damit vertraut, dass Menschen, die im Rollstuhl fahren, auch einer Arbeit nachgehen können. Die lange Dauer einer Serie übt einen Effekt der Gewöhnung aus und sollte uns davon abhalten, die von Serien produzierten Stereotypen nur als problematisch anzusehen. Ein gutes Beispiel für dieses Potential der Integration und Veralltäglichung findet sich ebenfalls in der deutschen Serie Lindenstraße. Sie gewöhnt die Zuschauenden an den Anblick des rollstuhlfahrenden Dr. Dressler. Dass er ein Mensch mit Behinderung ist, fällt nach über tausend Folgen kaum noch auf und wird auch wenig thematisiert. Dennoch führt Fernsehen in diesem Fall auch von Behinderung weg, weil rollstuhlfahrende Figuren selten von Schauspielenden verkörpert werden, die auf ihn auch angewiesen wären. Eine Forderung und ein Slogan der Disability Studies, auf den Charles Riley hinweist, lautet, dass Menschen mit Behinderung auch von Menschen mit Behinderung gespielt werden sollen: »Nothing about us without us« (Riley II 2005, 94). Das amerikanische kommerzielle Fernsehen hat Schwierigkeiten, dieses Ziel zu realisieren, weil die Umstände serieller Produktion es schwermachen, Schauspieler und Schauspielerinnen mit Behinderung in die Formate zu integrieren (ebd.). Für eine deutsche Serie wie Unser Walter, die von einem öffentlich-rechtlichen Sender in einer Zeit produziert wurde, in der Serien noch relativ neu waren und von der breiten Bevölkerung diskutiert wurden (vgl. Böckern 1999), war das übrigens kein Problem gewesen. Walter wurde in jeder Episode, die sein Aufwachsen zeigte, von jeweils einem anderen Menschen mit Down Syndrom verkörpert, was es der Serie auch ermöglichte, an den Episodenenden auf die aktuelle Situation für Menschen mit Behinderung hinzuweisen und dabei Bezüge zu der Situation des jeweiligen Schauspielers von Walter herzustellen.

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

Für amerikanische Serien gibt es dennoch mit der Serie Life Goes On (USA 1989–1993) ein sehr beeindruckendes Beispiel für die Integration eines Menschen mit Down-Syndrom in eine Serienhandlung. Die Dramaserie, die von dem Alltag einer Familie handelt, hat mit der Figur Corky eine bis heute positiv gedeutete Darstellung eines Menschen mit Behinderung geliefert. Corky wurde nicht auf seine Identität als Mensch mit Down-Syndrom festgelegt, sondern als Figur mit ähnlichen Problemen wie die anderen Figuren in die Serienwelt integriert. Dabei wurde positiv auf seine Fähigkeiten und nicht auf seine Defizite hingewiesen. Allerdings wurden Corky und der ihn verkörpernde Schauspieler Christopher Burke häufig in den Medien auch als besonderes Beispiel und Vorbild herausgestellt: Die Serie war, wie ein Artikel der New York Times von 1989 betont, für die Gemeinschaft der Menschen mit Down-Syndrom sehr wichtig. Die an der Produktion Beteiligten waren sich ihrer außergewöhnlichen Rolle als Schauspieler mit Behinderung in einer Serie auch in der Außendarstellung bewusst (New York Times 1989; Horovitz 1989). Die Aufmerksamkeit, die ein Schauspieler/eine Schauspielerin mit Behinderung automatisch bekommt, verweist auf das Problem, dass eine Figur mit Behinderung, wie Lennard J. Davis es herausstellt, immer dazu verdammt ist, etwas zu bedeuten: »In an ableist culture disability cannot just be – it has to mean something. It has to signify« (Davis 2017, 44). Sie muss entweder für die anderen Figuren etwas bedeuten, die häufig durch die Anwesenheit des Menschen mit Behinderung menschlich reifen dürfen, oder für die Zuschauenden, deren Identifikation immer auch ein Moment der Versicherung der eigenen Normalität beinhaltet (ebd., 39). Auch wenn die Serie Corky als Mensch zeigt, der sich nicht verstecken muss und der integraler Bestandteil der Familie und eines Kreises von Freunden ist, so tritt die Figur doch notwendig in eine Welt der Zeichen ein, in der sie immer in Beziehung zu den Einstellungen der Gesellschaft gegenüber Behinderung steht (ebd., 45). Das ist grundsätzlich ein Problem von Serien, die von sich beanspruchen, ein Bewusstsein für die Bedeutungen zu haben, die mit Repräsentationen von Figuren mit Behinderung verbunden sind. Das sogenannte Quality TV, das sich seit den 1980er Jahren entwickelt, zielt auf ein junges, gebildetes und kaufkräftiges Publikum und spricht dafür auch vermehrt gesellschaftlich relevante Themen an (Thompson 1996, 14–15). Diese sichern Aufmerksamkeit und führen dazu, dass über eine Serie gesprochen und ge-

schrieben wird. Die Behandlung von Behinderung ist Teil einer Formel eines bestimmten Typs Serie, und die Behandlung von Behinderung gerät dadurch auch teilweise formelhaft. So lobt Charles Riley die HBOSerie West Wing (USA 1999–2006) dafür, die MS-Erkrankung der Hauptfigur des amerikanischen Präsidenten zunächst sehr genau und mit vielen ihrer Konsequenzen zu thematisieren, kritisiert aber den weiteren Verlauf der Serie, die nach einigen Folgen einfach zu vergessen scheint, dass es diese Beeinträchtigung gibt (Riley 2005, 94). Der Fokus auf Qualitätsserien ist aber auch deswegen problematisch, weil er verkennt, dass auch andere, weniger angesehene Formate wie etwa Reality TV und Doku-Soaps (s. Kap. 70) Behinderung thematisieren. Lori Kido Lopez (2017) weist auf diverse Formate des Reality TV hin, die auf wenig angesehenen Sendern wie TLC laufen. So richten Formate wie Little People Big World (über kleinwüchsige Menschen) oder Abby and Brittany (über ein zusammengewachsenes Zwillingspaar) in den 2000er Jahren ihren Fokus auf die visuelle Darstellung von Körpern, die von der Norm abweichen (Lopez 2017, 108). Reality TV ist dabei aber hochproblematisch, weil die Formate einen Blick aktivieren, den Rosemary Garland-Thomson in ihren Studien zum Blick auf Menschen mit Behinderung ›baroque staring‹ nennt, eine unreflektierte Faszination für das Abweichende und Groteske, das mit Behinderung assoziiert wird (Garland-Thomson 2009, 115). Dieser Spektakel-Charakter, der direkte Verbindungen zu den Freak Shows evoziert, die um 1900 ein wichtiges Element der Unterhaltungskultur waren, wird von der auf dem amerikanischen Sender AMC 2013 und 2014 ausgestrahlten Doku-Soap Freakshow explizit herausgestellt. Das dokumentarische Format behandelt den Versuch von Todd Ray, an der kalifornischen Küste eine Neuauflage der klassischen Freakshow zu organisieren. Die Serie dokumentiert seine Suche nach den Stars seiner Shows und die Kommunikation mit ihnen, etwa seine Gespräche mit dem großwüchsigen Polizisten George Bell, der im Verlauf der Serie Teil der Show wird. Lopez (2017) skizziert in ihrer Auseinandersetzung mit dem Programm eine Ethik des Blickes auf Reality-Formate und diskutiert die moralischen Implikationen dieser Form der visuellen Ausstellung von Menschen: Dürfen wir im Fernsehen den behinderten Körper anstarren? Sie beantwortet die Frage damit, dass die unterschiedlichen Performer*innen, zu denen kleinwüchsige Menschen, aber auch Körperkünstler zählen, als professionelle Performer*innen auch über den Blick verfügen, dem sie aus-

71 Fernsehserien

gesetzt werden. Sie fügt hinzu, dass der genaue Blick auf das Leben der Menschen außerhalb der Show viele Themen berührt, die den intersektionalen Aspekt (s. Kap. 46) der Auseinandersetzung mit Menschen mit Behinderung herausstellen und auch Fragen der Ökonomie, des Sozialen oder Rassismus behandeln (Lopez 2017, 109). Gerade die Verleugnung des sozialen Aspektes und der ökonomischen Ungleichheit, die mit Behinderung verbunden sein können, bedauert Davis in seiner Kritik an den Darstellungen in Film und Fernsehen: Das Fernsehen (vor allem das USamerikanische) sieht Armut und Behinderung immer nur als individuelle, nicht als gesellschaftliche Probleme (Davis 2017, 43). Es ist interessant, dass gerade eine Doku-Soap wie Freakshow Aspekte der sozialen und gesellschaftlichen Ausgrenzung thematisiert, was in vielen fiktionalen Serien und im US-amerikanischen Fernsehen allgemein kaum eine Rolle spielt. Unser Walter als Beispiel für eine realistische, an den realen Verhältnissen der Bundesrepublik Deutschland interessierte Serie stellt dagegen die Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen immer auch als ein strukturelles Problem einer Gesellschaft heraus und porträtiert eine Familie, die neben dem Kampf um Anerkennung ihrer Rechte und der ihres Sohnes immer auch mit ökonomischen Problemen zu kämpfen hat. Dem Fernsehen wurde auch die Funktion zugeordnet, als ein kulturelles Forum zu dienen, auf dem unterschiedliche gesellschaftlich relevante Themen im schützenden Rahmen einer Sitcom oder einer Soap Opera und anderer serieller Formate dargestellt werden können (vgl. Hirsch/Newcomb 1992, 96). Diese Funktion des Fernsehens verändert sich, weil dieses durch die Entwicklung des sogenannten Narrowcasting heute mit einzelnen Programmen ein viel kleineres und homogeneres Publikum anspricht als noch in den 1980er und 1990er Jahren. Aber durch die Kopplung an soziale Netzwerke erhöhen sich gleichzeitig die Möglichkeiten, solche Programme zu kommentieren und angeregt zu diskutieren und damit ihre soziale Relevanz und die Genauigkeit ihrer Darstellung der Welt auf den Prüfstand zu stellen (s. Kap. 52). Der Wandel wird z. B. sichtbar in den angeregten Online-Diskussionen, die Robin Schmerer (2016) im Zusammenhang mit der Teenager-Musical-Serie Glee (USA 2009–2015) untersucht. Diese gibt durch den geschützten Raum der Musical-Klasse einer Highschool sämtlichen Außenseitern der Schule, zu denen auch Menschen mit Behinderung gehören, eine Heimat und lässt sie über ihren Status und ihre Probleme reflektieren (Schmerer 2016, 192). Dieser Raum dehnt

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sich auf die sozialen Medien aus, schafft ein engagiertes, aber auch kritisches Publikum, das sehr genau hinschaut, ob die Repräsentationen des Fernsehens seiner Realität entsprechen oder ein problematisches Verständnis von Behinderung offenbaren. Die Serie integriert auch Menschen mit Behinderung in den Cast, etwa zwei Charaktere mit Down-Syndrom, und thematisiert eine Vielfalt von Themen, die auch eine soziale Dimension haben, wie die eingeschränkte Mobilität von Menschen, die im Rollstuhl sitzen. Sie besetzt aber auch die prominente Rolle von Artie eben nicht mit einem Menschen mit Behinderung und trägt damit zur Marginalisierung von Schauspieler*innen mit Behinderung bei, die auch Davis (2017, 43) kritisiert. Außerdem ermöglicht diese Besetzung, die Figur Artie in Musical-Fantasy-Sequenzen zu heilen (Schmerer 2016, 200). Er erhebt sich aus seinem Rollstuhl, tanzt unbeeinträchtigt und ekstatisch mit den anderen Ensemblemitgliedern, so als wäre es der einzige Traum eines Menschen im Rollstuhl, diesen wieder loszuwerden, und als sähe dieser Wunsch notwendig immer wie die hochorganisierte Choreographie von Glee und anderen aktuellen Musicals aus. Problematisch ist auch Arties Äußerung, als er enttäuscht auf die vorgetäuschte Behinderung einer anderen Figur reagiert: »This is something I can’t fake« (ebd.). Dieser Satz zog bei den Usern und Userinnen in Foren sehr große Kritik nach sich, womit deutlich wird, dass Fragen der richtigen Repräsentation eine große Rolle auch in den Online-Diskussionen spielen und daher nicht irrelevant sind. Die angeregte Diskussion resultiert auch daraus, dass Glee viele Eigenschaften des Televisuellen und des Seriellen teilt, d. h. dass die Zuschauenden die Figuren durch die lange Dauer und die Alltagsnähe einer Serie liebgewinnen und sie ihnen nicht gleichgültig sind. Es gibt aber auch Serien, die im Vergleich mit USamerikanischen Produktionen keine Kompromisse machen, Behinderung nicht ›verbiedern‹ und viel direkter ansprechen, ihre Abhängigkeit von gesellschaftlichen Verhältnissen offenlegen und in ihrer Darstellung weniger Angebote zur Identifikation machen. Englische Comedy-Formate bieten eine rauere Form von Unterhaltung (vgl. Schwaab 2013) und finden eine drastische Darstellung von Behinderung, die an eine Tradition der Komik anzuschließen scheint, die schon immer Behinderung für komische Effekte ausgebeutet hat (Montgomerie 2010, 112–113). So wird beispielsweise die Sitcom The Office (USA 2001–2003) als ›comedy of embarrassment‹ (vgl. Mills 2004, 69) bezeichnet, weil sie so tut, als wäre sie eine Dokumen-

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

tation und als würde sie ›reale‹ Handlung beobachten. Auch wenn die Zuschauenden wissen, dass es sich um keine dokumentarische Beobachtung der Realität handelt, entsteht bei ihnen doch ein Gefühl der Peinlichkeit. So geht beispielsweise David Brent, der unfähige Chef einer kleinen Verwaltungsabteilung einer Papierfabrik, mit neuen Mitgliedern der Belegschaft essen, um ein besseres Arbeitsklima zu schaffen. Äußerst unhöflich schiebt er eine der neuen Mitarbeiterinnen, die im Rollstuhl sitzt, ohne sie zu fragen, beiseite, um an ihr vorbeizukommen. Dieses kleine Detail, das in der Rezeption übersehen werden kann, sagt sehr viel über den Umgang mit Behinderung aus, über die ausgesprochenen und unausgesprochenen Machtverhältnisse, die sich in Alltagssituationen manifestieren. Es isoliert aber auch die Figur Brent, der als Einziger nicht weiß, wie man sich im Umgang mit Menschen richtig verhält. Weil sie auf ähnlich direkte Weise unsere Vorstellungen von Behinderung irritieren, bezeichnet Margaret Montgomerie zwei wiederkehrende Figuren des Comedy-Formates Little Britain (UK 2003–2006) als wichtige und innovative Charaktere (vgl. Montgomerie 2010, 115). Little Britain ist ein überaus geschmackloses, sitcomartiges Format, in dem die beiden Darsteller Matt Lucas und David Williams in kleinen Episoden unterschiedliche wiederkehrende Figuren in extremen, peinlichen und unangenehmen Situationen verkörpern. Eine dieser wiederkehrenden Figuren ist Andy Pipkin (Matt Lucas), der mit ungepflegten langen Haaren, in Jogginghosen und Unterhemd im Rollstuhl sitzt und unverständliche Sätze murmelt, offenbar als Symptome einer spastischen Lähmung. Er wird von der Figur Lou, deren Beziehung zu ihm nie erklärt wird, liebevoll gepflegt. Der einzige Gag, der sich in dieser Situation entfaltet, besteht darin, dass Andy immer dann, wenn Lou ihm den Rücken zuwendet, aufsteht und überaus beweglich kleine akrobatische Nummern oder kleinere Handlungen durchführt, die ihn alles andere als beeinträchtigt aussehen lassen. Diese Darstellung lässt sich als eine für Sitcoms typische Inversion betrachten (ebd., 119): Lous Macht und Kontrolle durch Fürsorge wird von Andy unterlaufen. Die Unsicherheit bezüglich des Grades der Beeinträchtigung von Andy markiert auch die unsichere Grenze zwischen Behinderung und Nicht-Behinderung (ebd., 117). Montgomerie setzt sich auch mit den Reaktionen von Menschen mit Behinderung auseinander, die das bizarre Verhalten von Andy als kleine Fluchten aus einem tristen Alltag der Behinderung oder sozialer Ausgrenzung interpretieren (ebd., 118).

Diese und ähnliche Darstellungen von Little Britain sind aber deswegen wichtig, weil die Irritation der Zuschauenden aufgrund des unsicheren Status’ von Andy niemals verschwindet und sich kein Effekt der Gewöhnung einstellt, denn diese wird durch die unmittelbaren Effekte einer geschmacklosen Darstellung verhindert. Hier sind wir mit einem ›radikal‹ episodischen Fernsehen konfrontiert, das keine Lösungen findet und keine Erklärungen bietet, das Menschen mit Behinderung nicht normalisiert und integriert oder auf die positiven Effekte abzielt, die die Konfrontationen mit Menschen mit Behinderung in Fernsehserien häufig haben sollen. Little Britain ist tatsächlich durchgängig subversiv und ermöglicht damit vielleicht auch eine nie abgeschlossene Auseinandersetzung mit ambivalenten Aspekten (s. Kap. 44) von Behinderung. Während Little Britain auf beeindruckende Weise den Vorwurf der Verbiederung, der schon immer an das Fernsehen gerichtet wurde, widerlegt, soll mit dem letzten Beispiel eine Serie angesprochen werden, die zwar weniger direkt und offensiv die Zuschauenden herausfordert und problematische Einordnungen von Behinderung in serielle Muster aufweist, dafür aber ›neue‹ Potentiale der Darstellung von Behinderung aufzeigen kann. In der US-Produktion Atypical, die seit 2017 auf der Plattform Netflix veröffentlicht wird und von der es bis jetzt drei Staffeln gibt, stehen sozusagen Normalisierungstopoi und subversive, herausfordernde Momente in einem Spannungsverhältnis zueinander. Durch die Voice-Over-Kommentare der Hauptfigur Sam erfahren wir sehr viele Details über die Natur seiner Beeinträchtigungen als Asperger-Autist. Der Serie lässt sich auf keinen Fall vorwerfen, dass sie ein oberflächliches Bild von Behinderung zeichne. Allerdings normalisiert die Serie durch den fortlaufenden Charakter der Erzählung die Hauptfigur. Ein wichtiger Handlungsfaden sind Sams Versuche, trotz seiner Probleme soziale Kontakte zu organisieren, sexuelle Erfahrungen mit einer Frau zu machen und damit auch über den Aspekt der Sexualität in eine soziale und heterosexuelle Ordnung integriert zu werden. Auch hier findet eine Gleichsetzung von Erwachsenwerden, Überwindung von Beeinträchtigungen und Integration in eine heterosexuelle Ordnung statt, die schon in den Teenagerdramen der After School Specials der 1970er und 1980er Jahre beobachtet wurde. Was Atypical aber immer davor schützt, nur als ein Comedy Drama der seriellen Integration verstanden zu werden, ist die Aufmerksamkeit, die auch anderen Figuren und ihren Entwicklungen geschenkt wird, etwa Casey, der Schwester von Sam, die sich in der ers-

71 Fernsehserien

ten Staffel mit der ersten Liebe oder mit der Entscheidung, ihre Schule und ihr Elternhaus zu verlassen und auf ein College zu gehen, beschäftigen muss. Ihr Verhältnis zu Sam betont, ähnlich wie die Geschichten, die parallel erzählt werden, eine liebevolle Koexistenz, bei der Sam niemals die Funktion übernehmen muss, die Schwester (oder andere Figuren) zu einem besseren Menschen zu machen. Der Serie kann zudem zugestanden werden, subversive Momente zu enthalten, die sich nicht in das Schema einer Serie einordnen lassen, sondern deren Existenz bedrohen oder die Serie und ihre Zuschauenden überfordern. Sie zeigt nämlich extreme Wutanfälle ihrer Hauptfigur und bedient sich damit einer Eigenschaft von Autismus, die sich nach Stuart Murray als ›Präsenz von Autismus‹ bezeichnen lässt, die sich beispielsweise in fantasievollen Formen des Sprechens oder in stereotypem Verhalten manifestiert, was vor allem in der eruptiven Form von Wutanfällen die Zuschauenden herausfordert (Murray 2008, 104). Für Murray verhilft dieser Aspekt von Autismus selbst eher konventionellen Filmen wie Rain Man (1988) zu Momenten, die sich der Erinnerung einprägen und die über eine narrative, integrative, normalisierende Logik von Hollywoodfilmen hinausreichen. Solche Momente gibt es in Big Bang Theory nicht, hier bleibt alles noch im Rahmen einer traditionellen Sitcom, die aber ebenso von ihren Zuschauenden und von Menschen mit Behinderung geliebt und diskutiert wird. Beide Serien leisten ihren Beitrag dazu, Zuschauer*innen an Menschen mit Behinderung zu gewöhnen, deren Teilhabe an der Welt für selbstverständlich anzusehen und Informationen über sie und den Umgang mit ihnen zu erhalten. Beide Serien ›beuten‹ dabei auch Symptome der Behinderung für ihre Darstellungen aus. Es ist aber wichtig, hier die Potentiale dieser Ausbeutung zu sehen. Die Eruptionen z. B. von Sam machen deutlich, dass sich Serien auch von den Symptomen und Erscheinungsformen von Behinderung führen und verändern lassen und so ein Potential für die Darstellung von Behinderung ausschöpfen, das weit über den normalisierenden und einordnenden Charakter vieler serieller Repräsentationsmuster hinausgeht. Literatur

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

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Herbert Schwaab

72  Künstlerische Videoarbeiten

72 Künstlerische Videoarbeiten 72.1 Dem Werk zu nahe kommen »You’re standing too close to that painting. You have to stand back to really see it«, sagte eine männliche Person in der Matisse-Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art 1992. Angesprochen wurde Georgina Kleege, die diese Begebenheit in ihrem Buch Sight Unseen (Kleege 1999; vgl. Cachia 2013) schildert. An der Situation wird erkennbar, dass der Abstand zu einem Werk, die Möglichkeit, es zu sehen, entscheidend rahmt. Ob der hier normativ gesetzte größere Abstand tatsächlich immer der richtige ist, sei einmal dahingestellt. Denn das Ganze oder nur ein Detail in den Blick zu nehmen, mag unterschiedliche Positionierungen erfordern. Letztlich fand Kleege nicht die Gelegenheit, dem Ausstellungsbesucher zu erklären, dass sie sehbehindert war und daher ihren Betrachter*innenstandpunkt nah am Gemälde wählte. Zudem macht uns die Beschreibung Kleeges darauf aufmerksam, dass – nicht nur – Kunstmuseen über lange Zeit vor allem auf einem visuellen Paradigma basierten, das Wissen durch Sehen vermittelt, und Ansätze, die multisensorisch operieren und die Diversität von Besuchenden in Rechnung stellen, erst seit kurzem erkennbar sind (Saerberg 2012, 178). Hinzu kommt, dass eine ›stille‹, kontemplative Betrachtungsweise von Werken neuerdings durch Audioguide, Ausstellungsführungen oder Podiumsdiskussionen ergänzt wird, wodurch Ausstellungsräume akustisch rekonfiguriert (Sterne/Luca 2019, 301) und Konzepte wie Sonic Access (Renel 2019) in die Diskussion eingebracht werden. Das Beispiel von Kleege verweist generell auch auf den Umstand, dass sich Museums- und Ausstellungsbesucher*innen immer auf bestimmte Weise gegenüber den Objekten und Werken positionieren müssen, um etwas über sie zu erfahren. In welcher Form dies möglich ist, ist jedoch nicht unbedingt eine Frage, die lediglich auf Seiten der Besuchenden zu verorten ist. Ausstellungs- und Museumsarchitekturen bedingen, wie der Rundgang durch eine Ausstellung verläuft und wie Gehende, Rollstuhlfahrer*innen und Langstockoder Rollatoren-Benutzer*innen dort navigieren können. Lichtverhältnisse oder die Gestaltung von Raumtexten wirken sich darauf aus, wie Sehende die Texte lesen können – positionieren aber darüber hinaus auch Menschen im Autismus-Spektrum oder taube Personen. Bewegtbilder oder andere Werke ohne Untertitel, Gebärdensprach-Übersetzung oder Audiode-

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skription bringen manche Besuchende von Ausstellungen in die Lage, den dargebotenen Inhalt nicht oder nur teilweise zu verstehen (vgl. Maaß/Rink 2019) (s. Kap. 6). Ein gelungenes Beispiel ist die inclusive App der Berlinischen Galerie (Brinkmeyer 2014). Es ist zu begrüßen, dass Museen (Tervooren/Weber 2012), Galerien und Kurator*innen – wie z. B. Amanda Cachia (2019) – ihre Besuchenden zunehmend als eine sich durch Diversität auszeichnende Zielgruppe begreifen (wobei Behinderung wiederum nur eine von vielen möglichen Zuschreibungen darstellt; vgl. Kamel 2016, 131–132). Ausstellungen werden so als Möglichkeitsraum vielfältiger Begegnungen denkbar, in denen auch das Verhältnis von Behinderung und Ermöglichung reflektierbar wird. Zugleich ist die Vereinbarkeit von Elementen, die heterogenen Gruppen Zugang zu Inhalten ermöglichen sollen, nicht immer widerspruchsfrei umzusetzen. Vor diesem Hintergrund erscheint es möglicherweise sinnvoll, von barriere-armen Ausstellungen oder Ausstellungen mit inklusiven Elementen denn von Barrierefreiheit zu sprechen. Letzterer Begriff ist im Zusammenhang mit Diskussionen über die Zugänglichkeit von Kulturinstitutionen und kultureller Teilhabe ohne Frage zentral. Doch angesichts der Schwierigkeiten, die sich oft und auf unterschiedlichsten Ebenen bei ihrer Umsetzung ergeben, beschreibt ›Barrierefreiheit‹ derzeit eher noch ein prekäres Potential und Desiderat – ein Spannungsverhältnis von Behinderung und Ermöglichung. ›Access Work‹ auch unter Beteiligung von Menschen mit Behinderung ist daher als ein Prozess zu analysieren, bei dem Zugang immer wieder neu zu gestalten ist (Hamraie 2017) und bei dem eine Vielzahl (nicht-)menschlicher Akteure versammelt und neu formiert werden (Schillmeier 2016).

72.2 Audiovisuelle Produktionen Installationskunst ist nicht ohne die Räume zu denken, in denen sie ausgestellt wird. Behinderung wird als Thema nicht nur im Bereich der Videokunst bearbeitet, es wird auch relevant, wenn es um die Beschaffenheit von Museen und Galerien, ihren Vermittlungsangeboten und Internetauftritten geht (Cachia 2013). Im Folgenden wird nun die Aufmerk­ samkeit auf einige Werke gelenkt, die körperliche Differenzerfahrungen aufgreifen und Behinderung auf spezifische Weise ins Bild setzen (Ochsner/Grebe/ Stock 2017). Dabei gehe ich davon aus, dass Bewegt-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_72

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

bilder Behinderung nicht einfach abbilden, wie es der Diskurs der Disability Studies mit seiner Kritik an ›falschen‹ und seiner Forderung nach ›richtigen‹ Darstellungen – unter Einbeziehung von Schauspieler*innen mit Behinderung – nahelegt (Norden 1994). Ein solcher Modus der Kritik an überkommenen Darstellungsweisen erscheint einerseits unabdingbar für ein Feld, in dem medizinisches Wissen (vgl. Brylla 2018) hinsichtlich des Konzepts Behinderung lange dominant war (Dederich 2007). Doch erscheint es andererseits aus der Perspektive der sich aktuell formierenden Disability Media Studies (Ellcessor/Kirkpatrick 2017) auch als notwendig, die spezifischen Ausdrucks- und Gestaltungsformen audiovisueller Produktionen (Stock/Ochsner 2013; Chivers/Markotić 2010) zu berücksichtigen, um so die heterogenen Bearbeitungen des Verhältnisses von Behinderung und Ermöglichung in diesem Medium in ihrer jeweiligen historischen, sozialen, kulturellen oder auch wissenschaftsgeschichtlichen Situierung zu verorten.

72.3 Hören oder nicht hören, ist das die Frage? Taubes Singen Artur Zmijewski hat mit seinen Werken häufig das Thema Behinderung in die Diskussion gebracht (vgl. Stock 2017, 228–231). Seit den 1990er Jahren interessiert er sich dafür, wie Personen mit Behinderungen repräsentiert werden können. In kontroverser Weise greift er das Verhältnis von Normalität und Behinderung auf. An eye for an eye (1998) setzt Begegnungen von Menschen mit und ohne Behinderungen ins Bild und eröffnet damit neue Perspektiven auf alltägliche Praktiken. In der Installation Singing Lesson (2001; 2003) setzt Zmijewski auf experimentelle Weise taubes Singen und kirchliche Chormusik zueinander in Beziehung. Provokativ wird so – im katholischen Kontext Polens – in Frage gestellt, inwiefern taube Menschen in einer ›Welt der Stille‹ leben oder ob nicht auch für sie Klänge, Musik und die sensorische Modalität des Hörens von Relevanz sind. Bei dem Projekt lud der Künstler eine Gruppe tauber Schüler*innen der evangelischen Heiligen Dreifaltigkeitskirche der Augsburger Konfession in Warschau dazu ein, die Messe Polòsh Møss von Jan Maklakiewicz zusammen mit einem Orchester aufzuführen. Auf Basis der Aufzeichnung der Performance erstellte Zmijewski eine Videoarbeit, die auf der Manifesta 4

in Frankfurt 2002 ausgestellt wurde. Kurz darauf wurde die Performance noch einmal realisiert: Singing Lesson 2 (2003) führte die Bach-Kantate »Jesu, der du meine Seele« einer Neu-Interpretation zu. Das Projekt entstand in Kollaboration mit der Musikhochschule Leipzig und der Samuel-Heinicke-Schule für Schwerhörige und Gehörlose (die dazugehörige Videoarbeit wurde u. a. 2007 auf der Documenta in Kassel gezeigt). Mit beiden Performances und dokumentarischen Filmpraktiken wird das gemeinsame kirchliche Singen auditiv neu ausgelotet. Da taube Personen schwer einschätzen können, wie sich Melodien anhören und der zeitliche Ablauf von Liedern gestaltet ist, werden sowohl Tonhöhe als auch Timing problematisch. Die Konstellation von professionellen Orchestermusiker*innen und Laien-Sänger*innen, zumal gehörlosen, destabilisiert die herkömmliche Aufführungspraxis klassischer und religiöser Musikwerke. Innerhalb des Chores gab es bei der Leipziger Performance zudem eine ausgebildete Sängerin, die mit den Kindern gemeinsam die Messe sang, wodurch eine ambivalente Differenzierung der Tonalität professionellen und tauben Singens erzeugt wurde. Zmijewski ging es darum, »to recognise the virtues of difference« (Bielas and Jarecka zit. in Stock 2017) und dabei »limitations of speech and musicality« (Zmijewski/Mytkowska zit. in Stock 2017) auszuloten. Indem das Projekt taubes Singen im kirchlichen Kontext adressiert, weist es auf mögliche Begegnungsweisen zwischen Taubheit und Musik hin – eine andere Ausdrucksform sind Gebärdenchöre (vgl. Im Land der Stille von Nicolas Philibert 1992) –, problematisiert Vorstellungen ›falschen‹ Singens, befragt durch seine Versuchsanordnung das Verhältnis von Normalität und Abweichung und verändert dabei den kirchlichen Raum durch künstlerische Experimente. Schwerhörige Ecken Darrin Martin, ein Künstler mit Hörbehinderung, erforscht mit seinen Werken die Beziehung zwischen Schwerhörigkeit und Klang und entwirft dabei neues Wissen über Hörbehinderung (s. dazu ausführlich Cachia 2018). Als Nutzer eines Knochenleithörgeräts (BAHA) und Spätertaubter mit geringem Bezug zur amerikanischen Gebärdensprache (ALS) exploriert er in seinen Videos, wie die Räume, in denen er sich bewegt, durch auditive und algorithmische Komponenten sensorisch erfahrbar werden. Dabei verknüpft er visuelle, verbale und auditive Aspekte. Die Arbeit mit

72  Künstlerische Videoarbeiten

Videos eröffnet für ihn etwa die Möglichkeit, Klänge, die er bei der Aufnahme nicht gehört hat, durch Erhöhung der Lautstärke in der Postproduktion für sich wahrnehmbar zu machen. Dies war u. a. bei der Erstellung der einkanaligen 17-minütigen Videoinstallation Monograph in Stereo (2004–2005) der Fall, die den Hörverlust Martins anhand eines dokumentarischen Ansatzes und synästetischer Ins-Bild-Setzungen problematisiert. Das Video bezieht sich auf poetisch wirkende Landschaften, Interieurs und klinische Räume, in denen etwa Hörtests stattfinden. Die Bewegtbilder werden mit Sounds aus audiologischen Tests, elektronischer Musik und weiteren Klängen (z. B. Vogelsingen) sowie mit von Sprachausgabe vorgelesenen Texten über Hören und Wahrnehmung in Verbindung gebracht. Besonders augenfällig ist an der Produktion ein sich schwebend durch das Bild bewegendes Eck-Element: »The colors [of the floating corner device] characterize the synaesthetic aspect to the work, given that it is within the physical, architectural space of the corner in a room where the artist finds an advantageous hearing position, as it offers an enclave of sorts, where sound can be trapped. [...] As the [corner device’] color flashes, so the sound transmits, filters, or vibrates.« (Cachia 2018, 122)

Die Arbeit zeichnet ein fragmentiertes Bild von der Hörerfahrung des Künstlers, das sich auch auf der Ebene des Soundtracks niederschlägt. Eine Szene zeigt Martin etwa beim Hörtest. Anschließend werden assoziativ Bilder grasender Kühe, fliegender EckObjekte und Aufnahmen von Beinen eingebracht. Eine solche assoziative Destabilisierung des Visuellen hinterfragt eine Kontinuität und Logik von Routinen und verweist auf die akustischen Störungen und Lücken, die Martins Schwerhörigkeit im Alltag mit sich bringt. Die Eck-Objekte im Video können mit Vladimir Tatlins Corner Counter-Relief (1914) und Adrian Pipers Cornered (1998) in Verbindung gebracht werden (ebd.). Piper befragt in ihrer Installation die Markierung ihres Körpers als ›schwarz‹ und dessen Verortung in einem sehr begrenzten (Identitäts-)Raum. Durch die Videoarbeit Monograph in Stereo wird die Ecke als akustisch bedeutsamer Raum der Schwerhörigkeit gedeutet: »[...] the corner remains a challenging auditory physical space for Martin’s eardrum and more symbolically for his identity as a crip, queer man« (Cachia 2018, 126).

425

Taubes Hören? Deaf Digital Art Ein dritter wichtiger Bereich sind Video- und Installationsarbeiten tauber Künstler*innen. Dieser Bereich der sogenannten ›Deaf Digital Arts‹ (Leduc 2015) diskutiert anhand künstlerischer Interventionen die vielfältigen Erfahrungen tauber Menschen, u. a. die sozialen Konflikte und Spannungen zwischen Personen der Gebärdensprachgemeinschaften und der Mehrheitsgesellschaft. Das Thema Deafhood (Ladd 2015) sowie auch der vom Performance-Künstler Aaron Williamson geprägte Begriff ›Deaf Gain‹ (vgl. Cachia 2018) spielen dabei eine wichtige Rolle. So betont Deafhood die Formierung tauber Gemeinschaften als kulturellsprachliche Minderheiten, während Deaf Gain etwa die Vorteile des Taub-Seins hervorhebt, anstatt nur die Defizite eines Lebens mit Hörverlusts in den Vordergrund zu stellen. Im Vergleich zu Deaf Digital Arts im PerformanceBereich (s. Kap. 67) sind Videoarbeiten durch Zweidimensionalität gekennzeichnet und bilden die Räumlichkeit der Gebärdensprache daher medienspezifisch ab. Trotzdem sind Videoarbeiten ein signifikanter Teil dieser künstlerischen Produktionen. »Digital arts offer a means to fully embrace the threedimensionality of sign languages. Indeed, video does not have the same utility and potential for hearing and Deaf people; for the latter, it constitutes a way to access music, poetry, storytelling, performance, and literature in their original sign language.« (Leduc 2015, 304)

Stellvertretend für eine ganze Bandbreite an Künstler*innen (vgl. z.  B. Leduc/Witcher/Saunders u.  a. 2018) sei hier Christine Sun Kim angeführt, die Klang als Ausgangspunkt ihrer kritischen Interventionen beansprucht: Kim »reclaims sound as her property – not that of only hearing people – by rendering visual and motion sound dimensions in her artwork« (Leduc 2015, 304). Auch Padden/Humphries (1988) erörtern, dass Klänge und Praktiken des Hörens für taube Menschen wichtig sind. Mit ihren Werken stellt Kim das alltägliche Verständnis von Hören in Frage, produziert Zeichnungen, Performances oder Videoarbeiten, die Alternativen zum ›normalen‹ Hören zur Diskussion stellen (Cachia 2015, 324). Hören wird damit als Wahrnehmungsmodalität geöffnet. Es basiert hier nicht vorrangig auf dem Ohr und physiologischem Hören, sondern bezieht auch Vibrations- und Sehen-Hören (z. B. Lippenlesen) mit ein: »Sound is felt and sound is seen«, wie Cachia (ebd., 325) pointiert formuliert, eine Fest-

426

IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

stellung, die im Umkehrschluss auch eine Reflexion über das Normal-Hören ermöglicht, das ja ebenso multimodal praktiziert wird – nur, dass diesem Umstand oft nicht Rechnung getragen und eine Dichotomie von Sehen und Hören behauptet wird (»divide between hearing and seeing«; Friedner/Helmreich 2012). Friedner und Helmreich (ebd.) legen dar, dass Deaf Studies durch ihren Fokus auf dem Visuellen die diversen Hörerfahrungen tauber Menschen vernachlässigen und dass Sound Studies durch ihre Konzeption hörender Subjektivierungsweisen oft eine Dominanz des Auditiven unterstellen. Daher argumentieren die Autor*innen für eine Perspektive, in der beide Forschungstraditionen zusammengeführt werden. Zusammen mit Thomas Mader produzierte Christine Sun Kim die Videoarbeiten »Close Readings« und »Classified Digits«, die beide u. a. 2017 Teil der Ausstellung »Busy Days« an der De School in Amsterdam wurden (https://deappel.nl/en/exhibitions/busy-dayswith-christine-sun-kim). Diese Arbeiten umkreisen kritisch das Thema ›Untertitel‹, indem sie taube Menschen dazu auffordern, über für sie relevante Klänge und deren mögliche Übersetzung in Sprache zu reflektieren. In »Classified Digits« gebärdet Mader durch Kim hindurch, so dass seine – noch in der Lernphase befindlichen – Gebärden wie ihre erscheinen, wobei sie dann die entsprechende Mimik hinzufügt. Durch diese Form kollaborativen Gebärdens werden neue Beziehungen zwischen hörenden und tauben ASLSprecher*innen gestiftet (vgl. https://www.berlinart link.com/2019/02/08/christine-sun-kim/ und eine spätere Verarbeitung dieses Themas in »tables and windows« 2016: http://christinesunkim.com/work/ tables-windows/). »Close Readings« lotet die Beziehungen zwischen Klängen und Musik sowie Sprache und Schrift in Form von Untertiteln aus. Kim stellt in dieser vierkanaligen Videoinstallation eine Auswahl von Filmclips zusammen und lässt dann zu diesen Clips Untertitel von ihr bekannten tauben Personen erstellen. Für Letztere stellen Untertitel ein zentrales Element bei der Zugänglichkeit von Filmen dar, wobei dies nicht nur die Dialoge, sondern auch die für die Handlung bedeutenden Geräusche oder den Soundtrack betrifft (Zdenek 2015). Die Installation durchdenkt diese Form der optimierten Informationsbereitstellung und führt sie einer kreativen Reflexion zu, indem z. B. der Untertitel für eine Trickfilm-Protagonistin, »sighs« [seufzt], durch den Text »the sound of a problem that is not a problem« ergänzt wird. Die Sound-Künstlerin führt dazu aus:

»The multidimensionality of sound, or many layered sounds, are often reduced to brief captions. The captioner chooses which sounds to reference and which to leave out. In Close Readings, the sound captions range from literal to conceptual, imagined or even poetic.« (Sun Kim 2015/16).

72.4 Fazit Wie die drei vorgestellten Videoinstallationen zeigen, fordern künstlerische Produktionen Betrachtende immer wieder dazu heraus, ihren Sicht-, Höroder Standpunkt zu hinterfragen. Die hier ausgewählten Beispiele führen dies vor, indem sie taubes Singen, Ecken der Schwerhörigkeit und klangvolle Gebärden performieren. Damit gelingt es den Videos, Vorstellungen von Hören, Hörbehinderung und Taubheit zu dezentrieren. Als audiovisuelle Versuchsanordnungen werfen sie Fragen hinsichtlich des (Normal-)Hörens auf. Die gemeinsame Betrachtung dieser Werke ermöglicht es uns, auch die Dichotomie von Hören und Taubheit zu destabilisieren (vgl. Friedner/Helmreich 2012). Vielmehr werden durch die Werke facettenreiche Bezüge zwischen Taubheit und Musikalität, Schwerhörigkeit und Videokunst sowie Gebärden und filmischer Performance verdeutlicht. Natürlich ist mit diesen Beispielen nur ein kleiner Ausschnitt des Bereichs der Installations- und Videokunst thematisiert worden, in dem das Verhältnis von Behinderung und Ermöglichung diskutiert wird. Videoarbeiten zum ›Freewheeling‹ von Sue Austin, die Rollstühle für Tauch-Performances umbaut (Giraldo/ D’Amico 2016); Arbeiten, die blinde oder sehbehinderte Perspektiven performativ ins Bild setzen wie die Videoarbeit »First Impressions« von Zoe Partington (2012), die sich mit der Orientierung einer blinden Person in einem Einkaufszentrum auseinandersetzt (https://www.accentuateuk.org/ideashubblog?item= 106); oder Videoarbeiten, die körperliche Differenzen mit Motion Capture-Verfahren inszenieren wie die »Motion Disabled Exhibition« von Simon Mckeown (2017) (http://www.motiondisabled.com/): Alle verweisen auf die Vielfalt der Produktionen, die mittlerweile als Untersuchungsgegenstand anvisiert werden können. Das Spannungsfeld von Behinderung und Ermöglichung kann folglich spezifische Effekte zeitigen und herkömmliche Wahrnehmungsweisen hinterfragbar machen. Wie Tobin Siebers formuliert:

72  Künstlerische Videoarbeiten »[...] the disabled body changes the process of representation itself. Blind hands envision the faces of old acquaintances. Deaf eyes listen to public television [...]. Mouths sign autographs [...]. Could [disability studies] change body theory [and contemporary art] as usual?« (zit. und ergänzt von Cachia 2013)

Neben den Werken, die in zunehmendem Maße körperliche Differenzierungen, Behinderung und Normalität, als in Verbindung stehende Phänomene adressieren (vgl. Sandell/Dodd/Garland-Thomson 2010), ist wie schon eingangs bemerkt auch das Umfeld der Galerien und Museen im Hinblick auf ihre Zugänglichkeit zu befragen. ›Access Work‹, so beschreiben es Kristin Lindgren und Debora Sherman, »[...] involves more than checking off a list of practical accommodations. It is a way of thinking about the world that challenges us to imagine how another body, another self, experiences it. [...] access is [and should be, R. S.] treated not as an afterthought but as a creative process intrinsic both to art practice and curatorial practice.« (Lindgren/Sherman 2012, 3–4, zit. nach Cachia 2013)

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

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Robert Stock

73 Rezeption

73 Rezeption 73.1 Rechtliche Grundlagen: Barrierefreiheit, Inklusion und Gleichstellung Der Artikel 30 der »UN Convention on the Rights of Persons with Disabilities« aus dem Jahr 2006 sieht eine Beteiligung von Menschen mit Behinderung am kulturellen Leben vor, die unter unterschiedlichen Aspekten angesprochen wird: »1. States Parties recognize the right of persons with disabilities to take part on an equal basis with others in cultural life, and shall take all appropriate measures to ensure that persons with disabilities: a) Enjoy access to cultural materials in accessible formats; b) Enjoy access to television programmes, films, theatre and other cultural activities, in accessible formats; c) Enjoy access to places for cultural performances or services, such as theatres, museums, cinemas, libraries and tourism services, and, as far as possible, enjoy access to monuments and sites of national cultural importance. 2. States Parties shall take appropriate measures to enable persons with disabilities to have the opportunity to develop and utilize their creative, artistic and intellectual potential, not only for their own benefit, but also for the enrichment of society. 3. States Parties shall take all appropriate steps, in accordance with international law, to ensure that laws protecting intellectual property rights do not constitute an unreasonable or discriminatory barrier to access by persons with disabilities to cultural materials. 4. Persons with disabilities shall be entitled, on an equal basis with others, to recognition and support of their specific cultural and linguistic identity, including sign languages and deaf culture.« (UN CRPD, Art. 30)

In dieser Liste fällt als erstes der Schlüsselbegriff accessibility auf: Ein vorrangiges Ziel ist die Öffnung eines barrierefreien Zugangs zum Kulturgeschehen, die insbesondere im ersten Punkt ausdifferenziert wird. Trägermedien (1a), Aufführungspraktiken (1b) und räumliche Rahmen (1c) der Kultur müssen so eingerichtet sein, dass möglichst niemand durch objektive Hindernisse ausgeschlossen wird. Die nächsten beiden Punkte 2 und 3 nehmen die Menschen mit Behinderung als Rezipient*innen in den Blick, die zugleich inklusiv an der Produktion beteiligt werden sol-

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len. Schließlich erinnert ein vierter Punkt an die Bedeutung von Kommunikation für die kulturelle Identität von spezifischen Gemeinschaften. Komplementär zu der Inklusion von Menschen mit Behinderung (s. Kap. 16) wird auch eine Gleichstellung von minderheitlichen Praktiken – z. B. von Zeichensprachen – gefordert, welche die Möglichkeit alternativer kultureller Gemeinschaften eröffnet. Die Forderungen eines barrierefreien Zugangs, einer Inklusion aller Rezipierenden und der Gleichstellung von divergenten ›Rezeptionsgemeinschaften‹ stellt die Rezeptionsseite gegenüber der Produktionsund der Darstellungsseite als ein eigenes Bedürfnis heraus. Während in der juristischen Praxis der UNKonvention also bereits eine bestimmte theoretische Vorstellung von ihrer Rezeption vorliegt, die Menschen mit Behinderung ermöglicht werden soll, bleibt eine entsprechend orientierte Rezeptionstheorie noch ein Desiderat. Dies wird besonders deutlich im Kontrast mit der elaborierten Theorie der Rezeption von Werken, die durch Menschen mit Behinderung produziert wurden (z. B. Luz 2012), in denen diese als Künstlerinnen und Künstler, und nicht als Publikum erscheinen. Für eine ergänzende Rezeptionstheorie lässt sich auf zahlreiche bereits vorliegende Diskurse und Projekte zurückgreifen, die in den letzten 50 Jahren entwickelt wurden.

73.2 Rezeptionsästhetik und ReaderResponse-Theory Während die UN-Konvention nicht spezifisch auf literarische Texte hin formuliert ist, nimmt die ›Entdeckung des Publikums‹ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Literatur als Ausgangspunkt. Hans Robert Jauß (1994/1975) entwirft die Idee eines ›Erwartungshorizonts‹ als Provokation einer Literaturgeschichte, die zuvor auf die Figur des Autors oder auf die Formgeschichte der Werke hin zentriert war. Wolfgang Iser analysiert den Akt des Lesens als die Aneignung einer im Text eingeschriebenen »Leserrolle«, in welche die Rezipient*innen schlüpfen können (Iser 1976/1994, 66). Dieser Pluralismus der möglichen Rezeptionen, die eingefahrene Denkweisen aufbrechende und dem freien Urteil der Lesenden übermittelnde Struktur, ist allerdings in denjenigen literarischen Werken schon angelegt, die zur ›guten‹ Literatur gehören; die Rezeptionsästhetik vermeidet durch diese Annahme eine Auseinandersetzung mit der Empirie des Lesens oder einer Soziologie des Lesepubli-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 S. Hartwig (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_73

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

kums, in welchen die faktische Diversität der Lektüren oder partikuläre Rezeptions-Barrieren thematisch werden könnten. Etwas anders verhält sich dies bei der Reader-Response-Theory von Stanley Fish, der sich von der traditionellen Ausgrenzung einzelner Lesergemeinschaften durch hegemoniale Kritik absetzt. Für Fish beruht die Gültigkeit der Interpretation auf der Konstruktion eines historischen und kulturellen Kontexts, der sie stützt; dieser Kontext ist nicht evident, sondern setzt selbst eine Deutung voraus (Fish 1980, 340). Die gleiche Konstruktion ist verantwortlich für die Diskrimination derjenigen Lektüren, die den legitimen, auf vermeintlich objektive Kontexte begründeten Interpretationen widersprechen: die behinderte Lektüre, die »general infirmity« (ebd., 338), als Metapher des Deutungs-Irrtums ist ein alter Topos, der eine Geschichte der Ausgrenzung fortschreibt. Dagegen setzt Fish also das Konzept der Lesergemeinschaften, die sich auf eine akzeptable Deutung einigen (Fish 1980, 343). Mit anderen Worten, die Reader-Response-Theory verteidigt die diverse, von der Orthodoxie divergente Lesergemeinschaft nicht nur in ihrem Anrecht auf barrierefreien Konsum, sondern auch in ihrem Anspruch auf eine eigene Interpretation, die sich den hegemonialen Deutungen widersetzt. Damit ist auch die Grundlage für eine empirische bildungswissenschaftliche Leseforschung gelegt (z. B. O’Brien 2012).

73.3 Technik: Vernetzung, accessibility und usability Das Internet gehört zu den neueren technischen Medien, die eine radikal erweiterte Beteiligung von Leser*innen mit Behinderungen ermöglicht; nicht nur in der Funktion des Konsums, sondern auch in der Rolle der Kritik und theoretischer Reflexion, die beispielsweise Alexandra Koch in ihrem Blog verteidigt: The Read Pack wendet sich an »Menschen, die selbst betroffen sind, aber vor allem für alle, die keinen Kontakt zu Menschen mit Behinderungen haben« (Koch 2019). Selbstverständlich ist das Blog The Read Pack nicht auf das Thema Behinderung und die Kritik am ›Disability bias‹ (vgl. Rubin/Watson 1987) eingeschränkt; es repräsentiert eine reale Diversität der Leser*innen, die Kultur nicht konsumieren, sondern auch auf einer Ebene der Beobachtung interpretieren möchten. Diese partikulären Deutungen, die durch eine lange Tradition dem universellen Geltungs-

anspruch der ›legitimen‹ Rezeption untergeordnet werden, finden im World Wide Web eine Stimme – so wie überhaupt soziale Netzwerke eine wichtige Bedeutung für das Empowerment von Menschen mit Behinderung spielen (vgl. Pittius 2011). Während die soziologischen Rezeptionstheorien des 20. Jahrhunderts nur den Konflikt zwischen dem Geschmack der Mehrheit und dem einer distinguierten Elite beschreiben (vgl. Bourdieu 1993, 21), bietet das 21. Jahrhundert so auf einmal die Möglichkeit einer Vielfalt von vernetzten Reaktionen und Interpretationen, die weder ganz zum einen noch ganz zum anderen gehören. Die wichtigsten konzeptuellen Impulse für die rechtliche Absicherung, die eingangs dargestellt wurde, entstammen daher der Informationstechnologie und nicht der Literaturtheorie. Insbesondere der Begriff der accessibility oder ›Barrierefreiheit‹ (s. Kap. 6), der für die zitierten Abschnitte der UN-Konvention ein wiederkehrender Fluchtpunkt ist, entspringt dem Zusammenhang technischer Hardware oder Software, in welchen Barrieren identifiziert und überwunden werden können. Eine ergänzende Kategorie ist diejenige der usability oder ›Benutzerfreundlichkeit‹, welche in einer universelleren Perspektive eine Einstellung auf die Rezipient*innen fordert (vgl. Rößner 2010, 114– 159). Beide Konzepte haben in der Praxis ganz bemerkenswerte Konsequenzen und sind ein ermutigendes Beispiel für die mögliche Implementierung von Theorie. Mit alternativen Programmen – eine Rampe oder ein Aufzug neben einer Treppe, eine Inschrift in Braille neben einem zweidimensionalen Schriftzug, eine zusätzliche Tonspur, die die Handlung eines Films beschreibt, die Möglichkeit, zwischen zunehmend vereinfachten oder verkürzten Textversionen einer Nachricht auszuwählen –, lassen sich die Rezipierenden als funktionale Individuen berücksichtigen, an deren spezifische sensomotorische oder kognitive Bedürfnisse die Umwelt angepasst wird. Diese Programme bilden derart die Fortsetzung einer technischen Optimierung der Rezeptionsmöglichkeiten am und im Körper des Menschen durch solche Apparate wie die Lesebrille oder das akustische Implantat. Gleichzeitig bleiben diese Konzepte aber immer noch hinter den Bedürfnissen zurück, die sich etwa in The Read Pack artikulieren, und die als Ansprüche an eine inklusive oder pluralistische Rezeptionstheorie erhoben werden können. Erstens setzt die ›Barrierefreiheit‹ eine mathematische Programmierung und technische Konstruktion voraus, die der phänomenalen Fülle der Diversität nicht immer gerecht wird. Die bestehenden Programme, die auf ganz bestimmte Sin-

73 Rezeption

ne oder Funktionen eingestellt sind, kontrastieren in dieser Hinsicht mit der potentiell unendlichen Vielfalt der Behinderungen. Zweitens stößt diese technische Zurichtung gerade im Bereich der künstlerischen Tätigkeit an ihre Grenzen. Zwar stellt eine Seh- oder Hörbehinderung ein materielles Hindernis bei der Wahrnehmung eines Videokunstwerks (s. Kap. 72) dar; aber ist die Aufnahme dieses Kunstwerks wirklich mit seiner technisch abgesicherten Wahrnehmung gleichzusetzen? Anliegen der Disability Studies ist es, »not simply the variations that exist in human behavior, appearance, functioning, sensory acuity, and cognitive processing but, more crucially, the meaning we make of those variations« (Linton 1998, zit. in Struthers Walker/Mileski/Greaves u. a. 2008) zu verteidigen, und durch die materielle Ermöglichung letztlich eine symbolische Würdigung der funktional diversen Praxis zu erreichen. Zwar umfasst die Vorstellung der ›Benutzer*innenfreundlichkeit‹ in diesen Hinsichten noch mehr als die ›Barrierefreiheit‹ und öffnet durch die positive Formulierung die Tür einer symbolischen Inklusion; aber auch in diesem Begriff ist eine Objektivierung und Funktionalisierung der Rezipierenden als Konsu­ ment*innen angelegt, die weder mit der Idee einer ästhetischen Erfahrung als einer individuellen Erfahrung von Freiheit, noch mit dem Ideal einer Legitimierung divergenter Gemeinschaften vereinbar ist. Die Suche nach einer optimalen Lösung bestimmt dieses Optimum zudem auf der Grundlage von Zielen wie der Klarheit oder der Niederschwelligkeit der Kommunikation, die ohnehin nur in bestimmten Kontexten gültig sind. Wir wünschen uns ein übersichtliches Kinoprogramm, das uns eine möglichst bequeme und rasche Auswahl des Films gestattet, den wir sehen möchten; von diesem Film selbst nehmen wir dann aber gerne konfuse, überwältigende oder anstrengende Erlebnisse in Kauf. Während die Schnelligkeit des Lesens in der Schule geübt und z. B. Dyslexie als ein Nachteil betrachtet wird, entdecken die Studierenden in ihren Einführungskursen, dass Roman Jakobson (1972/1960) die poetische Funktion der Kommunikation in Nachbarschaft der Aphasie verortet; später begegnen sie Roland Barthes’ (1973) Vorstellung von einer Lust am Text, die sich gerade an Lesefehlern entzündet, und schließlich werden sie an literarische Texte wie Cristina Morales’ Lectura fácil (2018) herangeführt, welche funktional diverse Wege des Erlebens würdigen, anstatt sie einem Effizienzideal oder ähnlichen Vorstellungen unterzuordnen. Schon für eine phänomenologische Theorie der Re-

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zeption (etwa bei Iser) geht die Fülle der Erfahrung weit über den barrierefreien Konsum hinaus. Eine neuere Alternative zu den technikzentrierten Konzepten, welche an den programmierbaren Aspekten der Kultur ausgerichtet sind, stellen die rezeptionstheoretischen Modelle dar, die sich an der kulturellen Performanz und Interaktion orientieren.

73.4 Performanz: für ein inklusives Kommunikationsmodell Die Bereiche des Schauspiels und der Musik sind innerhalb der künstlerischen Rezeption privilegiert: Hier gibt es – durch das materielle Berührungsverhältnis, die Simultaneität im Rahmen der Aufführung – die Möglichkeit einer realen Interaktion zwischen denen, die produzieren, und denen, die rezipieren. Auch wenn die verwendeten Instrumente, Kulissen und Kostüme zusammen mit den räumlichen Gegebenheiten zu den starren Medien gehören, bei denen ein Programm der technischen Barrierefreiheit (im oben erläuterten Sinne) angesetzt werden könnte, bietet sich die Möglichkeit, das Publikum bereits an der Produktion dieser Medien zu beteiligen. In den entsprechenden an Diversität orientierten Projekten wie dem Londoner »Joy of Sound« werden beispielsweise Instrumente interaktiv gestaltet, »that draw on the individual’s abilities, talents and tastes« (https://joyof sound.org/), und eine solche gemeinsame Arbeit mit den Einzelnen verknüpft den Bereich der Rezeption mit dem der Produktion. Faktisch substituieren sich hier die kulturellen Mittler*innen – andere Menschen – dem technischen Programm oder der Benutzeroberfläche, deren Möglichkeiten notwendigerweise beschränkt sind, und erscheinen als eine dritte humane Funktion – neben Rezeption und Produktion – in dem Gefüge der künstlerischen Kommunikation. Ein Beispiel hierfür ist das Theater-Projekt »White Peacock«, das einen »one-to-one companion support« vorsieht (https://ahrc.ukri.org/research/readwatchlis ten/filmsandpodcasts/whitepeacock/) (für die theoretische Grundlegung vgl. Brigg 2013). Nimmt man das Funktionsmodell von Roman Jakobson (1972) als Grundlage, so lassen sich für den Fall dieser inklusiven Praktiken einige Veränderungen feststellen: (1) Kontext und (2) Medium der (3) Nachricht werden plastisch-performativ entwickelt, wobei (4) Sender und (5) Empfänger einen Konsens erwirken, die (6) Metasprache selbst kann nicht unbedingt als eine gemeinsame Metasprache vorausgesetzt

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IV  Darstellungs- und Ausdrucksformen in Kunst und Literatur

werden, sondern fordert ein weiteres, bei Jakobson nicht vorgesehenes Element – (7) die Mittler*in- oder Übersetzungsfigur –, welches die gemeinsame Einstellung und Verständigung absichert. Auch Formen kultureller Kommunikation, die nicht der theatralisch-musikalischen Aufführungstradition entspringen, werden zunehmend diesem Modell angepasst, so etwa, wenn Kulturmittler*innen im Museum eine Ausstellung ergänzen oder in der Human library Zeitgenossen oder Zeitzeugen an die Stelle von Büchern treten. Das Schauspiel wird dann zum Paradigma der Kultur, wozu der performative turn in den Kulturwissenschaften nicht wenig beigetragen hat. Das Risiko einer Theatralisierung kultureller Inhalte als Teil einer ›Gesellschaft des Spektakels‹ lässt sich in dem Maße einschränken, als es sich meistens um eine didaktisch reflektierte Praxis handelt. Aus der Didaktik und Bildungswissenschaft kommen schließlich die Ansätze zu einer theoretischen Absicherung der Mittlerfigur, die für eine inklusive Rezeptionstheorie notwendig ist.

73.5 Erziehung: Für einen theoretischen Pluralismus Das Ziel einer Rezeptionstheorie, die funktionaler Diversität gerecht wird, ist also eine Beteiligung, die über bloßen Konsum hinausgeht. Die entsprechenden Modellierungen sollten für Menschen mit Behinderung eine Position vorsehen, von der aus sie selbst auf die Konstruktion von Kontexten, Produktionsmitteln und Metasprachen Einfluss nehmen können – also die Mittel zu einer symbolisch legitimen Interpretation erhalten. Diese Beteiligung setzt eine Ausbildung der Figuren voraus, die als companion support oder ›Mittler*in‹ dienen, und das Kulturgeschehen als ein soziales Erlebnis mitgestalten. Die intime Kommunikation des einzelnen Menschen mit dem ästhetisch genossenen Kunstwerk rückt dann aus dem Mittelpunkt des theoretischen Interesses zu Gunsten einer vergesellschafteten, mit einem anderen Menschen geteilten Rezeptionspraxis. Dies widerspricht zahlreichen Kunstmythen der europäischen Tradition – man denke an das Erlebnis des Pygmalion vor seiner Statue, in die er sich verliebt, oder das der Tochter des Butades vor dem Schattenriss ihres Geliebten – und kann als ein Nachteil im Vergleich zu den technikzentrierten Konzepten verstanden werden, welche genau diese Intimität ermöglichen. In der didaktischen Praxis werden beide Formen der Rezeption meistens kombiniert. Das Projekt »Reader

Response Plus« beispielsweise fordert die Schülerinnen und Schüler zunächst auf, in einem Lektüretagebuch schriftlich auf gelesene Texte zu reagieren – und somit eine individuelle, einmalige Beziehung zum Text aufzubauen – bevor sie im Klassenzimmer mit anderen darüber diskutieren (Granger/Black/Miller 2007). Diese Kombination unterschiedlicher Modi der Rezeption ist kein Einzelfall, sondern beruht auf dem Anspruch einer möglichst ganzheitlichen Erziehung, die dem Pluralismus der möglichen Mentalitäten gerecht wird. In dieser Herangehensweise ist nun auch die Gleichstellung minoritärer Kulturgemeinschaften berücksichtigt, während die bisher vorgestellten Konzepte dem individuellen Rezeptionserlebnis den Vorrang geben. Das Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft lässt sich auf verschiedenen Wegen auflösen, die in der neueren Erziehungsphilosophie zu drei Typen geordnet werden (vgl. Brieden 2019). • Eine rationalistisch-objektivistische Mentalität bleibt an der Motivation orientiert, die aus Eigeninteressen und individuellen Bedürfnissen entspringt (Harant 2017, 118) – was im Bereich der Rezeptionstheorie mit der Forderung der universellen Barrierefreiheit und Benutzerfreundlichkeit gut vereinbar ist, die ebenfalls die Begegnung des Einzelnen mit der Kultur durch objektive Strukturen abzusichern anstrebt, die dem Individuum seine Unabhängigkeit (auch von einer interpretive community) garantieren sollen. • Eine konstruktivistische Position hingegen stellt die »speziellen Bedürfnisse der Anderen« als höchsten Wert auf, der gegen herrschende Strukturen durchgesetzt werden soll (Harant 2017, 121) – und kann als Grundlage für die Gleichstellung divergenter Rezeptionsgemeinschaften dienen. • Eine transzendental begründete Ethik fordert schließlich eine Verknüpfung der beiden ersten Positionen im Zeichen des kategorischen Imperativs (Harant 2017, 126) – und begründet das Ziel einer Inklusion, die schon in der Erziehung der Produzierenden und Rezipierenden ansetzt und eine gemeinsame Metasprache sucht. Die in der UN-Konvention beobachtete Koexistenz unterschiedlicher Konzepte lässt sich also eher durch einen Pluralismus von Diskursen begründen als durch eine einheitliche Rezeptionstheorie. Literatur

Barthes, Roland: Le Plaisir du texte. Paris 1973. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M. 61993.

73 Rezeption Brieden, Norbert: »Inklusion« im Religionsunterricht und der Religionspädagogik. Arbeitspapier im Forum Sonderpädagogik der Bergischen Universität Wuppertal (6.11.2019) (unveröffentlicht). Brigg, Gillian: Theatre for audiences labelled as having profound, multiple and complex learning disabilities: assessing and addressing access to performance. Dissertation. Nottingham 2013, http://eprints.nottingham.ac. uk/14384/1/601145.pdf (20.01.2018). Fish, Stanley: Is There a Text in this Class? The Authority of Interpretive Communities. Cambridge MA 1980. Granger, Noelle/Black, Alison/Miller, Jane: Exploring the Effect of Reader Response Plus on Twelfth Grade Students with Disabilities’ Reading Comprehension and Attitudes Toward Reading. In: Language and Literacy Spectrum 17 (2007), 14–30. Harant, Martin: Inklusion im Widerstreit. Eine kritische Analyse des Inklusionsbegriffs im Kontext antagonistischer erziehungsphilosophischer Mindsets. In: Ingrid Miethe/Anja Tervooren/Norbert Ricken (Hg.): Bildung und Teilhabe. Zwischen Inklusionsforderung und Exklusionsdrohung. Wiesbaden 2017, 111–130. Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung [1976]. München 41994. Jakobson, Roman: Linguistik und Poetik [1960]. In: Heinz Blumensath (Hg.): Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. Köln 1972, 118–147. Jauß, Hans Robert: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. In: Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik [1975]. München 41994, 126–162. Koch, Alexandra: Ein ganzes halbes Klischee. Blogeintrag (9. März 2019), https://www.readpack.de/2019/03/einganzes-halbes-klischee.html/ (15.12.2019). Linton, Simi: Claiming Disability. Knowledge and Identity. New York 1998. Luz, Viola: Wenn Kunst behindert wird: Zur Rezeption von

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Werken geistig behinderter Künstlerinnen und Künstler in der Bundesrepublik Deutschland. Bielefeld 2012. Morales, Cristina: Lectura fácil. Barcelona 2018. O’Brien, Elysha Patino: Students with reading disabilities participating in literature discussions: A case study. Dissertation. Las Vegas 2012, https://digitalscholarship.unlv. edu/thesesdissertations/1313 (15.12.2019). Pittius, Katrin: »Ich lass mich nicht mehr ausbremsen« – Zum Zusammenhang von Netzwerken und Empowerment bei (körper-)behinderten Frauen. In: Wolfram Kulig/Kerstin Schirbort/Michael Schubert (Hg.): Empowerment behinderter Menschen. Theorien, Konzepte, Best-Practice. Stuttgart 2011, 161–171. Rößner, Michael: Partizipation, Exklusion und Inklusion von jugendlichen Mediennutzern im Internet: Zur lebensweltlichen Relevanz der barrierearmen Zugänglichkeit. Eine empirische Studie. Dissertation. Tübingen 2010, https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/ handle/10900/47837 (20.01.2018). Rubin, Ellen/Watson, Emily S.: Disability Bias in Children’s Literature. In: The Lion and the Unicorn 11/1 (1987), 60–67. Struthers Walker, Valerie/Mileski, Tara/Greaves, Dana/Patterson, Lisa: Questioning Representations of Disability in Adolescent Literature: Reader Response Meets Disability Studies. In: Disability Studies Quarterly 28/4 (2008), http://www.dsq-sds.org/article/view/140/140#top (20.01.2018). UN CRPD, Art. 30: UN Convention on the Rights of Persons with Disabilities, Article 30 – Participation in cultural life, recreation, leisure and sport. 2006, https://www. un.org/development/desa/disabilities/convention-on-therights-of-persons-with-disabilities/article-30participation-in-cultural-life-recreation-leisure-andsport.html (09.01.2020).

Matei Chihaia

Anhang

Autorinnen und Autoren Donja Amirpur, Prof. Dr., Hochschule Niederrhein,

Migrationspädagogik (III 50 Behinderung, Migration und Flucht). Frank Asbrock, Prof. Dr., Technische Universität Chemnitz, Sozialpsychologie (III 43 Stereotype und Imaginationen). Iris Beck, Prof. Dr., Universität Hamburg, Schulpädagogik, Sozialpädagogik, Behindertenpädagogik und Psychologie in Erziehung und Unterricht (I 10 Lebenswelt). Miriam Becker, M. A., Hochschule für den öffentlichen Dienst in Bayern, Fachbereich Archiv- und Bibliothekswesen (III 54 Werbung). Birgit Behrisch, Prof. Dr., Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin, Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Pädagogik der Kindheit (I 9 Familie und Partnerschaft). Mechthild Bereswill, Prof. Dr., Universität Kassel, Soziologie sozialer Differenzierung und Soziokultur (III 47 Behinderung und Geschlecht). Laura Blauth, Dr., Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt, Musiktherapie (IV 66 Musik). Monika Bobbert, Prof. Dr., Universität Münster, Moraltheologie (I 19 Lebensschutz). Michael Boecker, Prof. Dr., Fachhochschule Dortmund, Sozialmanagement / Wirkungsorientierung der Sozialen Arbeit (II 34 Behinderung im Globalen Süden). Burkhart Brückner, Prof. Dr., Hochschule Niederrhein, Sozialpsychologie incl. Psychosoziale Prävention und Gesundheitsförderung (II 38 Bewegung der Psychiatrieerfahrenen (c/s/x-movement)). Berit Callsen, Juniorprof. Dr., Universität Osnabrück, Romanistik (IV 64 (Auto-)Biographie und Erfahrungsbericht). Matei Chihaia, Prof. Dr., Bergische Universität Wuppertal, Romanistik (IV 73 Rezeption). Elisabeth Conradi, Prof. Dr., Duale Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart, Gesellschaftstheorie und Philosophie (I 21 Selbstsorge und Fürsorge).

Simone Danz, Prof. Dr., Evangelische Hochschule

Ludwigsburg, Inklusive Pädagogik und Heilpädagogik (III 42 Normalität, Alterität und Anerkennung). Markus Dederich, Prof. Dr., Universität zu Köln, Allgemeine Heilpädagogik, Theorie der Heilpädagogik und Rehabilitation (III 41 Schmerz, Körper, Materialität). Sven Degenhardt, Prof. Dr., Universität Hamburg, Pädagogik bei Beeinträchtigung des Sehens (II 32 China und Japan). Nina Eckhoff-Heindl, Universität zu Köln, Kunstgeschichte (IV 57 Dis/ability Art, Art about Dis/ability). Fabian van Essen, Prof. Dr., IUBH University of Applied Sciences, Special Education (III 53 Kontaktzonen). Lukas Etter, Dr., Universität Siegen, Anglistik/Amerikanistik (IV 59 Comics, Graphic Novels, Graphic Memoirs). Franziska Felder, Prof. Dr., Universität Wien, Inklusive Bildung und Behinderungsforschung (I 20 Gerechtigkeit). Biana Frohne, Dr., Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar (II 25 Mittelalter, Frühe Neuzeit). Wiebke Gewinn, Universität Hamburg, Pädagogik bei Beeinträchtigung des Sehens (II 32 China und Japan). Gabriele von Glasenapp, Prof. Dr., Universität zu Köln, Kinder- und Jugendmedienforschung (IV 63 Kinder- und Jugendliteratur). Dagmar Gramshammer-Hohl, Dr., Karl-FranzensUniversität Graz, Slavistik (III 49 Behinderung und Alter). Anna Grebe, Dr., Berlin (IV 58 Fotografie). Anne Haage, Technische Universität Dortmund, Rehabilitationswissenschaften (III 52 Soziale Medien und Netzwerke). Susanne Hartwig, Prof. Dr., Universität Passau, Romanische Literaturen und Kulturen (Vorwort; 1

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Anhang

Gegenstand und Aufbau des Handbuchs; I 2 Einleitung: Vorstellungen von Behinderung in Praxis und Theorie; II 23 Einleitung: Geschichte der Vorstellungen von Behinderung; III 40 Einleitung: Kulturelle Perspektiven; III 44 Ambivalenz und Kontingenz; IV 55 Einleitung: Behinderung in Kunst und Literatur; IV 70 Dokumentarfilm und Dokufiktion). Matthias Heesch, Prof. Dr., Universität Regensburg, Systematische Theologie und theologische Gegenwartsfragen (I 18 Deutung in den Religionen). Urte Helduser, PD Dr., Universität zu Köln, Neuere deutsche Literatur und Vergleichende Literaturwissenschaft (IV 60 Roman). Marianne Hirschberg, Prof. Dr., Universität Kassel, Behinderung, Inklusion und Soziale Teilhabe (I 3 Definitionen und Klassifikationen) Moritz Ingwersen, Dr., Universität Konstanz, Literaturwissenschaft/Amerikanistik (I 13 Prothesen und Cyborgs). Jörg Michael Kastl, Prof. Dr., Pädagogische Hochschule Ludwigsburg, Soziologie der Behinderung und sozialer Benachteiligung (I 5 Soziologie, Kulturwissenschaften, Behinderung; III 45 Komik und Behinderung). Margrit E. Kaufmann, Dr., Universität Bremen, Kulturforschung (III 46 Intersektionalität und Diversität). Sonja Kerth, PD Dr., Universität Bremen, Germanistische Mediävistik (IV 62 Schwankerzählungen). Sonja Klimek, Prof. Dr., Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Neuere deutsche Literatur/Literaturgeschichte (IV 65 Lyrik und Lied). Christina Maria Koch, Philipps-Universität Marburg, Anglistik/Amerikanistik (IV 59 Comics, Graphic Novels, Graphic Memoirs). Dieter Kulke, Prof. Dr., Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt, Soziologie (I 8 Arbeitswelt; I 16 Teilhabe und Inklusion; II 30 Gegenwart; III 48 Behinderung und Armut/Unterentwicklung). Gabriele Lingelbach, Prof. Dr., Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel, Historisches Seminar (II 29 Behindertenbewegungen ab den 1960er Jahren). Christiane Maaß, Prof. Dr., Universität Hildesheim, Forschungsstelle Leichte Sprache (I 6 Barrierefreiheit). Reinhard Markowetz, Prof. Dr., Ludwig-Maximilians-Universität München, Pädagogik bei Verhaltensstörungen und Autismus einschließlich inklusiver Pädagogik (I 11 Soziale Identität).

Anna Meiser, Juniorprof. PD Dr., Albert-Ludwigs-

Universität Freiburg, Ethnologie (II 31 Indigene Kulturen Lateinamerikas). Jörn Müller, Prof. Dr., Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Philosophie (I 22 Das gute Leben). Oliver Musenberg, Prof. Dr., Humboldt-Universität zu Berlin, Pädagogik bei geistiger Behinderung (II 37 Geistige Behinderung). Michelle Proyer, Ass. Prof. Dr., Universität Wien, Inklusive Pädagogik (I 7 Bildung). Kerstin Rathgeb, Prof. Dr., Evangelische Hochschule Darmstadt, Allgemeine Pädagogik (I 4 Disability Studies als kritische kulturwissenschaftliche Perspektive). Matthias Reiss, Dr., University of Exeter, History (II 36 Blindheit). Isabel Rink, Dr., Universität Hildesheim, Forschungsstelle Leichte Sprache (I 6 Barrierefreiheit). Ute Ritterfeld, Prof. Dr., Technische Universität Dortmund, Sprache und Kommunikation (III 51 Stigma, Tabu und Behindertenfeindlichkeit am Beispiel der Medien). Alexander Röhm, Dr., Technische Universität Dortmund, Qualitative Forschungsmethoden und Strategische Kommunikation für Gesundheit, Inklusion und Teilhabe (III 51 Stigma, Tabu und Behindertenfeindlichkeit am Beispiel der Medien). Cornelia Rosebrock, Prof. Dr., Goethe-Universität Frankfurt, Deutsche Literatur und ihre Didaktik (I 17 Literatur in einfacher Sprache). Johannes Schädler, Prof. Dr., Universität Siegen, Erziehungswissenschaft/Sozialpädagogik (II 27 Industrialisierung). Britta-Marie Schenk, Dr., Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar (I 12 Eugenik). Sebastian Schlund, Dr., Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar (I 14 Sport). Patrick Schmidt, PD Dr., Universität Rostock, Historisches Institut (II 26 Zeitalter der Aufklärung). Robert Schneider-Reisinger, Prof. Dr., Pädagogische Hochschule Salzburg, Erziehungswissenschaft und Inklusion – Schwerpunkt: Heterogenität in der Schule (I 15 Separation/Segregation). Joachim Schroeder, Prof. Dr., Universität Hamburg, Behindertenpädagogik (II 33 Kanada). Herbert Schwaab, Dr., Universität Regensburg, Medienwissenschaften (IV 71 Fernsehserien). Daniel Stein, Prof. Dr., Universität Siegen, Anglistik/ Amerikanistik (IV 59 Comics, Graphic Novels, Graphic Memoirs).

Autorinnen und Autoren Robert Stock, Dr., Universität Konstanz, Literatur-,

Kunst- und Medienwissenschaften (IV 72 Künstlerische Videoarbeiten). Georg Theunissen, Prof. Dr. em., Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Pädagogik bei kognitiver Beeinträchtigung und Pädagogik im AutismusSpektrum (IV 56 Malerei und bildende Kunst). Klaus-Dieter Thomann, Prof. Dr., Landesarzt für Menschen mit Körperbehinderung in Hessen (II 39 Kriegsbeschädigte in Deutschland im 20. Jahrhundert). Lukas Thommen, Prof. Dr., Universität Basel, Altertumswissenschaften (II 24 Griechisch-römische Antike). Christian von Tschilschke, Prof. Dr., Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Romanistik (IV 69 Spielfilm). Hisae Tsuda-Miyauchi, Assistant Professor Ph.D., University of Tsukuba, Human Sciences, Division of Disability Sciences (II 32 China und Japan). Hans-Jörg Uther, Apl. Prof. i. R., Universität Duisburg-Essen, Germanistische Literaturwissenschaft (IV 61 Märchen und andere Volkserzählungen).

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Agnes Villwock, Prof. Dr., Humboldt-Universität zu

Berlin, Rehabilitationswissenschaften (II 35 Deaf History: Klöster im 16. und 17. Jahrhundert). Tomas Vollhaber, Dr., Universität Hamburg, Deutsche Gebärdensprache (IV 67 Gebärdensprachpoesie). Benjamin Wihstutz, Juniorprof. Dr., Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Theaterwissenschaft (IV 68 Theater und Performance). Ulrike Winkler, Dr., Universität der Bundeswehr München, Historisches Seminar, Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften (II 28 Ende des 19. Jahrhunderts bis Mitte des 20. Jahrhunderts). Thomas Wosch, Prof. Dr., Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt, Musiktherapie (IV 66 Musik). Raphael Zahnd, Prof. Dr., Pädagogische Hochschule FHNW, Inklusive Didaktik und Heterogenität (I 7 Bildung). Yuexin Zhang, Associate Prof. Dr., Beijing Normal University, Special Education (II 32 China und Japan).

Personenregister A Abbé de l’Epée, eig. Charles Michel de l'Épée  147 Abramović, Marina  386 Adenauer, Konrad  213 Adorno, Theodor W.  145, 249, 254, 415–416 Agesilaos von Sparta  138 Agosti, Silvano  405 Aischylos  384 Alfie, Sebastián  411 Aljukić, Erwin  390–391 Allport, Gordon Willard  285, 297–299 Almodóvar, Pedro  307, 393, 396 Alonso, Alicia  309 Amenábar, Alejandro  397 Ananias  196 Anders, Günther  415 Andrews, Raymond  387 Aristoteles  64, 114, 125, 127–128, 138, 195, 249, 253, 345 Arnim, Achim von  365 Artaud, Antonin  386 Ash  292 Ashby, Hal  396 Audiard, Jacques  396 Augustin(us) von Hippo  102, 197 Austin, John  28 Austin, Sue  426 B Bacon, Francis  386 Baggs, Amanda  363 Balzac, Honoré de  336 Bancroft, Anne  398, 416 Bank-Mikkelsen, Niels Erik  22 Banuls, Sylvie  411 Barbier, Gilles  332 Bari, Laura  412 Barnum, Phineas Taylor  155, 385 Barrera, Lola  411 Barthes, Roland  431 Barthold, Carl  152 Bauby, Jean-Dominique  398 Baum, Vicki  338 Bausch, Pina  382 Beatles  203 Bechdel, Alison  330

Beckett, Samuel  307, 389–390 Beers, Clifford Whittingham  207 Beethoven, Ludwig van  378 Bel, Jérôme  388 Bell, CeCe  332 Bell, George  418 Bellocchio, Marco  405 Benga, Ota  156 Berger, Peter Ludwig  31, 33, 60–61 Bergson, Henri  31, 249–254 Berkeley, George  146 Bern, Dietrich von  347 Bertin, Louise  377 Beyer, Bernhard  207 Bhabha, Homi  382 Binn, Thomas  411 Bismarck, Otto von  15, 150 Blair, Landis  327 Bleuler, Eugen  241, 243 Blumer, Herbert  59 Bly, Nellie Siehe Elizabeth Jane Cochran Bock-Stieber, Gernot  405 Bolten-Baeckers, Heinrich  399 Boruwlaski, Joseph  146 Bosch, Hieronymus  203 Boudjellal, Farid  330 Bourdieu, Pierre  28–29, 85 Bovenschen, Silvia  271–272, 274–275 Boyle, Danny  265 Braidwood, Thomas  147 Braille, Louis  198 Brand, Georg  315–316 Brant, Sebastian  203 Brentano, Clemens  365 Brest, Martin  396 Brooks, Rohan  378 Brown, Michael  407 Browning, Tod  156, 203, 385, 387, 398–399 Bruner, Claudia Franziska  357 Buchinger, Matthias  146 Buck, Dorothea  208 Buddha  102 Bugenhagen, Johann  103 Buñuel, Luis  396, 399 Burden, Chris  386 Burke, Christopher  418 Burnside, Rory  378

Burr, Raymond  417 Butler, Judith  30–31, 263, 272 Büttner, Wolfgang  347, 350 C Cachia, Amanda  319, 423, 425 Callahan, John  327 Campion, Jane  397 Canetti, Elias  340 Canetti, Veza  340 Carcasse, James  205 Carlson, David L.  327 Carrington, Leonora  275 Cäsar, Gaius Julius  195 Cassirer, Ernst  197 Centeno, Antonio  407 Chaplin, Charles Spencer »Charlie«  393, 395, 399 Chapman, Dinos  318 Chapman, Jake  318 Charcot, Jean-Martin  322 Charles, Ray  377 Chaucer, Geoffrey  347 Childs, Lucinda  387 Chmelik, Daniela  362–363 Christoph, Franz  163–164, 166 Clair, René  399 Clausen, Martin  388 Clynes, Manfred Edward  75 Cochran, Elizabeth Jane  207 Coixet, Isabel  393 Condillac, Étienne Bonnot de  146 Connell, Raewyn  80 Cook, Peter  381–382 Cotillard, Marion  393, 396 Coulter, Phil  377 Crenshaw, Kimberlé  256 Crichton, Charles  252, 393 Cronenberg, David  396 Cruise, Tom  400 Cunningham, Claire  390 Curtis, Jess  390 D Daguerre, Louis  321–322 Danquart, Didi  405 Danzer, Georg  371 Darwin, Charles  70, 156

Personenregister Davis, Bette  393 Davison, Al  328 Day-Lewis, Daniel  398 De Fay, Étienne  192–193 De la Morena, Raúl  407 Deans, Mark  389 Dehm, Diether  377 Deinhardt, Heinrich  152 Del Toro, Guillermo  402 Delaunay, Robert Victor Félix  317 Delépine, Benoît  395 Deleuze, Gilles  76 Demokrit  270 Deneuve, Catherine  396 Derrida, Jacques  76 Descartes, René  74, 251 Deschamps de Champloiseau, ClaudeFrançois  147 Desloges, Pierre  147 D’Etavigny, Azy  147, 193 Devo  203 Dewey, John  28–29 DiCaprio, Leonardo  393 Dickens, Charles  198 Diderot, Denis  146, 198 Dion Chrysostomos, auch Dion von Prusa  196 Disselhoff, Johannes  151 Dix, Otto  307 Döblin, Alfred  339–340 Dormael, Jaco van  203 Dostojewskij, Fjodor Michailowitsch  203, 307, 334 Dubuffet, Jean  313–314 Dueñas, Lola  401 Duffy, Mary  319 Duke, Patty  416 Duncan, Isadora  386 Dunlap-Shohl, Peter  327 Duquenne, Pascal  398 Durand, Élodie  327 Durkheim, Émile  28, 65 Dury, Ian  372 E Eastwood, Clint  398 Eggert, Moritz  387 Ehrenstein, Albert  368 Elainey, Annie Siehe Annie Segarra Elias, Norbert  32 Endress, Jürgen  381 Engel, Sabina  411 Engler, Hartmut  371 Enyedi, Ildikó  400 Erikson, Erik Homburger  65 Export, Valie  386 F Fariñas García, Georgina  309 Faulkner, William  307, 337–338

Feininger, Lyonel  317 Fernández, Bernardo  327 Fernández de Castro, Félix  408, 411 Fernández de Navarrete, Juan »Navarrete el Mudo«  192 Fernández de Velasco y Tovar, Francisco und Pedro  191 Ferris, Jim  370 Firth, Colin  398 Fish, Stanley  430 Flaubert, Gustave  307, 336 Fliegel, Ludwig  206 Foerster, Lutz  382 Foot, Philippa  126 Forel, Auguste  206 Foreman, Richard  386 Forney, Ellen  327 Forsthoff, Ernst  89 Foucault, Michel  13, 85, 119, 145– 146, 155, 220, 231, 243, 256, 270, 322 Fox, Terrance »Terry« Stanley  182 Fox Talbot, William Henry  321–322 Franz Joseph I.  206 Freud, Sigmund  74, 252, 345 Fridriksson, Fridrik Thor  407 Friedrich, Ernst  157 Fries, Kenny  370 Fürhapter, Thomas  412 G Gabin, Jean  393 Gallardo, Miguel  408, 412 Galloway, Mark  406 Galton, Francis  70, 156 Gambetta, Léon  206 Garcilaso de la Vega, El Inca  174 Garzaner, Mario  387 Gauß, Carl Friedrich  230 Gehlen, Arnold  74 Gellert, Christian Fürchtegott  366 Gellonek, Horst  387 Georgens, Jan Daniel  152 Gershwin, George  382 G. G. Anderson, eig. Gerd Grabowski  371 Giacometti, Alberto  386 Gibson, Dawn  291–292 Gibson, William  341, 416 Ginsberg, Allen  381 Girardi, Alexander  206 Glanzer, Gary  369 Glasow, Niko von  405–407 Glass, Philipp  387 Glatzer, Richard  400 Glennie, Evelyn  378 Glöklen, Adolf  208 Glynne, Andy  412 Goebbels, Joseph  158 Goetz, Rainald  341

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Goffman, Erving  28, 60–61, 65–66, 242, 248, 282–283, 310 Gogol, Nikolai  307 Golfus, Billy  409 Graf Fidi  372 Gramsci, Antonio  24, 187 Grass, Günter  341 Graßmann, Kerstin  387 Gratidianus, Marcus Marius  196 Green, Justin  327 Griffith, David Wark  393, 399 Grimm, Jakob und Wilhelm  366 Grönemeyer, Herbert  371, 377 Grün, Max von der  353–354 Guamán Poma de Ayala, Felipe  174 Guttmann, Ludwig  81, 214 H Haargaard, Alex  291 Habermas, Jürgen  60–61 Haddon, Mark  341 Hadrian(us), Publius Aelius  196 Hägi, Gottlieb  206 Haines, Randa  398 Hall, Stuart  24–25 Hallström, Lasse  307, 395 Hamm, Rebecca  316 Haneke, Michael  400 Hanks, Tom  396, 398 Hannibal  195 Haraway, Donna  74–76 Harder, Michael  410 Härtling, Peter  353–354 Hartmann von Aue  347 Haru Kobayashi  180 Häusermann, Julia  169, 390–391 Haussmann, Raoul  75 Haüy, Valentin  146–147, 198 Hawking, Stephen  318 Hay, William  146 Hays, Peter  310 Hazoumé, Romuald  190 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  31 Heidegger, Martin  22 Heinicke, Samuel  147 Hensel, Abigail und Brittany  406 Hepburn, Audrey  396 Herder, Johann Gottfried  35 Hermann, Irm  387 Herrmann, Karl  206 Hermann-Neiße, Max  340 Herzog, Werner  407, 410 Hesse, Hermann  368 Heym, Georg  307 Higashida, Naoki  361–362 Hitler, Adolf  324 Hoffman, Dustin  398, 400 Hoffmann, Heinrich  367 Hoffmann, Klaus  377 Hoffmann, Klaus W.  366

442

Anhang

Hoggart, Richard  24 Hölderlin, Friedrich  367 Homer  196, 198, 307, 343, 384 Honneth, Axel  232–233 Horkheimer, Max  145 Howard, Ron  396 Howe, Samuel Gridley  201 Howie, Elizabeth  319 Huber, Wolfgang  208 Huet, Pierre Daniel  334 Huettner, Ralf  395 Hugo, Victor  335 Hundertwasser, Friedensreich  316 Hunter, Holly  398 Husberg, Frans Ossian  206 Husserl, Edmund  59 I Ieyasu Tokugawa  180 Iser, Wolfgang  429, 431 Istvan, Zoltan  76 Itard, Jean Marc Gaspard  152 J Jakobson, Roman  431–432 James, William  65 Jarmusch, Jim  402 Jauß, Hans Robert  429 Jawlensky, Alexej von  317 Jensen, Sandra  111 Jesaja  100 Jesus Christus  101–102, 196–197 Johannes der Täufer  101 Jonasson, Jonas  274 Joyce, James  307 K Kahlo, Frida  319 Kandinsky, Wassily  317 Kant, Immanuel  100, 103, 107, 125– 126, 252 Kästner, Erich  368 Katz, David  75 Katze, Tobi  293 Kaufringer, Heinrich  348 Kaup, Ignaz  211 Keats, John  307 Keller, Helen  353, 416 Kenny, Carolyn  376 Kervern, Gustave  395 Kesey, Ken  341 Keun, Irmgard  338 Keyes, Daniel  203 Kielhorn, Heinrich  152 Kierkegaard, Sören  104 Kim, Christine Sun  319 Kirchner, Ernst Ludwig  317 Klee, Ernst  163–164 Kleege, Georgina  199, 360–361, 423 Klein, Johann Wilhelm  366, 368

Kleomenes I.  139 Kline, Nathan Schellenberg  75 Knowles, Christopher  387 Koch, Alexandra  430 Koch, Samuel  390–391 Kominsky, Aline  327 Konfuzius Siehe Kong Fuzi Kong Fuzi  177 Konrad von Würzburg  347 Kötting, Andrew  407, 411 Kraepelin, Emil  152–153 Krauthausen, Raul  291, 294–295 Kristiansen, Teddy  332 Kroetz, Franz Xaver  307 Kubin, Alfred  307 Kubrick, Stanley  397 Kuppers, Petra  310, 319, 370 Kurikka, Pertti  378 Kurzweil, Ray  76 L La Mettrie, Julien Offray de  146 Laborit, Emmanuelle  398 Lapper, Alison  243–244, 318–319 Latour, Bruno  76 Lawrence, D. H. (David Herbert)  339 Leadbitter, James alias The Vacuum Cleaner  389 Lebert, Benjamin  341 Lee, Harper  307 Lehmann, Peter  208 Lehmann, Tim  34, 294 Lehmann-Hohenberg, Johannes  208 Leibniz, Gottfried Wilhelm  64, 146 Leka, Kaisa  330 L’Epée, Charles Michel de  147 Lerner, Kenny  381–382 Levinson, Barry  309, 394, 400 Link, Caroline  393 Linné, Carl von  14 Lippmann, Walter  237 Locke, John  146, 197 Lombroso, Cesare  322 Loriot, eig. Bernhard-Viktor Christoph-Carl »Vicco« von Bülow  248, 253 Lotman, Juri  243 Louise, Prinzessin von Coburg  206 Lovett, Joseph  407 Low, Abraham  207 Lowe, Louisa  206 Lucas, Matt  420 Luckmann, Thomas  31, 33, 60–61 Luhmann, Niklas  87–88, 244–246 Lukács, Georg  338–339 Luther, Martin  102–103, 105 Lüthi, Max  344 Lynch, David  399 Lythgoe, Mark  407

M MacIntyre, Alasdair  126 Mader, Thomas  426 Maklakiewicz, Jan  424 Malina, Judith  386 Malot, Hector  206 Mandela, Nelson  188 Marcia, James E.  65 MariNaomi  327 Marks, A. A.  74 Maroger, Diane  406 Marshall, Thomas  87 Martin, Darrin  424–425 Marx, Karl  24, 84, 128 Matlin, Marlee  398 Matthießen, Wilhelm  352, 354 Mauss, Marcel  28 McCarthy, Paul  386 Mckeown, Simon  426 McLuhan, Marshall  74 Mead, George Herbert  28–29, 59, 65 Meirelles, Fernando  397 Melville, Herman  307, 334 Mencius  177 Mendel, Gregor  70 Mengzi  177 Merleau-Ponty, Maurice  29, 31–32, 37, 75 Merrick, John  384, 399 Mewes, Marian  293 Mewes, Tabea  293 Mey, Reinhard  371 Meyer, Adolf  207 Meyer, Conrad Ferdinand  366–367 Middleton, Pete  407 Millett-Gallant, Ann  319 Milton, John  307 Mind, Gottfried  313 Mister S.  372 Mitchell, David T.  410–411 Modersohn-Becker, Paula  307 Modigliani, Amedeo  386 Molyneux, William  146, 197–198 Montaigne, Michel Eyquem de  246 Montfort, Simon de  195 Monty Python  252 Morales, Cristina  431 Moulins, Joe  409 Mullins, Aimee  75 Mulock, Thomas  205 Murphy, Robert  9, 241–242 Mutter sucht Schrauben  413 N Naharro, Antonio  401 Nakache, Olivier  394, 402 Narr, Claus  350 Nash, John Forbes  396 Naumann, Bruce  386

Personenregister Navarrete el Mudo Siehe Fernández de Navarrete Navratil, Leo  314 Negulesco, Jean  398 Nelson, Horatio, 1. Viscount Nelson, Herzog von Bronte  243–244 Nietzsche, Friedrich  367 Nordoff, Paul  375 Nöstlinger, Christine  368 Novaro, María  397 Nussbaum, Martha  115–116, 126–130 O O’Connor, Sinead  377 Odilon, Helene Siehe Ida Helene Petermann Ōe, Kenzaburo  307 Oliver, Michael »Mike«  17, 20, 22, 29– 30, 32, 252, 254 Ono, Yoko  386 O'Reilly, Kaite  390 Orff, Carl  375 Owen, Wilfred  368 P Pacino, Alfredo James »Al«  396, 398 Packard, Elizabeth  207 Paczensky, Achim von  253, 387 Palmer, Benjamin F.  74 Paradis, Maria Theresia  198 Paré, Ambroise  384 Parsons, Talcott  59, 87 Partington, Zoe  426 Pastor, Álvaro  401 Paul, Jean  335 Pauli, Johannes  350 Paulus  101, 196 Peñafiel, Iñaki  411 Penn, Arthur  398 Perceval, John Thomas  205 Pereira, Jacob, eig. Jacob Rodrigues Pereire  147, 193 Pérez, Fernando  412 Perlman, Itzhak  378 Pertti Kurikan Nimipäivät  372, 378 Petermann, Ida Helene, genannt Helene Odilon  206 Petraglia, Sandro  405 Pflaume, Kai  412 Philibert, Nicolas  411 Philipp II. von Makedonien  138, 195 Picasso, Pablo  386 Pieprzyca, Maciej  397 Pineda, Pablo  401 Pintilia, Adina  407 Piper, Adrian  425 Pistorius, Oscar  75, 79 Pityana, Barney  188 Plath, Sylvia  341, 367 Platon  114, 125, 138, 367

Plessner, Helmuth  249, 252 Pompeius Magnus, Gnaeus  195 Ponce de León, Pedro  147, 191–193 Pontoppidan, Knud  207 Pope, Alexander  307 Potter, Sally  400 Pound, Ezra  382 Prinzhorn, Hans  313–314 Propp, Vladimir  344 Pur  371, 377 Q Quasthoff, Thomas  378 Quetelet, Adolphe  336 Quinn, Marc  243, 318–319 R Radtke, Nati  162 Radtke, Peter  308, 390–391 Rae, Helen  316–317 Rau, Milo  388 Rawls, John  114–117, 126, 128 Ray, Todd  418 Rehm, Markus  79 Reim, Matthias  377 Reinarz, Tobias  163 Richter, Zahari  292 Rilke, Rainer Maria  368 Robbins, Clive  375 Rogenhagen, Andi  400 Rois, Sophie  387 Rosen, Harry  182 Rosenplüt, Hans  348 Roth, Joseph  338–340 Rouy, Hersilie  206 Rudely Interrupted  378 Rulli, Stefano  405 Ruppel, Lars  369 Rushton, Edward  198 Russell, Harold  398 S Saboureux de Fontenay, Michel  147 Sachs, Hans  350 Said, Edward  22 Saladin, Monique  405 Sampedro, Ramón  397 Sander, August  323 Sandon, Léon  206 Schiele, Egon  307 Schlesinger, Georg  75 Schlingensief, Christoph  203, 253, 318, 387, 389, 413 Schnabel, Julian  397–398 Schneemann, Carolee  386 Scholastica von Anhalt-Zerbst  191 Schöne, Gerhard  377 Schröder, Eduard August  207 Schulz, Sandra  364 Schütz, Alfred  28, 33, 59–60

443

Schweiger, Till  394 Scott, Judith  386, 411 Scott, Matt  303 Scott, Michael Orion  407 Seagle, Steven T.  332 Seago, Howie  398 Searle, John  28–29, 32 Segarra, Annie alias Annie Elainey  292 Séguin, Édouard  152, 201–202 Seillière, Raymond  206 Sellin, Birger  371 Sen, Amartya  115–117 Sengelmann, Heinrich Matthias  201 Sérieux, Raimond-Paul  206 Shakespeare, William  307, 337 Shelley, Mary  335 Sheridan, Jim  397 Sibote  348 Siegert, Hubertus  405 Sierck, Udo  162 Simmel, Georg  28 Simpson, David E.  409 Skram, Amalie  207 Small, David  327 Snyder, Sharon L.  410–411 Sokrates  139 Solanas, Fernando Ezequiel »Pino«  405 Sontag, Susan  328 Spencer, Herbert  156 Spener, Philipp Jakob  103 Spengler, Volker  387 Spinney, James  407 Spyri, Johanna  352 Stadelmeier, Gerhard  390–391 Stark, Curt A., eig. Kurt SchöltzelStark  399 Steiner, Gusti  164 Steinhöfel, Andreas  355 Stelarc, eig. Stelios Arcadiou  386 Sterne, Laurence  335 Stevenson, Robert Louis  198 Steyger, Tony  410–411 Stige, Brynjulf  376 Stöckle, Tina  208 Stone, Oliver  307, 396 Storch, Anton  213 Strauss, Anselm Leonard  25, 57 Stuten-te Gempt, Johanna  206 Sullivan, Anne  353 Sun Kim, Christine  319, 425–426 Swank, Hilary  398 Sydenham, Thomas  14 T Tabori, George  390 Tarantino, Quentin Jerome  249, 254 Tatlin, Vladimir  425 Thau, Cornelia  409

444

Anhang

The Vacuum Cleaner Siehe James Leadbitter Thekla von Ikonium  196 Thieme, Thomas  391 Thimm, Walter  65 Thom, Jessica »Jess«  389–390 Thomas, William Isaac  25 Thunberg, Greta  332 Tismer, Anne  388 Toledano, Éric  394, 402 Toulmé, Fabien  327 Toulouse-Lautrec, Henri  318 Tourette’s Hero Siehe Jessica Thom Trakl, Georg  307, 367 Trier, Lars von  203, 396, 413 Tripp, Charles  322 Tschechow, Anton  307 Turin, Verena Elisabeth  362–363 Tyson, Florence  376 U Ugrešić, Dubravka  275 Ulitzkaja, Ljudmila  275 Unthan, Carl Hermann  158, 385 Urbanski, Sebastian  398 V Vais, Daniel  300 Van Dormael, Jaco  396 Verdi, Guiseppe  377 Vespasian, Titus Flavius  196 Vicente de Santo Domingo, Fray  192 Vigo, Jean  399

Villoría, Eduardo  411 Virchow, Rudolf  155, 323 Volrat  348 W Wagner Ritter von Jauregg, Julius  206 Waichi Sugiyama  180 Wain, Veronica  407–408, 410 Walker, Lucy  407 Walzer, Matthew  303 Ware, Chris  329–330 Weber, Max  28, 34, 89 Weisser, Jan  229 Weizsäcker, Richard von  166 Welch Diamond, Hugh  322 Weldon, Georgina  206 Weselby, Joanne M.  332 Westmoreland, Wash  400 Wetzer, Georg  207 White, Dan  332 Wichern, Johann Hinrich  104 Wickram, Jörg  350 Wieland, Christoph Martin  335 Wiener, Norbert  75 Wigman, Mary  386 Wilhelm I., William the Conqueror  197 Wilke, Lucy  390 Williams, David  420 Williams, Roger Ross  407 Williamson, Aaron  425 Wilson, Robert »Bob«  387 Winick, Gary  400

Wiseman, Frederick  405–406 Wittgenstein, Ludwig  224 Wolfe, Bernard  75 Wolfram von Eschenbach  347 Wonder, Stevie  377 Wong, Alice  292 Woolf, Virginia  307 Worsley, Wallace  399 Wronsky, Sidonie  121 Wu von Han  177 Würtz, Hans  158 Wuttke, Martin  387 Wygotski, Lew Semjonowitsch  201 Wyler, William  396 Wyman, Jane  398 X Xenophon  139 Y Yamase Takuichi  180 Yi, Seung-jun  408 Young, Stella  385 Young, Terence  396–397 Z Zemeckis, Robert  396 Zimmermann, Jan  34, 294 Zinnemann, Fred  396 Zmijewski, Artur  424 Znaniecki, Florian  25 Zola, Émile  307, 337